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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt Redaktion: Udo Roth
Band 29 · Jg. 2017
Thema: Das Problem der Unsterblichkeit in der Philosophie, den Wissenschaften und den Knsten des 18. Jahrhunderts k Herausgegeben von Dieter Hüning, Stefan Klingner und Gideon Stiening
FELIX MEINER VERLAG
ISSN 0178 – 7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Udo Roth, Ludwig-Maximilians-Universität München. Felix Meiner Verlag 2018. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Printed in Germany. www.meiner.de/aufklaerung
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In eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG
Dieter Hüning/Stefan Klingner/Gideon Stiening: Das Problem der Unsterblichkeit in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ABHANDLUNGEN
Hanns-Peter Neumann: Christian Wolffs Unsterblichkeitskonzept und seine Bedeutung für den preußischen Kronprinzen Friedrich . . . . . . . . . 21 Paola Rumore: Wolff on the Immortality of the Soul . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Henny Blomme: Israel Gottlieb Canz über die Unsterblichkeit der Seele . . 51 Anne Pollok: How to dry our tears? Abbt, Mendelssohn, and Herder on the Immortality of the Soul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stefan Klingner: Pneumatologie oder Ethikotheologie? Crusius und Kant über die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Jeffrey Edwards: Butler and Reid on Immortality, Personal Identity, and Substance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Dieter Hüning: „Who will repose such trust in any pretended philosophy?“ Humes Kampf gegen die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele . . . . . . 133 Udo Thiel: Materialismus und Konzeptionen des Lebens nach dem Tode im England des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Günther Mensching: Die Sterblichkeit der Seele im französischen Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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Inhalt
Falk Wunderlich: Mortalismus und Materialismus in der deutschen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Oliver Bach: Christian Fürchtegott Gellert über die Bedeutung der Unsterblichkeit der Seele für das Naturrecht der Aufklärung: Pufendorf – Leibniz – Thomasius – Wolff – Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Gideon Stiening: Von der Unsterblichkeit des ganzen Menschen zur ewigen Wiederkehr der Seele. Zum Palingenesiegedanken bei Charles Bonnet und Gotthold Ephraim Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Hans-Peter Nowitzki: „Wie lebt man so wohl im Schatten des ewigen Throns!“ Christoph Martin Wieland und die ,Unsterblichkeit" . . . . . . . . 269 Malte van Spankeren: Der Unsterblichkeitsdiskurs der Neologie als Instrument theologischer Modernisierung (1748–1766) . . . . . . . . . . . . . 309 Marion Heinz: „Menschliche Unsterblichkeit“ – Herder versus Kant . . . . . 323 Friedrich Vollhardt: Unsterblichkeit bei Friedrich Heinrich Jacobi . . . . . . . 343 Giuseppe Motta: Phantasmen. Kant und die – schon kritische? – Objektivation des Geistes in den Träumen eines Geistersehers . . . . . . . . 355 Carsten Olk: Ist die Seele sterblich? Eine Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Andree Hahmann: Kants kritischer Weg zur Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . 385
KURZBIOGRAPHIE
Udo Roth, Gideon Stiening: Johann Gustav Reinbeck (1683–1741) . . . . . . 409
DISKUSSION
Rainer Enskat: Die Freiheit der Urteilskraft. Die ursprüngliche Paradoxie der Politischen Philosophie Rousseaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
IN EI GE N E R S AC H E
Mit dem neuen Jahrgang sind einige personelle Veränderungen im Herausgebergremium mitzuteilen. Lothar Kreimendahl, bisheriger Herausgeber der Zeitschrift, tritt in die zweite Reihe zurück. An seiner Stelle wird der Philosophieund Literaturhistoriker Gideon Stiening künftig ein Garant für die Qualität der Zeitschrift sein. Mit unermüdlichem Engagement hat Marianne Willems in den vergangenen Jahren als Redakteurin an der Konkretisierung unseres Profils gewirkt, wofür wir einen herzlichen Dank aussprechen. Neu hinzugekommen ist Udo Roth (LMU München), der künftig die Redaktion leiten wird. Herausgeber und Verlag
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E I N L E IT U N G
Dieter H!ning/Stefan Klingner/Gideon Stiening Das Problem der Unsterblichkeit in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts
I. Unsterblichkeit und Politik im 18. Jahrhundert Im Januar 1740 erscheint bei Ambrosius Hauden in Berlin eine Schrift mit dem Titel Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit. Nebst einigen Anmerckungen über ein Frantzösisches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie dencke. Verfasst wurde der gut 400seitige, populärphilosophisch gehaltene Text von Johann Gustav Reinbeck, seit 1728 einflussreicher Konsistorialrat von Berlin und zeitweiliger Beichtvater des preußischen Königshauses.1 Nach einem kurzen Vorbericht des Autors beginnt die Abhandlung mit der Vorrede eines Ungenannten, die in dem folgenden Schreckensszenario kulminiert: Man setze z. Ex. daß es einem grossen Printzen in den Sinn käme zu dulden, daß seinen Unterthanen eine der Unsterblichkeit der Seelen, und der Vorstellung eines künfftigen Lebens zuwieder lauffende Lehre beygebracht würde: In was für einer Sicherheit würde er sich, so wohl für seine Person, als auch in Absicht auf seine Regierungs-Form, wohl befinden? Würde er auch wohl einen Augenblick, auf ihren Gehorsam, auf ihre Treue, und auf ihre Eidschwüre sich verlassen können? Ja, würden diese Unterthanen selbst wohl aufhören, einander zu betrügen, und zu ermorden, wenn sie nur der weltlichen Obrigkeit diese Thaten verhelen könnten? Würden wohl die Gewaltthätigkeit des Stärckern, die Raubereyen, Vergiftungen, Mordthaten, kurtz die abscheulichsten Laster jemahls ein Ende nehmen? Würden endlich nicht alle Tugenden, die Wohlfahrt der Bürgerlichen Gesellschafft, und die Religion selbst, als lauter Hirngespinste angesehen werden, wenn die Menschen glauben sollten, daß sie nach ihrem Tode weder etwas zu fürchten, noch zu hoffen hätten.2 Zu Reinbeck siehe u. a. Harald Kunowski, Friedrich Wihelm I., Friedrich der Große und der Aufklärungstheologe Johann Gustav Reinbeck, Baden-Baden 2016. 2 Vorrede eines Ungenannten, in: Johann Gustav Reinbeck, Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit. Nebst einigen Anmerckungen über ein Frantzösisches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie dencke, Berlin 1740, [unpag.]. 1
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Der Autor dieser Vorrede, niemand anderes als Ernst Christoph von Manteuffel, einer der einflussreichsten Berater des preußischen Thronfolgers Friedrich II.,3 befürchtet für den Verlust des Unsterblichkeitsglaubens innerhalb einer Gesellschaft den Ausbruch des Ausnahmezustandes, d. h. die Abwesenheit aller Form von Normativität, in den Begriffen des 17. und 18. Jahrhunderts: den Naturzustand. Selten präziser, aber auch selten anschaulicher wurden die soziopolitischen Ängste der Zeitgenossen vor dem Verlust des Unsterblichkeitsglaubens in Worte gefasst; Mord und Todschlag, Betrug und Laster herrschten in jenem Gemeinwesen, das als Staat nicht mehr zu bezeichnen ist und dessen Untertanen die Furcht vor oder die Hoffnung auf ewige Strafen oder Belohnungen verloren haben. Das nicht ausgeführte, nur angedeutete Argument besagt, dass alle Normativität, rechtliche wie moralische, ihre Verbindlichkeit letztlich nur durch die Gewissheit einer postmortalen Aburteilung des menschlichen Handelns erhält. An dieser Überzeugung haben viele Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, moderate wie radikale Aufklärer und erst recht die Vertreter der Gegenaufklärung festgehalten, und zwar auch dann, wenn sie – anders als die Wolffianer Manteuffel und Reinbeck, für die es einen rationalen Beweis der Unsterblichkeit der Seele gab – ausschließlich dem Offenbarungsglauben die Vergewisserungsleistung zutrauten – wie Locke und das Gros der an ihn anschließenden Empiristen und Sensualisten. Einer der prominentesten Verfechter einer soziopolitischen Notwendigkeit der Religion, d. h. eines Glaubens an Gott und das ewige Leben, war Albrecht von Haller, der trotz materialistischer Tendenzen in seiner Anthropologie an der Überzeugung festhielt, dass der Naturzustand ausbreche, wenn die christliche Religion nicht für Verbindlichkeitsgarantien Sorge trage.4 Und auch Christoph Martin Wieland, dem Materialismus und Naturalismus mit Sympathie verbunden, war von der soziopolitischen Notwendigkeit eines Unsterblichkeitsglaubens überzeugt: noch in der dritten Auflage seiner Geschichte des Agathon von 1794 lässt er seinen Protagonisten eine mit der manteuffelschen Schreckensvision vergleichbare Dystopie eines ethischen Ausnahmezustands an die Wand malen.5 Solcherart wütende Furchtszenarien sind aber nur als Reaktionen auf tatsächlich erfolgte Infragestellungen der Unsterblichkeitsgewissheit zu verstehen. Und so hat denn Manteuffels Tirade einen historischen und einen philosophischen Zu Manteuffel vgl. Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin 2010. 4 Siehe hierzu Albrecht von Haller, Vorrede zur Prüfung der Sekte die an allem zweifelt, in: Sammlung kleiner Hallerischer Schriften, 3 Bde., Bern 21772, Bd. 1, 22; vgl. hierzu insbesondere Thomas Kaufmann, Über Hallers Religion. Ein Versuch, in: Norbert Elsner, Nicolaas A. Rupke (Hg.), Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung, Göttingen 2009, 309–379, spez. 334 ff. 5 Siehe hierzu Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon, hg. von Klaus Manger, Frankfurt am Main 1986, 105 f. 3
Einleitung
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Kontext. Denn es ist im 18. Jahrhundert vor allem die Philosophie, die namhafte und einflussreiche Kritiker der Unsterblichkeitsdoktrin hervorbringt. Neben David Hume und Denis Diderot gilt dies vor allem für Voltaire, dessen prägender Einfluss auf den preußischen Thronfolger in den 1730er Jahren jene Staatskrise hervorruft, die auch Reinbecks Buch und Manteuffels Vorrede hervorbringt. Schon 1733 ließ Voltaire als einer der wirkmächtigsten Popularisatoren der newtonschen Naturwissenschaft sowie der lockeschen Epistemologie und Methodologie seine Leser wissen: Les hommes disputent depuis longtemps sur la nature et sur l!immortalit1 de l!(me. $ l!1gard de son immortalit1, il est impossible de la d1montrer, puisqu!on dispute encore sur sa nature, et qu!assur1ment il faut conna3tre ) fond un Þtre cr11 pour d1cider s!il est immortel ou non. La raison humaine est si peu capable de d1montrer par ellemÞme l!immortalit1 de l!(me.6
Diese Hinweise hat sich schon Mitte der 1730er Jahre Friedrich II. mehr zu Herzen genommen, als es seiner Umgebung lieb war; am 10. August 1736 äußerte der Kronprinz gegenüber eben jenem Ernst Christoph von Manteuffel starke Zweifel an der „christlichen Lehre von der Unsterblichkeit“, was eine bis dahin nie gesehene Überzeugungskampagne am Hof auslöste. Die Staatssicherheit schien gefährdet.7 Friedrich hat sich hernach zwar nicht mehr öffentlich zu dieser Frage geäußert, blieb aber von der Unaufhebbarkeit metaphysischer Zweifel im Hinblick auf eine immortalitas animae stets überzeugt. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, die durch die anthropologischen Tendenzen seit der mittleren Aufklärung aufgrund der Bindung der Erkenntnisleistung der Seele an den Körper zu einem drängenden wissenschaftlichen Problem avancierte, hatte also stets auch politische Implikationen; noch Maximilian Robespierre war davon überzeugt, dass ohne diesen Glauben an ein Leben nach dem Tode keinerlei normative Ordnung aufrechtzuerhalten sei.8 Allein deshalb hielt er – wie schon Haller – an der Doktrin fest, auch gegen anders lautendes Wissen.
Voltaire, Lettres philosophiques, in: ders., Œuvres compl-tes, hg. von Louis Molande, Paris 1879 [ND 1967], Bd. 22, 168 f. 7 Vgl. hierzu die ebenso anschauliche wie präzise Schilderung bei Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung (wie Anm. 3), 72 ff. 8 Siehe hierzu Uwe Schultz, Der König und sein Richter. Ludwig XVI. und Robespierre. Eine Doppelbiographie, München 2012, 352 f. 6
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II. Skizze einer Geschichte der Unsterblichkeit in Philosophie und Theologie Die Annahme von einer Unsterblichkeit der Seele gehörte zu den konstitutiven Überzeugungen abendländischer Theologie und Philosophie seit Platon.9 Die außergewöhnliche Bedeutung in religiöser, ethischer aber auch politischer Hinsicht machte diese Frage des Glaubens oder gar der rationalen Beweisbarkeit dieses Theorems zu jenem „alten Kronjuwel der Metaphysik“, als das Hans Blumenberg es zu Recht bezeichnete.10 Nicht nur bei Platon oder Cicero, auch bei Thomas von Aquin ist dieser für das jeweilige Gesamtsystem konstitutive Status der Unsterblichkeitsüberzeugung nachzuweisen.11 Im Laufe der Neuzeit und der in ihr sich realisierenden Säkularisierung gerät das Theorem als theologisches und als philosophisches jedoch zusehends unter Druck. Nicht erst für Pietro Pomponazzi – doch durch ihn in prominenter Weise – stellt die Annahme einer Existenz der Seele nach dem Absterben des Körpers keine Selbstverständlichkeit mehr dar.12 Die seit dem späten 15. Jahrhundert zu verzeichnende Lukrez-Renaissance scheint in der offensichtlichen Problemlage des Unsterblichkeitstheorems eine wesentliche Grundlage gehabt zu haben.13 Für Pierre Gassendi und Thomas Hobbes ist dieses Problem offenbar schon entschieden, wobei ihre Lehren auch aufgrund der Überzeugungen von der Sterblichkeit des Menschen als gefährlich galten. Andererseits entsteht mit dem metaphysischen Rationalismus eine philosophische Konzeption, die dem Unsterblichkeitsdogma einen neuen Beweisgang ermöglicht, der bis weit ins 18. Jahrhundert erhebliche Breitenwirkung hatte. Was Descartes am Ende des fünften Abschnitts seines 1637 erschienenen Discours de la m)thode unmissverständlich festhält, kann den Anspruch erheben, den damaligen Zeitgeist in adäquater Weise zum Ausdruck zu bringen:
Siehe hierzu u. a. Ulrich Berner, Matthias Heesch, Georg Scherer, Unsterblichkeit, in: TRE 34 (2002), 381–397. 10 Vgl. hierzu Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, 469: „Das alte Kronjuwel der Metaphysik, die Unsterblichkeit, hatte auch den Aspekt einer durch keine Macht verletzlichen Konstante.“ 11 Vgl. Wolfgang Kluxen, Seele und Unsterblichkeit bei Thomas von Aquin, in: ders., Aspekte und Stationen der mittelalterlichen Philosophie, Paderborn u. a. 2012, 213–232. 12 Pietro Pomponazzi, Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, lat.-dt., übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Burkhard Mojsisch, Hamburg 1990; zum philosophiehistorischen Kontext vgl. Henrik Wels, Die Unsterblichkeit der Seele und der epistemologische Status der Psychologie im Aristotelismus des 16. Jahrhunderts, in: Günter Frank, Andreas Speer (Hg.), Aristotelismus in der Frühen Neuzeit – Kontinuität oder Wiederaneignung?, Wiesbaden 2007, 191–214. 13 Siehe hierzu u. a. Stephen Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012. 9
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Au reste, je me suis ici un peu 1tendu sur le sujet de l!(me, ) cause qu!il est des plus importants; car, apr-s l!erreur de ceux que nient Dieu, […] il n!y en a point qui 1loigne plut.t les esprits faibles du droit chemin de la vertu, que d!imaginer que l!1ame des bÞtes soit de mÞme nature que la n.tre, & que, par cons1quent, nous n!avons rien ni ) craindre, ni ) esp1rer, apr-s cette vie, non plus que les mouches & les fourmis.14
Es sind auch im Zeitalter der aufkommenden empirischen Naturwissenschaften und der Ablösung der Theologie als Leitwissenschaft durch die Philosophie nicht die Theorien von „Atomisten“, „Materialisten“, „Empiristen“ oder „Naturalisten“, sondern vielmehr Descartes! und späterhin Leibnizens und Wolffs Lehren von der rationalen Erkennbarkeit der Seelensubstanz und deren Einschätzung von der besonderen moralischen Relevanz ihrer Unsterblichkeit, die sowohl für die Theologie als auch für die Philosophie bis ins 18. Jahrhundert hinein bestimmend bleiben. So unterscheidet Leibniz in seinen Essais de Th)odic)e l!indestructibilit1 [et] l!immortalit1, par laquelle on entend dans l!homme non seulement que l!ame, mais encore que la personnalit1 subsiste : c!est dire, en disant que l!ame de l!homme est immortelle, on fait subsister, ce qui fait que c!est la mÞme personne, laquelle garde ses qualit1s morales, en conservant la conscience ou le sentiment reflexif interne de ce qu!elle est : ce qui la rend capable de chatiment et de recompense.15
In ganz ähnlicher Weise argumentieren Christian Wolff und Alexander Baumgarten16 und deren Schüler – so etwa der exzellente Ludwig Philipp Thümmig17 – und beherrschen mit ihren Beweisen der Unsterblichkeit der rationalen Seele die akademischen Debatten in deutschen Landen wie der Cartesianismus in Frankreich. Dass dieser Mehrheitsdiskurs nicht unwidersprochen bleibt, zeigt der Blick auf den Skandal um Voltaire und Friedrich II. Insbesondere im Laufe des 18. Jahrhunderts und damit der Zeit der Aufklärung, die als bis dahin bedeutendster, d. h. wirksamster Säkularisierungsschub der Neuzeit interpretiert werden muss, scheint die Unsterblichkeitsüberzeugung endgültig zu erodieren. Der sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch publizistisch manifestierende und an Einfluss ge-
Ren1 Descartes, Discours de la M1thode, hg. von Christian Wohlers, Hamburg 2011, 100 f. Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Th1odic1e, in: ders., Die philosophischen Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. 6, Leipzig 1932, 151 (I, 89). 16 Siehe hierzu Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr [Gesammelte Werke, hg. und bearbeitet von Jean ðcole u. a., Hildesheim 1979 ff., Bd. I.2], Hildesheim 1983, 573 f. (§§ 926 f.) sowie Gottlieb Alexander Baumgarten, Metaphysik, übersetzt von Georg Friedrich Meier, Anmerkungen von Johann August Eberhard [Halle 1783], hg. von Dagmar Mirbach, Jena 2004, 191–194 (§§ 576–580). 17 Siehe hierzu Ludwig Philipp Thümmig, Demonstratio immortalitas animae ex intima eius natura deducta, Halle 1724, 21737, 31742. 14 15
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winnende Materialismus musste dieses Theorem endgültig als beseitigt bzw. widerlegt erklären.18 Sieht man allerdings bei den namhaften Autoren auf den Feldern der Theologie, der Philosophie oder der Literatur des 18. Jahrhunderts näher zu, so zeigt sich, dass es nur wenige bekennende Vertreter einer Sterblichkeit der menschlichen Seele gab. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als eine schon für die Zeitgenossen erkennbare Ablösung der Theologie durch die Philosophie als Leitwissenschaft für das 18. Jahrhundert zu verzeichnen ist – und zwar europaweit.19 Dass auch die aufgeklärte Theologie an diesem zentralen Theorem ihres christlichen Dogmas festhielt, überrascht dabei weniger als die Tatsache, dass die theologischen Begründungen für diese Überzeugung die diskursiven Veränderungen der Zeit zu reflektieren suchten; nicht nur Johann Joachim Spalding entwirft seine Konzeption von einer immortalitas animae allererst auf der Grundlage einer modifizierten Anthropologie.20 Auch Johann Gottfried Herder oder Friedrich Heinrich Jacobi, die Friedrich Schleiermachers ,zweiter Reformation" den Weg ebneten, banden ihre festen Überzeugungen von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele an ihre gefühlsphilosophischen Innovationen.21 Nahezu alle namhaften Philosophen von John Locke und Leibniz über Wolff, Moses Mendelssohn bis auf Immanuel Kant hielten mit unterschiedlichen Argumenten an der Annahme, ja der Beweisbarkeit der Unsterblichkeit fest; insbesondere für viele Autoren des Rationalismus können und müssen aufgrund der Substanzkategorie, die vor allem auf die mens angewandt wird, an der immortalitas festhalten. Bei allen grundlegenden Unterschieden gilt dies noch für Mendelssohn – und, wenngleich systematisch in die praktische Vernunft verlagert, für Kant.22 Dass selbst bekennende Materialisten wie David Priestley oder Michael Hißmann
So auch Gerda Lier, Das Unsterblichkeitsproblem. Grundannahmen und Voraussetzungen, 2 Bde., Göttingen 2010, Bd. 2, 1215 ff. 19 Siehe hierzu Werner Schneiders, Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 58–92. 20 Vgl. hierzu Georg Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen (1748), Tübingen 2014, 411 ff. 21 Vgl. hierzu u. a. Timo Markworth, Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder, Paderborn u. a. 2005. 22 Siehe hierzu den Stand der Forschung zusammenfassend Frido Ricken, Die Postulate der reinen praktischen Vernunft, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2011, 122–148; kritisch hierzu Istvan Czak/, Geist und Unsterblichkeit, Berlin, Boston 2015, 103 ff. 18
Einleitung
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an der Unsterblichkeit festhielten,23 eröffnet den Blick auf die außergewöhnliche Konflikt- und Kontroverslage, die sich im Hinblick auf und durch das Theorem im 18. Jahrhundert ergab. Selbst Dichter und bildende Künstler dokumentieren mit ihren ästhetischen Reflexionsformen, dass die Überzeugung von einer Unsterblichkeit der menschlichen Seele brüchig geworden war, wenigstens aber aufgrund des Verlustes an Selbstverständlichkeit einer eigenen Bekundung oder spezifisch ästhetischer Darstellung bedurfte, doch blieben selbst Materialismus-affine Autoren wie Christoph Martin Wieland oder Johann Karl Wezel vom Theologumenon der immortalitas animae et corporis überzeugt – und sei es aufgrund der Annahme von dessen Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Auch Gotthold Ephraim Lessing und Johann Georg Sulzer mühten sich nach Kräften, ihre Überzeugungen mit ihren psychologischen, anthropologischen und ethischen Erkenntnissen zu vermitteln.24 Noch die sich um die Mitte des Jahrhunderts im Grabmal der Maria Magdalena Langhans († 1751) anschaulich dokumentierende Abkehr vom Primat des frühneuzeitlichen Vanitas-Motivs durch die Darstellung der Auferstehung des ,ganzen Menschen" setzte die Hoffnung Johann August Nahls auf ein Leben nach dem Tode voraus.25 Die Abkehr von der barocken Todesangst und die gleichzeitige Zuwendung zur Freude diesseitiger Existenz führten mithin keineswegs einen vollständigen Säkularisierungsdruck mit sich – die Unsterblichkeitsüberzeugung blieb davon unangetastet. III. Aufbau und Beiträge des Bandes Ein Desiderat der zumeist weit verzweigten Forschung zum Unsterblichkeitsverständnis im 18. Jahrhundert besteht in der angemessenen, präzisen Erfassung der unterschiedlichen Begründungsweisen für die Geltung des Theorems einer Siehe hierzu u. a. Udo Thiel, Hißman und der Materialismus, in: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.), Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung, Berlin 2013, 25–41. 24 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening, Zur physischen Anthropologie einer ,Unsterblichkeit der Seele", in: Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, Berlin 2011, 57–81 sowie Monika Fick, LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 32010, 523. 25 Die Abbildung zeigt das Grabmal der Maria Magdalena Langhans nach einer Radierung von Christian von Mechel (1737–1817); siehe hierzu u. a. Yvonne Boerlin-Brodbeck, Welches Deutschland? Welche Schweiz? Die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Kunst des 18. Jahrhunderts, in: York-Gothart Mix, Markus Zenker, Simone Zurbuchen (Hg.), Deutsch-schweizerischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert, Wolfenbüttel 2002 [Das Achtzehnte Jahrhundert 26/2], 208–230, hier 221. 23
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immortalitas animae sive corporis. Die philosophische sowie die literatur- und kunsthistorische Forschung hat das sachliche Problem bislang nur für einzelne Autoren in den Blick genommen, ohne darauf zu reflektieren, dass die Beantwortung dieser Frage zu einer der gewichtigen Kontroversen des 18. Jahrhunderts zählt. Die theologische Forschung hat dagegen die Kontroversen außerhalb ihrer
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Disziplin noch zu wenig zur Kenntnis genommen. Dabei liegt beispielsweise die Verbindung zwischen dem literarischen Sturm und Drang und Herders Ältester Urkunde auf der Hand und die religiöse Dimension dieser literarischen Jugendbewegung – einschließlich ihrer Variante des Unsterblichkeitstheorems – mehr als nahe.26 Der nachfolgende Band hat also zum einem das Ziel, die – sich im Laufe des Jahrhunderts verstärkenden – Unterschiede der Begründung für und wider das Unsterblichkeitstheorem in Theologie, Philosophie und Dichtung herauszuarbeiten; allein deshalb hat das Tableau der Beiträge auch eine diachrone Anordnung. Zum anderen sollten die Gründe für die Einheit der von Locke bis auf Robespierre erkennbaren Problemlage in der Rekonstruktion der systematischen Argumentationsbewegungen eruiert werden. Die interdisziplinäre Anlage des Bandes ist dabei für dieses Thema dringend geboten, da erst ein Blick in Literatur, Kunst und in die politische Realität ermessen lassen kann, in welchem Umfang die theologischphilosophische Problemlage Auswirkungen zeitigte. Der Band wird durch eine Sektion zu Christian Wolff und die Folgen der rationalistischen Begründung einer Unsterblichkeit der Seele eröffnet. Die ersten beiden Beiträge sind Wolffs einflussreichem, im Kontext seiner rationalen Psychologie entwickeltem Beweis der Unsterblichkeit der menschlichen Seele gewidmet. Hanns-Peter Neumann gibt in seinem Beitrag Rekonstruktionen von Leibniz! und Wolffs Beweisen und deren enger Verbindung mit dem personalen Bewusstsein; anschließend thematisiert er deren Rezeption durch den preußischen Kronprinzen Friedrich. Paola Rumore vertieft diese Perspektive mit einer minutiösen Analyse und Interpretation der einflussreichen Positionen Christian Wolffs. Die folgenden drei Beiträge nehmen dagegen – aus ganz verschiedenen Blickwinkeln – den unmittelbaren Einfluss der wolffschen Konzeption auf die deutsche Aufklärung in den Blick: Henny Blomme stellt die Schrift Überzeugender Beweiß aus der Vernunft betreffend die Unsterblichkeit von Israel Gottlieb Canz vor und macht dabei deutlich, dass die mit Wolffs Beweis verbundenen ontologischen und epistemologischen Probleme von den Wolffianern durchaus erkannt, gleichwohl für innerhalb des rationalistischen Systems lösbar erachtet wurden. Der Beitrag von Anne Pollok thematisiert dagegen die durch die skeptische Position Thomas Abbts angestoßene Diskussion in den 1760er Jahren, rekonstruiert dafür Moses Mendelssohns Phädon als Antwort auf Abbt und weist auf Johann Gottfried Herders Wiederaufnahme von Abbts Position hin. Im Zentrum der Kritik an der rationalistischen Konzeption von der Unsterblichkeit der Seele Siehe hierzu u. a. Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung – Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999 sowie Gideon Stiening, Ästhetik- und Philosophiegeschichte, in: Matthias LuserkeJaqui (Hg.), Handbuch Sturm und Drang, Berlin 2017, 31–38. 26
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steht dabei der im Rahmen der wolffschen Konzeption nur schwer vermittelbare Bezug auf den einzelnen Menschen: als leibliches, sich vervollkommnendes und in seinen ethischen Bemühungen gar nicht auf die Idee einer Unsterblichkeit angewiesenes Wesen. In eine ganz andere Richtung weist die Kritik, die Stefan Klingner in seinem Beitrag vorstellt, indem er Christian August Crusius mit Immanuel Kants Zurückweisung des rationalistischen Beweises einer Unsterblichkeit der Seelensubstanz in Zusammenhang bringt. Beide lehnen die ontologische Argumentation ab, halten aber dennoch an der Idee der Unsterblichkeit aus dezidiert moralphilosophischen Gründen fest – Crusius aufgrund moraltheologischer, Kant dagegen aufgrund moralteleologischer Gründe. Inwiefern das Theorem ,Unsterblichkeit" als Herausforderung für Empirismus und Materialismus wahrgenommen wurde und wie diese beiden, im Laufe des 18. Jahrhunderts stetig an Einfluss gewinnenden Strömungen den mit ihm einhergehenden philosophischen und theologischen Problemen begegnet sind, ist Gegenstand der zweiten Sektion. Jeff Edwards zeichnet die sich im Anschluss an Lockes Konzeption personaler Identität und Leibniz! Kritik entwickelnden Überlegungen von Joseph Butler und Thomas Reid nach, wobei vor allem deren Modifikationen des Substanzbegriffs im Vordergrund stehen. Der Beitrag von Dieter Hüning rekonstruiert die entscheidenden Gründe David Humes für die Zurückweisung einer Unsterblichkeitsüberzeugung und loziert diese Position – nicht ohne Ausblicke in aktuelle Debatten – in die zeitgenössischen Kontexte. Hüning macht die Besonderheit von Humes Immortalitätskritik deutlich: Humes Auseinandersetzung mit den rationalpsychologischen Fragen der Immaterialität bzw. Immortalität der Seele zielen nicht darauf ab, diese Annahme durch die entsprechenden Gegenbehauptungen zu ersetzen. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, diese Fragen als solche aus dem Kanon rationaler Fragen auszuschließen. Er bedient sich dabei eines kritisch-negativen Verfahrens, das dazu dient, die Schwachpunkte der Argumentation der Gegenseite herauszustellen, ohne selbst gezwungen zu sein, positive Beweise des Gegenteils zu erbringen. Die darauffolgenden Beiträge werfen dagegen einen Blick auf die zeitgenössischen Theorien englischer, französischer und deutscher Materialisten. Udo Thiel schildert die Bemühungen der englischen Theologie und Philosophie, am anglikanischen Dogma der leiblichen Auferstehung auch vor dem Hintergrund materialistischer Konzeptionen festzuhalten. Dabei untersucht er vor allem die Überlegungen von Joseph Priestley und seinem kaum bekannten philosophischen Schüler Thomas Cooper. Die radikale Ablehnung des Unsterblichkeitstheorems durch die philosophes Paul-Henri Thiry d!Holbach, Julien Offray de La Mettrie und Denis Diderot stellt Günther Mensching vor, wobei er deren konsequent reduktionistische Position als blind mit Blick auf das Phänomen möglichen Selbstbezugs kritisiert, das sich allenfalls für Diderot überhaupt als Problem darzustellen schien. Den bisher eher wenig beachteten deutschen Materialisten der Aufklä-
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rung ist der Beitrag von Falk Wunderlich gewidmet. Ausführlich arbeitet Wunderlich die verschiedenen Positionen des materialistischen Lagers in Hinsicht auf die immortalitas animae im damaligen Deutschland heraus, zeigt dessen Tendenz zum Mortalismus und stellt schließlich am Beispiel von Johann David Michaelis die Aufgeschlossenheit der zeitgenössischen Theologie gegenüber einigen Spielarten des Materialismus heraus. Dass es auf die stetig dringlicher werdende Frage nach einer möglichen Vergewisserung der Unsterblichkeit der menschlichen Seele – auch jenseits der philosophischen Diskussionen im engeren Sinne – Antworten in den Wissenschaften und der Literatur gab, ist das Thema der dritten Sektion. Anhand von Christian Fürchtegott Gellerts Vorlesung Von dem Vorzuge der heutigen Moral vor der Moral der alten Philosophen geht Oliver Bach in seinem Beitrag der Frage nach der Relevanz der Annahme einer Unsterblichkeit der menschlichen Seele für den neuzeitlichen Naturrechtsdiskurs nach, wobei er zu einer durchaus verhalteneren Einschätzung als Gellert gelangt. Den Weg, die aus theologischen und soziopolitischen Erwägungen geforderte Unsterblichkeitsidee ohne Rekurs auf die Eigenart der vernünftigen Seelensubstanz oder Spekulationen über einen wiederauferstandenen Leib zu verteidigen, beschritt im 18. Jahrhundert vor allem Charles Bonnet mit der auf seiner einflussreichen ,Keimtheorie" beruhenden Palingenesiekonzeption. Gideon Stiening rekonstruiert deren theonomen Hintergrund und macht zudem am Beispiel von Gotthold Ephraim Lessings Plädoyer für eine ewige ,Seelenwanderung" deutlich, dass der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (wieder) aufkommende Palingenesiegedanke eine Konsequenz bestimmter anthropologischer, naturgeschichtlicher und geschichtsphilosophischer Grundlagentheorien darstellt. Der dritte Beitrag dieser Sektion expliziert eingehend Christoph Martin Wielands von immer neuen Veränderungen geprägte Haltung zum Unsterblichkeitstheorem. Hans-Peter Nowitzki verfolgt dabei minutiös die in Wielands poetischen und theologischen Arbeiten durchaus ambivalente Einschätzung der für die christliche Religion essentiellen Doktrin eines postmortalen Lebens. Dass zumindest einige Reaktionen der Theologie auf die Anwürfe der Aufklärung im damaligen Deutschland nicht lediglich orthodoxe waren, sondern auch insofern als auf der Höhe der Zeit gelten können, als sie die verschiedenen säkularisierenden Tendenzen der Aufklärer in ihre theologischen Vorgaben zu integrieren bzw. diese selbst entsprechend zu modifizieren wussten, zeigt die vierte Sektion anhand ausgewählter Beispiele. Dies trifft besonders auf die sogenannte ,Neologie" zu, deren Deutung der Unsterblichkeitsidee als ein unverzichtbares Mittel für die Motivation zu moralischem Handeln im Diesseits Malte van Spankeren in seinem Beitrag anhand einschlägiger Passagen aus den Schriften Johann Joachim Spaldings und Johann August Nösselts nachgeht. Auch die in theologischer Hinsicht unzeitgemäßen Überlegungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Heinrich Jacobis zur ,Unsterblichkeit" müssen als innovativ und vor al-
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lem als prägend für die deutsche Spätaufklärung sowie die Spekulationen der Theologie der Romantik und des deutschen Idealismus gelten. Ausgehend von Herders Kant-Kritik stellt Marion Heinz in ihrem Beitrag dessen unterschiedliche Konzepte von ,Unsterblichkeit" vor, die den Palingenesiegedanken mit lebensund humanitätsphilosophischen Überlegungen in einer spinozistischen Ontotheologie verbinden. Friedrich Vollhardt weitet diese Perspektive mit einer Analyse und Interpretation der Unsterblichkeitsdoktrin innerhalb der Gefühlsphilosophie Friedrich Heinrich Jacobis aus. Erst von Jacobis eigensinniger Position aus werden Ausblicke auf die Immortalitas-Konzeptionen des deutschen Idealismus möglich. Die abschließende, fünfte Sektion ist allein den Überlegungen Immanuel Kants zum Problem der Seelenunsterblichkeit vorbehalten. Zwar dokumentiert sich Kants Unsterblichkeit ohne Zweifel an der bis heute anhaltenden kritischen wie affirmativen Rezeption; allerdings werden dabei seine Kritiken an Mystizismus, Rationalpsychologie und Offenbarungsglauben vergleichsweise selten unmittelbar auf das für die Aufklärung so signifikante Problem der Unsterblichkeit der Seele bezogen. Giuseppe Motta arbeitet die verschiedenen Bestimmungen und Einschätzungen Kants zum Seelen- und Unsterblichkeitsbegriff in dessen Schrift Träume eines Geistersehers heraus. Diese Schrift ist nicht nur ein Zeugnis von Kants schriftstellerischen Qualitäten, sondern muss vor allem als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur durchschlagenden Kritik am rationalistischen Programm einer psychologia rationalis verstanden werden. Diese Kritik – besonders an der für die rationalistische Seelenlehre konstitutiven Bestimmung der Seele als einfacher Substanz –, die Kant im Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft vorlegt, zeichnet Carsten Olk in seinem Beitrag nach und weist darauf hin, dass Kant zufolge die menschliche Seele qua ,Gemüt" durchaus als sterblich angesehen werden muss. Andree Hahmann geht schließlich den verschiedenen Ausführungen Kants zum Thema ,Unsterblichkeit" von der ersten Kritik bis in die 1790er Jahre nach. Dabei wird deutlich, dass mit Blick auf die Unsterblichkeitskonzeption die wichtigste Änderung im Entwicklungsgang der kritischen Philosophie nicht das Aufgeben des Gedankens einer göttlichen Gerechtigkeit, sondern vielmehr die Vorstellung moralischer Vervollkommnung betrifft, die der ,späte" Kant als durchweg diesseitige Angelegenheit denkt und sie nicht mehr ins Jenseits verschiebt. Die nachfolgenden Beiträge dokumentieren die Ergebnisse der internationalen und interdisziplinären Tagung Zum Problem der Unsterblichkeit der Seele in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten im 18. Jahrhundert, die vom 31. März bis zum 2. April 2016 in den Räumlichkeiten des Stadtarchivs Trier stattfand. Die Tagung wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung mit einem großzügigen Etat finanziert, wofür sich die Organisatoren an dieser Stelle ausdrücklich bedanken. Dank gilt selbstverständlich auch den Teilnehmerinnen und Teil-
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nehmern, die mit ihren engagierten Vorträgen und Diskussionen zu einer produktiven Atmosphäre beitrugen; ihre Bereitschaft, die Ergebnisse der oft kontroversen Debatten in ihre Beiträge aufzunehmen, trug erheblich zu einer gewissen Einheit der thematisch, methodisch und systematisch unterschiedlichen Ausführungen zum Problem der Unsterblichkeit bei. Zu danken ist darüber hinaus dem Leiter des Stadtarchivs Trier, Herrn Prof. Dr. Michael Embach, der uns die Möglichkeit eröffnete, die Tagung im Stadtarchiv durchzuführen, sowie dem Leiter der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier, Herrn Prof. Dr. Bernd Dörflinger, für die gewährte Unterstützung durch die Kant-Forschungsstelle. Der Dank der Organisatoren geht zudem an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stadtarchivs Trier sowie die studentischen Hilfskräfte Sebastian Abel und Sabrina Schneider, die mit großem Engagement zum Gelingen der Tagung beigetragen haben. Schließlich danken die Herausgeber Dr. Udo Roth, der wie gewohnt zuverlässig und präzise die Druckvorlage des Bandes erstellt hat.
A BHAN D L U N G EN
Hanns-Peter Neumann Christian Wolffs Unsterblichkeitskonzept und seine Bedeutung für den preußischen Kronprinzen Friedrich
I. Christian Wolffs Konzept der Unsterblichkeit der Seele Wolff entwickelt sein Konzept der Unsterblichkeit der Seele in den 1720 erschienenen Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, seiner sogenannten Deutschen Metaphysik, sowie in der Psychologia Rationalis von 1734.1 Zu einer Dissertation einer seiner frühen Schüler, Ludwig Philipp Thümmig, die 1721 unter dem Titel Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta publik gemacht worden ist, hat Wolff zudem ein lobendes Schreiben verfasst, dass sich der Neuauflage der Dissertatio Thümmigs von 1737 vorangestellt findet.2 Einleitend stellt Wolff hier, in der „Epistola Gratulatoria“ an Thümmig, fest, man habe zwar bislang die Unsterblichkeit der Seele behaupten, jedoch nicht unumstößlich dartun können. Das habe daran gelegen, dass man zwar ihre Unverweslichkeit resp. Unzerstörbarkeit erkannt hätte, jedoch keinen rechten Begriff von der Unsterblichkeit gehabt habe.3 Folgt man Wolffs Argumentation in der Deutschen Metaphysik und in der Psychologia rationalis, so kommt nämlich zur Unzerstörbarkeit der einfachen Dinge oder Seienden oder Monaden, zu denen die menschliche Seele zählt, bei dieser noch die Besonderheit hinzu, dass jede Menschenseele in ihrer Personalität, Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720; ders., Psychologia rationalis, Frankfurt am Main, Leipzig 1734. 2 Christian Wolff, Epistola Gratulatoria, in: Ludwig Philipp Thümmig, Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta. Oder Gründlicher Beweiß von der Unsterblichkeit der Seele, Marburg 1737, 3r–5r. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Von der Unsterblichkeit der Seele“ ist in den Gesammleten kleinen philosopshischen Schrifften enthalten: Christian Wolff, Von der Unsterblichkeit der Seele, in: ders., Gesammlete kleine philosophische Schrifften, Vierter Theil, Halle 1739, 220–230. 3 Wolff, Epistola Gratulatoria (wie Anm. 2), 3r–3v. 1
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kurz als individuelle Person, unzerstörbar ist. Die personale Unzerstörbarkeit der Seele aber heißt bei Wolff ,Unsterblichkeit". Ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, knüpft Wolff hier an die von Leibniz in der Th)odic)e (§ 89) getroffene Unterscheidung zwischen der Unzerstörbarkeit („indestructibilit1“) der Tierseelen und der Unsterblichkeit der Personalität („immortalit1 de la personalit1“) der menschlichen Seele an.4 Unsterblichkeit ist nach Wolff jedoch weniger ein postmortaler Zustand oder status quo als vielmehr ein Vermögen, eine facultas der Seele, auch postmortal Person bleiben zu können. Man könnte auch sagen, dass sie ein Zustand ist, in welchem die individuelle Person ihre Bewusstseinstätigkeit stets aufrecht erhält, indem sie erstens sowohl klarer und deutlicher Perzeptionen fähig bleibt und den Grad ihrer Perzeptivität sogar noch zu steigern weiß – die Fähigkeit zu distinkten Perzeptionen also –, als diese auch zweitens in ihrer Diskursivität stets an ihr Ich zurückzubinden vermag: die Fähigkeit zur Apperzeption resp. zum Selbstbewusstsein resp. zur memoria sui also: „Denn das unverweßliche ist unsterblich, wenn es den Zustand einer Person beständig behält.“5 Um sich der Momente der Unzerstörbarkeit, der Personalität und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu vergewissern, hält Wolff ein dreistufiges Erklärungsmodell für erforderlich: Erstens muss gezeigt werden, dass die Seele unverweslich resp. unzerstörbar ist und den Tod und die Vernichtung des Körpers übersteht resp. im wahrsten Sinne des Wortes überlebt. Dies geschieht in der Theorie der einfachen Dinge, der einfachen Seienden, der Monaden, in der diese und ihre Eigenschaften in Relation zu und in Absetzung von Komposita bestimmt werden. Zweitens muss gezeigt werden, dass die Seele postmortal im Zustand distinkter Perzeptionen fortdauern kann, d. h. dass ihr mit dem Wegfall der sensorischen Kapazitäten des ihr zu Lebzeiten zugeordneten Körpers nicht etwa ein Dauerschlaf droht, was der Fall wäre, wenn die perzeptive Tätigkeit der Seele an die sensorischen Möglichkeiten ihres organischen Körpers gebunden wäre, sondern dass sie ihre Perzeptivität sogar noch zu vervollkommnen vermag. Auch dies geschieht in der Theorie der einfachen Dinge, genauer in der Theorie der prästabilierten Harmonie von einfachen (Seelen, Geister) und zusammengesetzten Dingen (Körper), kurz in der Verhältnisbestimmung von Seele und Leib. Drittens muss gezeigt werden, dass sich die Seele im Wechsel ihrer Zustände ihrer selbst bewusst bleiben kann, d. h. dass sie sich auch postmortal stets als die gleiche erkennt, die ihren vergangenen Zuständen und ihrem gegenwärtigen Zustand zugrunde gelegen hat, dass sie vor allem also die gleiche ist, die sie vor ihrem Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Th1odic1e, in: ders., Die philosophischen Schriften, hg. von Carl Immanuel Gebhardt, 7 Bde., Berlin 1875–1890, Bd. 6, 151. 5 Wolff, Vernünfftige Gedancken (wie Anm. 1), § 926. 4
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Tod gewesen ist. Dies geschieht in Wolffs sehr knapper Theorie der Person und des apperzeptiv-memorialen Bewusstseins. Alle drei Dimensionen dieses Erklärungsmodells, die von Wolffianern wie Johann Gustav Reinbeck, Johann Friedrich Stiebritz und Israel Gottlieb Canz übernommen und mehr oder weniger ausführlich auseinandergesetzt wurden, sind tief in der wolffschen Interpretation der leibnizschen Monadentheorie verankert.6 Darin liegt auch einer der Gründe für die Komplexität von Wolffs Theorie vom Einfachen und Zusammengesetzten.7 Ohne diese im Detail darzustellen, werde ich versuchen, simplifizierend die wichtigsten wolffschen Definitionsmerkmale der einfachen Dinge, der Seelen als besonderer Spezies einfacher Dinge und der Personalität der menschlichen Seele zusammenzutragen. Wolff begründet die Existenz einfacher Dinge in der Deutschen Metaphysik wie folgt: Wo zusammengesetzte Dinge sind, da müssen auch einfache sein. Wenn keine einfache vorhanden wären; so müsten alle Theile, sie möchten so klein angenommen werden, als sie immermehr wollen, auch so gar die undencklich kleinen Theile, aus anderen Theilen bestehen. Da man nun aber keinen Grund anzeigen könnte, woher denn die zusammengesetzten Theile endlich herkämen, so wenig als man begreiffen könnte, woher eine zusammengesetzte Zahl entstanden wäre, wenn sie keine Einheiten in sich fassen sollte, und doch ohne zureichenden Grund nichts seyn kan; so muß man endlich einfache Dinge zugeben, daraus die zusammengesetzten entstanden. Wer den Satz des zureichenden Grundes recht einsiehet, der begreifet, daß man nicht eher denselben erreichet, als wenn man mit dem Fragen zu Ende kommet, und nicht mehr einerley Antwort bekommet, wie geschiehet, wenn man Theile unendlich fort einräumet.8
Aus diesem Argumenationszusammenhang heraus, unter der Bedingung der unendlichen Teilbarkeit der Materie, leitet Wolff die nur mit dem Verstand zu erkennende Existenz einfacher Dinge her, deren Merkmale sich ex negativo gleichsam als Kontrapunkte zu denen zusammengesetzter körperlicher Dinge bestimmen lassen: Als einfache sind sie unteilbar, unausgedehnt, immateriell, in ihnen findet kein Partikelfluss, keine Komposition und Dekomposition von Teilen statt wie dies für zusammengesetzte Dinge gilt. Einfache Dinge bestehen anders als Körper, so wie sie sind, weiter, da sie nicht in ihre Bestandteile zerlegt werden können. Genau das aber impliziert ihre Unverweslichkeit, ihre Unzerstörbarkeit. Als solVgl. Johann Gustav Reinbeck, Philosophische Gedanken über die vernünftige Seele und derselben Unsterblichkeit, Berlin 1739; Johann Friedrich Stiebritz, Philosophischer Beweis von der Unsterblichkeit der Seele, Halle 1740; Israel Gottlieb Canz, Überzeugender Beweiß aus der Vernunft von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein, als besonders der Kinderseelen: Samt einem Anhange über die Frage: Wie es der Seele nach dem Tode zu Muthe seyn werde?, Tübingen 1744. 7 Zu Wolffs Monadentheorie vgl. ausführlich Hanns-Peter Neumann, Monaden im Diskurs. Monas, Monaden, Monadologien (1600–1770), Stuttgart 2013, 259 ff. 8 Wolff, Vernünfftige Gedancken (wie Anm. 1), § 76. 6
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che mit sich identisch bleibende Monaden können sie nur auf einmal entstehen oder auf einmal annihiliert werden. Dies geschieht jedoch nicht durch einen natürlichen Prozess der Genese oder des Zerfalls, sondern ausschließlich durch den schöpferischen Akt der göttlichen Urmonade. Was bei Wolff noch keine bedeutende, wenn überhaupt eine Rolle spielt, wenn es um die postmortale Weiterexistenz der Seele geht, wird bei Stiebritz und bei Canz ausführlicher diskutiert: Ob es nämlich einen zureichenden Grund gibt, der Gott dazu bewegen könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, die postmortal weiter existierenden Einzelseelen zu annihilieren. Im Gegensatz zur passiven Materie sind die in einer gewissen Relation zueinander stehenden einfachen Dinge mit einer aktiven Kraft versehen, die sich in der Welt der Körper als mechanisches Gefüge äußert. Bei den besonderen einfachen Dingen, die Seelen genannt werden, ist diese Kraft eine perzeptive, im weitesten Sinne vorstellende Kraft, die in verschiedenen Modifikationen oder auch Vermögen auftreten kann: Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Verstand, Vernunft. Während Tierseelen sinnliche Vorstellungen, Einbildungskraft und Gedächtnis haben, kommen bei der menschlichen noch Verstand und Vernunft hinzu, die sie zu distinkten Perzeptionen und zur Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Wahrheiten befähigen. Die perzeptive Kraft der Seele, sich die Welt in äußerster Distinktion und Differenziertheit vorzustellen, wäre wie diejenige Gottes grenzenlos, ohne Einschränkungen, hätte sie keinen Körper: „Der Grund der Einschränkung“, so Wolff, „besteht in dem Stande des Cörpers in der Welt, und weil er veränderlich ist, in allen seinen Veränderungen.“9 An anderer Stelle heißt es: Die vorstellende Kraft, darinnen das Wesen und die Natur der Seele bestehet, richtet sich nach dem Stande eines Cörpers in der Welt, und denen daher sich ereignenden Veränderungen in den Gliedmassen der Sinnen, und hat also den Grund ihrer Vorstellungen mit ausser sich, nehmlich in der Welt. Und demnach ist die Seele dependent von der Welt.10
Der Zusammenhang zwischen Leiblichkeit und sensitiver Perzeptivität, die gleichsam die Daten liefert, mit denen der begriffsbildene Verstand zu hantieren vermag, scheint auf den ersten Blick einen handfesten sensualistischen Empirismus zu suggerieren. Doch der Schein trügt. Die Seele erweist sich als „thätiges Wesen, indem sie empfindet“.11 Sie bringt durch die ihr eigene Kraft ihre Empfindungen hervor. Die Stellung des Körpers in der Welt, die zunächst als eindeutiger Grund für die Empfindungen der Seele zu gelten schien, ist nichts weiter als der bloße Anlass, Empfindungen gemäß der Stellung des Körpers in der Welt zu produzieren: 9 10 11
Ebd., § 784. Ebd., § 941. Ebd., § 818.
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[S]o kommen die Bilder und Begriffe der cörperlichen Dinge nicht von aussen hinein, sondern die Seele hat sie in der That schon in sich, nehmlich auf die Art und Weise, wie es ihr als einem endlichen Dinge möglich ist, nicht würcklich, sondern bloß dem Vermögen nach, und wickelt sie nur gleichsam in einer mit dem Leibe zusammenstimmenden Ordnung aus ihrem Wesen heraus, indem sie sich selbsten determiniret das mögliche würcklich zu machen.12
In der Psychologia rationalis argumentiert Wolff nun mit der hier angesprochenen, mit dem Leibe zusammenstimmenden Ordnung, die die Matrix für die perzeptive Produktion der Bilder und Begriffe der körperlichen Dinge in der Seele abgibt, in zeugungstheoretischer Hinsicht, um darzulegen, dass die Seele postmortal zu distinkten Perzeptionen fähig bleibt.13 Wolff gibt zu verstehen, dass die Veränderung, die beim Tode vor sich gehe, derjenigen ähnlich sei, die sich bei der Zeugung ereignet. Gemäß der wolffschen Präformationslehre ist die Seele in den Korpuskeln präexistent, aus denen der Fötus im Uterus gebildet wird. In diesem Stadium aber realisiert die Seele, wiewohl dazu disponiert, weder ihr Vermögen zu deutlichen Perzeptionen noch das der Apperzeption oder des Gedächtnisses. Warum? Weil der momentane Stand des Körpers in der Welt ihr nicht den Anlass gibt, dessen sie bedarf, um das ihr Mögliche wirklich zu machen. Während der embryonalen Entwicklung ihres Leibes findet hingegen eine sukzessive Entfaltung aus dem Status perzeptiver Dunkelheit zum Status distinkter Perzeptionen statt. Die präexistente und fötale Repräsentation des Universum erfolgt also in derjenigen Ordnung, die durch Lage, Veränderung und Entwicklungsstand des Körpers vorgegeben werden. Der Tod ist laut Wolff dabei nichts anderes als der Zustand des Körpers, in dem dessen Organe auf einen Schlag aufhören, ihre Funktionen auszuüben. Dies aber heißt, dass bisherige Beschränkungen aufgehoben sind und die Seele, wie im Übergang vom keimhaften präexistenten Stadium zum Stadium der embryonalen Entwicklung, in ein neues Stadium der Verwandlung eintritt, in der sie ihre perzeptiven Möglichkeiten noch besser zu entfalten vermag. Wolff spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Seele ihre Perzeptivität zu vervollkommnen vermag. Das hört sich zunächst danach an, als wäre die Seele in ihrem postmortalen Zustand völlig von ihrem Leib losgelöst. In der Tat entsteht dieser Eindruck vor allem in der Psychologia rationalis. Nur müsste sie dann notgedrungen, da durch keinerlei Einschränkungen limitiert, gottgleich sein. In der Deutschen Metaphysik geht Wolff zwar nicht dezidiert auf die Frage der postmortalen Leiblichkeit ein, immerhin aber gibt er zu erkennen, dass die postmortale Transformation der Seele mit einer neuen Art der Einschränkung einhergehen muss: „Auf was Ebd., § 819. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Christian Wolff, Psychologia rationalis, Frankfurt am Main, Leipzig 1734, §§ 704 ff. 12 13
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für eine Art und Weise aber die Veränderung vorgehet, und wie lange es währet, ehe sie die neue Art der Einschränkung völlig erreichet, können wir zur Zeit nicht bestimmen.“14 Da die Einschränkung der seelenmonadischen Perzeptionen bei Wolff durch den Stand und die Beschaffenheit des Körpers in der Welt bestimmt sind, so lässt sich an dieser Stelle nur vermuten, dass die neue Art der Einschränkung mit einer radikalen Metamorphose ihres Leibes einhergeht. Das wäre zumindest konsequent Leibnizianisch. Denn Leibniz wurde nicht müde zu betonen, dass Monaden immer einen Körper haben und dass Geburt und Tod Metamorphosen und Verwandlungsprozesse sind.15 In der Psychologia rationalis wird Wolff genau dies, dass Monaden immer einen Körper haben, quasi individualpsychologisch pointieren und als herausragende Stärke der These von der präetablierten Harmonie deuten: Dieser zufolge sei nämlich jeder besonderen Individualseele nur dieser besondere Individualkörper zugeordnet. Beide zusammen konstituieren, so Wolff, schließlich die Einheit einer zusammengesetzten Substanz oder einen „homo suppositus“.16 Inwiefern diese Einheit als „persona“ subsistiert und was die Eigenschaften von Personalität sind, führt Wolff nur recht knapp in der Psychologia rationalis aus. Anders als die Tiere sind Menschen aufgrund ihrer Personalität nicht nur unverweslich, sondern auch unsterblich. Was aber ist nach Wolff eine Person und was macht deren Personalität letztlich aus? Als Person definiert Wolff ein einfaches Ding, das ein Bewusstsein seiner Identität besitzt, indem es sich als dasjenige erkennt, was zuvor in jenem Zustand gewesen und nun in diesem Zustand ist. In der Psychologia rationalis wird Wolff diese Fähigkeit des Sich-Wiedererkennens als memoria sui oder conscientia sui bezeichnen.17 Nun haben wir vorhin gesehen, dass Wolff auch Tieren das Vermögen des Gedächtnisses zuschreibt. Insofern scheint es auf den ersten Blick inkonsistent zu sein, Tieren Personalität abzusprechen, wenn ihnen doch wie den Menschen ebenfalls das Vermögen des Gedächtnisses zukommt. Was also heißt Gedächtnis bei Wolff ? – Gedächtnis bedeutet für Wolff zunächst einmal, Vorstellungen, die man jetzt hat, als solche Vorstellungen wiedererkennen zu können, die man schon einmal gehabt hat. Man könnte von einem objektbezogenen Wiedererkennen oder Erinnern sprechen. Die memoria sui aber zielt auf ein subjektbezogenes Erinnern oder Wiedererkennen; sie geht mit einem apperzeptiven Akt einher: Ich erkenne mich als das gleiche Ich wieder, Ebd., § 925. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, hg. von Hartmut Hecht, Stuttgart 1998, § 72 sowie Leibniz, Th1odic1e (wie Anm. 4), 152, 178 f. (§§ 90, 124). 16 Wolff, Psychologia rationalis (wie Anm. 13), § 719. 17 Ebd., § 733. 14 15
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das die Vorstellung, die es jetzt hat, auch in der Vergangenheit schon einmal gehabt hat. Es ist genau diese ganz spezielle Gedächtnisleistung, die laut Wolff allein der menschlichen Seele zuzusprechen ist. Sie bedingt gemeinsam mit dem apperzeptiv-reflexiven Akt der Verknüpfung meiner Vorstellungen die Personalität der menschlichen Seele oder, um mit Leibniz zu sprechen, die Fähigkeit des Menschen, ,Ich" zu sagen, eine Fähigkeit, die ihr ganz offensichtlich, folgt man Wolff, postmortal nicht abhanden kommt. Ganz im Gegenteil: Unsterblichkeit wird von Wolff ausdrücklich an den perzeptiv-apperzeptiven Akt geknüpft, wenn sie als Vermögen definiert wird, im Zustand distinkter Perzeptionen anzudauern und diesen memorial aufrechtzuerhalten, nachdem der Körper zu Tode gekommen ist.18 Die personale Menschenseele bewahrt also auch nach dem Tode die apperzeptive Erinnerung an ihren Zustand, d. h. sie ist sich, eingedenk ihres vergangenen Lebens, bewusst, dass dies vergangene Leben ihr Leben gewesen ist. Mehr noch, Wolff sieht Parallelen zur Veränderung, die beim Tode vor sich geht, mit jener, die sich bei der Zeugung und in der embryonal-fötalen Entwicklung zugetragen hat. Das aber weist darauf hin, dass Wolff in der Unsterblichkeit der Seele eine der pränatalen und embryonalen Entfaltung ähnliche Metamorphose sieht, in der sich die personale Seele des Menschen zu sogar noch höheren perzeptiven-apperzeptiven Bewusstseinszuständen erheben kann. Damit ist zunächst einmal die personale Vervollkommnung angesprochen, deren ethische Dimensionen in der Idee der moralischen Perfektibilität münden. Ohne dass Wolff dies expliziert – hier bleibt es allenfalls bei Andeutungen –, muss die angesprochene Metamorphose eine leibseelische sein, will heißen, dass sich die Seele nach dem Absterben dieses Leibes in einen neuen Leib einkleidet. Es sei denn, dass post mortem kein Stand des Körpers in der Welt mehr nötig ist, aus Anlass dessen die Person ihre Perzeptionen entfaltet. Bei Leibniz ist es freilich nur dem göttlichen Wesen vorbehalten, körperlos zu sein. Wolff bleibt in dieser Hinsicht, was den postmortalen Status der leibseelischen Personalität der menschlichen Seele anbelangt, merkwürdig unentschieden.
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Ebd., § 737.
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II. Politische Dimensionen der Unsterblichkeit der Seele: Der preußische Kronprinz Friedrich liest Wolffs ,Deutsche Metaphysik" Am 13. März 1736 übersandte Ulrich Friedrich Suhm dem preußischen Kronprinzen die Übersetzung des ersten Kapitels der Deutschen Metaphysik (§§ 1–9).19 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kronprinz schon mit der Lektüre von Wolffs Werken begonnen. So heißt es in einem Schreiben Friedrichs an Ernst Christoph von Manteuffel vom 11. März 1736, dass er seine „Nase bereits in Wolff gesteckt“ habe.20 Manteuffel, 1730 unfreiwillig aus sächsischen Diensten ausgeschieden,21 stand seit spätestens Ende 1735 mit dem Kronprinzen in einem intensiven Briefwechsel. Im Laufe der Zeit hat er sich als freundschaftlicher Ratgeber Friedrichs zu etablieren verstanden und mit einem unverkennbaren, den Prinzipien der Fürstenerziehung geschuldeten pädagogischen Impetus um dessen philosophische, theologische, moralische und literarische Interessenlage bemüht. Aus einem Brief Manteuffels an den sächsischen Minister Heinrich von Brühl vom 24. April 1736 geht hervor, dass er, schon damals ein überzeugter Wolffianer, dem Kronprinzen die Lektüre der Deutschen Metaphysik vor allem deswegen empfohlen habe, weil Wolff darin jene Frage, die Friedrich besonders umtrieb, nämlich das Problem der Unsterblichkeit der Seele, in argumentativ überzeugender Weise behandelt habe.22 Die Selbstvergewisserung von der (unsterblichen) Existenz der eigenen Seele, die Wolff in der Deutschen Metaphysik explizierte, hatte aber auch Zu Entstehung der französischen Übersetzung der Deutschen Metaphysik vgl. ausführlich Hanns-Peter Neumann, Der preußische Kronprinz Friedrich und die französische Übersetzung der ,Deutschen Metaphysik" Christian Wolffs im Jahr 1736. Die Identifizierung der Krakauer Handschrift Ms. Gall. Fol. 140 in der Biblioteka Jagiellonska und der Berliner Handschrift P. 38 in der Bibliothek des Schlosses Charlottenburg, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 24 (2014), 35–68. 20 Friedrich an Manteuffel, Berlin, 11. März 1736, in: Œuvres de Fr1d1ric le Grand, hg. von Johann David Erdmann Preuß, 30 Bde., Berlin 1846–1856, hier Bd. 16, 115. In einem Brief an Suhm, der auf Anfang bis Mitte Mai datiert werden muss, spricht Friedrich davon, dass er sich immer besser mit Wolffs „mani-re de raisonner“ vertraut gemacht habe und, was dessen „propositions“ oder Lehrsätze anbelange, inzwischen damit besser „als noch einige Monate zuvor“ zurechtkomme, vgl. Friedrich an Suhm, Berlin, [Mai 1736], in: ebd., XVI, 290. Vermutlich hat Friedrich mit der Lektüre der wolffschen Werke daher schon früh, mutmaßlich im Februar 1736, begonnen. 21 Vgl. Hans Jochen Pretsch, Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736. Ein kursächsischer Kabinettsminister im Dienst des Prinzen Eugen von Savoyen und Kaiser Karls VI. Bonn 1970 (Bonner Historische Forschungen 35). Zu Manteuffels Biographie siehe Thea von Seydewitz, Ernst Christoph Graf Manteuffel. Kabinettsminister Augusts des Starken. Persönlichkeit und Wirken, Dresden 1926. 22 Manteuffel an Brühl, Berlin, 24. April 1736, in: Karl von Weber (Hg.), Aus vier Jahrhunderten. Mittheilungen aus dem Haupt-Staatsarchive zu Dresden N. F. 2 (1861), 255: „[J]e lui recommandai de lire la metaphisique allemande de Wolff, qui dit tout ce qu!un philosophe peut dire de plus convaincant en faveur de l!immortalit1 de l!ame.“ 19
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Suhm schon mit nonchalantem Charme zur Sprache gebracht: „Quelle gloire pour notre philosophe [sc. Wolff] de prouver l!existence de la plus belle (me qu!il y ait dans l!univers [sc. Friedrich]“.23 Manteuffel und Suhm wussten, wie sehr Friedrich die Frage der Unsterblichkeit der eigenen Seele umtrieb.24 Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Suhm und Manteuffel in wechselseitigem Einvernehmen die wolffsche Philosophie in das Blickfeld des Kronprinzen rückten, um Friedrich zum wolffianischen roi philosophe zu erziehen.25 Bleibt zu fragen, warum nun ausgerechnet das Problem der Unsterblichkeit der Seele Friedrich 1736 so sehr in Beschlag genommen hat, dass es gleichsam der kultur- und wissenschaftspolitische Angelpunkt war, um den Thronfolger, den künftigen preußischen König, und dessen Politik wolffianisch zu prägen. Die nächstliegende Antwort darauf ist, dass Friedrichs Auseinandersetzung mit dem für ihn entscheidenden Problem der sterblichen oder unsterblichen Existenz der eigenen Seele eine der nachhaltigsten Effekte der traumatischen Erlebnisse seiner Gefangenschaft in der Festung Küstrin und der Hinrichtung seines Freundes Hans Hermann von Katte am 6. November 1730 gewesen ist. Hinzu kommt der stets schwelende Konflikt mit dem Vater, wie er zur Zeit jener Krisis ausgebrochen war, die zu den traumatischen Erfahrungen im Jahre 1730 geführt hatten. Auch wenn Friedrich den militärischen Exerzitien, zu denen ihn Friedrich Wilhelm schließlich verpflichtet hatte, nachkommen musste, eröffnete die Organisation einer eigenen Hofhaltung in Rheinsberg dem Kronprinzen gerade im ersten Halbjahr 1736 neue Freiräume und ermöglichte ihm die nötige Distanz zu seinem Vater, um sich seinen originären kulturellen Interessen von neuem widmen zu können. Parallel zum und noch vor dem für April 1736 belegten Versuch des Kronprinzen, mit dem religiösen Bekenntnis zur Unsterblichkeit der Seele den strengen väterlichen Erwartungshaltungen nachzukommen, ohne dass damit eine strikte Überzeugung verbunden gewesen wäre,26 hatte nun aber bereits die wohl eher latente, nur dem Kreis der engeren Vertrauten bekannte labilere philosophische Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit begonnen oder neu eingesetzt. Friedrich setzte seine Hoffnung auf die Möglichkeit, dass die UnsterbSuhm an Friedrich, 13. März 1736, in: Œuvres de Fr1d1ric le Grand (wie Anm. 20), XVI, 274. Vgl. Friedrich an Suhm, Ruppin, 17. März 1736, in: ebd.: „Vous comprenez ou vous devinez sans doute que l!assurance que me donne Wolff de l!immortalit1 de mon %me (chose qui m!inter)sse infiniment, et dont vous Þtes l!interpr-te) doit me causer une double joie“ (Hvhg. H.-P.N.). 25 Vgl. dazu Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin, New York 2011, 72–122; ders., Der Kampf um Kronprinz Friedrich. Wolff gegen Voltaire, Berlin 2011. Siehe auch Martin Fontius, Der Ort des ,Roi philosophe" in der Aufklärung, in: Martin Fontius (Hg.), Friedrich II. und die europäische Aufklärung, Berlin 1999, 9–27. 26 Vgl. Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2009, 53. 23
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lichkeit der Seele argumentationslogisch bewiesen werden und so als rational oder wissenschaftlich fundierte Gewissheit zu einem von innerer Standhaftigkeit und Ausgeglichenheit geprägten aufgeklärten Ethos beitragen könne. Wolffs Unsterblichkeitsbeweis spielte hierfür eine zentrale Rolle. So schreibt er am 27. März 1736 an Suhm: Enfin, je commence ) apercevoir l!aurore d!un jour qui ne brille pas encore tout ) fait ) mes yeux; et je vois qu!il est dans la possibilit1 des Þtres que j!aie une (me, et que mÞme elle soit immortelle. […] Je m!en tiens ) Wolff, et pourvu qu!il me prouve bien que mon Þtre indivisible est immortel, je serai content et tranquille.27
Doch ging es Friedrich nicht nur um die Vergewisserung der Existenz der eigenen Seele sowie ihrer postmortalen Weiterexistenz, sondern auch um diejenige seiner Freunde – dabei dürfte er rückblickend auch an Katte gedacht haben – sowie geistiger Größen wie Newton, Voltaire und Wolff. In einem weiteren Brief an Suhm kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck: La seule pens1e de votre mort me sert d!argument pour prouver l!immortalit1 de l!(me; car serait-il possible que cet Þtre qui vous meut, et qui agit avec autant de clart1, de nettet1 et d!intelligence en vous, que cet Þtre, dis-je, si diff1rent de la mati-re et du corps, cette belle (me, dou1e de tant de vertus solides et d!agr1ments, cette noble partie de vous-mÞme qui fait les d1lices de notre soci1t1, ne f*t pas immortelle? Non certes, je le soutiendrais sur les bancs mÞme, s!il le fallait, que, quand la plus grande partie du monde serait p1rissable et an1antie, vous, Voltaire, Boileau, Newton, Wolff, et encore quelques g1nies de cet ordre, doivent Þtre immortels.28
Selbst wenn es sich hier, angesichts einer „furchtbaren Kolik“ („colique affreuse“), die Suhm kurz zuvor überfallen hatte und ihn schon glauben ließ, dass das Ende nahe sei, um eine charmante, der Freundschaft geschuldete, in eine philosophische Reflexion eingekleidete Beteuerung ehrlicher Betroffenheit angesichts des möglichen Verlusts des Freundes handelt, so bezeugt diese Beteuerung bei allem Charme doch auch eine tieferliegende Befürchtung, nämlich diejenige, dass der Tod das endgültige Ende des Esprits und Charakters einer „schönen Seele“ („belle (me“) bedeuten könnte. Ein aufschlussreicher Brief Friedrichs an Manteuffel vom 29. April 1736 macht deutlich, wie präsent ihm die oben beschriebenen, schon gut ein halbes Jahrzehnt zurückliegenden traumatischen Erlebnisse gerade im Frühjahr 1736 noch waren. Darin versetzte sich der Kronprinz in die Lage Karl Heinrich von Friedrich an Suhm, Ruppin, 27. März 1736, in: Œuvres de Fr1d1ric le Grand (wie Anm. 20), XVI, 280: „Endlich beginne ich die Morgenröte eines neuen Tages wahrzunehmen, der zwar noch nicht in vollem Glanze vor meinen Augen erstrahlt, dennoch sehe es in der Möglichkeit der Seienden, dass ich eine Seele habe und dass diese sogar unsterblich sei. […] Ich halte mich dabei an Wolff, und vorausgesetzt, er weiß mir zu beweisen, dass mein unteilbares Seiendes unsterblich ist, werde ich zufrieden und ruhig sein.“ 28 Friedrich an Suhm, Ruppin, 6. Juni 1736, in: ebd., XVI, 294. 27
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Hoyms, ein in Sachsen in Ungnade gefallener und des Verrats bezichtigter ehemaliger sächsischer Kabinettsminister, der sich vormals für ein Bündnis Kursachsens mit Frankreich stark gemacht hatte. Hoym, zunächst 1733 Gefangener auf der Festung Sonnenstein, dann 1734 freigelassen, schließlich 1736 auf Festung Königstein erneut inhaftiert, hatte sich in der Nacht vom 21. zum 22. April das Leben genommen. Friedrich erläuterte dessen Schicksal vor dem Hintergrund eigener tragischer Erfahrungen wie folgt: Je viens au comte de Hoym, dont le malheur m!a fort touch1; vous savez que j!ai 1t1 de ses amis; ainsi vous pouvez d!autant plus vous figurer que pareille fin tragique doit m!Þtre sensible. […] Cela, avec l!ennui d!une longue prison, aura mis la derni-re main ) son humeur m1lancolique, et lui aura fait perdre le peu de jugement qui lui restait. J!ai le malheur d!avoir des attaques d!hypocondrie, et j!ai 1t1 dans une prison bien rude; je sais que le premier est un mal que l!on ne peut conna3tre ) moins de l!avoir eu, et l!autre est une situation o, il faut s!armer de toute la constance possible pour r1sister ) l!ennui, ) la solitude, et ) la terrible pens1e de la privation de la libert1. Le comte de Hoym aura cru s*rement l!immortalit1 de son (me, sans quoi il n!aurait pas eu le coeur de se r1duire au n1ant.29
Zweierlei fällt an Friedrichs Äußerungen auf: Zum einen verknüpft er die hypochondrischen Anfälle, an denen er zu dieser Zeit zu leiden schien, sowohl mit dem melancholischen Temperament Hoyms als auch mit jenen Erfahrungen, die er als Inhaftierter in der Festung Küstrin gemacht hatte; zum andern glaubt er den Selbstmord Hoyms darauf zurückführen zu können, dass Hoym nur durch seinen – von Friedrich freilich nur gemutmaßten – Glauben an die Unsterblichkeit der Seele den Mut aufgebacht habe „de se r1duire au n1ant“. Folgt man der impliziten Argumentation des preußischen Thronfolgers, so kann die Furcht vor dem Nichts nur überwinden, wer Gewissheit darüber hat, dass im Tod ausschließlich die körperliche, nicht aber die psychische Existenz zu „Nichts“ reduziert wird. Es war nun aber exakt diese Gewissheit, um die sich Friedrich sorgte, als er sich mit Wolffs Metaphysik zu beschäftigen begann; und er begann sich mit der philosophischen Diskussion der Unsterblichkeit der Seele zu befassen, weil er sich persönlich, vor dem Hintergrund seiner biographischen Leidensgeschichte, um ein Wissen bemühte, das ihm more geometrico sichere Erkenntnis von der unsterblichen Existenz seiner Seele versprach, wie dies die Theologie oder der bloße Glaube in seinen Augen nicht zu tun vermochten. In der Tat konnte Wolffs Theorie der einfachen Dinge den Kronprinzen von der Unsterblichkeit der Seele überzeugen, zumindest solange ihn Voltaires Gegenargumente nicht wieder zweifeln ließen. Friedrich beschrieb das Argument Wolffs in einem Brief an Antoine Achard vom 27. März 1736 prägnant in wenigen Worten: Die Existenz der Seele und deren Unsterblichkeit, so der Kronprinz, basierten 29
Friedrich an Manteuffel, Ruppin, 29. April 1736, in: ebd., XXV, 507 f.
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auf der notwendigen Annahme von „Þtres indivisibles“.30 Einige Monate später, im Juni 1736, bescheinigte Friedrich Wolffs Lehre von den einfachen Dingen „profondeur“ und „application“: Je ne me sens jamais plus petit qu!apr-s avoir lu la proposition de l!Þtre simple. Quelle profondeur! quelle application suivie ) sonder tous les secrets de la nature enti-re, ) porter la clart1 et la nettet1 o,, jusqu!ici, il n!y eut qu!ombre et que t1n-bres!31
Diese gegenüber Suhm getätigte Aussage könnte nun in der Tat den Zeitpunkt markieren, da Wolffs Metaphysik Friedrich nachhaltig zu überzeugen wusste. Immerhin zeigte sich Friedrich so sehr eingenommen von Wolffs Argumentation, dass er keinen Versuch unterließ, Wolff gegen die Einwürfe Voltaires, die dieser im April 1737 gegen die wolffsche Theorie der einfachen Dinge vorzubringen begann, zu verteidigen. Erst im November 1737, nach einer sich über fast ein halbes Jahr erstreckenden intensiven Diskussion der Leibniz-wolffschen Monadenlehre, lenkte Friedrich ein und gestand, dass es doch „endroits faibles de son [Wolffs] syst-me“ gäbe: „On ne sauroit r1fut1r Mons. Volf plus poliment que Vous les faites; Vous rend1z justice ) ce grand Homme, et vous remarqu1z en mÞme tems les endroits foibles de son sisth-me“.32 Dennoch deutet Friedrich an, dass Wolffs System aufgrund der größeren Widerspruchsfreiheit, die es gegenüber anderen philosophischen Systemen auszeichne, die bestmögliche Metaphysik repräsentiere, die zurzeit existiere.33 Doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Friedrich sich spätestens Friedrich an Achard, Ruppin, 27. März 1736, in: ebd., XVI, 122. Friedrich an Suhm, Ruppin, 6. Juni 1736, in: ebd., XVI, 295. Siehe dazu auch den aufschlussreichen Brief Friedrichs an Suhm vom 18. Juli 1736, den er schrieb, während er in Wehlau mit Truppenübungen beschäftigt war, und in dem er Suhm beteuerte, trotz der „occupations militaires“ und der „fatigues du voyage“ für keinen Augenblick Wolff aus den Augen zu verlieren: „Malgr1 les fatigues du voyage et les occupations militaires dont je suis charg1, ne croyez pas que je perde Wolff de vue un moment. C!est le point fixe sur lequel toute mon attention est tourn1e; plus je le lis, plus il me donne de satisfaction. J!admire la profondeur de ce c1l-bre philosophe, qui a 1tudi1 la nature comme jamais personne ne l!a fait, et qui est parvenu ) pouvoir rendre raison de choses qui autrefois 1taient non seulement obscures et confuses, mais encore tout ) fait inintelligibles. Il me semble que j!acquiers tous les jours plus de lumi-res avec lui, et que, ) chaque proposition que j!1tudie, il me tombe une nouvelle 1caille de dessus les yeux. C!est un livre que tout le monde devrait lire, afin d!apprendre ) raisonner et ) suivre le fil ou la liaison des id1es dans la recherche de la v1rit1“ (ebd., XVI, 300). 32 Friedrich an Voltaire, Remusberg [Rheinsberg], 19. November 1737, in: Voltaire, Correspondences and related documents, hg. von Theodore Besterman, in: The Complete Works of Voltaire, Bd. 85–134, Genf u. a. 1968–1976, hier Bd. 88, D1392, 406. 33 Ebd.: „Envain les philosophes combatront ils L!ereur, cet hidre ne se laise point abatre, il y paroissent toujours de nouvelle tÞtes ) mesure qu!on en a teras1es, et souvent il arive que des cendres d!une ereur en renaisent de nouvelles; en un mot le sisth-me qui contient le moins de contradictions, le moins d!impertinances, et les absurdit1z les moins grosi-res doit Þtre regard1 comme le meilleur.“ 30 31
Christian Wolffs Unsterblichkeitskonzept
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ab November 1737 vom Gedanken der Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele verabschiedet hat: „Si des Decartes“, resümiert er in einem Brief an Voltaire, „si des Locs [John Locke], des Neutons [Newton], des Volfs n!ont pu devin1r le mot de l!1nigme, il est ) croire et l!on peut mÞme afirm1r que la post1rit1 ne sera pas plus heureuse que nous en ses D1couvertes.“34 Mehr noch: Der Wunsch Friedrichs, den er im gleichen Brief äußert, die Natur möge eine Ausnahme von ihrer allgemeinen Regel machen und Voltaires Seele mit Unsterblichkeit segnen, zeigt, dass Friedrich die „r-gle g1n1ralle“, nämlich diejenige, welche die Sterblichkeit der Seele zum Normalfall erhebt, für gewisser ansah als deren unsterbliche Existenz.35 In einem ersten Teil wird Christian Wolffs Unsterblichkeitskonzept rekonstruiert und vorgestellt. Dabei zeigt sich, wie eng die Idee der Unsterblichkeit an das personale Bewusstsein gekoppelt ist. In einem zweiten Teil wird die Auseinandersetzung des preußischen Kronprinzen Friedrich mit Wolffs Unsterblichkeitskonzept thematisiert. The first part of this paper presents Christian Wolff!s concept of immortality which is, as will be seen, deeply connected with the idea of personal consciousness. The second part focuses the Prussian crown prince Frierdrich!s examination of Wolffs immortality-of-thesoul-thesis. PD Dr. Hanns-Peter Neumann, Brittendorfer Weg 18, D-14167 Berlin, E-Mail: [email protected]
Ebd. Ebd., 406 f.: „Env1rit1 Monsieur, si la Nature a le pouvoir de faire une exeption ) la r-gle g1n1ralle elle en doit faire une en Vostre faveur, et Vostre (me devroit estre Immortelle affin que Dieu p*t estre le R1mun1rateur de Vos vertus.“ 34 35
Paola Rumore Wolff on the Immortality of the Soul Quod si in hoc erro, qui animos hominum inmortalis esse credam, libenter erro; nec mihi hunc errorem, quo delector, dum vivo, extorqueri volo. (And if I err in my belief that the souls of men are immortal, I gladly err, nor do I wish this error which gives me pleasure to be wrested from me while I live.) Cicero, De senectute, § 85.
I. The soul between empirical and rational psychology The immortality of the soul can be legitimately considered the peak of Wolff!s psychological investigation. Indeed, this topic concludes the rational science of the soul, both in the early version that Wolff presents in the 5th chapter of the so-called German Metaphysics (1719), and in its mature and more developed formulation in the Latin Psychologia rationalis (1734).1 It means that during the 15 years gap between the two works, Wolff maintains the belief that the proof of immortality gathers in itself the knowledge provided by the rational science of the soul. Actually, this belief rests on a twofold ground "subjective! and "objective! – deeply rooted into the fundamental structure of Wolff!s philosophy. The "subjective! ground concerns the way understanding has to take in order to reach the complexity of truth. As Wolff constantly repeats in the prefaces to the new editions of these works and in other writings, clearness and distinctness can only be gathered gradually: “like the regulated nutrition promotes the gradual increase of the body, the understanding is gradually led by a moderate exercise to Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen anderen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilt, (1719), reprint ed. 1751 Hildesheim 1983 (from now on: Deutsche Metaphysik); ders., Psychologia rationalis, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide innotescunt, per essentiam et naturam animae explicantur, et ad intimiorem naturae ejusque auctoris cognitionem pro futura proponentur (1734), reprint ed. 1740 Hildesheim 1994. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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its own development.”2 The understanding needs to be slowly trained in order to build its solid system of truths, going from the more simple to the more complex ones. In Wolff!s philosophy this "subjective! reason rests on an "objective! ground, i. e. on the metaphysical nexus rerum which represents at a time the logical connection of truths. Indeed as he points out in his Ontologia: “Veritas adeo, quae transcendentalis appellatur & rebus ipsis inesse intelligitur, est ordo in varietate eorum, quae simul sunt ac se invicem consequuntur, aut, si mavis, ordo eorum, quae enti convenient.”3 “Universal truths are connected”, since the nexus between them has its ground in the same nexus that connects things, as Wolff illustrates in his Cosmologia, so that the metaphysical or transcendental truth (veritas transcendentalis) is at the very ground of the logical truth of the sciences (veritas logica).4 In the impressive methodological introduction to the series of his Latin works, the Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Wolff insists on this aspect by defining the cognitio scientifica seu philosophica as the kind of knowledge that takes into account the fundamental connection of truths.5 The choice to locate the question of immortality at the end of the investigation of rational psychology goes back to the idea that the notion of immortality gathers in a systematic order the components of the entire knowledge concerning the essence and the nature of the soul already developed in the previous parts of the inquiry. That!s the reason why the rational demonstration of immortality – i. e. of the capacity the soul has to survive after the death of the body – has its starting point in the investigation of the essence of the soul. But this kind of investigation which belongs properly to the scopes of rational psychology rests on empirical i. e. a posteriori remarks on the existence of the soul that Wolff derives from the undeniable experience of every thinking subject. As he stated in the Prolegomena to empirical psychology, the investigation of the soul begins with a kind of introspection, i. e. with the observation and description of what occurs in the soul. In the Psychologia empirica, Wolff claims the existence of the soul by means of a revised version of Descartes! argument of the cogito.6 Indeed he affirms that as soon as we Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 1), Preface to the 4th edition (1729), § 12; but see also the 5th chapter of Christian Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben (21733, 1726), reprint Hildesheim 1996. 3 Christian Wolff, Philosophia prima, sive Ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur (1729), reprint. ed. 1736 Hildesheim 1962, § 495. 4 Ibid., § 482 and § 482 nota. 5 Cristian Wolff, Discursus praeliminaris de Philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen (1728), transl. and ed. by Günter Gawlik and Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 6. 6 On the relation between Ren1 Descartes! cogito and Wolff!s so-called "cogitamus-argument! cf. Thierry Arnaud, Le crit-re du m1taphysique chez Wolff. Pourquoi une Psychologie empirique au sein de la m1taphysique, in: Archives de philosophie LXV (2001), 35–46, here 44; Thierry Arnaud, O, commence la “M1taphysique allemande” de Christian Wolff ?, in: Olivier-Pierre Rudolph, Jean2
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“pay attention to our perceptions”, “we experience in every moment that we are conscious (consci) of ourselves, and of other external things”.7 The certainty of our existence is highly evident, and doesn!t require any further demonstration. The same statement can be found in the opening paragraph of the German Metaphysics, where Wolff affirms: we are conscious (bewust) of ourselves and of other things. No one who is not completely out of his mind can doubt that, and should someone want to deny it by pretending, through his words, that things are other than he finds within himself, that person could quickly be shown that his pretense is absurd. For how could he deny something or call something into doubt if he were not conscious of himself and other things? But whoever is conscious of what he denies or calls into doubt, exists. And consequently it is clear that we exist.8
The thing in us that is conscious of itself and of other things is the soul (anima, mens), which therefore exists.9 The soul is here defined as a thing (ens), which shows the double level of perception (the act of representing something) and apperception (the awareness of our perceptions).10 Leibniz had acknowledged to it. Thanks to this direct access to our perceptions, "introspection! represents a privileged form of experience which leads us to the immediate knowledge of the existence of the soul, which, for Wolff, foregrounds the knowledge we have of the existence of bodies, in complete accordance with the Cartesian doubt.11 The capacity for thinking is nothing but the capacity of the soul to be conscious of what occurs in it, so that “thought (cogitatio) is an act of the soul, by means of which it is conscious of itself and of other external things”. Therefore, every thought requires both perception and apperception.12 The statement about the existence of a thinking being concerns therefore the realm of empirical psychology, i. e. of the science that – as Wolff stresses – provides to rational psychology both the certain empirical ground, and the final confirmation of its a priori deductions.13 The empirical "facts! of the soul, namely the FranÅois Goubet (eds.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2001, 61–73; Pietro Kobau, Essere qualcosa. Ontologia e psicologia in Wolff, Torino 2004, 37–46. 7 Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide constant, continentur et ad solidam universae philosophiae practicae ac theologiae naturalis tractationem via sternitur (1732), reprint. ed. 1738 Hildesheim 1968, § 11. 8 Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 1), § 1. 9 Cf. ibid., §§ 20 et sq. 10 Cf. ibid., §§ 24 et sq. 11 Cf. ibid., § 22. 12 Ibid., §§ 23–26. 13 In his Psychologia empirica Wolff defines this proceeding as follows: “Empirical psychology is the science that establishes principles through experience, whence reason is given for what occurs
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narrative descriptions of its working and the deduction of the principles this working rests on, allow to derive from the undeniable experience of "being conscious! of itself and of other external things, i. e. of "thinking!, the presence of a being which needs to be able to think. The task of rational psychology, then, is to find out which properties that being has to be endowed with in order to be in the condition to perform thinking.
II. Unity and simplicity of the thinking being By sketching the essential properties of the soul, Wolff shows once more his closeness to Leibniz, who introduced the unity of the substance as a necessary condition for any perceptual activity. According to the Monadologia (§ 13) – a text Wolff knew pretty well – to perceive, i. e. to represent something means to gather the plurality of the represented object in the unity of the representing substance. This "synthetic! process was labeled with the notorious formula of the reductio ad unum, and identified the unity of the subject-substance with the fundamental condition of representation. Being the unification of the multiplicity in the unitary and identical substance the very first condition of any perception and apperception, Leibniz claims that every substance has a dynamic and active nature, in contrast to the old Cartesian image of substance as a static being. Even if Descartes presents the res cogitans as a substance whose essence consists in thinking, he never points out that thinking requires a unitary and identical substrate, or rather that those properties of substance should be the "necessary conditions! of any thinking activity. Indeed, he doesn!t derive the unity and identity of the res cogitans from its capacity to think – as the unavoidable conditions of such an activity. Instead he introduces them on the basis of a confrontation – via negativa – between the res cogitans and the res extensa: bodies being extended, composed and material, souls must be not extended, not composed and not material.14 Wolff explains the capacity to perform the reductio ad unum as the capacity of the soul to compare its representations, and each of their parts within its unitary being. A composite being wouldn!t be able to produce the same kind of represenin the human soul” (§ 1). And, beside that, “Empirical psychology serves to examine and confirm discoveries made a priori concerning the human soul” (§ 5). On the relation between empirical psychology and experimental physics, cf. Jean Ecole, Des rapports de l!exp1rience et de la raison dans l!analyse de l!(me ou la Psychologie empirica de Christian Wolff, in: Giornale di metafisica 21 (1966), 589–617, and Jean Ecole, De la notion de philosophie exp1rimentale chez Wolff, in: Les Etudes philosophiques 4 (1979), 397–406; Anna Maria Vittadello, Experience et raison dans la psychologie de Christian Wolff, in: Revue philosophique de Louvain 11 (1973), 488–511. 14 Ren1 Descartes, Meditationes de prima philosophia, in: Œuvres comple ` tes, ed. by Paul Adam and Charles Tannery, Paris 1897–1909, vol. 7 (1904), 85 et sq.
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tations of a unitary substance, since its composite nature would threaten the unitary nature of thought and split its components across the manifold. Wolff explains this difference stating that the representations of the soul are repraesentationes in simplici and not repraesentationes in compositi like the ones that occur in physical substances, e. g. in a painting or in a mirror.15 According to Wolff, the unity of the soul represents the first of its properties as pointed out by rational investigation: the soul is a simple substance.16 Simplicity is connected to a further property, that is, to immateriality, since every material substance is ipso facto extended and therefore divisible into parts. Beside conceiving it as simple and immaterial, Wolff characterizes the soul also as an ens spirituale, i. e. as a substance endowed with understanding and will, both conceived as manifestations of the unique vis repraesentativa that Wolff understands as the essence of the soul.17 Being an ens spirituale the soul differs both from the extended body and from its components, to whom Wolff, unlike Leibniz, doesn!t ascribe any perceptual activity.18 By means of the famous thought experiment of the giant mill, Leibniz!s Monadologia (§ 17) had already shown in a very persuasive way the impossibility to explain the generation of thought on the basis of the mechanical interaction of the material components of an extended body.19 Agreeing Cf. Wolff, Psychologia rationalis (see fn. 1), § 83. Cf. Deutsche Metaphysik (see fn. 1), § 217, §§ 740 et sq., § 751. On this topic cf. Paola Rumore, Die Bilder der Seele. Vorstellung und Einheit, in: Luigi Cataldi Madonna (ed.), Macht und Bescheidenheit der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Christian Wolffs, Hildesheim 2005, 111–122. 16 Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 2), § 742; Psychologia rationalis (see fn. 1), § 48. 17 Ibid., § 645, § 66. 18 Ibid., § 644 nota: “Falluntur autem, qui sibi aliisque persuadere conantur, quasi iuxta Leibnitium materia ex spiritibus tanquam totum ex partibus componatur, et multo magis falluntur, qui nobis hanc sententiam tribuunt, cum elementis rerum materialium, nonnisi semplicitatem vindicemus, qualis vero sit vis ipsis insita in dubio relinquamus” (whereas those who try to convince themselves and other people that, as Leibniz states, matter is composed of spirits as a whole is composed of its parts, are mistaken and those who ascribe to us that judgment since I don!t claim anything else than simplicity for the elements of material things, and I am in doubt as to the nature of the power they are endowed with, are even more mistaken). In order to stress this distance from Leibniz!s monadology, Wolff calls these simple immaterial elements, which are not endowed with perceptions, “atomi naturae” (atoms of nature) or “elementa rerum materialium” (elements of material things), cf. Christian Wolff, Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata, qua ad solidam, inprimis Dei atque naturae, cognitionem via sternitur (1731), reprint ed. 1737 Hildesheim 1964, § 187. Cf. Hans-Jürgen Engfer, Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs, in: Sonia Carboncini, Luigi Cataldi Madonna (eds.), Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff, in: Il cannocchiale 2–3 (1989), 193–215 (reprint Hildesheim 1992). 19 On this topic cf. Margaret Wilson, Leibniz and Materialism, in: Margaret Wilson (ed.), Ideas and Mechanism, Princeton 1999, 388–406; Stewart Duncan, Leibniz!s Mill Arguments against Materialism, in: Philosophical Quarterly 62 (2012), 250–272; Marleen Rosemond, Mills Can!t Think: Leibniz!s Approach to the Mind-Body Problem, in: Res Philosophica 91 (2014), 1–28; Paul 15
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with Leibniz!s argument, Wolff rejects any mechanical explanation of the origin of thought and claims therefore that the simple substance of the soul must also be immaterial.20 III. Immateriality and incorruptibility The tight connection between simplicity and immateriality is at the roots of the long-lasting belief that simplicity has played a central and often overestimated role in the long series of demonstrations of immortality provided by the history of western philosophy. The deduction of the immortality of the soul from its simplicity – what Kant would stigmatize in his first Critique as the “Achilles” of every rational psychology21 – is actually based on the alleged equivalence between immortality and incorruptibility. Being simple and not composed, the soul cannot be divided into parts, and is therefore incorruptible; simple beings are ipso facto incorruptible, thus immortal. This so-called "simplicity argument! has a long tradition which goes back to Plato!s distinction between the visible and the intelligible world, being the first the realm of physical objects which are constantly changing, transient, and ephemeral, and the latter the realm of immaterial, unchanging, and eternal Forms. The soul – according to what Socrates claims in the Phaedo (78b4–84b8) – is immaterial because it must have an affinity with the Forms it apprehends. It is therefore unchanging and eternal too22. Plato!s strong argument for immortality rests on the belief that the soul itself is governed by the principle that a thing cannot participate at a time in a Form and in its opposite (102d–103a), and can be summarized as follows. Being the soul something that always brings life in itself (105c–d), it will never participate in the opposite of life, that is, death without ceasing to be a soul (105d–e). Therefore, the soul cannot die (105e–106d), and is indestructible (106e–107a). Plato!s final argument for immortality doesn!t actually rest on the idea of simplicity; in fact, Plato lacked a conception of substance as the later Aristotelian hypokeimenon, that is a persisting substrate of essential or changing attributes, among which one could eventually include the atLodge, Leibniz!s Mill Argument against Mechanical Materialism revisited, in: Ergo 1 (2014), 79–99. 20 Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 1), § 742; Psychologia rationalis (see fn. 1), § 47. 21 Immanuel Kant, KrV A 351. On Kant!s idea of the “Achille” cf. Corey W. Dyck, Kant and Rational Psychology, Oxford 2014; William Harper, Kant on the Achilles Argument, in: Thomas M. Lennon, Robert J. Stainton (eds.), The Achilles of Rationalist Psychology, Dordrecht 2008, 235–246. 22 The idea that the simplicity argument goes back to Plato is stressed by Ben Lazar Mijuskovic, The Achilles of Rationalist Arguments. The Simplicity, Unity, and Identity of Thought and Soul from the Cambridge Platonists to Kant, The Hague 1974.
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tribute of simplicity. Recent publications have shown in a very clear way that it is just within the Neoplatonic tradition, especially with Plotinus, that the "simplicity argument! becomes the starting point of any pre-modern and modern rational proof of immortality.23 Still Descartes recalls this argument to stress the fact that for what concerns the topic of immortality, metaphysics misses the goal: indeed, in the summary of his Mediatationes de philosophia prima – originally conceived as Mediatationes de philosophia prima, in qua Dei essentia et animae immortalitas demonstratur – Descarts admits that a metaphysical investigation can only lead to the demonstration of the real difference between soul and body.24 He goes from the “clearest possible conception of the soul”, which is “entirely distinct from all the conceptions which we may have of body” (II. Med.), to the fact that “we may be assured that all the things which we conceive clearly and distinctly are true in the very way in which we think them” (IV. Med.). Then, he concludes from the “distinct conception of corporeal nature” (II., V., VI. Med.) “that those things which we conceive clearly and distinctly as being diverse substances, as we regard mind and body to be, are really substances essentially distinct one from the other” (VI. Med.). From this essential, i. e. real, distinction Descartes derives that “not only are their natures different but even in some respects contrary to one another” (VI. Med.), so that if the body is conceived as divisible, the soul must be conceived as indivisible. Even though the real difference of the two substances is sufficient to “show clearly enough that the extinction of the mind does not follow from the corruption of the body, and also to give men the hope of another life after death”,25 the premises for the proof of immortality have to be found in the realm of Physics. Only in that realm one can try to establish in the first place that both the res cogitans, and the res extensa qua talis are in their nature incorruptible, and “that they can never cease to exist unless God, in denying to them his concurrence, reduce them to nough”; and that, in the second place, the human body (differently from the soul) is composed of a certain configuration of parts and of other similar accidents, so that it becomes a different thing from the sole fact that the figure or form of any of its portions is found to be changed. “From this it follows that the human body may indeed easily enough perish, but the mind [or soul of man (I make no distinction between them)] is owing to its nature immortal.”26 Cf. Karen Margrethe Nielsen, Did Plato Articulate the Achilles Argument?, in: Thomas M. Lennon, Robert J. Stainton (eds.), The Achilles of Rationalist Psychology (see fn. 21), 19–41; and in the same volume the paper by Devin Henry, The Neoplatonic Achilles, 59–74. 24 Following quotations are from Descartes, Meditationes de prima philosophia (see fn. 14), Synopsis sex sequentium meditationum, 12–16. 25 Ibid., 13. 26 Ibid. 23
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By means of these considerations, Descartes introduces a very fruitful idea in the history of the proofs of immortality, that is the idea that substances are naturaliter incorruptible, whereas their annihilation can only happen supernaturaliter, i. e. by means of God!s intervention. Wolff agrees with Descartes in conceiving the soul as naturally incorruptible; but he also agrees with Leibniz in identifying the nature of the soul in its essential vis repraesentativa, so that what is natural for the soul must have in that vis its sufficient reason.27 According to Leibniz monads cannot be created nor destructed, since their simple nature doesn!t admit either a creation per aggregationem or a destruction per disgregationem. Nevertheless, monads are finite substances, that is, they don!t have the ground of their existence in themselves but depend on God!s decision. In Leibniz!s incisive image in the Monadologia (§ 47): “[Monads] are generated, so to speak, by continual fulgurations of the Divinity”, and destroyed by an act of annihilation, passing respectively from the realm on non-being to the realm of being and vice versa instantaneously, and not throughout a gradual process. Wolff adopts Leibniz!s conception, according to which the soul, being a simple and spiritual substance, cannot perish in the same way bodies do: the soul is naturally incorruptible since corruptibility would contradict its nature.28 It means that it can only be annihilated by means of a divine act of instantaneous annihilation.29 Being essentially and naturally incorruptible, Wolff!s soul doesn!t perish with the body.30 But as such this feature doesn!t imply that the soul is in itself immortal, since unlike Plato and Descartes, Wolff doesn!t think that the two notions of incorruptibility and immortality are completely overlapping. Wolff denounces this fallacious belief already in the first edition of his German metaphysics by stressing that the property of incorruptibility belongs both to matter, that is to the simple elements of bodies, and to souls: “Matter is incorruptible, but not immortal. If the body ceases to exist because of the separation of its material parts, which is the death of animals and human beings, it doesn!t imply that matter itself is destroyed, but it still remains in the world as before, and is therefore incorruptible. But no one would affirm that matter is therefore immortal”.31 In the later Annotations to German metaphysics (1724) Wolff uses this argument to carry on his polemics against the Cartesians who deny souls to beasts: “Cartesians are usually well-satisfied when they demonstrate that the soul is incorruptible and doesn!t
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Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 1), § 75; Psychologia rationalis (see fn. 1), §§ 68 et sq. Ibid., §§ 666–669. Ibid., §§ 670 et sq., 732. Ibid., §§ 729–731. Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 1), § 927.
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perish with the body. But this is still insufficient; indeed in this way the human soul wouldn!t be anything special in comparison to the souls of the beasts”.32 But Wolff!s denunciation comes out in the clearest way in his epistula gratulatoria (1721) for Ludwig Philipp Thümmig!s Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta, where he claims that the origin of this fallacious belief goes back to the times of Plato and Socrates.33 According to Wolff, Plato and Descartes overlooked that, beside metaphysical incorruptibility, the immortality of the soul requires a further essential feature: after the death of the body, the soul has to persist in a condition of self-consciousness.34 This establishes what Wolff calls the “individualitas moralis” of the soul as a person, that is, “a being which preserves self-consciousness, namely which can remember to be the same being that previously was in this or in that state, and which is also called individuum morale”.35 Being conscious of its own perceptions and preserving the memory of its own previous states – what Wolff, recalling Locke!s formulation, conceives as the "personal identity! of everyone – are the two essential features of the notion of immortality. Wolff!s amendment of the old prejudice consists in conceiving immortality as a so to speak "complex! property of spiritual substances which requires three essential components: “1. That the soul survives after the death of the body, and that it doesn!t perish with it; 2. that it persists in a state of distinct perceptions; 3. that it preserves the memory of itself, that is, that it remains conscious of its previous life”.36
IV. Immortality and morality By means of the amendment of the traditional idea of immortality – inspired, as Thümmig correctly points out, by Leibniz!s statements in the Theodicy37 –, Wolff integrates the traditional metaphysical proof with a further moral item: the indiWolff, Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, und zu besserem Verstande und bequemerem Gebrauche derselben herausgegeben (1724), reprint ed. 1740 Hildesheim 1983, § 338 (from now on: Anmerkungen zur deutschen Metaphysik). 33 Wolff, Epistola Gratulatoria, in: Ludwig Philipp Thümmig, Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta; oder Gründlicher Beweiß von der Unsterblichkeit der Seele, Marburg 1737. A German traslation (“Von der Unsterblichkeit der Seele”) can be found in: Wolff, Gesammlete kleine philosophische Schrifften, Vierter Teil, Halle 1739, 220–230. 34 According to Thümmig, Plato admits that the soul survives in a condition of distinct perceptions, but denies on the grounds of the metempsychosis the preservation of personality (Demonstratio [see fn. 33], § VII). 35 Wolff, Psychologia rationalis (see fn. 1), § 741. 36 Ibid., § 739. 37 Thümmig, Demonstratio (see fn. 33), § VII. 32
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vidualitas physica guaranteed by the incorruptibility of simple substance is now combined with the individualitas moralis. In this way, the question of immortality is conceived in its own complexity as a primarily moral question, thus also is at the basis for the teachings of religion about the promise (or threat) of eternal rewards (or punishments). In fact, as Wolff stresses repeatedly, his notion of immortality matches with the Scripture (“Notio immortalitatis, quam dedimus, scripturae sacrae seu menti Christi conformis”38). Recalling the parable of the rich man and Lazarus (Luke 16.19–31) he remarks that after the rich man died, he was buried and carried to Hades. Since his body was buried, it was his soul the one that went to hell. […] Once in Hades the rich man looked up and saw Abraham far away, with Lazarus by his side. He recognized them; it means he was capable to distinguish them from each other. Thus he had perceptions whose parts were clear, that is he was in a state of distinct perceptions. He also remembered his brothers and his previous life. It means that he remembered his past state, [the life] previous to his death, and recognized he was the same one that was in that previous state. Thus Christ had the following notion of the immortality of the soul: [1.] the soul doesn!t perish with the body, but survives after death; 2. the soul keeps notions which are clear in their parts, and therefore distinct as a whole, i. e. it persists in a state of distinct perceptions; 3. after the death of the body the soul remembers itself [scil.: its previous life].39
Wolff!s notion of immortality confirms, on the one hand, his conviction that rational psychology supports firmly both religion and morality40 and, on the other hand, the perfect accordance of his philosophy with the Christian doctrine. In defense of this accordance against the accusations raised by the pietistic theologians, Wolff stresses in the mentioned Annotations that precisely “on a deeper knowledge of the soul rests the certainty of the immortality of the soul, which is an important fundament of Christian religion, and contributes massively to a proper practice of virtue”.41 Furthermore, Wolff!s insistence on the moral relevance of the notion of immortality allows him to distinguish clearly between the condition post mortem of human and animal souls. Even if incorruptible like every simple substance, animal souls do not preserve any self-consciousness, nor any memory of their past condition. That!s why “brutae personae non sunt”.42 In addiction to that, they are not properly speaking spirits, i. e. they are not endowed with understanding and freewill, hence, “although animal souls are incorruptible and do not perish with the body, however they are not immortal”.43 38 39 40 41 42 43
Wolff, Psychologia rationalis (see fn. 1), § 740. Ibid. Ibid., Praefatio, 5*–6*. Wolff, Anmerkungen zur deutschen Metaphysik (see fn. 32), § 1. Wolff, Psychologia rationalis (see fn. 1), §§ 766 et sq. Ibid., §§ 769, 764.
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Emphasizing the idea that the question of immortality cannot be considered in a solely metaphysical sense, Wolff inaugurates a long series of philosophical reflections which eventually culminate in the conviction that the proof of immortality can gain primarily or exclusively a moral certainty. A remarkable step in this direction was made by a radical opponent of any attempt to provide a rational demonstration of immortality. In 1746 Georg Friedrich Meier publishes his fortunate Gedanken vom Zustande der Seele nach dem Tode, where he declares the failure of any claim of rational psychology concerning immortality. According to Meier, simplicity is not by itself a guarantee of the survival of the soul after the death of the body, since, beside being simple, the soul is a finite, contingent being. Being contingent and not necessary, the soul could cease being, i. e. it may be or not be. This depends of course on God!s decision, which is impenetrable by human reason. In the defense of one of his writings on the eternity of the soul, Meier writes: The human soul being contingent and finite, it is possible that it dies. God!s omnipotence can annihilate it. Thus the question is if God also decided to do it, or not. Reason can answer the question in no other way than considering if the whole nexus of the world necessarily requires the eternal life of the soul, or the opposite. But a finite spirit cannot conceive the whole nexus of this world; it follows that the immortality of the soul cannot be demonstrated with mathematical certainty by means of reason.44
According to reason – as Meier claims following the suggestions of his friend and colleague Alexander Gottlieb Baumgarten – we could at most affirm that the soul is immortal in a hypothetical, but not in an absolute sense; that is, the soul can die even if, according to the teachings of the Scripture, it is very unlikely that it dies. But conceiving a soul which perishes with her own body doesn!t imply any logical contradiction, and therefore it cannot be said absolutely immortal. So that for what concerns immortality, we can indeed rely on a different kind of proof, which does not reach the mathematical certainty of rational deductions, but still provides us with a moral certainty, i. e. with the highest degree of probability sufficient to our aims.45 In the Revelation God announced rewards and punishments that he, because of the highest perfection of the world, cannot entirely connect with free actions of human beings in this life. It follows that one can prove the immortality of the soul from God!s revealed justice, but reason cannot do it. Therefore I showed that mere reason cannot convince us of the im-
Georg Friedrich Meier, Vertheidigung des Beweises, daß die menschliche Seele ewig lebe, Halle 1752, § 2, 8. Cf. Meier, Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode, Halle 1746, § 22, and § 28: "The death of the soul is possible in itself, and the soul is mortal in itself and for itself!. 45 On moral certainty in the modern tradition up to Kant cf. Luca Fonnesu, Kant on "moral certainty!, in: Luigi Cataldi Madonna, Paola Rumore (eds.), Kant und die Aufklärung, Hildesheim 2011, 183–204. 44
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mortality of the soul, although it cannot provide us with any single good reason from which we could derive with probability the annihilation and the death of the soul.46
Even if a few years later Meier would reconsider his negative judgment on the rational demonstrations of immortality,47 his early attitude reveals the inadequacy of the proofs based only on the metaphysical properties of the simple substance. The long tradition of the so-called "moral proofs! of immortality that goes from Christian August Crusius to Moses Mendelssohn!s Phaedo will develop on this path. It includes the topic of immortality in the broader debate about the human destination, and to Kant!s doctrine of the paralogisms of practical reason.48
V. Conclusion Wolff!s groundbreaking analysis was immediately perceived as such and promoted by Wolff!s supporters. At the very beginning of the 1720 s, Thümmig insisted in his already mentioned Demonstratio on the necessity to include in the notion of immortality the three features already pinpointed by Wolff. “Since the essence of the soul survives after the death of the body we call it indestructible (indestructibilis); since it persists in a state of distinct perceptions and preserve the memory of itself, we call it immortal (immortalis)”.49 Wolff!s proof served not only as refutation of the supporters of the death of the soul, but even more as a clear criticism of the belief of the so-called "mortalists! who claimed that the soul, once abandoned its earthly life, persists in a state of "sleep! until the sound of the trumpets proclaim the Last Judgment at the end of the time. Being the soul rational, it cannot lose its capacity to have distinct perception; in that case it would lose its proper essence, and couldn!t therefore be considered the same soul as before. Meier, Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (see fn. 44), § 90, 185. For a broader investigation of Meier!s idea of immortality cf. Paola Rumore, Georg Friedrich Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele im zeitgenössischen Kontext, in: Gideon Stiening, Frank Grunert (eds.), Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“, Berlin 2015, 163–186. 47 Meier will change his mind thanks to the work on immortality by his friend Samuel Gotthold Lange, Versuch, des von dem Herrn Georg Friedrich Meier, öffentlichen ordentlichen Lehrer der Weltweisheit zu Halle, in seinen Gedanken von dem Zustande der Seele nach dem Tode geleugneten mathematischen Erweises der Unsterblichkeit der Seele, Halle 1749. Cf. Rumore, Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele (see fn. 46). 48 On the topic cf. Paola Rumore, Kant and Crusius on the role of immortality in morals, in: Corey W. Dyck, Falk Wunderlich (eds.), Kant and his German Contemporaries, Cambridge 2018, 213 – 231; Dyck, Kant and Rational Psychology (see fn. 21); Dyck, Beyond the Paralogisms: Kant on the Immortality of the Soul in the Metaphysics Lecture Notes, in: Robert R. Clewis (ed.), Reading Kant!s Lectures, Berlin 2015, 115–134; Luca Fonnesu, Kant on "moral certainty! (see fn. 45). 49 Thümmig, Demonstratio (see fn. 33), § VI. 46
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This aspect of Wolff!s theory of immortality is at the center of one of the most influential treatise on immortality of the time, that is, the Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit published in 1739 by the Lutheran theologian Johann Gustav Reinbeck, a strong supporter of Wolff!s cause at the Prussian court.50 As he claimed: “We do not call immortal solely what doesn!t even cease living, rather what has such an essence and nature according to which it cannot ever cease living”.51 He sums up his demonstration in a series of statements which deserves to be quoted in full: I. A simple and indivisible thing is neither body nor matter. The rational soul is a simple and indivisible thing. Therefore, the rational soul is neither body nor matter. II. A simple and indivisible thing, which has neither body nor matter, is incorruptible and indestructible in itself, and maintains always its reality (Wirklichkeit). The rational soul is a simple and indestructible thing and has neither body nor matter. Therefore, the rational soul is incorruptible and indestructible in itself, and maintains continuously its reality. III. A thing which is incorruptible and indestructible in itself, and which maintains continuously its reality doesn!t ever lose its essence (Wesen). But the rational soul is such a thing which is incorruptible and indestructible in itself, and maintains continuously its reality. Therefore, the rational soul doesn!t ever lose its essence. IV. A thing which doesn!t ever lose its essence and whose essence consists in such a representative power that allows it to build not only clear but also distinct and general concepts, remains always able to get concepts of those things which are necessary to rational thought and judgment. But the rational soul never loses its essence, which consists in such a representative power that allows it to built not only clear but also distinct and general concepts. Therefore, the rational soul is always able to get concepts of those things which are necessary to rational thought and judgment. V. A thing which remains always able to get concepts of those things which are necessary to rational thought and judgment is immortal. But the rational soul is such a thing which remains always able to get concepts of those things which are necessary to rational thought and judgment. Therefore, the rational soul is immortal.52
The capacity to represent distinctly belongs to the essence of the soul, and is therefore preserved even when every connection with the body is over. As Wolff has shown in his rational psychology, this capacity is grounded on the system of pre-established harmony which governs the relation between body and soul. Perceptions by the soul harmonize with changes in the body without being influenced by them – according to Wolff!s enormously debated example, the mouth could pronounce rational speeches even if there was no rational soul and no rational Johann Gustav Reinbeck, Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit. Nebst einigen Anmerckungen über ein Frantzösiches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie dencke, Berlin 1739, reprint Hildesheim 2002. On the topic cf. Paola Rumore, Materia cogitans. L!Aufklärung di fronte al materialismo, Hildesheim 2013, 218–228; Rumore, Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele (see fn. 46). 51 Reinbeck, Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele (see fn. 50), § XIX. 52 Ibid., § LXXXVI. 50
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thought in that body.53 Therefore – as Reinbeck concludes – there is no contradiction and no difficulty in affirming that the rational activity of the soul can be carried on even after the death of the body.54 Wolff!s complex notion of immortality became very soon the standard view on the question. It can be found in the most influential treatises on immortality of the time, Johann Friedrich Stiebritz!s Philosophischer Beweis von der Unsterblichkeit der Seele (1740), and Israel Gottlieb Canz!s Überzeugender Beweiß aus der Vernunft von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein, als besonders der Kinderseelen (1744) which represents, together with Reinbeck!s work, the polemical goal of Meier!s refutation of any rational demonstration of immortality. But above all, the groundbreaking character of Wolff!s investigation is revealed by the effects it produced outside the narrow academic world. In fact, his idea of immortality became very soon the main weapon of the struggle of German philosophy against the taking over of materialism. Reinbeck!s idea of including in the publication of his Philosophische Gedanken the German translation of a famed anonymous writing about thinking matter – most likely a spurious version of Voltaire!s Letter on Locke55 – can be understood as a clear attempt to show what kind of dangerous consequences for the foundation of morals and for religious credo the refusal of Wolff!s proof could imply.56 Wolff!s idea of the soul and his proof of immortality was what the old guard of German philosophy opposed to the naturalistic and in some cases even materialistic oriented tendencies of French philosophy warmly welcomed at the Berlin court after Frederick!s accession to the throne. In fact, playing precisely on the sovereign personal interest in Wolff, Deutsche Metaphysik (see fn. 1), § 843. Reinbeck, Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele (see fn. 50), § XC. 55 The original title of the so-called Epistula gallica (French letter) was: Copie d!un Manuscript ou l!on soutient que c!est la mati)re qui pense; cf. Reinbeck, Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele (see fn. 50), 321–423. 56 Wolff was of the very same idea, as one can read in one of his letters to Manteuffel concerning Herr Hollmann in Göttingen: “Aus dem angehängten Brieffe des de Voltaire habe ersehen, daß der Prof. Hollmann in Göttingen seine Sätze, die er in der Theologia naturali behaupten sol, und welche deswegen noch nicht darf debitiret werden, von demselben entlehnet. Denn er giebet gleichfals vor, wie mir berichtet wird, daß Gott und die Seele was materielles wären, und man von beyden keinen Begriff haben könne, folgends nicht wiße, was Gott und die Seele sey, daß Gott weder allwißend, noch allgegenwärtig seyn könne, und was dergleichen mehr ist. Man könnte nun H. D. Langen gleichfals vorrücken, daß dieses die Früchte wären, wenn man die Leute von meiner Philosophie abzöge und ihnen weiß machte, sie könnte ein anders Systema finden, wodurch sie meines verdunckeln und vernichten könnten”. Wolff to Manteuffel, Jan. 20, 1740, in: Katharina Middell, Hanns-Peter Neumann (eds.), Historisch-kritische Edition des Briefwechsels zwischen Christian Wolff und Ernst Christoph Graf von Manteuffel, URL = http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-106475, Letter Nr. 52. 53 54
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the question of immortality the then counselor at the Prussian court, Ernst Christoph von Manteuffel, a strong supporter of Wolffianism and founder of the Societas Alethophilorum,57 suggested that Frederick read the German Metaphysics, where he would have found “all that a philosopher can say more convincingly in favor of the immortality of the soul”.58 The long-lasting admiration of the Enlightened sovereign for Wolffian philosophy, – which was only partially decreased by Voltaire!s harsh criticisms and which played at the time a so to speak remarkable "political! role in the cultural scene of Prussia – dates back to this first propitious meeting with Wolff!s clarification of the question of immortality. As he wrote: “je commence ) apercevoir l!aurore d!un jour qui ne brille pas encore tout ) fait ) mes yeux; et je vois qu!il est dans la possibilit1 des Þtres que j!aie une (me, et que mÞme elle soit immortelle. […] Je m!en tiens ) Wolff, et pourvu qu!il me prouve bien que mon Þtre indivisible est immortel, je serai content et tranquille.59 Der Aufsatz konzentriert sich auf Wolffs Beweis der Unsterblichkeit der Seele, den er sowohl in seiner frühen Deutschen Metaphysik als auch in der späteren Psychologia rationalis vorlegt. Aufgrund der Überzeugung, dass die Frage der Unsterblichkeit den höchsten Punkt jeder rationalen Untersuchung der Seele darstellt, zielt der Aufsatz darauf ab, den bahnbrechenden Charakter von Wolffs Verständnis der Unsterblichkeit hervorzuheben, der weit über die Grenzen einer bloßen metaphysischen Untersuchung hinausgeht. Durch die Betonung der moralischen Relevanz der Frage stellt Wolff eine neue Perspektive in die Diskussion über die Unsterblichkeit ein, die auch unter seinen Gegnern massiv einflussreich sein wird. Im letzten Teil weist der Aufsatz auf die breite Auswirkung von Wolffs Argument für die Unsterblichkeit und auf seine sozusagen „politische“ Rolle innerhalb der deutschen Kulturszene der Zeit hin. This paper focuses on Wolff!s proof of the immortality of the soul as it is advanced both in his early German Metaphysics, and in his later Psychologia rationalis. Presenting the question of immortality as the highest point of any rational investigation of the soul, this paper aims at emphasizing the groundbreaking character of Wolff!s notion of immortality, which goes beyond the boundaries of a mere metaphysical investigation. By stresOn the Societas Alethophilorum and on the role of Manteuffel in the circulation of Wolffianism cf. Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin 2010. 58 Manteuffel to Brühl, April 24, 1736, quoted in: Hanns-Peter Neumann, Der preußische Kronprinz Friedrich und die französische Übersetzung der Deutschen Metaphysik Christian Wolffs im Jahr 1736. Die Identifizierung der Krakauer Handschrift Ms. Gall. Fol. 140 in der Biblioteka Jagiellonska und der Berliner Handschrift P. 38 in der Bibliothek des Schlosses Charlottenburg, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 24 (2014), 35–68, here fn. 44. 59 Frederick to Suhm, 27. März, 1736, quoted in Hanns-Peter Neumann, Der preußische Kronprinz Friedrich und die französische Übersetzung der Deutschen Metaphysik Christian Wolffs im Jahr 1736 (see fn. 58), fn. 52. 57
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sing the moral relevance of the question, Wolff introduces a new perspective in the debate on immortality, which will turn to be massively influential even among his opponents. In the final part, the paper hints at the broad impact of Wolff!s argument for immortality, and at its so to speak "political! role within the German cultural scene of the time. Prof. Dr. Paola Rumore, Universit) degli Studi di Torino, Dipartimento di Filosofia e Scienze dell!Educazione, Via Sant!Ottavio 20, I-10124 Torino, E-Mail: [email protected]
Henny Blomme Israel Gottlieb Canz über die Unsterblichkeit der Seele
I. Einleitung Dass es in der Welt- und Kulturgeschichte so etwas wie Philosophie gibt, hängt stark damit zusammen, dass wir auf die echten und tiefen Lebensfragen keine endgültigen Antworten geben können. Auch wenn es möglich wäre, zu beweisen, dass gewisse Fragen notwendigerweise unbeantwortbar sind, wäre das für die meisten Menschen überhaupt kein Anlass, sich diese Fragen nicht mehr zu stellen. Die Frage, ob es nach dem Tod noch ein Leben gibt, dürfte eine solche Frage sein. Obwohl die Frage in der Formulierung höchst paradoxal klingt (weil Tod doch gerade die Verneinung des Lebens zu bedeuten scheint),1 verstehen wir sofort, wonach gefragt wird. Diese Tatsache, dass wir nämlich die Frage nicht sofort aufgrund einer einfachen Analyse der in ihr verwendeten Begriffe für unsinnig halten, kann der Philosoph mit Verwunderung entgegennehmen. Warum wird die Frage überhaupt erlaubt? Dass sie darum erlaubt wird, weil wir von der Antwort eine wahre Aussage über irgendwelche Fakten erwarten, klingt heutzutage nicht überzeugend. Vielmehr möchten wir die Frage über ein Leben nach dem Tod gerade darum stellen, weil wir meinen, dass die Antwort imstande ist, unser Leben vor dem Tod auf schwerwiegende Weise zu qualifizieren. In welche Richtung diese Qualifizierung geht, steht aber offen. Obwohl eine Mehrheit der Denker ein eventuelles Leben nach dem Tod als günstig beurteilt hat, hängt es zuletzt von persönlichen Einschätzungen ab, ob es das Leben vor dem Tod lebenswürdiger macht oder nicht. Wenn ja, könnte man das Bedürfnis, an ein Leben nach dem Tode zu glauben, psychologisch aus dem Wunsch nach dem eigenen Fortleben erklären. Aber auch dann Diese radikale Logik des Verhältnisses von Leben und Tod findet sich zum Beispiel in Epikurs Brief an Menoikeus: „Das angeblich schaurigste aller Übel also, der Tod, hat für uns keine Bedeutung; denn solange wir noch da sind, ist der Tod nicht da; stellt sich aber der Tod ein, so sind wir nicht mehr da. Er hat also weder für die Lebenden Bedeutung noch für die Abgeschiedenen, denn auf jene bezieht er sich nicht, diese aber sind nicht mehr da“ (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, hg. von Klaus Reich u. a., Hamburg 1967, Buch X 125, 281). 1
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werden wohl die Wenigsten den hypothetischen Charakter eines solchen Fortlebens verneinen: Man weiß es nicht, sondern möchte es, aus welchen Gründen auch immer, gerne glauben. Das Kircheninstitut hat sich mit diesem (für uns selbstverständlichen) hypothetischen Charakter eines Lebens nach dem Tod nicht zufriedengegeben. Nachdem einige Buridaner – unter ihnen der frühe Pietro Pomponazzi2 – explizite Zweifel sowohl an der philosophischen Beweisbarkeit der Unsterblichkeit als auch an der Individualität der Seele geäußert hatten, schrieb Papst Leo X. auf dem V. Laterankonzil, am 19. Dezember 1513, diese Eigenschaften der Seele einfach zu: Da […] der Sämann des Unkrauts, der alte Feind des Menschengeschlechts es wagte, einige äußerst verderbliche Irrtümer […] über den Acker des Herrn auszustreuen und wachsen zu lassen, vor allem über die Natur der vernunftbegabten Seele, dass sie nämlich sterblich sei oder eine einzige in allen Menschen, und manche, die leichtfertig philosophierend behaupten, dies sei – wenigstens philosophisch betrachtet – wahr: verurteilen und verwerfen wir in der Absicht, gegen diese Pest geeignete Heilmittel anzuwenden, mit Zustimmung dieses heiligen Konzils alle, die behaupten, die vernunftbegabte Seele sei sterblich oder eine einzige in allen Menschen, und diese [beiden Sachverhalte] in Zweifel ziehen.3
Wie man weiß, wird die Frage über ein Leben nach dem Tode innerhalb der kirchlichen Tradition nicht nur bejahend beantwortet, man findet in den heiligen Schriften zudem eine ganze Reihe von Aussagen, die dieses Leben nach dem Tod qualifizieren und organisieren, zum Beispiel anhand einer ,topologischen" Einteilung in Himmel, Fegefeuer und Hölle. Das V. Laterankonzil zeigt, dass das Kircheninstitut die Unsterblichkeit der Seele lieber nicht als mögliches Objekt philosophischer Beweise zuließ. Die kirchliche Autoritäten hatten anscheinend verstanden, dass Beweisversuche nur im Idealfall eine Bestätigung des OffenbaSiehe vor allem Pietro Pomponazzi, Quaestiones in libros De anima (1503–1504), hg. von Antonio Poppi, Padova 1970. 3 Siehe Henrico Denziger, Enchiridion symbolorum. Definitionem et declarationum de rebus fidei et morum (Editio undecima quam paravit Clemens Bannwart S.J.), Freiburg im Breisgau 1911, 255 f.: „Cum […] zizaniae seminator , antiquus humani generis hostis, nonnullos perniciosissimos errores […] in agro Domini superseminare et augere sit ausus, de natura praesertim animae rationalis, quod videlicet mortalis sit, aut unica in cunctis hominibus; et nonnulli temere philosophantes , secundum saltem philosophiam verum id esse asseverent: contra huiusmodi pestem opportuna remedia adhibere cupientes, hoc sacro approbante Concilio damnamus et reprobamus omnes asserentes animam intellectivam mortalem esse, aut unicam in cunctis hominibus, et haec in dubium vertentes.“ Mehr über den Kontext dieser päpstliche Bulle („Apostolici regiminis“) in: Olaf Pluta, Kritiker der Unsterblichkeitsdoktrin in Mittelalter und Renaissance, Amsterdam 1986. Die Bulle richtet sich übrigens nicht, wie man vielfach liest (z. B. rezent noch in Istv+n Czak/, Geist und Unsterblichkeit. Grundprobleme der Religionsphilosophie und Eschatologie im Denken Søren Kierkegaards, Berlin u. a. 2015, 100), gegen Pomponazzis erst 1516 erschienene Schrift De immortalitate animae. 2
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rungsglaubens, im meist probabelen Fall aber gerade Zweifel daran, bewirken würden. Die Frage zum Leben nach dem Tod übersteigt aber den Religionsglauben. Es ist in diesem Sinne bezeichnend, dass auch während der Aufklärungsepoche in Deutschland, während der eine deutliche Tendenz zur Kritik am Offenbarungsglauben erkennbar ist, die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele keineswegs verschwindet. Einerseits wird sich die Philosophie ab dem Anfang des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland endgültig von der Theologie emanzipieren und die früher vorgenommene Rechtfertigung der Glaubenswahrheiten in deren Kritik umschlagen. Andererseits aber hat dieses neue philosophische Selbstbewusstsein nicht zur Folge, dass die Beweise der Unsterblichkeit und die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits aus der Philosophie verschwinden. Eine andere Erklärung für die bleibende Beschäftigung mit der Frage über ein Leben nach dem Tod bietet sich also an, wenn man das mit dem zunehmenden philosophischen Selbstbewusstsein zugleich steigernde Bewusstsein des Wertes des Individuums beachtet. Wo Leibniz! Monadenlehre mit der Annahme von sowohl einfachen als in sich vollständigen immateriellen Substanzen vor allem eine quantitative Individualität unterstreicht, wird sich die Philosophie allmählich auch der qualitativen Betrachtung des Individuums zuwenden. Ich will damit nicht behaupten, dass Leibniz nicht auch die Seele des Individuums als etwas qualitativ Edles betrachtet, sondern dass nach ihm das Innerliche des Individuums, also dessen Seelenleben, als Anlass zu einer naturübersteigenden Spiritualität viel wichtiger wird. Der gesteigerte Wert des Individuums hatte zur Folge, dass man umso weniger glauben konnte, dass die Seele nach einer kurzen Dauer auf Erden der Vernichtung geweiht sein sollte. Die philosophische Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele, die man bei den Denkern des 18. Jahrhundert findet, hat schließlich in indirekter Weise auch Leibniz! Optimismus geerbt. Wenn Gott die beste unter allen möglichen Welten geschaffen hat, will er anscheinend, dass die Menschen glücklich sind. Dass aber überall auf Erden dennoch viel Schlechtes geschieht sowie dass die das Glück befördernden irdischen Güter ungleich verteilt sind und sich für einen großen Teil in den Händen von moralisch unwürdigen Besitzern befinden – das haben die Aufklärer auch bemerkt. Daher konnte nur der Ausblick auf ein besseres und gerechteres Jenseits die rationalistische Philosophie mit der harten Wirklichkeit versöhnen. Dies alles mag erklären, warum sich auch gläubige Philosophen des 18. Jahrhunderts, trotz der Gefahr, argumentativ unzureichendes – und also für den Glauben Schädigendes – zu liefern, mit Unsterblichkeitsbeweise befasst haben. Ein für die damalige Diskussion des Themas wichtiges Beispiel findet man bei Israel Gottlieb Canz, dessen Beweise ich im Folgenden, nachdem in dem nächsten Abschnitt zur Kontextualisierung kurz auf die Auffassungen von Leibniz und Wolff in Sachen Unsterblichkeit eingegangen wurde, besprechen werde.
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II. Die Unsterblichkeit der Seele bei Leibniz und Wolff Leibniz! Monaden muss man, weil sie als immaterielle einfache Elementen definiert werden, eigentlich schon als seelenartige Atome auffassen. Die menschliche Seele ist dann aber noch eine besondere Art von Monade, weil sie über Selbstbewusstsein sowie über die Möglichkeit von Selbsterkenntnis verfügt. Da nun alle Monaden unzerstörbar sind, kann auch die menschliche Seele nicht einfach verschwinden. Die substantielle Identität der Monade ist, wo es um die menschliche Seele geht, zugleich auch Identität einer Person. Dadurch wird garantiert, dass wir uns unserer Vergangenheit erinnern. Diese Erinnerung bleibt nach dem Tode des menschlichen Körpers in der menschlichen Seele bestehen. In einem Brief an Arnauld schreibt Leibniz, dass die menschliche „Seele Bewusstsein hat und mit dem was jedermann ,mein selbst" nennt, vertraut ist. Dadurch kann sie moralische Qualitäten haben und belohnt oder bestraft werden […]. Unsterblichkeit ohne Gedächtnis wäre nutzlos“.4 Und in einem späteren Brief an Arnauld heißt es, dass menschliche Seelen „ihre Persönlichkeit und moralische Qualitäten behalten müssen, damit die Stadt Gottes keine Seele verliert“ und dass „es notwendig sei, dass sie [diese menschlichen Seelen] unangerührt bleiben von allen Umstürzen im Weltall, die sie für sich selbst völlig unerkennbar machten und sie moralisch gesehen in eine andere Person verwandelten“.5 In der Vorrede zu den Nouveaux Essais schreibt Leibniz, dass die menschlichen Seelen so entworfen sind, dass sie immer die Persönlichkeit behalten, die ihnen in der ,Stadt Gottes" zukommt, und dass also ihr Gedächtnis beibehalten bleibt, so dass sie wirklich von Belohnung und Strafe betroffen sind.6 Leibniz an Arnauld, 4./14. Juli 1686: „Il n!y a rien de si fort pour demonstrer non seulement l!indestructibilit1 de nostre ame, mais mÞme qu!elle garde tousjours en sa nature les traces de tous ses estats precedans avec un souvenir virtuel qui peut tousjours estre excit1 puisqu!elle a de la conscience ou connoist en elle mÞme ce que chacun appelle moy. Ce qui la rend susceptible des qualit1s morales et de chastiment et recompense, mÞme apres cette vie. Car l!immortalit1 sans souvenir n!y serviroit de rien“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875–1890, Bd. 2, 57). 5 Leibniz an Arnauld, 9. Oktober 1687: „C!est pourquoy tout est dispos1 en sorte que les loix de la force ou les loix purement materielles conspirent dans tout l!univers ) executer les loix de la justice ou de l!amour, que rien ne sÅauroit nuire aux ames qui sont dans la main de Dieu, et que tout doit reussir au plus grand bien de ceux qui l!aiment. C!est pourquoy les esprits devant garder leur personnage et leur qualit1s morales, ) fin que la cit1 de Dieu ne perde personne, il faut qu!ils conservent particulierement une mani-re de reminiscence ou conscience, ou le pouvoir de sÅavoir ce qu!ils sont, d!o, depend toute leur moralit1, peines et chastimens, et par consequent il faut qu!ils soyent exemts de ces revolutions de l!univers qui les rendroient tout ) fait m1connoissables ) euxmÞmes, et en feroient moralement parlant une autre personne“ (ebd., Bd. 2, 125). 6 Leibniz, Nouveaux Essais, Preface: „[J]e crois que […] tous les g1nies, toutes les ames, toutes les substances simples cre1es sont toujours joints ) un corps, et qu!il n!y a jamais des ames entierement separ1es. J!en ay des raisons a priori, mais on trouvera encor qu!il y a cela d!avantageux dans 4
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Anders als Leibniz, der auch tierischen Seelen Ewigkeit zuschreibt, wird Christian Wolff die Unsterblichkeit der menschlichen Seele mit der Sterblichkeit der tierischen Seele kontrastieren. Dass Wolff über Sterblichkeit der tierischen Seelen spricht, mag verwundern, wenn man weiß, dass er viele von den Eigenschaften der leibnizschen Monaden in seine Seelenlehre übernimmt. Auch für Wolff ist zum Beispiel jede Seele ein unzerstörbares Element der Wirklichkeit – wie kann sie dann im Falle der Tiere dennoch sterblich sein? Tierische Seelen verfügen nach Wolff sogar auch über eine Art von Selbstbewusstsein7 und über ein Gedächtnis der vergangenen Wahrnehmungen. Dass Wolff trotzdem nicht die tierische Seele als unsterblich bezeichnet, hat damit zu tun, dass Tiere nach ihm keine Persönlichkeit haben. Tiere können sich, so Wolff, nicht darüber bewusst sein, dass sie dasselbe Tier sind wie zwei Jahre zuvor. In § 924 der Deutschen Metaphysik schreibt Wolff: Da man nun eine Person nennet ein Ding, das sich bewust ist, es sey eben dasjenige, was vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind die Thiere auch keine Personen: hingegen weil die Menschen sich bewust sind, daß sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind sie Personen.8
Das diachrone Identitätsbewusstsein ist also ein Privileg der Menschenseelen. Da nun alle Seelen unzerstörbare einfache Elemente sind, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Menschenseele nach dem Tode des Körpers dieses diachrone Identitätsbewusstsein verlöre. Gerade weil die Menschenseele unzerstörbar ist, kann auch die mit ihr verbundene Persönlichkeit nicht verschwinden. In § 926 der Deutschen Metaphysik heißt es demgemäß: In dem Zustande deutlicher Gedancken ist nicht allein die Seele ihrer […] und dessen, was sie gedencket, bewust […], sondern der gegenwärtige Zustand bringet auch jederzeit etwas von dem vergangenen hervor […] und das Gedächtnis versichert uns, daß wir uns vorhin in demselben befunden […]. Da nun die Seele des Menschen erkennet, sie sey eben diejenige, die vorher in diesem Zustande gewesen, und demnach den Zustand ihrer Person auch nach dem Tode des Leibes behält […]; so ist sie unsterblich. Denn das unverweßliche ist unsterblich, wenn es den Zustand einer Person beständig behält.9 ce dogme qu!il resout toutes les difficult1s philosophiques sur l!estat des ames, sur leur conservation perpetuelle, sur leur immortalit1 et sur leur operation. […] [Les] ames raisonnables […] sont toujours destin1es ) conserver le personage qui leur a est1 donn1 dans la cit1 de Dieu, et par consequent la souvenance: et cela pour estre mieux susceptibles des chastimens et des recompenses“ (ebd., Bd. 5, 51). 7 Tierische Seelen sind sich bewusst von sich selbst und von dem, was sie fühlen – sie wissen mit anderen Worten, dass sie sehen, hören und fühlen. Vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele der Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilt (Deutsche Metaphysik), 7. Aufl., Frankfurt am Main, Leipzig 1738, § 892, 553 f. 8 Ebd., 570. 9 Ebd., 573.
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In § 739 seiner Psychologia Rationalis erklärt Wolff, dass ein Beweis der Unsterblichkeit der Seele aus drei Teilen bestehen soll: 1) dass die Seele beim Tod des Leibes nicht stirbt; 2) dass die Seele nach dem Tod noch stets deutliche Gedanken hat; 3) dass die Seele sich an das vorige, leiblich gelebte Leben erinnert.10 Er meint, dass diese Aspekte der Unsterblichkeit der Menschenseele auch in der heiligen Schrift gefunden werden können. Als Beispiel verweist Wolff auf die Erzählung vom reichen Schlemmer (Lk 16). Der reiche Schlemmer ist begraben worden und in die Hölle gekommen: Dem Leibe nach ist er begraben worden: folglich ist er der Seele nach in die Hölle gekommen. Die Seele ist also, weil sie mit dem Leibe nicht stirbet, nach dem Tode desselbigen annoch übrig. Der Reiche sahe in der Hölle von ferne den Abraham, und Lazarum in seinen Schose. Weil er sie alle beyde erkennet hat: so ist es ganz richtig, daß er sie von einander unterschieden habe. Er hatte demnach besondere Gedanken, deren Theile klar, und die daraus zusammengesetzten folglich deutlich waren, und ist demnach in einen Zustande deutlicher Vorstellungen gewesen. Endlich hat er sich auch seiner Brüder und des vorhergeführten Lebens erinnert. Er ist sich demnach des vor seinen Tode hergegangenen Zustandes bewust gewesen, und hat eingesehen, er seye derjenige, welcher vor seinen Tode in demselbigen Zustande gewesen seye. Der Heiland hat demnach diesen Begriff von der Unsterblichkeit gehabt, [1)] daß die Seele nach dem Tode annoch übrig seye, und nicht zugleich, mit dem Leibe untergehe; 2) daß auch die Seele nach dem Tode annoch klare Begriffe der Theile, und deutliche von dem ganzen habe, oder daß sie in dem Zustande deutliche Begriffe verbleibe; 3) daß sie nach dem Tode sich ihrer annoch bewußt seye.11
Vgl. Christian Wolff, Von der Unsterblichkeit der Seele, in: ders., Gesammlete kleine philosophische Schrifften, Vierter Theil, Halle 1739, 220–230, 224 f.: „Weil die Seele unsterblich ist, in so ferne, sie nach dem Tode ihres Cörpers übrig und in dem Zustande deutl Gedanken auch sich annoch bewust verbleibet: so muss einer, welcher die Unsterblichkeit der Seele erweisen will, herausbringen: 1) daß die Seele nach dem Tode ihres Leibes annoch übrig seye, und nicht untergehe; 2) daß sie in dem Zustande deutlicher Gedanken verharre, und 3) daß sie sich ihrer bewust verbleibe, oder sich von ihren vorigen Leben erinnern kann, es gehöre zu ihr.“ Diese Auffassung wurde stark kritisiert von dem Thomasianer Andreas Rüdiger in seiner „Gegenmeinung“ – ein 1727 erschienener kritischer Kommentar zur wolffschen Seelenlehre: „Diese Unsterblichkeit haben die Seelen dem Hrn. A. [das heißt: Wolff selbst; H.B.] zu dancken. Denn erst hat er sie durch eine willkürliche Beschreibung § 924 auch so lange sie noch im Leibe sind, zu Personen gemacht, hernach legt er auch in diesem §. den Personen das Ehrenwort bey, daß sie nicht wie die unpersönliche Seelen der Thiere nur verweßlich, sonder sogar auch unsterblich sind. So haben denn die Seelen der Menschen diese Unsterblichkeit, durch zwey nominal-definitiones (der Person und der Unsterblichkeit) zu welchen beyden aber der Hr. A. kein Recht gehabt hat […] erlanget. Da nun die Seele des Menschens nicht das mindeste mehr oder weniger kriegt als sie schon hat, sie mag in angeregten Verstande unverweßlich, oder unsterblich genennet werden, so siehet der Hr. A. daß er nicht Sachen, sondern nur Worte, und zwar nach einen von ihm selbst erdichteten Verstande, zu welchen er niemals berechtiget gewesen, demonstriret“ (Andreas Rüdiger, Herrn Christian Wolffens Meinung von dem Wesen der Seele und D. Andreas Rüdigers Gegen-Meinung, Leipzig 1727, 333 f. [Anm. M17]). 11 Wolff, Von der Unsterblichkeit der Seele (wie Anm. 10), 224 f. 10
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Diese Dreiteilung der im Rahmen eines Beweises der Unsterblichkeit der Seele zu behandelnden Thesen wird beibehalten von dem Wolff-Schüler Ludwig Philipp Thümmig. In seiner erstmals 1721 erschienene Dissertation über die Unsterblichkeit der Seele12 findet man die drei Teilstücke der wolffschen Analyse in den Hauptstücken II, III und IV: „Cap. II. Animam esse natura sua indestructibilem demonstrat“;13 „Cap. III. Animam a morte corporis perseverare in statu perceptionum distinctorum, ostendit“;14 „Cap. IV. Tandem evincit, animama revera esse immortalem“.15 Auch Israel Gottlieb Canz16 hält sich in seiner umfangreichen Schrift Überzeugender Beweis aus der Vernunft betreffend die Unsterblichkeit der Menschenseelen insgemein, als besonders der Kinderseelen, samt einem Anhange, wie es der Seele nach dem Thode zu Muthe sein werde (1741)17 an Wolffs Dreiteilung.
III. Israel Gottlieb Canz und sein „Überzeugender Beweiß aus der Vernunft betreffend die Unsterblichkeit“ Bevor er seinen Überzeugender Beweis publizierte, hatte Canz schon über die Unsterblichkeit der Seele geschrieben. 1728 hatte er ein lateinisches Werk über „den Nutzen der leibnizschen und wolffschen Philosophie für die Theologie“18 veröfLudwig Philipp Thümmig (Praes.), Conrad Heinrich Mensching (Resp.), Demonstratio immortalitatis animae ex intima eius natura deducta, Halle 1721 (2. Aufl. 1737; 3. Aufl. 1742). 13 Ebd., 6 (2. Aufl. 1737, 7). 14 Ebd., 17 (2. Aufl. 1737, 20). 15 Ebd., 22 (2. Aufl. 1737, 26). 16 Israel Gottlieb Canz wurde in 1690 in Grüntal geboren. Ab 1706 studierte er am Tübinger Stift, wo er drei Jahre später zum Magister der Philosophie promovierte. Anschließend studierte er noch fünf Jahre Theologie und Philosophie. In 1734 wurde er als ordentlicher Professor der Beredsamkeit und der Dichtkunst an der Universität Tübingen angestellt. Fünf Jahre später, also 1739, wurde er an derselben Universität Professor der Logik und der Metaphysik, um dann nochmals acht Jahre später, also 1747, Professor der Theologie zu werden. Israel Gottlieb Canz starb im Jahre 1753 in Tübingen. Mehr zur Biographie und zu den anderen philosophischen Schriften von Canz in Heiner Klemme, Manfred Kuehn (Hg.), The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers, London 2015, 123–126. Canz! Argumente wurden schon teilweise analysiert in Udo Thiel, The early modern subject, New York 2011 und Corey Dyck, Kant and Rational Psychology, Oxford 2014. 17 Ich zitiere im Folgenden aus der dritten, „mit mehreren Anmerkungen, besonders wider den Seelen-Schlaf nach dem Tod“ vermehrte Auflage aus dem Jahre 1746: Israel Gottlieb Canz, Überzeugender Beweis aus der Vernunft von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein, als besonders die Kinder-Seelen. Samt einem Anhange über die Frage: Wie es der Seele nach dem Tode zu Muthe seyn werde?, Tübingen 1746. 18 Israel Gottlieb Canz, Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus in theologia per praecipua fidei capita praemittitur dissertatio de ratione et revelatione, natura et gratia, Frankfurt am Main, Leipzig, 1728, 260–275. 12
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fentlicht, worin er schon die wolffschen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele verteidigt. 1740 hatte er dann vier Dissertationen zum Thema veröffentlicht.19 In diesen beiden Veröffentlichungen findet sich schon die strukturell-argumentative Unterscheidung zwischen Beweisen der Unsterblichkeit der Seele aus der Natur der Seele selbst und Beweisen aus Betrachtung der Natur Gottes,20 die sich im Überzeugenden Beweis im Unterschied zwischen den Hauptstücken I und II niederschlägt: „I. Hauptstück, daß die Seele unsterblich seye, aus deren inneren Natur und Beschaffenheit erwiesen“;21 „II. Hauptstück, enthaltend den Beweis, daß auch Gott die Seele unsterblich haben wolle“.22 Das dritte Hauptstück befasst sich mit der Frage nach der Unsterblichkeit der Kinderseelen. Im vierten Hauptstück schließlich lässt sich Canz über den Zustand der Seele im Jenseits aus. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Besprechung der Argumente aus dem ersten und umfangreichsten Hauptstück, die für den philosophisch interessierten Leser am interessantesten sind, da sie nach Canz ein von jeder theologischen Annahme unabhängigen Beweis der Unsterblichkeit der Seele liefern sollen. Am Anfang des I. Hauptstückes („Daß die Seele unsterblich seye, aus deren inneren Natur und Beschaffenheit erwiesen“) gibt Canz eine Definition der Seele: Durch die Seele verstehen wir dasjenige Wesen in uns selbsten, welches Begriffe macht, urtheilet, schliesset, welches die Sachen, so uns vorkommen, überdenket, eine mit der andern vergleichtet, ihre beederseits sich auf einander beziehende Verhältnisse, entdecket, ihren Unterscheid bemerket: Das Wesen, welches nach Beschaffenheit verschiedener Umstände, tausenderley Entschliessungen faßt, Begierden heget, Neigungen äussert, allerhand Triebe von sich spühren läßt; zuweilen aber auch wieder zurücktritt, seine vorige Anschläge abändert, sich auf einen neuen Fuß setzet, und zu diesem Zweck frische Mittel aussinnet, das angezielte zu erreichen. Dasjenige Wesen nun, welches allen diesen Eigenschaften unterstehet, diese Würkungen hervor bringt, Israel Gottlieb Canz, Dissertationis de immortalitate animae, Tübingen 1740 (Vier Theile: P. I. Eristica, dubia veterum et recentiorum quorundam discutiens; P. II. Historica, nonnullorum veterum et recentiorum sententias expendens; P. III. Dogmatica Prior, animae immortalitatem probans ex principio interno; und P. IV. Dogmatica Posterior, animae immortalitatem probans ex principio externo). 20 Im ersten Werk ist die Unterscheidung in der Tat zwischen „aus der Natur der Seele“ und „aus der Natur von Gott“ (vgl. Canz, Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae [wie Anm. 18], 263). Mit Bezug auf die Dissertationen von 1740 wird der Unterschied neu formuliert als der zwischen „bewiesen aus einem inneren Prinzip“ und „bewiesen aus einem äußeren Prinzip“ (vgl. die in Anm. 19 angegebenen Titel des dritten und vierten Teiles der Dissertationis). Die Unterscheidung dürfte Canz von Johann Joachim Lange übernommen haben, vgl. Johann Joachim Lange, Dogma senioris philosophiae primarium de immortalitate animae humanae, ex ipso naturas lumine demonstrabili et evidenter demonstrata, Hamburg, Halle 1725, 1: „Dissertatio prima, immortalitatem animae humanae ex ipsa eius Natura demonstrans“, 17: „Dissertatio secunda exhibens argumente pro immortalitate animae humanae extra ipsam eius nature aliunde desumte.“ 21 Canz, Überzeugender Beweis (wie Anm. 17), 13. 22 Ebd., 215. 19
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darinn von einer zur andern schreitet, sich bald so, bald anders lenket, heissen wir eines Menschen Seele.23
Die menschliche Seele ist für Canz also vieles zugleich. Sie ist: 1) 2) 3) 4) 5)
das logische Subjekt (das schließt), das denkende und erkennende Subjekt (das urteilt), das seine Zukunft entwerfende Subjekt (das Pläne fasst), das den Neigungen unterworfene Subjekt (das Triebe spürt und begehrt), das moralische Subjekt (das in der Konfrontation mit den Neigungen aus moralischen Gründen zurücktreten kann).
Die Frage ist nun, ob diese Seele unsterblich ist. Wie bei Wolff besteht die These der Unsterblichkeit der Seele nach Canz aus drei „Theilbegriffen“.24 Wie er im Vorwort schreibt, ist Canz! Absicht mit seiner Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele darauf gerichtet, „daß alle besondere Theilbegriffe, die in der deutlichen Vorstellung von der Seelen Unsterblichkeit, sich dem Auge des Gemüthes zeigen, Stückweiß, und in gebührender Ordnung, dargelegt, bewiesen, erläutert, und bekräftigt werden.“25 Dass die menschliche Seele (1) unzerstörbar oder unverweslich ist, und also kein zusammengesetztes Wesen sein kann, wird im Abschnitt 4 behandelt. Dass die Seele essentiell (2) geistiger Natur (und also keineswegs materiell) ist, ist Thema des 5. Abschnittes. Die These schließlich, dass die menschliche Seele immer die (3) gleiche Person ist, unabhängig davon, ob der menschliche Körper lebt oder gestorben ist, entwickelt Canz im 6. Abschnitt. Im Folgenden wird gezeigt, wie Canz diese drei Aspekte der These von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele beweist und bekräftigt.
Ebd., 13. Ebd., 14. 25 Ebd., 6. Wie Canz bemerkt, hat Johann Gustav Reinbeck, der 1740 ein deutsches Buch zum Thema veröffentlicht hatte (Philosophische Gedancken über die vernünftige Seele und derselben Unsterblichkeit. Nebst einigen Anmerkungen über ein Französisches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie dencke, Berlin 1740), das nicht gemacht. Diese Bemerkung soll aber, warnt Canz, nicht als Kritik an Reinbeck aufgefasst werden: er verfahre einfach anders (vgl. ebd., 3–6). 23 24
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IV. Die „Unverweßlichkeit“ der menschlichen Seele Die erste Teil-These, die im Begriff einer unsterblichen Seele enthalten ist, besagt nach Canz, daß die Seele unverweßlich seye, und keineswegs nach dem Tod in die Lufft zerstäube, oder mit dem letzten Odemzug, wie ein ausgelöschtes Feuyr, verrauche: sondern vielmehr allstet in der Welt annoch übrig, gleichwohl an ihrem Ort, wohin sie von Gott bestimmet, würklich zugegen seye.26
Canz gibt für diese These der ,Unverwüstlichkeit" der menschlichen Seele insgesamt sechs Beweise.27 1. Zuerst beweist er die Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele dadurch, dass er bemerkt, dass sie im Stande sei, sich allgemeine Wahrheiten vorzustellen und diese einzusehen: „Kein zusammengesetztes Wesen, sage ich, kann mit seinen Bildern allgemeine Wahrheiten vorstellen“.28 Als Beispiele von solchen Wahrheiten gibt Canz folgende Sätze an: „Alle Menschen sind sterblich“, „Alle Sterne leuchten“ und „Allen rechtschaffenen Herzen ist die Tugend angelegen“.29 Es gilt hier festzustellen, dass kein bloß materielles Wesen allgemeine Wahrheiten vorstellen kann, „sofern sie allgemein sind.“30 Sinnliche Eindrücke in eine materielle Entität können nie dazu führen, dass solche Wahrheiten aufgestellt werden. Um dies einsichtig zu machen, verweist Canz auf Eindrücke, die in Siegelwachs gemacht werden können. Das Siegelwachs nimmt zwar das Bild dessen, was ihm eingedruckt wird, an, aber daraus wird nichts Allgemeines, wie viele Eindrücke man auch vornimmt. So könnte auch die Seele, wenn sie etwas Materielles wäre, tausende Eindrücke in sich fassen – aber dadurch wird sie noch keine allgemeinen Wahrheiten fassen können.31 Das Argument scheint Canz selbst entwickelt zu haben. Canz bespricht einen Einwand: Ein allgemeingültiger Satz (z. B. „Alle Menschen müssen sterben“), der auf einem Zettel geschrieben ist, bestehe doch im Endeffekt nur dank des Papiers, und Papier ist doch ein zusammengestelltes, materielles Ding. Canz! Antwort ist nicht überraschend: Dieses Exempel ist ganz erbärmlich: die Zeichen stellen einen allgemeinen Satz da weil der menschliche Wille einmal festgestellet hat, bey Wahrnehmung dieser cörperlichen Zeichen sich der hierbey ihm einmal gegenwärtig gewesenen Wahrheit zu erinnern. Dann wenn diß nicht wäre, so könnten die auf das Papier geschriebene Worte, 26 27 28 29 30 31
Ebd., 14. Wobei der erste, der dritte und der vierte wahrscheinlich von Canz selbst erfunden wurden. Ebd., 32. Ebd., 35. Ebd., 34, Anm. Ebd., 32 f.
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insofern sie bloß als cörperliche Dinge betrachtet werden, von aussen tausend andere Sachen vorstellen, je nachdem ihnen der Mensch eine Bedeutung geben wollte.32
2. Den zweiten Beweis davon, dass die Menschenseele kein zusammengesetztes materielles und also kein zerstörbares Wesen ist, findet Canz darin, dass wir Menschen uns von den Dingen, von denen wir Begriffe haben, unterscheiden. Es ist kraft dieses Unterschieds zwischen den Dingen und uns selbst, dass wir „uns wohl vorstellen/ die abgebildete Dinge seyen nicht wir/ und wir seyen nicht die abgebildete Dinge. Sie seyen ausser uns/ wir seyen ausser ihnen.“33 Wie soll dies nun beweisen, dass unsere Seele unzerstörbar ist? Wenn die Seele materiell wäre und zum Beispiel aus gewissen Gehirnzellen bestünde, dann könnten wir nach Canz annehmen, dass die äußeren Dinge bestimmte Eindrücke in unserem Gehirn hinterlassen und dass wir durch diese Eindrücke auch zu bestimmten Gedanken kommen. Daraus schließt Canz, dass der Ab- und Eindruck in das Gehirn weiter nicht[s] ausrichten [würde], als das im Gehirn, wie in einem Gemählde, eine Ähnlichkeit mit den äussern Sachen entstünde. Allein das Gehirn würde sich selbst mit seiner Vorstellung von den äussern Sachen noch lang nicht unterscheiden. Es würde das Gehirn die Sachen vorstellen/ als wären sie in ihm/ nicht aber/ als wären sie ausser ihm.34
3. Der dritte Beweis davon, dass die Seele einfach und unverweslich sei, ist nach Canz etwas schwieriger. Canz macht darauf aufmerksam, dass das Wesen, welches in uns denkt, überlegt und will, immer dasselbe bleibt und also einerlei sein muss. Dieses Wesen muss mit anderen Worten alle Abwechslungen unverändert überstehen. Nun bleibt aber ein zusammengesetztes und materielles Wesen eben nicht dasselbe. „Demnach ist es unmöglich“, sagt Canz, „daß das, was in uns denket, materiell und zusammengesetzt sey.“35 Was Canz aber noch nicht gezeigt hat, ist, dass ein zusammengesetztes Wesen tatsächlich nie „dasselbe und einerley“ bleibt. Canz appelliert hier an die empirische Evidenz: Man möge die ganze Welt durchsuchen und alle Gattungen zusammengesetzter Dinge betrachten – niemals werde man ein zusammengesetztes materielles Ding finden, das absolut unveränderlich bleibt. Sogar die vier klassischen Elemente – Feuer, Erde, Wasser und Luft – bleiben nicht gleich und sind also nicht als Elemente im strengen Sinne zu betrachten: Das Feuer bleibet nicht einen Augenblick eben dasjenige. Die Erde dünstet unendlich viel aus, in einem jeden Nun, der Zeit. Das Wasser behält nur in den Strömen einerley
32 33 34 35
Ebd., 33, Anm. Ebd., 49. Ebd., 51. Ebd., 55.
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Namen, nicht aber eben dasselbe flüßige Wesen. Die Luft ist gleichfalls in beständiger Änderung, bald schwer, bald leicht, bald heiter, bald trübe.36
Canz gibt als weiteres Beispiel den menschlichen Leib. Er führt seinen Lesern folgende rhetorische Fragen vor: Ist mein Leib noch vollkommen eben derselbe, welcher er in der Wiege war? […] Wie sehr ist er gewachsen? Wie viel ist inzwischen dazu gekommen? Wie viel gehet ihm täglich Speiß und Tranck zu, und wie viel durch andere Wege, besonders durch Ausdünstungen, durch Odemholen, durch Arbeit, durch andere Bewegung wieder von ihm ab?37
Die festen Teile des Leibes können nicht denken, und die flüssigen sind in einem beständigen Ab- und Zugang und können also nicht ein und dasselbe denkende Wesen abgeben. Mithin ist nicht abzusehen, wie die Materie denken könne. Kurz: Es ist nichts in den körperlichen Dingen, welches nur einen einzigen Tag vollkommen eben dasselbe und einerlei bleibt. Könnte nun aber nicht das Gehirn ein kleines Teilchen enthalten, das von der Empfängnis an unveränderlich bleibt und den Sitz aller Gedanken des Menschen in sich enthält? Canz gibt zu, dass es so ein Teilchen geben könnte. Er fragt aber, ob man sich ein solches unveränderliches Gehirnteilchen als zusammengesetzt und materiell vorstellen könnte. Wenn es nicht zusammengesetzt und materiell wäre, dann würde man natürlich der These, dass die Seele einfach sei, nicht widersprechen. Und dann, so Canz, müsste es nicht ein kleines Teilchen genannt werden, sondern eine grosse Kraft in einem einzelen Wesen/ welches über den Leib/ dessen Größe nur in der Ausdehnung bestehet/ viel vermögend herrschet. Eben wie auch deßwegen ein regierender Prinz nicht klein ist, weil er keinen so großen Platz einnimmt, als die Menge aller seiner Unterthanen, wenn sie beysammen stehen.38
Wenn man sich nun ein solches unveränderliches Gehirnteilchen als zusammengesetzt und materiell denken will, dann muss es doch nach Canz zwischen den Teilen eine Art Ordnung geben. „Wo aber eine Ordnung ist, da haben viele Dinge den Grund ihrer Veränderungen in einem.“39 Ein solches zusammengesetztes Teilchen müsste also viele kleinere Teilchen haben, die sich alle „nach Einem“ richten. Auch hier gibt Canz empirische Beispiele: Die Pflanzen haben Herzblättlein; gehet das zu Grund, so ist die ganze Pflanze verdorben. Die Bäume haben Mark, wird das verletzt, so ists um sie geschehen. Die Thiere
36 37 38 39
Ebd., 57. Ebd. Ebd, 64 f. Ebd., 65.
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haben Herz und Gehirn, welche man billig vor den herrschenden Theil in dem menschlichen und thierischen Leib ansehen muss.40
Dann ist aber die Frage, ob der ,herrschende Teil" selbst auch wieder zusammengesetzt ist und ob denn nicht noch etwas anderes über dem herrschenden Teil herrscht. Das geht dann so weiter, bis man gezwungen ist, einzugestehen, dass letztendlich der herrschende Teil einfacher Natur sein muss. Und gerade das galt es zu beweisen. 4. Für den vierten Beweis der Unzerstörbarkeit der Seele beginnt Canz mit einem Verweis auf die Möglichkeit, über die wir Menschen verfügen, um unsere Gedanken eine Zeit lang auf eine Sache zu lenken. Ich kann z. B. eine kürzere oder längere Weile hindurch an meinen guten Freund denken. Wenn nun die Seele materiell wäre, dann würde sie wohl nach den meisten Materialisten irgendwie im Gehirn aufzufinden sein. Allerdings sind, wie damals allgemein angenommen wurde, die sogenannten Lebenssäfte des Gehirns beweglich. Die Seele, wenn sie im Gehirn zu situieren ist, kann also nicht anders als durch allerhand Bewegungen ihre Gedanken hervorbringen. Aber wie kann man dann die Tatsache erklären, dass die Seele sich eine Zeit lang auf einen gewissen Gedanken konzentrieren kann? Canz sieht nur zwei Lösungen: (1) „Entweder müssen die subtilen Theile derer Lebenssäfte im Gehirne in der Gestalt, welche die Sache vorstellet, eine Weile ganz stille stehen“.41 Aber dann kann man nur unter Schwierigkeiten behaupten, dass das Gehirn während dieser Weile wirklich funktioniert. Es kann dann auch keine Gedanken ausmachen. (2) „Oder dieselben Theile müssen schnell auf einander, aber in einförmiger Bewegung, damit das Bild der Sache im Gehirne eine Weile erhalten werde, folgen, und eins das andere sehr geschwinde ablösen.“ Wenn aber die Teilchen des Gehirns schnell auf einander und in einförmiger Bewegung folgen sollen, „so bleibet nicht einerley denkendes Wesen, welches sich über diese Sache besinnet.“42 5. Beim fünften Beweis für die Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele bemerkt Canz, dass wir ein dreifaches Bewusstsein haben: (1) Wir sind uns unserer selbst bewusst; (2) wir sind uns anderer Dinge außer uns bewusst; (3) wir sind uns bewusst, dass andere Sachen auch gleichfalls außer einander sind.43 Nun ist es nach Canz unmöglich, dass ein materielles Wesen ein solches dreifaches Bewusstsein zustande bringen kann. Er lädt den Leser ein, so zu tun, als sei die Seele materiell und bestehe in der ordentlichen Bewegung der Lebenssäfte des Gehirns, und fragt: Wie können wir dann denken, dass die Materie ihrer selbst bewusst werden sollte? Müssen wir uns 40 41 42 43
Ebd., 66. Ebd., 68. Ebd., 69. Ebd., 71.
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dann vorstellen, dass es eine Menge „subtiler hirnflüssiger Theile“44 gibt, die durch ihre Bewegung das Bewusstsein ausmachen, so dass wir unser wirkliches Dasein erkennen? Und ist dann eine andere Art Bewegung von diesen hirnflüssigen Teilen dafür verantwortlich, dass wir nicht nur uns selber erkennen, sondern auch andere Sachen in der Welt unterscheiden? Müssen wir drittens annehmen, dass diese Menge von hirnflüssigen Teilchen noch weiter bewegt werden kann, so dass das denkende Wesen entsteht, „welches sich allererst als würklich erkannt/ aber nun als von auswärtigen Dingen unterschieden befinde?“45 Das scheint schwierig, weil, so lange eine Bewegung „in flüßigen Sachen“ fortdauert, die Teile immer in eine andere Stelle versetzt werden und schnell aufeinander folgen, so dass auch die Weise der Zusammensetzung der Teile sich ändern muss. Wenn aber die Zusammensetzung sich ändert, dann haben wir es nicht wirklich mit einem gleichbleibenden Wesen zu tun.46 Daraus folgt, dass, sobald wir als Bewusstsein ein zusammengesetztes, aus vielen Teilen bestehendes Wesen annehmen, „durch die Bewegung dieser Theile das vorstellende, oder gedenkende Wesen geändert, welches doch schlechterdinges einerley bleiben muß.“47 6. Auch für den sechsten Beweis der Unzerstörbarkeit der Seele nimmt Canz zunächst an, dass die Seele des Menschen materiell und körperlich sei. In diesem Fall habe ein großer Künstler, zum Beispiel Gott, das Gehirn geschaffen. Canz schlägt seinen Lesern vor, sich das Gehirn so groß wie einen Marktplatz einer namhaften Stadt vorzustellen. Wir könnten das Gehirn gleichsam besuchen, wie wir ein großes Gebäude besuchten. Wir treten in das ,Triebwerk" hinein und nehmen, wo es nötig sein sollte, auch Leuchtmittel mit. Wir wollen nämlich genau wissen, wie die Bewegungen dieses Gehirnwerkes eingerichtet sind. Was sehen wir denn dort? Canz gibt eine phantasievolle Beschreibung: Wir werden da sehen eine weiche Materie in ihre Abschnitte eingetheilet, weiß und grau vermengt, wie etwa einige Marmorsteine zu seyn pflegen. Es werden uns vorkommen die subtilste Materien, die durch gewisse hohle Fäserlein, hin und her zwissern, und den übrigen grossen Leib, (dann wir besehen nur das obere Hauptstockwerck) wie die Sonnenstrahlen das Glaß durchschimmern. Unter das Gesicht kommet uns eine Menge künstlich hin und her gelegter Röhren, darinnen allerhand Säfte gehen, roth, weiß, und dergleichen. […] Vorwarts an diesem Werke ist eine grosse Thüre: träget man da Speise und Trank hinein: so läßt es sich nicht aussprechen, wie geschicklich dieselbe Nahrung mit beinernen Stempfeln zermalmet, die zermalmete Theile, auf einem ungeheuren länglichten Stück Fleisch, welches mit Wasser angefeuchtet, hier und
44 45 46 47
Ebd., 74. Ebd. Ebd. Ebd., 78.
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da eingedruckt, dadurch solche Vorstellungen machen, daß das ganze Treibwerk süß und sauer, bitteres und angenehmes gar wohl entscheiden kann.48
Nun ist die Frage: Wo ist das Bewusstsein? Canz behauptet, dass selbst seine Gegner darauf antworten müssen, dass man das Bewusstsein nicht sehen kann, obwohl es ihrer Meinung nach in der Materie und deren Bewegung bestehen soll. Aber dann haben diese Gegner uns Canz zufolge betrogen, weil sie doch meinten, das Bewusstsein bestehe aus den Bewegungen der Materie im Gehirn. Canz beschließt diesen sechsten Beweis der Unzerstörbarkeit der Seele, indem er festhält, dass kein „materielles Triebwerk, so klein oder groß, so künstlich oder füglich es auch immer aufgestellt sein mag“49 das Bewusstsein, über welches unsere Seele verfügt, verursachen kann. Also ist die Seele kein materielles Wesen.
V. Die geistige Natur der menschlichen Seele Der zweyte Theilbegrif der die Unsterblichkeit mit den andern ausmacht, kommt darauf an, ob die Seele nach dem Tod nicht nur allein dennoch übrig, und in der Welt irgendwo vorhanden sei, sondern, ob sie auch fortfahre ein Geist zu sein? Das ist: Ob sie noch um sich selbsten nach dem Tod wisse: Ob sie in dem künftigen Leben/ wie es hier gethan/ was ihr vorkommt/ überdenken/ beurtheilen/ vergleichen/ unterscheiden/ und eines aus dem andern folgern könne.50
Der Beweis davon, dass sich die Seele nach dem Tod ihrer selbst wie zuvor bewusst sein wird, muss nach Canz durch einen Hauptsatz vorbereitet werden, der besagt, dass ein für sich bestehendes Wesen seine Kraft zu wirken behält, solange es ist. Canz gibt als Beispiel den Baum: Der Baum ist ohne Zweifel ein für sich bestehendes Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt. So lange nun der Baum ein Baum ist, behält er seine fruchttragende Kraft. Wenn aber der Baum gefällt wird, dann artet er aus, verfault, und man muss die Hoffnung aufgeben, ihn wieder zum Tragen von Früchten zu bringen. Man könne so alle Körper in der Welt durchgehen und werde finden, dass, solange ein jeder bleibt, was er ist, er auch die Wirkungskraft von seiner Art behalten wird.51 Nach der Besprechung von einigen empirischen Beispielen kommt Canz zu folgendem Schluss: Jeder Körper behält seine Kraft, so lange er ist, was er ist.52 In einer erweiterten Form klingt dieses Prinzip so: „Von den Kräften gehet nichts zu Grunde: nur die gegenwärtige Ordnung aller kräftigen einzelnen 48 49 50 51 52
Ebd., 80 f. Ebd., 84 f. Ebd., 14 f. Ebd., 103 f. Ebd., 105.
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Theile, wird aufgehoben.“53 Wenn nun die Seele unzerstörbar ist, dann wird sie auch nach dem Tode weiterbestehen. Also wird auch die Seele nach dem Tod ihre Kraft, die die Kraft des Bewusstseins ist, behalten. Was aber zusätzlich bewiesen werden muss, sind drei Sachverhalte: [1] Das erste ist, daß die Seele nach dem Tode nicht mehr werde in den Zustand kommen, worinnen sie vor ihrer Geburt war, in einem kleinen Saamenthierlein, das nichts um sich selber wußte. [2] Das andere ist, daß die Seele nach dem Tode in keinen ewigen Schlaf fallen könne. [3] Das dritte, daß die Seele auch so gar nach dem Tode nicht wechselsweise schlafen und wachen werde, wie wir annoch in diesem Leben zu thun pflegen.54
Ad 1: Hier behauptet Canz, dass der Zustand der Seelen vor der Geburt eine Vorbereitung auf den jetzigen Zustand war. Wenn nun jemand das Gegenteil behaupten will und meint, dass der Zustand der Seelen vor der Geburt nicht als ein Weg oder als eine Vorbereitung auf das gegenwärtige Leben anzusehen sei, dann müsste der Seelenzustand in dem jetzigen Leben durch ein Wunder oder durch einen blinden Zufall erfolgt sein. Dafür gebe es aber keinen zureichenden Grund.55 Und dass ein Wunder als zureichender Grund gelten könnte, lehnt Canz ab. Also kann man sagen, dass der Zustand der Seelen vor der Geburt ein Mittel war, zum jetzigen Zustand als einem Zwecke zu gelangen. Und weil der Zweck „edler und besser“ ist als die Mittel, so ist der jetzige Zustand der Seele „edler und besser“ als der Zustand vor der Geburt. So stehe es auch mit dem Verhältnis zwischen dem jetzigen Zustand und dem Zustand nach dem Tod des Leibes. Das jetzige Leben ist eine Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tod, das als Zweck betrachtet werden muss und also edler und besser ist als das jetzige Leben. Oder wie Canz den „Heiden“ Seneca zitiert: „Wir können den Himmel nicht auf einmal erreichen: wir müssen zuvor durch den Zwischenweg dahin durchwandern. Der letzte Todestag ist wohl nichts anders als der Tag einer neuen Geburt.“56 Ad 2: Den Beweis davon, dass die Seele nach dem Tod nicht ewig schlafen wird, leitet Canz ab von dem, was er schon bewiesen hat, nämlich dass die Seele unzerstörbar sei und dass sie nach dem Tod nicht in einen Zustand falle, der demjenigen gleichgültig sei, welcher vor der Geburt Platz gefunden hat. So wie es nicht einzusehen ist, warum die Sonne „mit unaufhörlichen und ewigen Wolken möchte bedeckt und eingehüllt bleiben“,57 so ist es auch nicht einzusehen, warum die Seele ewig schlafen möchte. Gott hätte die Sonne umsonst geschaffen, wenn 53 54 55 56 57
Ebd., 111. Ebd., 140. Ebd., 141. Ebd., 152. Ebd., 172.
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sie mit ewigen Wolken bedeckt wäre. Und so wäre die Seele umsonst geschaffen worden, wenn ihr Zweck der ewige Schlaf wäre. „Folglich kann die Seele nach dem Tode nicht ewig schlafen“.58 Ad 3: Zu dem Beweis, dass die Seele nach dem Tod auch nicht wechselweise schlafen und wieder erwachen wird, ist Canz zufolge nur erforderlich, dass wir darauf achten, wie der Schlaf in diesem Leben entstehe. Der Schlaf entsteht nämlich aus der Ermüdung unseres Leibes. Warum soll also die Seele nach dem Tod, da sie keinen Leib mehr hat, von Zeit zu Zeit schlafen oder wachen? Canz schließt wie folgt: „Aus diesem erhellet, daß die Seele nach dem Tode ein Geist bleibe, das ist, ein einfaches Wesen, welches nicht nur allein Verstand und Willen hat, sondern dieselben auch gebrauchen kann.“59 VI. Die gleichbleibende persönliche Identität der Seele vor und nach dem Tod Der dritte „Teilbegriff“ des Beweises der Unsterblichkeit der Seele gilt dem gleichbleibenden Gedächtnis über den Tod hinaus: „Wann die Seele einmal von hinnen wird geschieden seyn/ wird sie auch noch wohl wissen/ sie seye eben diejenige/ welche sie zu dieser Zeit gewesen“.60 Die menschlichen Seelen wandern nicht, wie Pythagoras dachte, von einem Leib in den anderen. Die Seelen machen keine Sprünge und spazieren nicht. Der Beweis der gleichbleibenden personalen Identität ist wichtig, weil man ansonsten nach dem Tod nicht für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden könnte: Würde sie [die Seele] nichts mehr von dem jetzigen Zustand wissen: fürwahr, so würde alle Belohnung und Bestrafung vergebens seyn. Was soll eine Belohnung, wann einer weder vor jetzo weißt, noch jemahl erfahren kan, warum sie ihm zugedacht werde? Was taugt eine Strafe, wann der Gestrafte nicht weißt: ob er jemahl etwas verbrochen habe?61
Der Beweis folgt schlicht daraus, dass die Seele nach dem Tod alle ihre Verstandesgaben beibehält und gebraucht, was Canz im § 84 seines Buches bewiesen hatte.62 Die Seele ist sich also auch nach dem Tode ihrer bewusst und wer sich bewusst ist, der unterscheidet sich selbst von allen Dingen, die ihm nur immer unterkomEbd., 174. Ebd., 189. 60 Ebd., 16. 61 Ebd., 15 f. 62 Der „Beweis“ lautet da so: Die Seele ist „unverweßlich, immer eines Ranges, steigt allezeit auf, und niemals in seinen Kräften ab: unmöglich ists demnach zu behaupten, daß sie nach dem Tode durch einen ewigen Schlaf den Gebrauch ihrer Kräfte aufschieben, und dadurch unnützlich machen werde“ (ebd., 171). 58 59
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men mögen. Demnach werde sich die Seele auch in dem Leben nach dem Tod von dem, was ihr begegnet oder vorgelegt werden mag, wohl unterscheiden. Es sei vernünftig zu sagen, dass sie sich des gegenwärtigen Lebens erinnert. Da die Seele einfach ist, bleibt sie nach dem Tod eben die, welche sie in dieser Zeit gewesen ist, und die Gedanken der Seele haben nach dem Tod ihren Grund in den Empfindungen und Überlegungen, welche der Seele in diesem Leben zugestoßen sind.
VII. Kritik des canzschen Beweises: „Proben bescheidener Anmerckungen“ Bald nach der Publikation von Canz! Schrift über die Unsterblichkeit der Menschenseelen wurden in Göttingen von einem nicht näher genannten Verfasser zwei Proben bescheidener Anmerckungen über […] Canz[!] sogenannten Überzeugenden Beweis63 veröffentlicht.64 Der ersten Probe ist ein zehnseitiges „Schreiben an den ungenannten Herrn Verfasser dieser Schrifft“65 vorangestellt, für das sich ein gewisser „gleichfals unbekannter Diogenes im Faß“66 verantwortlich zeichnet. Dieses Schreiben enthält eine sarkastische Schilderung der damaligen, nach Meinung des Diogenes in übertriebener Weise von Wolffs Philosophie beherrschten akademischen Welt und warnt den Verfasser vor den Folgen, falls sein Name bekannt gemacht werde: Und Sie unterstehen sich, mein ungenannter Herr Verfasser, wieder den Herrn Canz, und dessen Buch von der Unsterblichkeit der Seelen, zu schreiben? […] wieder einen so gelehrten und hochverdienten Mann, der uns so viel Disciplinen erfunden hat, und in vier und zwanzig Stunden, wie es scheint, ganze Bücher schreiben kann […] ja der in der dieser heutiges Tages so hochgepriesenen Kunst, mit vielen Worten wenig zu sagen, dem grossen Philosopho selbst es beynahe gleich thut […] Fürchten Sie sich denn nicht für die Parthey, der Er zugethan ist, und sonderlich für einige unserer Hn. Journalisten und gelehrten Zeitungs-Verfasser in Teutschland? Ich kann mir nicht einbilden, daß Ihnen unbekannt seyn sollte, wie ganz offenbahr einige dieser Herrn sich für diese Parthey erklähret, so daß sie kaum eine Schrift, worinnen nur einige §.§. aus des Herrn Anonymus, Erste (bzw. Zweyte und letzte) Probe bescheidener Anmerckungen über Tit. Herrn Ißrael Gottlieb Canz, hochberühmten Professors in Tübingen sogenannten Überzeugenden Beweiß aus der Vernunft von der Unsterblichkeit der Seelen, Göttingen 1741 (bzw. 1742). Vgl. auch Anm. 80. 64 Später wird auch Georg Friedrich Meier die Beweise von Canz im sechsten Abschnitt seiner Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (Halle 1746) kritisch beleuchten: „Beurtheilung des Canzischen Beweises der Unsterblichkeit der Seele“ (185–224). Für eine Besprechung dieser Schrift Meiers darf auf folgenden Aufsatz verwiesen werden: Paola Rumore, Georg Friedrich Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele im zeitgenössischen Kontext, in: Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.), Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als wahre Weltweisheit, Berlin, Boston 2015, 163–186. 65 Anonymus, Erste Probe bescheidener Anmerckungen (wie Anm. 63), 1. 66 Ebd., 10. 63
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Wolffs Büchern angeführt sind, ohne besondern Lobes-Erhebungen vorbey lassen können.67 Sie sind einmahl kein Wolffianer, und haben dazu noch wieder einen Wolffianer, ein sacrum et inviolabile animal, geschrieben. Das ist zu Ihrer Verdammung genug, und Sie haben sich keines gnädigen Urtheils zu getrösten; sondern bleiben, wenn Ihr Nahme bekannt werden solte, ein verhaßter und verworfner Mann.68
Die „bescheidenen Anmerckungen“ beginnen dann mit einer kurzen Vorrede, worin der Verfasser versichert, dass seine Absicht dahin gehe, dass „unsere Christen und zumal die studierende Jugend, vor dem Mißbrauch der Vernunfft, die man ohngeachtet ihres entsetzlichen Verderbens an vielen Orten auf den Thron erheben will, treulich gewarnet werden mögen“.69 Denn wenn man eine so wichtige Glaubenslehre wie die von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele von Vernunftbeweisen abhängen lasse, dann bewirke man das umgekehrte, nämlich: dass „ungegründete Beweisthümer, wann man sie gleich für überzeugend ausgibt, den auffmerksamen Leser mehr von der Schwachheit der Vernunfft, und Verwegenheit der Weltweisen überzeugen“,70 was wiederum zur Folge hat, dass eine (weil Teil der göttlichen Offenbarung) an sich gewisse Lehre in Zweifel gezogen würde. Im Korpus folgt dann eine paragraphenweise Analyse und Kritik der canzschen Schrift, worin wirklich jedes Wort und jedes Argument geprüft wird. So sei zum Beispiel der Titel, den Canz gewählt hat, ungünstig, weil das Wort ,überzeugend" nicht darin vorkommen würde, wenn Canz nicht selbst daran zweifle, ob sein Beweis wirklich überzeugend sei.71 Schon mehr inhaltlich ist die Kritik, dass die wahre Bedeutung des Wortes ,unverweslich", in den von Canz (nach dem Beispiel Wolffs) aufgestellten Teilbegriffen schon enthalten ist.72 Dass Canz undifferenziert von ,Begriffen" und ,Wahrheiten" spricht,73 und dass er, dadurch, dass er durchweg von ,allgemeinen Begriffen" spricht, die den materiellen Dingen abgesprochen werden müssen, „andere Gattungen von Begriffen […] zuzulassen scheinet“,74 ist als Kritik berechtigt. Zu Canz! drittem Beweis der Unverweslichkeit der Seele – die Seele sei immer dieselbe; es bleibe aber ein zusammengesetztes Wesen nicht dasselbe; demnach sei es unmöglich, dass die Seele materiell und zusammengesetzt ist – wird angemerkt, dass man mit einem solchen Beweis auch dartun würde, dass Sonne und Mond, „die ja gewisslich noch immer sind, was sie von der Zeit der Schöpfung her gewesen, lauter Geister, keineswegs aber zusam67 68 69 70 71 72 73 74
Ebd., 1 f. Ebd., 4. Ebd., 3. Ebd., 3 f. Ebd., 5 f. Ebd., 9 f. Ebd., 17. Ebd., 18.
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mengesetzte und materielle Wesen seyen.“75 In Bezug auf den vierten Beweis der Unverweslichkeit der Seele kann man das ihm zugrunde gelegte Prinzip anzweifeln, dass dasjenige, was stillsteht, nicht wirksam ist: Wenn eine Henne über den Eyern sitzet, ist sie stille und würcket doch allerdings. Die Menschen-Hand, welche einen aufgehenden Teig, oder lauffendes Blut aus der Wunde, zurück hält, ist stille, würcket allerdings.76
Und zum sechsten Beweis der Unverweslichkeit – man stelle sich das Gehirn so vor wie ein Gebäude, worin man das Bewusstsein suchen, aber nicht finden kann – wird schließlich angemerkt, dass man mit solchen Gedankenexperimenten sehr wenig beweisen könne. Bewusstsein sei nämlich ein Vermögen und dieses könne auch von nur materiellen Dingen abhängen, ohne dass man es auch als Gegenstand wahrnehmen können muss. Eine Gegenfrage ist demnach, ob man dem Ohr die Kraft zu hören um deßwillen billig absprechen könne, weil man bey der sorgfältigsten Zerschneidung des Ohrs, zwar viele schöne Werkzeuche, deren Nutzen im würcklichen Hören sich zeiget, gefunden, aber die Kraft zu hören selbsten nirgend angetroffen hat.77
Der Satz, dass ein materielles ,Triebwerk" niemals das Bewusstsein verursachen könne, hat Canz also nicht bewiesen, „sondern nur etliche mal wiederhohlet“.78 Auch Canz! Gleichsetzung von ,einfach" und ,immateriell" wird stark (und erfolgreich) kritisiert. Denn es gebe keine Gründe, um die Möglichkeit von einfachen materiellen Substanzen tatsächlich auszuschließen: Ich glaube, daß es einfache Dinge gebe, alle diejenige nemlich, aus welchen grössere Cörper zusammen gesetzet sind, die doch alle materiell sind, und ihre Grösse, d. i. Länge, Breite und Tiefe haben, jedoch so klein, daß sie der Schöpfer nicht weiter getheilet haben will.79
In den Fußnoten, die ab der zweiten Auflage (1744) seiner Schrift beigefügt sind, hat Canz sehr ausführlich auf diese Anmerkungen eines nicht näher genannten Gegners80 geantwortet. Der Verfasser der „Anmerckungen“ wäre aber auch mit Ebd., 21. Ebd., 25. 77 Ebd., 30. 78 Ebd., 31. 79 Ebd., 31 f. 80 Laut eines Berichtes in den Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen vom 1. März 1742 (18. Stück, 144) – den Verweis auf diesen Bericht verdanke ich der Einleitung zum gerade erschienenen Reprint der zweiten Auflage (1744) von Canz! Beweis: Israel Gottlieb Canz, Überzeugender Beweis aus der Vernunft von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein als besonders der Kinder-Seelen, hg. von Corey Dyck, Hildesheim 2017 – ist der Autor dieser Proben bescheidener Anmerckungen Johann Matthias Gesner gewesen. Sicher ist das aber nicht, da Gesner in diesem Bericht lediglich versichert, dass er nicht selbst Diogenes im Fass sei: „Ich finde vor 75 76
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Canz! zusätzlichen Erläuterungen keineswegs zufrieden gewesen. Canz zeigt sich darin sogar noch weitschweifiger als im ursprünglichen Text, was den kritischen Leser wohl schnell vermuten lässt, dass seine Beweise im Endeffekt alles andere als schlicht ,überzeugend" sind. In diesem Text bespreche ich die philosophischen Argumente für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele die Israel Gottlieb Canz in seinem Überzeugenden Beweis aus der Vernunft von der Unsterblichkeit […] der Menschen Seelen (1741) dargestellt hat. Ich beschränke mich auf diejenige Argumente, die nach Canz aus der Natur der Menschenseele selbst entwickelt werden können und die zu drei verschiedenen „Teilbegriffen“ des allgemeinen Beweises gehören: (1) Beweise davon, dass die menschliche Seele unverweslich sei; (2) Beweise davon, dass die menschliche Seele nach dem Tod des Leibes als Geist weiterlebt; (3) Beweise davon, dass, nach dem Tod des menschlichen Körpers, dieselbe Persönlichkeit in der Seele weiterlebt. Als kritisches Fazit der canzschen Beweise verweise ich auf die schonungslosen, aber oft philosophisch relevanten Anmerckungen, die ein anonymer Anti-Wolffianer bald nach Erscheinen von Canz! Traktat publizieren ließ. In this text, I present a sketch of the philosophical arguments for the immortality of the human soul that Israel Gottlieb Canz provided in his Convincing Proof, out of reason, from the Immorality […] of the human souls [Überzeugender Beweis aus der Vernunft von der Unsterblichkeit […] der Menschen Seelen] (1741). I concentrate on the arguments Canz derives from the nature of the soul itself, and that pertain to one of three steps of the general proof: (1) Proving that the human soul is imperishable; (2) Proving that the soul continues to be a spiritual substance, once the human body has died; (3) Proving that the soul!s personality is not affected by the death of the human body. To offer a critical assessment of Canz! arguments, I conclude with some of the harsh but often philosophically relevant Remarks [Anmerckungen] by an anonymous anti-Wolffian, published soon after Canz! book appeared. Dr. Henny Blomme, Katholieke Universiteit Leuven, Hoger Instituut voor Wijsbegeerte, Centrum voor Metafysica, Godsdienst- en Cultuurfilosofie, Andreas Vesaliusstraat 2 – bus 3220, B-3000 Leuven, E-Mail: [email protected]
nöthig zu bezeigen, daß ich an dem Schreiben Diogenis im Faß so der ersten Probe bescheidener Anmerkungen […] beygefüget worden, so gar keinen Theil habe, daß ich solches nicht ehe mit Augen gesehen, oder das geringste davon vermuthet, als es mir gedruckt, mit den Anmerkungen selbst, (von welchen ich jedoch das MS. vorher zu sehen Gelegenheit gehabt:) zu handen gekommen“ (ebd.). Da die Zweyte Probe mit einer „Antwort auf das Schreiben eines Ungenannten“ (wie Anm. 63, 80 f.) schließt, worauf dann noch einmal der im Namen Diogenes sprechende zweite Ungenannte erwidern darf, liegt es nahe, zu unterstellen, dass die Verdoppelung der gutheißenden Beteiligten – entgegen des Berichtes in den Göttingischen Anzeigen – vom Autor der Proben bescheidener Anmerckungen inszeniert wurde.
Anne Pollok How to dry our tears? Abbt, Mendelssohn, and Herder on the Immortality of the Soul
The human vocation is one, if not the key concept of the Enlightenment1, in particular concerning the thorny realm of death and immortality. If a rationalist account of humanity not only defines what humanity is, but must also flesh out what humanity is destined to – following Moses Mendelssohn!s distinction2 between Bestimmung as “definition” and “destination”, respectively – then a proof of personal immortality becomes the prime ingredient for a full account of the possibility of human perfection, the ultimate goal of human vocation. A justified hope for immortality would also be the ultimate solace for the inevitability of death. However, with stakes that high, it is worthwhile to remember that the mere need for such a proof in no way suffices to establish its validity. Within less than a decade, roughly between 1763 and 1769,3 three rather different thinkers brought the issue of immortality to the forefront of the discussion concerning the human vocation. Thomas Abbt delivers a skeptical account of the human vocation, arguing that the practical grounds of rationalism are untenable in light of the obvious lack of rational order in the world, let alone in individual human lives. His account evokes Moses Mendelssohn!s reply with his Phädon, in which Mendelssohn uses an intricate m1lange of ancient and contemporary philosophy to secure the rationalist concept of personal immortality. Johann Gottfried Herder, finally, picks up Abbt!s challenge of the rationalist paradigm of imSee also Norbert Hinske, Einleitung, in: id. (ed.), Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 1999 (Aufklärung 11/1), 3–6, here 3, Fotis Jannidis, ,Die ,Bestimmung des Menschen". Kultursemiotische Beschreibung einer sprachlichen Formel, in: Aufklärung 14 (2002), 75–95, and Anne Pollok, Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns, Hamburg 2010, 55–73. 2 In his Notes on Abbt!s Amicable Correspondence, 1782, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, ed. by Alexander Altmann et al., vol. 1 et sqq., Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 et sqq. (cited as JA), vol. 6.1, 35. 3 I will not discuss Mendelssohn!s further considerations regarding this issue in the last years of his life, most notably developed in his Notes (see previous footnote). 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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mortality with particular reference to the necessary embodiment of the soul, and a distinctive critique of the paradigm of perfection. Both Abbt and Herder reveal the fundamental flaws in the rationalist assumptions, in particular concerning the role of the body for the constitution of possible experience, the tension between personal and universal perfection, and the possibility of a rationalist ethics without the assumption of immortality. If a philosophy could actually account for all three, it would deliver our greatest solace, since only then would we rest assured that we indeed can fulfill our vocation, even if our lifetime proves insufficient. Mendelssohn!s Socrates has been unsuccessful under this view: having proven the immortality of the soul before drinking the Hemlock, he still cannot console his friends, who tearfully mourn the supposedly final departure of their cherished friend. I argue in this paper that a proof of the immortality of the soul that merely follows from a specific constraint of the system (here: unless we presuppose personal immortality, the rationalist hope for a fulfillment of the human vocation is in vain), as is the case for Mendelssohn, cannot be successful. However, the skeptical and historicist alternatives by Abbt and Herder are also unable to account for personal immortality. What they do is offer a mere hope, thus preparing the ground for Kant!s Copernican Turn.4
I. Abbt!s Route to Skepticism and a relativized morality The discussion concerning the vocation of the human being was very much alive in the second half of the 18th century, mostly due to Johann Joachim Spalding!s immensely successful book The Vocation of Man,5 a testimony of "rational faith!, or a pious monologue on the proper understanding of the human vocation. It traces the inner development of its narrator, first through sensitivity, then the mind, only to discover faith as the true goal of self-perfection. It guides, in other words, from Epicureanism over aestheticism towards the ethical dimension, which in turn leads to an understanding of the interconnectedness of all human A view that I share with Paul Guyer, see his essay Kant, Mendelssohn, and Immortality, in: Thomas Höwing (ed.), The Highest Good in Kant!s Philosophy, New York 2016, 157–180. In this paper, however, I will concentrate on Mendelssohn and explain the genesis of his thoughts, rather than their influence on Kant!s practical position. See on Kant!s possible misunderstandings of Abbt!s and Mendelssohn!s respective position George Di Giovanni, The Year 1786 and “Die Bestimmung des Menschen”, or “Popularphilosophie” in Crisis, in: Reinier Munk (ed.), Moses Mendelssohn!s Metaphysics and Aesthetics, Dordrecht u. a. 2011, 217–234. 5 Its first edition appeared 1748, our debate began in reference to the 7th Edition – but the book was (officially) re-published eleven times until 1794 (see, with further references, Pollok, Facetten des Menschen [see fn. 1], 70–78). 4
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beings and all creation, thus finally towards an understanding of our indebtedness to a divine being. Spalding offers two arguments for immortality. First, his potentiality-argument: given the limitless capacity for perfection in each developing soul, it would be unwise to have this potential cut off by death, and is hence untenable under the assumption of a divinely ordered world. Second, his "ethicotheological!6 argument: if we were restricted to this world alone, we would experience vice victorious and virtue unrewarded – an injustice that would either lead to nihilism, or must be remedied in another world. Alas, Spalding!s argumentation is clearly limited by other systematic assumptions of his position (which the German term Systemzwang captures so well), since the mere wish for a better state of affairs does in no way prove it. However, we should not dismiss this view that easily. It might be that this sense of injustice and also our intuitive self-understanding as us having infinite potential towards the divine justifies such an ethical outlook. Here is not the place to discuss whether Spalding indeed intended such a proto-transcendental reading, however. As I will argue instead, it is through Abbt!s criticism of this position that Mendelssohn, as a prima facie follower of Spalding, is forced to develop both arguments in more detail. In their debate, published 1764 in the popular Briefe, die neueste Litteratur betreffend,7 Abbt takes up the position of the skeptic8 who worries about the sense and direction of perfection. How can we assume that our world is ordered reasonably, if all we encounter is mere chaos and injustice, and accomplished members of society leave it, without a trace, at random points in time?
1. Abbt!s Critique: No Order Visible Abbt compares human life to the life of soldiers in a Battalion who are utterly unaware of their exact mandate (JA 6.1, 11–13). Random things happen to them, every once in a while soldiers, the dutiful as well as the lax ones, disappear, and even the higher charges do not know what their exact duty is. One way to John H. Zammito, Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago 2002, 166. Their exchange first appeared in Briefe No. 287, from June 21 and 28, July 5 and 12, 1764, and republished together with Mendelssohn!s Phädon in 1767. Mendelssohn!s later Notes on Abbt!s Amicable Correspondence appeared 1782. I quote from vol. 6.1 of the Jubiläumsausgabe (JA, see fn. 2). 8 Inspired surely by Pierre Bayle, whom Abbt evokes in the Doubt, but presumably also by Georg Friedrich Meier!s Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode (1746), which appeared around the same time as the first edition of Spalding!s book. Francesco Tomasoni, Mendelssohn!s Concept of the Human Soul in Comparison with those of Georg Friedrich Meier and Kant, in: Reinier Munk (ed.), Moses Mendelssohn!s Metaphysics and Aesthetics, New York 2011, 131–157, here 146 mentions Abbt, but not the affinity of his doubts with Meier!s. 6 7
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deal with such a confusing situation could be to act “as dutiful as possible” so as to be least likely to arouse the anger of the unknown giver of these orders. But it seems that the result is the same – that is, utterly unpredictable – regardless of whether one chooses good conduct, laziness, or straightforward demission from duty. Spalding!s blindness to the precarious position of the individual becomes already apparent in his assessment of human pleasure. According to Abbt, this supposedly basest aspect of our being is not, as Spalding puts it, aimed at preserving the body alone, but also an instrument for the expression of the soul (JA 6.1, 17). Throughout our life, through our body and the experiences it enables, our soul forms a personality. The idea of a disembodied soul as the highest perfection strikes Abbt as inconsistent with the important role the body actually plays within our attempts to become more perfect. Even further, with the aforementioned metaphor Abbt intends to show that Spalding!s philosophy is also insufficient to teach us anything about our particular status as human beings – and thus, it cannot help us to draw any inferences concerning the improvement and moral impact of our behavior. Our experience – if it is indeed as devoid of meaning as it is for the soldiers – does not allow us to infer norms of moral actions, either. Not even historical knowledge can help us out. Quite the opposite: it is more likely that human history proves human evil, or the rule of chaos, than the beautiful order of divine providence. Thus, Abbt concludes, Spalding!s self-consolation that we are a part of a rationally ordered whole (and therefore immortal), is nothing but wishful thinking. Abbt denies that we indeed can ascertain such a rationally ordered universe by observation. And even if the world was ordered rationally and justly, it would not necessarily imply that this order is going to satisfy a personal need for self-perfection, since self-perfection is not equivalent to said universal order. In this sense, Spalding!s philosophy could even turn out to be rather cynical, in that the individual becomes a mere instrument of the overall perfect order of the world. Abbt!s questions culminate in a reformulation of the task of any theodicy: how can we assume a general order of things if our absolute worth as an individual must be sacrificed for it? And also, what exactly is the concept of an individual if we limit it to a merely bodiless being, but cannot extend the notion toward an actual person? In short, either we talk about abstract entities and lose the possibility of grasping their respective direction, or we investigate into an individual!s fate and are then confronted with glaringly random or unjust hindrances to fulfillment of her perfection. Spalding!s reassurances turn out to be reductive in the first, and empty in the second case. They are either without much content (and would thus prefigure the Kantian notion of apperception, albeit in a much less complex way), or they would prove to be simply unrealistic, leaving us in dire need need of
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an actual (and rational) justification of a philosophy concerning the human vocation. In the exchange that follows the publication of Abbt!s Doubts and Mendelssohn!s Oracle, Abbt keeps asking an increasingly impatient, sometimes borderline dogmatic9 Mendelssohn not only what the human vocation is, but also, how this vocation could ever be fulfilled – as long as we base our perspective on the human individual.10 It may be true that we all feel a calling to improve ourselves. But how can we ever assume that this call is reasonable if so many of us can either never get to the stage of knowing anything of it, or are brutally cut short just before reaching even a meager state of perfection? Against Spalding, Abbt also doubts that we can prove heavenly retribution for earthly evil: “My wish that all injustice that I suffer or at least think I suffer must be avenged does not prove anything.”11 All of Spalding!s proofs go into the wrong direction, in that they fall one decisive step short. He refers to happiness, justice, and order, but what he cannot prove is the connection to a possessive pronoun: my happiness, justice for me, my place in the general order remains precarious. Seeing myself as a mere instrument of overall perfection, and having to include a happy Cato in the equation to guarantee overall harmony and perfection seems outright cynical in this view. Abbt!s result: Spalding is reiterating “truths” just for the sake of self-consolation, and hence falls prey to the lure of a merely subjective interest in the truth of the assumptions: “There are articles of faith which one just repeats after another person, just because one is glad to have anything to tell at all.”12
See, for instance, his letter from June 14, 1765, JA 12.1, 92, and Pollok, Facetten des Menschen (see fn. 1), 112 et sq., and his insistence of developing any such argument from the basis of a sound metaphysics, as in the letter from February 9, 1764, JA 12.1 (see fn. 2), 35. 10 Here is where my perspective differs from Heinz" position (see Marion Heinz, Die Bestimmung des Menschen. Herder contra Mendelssohn, in: Beate Niemeyer, Dirk Schütze [eds.], Philosophie der Endlichkeit. Festschrift für Erich Christian Schröder, Würzburg 1992, 263–285, here 265 et. sq.): it may be true that Abbt focuses in the Doubts on the universal account of immortality. However, his questions in the letters indicate that he took the perspective of the individual quite seriously, and hence demanded a convincing proof of personal immortality. 11 “Mein Wunsch alles Unrecht, welches ich leide oder als Unrecht zu leiden glaube, vergolten zu sehen, beweiset nichts” (JA 6.1 [see fn. 2], 16, my italics). 12 “Allein es gibt Artikel, die einer dem andern ohne Gedanken nachbetet, bloß weil man froh ist etwas, das man vortragen kann, zu haben” (ibid., 17). 9
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2. Abbt!s Solution: A Provisional Ethics Abbt!s strategy, following this negative assessment, is not to stay in the skeptical state, but to internalize morality. Thus, Abbt himself is not a nihilist, but argues for an inner-worldly morality, or even a humanistic ethics.13 If the definition of the human is openness, human vocation becomes the task to fill this openness by action, thought, and sensation guided by an inner conscience. Already in the Doubts Abbt holds that anyone can discern some general moral rules for herself, even though she might be unsure about her ultimate vocation.14 And we truly need this starting point from the individual, so that we do not get lost in the seeming chaos that pervades the bigger picture. We only learn about our human worth by a consideration of our specific vocation (not, as Abbt reads Spalding, by means of a more general consideration of the whole of creation). The ethics that results from this, however, can only be provisional. To be ultimately sure whether our assumptions are correct, we would need assurance of a revelation that alone could teach us about this particular issue (see JA 6.1, 18). Obviously Abbt thinks that none (per implicationem: neither Christian nor Jewish) revelation has actually taught us anything about it.15 Hence, nothing should “hinder us to develop Life Rules (Lebensregeln) from the general end (Endzweck) of all created things, which would be correct (richtig), and sufficient (hinlänglich) to reach my most possible happiness. And thus it is clear that the human being who is blinded by the same clouds at the entrance to this life as well as at its exit, that this being, I say, has still enough light for the path that she shall wander”16 (JA 6.1, 15).17 I should add here that Abbt never successfully formulates such an ethics. What he has to offer in On Merit and On the Death for the Fatherland is rather disconcerting in this regard, see Pollok, Facetten des Menschen (see fn. 1), 96 with further references. 14 “Einmal bin ich davon ganz überzeuget worden, dass jeder zu seinem Betragen in diesen Quartieren sich feste Regeln habe machen gekonnt, ob er gleich in Absicht seiner fernern Bestimmung in der Ungewissheit gelebt” (JA 6.1 [see fn. 2], 17). 15 And he surely would, as Mendelssohn later did, require this revelation to span across the denominations. 16 “Dieses würde aber nicht hindern, sich aus dem allgemeinen Endzwecke aller erschaffenen Dinge Lebensregeln zu bilden, die auch richtig und zur Erreichung meiner möglichsten Glückseligkeit hinlänglich wären. Und so ist es klar, dass der Mensch, vor dem die Türe seines Einganges in dieses Leben, und die Türe seines Ausganges aus demselben mit Wolken verdecket ist, dass dieser Mensch, sage ich, doch Licht genug hat für den Weg, den er wandeln soll.” 17 Zammito interprets Abbt!s Doubts as a search for “a consistent ethical naturalism, the demand that men take responsibility for their own lives and fates without any hope for or recourse to external (divine) redemption” (Zammito, Kant [see fn. 6], 169). I am skeptical about this claim (especially the concept of “naturalism” here), since Abbt himself voiced his hopes to find a higher source for his provisional ethics. 13
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Given the severity of Abbt!s previous skeptical claims, this sudden optimism comes at a surprise. In the metaphor, Abbt stressed one particular point: that it is nearly impossible to figure out what we should do, especially if we look at the consequences of our behavior. Which norm can we follow, what is the criterion for such an ethics, if the outcome of the respective action seems utterly random? The provisionary ethics can only serve as a placeholder, as it were, until Abbt!s deeper issue – nothing short of a theodicy – is achieved. So far, all he has to offer is a restriction: that we shall not ask for an ultimate meaning, nor for a tangible reward for our actions. Consequently, Mendelssohn rightfully asks why we should follow such a morality. To answer this, he assumes, we need to find a more salient solution, otherwise we are not justified to hold any ethics – since we will end up in contradictions and stifling uncertainties in the course of its realization. Unfortunately, Abbt did not live to see the publication of Mendelssohn!s Phädon, which sets out to remedy this issue.
II. Divine Solace – Mendelssohn!s Oracle and the Phädon In both the Oracle18 and the Phädon, Mendelssohn argues for human perfectibility in tandem with divine benevolence as the basis of a proof for personal immortality, hence adding a decisive metaphysical twist to Abbt!s questions. Mendelssohn holds, first, that there are rational grounds to assume our earthly development will have a future after the death of the body. Second, he argues that an innerworldly morality might very well lead to contradictions, and hence must include a reference to the immortality of the soul. Only later, in his exchange with Herder, will Mendelssohn actually address the role of the body for our perfection; thus, I will discuss this third issue in section 3.
1. The First Solace: The Essence of Humanity is Progression In Leibnizian fashion, Mendelssohn distinguishes between necessary truths that follow the principle of non-contradiction, and contingent truths that, according to god!s benevolence (Gutfinden), abide to the principle of sufficient reason (PSR). Almost all issues regarding the human vocation fall into the latter camp. As he I agree with Stefan Lorenz, De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz! Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791), Stuttgart 1997 (Studia Leibnitiana Supplementa 31), 83 that the Oracle does not fully address Abbt!s doubts and will hence concentrate on Mendelssohn!s more mature reply in the Phädon. See more about their debate in the letters following the Doubts and Oracle in Pollok, Facetten des Menschen (see fn. 1), 79–116. 18
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asserts in both Oracle and Phädon, the essence of humanity is its progression (“Fortschreitung”, JA 3.1, 113), and hence, the essential vocation of all human beings is to cultivate their capacities (Seelenfähigkeiten, JA 6.1, 20). All our drives aim at infinity, and, as he has his Socrates argue, we can assume with good reason that this striving towards perfection expresses the ultimate goal of creation (see JA 3.1, 163). However, he defies Abbt!s assumption that the possibility to unfold and cultivate those powers and capacities must necessarily be equally distributed – what matters is just that an attempt at self-perfection was performed, but not how far the respective attempt got. This has implications both for his theory of immortality and for his moral philosophy. The third dialogue of Mendelssohn!s Phädon builds on the results of the previous two, which develop the metaphysical proof that no substance can be destroyed, and that the synthesizing power of the soul proves to be a single, enduring substance, respectively.19 In the third dialogue, he extends this in accordance with the law of continuity20 to prove that all attempts at perfection must continue in an afterlife. To prove this from the finite perspective of this world, he employs the PSR: as our nature shows, we are dependent on the development and cultivation of our abilities. Said development cannot be irrational or senseless (if the PSR holds), and hence has to lead to further perfection. On the universal scale, this would amount to an increasing perfection throughout history, on which Mendelssohn is actually rather undecided21, and which is not his focus in either the Oracle or the Phädon. On the individual level, however, this indeed has to amount to a proof for the immortality of the soul. Hence, we need to be able to fulfill our vocation not only as a mere capacity, but as a distinctive, enduring person. This is the main issue of Mendelssohn!s work in the 1760s. Each step in life, whether it be the development from a mere beast to a human being capable of love, attachment, and reason, or the development of a student of physics to a Newton, is of equal worth as a move towards perfection. Hence, regardless of when my particular development is halted by circumstance (to put it more brutally: even when an infant dies22), there has been an improvement, and if JA 3.1, 92 et sq. See Corey W. Dyck, Kant and Rational Psychology, Oxford 2014, 118–120 on the reliance of this on Wolff!s notion of force and substantiality. 20 This concept he mainly takes over from Boscovich, see the Notes on the 2nd edition, 1769, JA 3.1 (see fn. 2), 134. 21 See Pollok, Facetten des Menschen (see fn. 1), 407–416, where I argue that ultimately Mendelssohn rejects claims about human history, since these would reduce its actors to mere numbers, and not ends in themselves. 22 Only in this footnote do I mention that indeed Mendelssohn is explicit about the subjective interest he takes in his position: his own daughter died at eleven months, and Mendelssohn can only console himself in reference to his dogma of immortality. However, this is an ad hominem issue that I won!t deepen any further. 19
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we then apply the PSR again, this gain in perfection cannot be just annihilated, but will further develop posthumously. In a reasonable ordered world (and for Mendelssohn, according to the mere phenomenology of things: this world is ordered reasonably), nothing is lost.23 Concerning the individual vocation Mendelssohn argues – contra Abbt – that we indeed find a particular order, at least as a directed potential: we start off as an open potentiality, and over the course of our life, regardless how long it lasts, we gain individuality and therewith: perfection (see JA 6.1, 33). Moreover, what I gain, or, what I become, is crucial for the perfection of the whole. This process of perfection still has to claim personal immortality for its fulfillment, since obviously (and Mendelssohn does not even try to say otherwise) nobody actually achieves perfection in this very life. This proof rests on the metaphysical assumption of divine benevolence and wisdom: in a tellingly rhetorical passage, Socrates argues that the incessant move towards perfection cannot be answered by an abrupt and final interruption through death. As I argued elsewhere,24 it is quite disturbing that Mendelssohn has to resort to rhetoric here, and that Socrates! forceful exclamations are ultimately insufficient to console his audience. Obviously, metaphysical solace is not as strong as one wishes it to be.
2. Second Solace: Morality Necessitates Immortality Regarding the development of an ethics in light of personal immortality, Mendelssohn sees an intrinsic connection between the human vocation and moral perfection. As he holds in the Oracle: we must assume an altruistic fundamental drive (Grundtrieb) in us which makes us seek the overall best. We take pleasure in realizing perfection, whether this be my own, or the perfection of others. What we call selfish, Mendelssohn holds, is actually derivative from a more fundamental pleasure in perfection, and he thus dismisses moral egoism as ridiculous. Hence, perfectionism in morality seems a viable option. We do not only become more perfect by perfecting our abilities (which happens by mere living), we also cannot help but care about the perfection of the whole. “Assume this happy soul (dieser glückselige Geist) has never required any other reward than what springs from virtue herself. For him, nothing in this life (hienieden) is convoluted (verschlungen), since 23
et sq.
See his rather rhetorically embellished version of the proof in JA 3.1 (see fn. 2), 106 et sq., 114
In the introduction of my edition of the Phädon I already expressed my reservations regarding the persuasiveness of his argument. After all, even the Socrates in his dialogue does not seem to succeed in convincing his students, see my introduction to Moses Mendelssohn, Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele, ed. by Anne Pollok, Hamburg 2013, XXX. 24
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his soul did not thirst for revenge [in the first place]” (JA 6.1, 23). Thus, Mendelssohn sets the stage for an ethics that works without the idea of retribution. That I have to suffer evil does not necessarily make me doubt overall goodness. I do the good for the sake of it – only this action is accompanied by the feeling of “sublimity of the soul” (Notes, JA 6.1, 38) which implies nothing about the expectation of a reward. It is important to note that Mendelssohn here says a forceful farewell to instrumental reasoning in morality. Morally worthy actions are good regardless of their outcome (see JA 3.1, 121).25 In the Phädon Mendelssohn goes one step further: there, he entertains as a thought-experiment the contrary assumption of life as the ultimate value. A person facing her final annihilation, in this view, could in no way obtain an ethics that values anything higher than personal survival; her own life must be such a person!s highest good. She would thus be unable to sacrifice herself for the sake of her posthumous reputation, nor for her family or home country. Those who still performed such an act would most likely do it out of passion, but not according to any ratiocination. A conflict between the individual and her home country would even evoke a true contradiction. On the one hand, the home country would be correct in expecting its inhabitants to sacrifice themselves for its sake – but, on the other hand, the individual would be equally justified to consider her life as the highest value, ultimately defying the justification of social virtues. A system that allows two equally valid but contradictory claims is, not surprisingly, itself invalid, and would destroy any system of morality. In summary: The essence of humanity is progress, or development. We experience ourselves (in all issues, be they sensitive, aesthetic, rational, or ethical) as unfinished, but also as being capable of growth. We aim at infinity, and as such we establish a potential meaning of history. By whatever we do, we practice our abilities as a value in themselves, and hence become more perfect. History is thus not a simple story of upward development, but it is the embodiment of our various ways to become more perfect. Each individual has to start this process anew, even though we can climb on the shoulders of others before us.
III. Herder!s Critique: the soul is not a coin-collector Still, the mere need for a final goal of our development is not sufficient to establish the notion of its actual fulfillment in an afterlife. And this is the point where Herder enters the scene. Born out of his skepticism regarding the optimistic, but heavily metaphysical constructs of traditional rationalism, he playfully considers the idea Whenever Mendelssohn still employs the term “Lohn” (reward), he means it only in a descriptive way: if I seek to be rewarded, my action loses in moral value. 25
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of palingenesis26 as a solution to the problem of human vocation. He understands this as a “progress in a circle”: a concept of re-birth, and the return to a former state. It can also be reformulated as the regress from complexity (but also chance and decay), back to an essence, or a form of pure potentiality.
1. Perfection Embodied and Relativized Against Mendelssohn, Herder holds that there can be no disembodied soul.27 The soul may be our essence, but it expresses itself and grows together with its body. This body, in turn, is not "the other, foreign part!, but the instrument of expression of our will and our feelings (see Abbt). Through the practice of our senses we become what we are, and hence the Cartesian distinction between body and soul is false. It would rob us of the sole instrument of our happiness and of our expression as a human being. This has further implications on the notion of development. Even under the rationalist paradigm of the PSR, it does not make sense to think about us individually as to think about each of us simply as an ascending line. The reality of human life stands against this: we do not just ascend towards perfection, but quite some of our abilities are lost in the course of our life itself. Even more, as Herder argues, we must lose these perfections if the circumstances change. Hence, the very condition of the possibility of growth (and perfection) is loss. Perfection is thus not mere accumulation,28 but is always relative to a particular end:29 what the soul gains are abilities that only make sense (and have a level of perfection) in a particular situation. A perfection of such a specific aspect, or ability, provides for my happiness only as pertaining to this particular being in these particular circumstances Mendelssohn has Cebes mention palingenesis at the beginning of the third dialogue: it leads to inconsistencies, says Cebes, but Socrates is willing to still consider it, and builds the starting point of his overall argument from a rather gentle refutation (JA 3.1 [see fn. 2], 104). 27 Heinz, Die Bestimmung des Menschen (see fn. 10), 273–276 stresses the difference between Herder and Mendelssohn, in that the former breaks with the Leibnizian tradition by arguing that the soul can only develop within the sensible, through experiences in space and time, whereas the latter sees the body as a (confused) extension of the soul. However, to many contemporaries, even Mendelssohn himself, the divide was less clear. Maybe it was that Herder couched his theory in Leibnizian terms that hindered Mendelssohn from seeing the depth of their divide (see his letter from May 2, 1769, Phädon, ed. Pollok [see fn. 24], 199 et sq.) – one of the confused is Frederick C. Beiser, Mendelssohn versus Herder on the Vocation of Man, in: Reinier Munk (ed.), Moses Mendelssohn!s Metaphysics and Aesthetics, New York 2011, 235–44, here 242). My attempt at an answer I first formulated in Phädon, ed. Pollok 2013 (see fn. 24), XXXVIII. 28 For the latter view Herder found the endearing picture of a coin-collector, a Münzensammler, see Phädon, ed. Pollok (see fn. 24), 208, and Pollok, Facetten des Menschen (see fn. 1), chapter V. 29 See Phädon, ed. Pollok (see fn. 24), 206 et sq. 26
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of life. But there is nothing like an ultimate, absolute perfection. There is no ultimate point of convergence which could justify a teleological outlook. Instead, each Lebensalter has its own perfection. With this, Herder relativizes the notion of perfection.30 The only "state of perfection! left, according to Herder, is the perfection of the circle: we are and remain the same essence, and reveal all our different aspects over time – in a circle of rise and return. This stance against Mendelssohn can be characterized as anti-rationalistic (or naturalistic), and is infused by a – from the perspective of the late Herder disturbing – distrust in any religious dogma of salvation. And, in spite of a first impression, his account is also anti-individualistic. As Herder assumes, we live and develop not to keep anything, but to ultimately return to where we came from. The narrative of a life, therefore, is a closed story, a circle of rise and return. This runs counter to Mendelssohn!s teleological conception of personal history, nor does it support the enlightened notion of the worth of personhood as an absolute value (which is the main reason why Mendelssohn does not follow Herder!s relativized notion of perfection), since we inevitably lose what defines ourselves as a person, and continue to be only as a simple essence; a !monad!, or !kernel! of pure potentiality. However, I hold that what marks our individual personality is the specific unfolding of this potential over time. But under the paradigm of palingenesis this specific unfolding necessarily returns to its source, leaving all personal moldings behind. Following Mendelssohn, this would not only harm the PSR, but also the principle of continuity.31 Personality would diminish to a merely transient quality. And with this, the worth of the individual seen for herself becomes the more precarious. Paradoxically, Herder!s criticisms thus do not get any closer to a satisfying answer as to what my vocation is, and hence, we are forced to return to Abbt!s critique of an all too abstract and impersonal rationalistic optimism. Most importantly, Herder!s account has far reaching implications for the concept of the soul. In the concluding section in On cognition and sensation, Herder And, even if Mendelssohn agrees to embrace the idea of a necessarily embodied soul (ibid., 199 et sq.), for him this does not entail a relativized view of perfection as Herder envisages. 31 This is an aspect that I do not find in Beiser!s discussion of this issue: Mendelssohn obviously thought that not all capacities are only perfections of sensibility, but contain a rational aspect, an improvement of those faculties that supersede the immediate situation (which then also goes contra the assumption that Mendelssohn is arguing as a strict dualist in the Phädon, as Beiser, Mendelssohn versus Herder [see fn. 27], 243 has it). Following the law of continuity, these capacities cannot be lost, but must endure. Mendelssohn thought of the human being as realizing itself, and took that to be tantamount, ultimately, to it becoming more and more capable of understanding and emulating the divine (which would address Beiser!s second problem, 243). I have addressed this at length in Phädon, ed. Pollok (see fn. 24), XLII–XLIV. 30
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formulates his ultimate rejection of a metaphysical argument for the immortality of the soul: The immortality of a metaphysical monad is nothing but meta-physical immortality, whose physical side does not convince me. If soul is what we feel, what all peoples and human beings know about, what its name says too, namely, that which ensouls us, original source and epitome of our thoughts, sensations, and forces, then no demonstration of its immortality from out of itself is possible. We enfold in words what we want to unfold, presuppose what no human being can prove or even just comprehends or understands, and one can hence infer whatever one wants. The transition of our life into a higher life, the remaining and waiting of our inner human being for the day of judgment, the resurrection of our body to a new heaven and a new earth, cannot be demonstrated from out of our monad.32
From within the monad all life remains an issue of personal experience, that is, something outside the realm of philosophical justification. This passage can be read as a direct critique of Mendelssohn!s Phädon and the Oracle. In both, Mendelssohn tries to explicate the world as a mere sign of what should be – a divine plan, and an immortal soul, but it lacks a convincing account of the embodiment of the soul. For Mendelssohn, seen overall, perfection is already there – but if we look closer at his argument, Herder holds, we see it was Mendelssohn himself who put it there, instead of developing a valid argument for it. Regarding our possible development beyond our earthly life, Herder is as skeptical as Abbt: the soul is not an entity beyond physics, but is a physical function – that which “ensouls us” (see above). This function does not prove anything which goes beyond our lives, but it is the basic principle that enables us to have sensations and thoughts in the first place. Only when we turn our back to the individual and consider human culture and history alone does this basic function bear some more meaning: it is the basis of all our expressions in science, art, and philosophy. In this sense, each person!s soul is embodied in the respective legacy of this person, in her works, and these works together form the only possible kind of immortality.33
Johann Gottfried Herder, On cognition and sensation, in: id., Philosophical writings, transl. and ed. by Michael N. Forster, Cambridge 2002, 187–244, here 243. 33 This, of course, is part of Diotima!s argument for our seeking immortality in Plato!s Symposium (207 d–209 e). 32
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2. A New Immortality in Culture Herder put this more elaborately in his Torso34 in remembrance of Abbt: we become immortal by our acts that form our legacy. The real fulfillment of our life will be done by those who act in our spirit. Hence, Herder combines a notion of development (we develop skills for a particular, finite purpose, which we lose when we come to the next stage in our life) with a concept of an idealized, cultural immortality (we are what we bring into this world – we become our ideas that we leave behind). This is a new answer to Abbt!s need, and another idealistic limitation of philosophy. Herder, too, has to turn down Abbt!s hopes for more: as a person I do not stay alive. But the gist of my expressions, my work, that what might be essentially "me! can very well live on. This requires a living tradition, but no metaphysics. And with this, history becomes the focus of Herder!s philosophical anthropology, since human self-constitution is always embedded in the framework of the historical, cultural, and natural world the individual lives in. With this, Herder!s notion of perfection obtains a further nuance as the observation and interpretation of the works that manifest the development of human culture and life (the formative powers in human history) come into focus. Like Lessing (and Mendelssohn) before him, Herder holds that perfection must be understood as a dynamic concept: only in our striving for perfection do we actually reveal it. On the personal level, the acquired perfection is relative to the circumstances, and cannot be held onto forever. On the cultural level, a person!s work showcases one instance of the overall potential of all human beings to form an improve themselves. What is embedded in a culture can escape the inevitable, personal loss that comes with the death of this particular individual. Humans are the first “set free” in creation.35 What we make of our potential is up to us – and to circumstances. What individual perfection, seen as a “snap shot”, then really is, is in fact idiosyncratic. To enable us individual immortality, we rely on the work of others, and the force of history. With this, Herder shifts the focus of discussion. Whether we will indeed return (i. e. if palingenesis holds true) is actually less important than the humanistic attempt to capture the conditions of the realization of our potential, and develop new ways of understanding history, in order to keep those alive who worked for it. Not perfection, but perfectibility (as introduced by Rousseau and Lessing) remains as the essence of the human vocation. Johann Gottfried Herder, Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet, Riga 1768, see Pollok, Facetten des Menschen (see fn. 1), 537–544. 35 “Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöfung” (Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: id., Werke. Frankfurter Ausgabe, ed. by Martin Bollacher, Frankfurt am Main 1989, vol. 6, 145 et sq.). 34
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Overall, Herder!s stance sounds attractive, and contemporary. But what he cannot account for is the proof of personal immortality that Abbt yearned for, replacing it with a Platonic notion of immortality through our works. IV. Conclusion In their respective discussions concerning the immortality of the soul, Abbt lays bare the hidden need for a belief in immortality that, given the arguments offered by Spalding, boils down to a mere wish. He attempts to erect an inner-worldly ethics as a bulwark against the danger of nihilism, but ultimately this might not be enough to satisfy the searching soldiers, or the despairing and mourning people faced with the possibility of their total destruction by death. Mendelssohn attempts to offer a strengthened metaphysical basis for personal immortality, arguing for the reality of divine benevolence and wisdom. Herder finds fault in Mendelssohn!s concepts of a soul and of perfection, and relativizes both. On the one hand, his position allows us to transfer the issue of immortality to the endurance of human work within history and culture. On the other hand, this still does not allow to account for personal immortality. I doubt that Socrates! friends would have cried less, had Socrates spoken in Herder!s tongue. But after all, who would not weep when losing a friend.36 In diesem Aufsatz zeichne ich anhand der Argumentationsstruktur in Mendelssohns „Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend“, dem Phädon und den sich daran anschließenden Diskussionen mit Thomas Abbt und Johann Gottfried Herder einen für die Spätaufklärung charakteristischen Argumentationsverlauf für die Unsterblichkeit der Seele nach. Aus einem Systemzwang geboren (denn nur wenn die personale Unsterblichkeit der Seele angenommen wird, kann für Gottes Güte argumentiert werden), erweist sich Mendelssohns Argumentation zwar als brüchig. Jedoch scheinen auch seine Gesprächspartner in Sackgassen zu geraten, die ihre nahezu revolutionären, skeptischen Stellungnahmen empfindlich einschränken. Als eine Konsequenz lässt sich die Kantische Position verstehen, doch auch eine, Herder folgende, aufkeimende Philosophie der Kultur. Between 1763 and 1769, three different thinkers brought the issue of immortality to the forefront of the discussion on the human vocation. Thomas Abbt delivers a skeptical account, arguing that the practical grounds of rationalism are untenable in light of the obvious lack of rational order in the world, let alone in individual human lives. This evokes Acknowledgements: I thank Gideon Stiening for inviting me to the Immortality conference in Trier, and all participants for their invaluable comments on my presentation. Craig Bacon read a version of this paper and inspired the title. I cannot thank him enough for his suggestions and criticism. All remaining mistakes are mine. I dedicate this paper to Jürgen Stolzenberg, who patiently listened to the most amateurish proto-version of this paper some twelve years ago in his Doktorandenkolleg. 36
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Moses Mendelssohn!s reply in his Phädon, in which Mendelssohn uses Abbt!s own practical arguments to secure the rationalist concept of personal immortality. Johann Gottfried Herder, finally, picks up Abbt!s challenge of the rationalist paradigm of immortality with particular reference to the necessary embodiment of the soul, and a distinctive critique of the paradigm of perfection. Both Abbt and Herder reveal the fundamental flaws in the rationalist assumptions concerning the role of the body for the constitution of possible experience, the tension between personal and universal perfection, and the possibility of a rationalist ethics without the assumption of immortality. I thus argue that a proof of the immortality of the soul that merely follows from a specific constraint of the system, as is the case for Mendelssohn, cannot be successful. However, the skeptical and historicist alternatives by Abbt and Herder are also unable to account for personal immortality. What they do is offer a mere hope, thus preparing the ground for Kant!s Copernican Turn. Dr. Anne Pollok, Department of Philosophy, University of South Carolina, Columbia, SC 29208, USA, E-Mail: [email protected]
Stefan Klingner Pneumatologie oder Ethikotheologie? Crusius und Kant über die Unsterblichkeit der Seele
Dass der Leipziger Philosoph und Theologe Christian August Crusius in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ein „berühmter“ Gelehrter galt, kann man nicht zuletzt Kants so genannten vorkritischen Schriften1 entnehmen.2 Und auch noch in seinen kritischen Schriften erwähnt Kant ihn wiederholt: Crusius wird dort etwa die Idee ,eingepflanzter" Naturgesetze bzw. Kategorien zugeschrieben und er wird ausdrücklich als prominenter Vertreter eines theologischen ,Prinzips der Sittlichkeit" genannt.3 Im Kontext des Problems der Unsterblichkeit der Seele Auf die Schriften Kants wird unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl(en) der Akademie-Ausgabe (Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1900 ff.) verwiesen. Bei Verweisen auf die drei Kritiken wird zudem die Angabe der Seitenzahl gemäß der Originalpaginierung vorangestellt, im Fall der Kritik der reinen Vernunft gemäß der zweiten Auflage (Riga 1787 = B), der Kritik der praktischen Vernunft gemäß der ersten Auflage (Riga 1788 = A), der Kritik der Urteilskraft gemäß der zweiten Auflage (Berlin 1793 = B). Auf Crusius! Anweisung und Entwurf (Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, darinnen nach Erklärung des menschlichen Willens die natürlichen Pflichten und allgemeinen Klugheitslehren im richtigen Zusammenhange vorgetragen werden, Leipzig 1744 und ders., Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden, Leipzig 31766) wird unter Angabe der Paragraphennummer(n) und Seitenzahl(en) verwiesen. Änderungen der Hervorhebungen von Crusius bzw. Kant werden eigens kenntlich gemacht. 2 Vgl. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, 02: 76.27 und ders., Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, 02: 169.11. Kants Auseinandersetzung mit Crusius betrifft in den vorkritischen Schriften besonders die Probleme der Unterscheidung von mathematischer und philosophischer Erkenntnis, des Unterschieds zwischen Ideal- und Realgründen sowie von Existenzsätzen. Siehe dazu etwa Christian Kanzian, Kant und Crusius 1763, in: Kant-Studien 83 (1993), 399–407. 3 Vgl. zum ersten Punkt Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, 04: 319.31–37 Anm. sowie den impliziten Verweis in ders., Kritik der reinen Vernunft, B 167 f., 03: 128.24–129.22, zum zweiten Punkt die Tafel in ders., Kritik der praktischen Vernunft, A 69, 05: 40 (und dazu auch den impliziten Verweis in der Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius II, 29: 627.03–628.13). 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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findet sich in den einschlägigen Textpassagen von Kants Schriften dagegen kein expliziter Verweis auf Crusius. Zu groß scheint der Abstand zwischen der Auffassung der traditionellen Metaphysik und Kants eigener Bestimmung des Unsterblichkeitstheorems als ein „Postulat der reinen praktischen Vernunft“.4 Schenkt man allerdings einer ausführlichen Bemerkung, die Kant nach der zweiten Kritik an prominenter Stelle geäußert hat und bei der er sowohl auf das mit der Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele verbundene metaphysische Problem als auch auf deren mögliche Begründbarkeit ausdrücklich eingeht, etwas mehr Beachtung, dann kann man einigen Grund haben, auch hier einen Verweis auf Crusius zu vermuten. Denn Kant resümiert im letzten Absatz des § 89 der dritten Kritik seine Kritik an der Rationalpsychologie sowie seine eigene Fassung des Unsterblichkeitstheorems folgendermaßen: In Ansehung der Hoffnung eines künftigen Lebens[] […] giebt die Seelenlehre […], so wie oben die Theologie nichts mehr als einen negativen Begriff von unserem denkenden Wesen: daß nämlich keine seiner Handlungen und Erscheinungen des innern Sinnes materialistisch erklärt werden könne; daß also von ihrer abgesonderten Natur und der Dauer oder Nichtdauer ihrer Persönlichkeit nach dem Tode uns schlechterdings kein erweiterndes, bestimmendes Urtheil aus spekulativen Gründen durch unser gesammtes theoretisches Erkenntnißvermögen möglich sei. Da also alles hier der teleologischen Beurtheilung unseres Daseins in praktischer nothwendiger Rücksicht und der Annehmung unserer Fortdauer, als der zu dem uns von der Vernunft schlechterdings aufgegebenen Endzweck erforderlichen Bedingung, überlassen bleibt, so zeigt sich hier zugleich der Nutzen […]: daß, so wie die Theologie für uns nie Theosophie werden kann, die rationale Psychologie niemals Pneumatologie als erweiternde Wissenschaft werden könne, so wie sie andrerseits auch gesichert ist, in keinen Materialism zu verfallen; sondern daß sie vielmehr bloß Anthropologie des innern Sinnes[] […] sei und als theoretisches Erkenntniß auch bloß empirisch bleibe; dagegen die rationale Psychologie, was die Frage über unsere ewige Existenz betrifft, gar keine theoretische Wissenschaft ist, sondern auf einem einzigen Schlusse der moralischen Teleologie beruht […].5
Drei wesentliche Punkte hebt Kant hier hervor: Erstens könne die Seele nicht materialistisch erklärt werden; zweitens sei die Vorstellung ihrer Sterblichkeit ebenso wie die ihrer Unsterblichkeit aus der Perspektive theoretischen Erkennens bloß spekulativ und insofern seien beide als gleichrangige Optionen anzusehen; und drittens sei die Frage nach der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele ausschließlich mittels eines ethikoteleologischen Schlusses zu entscheiden. Während die ersten beiden Punkte offenkundig die aus der „Dialektik“ der ersten Kritik bekannten Überlegungen zur bloß negativen Funktion einer Rationalpsychologie zusammenfassen, betrifft der dritte Punkt den aus der Postulatenlehre der zweiten
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Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 219, 05: 122.03. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 442, 05: 460.20–461.08.
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Kritik bekannten Gedanken, dass die Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele ausschließlich moralteleologisch zu rechtfertigen ist. Dass Kant im Zusammenhang mit der Kritik an der Rationalpsychologie die Bezeichnung ,Pneumatologie" für deren vermeintlich wissenschaftliche Form verwendet, kann als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass er hier Crusius vor Augen hatte. Denn dieser verwendet in seiner Darstellung der Metaphysik ausschließlich den Titel ,Pneumatologie" für die Seelenlehre – im Unterschied zu anderen, vor allem durch die wolffsche Darstellung der Metaphysik geprägten zeitgenössischen metaphysischen Lehrbüchern.6 Mit Blick auf das Problem der Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), §§ 424–487, 850–1000. – Die Vermutung, dass Kant hier implizit auf Crusius verweist, lässt sich folgendermaßen plausibilisieren: In der Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts ist der Titel ,Pneumatica" bzw. ,Pneumatologia" noch für die gesamte von der Metaphysik zu unterscheidende Lehre von Gott, Engeln und (vernünftigen) Geistern gebräuchlich (so etwa bei Johannes Scharf, Pneumatica, Wittenberg 51670, 1 ff. [Prooemium]; vgl. dazu auch Ernst Vollrath, Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis und eine Metaphysica specialis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 16 [1962], 258–284, hier 268 f. und 277 f., ferner Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, 70 und 141 f.). Mit der auf Christian Wolff zurückgehenden Binnendifferenzierung der Metaphysik in allgemeine und besondere wird der Titel ,Pneumatik" bzw. ,Pneumatologie" im Kontext der (deutschen) Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts dann allerdings kaum noch verwendet. Für die Seelenlehre – als metaphysische wie auch als empirische Disziplin – wird vielmehr vor allem der Titel ,Psychologie" bzw. ,Psychologia" gebräuchlich, so etwa in A. G. Baumgartens Metaphysica. Von Crusius einmal abgesehen, wird der Titel ,Pneumatologie" dagegen eher selten verwendet. Als Beispiele ließen sich etwa F. C. Baumeisters Institutiones philosophiae rationalis und Institutiones metaphysicae, J. G. Darjes! Elementa metaphysices, S. C. Hollmanns Institutiones philosophicae, J. C. Gottscheds Erste Gründe der Weltweisheit oder J. G. H. Feders populäres Lehrbuch Logik und Metaphysik anführen (vgl. einige Hinweise in Wundt, Die Schulphilosophie, 206 f., 216–218 und 304 f.). Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Kant einen dieser Autoren hier vor Augen hatte. Baumeister verwendet das Wort ,Pneumatologia" als Titel für denjenigen Teil der theoretischen Philosophie, der sowohl die natürliche Theologie als auch die Psychologie umfasst (vgl. Friedrich Christian Baumeister, Institutiones philosophiae rationalis, Wittenberg 1736, § 45, 31 und auch ders., Institutiones metaphysicae, Wittenberg 1738, § 472, 331), was nicht gut zu der oben zitieren Verwendung durch Kant passt und eher an die ,vorwolffsche" Bedeutung erinnert. Darjes nennt wiederum die wesentliche Unterschiedenheit von ,Seele" und ,Geist" als Grund für zwei zu unterscheidende metaphysische Wissenschaften namens ,Psychologia" und ,Pneumatologia" (vgl. Joachim Georg Darjes, Elementa metaphysices, Jena 21753, § 11), worauf Kant in der zitierten Bemerkung aber gar nicht abzuzielen scheint. Und Hollmann verwendet zwar ausschließlich das Wort ,Pneumatologie" als Titel für die metaphysische Wissenschaft von Seele bzw. Geist, zeigt aber ausdrücklich an, dass es auch als Psychologie und natürliche Theologie umfassender Titel verwendet werde (vgl. Samuel Christian Hollmann, Institutionum philosophicarum tomus II. Complectens physicam cum pneumatologia et theologia naturali, Wittenberg 21730, Prolegomena § 37, 415 f.). Zudem findet sich kein Hinweis in den Schriften Kants (oder auch in Wardas Auflistung des Bestands von dessen Bibliothek) auf eine Rezeption der genannten metaphysischen Lehrbücher Darjes! und Hollmanns durch Kant. Dagegen befand sich Gottscheds Lehrbuch zwar nachweislich in Kants Besitz (genauer: eine Ausgabe der fünften Auflage von 1748/49, vgl. Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, 49), der Ausdruck ,Pneumatologia" wird dort aber nur in einer 6
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Unsterblichkeit der Seele vermag eine Crusius-Lektüre allerdings insofern zu überraschen, als Crusius allen drei genannten Punkten wohl ausdrücklich zugestimmt hätte. Denn erstens sieht auch er in der Zurückweisung des Materialismus einen wesentlichen Ertrag seiner ,Pneumatologie".7 Zweitens hält er zwar in Übereinstimmung mit der traditionellen metaphysischen Seelenlehre daran fest, dass eine geistige Substanz einfach und somit unvergänglich sei. Allerdings könne diese selbstverständlich von Gott vernichtet werden, so dass ein zusätzliches Argument für ihre Unsterblichkeit notwendig werde.8 Und tatsächlich sind es drittens auch Crusius zufolge erst die Gott und der vernünftigen Seele zuzusprechenden moralischen Eigenschaften, die gültige Beweise ihrer Unsterblichkeit erlauben.9 Sowohl Crusius als auch Kant machen demnach die Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele ausdrücklich von moralphilosophischen Überlegungen abhängig. – In diesem Punkt ist Kants moralteleologische Wendung des traditionellen Unsterblichkeitstheorems somit weit weniger originell, als es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Der wesentliche Unterschied zwischen Crusius! und Kants Konzeptionen der Unsterblichkeit der Seele kann demnach nicht den Umstand betreffen, dass Crusius die rationale Psychologie nicht nur als ,Disziplin" versteht, sondern an der Idee einer metaphysischen Seelenlehre unter dem Titel ,Pneumatologie" festhält. Insofern beide das Unsterblichkeitstheorem nicht als metaphysisches, sondern als ein moralphilosophisches darstellen, betrifft er vielmehr die Begründung der jeweiligen moralphilosophischen Argumentation. Es ist zu zeigen, dass Crusius aufgrund theologischer Überlegungen die Unsterblichkeit der Seele für beweisbar hält, diese bei Kant allerdings für die Begründung des Unsterblichkeitspostulats keine Rolle spielen. Kants Überlegung ist vielmehr eine teleologische: Sie hat im ersten Schritt allein die moralische Forderung nach sittlicher Vollkommenheit als Ausgangspunkt und besteht im zweiten Schritt in einer technisch-teleologischen Reflexion auf die Minimalbedingung von deren Möglichkeit. Marginalie verwendet. In Feders populärem Lehrbuch, das Kant gut kannte, wird die ,Pneumatologie" wiederum gar nicht als eigenständiger Versuch einer apriorischen Seelenlehre abgehandelt. Vielmehr werden dort bloß kurze Referate zeitgenössischer Positionen sowie einige Hinweise auf problematische Punkte angeführt. Dagegen liegt der Verweis auf Crusius insofern nahe, als dieser ausdrücklich zwischen ,Seele" und ,Geist" unterscheidet, wobei der Geistbegriff die nicht-körperliche Substanz ohne Bezogenheit auf einen Körper bezeichnet und als solche dann auch im Zentrum einer entsprechenden metaphysischen (apriorischen) Wissenschaft, der ,Pneumatologie", steht (vgl. bes. Crusius, Entwurf [wie Anm. 1], § 434, 880–883). 7 Vgl. bes. ebd., §§ 435–440, 884–903 sowie ferner ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 222, 269–271. 8 Vgl. bes. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 485, 993 f. sowie bereits ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267–269. 9 Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), bes. § 476, 982 f. und ferner § 482, 988 sowie bereits ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267.
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Der Versuch eines Belegs dieser These wird im Folgenden in vier Schritten gegeben: Zuerst werden der in der rationalistischen Metaphysik geläufige Beweis der Unsterblichkeit der Seele und Crusius! eigene Darstellung der Pneumatologie kurz vorgestellt (I.). Im Anschluss an die dort von Crusius geäußerte Kritik am rationalpsychologischen Beweis werden im zweiten Schritt dessen eigene Beweise der Unsterblichkeit der Seele skizziert und dabei ihre moralphilosophische Argumentation sowie deren theologische Begründung herausgestellt (II.). Damit wird es möglich sein, im dritten Schritt die Kants Postulat der Unsterblichkeit der Seele zugrundeliegende Argumentation zusammenzufassen und mit derjenigen von Crusius zu vergleichen (III.). Die von Crusius vorbereitete und von Kant vollzogene moralteleologische Wendung des traditionellen Unsterblichkeitstheorems hat schließlich auch Konsequenzen für die Beantwortung der Frage nach einem ,künftigen Leben". Sie wird im letzten Schritt Gelegenheit bieten, Crusius! und Kants Problematisierungen des Unsterblichkeitstheorems – zumindest vorläufig – zu würdigen (IV.).
I. Crusius und der Beweis der Unverweslichkeit der Seele Das Unsterblichkeitstheorem wird in zahlreichen metaphysischen Lehrbüchern des 18. Jahrhunderts innerhalb der rationalen Seelenlehre – und dort zumeist an deren Ende – vorgetragen.10 Diesem Vortrag liegt dabei stets der Beweis der Unverweslichkeit der Seele zugrunde, der etwa folgendermaßen zusammengefasst werden kann: 1) Einfache Substanzen sind unverweslich (unteilbar, unvergänglich). 2) Die Seele ist eine einfache Substanz. 3) Ergo: Die Seele ist unverweslich (unteilbar, unvergänglich). Dieser Beweis bedient sich offensichtlich des cartesischen Substanzdualismus, dem zufolge ein wesentlicher Unterschied zwischen Seelen und Körpern darin besteht, dass Körper teilbar, mithin vergänglich, Seelen dagegen als nicht-ausgeVgl. z. B. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 81741, § 921, 569, Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Halle 41757, § 746, 297 und § 781, 317 oder auch Johann Christoph Gottsched, Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Erster, Theoretischer Theil, Leipzig 1733, § 646, 313. Eine Ausnahme davon stellt z. B. Johann Liborius Zimmermann, Natürliche Erkenntniß Gottes, der Welt und des Menschen, nebst andern dahin gehörigen Warheiten, welche die Grund-Sätze aller wahren Gelehrsamkeit, fürnehmlich der Welt-Weißheit in sich enthalten, Jena 1729, §§ 497–500 dar, wo die Unsterblichkeit der Seele gleich am Anfang der Seelenlehre thematisiert und bewiesen wird. 10
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dehnte Gegenstände zugleich einfache Substanzen sind.11 Wie Wolff und andere an seine Darstellung der Rationalpsychologie anknüpfende Autoren anmerken, ist mit dem Beweis der Unverweslichkeit der Seele zwar noch nicht zugleich deren Unsterblichkeit bewiesen. Er stellt jedoch das wesentliche Argument für den Beweis der zweiten dar.12 Zu ihm müsse lediglich noch etwa das psychologische Lehrstück von der Persönlichkeit der Seele hinzukommen, damit die Annahme einer Unsterblichkeit der menschlichen im Unterschied zur Sterblichkeit der tierischen Seele als hinreichend gerechtfertigt gelten kann.13 Kant spricht dagegen dem Begriff einer Unsterblichkeit qua Unverweslichkeit der Seele bekanntlich die objektive Realität ab. Seine Kritik richtet sich dabei sowohl gegen den rationalistischen Substanzbegriff – mithin die erste Prämisse – als auch gegen die Bestimmung des denkenden Ich als (spezifische) Substanz – mithin die zweite Prämisse.14 Ihren einzelnen Argumenten muss hier nicht näher nachgegangen werden. Relevant ist an dieser Stelle aber, dass mit der kantischen Disqualifikation des denkenden Ich als ein besonderer, apriorischer Weiterbestimmung fähiger Gegenstand nicht nur der rationalpsychologische Beweis der Unsterblichkeit der Seele, sondern die gesamte Seelenlehre als (theoretische) apriorische Wissenschaft hinfällig wird. Eine spezielle (theoretische) Wissenschaft vom denkenden Ich ist damit nur noch als – wie Kant in der anfangs zitierten Passage aus der dritten Kritik betont – „Anthropologie des innern Sinnes, d. i. Kenntniß unseres denkenden Selbst im Leben“,15 mithin als eine bloß empirische Lehre möglich. Relevant ist Kants Kritik hier insofern, als auch Crusius! Pneumatologie von ihr betroffen ist. Als letzter und vom Umfang her geringster Teil seiner DarstelVgl. dazu auch Martin Krieger, Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius. Erkenntnistheoretisch-psychologische, kosmologische und religionsphilosophische Perspektiven im Kontrast zum Wolffschen System, Würzburg 1993 (Epistemata 126), 112. – Im letzten Absatz des fünften Abschnitts seines Discours de la M)thode spricht Descartes selbst seiner strikten Unterscheidung von geistiger und ausgedehnter Substanz einige Relevanz für das Unsterblichkeitstheorem zu. Allerdings ist der hier als ,cartesisch" bezeichnete Substanzdualismus keiner, der einfach mit dem Descartes! identifiziert werden darf. In der wolff(iani)schen Metaphysik sind es weniger ,Denken" und ,Ausdehnung", sondern vielmehr ,Simplizität" und ,Komplexität", die als wesentliche Eigenschaften ,Geist" und ,Körper" zu unterscheiden erlauben. 12 Vgl. bes. Martin Knutzen, Philosophische Abhandlung von der immateriellen Natur der Seele, darinnen theils überhaupt erwiesen wird, daß die Materie nicht denken könne und daß die Seele uncörperlich sey, theils die vornehmsten Einwürffe der Materialisten deutlich beantwortet werden, Königsberg 1744, § XIII, 76 f. 13 Vgl. z. B. Wolff, Vernünfftige Gedancken (wie Anm. 10), §§ 926 f., 573 f. sowie auch Gottsched, Erste Gründe (wie Anm. 10), § 647, 313 f. zus. mit § 650, 315. 14 Vgl. das Paralogismus-Kapitel der ersten Kritik, bes. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 407–413, 03: 267.19–270.23. 15 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 442, 05: 461.03–05. 11
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lung der Metaphysik16 ist sie Crusius zufolge „die Wissenschaft von dem nothwendigen Wesen eines Geistes und denen Unterschieden und Eigenschaften, welche sich daraus a priori verstehen lassen“.17 Zwar setze auch die metaphysische Pneumatologie den „Erfahrungssatz […]: Wir sind uns bewußt, daß wir denken“,18 voraus. Diese empirisch-psychologische Kenntnis um das eigene Denken (und Wollen) ist Crusius zufolge allerdings bloß insofern notwendig, als nur mittels ihrer der (objektive) Gegenstandsbezug des Geist- bzw. Seelenbegriffs garantiert werden könne.19 Einmal in seiner Realität erwiesen könne der Geist- bzw. Seelenbegriff als ein auf eine besondere Substanz bezogener qualifiziert und a priori weiterbestimmt werden.20 Bei Tieren und Menschen sei diese besondere Substanz zudem mit einer körperlichen Substanz verbunden.21 Da diese Verbindung aber nicht als eine notwendige angesehen werden könne, sieht Crusius im Rahmen seiner Pneumatologie von ihr ab und fasst die spezifische Bestimmtheit dieser besonderen Substanz präziser als ,Ideenfähigkeit".22 Der derart gefasste Geist- bzw. Seelenbegriff wird von Crusius im zweiten Teil seiner Darstellung der Pneumatologie analysiert und damit näher bestimmt, so dass dem Geist bzw. der Seele die aus der metaphysischen Tradition bekannten Eigenschaften zugesprochen werden: Denken,23 Wollen,24 Leben,25 Immaterialität,26 Einfachheit,27 und eben Unverweslichkeit.28 Interessanterweise endet der zweite Teil von Crusius! Darstellung der Pneumatologie allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Seele trotz ihrer Unverweslichkeit durchaus sterben, d. h. „bey der Trennung vom Körper alle lebendige Thätigkeit derselben aufhören könne“.29 Auch wenn also Crusius! Bestimmung und Analyse des Seelenbegriffs, mithin seine Pneumatologie als meVon den etwa 1000 Seiten des Entwurfs umfasst die Pneumatologie „nur“ etwa 150. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 424, 852. 18 Ebd., § 426, 856. 19 Vgl. ebd., § 425, 853 f. und § 426, 856. 20 Vgl. ebd., § 429, bes. 865. 21 Vgl. ebd., §§ 431–433, 876–880. 22 Vgl. ebd., § 434, bes. 881 f. – Crusius verwendet den Titel ,Geist" dann auch für die ideenfähige Substanz selbst, den Titel ,Seele" dagegen in deren Verhältnis zur körperlichen Substanz betreffenden Fällen (vgl. Crusius, Entwurf [wie Anm. 1], § 433, 880 und § 434, 882 f.). Dieser Wortgebrauch macht auch deutlich, warum Crusius die metaphysische Seelenlehre als Geistlehre, mithin nicht als (rationale) ,Psychologie", sondern eben als ,Pneumatologie" bezeichnet. 23 – und damit etwa Bewusstsein und Abstraktionsfähigkeit (vgl. ebd., §§ 441–444, 903–913). 24 – und damit Begierden, Freiheit und Absichten (vgl. ebd., §§ 445–457, 913–942). 25 – und damit Empfindung, Sprache und Habitus (vgl. ebd., §§ 458–469, 942–970). 26 Vgl. ebd., § 471, 972–975. 27 Vgl. ebd., § 473, 977. 28 Vgl. ebd., § 474, 977 f. 29 Ebd., § 475, 980. 16
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taphysische Seelenlehre durch Kants Kritik obsolet wird, ist damit mit Blick auf seine Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele noch nicht viel entschieden. Crusius entwickelt seine Unsterblichkeitsbeweise nämlich folgerichtig erst im dritten und zugleich letzten Teil seiner Darstellung der Pneumatologie, der die moralischen Eigenschaften des Geistes bzw. der Seele thematisiert. Und dort kritisiert auch er den traditionellen rationalpsychologischen Beweis.30 Dabei können aber offenkundig nicht dessen Prämissen Gegenstand der Kritik sein. Denn sowohl die Unverweslichkeit einfacher Substanzen als auch die Bestimmung des Geistes bzw. der Seele als einfache Substanz sind anerkannte Theoreme seiner Metaphysik.31 Den Schwachpunkt des herkömmlichen Beweises sieht Crusius vielmehr in der Annahme, dass der Schluss auf die Unverweslichkeit der Seele für den Nachweis ihrer Unsterblichkeit bereits hinreichend bzw. bloß noch durch andere ontologische oder auch psychologische Lehrstücke zu ergänzen sei. Zumindest vier Punkte können an Crusius! Kritik unterschieden werden: (i) Die Existenz der Seele ist zufällig. In Übereinstimmung mit der metaphysischen Tradition bestimmt Crusius die menschliche Seele als einfache Substanz, die ausschließlich von Gott erschaffen und auch wieder vernichtet werden könne. Sie ist daher nicht teilbar, sondern ,unverweslich".32 Es bleibt dabei aber Crusius zufolge die für eine Begründung des Unsterblichkeitstheorems entscheidende Frage offen, ob – und wenn ja: wann – die Seele nicht doch vernichtet wird.33 Es müssen demnach besondere Gründe angegeben werden, warum Gott ihre Existenz erhalten will. (ii) Das Leben einer Seele ist zufällig. Eine denkende Substanz ist als einfache Substanz zwar unverweslich. Allerdings ist nicht jede einfache Substanz lebendig und die ,Lebendigkeit" einer denkenden Substanz vermag auch wieder zu vergehen, wie etwa im Fall der Seelen von Tieren.34 Um für einen Beweis der Unsterblichkeit der Seele zu zeigen, dass denkende Substanzen nach ihrer Trennung vom Körper ihre ,Lebendigkeit" nicht verlieren, müssen demnach besondere Gründe angegeben werden. (iii) Der Tod der Seele nach der Trennung vom Körper ist aus empirischer Sicht wahrscheinlich. Wenn ausschließlich auf die „bloß physikalische[] Beschaffenheit der Dinge“35 geachtet wird, ist es eine Tatsache, dass die Lebendigkeit der Seele stets mit körperlichen Zuständen verknüpft ist und dass mit dem Vergehen Vgl. ebd., § 485, 993 f. sowie auch ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267–269. Vgl. zum ersten Punkt Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), §§ 107–112, 182–187 und zum zweiten Punkt nochmals ebd., § 473, 977. 32 Vgl. ebd., § 474, 977 f. 33 Vgl. ebd., § 485, 993 f. und ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267 f. 34 Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 485, 994 und ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267. 35 Crusius, Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267. 30
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körperlicher Zustände zugleich die Lebendigkeit der Seele abnimmt. Aus dieser ,empirischen" Perspektive darf daher der Schluss auf ein Sterben der Seele mit dem physischen Tod eine größere Wahrscheinlichkeit beanspruchen als die Annahme eines Fortlebens der Seele.36 (iv) Die Erhaltung der Existenz und des Wesens der Seele hängt vom Willen Gottes ab. Crusius! natürlicher Theologie zufolge erhält der göttliche Wille beständig alle einfachen Substanzen (und ihre Grundkräfte).37 Insofern Gott Schöpfer und Erhalter aller einfachen Substanzen (und ihrer Grundkräfte) ist, muss sein Wille notwendigerweise bei allen Überlegungen berücksichtigt werden, die die Existenz und das Wesen der Seele betreffen. Dies gilt auch für die Frage nach deren Sterblichkeit bzw. Unsterblichkeit. Alle genannten vier Punkte stellen offenkundig die Möglichkeit einer Rationalpsychologie bzw. Pneumatologie in keiner Weise infrage. Mit Ausnahme vielleicht des dritten sind es sogar solche, denen zeitgenössische Schulphilosophen wolffscher Provenienz wohl durchaus zugestimmt hätten. Auch in Baumgartens Metaphysica werden etwa die Theoreme von der Zufälligkeit der Existenz der Seelen qua einfache Substanzen, von der Zufälligkeit ihres Lebens sowie von ihrer beständigen Erhaltung durch Gott gelehrt.38 Crusius hält sie allerdings für solche, die im Rahmen einer „Wissenschaft von dem nothwendigen Wesen eines Geistes“39 die mit der Beantwortung der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele verbundenen Probleme allererst anzeigen: Denn wenn die Seele vernichtet werden kann, warum sollte sie nicht auch tatsächlich vernichtet werden? Und wenn die menschliche Seele sterben kann, warum sollte sie nicht wie die der Tiere zugrundegehen? Und wenn ihre Erhaltung ausschließlich vom göttlichen Willen abhängt, warum sollte Gott sie einer menschlichen Seele nicht unter bestimmten Umständen versagen? Ein apriorischer Ausweis der objektiven Realität des Begriffs einer Unsterblichkeit der Seele ist – so die Quintessenz von Crusius! Kritik – allein mittels des Substanzbegriffs und der Hervorhebung des mit ihm verbundenen Merkmals der Unverweslichkeit nicht möglich. Weder ist der Nachweis der Unvergänglichkeit einfacher Substanzen mit dem Beweis der Unsterblichkeit der Seele identisch, noch kann er als eine notwendige, nur noch marginal zu ergänzende Voraussetzung für diesen gelten.40 Dennoch hält Crusius an der Idee einer 36
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Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 485, 994 und ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221,
Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 329, 625–628. Vgl. zur Zufälligkeit der Existenz denkender Substanzen Baumgarten, Metaphysica (wie Anm. 10), § 134, 38, § 308, 93 und § 745, 296 f., zur Zufälligkeit ihres Lebens ebd., § 780, 316 und zu ihrer Erhaltung durch Gott ebd., §§ 950–953, 389 f. 39 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 424, 852 (Hvhg. S.K.). 40 Vgl. bereits den Eintrag ,Seelen Unsterblichkeit" in J. G. Walchs Philosophischem Lexicon (Leipzig 1726, 2304–2330, bes. 2308 f.), wo in dem Nachweis der Unverweslichkeit der Seele nur 37 38
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apriorischen Beweisbarkeit des Unsterblichkeitstheorems fest. Den Schlüssel hierfür findet er allerdings nicht in ontologischen, kosmologischen oder psychologischen Argumenten, sondern in einem theologischen Lehrstück: in der „Vollkommenheit Gottes“41 und besonders in dessen „moralischen Eigenschaften“.42 II. Crusius! Beweise der Unsterblichkeit der Seele In seiner Darstellung der praktischen Philosophie gibt Crusius drei Beweise der Unsterblichkeit der Seele, von denen die ersten beiden nahezu identisch mit den beiden in seiner Darstellung der Metaphysik gegebenen sind.43 Die drei Beweise lassen sich anhand der folgenden Zitate zusammenfassen: (1) Der in der Anweisung zuerst angeführte Beweis geht von der Bestimmung des Menschen als ,Endzweck Gottes" aus.44 Im Entwurf führt Crusius ihn als zweiten an und fasst ihn dort folgendermaßen zusammen: Die vernünftigen Geister sind die letzten objectivischen Endzwecke Gottes […] und sie allein können es auch nur seyn. Wenn also dieselben vernichtet würden, oder auf ewig zu leben aufhörten: So fiele der Zweck Gottes, welchen er durch dieselben gesuchet hat, hinweg. Diesen Zweck liesse er entweder ohne alle Ursache fahren, welches wider die Weisheit ist […]; oder er liesse ihn nach Vorschrift eines höheren Zweckes fahren, welches sich widerspricht, weil ein ieder vernünftiger Geist selbst ein letzter Zweck ist. Folglich lässt er ihn niemals fahren.45
Kurz: Da Gott immer vernünftige Gründe für sein Handeln hat und sich kein vernünftiger Grund für die Vernichtung der menschlichen Seele angeben lässt, wird er diese ewig erhalten. (2) Der zweite Beweis geht von einem Vervollkommnungsstreben der menschlichen Seele aus, d. h. von deren „Bestreben nach einem ewigen Zwecke“.46 In der Anweisung heißt es knapp:
der erste, aber notwendige Schritt eines Beweises der Seelenunsterblichkeit gesehen wird. Der zweite bestehe in einem Nachweis, dass Gott die Seele auch tatsächlich erhalten wolle. Für einen solchen verweist Walch interessanterweise auf Crusius! Lehrer Andreas Rüdiger und referiert ausführlich die Argumentation in dessen Anweisung zu der Zufriedenheit der menschlichen Seele (vgl. Walch, Philosophisches Lexicon, 2309–2311). 41 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 482, 988. 42 Ebd., § 485, 993. Vgl. z. B. auch ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267. 43 Vgl. ebd., §§ 218–220, 264–267 und ders., Entwurf (wie Anm. 1), §§ 483 f., 988–993. 44 Crusius, Anweisung (wie Anm. 1), § 218, 264. 45 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 484, 992. Vgl. auch ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 218, 265: „Da es nun wieder die göttliche Vollkommenheit ist, vergeblich Dinge zu thun; so […] muß er seine letzten objectivischen Endzwecke ewig erhalten.“ 46 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 483, 991. Vgl. ders., Anweisung (wie Anm. 1), § 219, 266.
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Denn sollte Gott die Seele nicht ewig erhalten, so hätte er ihr dieses Wesen [zur Erkenntniß, zur Begierde und zum Genusse eines ewigen Endzwecks] vergeblich gegeben. Da nun Gott nichts vergebliches thun kann: so will er sie ewig erhalten.47
In anderen Worten: Da Gott immer vernünftige Gründe für sein Handeln, mithin auch für die Schöpfung menschlicher Seelen hat, deren Streben sich aber nicht im weltlichen Leben erfüllt, wird er diese ewig erhalten. (3) Der in der Anweisung als letzter angeführte Beweis geht davon aus, dass Gott über das menschliche Handeln richtet. Crusius handelt ihn dort so ab: Ferner haben wir erwiesen, daß Gott alles Gute nach Proportion seiner Grösse belohnet und alles Böse ebenfalls nach Proportion seiner Grade bestrafen müsse […]. Da nun dieses in dem gegenwärtigen Leben gar nicht oder gar selten geschiehet, wie die Erfahrung lehret, so muß ein anderes Leben bevorstehen, welches er zur Offenbahrung seiner belohnenden und bestrafenden Gerechtigkeit bestimmet haben muß. Da nun die Belohnungen und Strafen unaufhörlich seyn müssen […]; so muß dasselbe andere Leben ein Stand einer wirklichen Unsterblichkeit seyn.48
Im Entwurf wird dieser Beweis nicht eigens dargestellt, sondern bloß als Anwendung des Beweises aus dem Vervollkommnungsstreben vernünftiger Geister hingestellt: Dieser Beweis leidet auch nicht einmal bey denenjenigen Geistern eine Ausnahme, welche um böser Thaten willen gestrafet werden. Denn die Gerechtigkeit Gottes erfordert ihre Bestrafung […]. Und seine Weisheit machet sie zu einem Mittel eines ewigen Endzweckes […]. Man könnte aber nicht sagen, daß sie bestrafet würden, wenn sie sich nicht der Strafe bewußt wären, und also lebten.49
Kurz: Da Gott die Menschen nicht im irdischen Leben richtet und seine ,Belohnungen" bzw. ,Strafen" ewige sein müssen, wird er die menschlichen Seelen ewig erhalten.50 Für Crusius! Beweise der Unsterblichkeit der Seele ist demnach nicht deren Bestimmung als einfache Substanz, sondern deren Bestimmungen als ,Endzweck", als ,nach Vervollkommnung strebend" und als Adressatin für ,Belohnung Ebd., § 219, 266 (die in eckigen Klammern gegebene Erläuterung bezieht sich auf § 219, 265). Vgl. ders., Entwurf (wie Anm. 1), § 483, 991 f. 48 Crusius, Anweisung (wie Anm. 1), § 220, 266. 49 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 483, 991. 50 Dass die menschlichen Seelen ewig erhalten werden, begründet Crusius folgendermaßen: Sollte der Unterschied zwischen zu belohnenden und zu bestrafenden Seelen nach einer gewissen Zeit nivelliert werden, sei dies so, als hätte es diesen Unterschied nie gegeben und die moralischen (göttlichen) Gesetze verlören ihre Verbindlichkeit. Somit müssen die ,Belohnungen" und ,Strafen" „unaufhörlich“ sein (vgl. Crusius, Anweisung [wie Anm. 1], § 191, 235 f.). Damit stellt sich Crusius (wenigstens implizit) gegen die sozinianische Ablehnung der Vorstellung einer ,ewigen Hölle" (vgl. zu dieser Ablehnung etwa Ernst Soners Traktat Demonstratio theologica et philosophica, quod aeterna impiorum supplicia, non arguant Dei justitiam, sed injustitiam). 47
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und Strafe" entscheidend. Insofern sind sie Argumente „aus moralischen Gründen“.51 Und insofern sie die Existenz und das Wirken Gottes voraussetzen, sind sie zudem theologische Argumente. Denn Crusius zufolge kann die Unsterblichkeit der menschlichen Seelen ausschließlich mittels des Verweises auf „einen ausser ihnen befindlichen Grund“ herausgestellt werden: „nemlich durch den göttlichen Willen und dessen unveränderliche Vollkommenheit“.52 Insofern Crusius! Beweise damit Gott als ,heiliges", ,gütiges" und ,gerechtes", kurz: moralisches Wesen53 voraussetzen und die Sterblichkeit bzw. Unsterblichkeit der Seele von dessen Willen abhängig machen, können sie als moraltheologische bezeichnet werden. Diese in ihrer Konsequenz auch für die Philosophie des 18. Jahrhunderts eigentümliche Qualifikation des Unsterblichkeitstheorems als ein genuin moraltheologisches Lehrstück54 fügt sich bruchlos in Crusius! Gesamtkonzeption einer strikt theologisch begründeten Philosophie. Denn einerseits gilt auch für die philosophische Beantwortung der Frage nach der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele das, was bei Crusius für jede Form philosophischer Erkenntnis gilt: Abhängigkeit von der theoretischen natürlichen Theologie.55 Wie die Sätze der speziellen und der allgemeinen Metaphysik, der Ethik und des Naturrechts bedarf auch das philosophische Urteil über den postmortalen Verbleib der menschlichen Seele eines Verweises auf einen absoluten Geltungsgrund, um seine Apodiktizität sichern zu können. Diesen Geltungsgrund findet Crusius hier wie dort im Begriff einer „verständige[n] und nothwendige[n], d. i. ewige[n] Substanz, welche von der Welt unterschieden, und die wirkende Ursache der Welt ist“56 – also Gott. Die innerhalb der theoretischen natürlichen Theologie bewiesenen Sätze über dessen Existenz und Eigenschaften fungieren daher auch im Fall der Pneumatologie als (zumindest) implizite, mitunter sogar als explizite Prämissen für die Be-
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Crusius, Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 267. Vgl. auch ders., Entwurf (wie Anm. 1), § 485,
Vgl. ebd., § 482, 988. Vgl. bes. ebd., § 476, 982 f. – Dieser Gottesbegriff ist auch in Kants Moraltheologie der maßgebliche (vgl. dazu ausführlich Stefan Klingner, Kant und der Monotheismus der Vernunftreligion, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 97 [2015], 458–480). 54 Vgl. aber auch schon Zimmermann, Natürliche Erkenntniß Gottes, der Welt und des Menschen (wie Anm. 10), wo die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zuerst moraltheologisch (vgl. §§ 497 f.), dann aber auch noch ganz herkömmlich mittels eines Verweises auf deren Einfachheit und Immaterialität (vgl. § 500) bewiesen wird. 55 Vgl. dazu ausführlich Stefan Klingner, Zur systematischen Stellung der natürlichen Theologie bei Crusius, in: Frank Grunert, Andree Hahmann (Hg.), Christian August Crusius (1715–1775), Berlin, Boston 2018 (i. E.). 56 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 205, 357. 52
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weisführung.57 Andererseits bedarf die philosophische Beantwortung der Frage nach der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele nicht nur des Verweises auf Gott als ,verständige und notwendige Substanz", sondern insbesondere auf „den göttlichen Willen und dessen unveränderliche Vollkommenheit“.58 Wie bereits dargestellt, ist die vermeintliche, pneumatologische Einsicht in die Immaterialität, Einfachheit und Unverweslichkeit der Seele Crusius zufolge nicht hilfreich, jene Frage zu beantworten. Erst wenn die spezifische Bestimmtheit des göttlichen Willens – seine Vollkommenheit sowohl hinsichtlich seines „Verlangens“ als auch hinsichtlich seiner „Liebe“ und „Güte“59 – berücksichtigt wird, kann im Rahmen von Crusius! Philosophie ein Kriterium gefunden werden, dass eine Entscheidung zwischen Tod oder Fortleben der menschlichen Seele erlaubt. Denn zusammen mit der Bestimmung Gottes als Schöpfer erlaubt der Verweis auf dessen heiligen, gerechten und gütigen Willen einen Einblick in Gottes Umgang mit seiner Schöpfung – und erst dadurch eine Bestimmung des Seelenbegriffs, die sowohl eine apriorische als auch eine von dessen Bezugnahme auf eine ideenfähige Substanz unabhängige ist. Mit dieser strikt moraltheologischen Begründung des Unsterblichkeitstheorems unternimmt es Crusius in der Mitte des 18. Jahrhunderts, den substanztheoretischen Beweis der Seelenunsterblichkeit als obsolet hinzustellen und zugleich an deren philosophischer Beweisbarkeit festzuhalten. Ermöglicht wird diese alternative Begründung des Unsterblichkeitstheorems durch dessen moralphilosophische Wendung. Und es ist genau sie, die gewöhnlich Kant zugeschrieben wird. III. Kants Postulat der Unsterblichkeit der Seele Kants Unsterblichkeitspostulat, wie er es in der „Dialektik“ der zweiten Kritik entwickelt, kann in vereinfachter Form folgendermaßen zusammengefasst werden:60
Vgl. ebd., Vorrede [VI f.], § 204, 356 und § 476, 982 sowie Crusius, Anweisung (wie Anm. 1), § 223, 272. 58 Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 482, 988. 59 Vgl. ebd., § 277, 513 f. 60 Vgl. die beiden ersten Absätze des Kapitels zum Unsterblichkeitspostulat (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 219 f., 05: 122.04–25). – Im Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft argumentiert Kant für die Unsterblichkeit der Seele dagegen noch mit Blick auf eine jenseitige ,Belohnung" (bzw. ,Bestrafung") moralisch guten (bzw. schlechten) Handelns (vgl. dazu ausführlich den Beitrag Andree Hahmanns im vorliegenden Band). Diese Argumentation erinnert damit eher an den dritten der Unsterblichkeitsbeweise von Crusius. 57
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1) Sittliche Vollkommenheit61 ist notwendige Bedingung des ,höchsten Guts". 2) Endliche Subjekte können sittliche Vollkommenheit in ihrem Leben nicht erreichen. 3) Ergo: Es muss eine postmortale Fortdauer der Seele angenommen werden. Bei einem Vergleich mit Crusius! Beweisen fällt zuerst auf, dass weder die Existenz noch der Wille Gottes für das Argument entscheidend sind. Zudem sind die Bestimmungen der menschlichen Seele als ,Endzweck Gottes" und als Adressatin für ,Belohnungen und Strafen" hier völlig irrelevant. Insofern Crusius zufolge das vernünftigen Seelen eigene Vervollkommnungsstreben auch „einen Trieb […] nach der Tugend“62 umfasst, gibt es aber eine zumindest äußerliche Gemeinsamkeit zwischen dem zweiten der oben genannten Beweise von Crusius und Kants Postulat.63 In beiden Fällen ist das weltliche Leben ungeeignet, einen bestimmten Zweck – bei Crusius: den „unendlich fortdauernden Endzweck“64, bei Kant: das „nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“65 – tatsächlich zu erreichen, so dass dessen Realisierung zu einer postmortalen Angelegenheit wird. Dieser bei Crusius nur angedeutete Punkt wird zum Kern von Kants eigener Darstellung des Unsterblichkeitstheorems. Indem bei Kant ausschließlich das Problem der Erreichung sittlicher Vollkommenheit den Grund für die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele abgibt, wird der Begriff ,sittliche Vollkommenheit" als eine Zweckvorstellung genommen und nach der Möglichkeit ihrer Realisierung gefragt. Die kategorisch gebotene Forderung nach sittlicher Vervollkommnung wird damit zum Gegenstand einer technisch-teleologischen Reflexion.66 Deren Eigenart ergibt sich dabei aus dem besonderen Status der Zweckvorstellung ,sittliche Vollkommenheit". Denn diese ist insofern eine bloße Idee, als sie auf keinen Gegenstand möglicher Erfahrung bezogen werden kann. Vielmehr ist ihr Gehalt mit demjenigen des Begriffs ,Heiligkeit" identisch, der Kant zufolge „eine Vollkommenheit“ bezeichnet, „deren kein vernünftiges Wesen der SinnenD. h.: „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“ (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 219, 05: 122.06 f.). 62 Crusius, Entwurf (wie Anm. 1), § 483, 988. 63 Auch in diesem Punkt gibt es aber wesentliche Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen. Der wichtigste betrifft die genauere Auszeichnung des Strebens nach sittlicher Vollkommenheit: Bei Kant ist es bloß eine ,Pflicht", bei Crusius aber zudem ein dem Wesen der Seelensubstanz zukommender ,Trieb" (vgl. Crusius, Entwurf [wie Anm. 1], § 452, 929 f.). 64 Ebd., § 483, 988. 65 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 219, 05: 122.04 f. 66 Siehe allgemein zu Aufgaben und Struktur technisch-teleologischer Reflexion bei Kant Stefan Klingner, Technische Vernunft. Kants Zweckbegriff und das Problem einer Philosophie der technischen Kultur, Berlin, Boston 2012 (Kantstudien-Ergänzungshefte 172), bes. 215–259. 61
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welt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist“.67 Die der technisch-teleologischen Reflexion gestellte Aufgabe einer Angabe der für die Realisierung der Zweckvorstellung geeigneten Mittel muss daher im Fall der Zweckvorstellung ,sittliche Vollkommenheit" als eine solche gelten, die gerade nicht – zumindest nicht ausschließlich – mittels technisch-vernünftigen Handels bewerkstelligt werden kann. Dabei sind allerdings wenigstens zwei verschiedene, die Realisierung der Zweckvorstellung ,sittliche Vollkommenheit" betreffende technisch-teleologische Reflexionen zu unterscheiden. Denn Kant stellt zwar wiederholt heraus, dass ,sittliche Vollkommenheit" keine vollständig zu realisierende Zweckvorstellung ist. Sie gehört aber zu denjenigen Zwecken, „die zugleich Pflicht sind“.68 Als eine solche Tugendpflicht ist ,sittliche Vollkommenheit" eine für das einzelne vernünftige Subjekt gebotene Aufgabe, die es unter seinen spezifisch menschlichen Bedingungen zu erfüllen gilt und die vor allem auf eine technische Gestaltung seines empirischen Charakters mit dem Ziel einer „Gründung und Cultur ächter moralischer Gesinnung[]“69 abzielt.70 Die im Fall dieser moralisch orientierten technisch-teleologischen Reflexion thematisierten Mittel umfassen vor allem die bewusste Bildung von Maximen, die Erkenntnis moralischer Gesetze, die Ausbildung der ,moralischen Anlage" sowie die Pflege eines „wackeren und fröhlichen Gemüths“.71 Dabei findet die moralische Kultivierung ihre Grenze darin, dass ,sittliche Vollkommenheit" mit Blick auf endliche Subjekte keine vollständig zu realisierende Zweckvorstellung ist, so dass sie höchstens ein beständiges ,Streben" sein kann und lediglich eine ,unvollkommene Pflicht ist.72 Nach denjenigen Bedingungen zu fragen, unter denen das (vollständige) ,Erreichen"73 dieser Zweckvorstellung möglich sein kann, macht dagegen eine eigene technisch-teleologische Reflexion aus. Insofern sie die prinzipielle Grenze der moralischen Kultivierung thematisiert, hat sie notwendig spekulative Züge. Im Rahmen der kritischen Philosophie dürfen dann bestenfalls Minimalbedingungen für die Realisierung der Zweckvorstellung ,sittliche Vollkommenheit" angegeben werden. Und die einzige, die Kant tatsächlich angibt, ist die „ins Unendliche fortKant, Kritik der praktischen Vernunft, A 220, 05: 10–12. Kant, Metaphysik der Sitten, 06: 385.31 u. ö. Vgl. jeweils den ersten Teil der Abschnitte V. und VIII. der „Einleitung“ sowie die §§ 21 f. der Tugendlehre. 69 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 272, 05: 153.11. 70 Siehe ausführlicher zu dieser technisch-teleologischen Reflexion im Kontext moralischer Kultur Stefan Klingner, Technische und moralische Kultur bei Kant, in: Tommaso Morawski, Silvia Petronzio (Hg): „Fortgesetzte Aufklärung“. Kant!s Idea of Culture, Rom 2017 (i. E.). 71 Kant, Metaphysik der Sitten, 06: 484.21 f. (Hvhg. getilgt). 72 Vgl. ebd., 06: 446.28–33. 73 In Anlehnung an ebd., 06: 446.29. 67 68
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dauernde[] Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“74 – mithin die Unsterblichkeit der Seele. Diese Minimalbedingung betrifft damit bloß die apriorische Form des inneren Sinns, die für den intelligiblen Bereich des Postmortalen zwar vielleicht nicht relevant sein mag. Für das über die Realisierbarkeit sittlicher Vollkommenheit reflektierende – und durchaus lebende – Subjekt ist sie es dagegen allemal. Denn aus dessen Perspektive erscheint sie als notwendige Bedingung dafür, die Erreichbarkeit sittlicher Vollkommenheit überhaupt darstellen zu können. Drei Schritte können demnach bei der das Unsterblichkeitstheorem rechtfertigenden, besonderen technisch-teleologischen Reflexion unterschieden werden: (i) Die Zweckvorstellung ,sittliche Vollkommenheit" ist unter den Bedingungen endlicher Subjekte nicht realisierbar, so dass ihr vonseiten der theoretischen (technischen) Vernunft keine objektive Realität zugesprochen werden kann. (ii) Da die Idee sittlicher Vollkommenheit aber „die oberste Bedingung des höchsten Guts“75 ist, gilt sie als eine praktisch reale Zweckvorstellung, d. h. ihre Realisierung muss möglich sein. (iii) Indem die Realisierung der Idee ,sittlicher Vollkommenheit" in einem unendlichen Progress für endliche, über das Problem sittlicher Vervollkommnung reflektierende Subjekte vorstellbar gemacht werden kann, darf sie – aufgrund der im zweiten Schritt festgehaltenen kategorischen Forderung und trotz des im ersten Schritt konstatierten Unvermögens – als gültige Zweckvorstellung angesehen werden. Ohne an dieser Stelle weiter auf Details von Kants Argumentation oder auch auf ihren unmittelbaren Kontext, also Kants Lehre vom höchsten (abgeleiteten) Gut und deren Entwicklung,76 weiter einzugehen, können noch drei Punkte hervorgehoben werden, die für sein Festhalten an der Gültigkeit des Unsterblichkeitstheorems wesentlich sind: erstens die Perspektive eines autonomen, endlich-vernünftigen Subjekts, zweitens die Verklammerung von moralisch-praktischer und technisch-praktischer Vernunft in einer ethikoteleologischen Reflexion und drittens der daraus resultierende, nicht bloß anthropologisch-psychologische Status des Unsterblichkeitspostulats: Zum ersten Punkt: Der Blick auf Crusius! Ablehnung des traditionellen metaphysischen Beweises und seine Bevorzugung moraltheologischer Beweise hilft, die Eigenart und Originalität des kantischen Postulats besser herausstellen zu können. Indem Crusius die Sterblichkeit und Unsterblichkeit der Seele für theoretisch gleichrangige Optionen hält, zielt er auf eine bloß moralphilosophische Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 220, 05: 122.18 f. Ebd., A 219, 05: 122.07. 76 Siehe dazu Klaus Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62 (1971), 5–42. 74 75
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Entscheidbarkeit der Unsterblichkeitsfrage – ebenso wie Kant. Crusius vertritt dabei konsequent eine theonome Moral(philosophie), so dass auch für die ausschließlich moralphilosophisch relevanten Beweise der Unsterblichkeit der Seele Gottes Wille zum maßgeblichen Kriterium wird. Dagegen kann im Anschluss an die Konzeption einer autonomen Vernunft bei Kant die Frage nach der Unsterblichkeit nicht mehr von einem als willkürlich anmutenden ,Standpunkt Gottes" aus beurteilt werden. Sie stellt sich vielmehr nur noch und ausschließlich vom Standpunkt eines konkreten, mit den Forderungen des Sittengesetzes konfrontierten Subjekts, das zur Realisierung seiner Zwecke vernünftigerweise technisch verfährt – und verfahren muss. Zum zweiten Punkt: Indem Kants Unsterblichkeitspostulat als moralteleologisches Argument verstanden wird, das aus der Perspektive des endlichen Subjekts die Minimalbedingung einer Realisierung der moralischen Idee ,sittliche Vollkommenheit" vorstellt, kann der systematische Ort des Unsterblichkeitspostulats präzise angegeben werden. Denn insofern es eine Bedingung des ersten Teils des ,Endzwecks" (also das ,oberste Gut"77) thematisiert, knüpft es unmittelbar an die Moralphilosophie an. Aber da es diese Bedingung mithilfe einer technisch-teleologischen Reflexion angibt, ist es ein bloßer ,Anhang" zu jener. Dieser ,Anhang" ist allerdings insofern notwendig, als er das Verhältnis von moralisch-praktischer und technisch-praktischer Vernunft und damit die spezifische Situation endlichvernünftiger Subjekte betrifft. Von hier aus wird auch deutlich, inwiefern das Unsterblichkeitspostulat im Kontext des Problems der ,Einheit der Vernunft"78 bzw. von Kants Lehre vom Primat praktischer Vernunft zu lesen ist. Denn die kategorische Forderung nach sittlicher Vollkommenheit, die die (reine) praktische Vernunft unabhängig von jeder möglichen Zwecksetzung geltend macht, zeigt ein „Interesse“79 an, das zu befriedigen mit empirisch verfügbaren Mitteln zwar nicht möglich ist. Dieses spezifische Interesse erlaubt es jedoch, die technisch-teleologische Reflexion von ihrer Begrenzung auf Gegenstände möglicher Erfahrung freizusprechen, um mittels einer Spekulation die Minimalbedingung für die Realisierung der kategorischen Forderung nach sittlicher Vollkommenheit anzugeben. In moralisch-praktischer Absicht ist es demnach Kant zufolge legitim, die Annahme von einer unsterblichen Seele „zwar als ein [der reinen Vernunft]
Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 198, 05: 110.18–22. Vgl. Reinhard Hiltscher, Kant und das Problem der Einheit der endlichen Vernunft, Würzburg 1987 (Epistemata 42), 109–111, 116–118 und 121. 79 In Anlehnung an Kants eigene Terminologie im Abschnitt „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen“ aus der „Dialektik“ der zweiten Kritik (vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 215–219, 05: 119.24–121.31, bes. A 215 f., 05: 119.29–120.10). 77
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fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist, an[zu]nehmen“.80 Und zum dritten Punkt: Die vorangegangene Bestimmung des Unsterblichkeitspostulats als ein notwendiger ,Anhang" der Moralphilosophie qualifiziert dieses schließlich als ein Lehrstück, das nicht bloß einen psychologischen Geltungsgrund hat und als solches in die Anthropologie gehörte. Zwar findet sich der hoffnungstheoretische Aspekt der Annahme einer Unsterblichkeit der Seele durchgehend in Kants relevanten Vorlesungen und Schriften der 1780er und 90er Jahre – von Kants Vorlesungen zur Moralphilosophie bis zur Religionsschrift –, und er ist zweifellos von einiger Relevanz für Kants Bestimmung des Religionsbegriffs.81 Die Hoffnung auf ein künftiges, bestenfalls seliges Leben, die selbst nur Gegenstand einer „Anthropologie des innern Sinnes“82 sein kann, rechtfertigt Kant aber mittels einer technisch-teleologischen Reflexion in moralisch-praktischer Absicht. Sie wird also von Kant nicht aufgrund psychologisch-anthropologischer Überlegungen, sondern ethikoteleologisch durch ein Fungieren reflektierender Urteilskraft legitimiert. IV. Pneumatologie, Ethikotheologie und das ,künftige Leben" Um abschließend auf die im Titel gestellte Frage zu kommen, ist zuerst mit Blick auf Crusius folgende Antwort festzuhalten: sowohl Pneumatologie als auch Ethikotheologie. Denn einerseits hält Crusius in schulphilosophischer Manier an dem Programm einer rationalen Seelenlehre fest. Trotz aller Abweichungen im Detail83 liegt seiner Darstellung der Pneumatologie die Qualifikation des Geistes bzw. der Seele als einfache Substanz zugrunde, die nahezu die gesamte rationalistische Philosophie der Neuzeit auszeichnet. Andererseits sind es aber moraltheologische Überlegungen, die den Geist- bzw. Seelenbegriff insofern als einen besonderen erscheinen lassen, als für Crusius erst die Berücksichtigung des
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 218, 05: 121.09–11. Vgl. z. B. Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius II, 29: 602.35 f. und 624.39–625.03, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 222, 05: 123.25–34 Anm. und A 234, AA 05: 130.08–10 sowie ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 06: 161.25–35 (samt Anm.) u. ö. Vgl. zur hoffnungstheoretischen Deutung von Kants kritischer Moraltheologie Bernd Ludwig, Kants langer Weg zu einer consequent-kritischen Metaphysik, in: Andree Hahmann, Bernd Ludwig (Hg.), Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017 (Kant-Forschungen 22), 79–118. 82 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 443, 05: 461.03 f. 83 Siehe dazu ausführlich Krieger, Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius (wie Anm. 11), 110–117. 80 81
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Verhältnisses des göttlichen Willens zu seinen vernünftigen Geschöpfen die Exklusivität der Seelensubstanz zu begründen vermag. Mit Blick auf Kant ist die Titelfrage wiederum gegenteilig zu beantworten: weder Pneumatologie noch Ethikotheologie. Dabei erscheint diese Antwort in Hinsicht auf den ersten Teil der Frage als weitgehend unproblematisch. Schließlich ist es gerade Kants Ablehnung der rationalistischen Substanzlehre, die ihm bereits das Programm einer metaphysischen Seelenlehre obsolet werden lässt – ganz gleich, ob sie unter dem Titel ,Rationalpsychologie" oder ,Pneumatologie" vorgetragen wird. Hinsichtlich des zweiten Teils der Frage scheinen die Dinge dagegen komplizierter zu sein. Denn das Unsterblichkeitspostulat steht im Kontext des Problems des höchsten (abgeleiteten) Guts, das Kant – zumindest in der zweiten Kritik84 – strikt ethikotheologisch löst. Und noch in der Religionsschrift weist er ausdrücklich darauf hin, dass „ohne Glauben an ein künftiges Leben gar keine Religion gedacht werden kann“.85 Allerdings muss es nach den vorangegangenen Überlegungen als eine verfehlte Einschätzung gelten, wenn Kants Festhalten am Unsterblichkeitstheorem bloß als Ausdruck christlicher Religiosität verstanden oder dessen kritische Reformulierung als ethikotheologisch bezeichnet werden würde. Die ethikotheologische Ausdeutung des Unsterblichkeitspostulats ist vielmehr nur eine Folge des Resultats der rekonstruierten ethikoteleologischen Reflexion. Sie ist aus sachlicher Perspektive sogar eine bloß mögliche und keinesfalls eine notwendige. Dabei ist auch gar nicht zu bestreiten, dass Kant selbst das Unsterblichkeitspostulat vor allem religionsphilosophisch verwertet. Die technisch-teleologische Reflexion auf die Minimalbedingung der Möglichkeit einer Realisierung sittlicher Vollkommenheit verlangt dies aber nicht. Denn dieser ist die Vorstellung einer Belohnung bzw. Bestrafung sittlicher Anstrengung in einem ,künftigen Leben" noch fremd. Relevant wird sie erst, wenn nicht nur „das oberste“, sondern „das ganze und vollendete Gut“86 in den Blick genommen wird. Dann geht es aber auch nicht mehr bloß um die Realisierung von sittlicher Vollkommenheit, sondern um deren Qualifikation als Glückswürdigkeit. Die vorgeschlagene Interpretation entschärft schließlich auch das mitunter gegen Kant gewendete Problem einer körperlosen Vervollkommnung bzw. Seligkeit.87 Denn da Kant das Unsterblichkeitspostulat nur als Ausweis der Bedingung Vgl. z. B. Gerhard Krämling, Das höchste Gut als mögliche Welt. Zum Zusammenhang von Kulturphilosophie und systematischer Architektonik bei I. Kant, in: Kant-Studien 77 (1986), 273–288, hier 279 f. und 284. 85 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 06: 126.16 f. 86 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 198, 05: 110.21 f. 87 Vgl. u. a. bereits Bruno Bauch, Immanuel Kant, Berlin, Leipzig 31923, 334 f. sowie dann auch Yirmiahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1980, 113 und noch Peter Fischer, Philosophie der Religion, Göttingen 2007, 107 f. 84
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der Realisierung einer spezifischen moralischen Idee darstellt und seine Kritik am spekulativen Philosophieren sowie sein aus ihr resutlierender transzendentaler Idealismus ohnehin keine Antwort auf die Frage nach dem genaueren Zustand eines ,künftigen Lebens" zulassen, kann das Problem einer (mutmaßlich) körperlosen Vervollkommnung bzw. Seligkeit schlichtweg beiseite gesetzt werden.88 Auch in diesem Punkt hat Kant in Crusius in gewisser Weise einen Vorläufer. Denn ob die postmortale Seele ohne Körper weiterlebt, ob sie einen ,Körper von anderer Art", ihren vorherigen oder aber einen ,anderen seines gleichen" erhalten wird, kann Crusius zufolge vonseiten der Philosophie gar nicht und – wenn überhaupt – nur durch den Verweis auf eine göttliche Offenbarung entschieden werden.89 Die Unerkennbarkeit des ,künftigen Lebens" muss aber auch nicht bedauert werden. Denn relevant ist die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele für uns Menschen ohnehin ausschließlich in moralischer Hinsicht – und d. h. auch: nur in diesem Leben. Mit Blick auf die Frage nach einem (philosophischen) Beweis der Unsterblichkeit der Seele haben Cristian August Crusius! und Immanuel Kants Überlegungen eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit. Denn im Unterschied zum Gros der Philosophen der deutschen Aufklärung machen sowohl Crusius als auch Kant die Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele ausdrücklich von moralphilosophischen Überlegungen abhängig. Der wesentliche Unterschied zwischen Crusius! und Kants Konzeptionen der Unsterblichkeit der Seele betrifft dabei nicht den Umstand, dass Crusius die rationale Psychologie nicht nur als ,Disziplin" versteht, sondern an der Idee einer metaphysischen Seelenlehre unter dem Titel ,Pneumatologie" festhält. Insofern beide das Unsterblichkeitstheorem nicht als Zudem liegt dem Einwand, Kants Unsterblichkeitspostulat widerspreche insofern seiner Konzeption moralischer Verpflichtung, als diese nur sinnliche qua leibliche Wesen betreffen könne, eine unglückliche Interpretation von dessen bloß transzendentalphilosophisch relevantem Begriff der Sinnlichkeit zugrunde. Denn dieser bezeichnet lediglich den Sachverhalt, dass endliche Subjekte sowohl mit Blick auf ihre Erkenntnisfähigkeit als auch mit Blick auf ihr Handeln eines gegebenen Mannigfaltigen bedürfen (vgl. v. a. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 33, 03: 49.06–15 und B 74, 03: 74.10). Die spezifische Weise des Gegebenwerdens – etwa mittels bestimmter Körperorgane wie Augen, Ohren etc. – ist dabei gleichgültig. Das bedeutet allerdings nicht, dass Kants Begriff der Sinnlichkeit damit ein ,ontologischer" ist, wie etwa A. W. Wood mit Verweis auf Martin Heidegger erklärt (vgl. Allen W. Wood, Kant!s Moral Religion, Ithaca, London 1970, 3–5). Die spezifische Realisierung des rezeptiven Charakters der Sinnlichkeit ist für die transzendentalphilosophischen Überlegungen insofern unerheblich, als bei ihnen ausschließlich deren erkenntniskritische Funktion relevant ist. Ob beispielsweise auch nach dem Tod ein räumlich verortbarer Körper für die ,empirische Erkenntnis des eigenen Daseins" (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 275, 03: 191.18–20) oder eben auch für den ,Kampf gegen Hindernisse der Pflichtvollziehung" (vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 06: 380.07–10) notwendig ist, mithin mit dem Wegfall von jenem auch diese verschwinden, ist tatsächlich eine bloß spekulative Frage. Sie zu beantworten ist im Rahmen von Kants kritischer Philosophie weder möglich noch nötig. 89 Vgl. Crusius, Entwurf (wie Anm 1.), § 487, 999 f. und ders. Anweisung (wie Anm. 1), § 221, 269. 88
Pneumatologie oder Ethikotheologie?
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metaphysisches, sondern als ein moralphilosophisches darstellen, betrifft er vielmehr die Begründung der jeweiligen moralphilosophischen Argumentation. In dem Beitrag wird gezeigt, dass Crusius aufgrund moraltheologischer Überlegungen die Unsterblichkeit der Seele für beweisbar hält, diese bei Kant allerdings für die Begründung des Unsterblichkeitspostulats keine Rolle spielen. Kants Überlegung ist vielmehr eine moralteleologische: Sie hat im ersten Schritt allein die moralische Forderung nach sittlicher Vollkommenheit als Ausgangspunkt und besteht im zweiten Schritt in einer technisch-teleologischen Reflexion auf die Minimalbedingung von deren Möglichkeit. Regarding the provableness of the immortality of the soul, Christian August Crusius and Immanuel Kant share a remarkable philosophical position. In contrast to the mainstream of contemporary German philosophy, both base their proofs of immortality explicitly on moral reasoning. Therefore, the essential difference between them doesn!t concern the question of the pretended status of pneumatology respectively rational psychology as a real metaphysical science. In fact, the contentious issue is the justification of moral reasoning on the problem of immortality. The article points out that Crusius gives several (moral) theological arguments which are sufficient to him to prove the immortality of the human soul. To Kant – in his second and third Critique –, theological arguments are irrelevant for the whole problem. Instead, he develops a (moral) teleological argument which is aimed at a technical reflection on the possibility of moral perfection. Dr. Stefan Klingner, Georg-August-Universität Göttingen, Philosophisches Seminar, Humboldtallee 19, D-37073 Göttingen, E-Mail: [email protected]
Jeffrey Edwards Butler and Reid on Immortality, Personal Identity, and Substance1
Joseph Butler!s and Thomas Reid!s theories of personal identity have been subjected to extensive scrutiny since the time they were first made available to the philosophical public. In the last century, especially from the 1950s onwards,2 Butler!s and Reid!s closely related theories have often been singled out for their relevance to the discussion of personal identity in the context of analytic philosophy of mind. In this paper, however, I will concentrate on a factor that usually has not been at the center of contemporary discussions – namely, the essential linkage between Butler!s and Reid!s approaches to personal identity and the kinds of substance upon which they base their arguments for immortality and the survival of the person. It is of course well known that both Butler and Reid have substance-based views of the identity of persons.3 For the purposes of this paper, however, I will be concerned not so much with the details of the two thinkers! views on persons! identity as with the conceptions of substance that these views can accommodate. More particularly, I will be concerned to clarify the conceptions of substance that Butler and Reid bring into their respective portrayals of the conditions of personal idenThe following abbreviations are used for the citation of works by Butler and Reid: (1) AR = Joseph Butler, The Analogy of Religion, in: The Works of Bishop Butler, ed. by David E. White, Rochester 2006, 147 et sqq. (2) EIP = Thomas Reid, Essays on the Intellectual Powers of Man. A Critical Edition, ed. by Derek R. Brookes, Edinburgh 2006. (3) IHM = Thomas Reid, An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, ed. by Derek R. Brookes, Edinburgh 2002. References to the debate between Samuel Clarke and Anthony Collins are to the 6th edition of their correspondence, which is published in Samuel Clarke, A Letter to Mr. Dowell, Wherein all the Arguments in his Epistolary Discourse against the Immortality of the Soul are particularly answered, and the Judgment of the Fathers concerning that Matter truly represented, London 1731. This edition of the Clarke/Collins correspondence (= CC) is readily accessible online. 2 That is, especially since the publication of Anthony Flew!s influential article, Locke and the Problem of Personal Identity, in: Philosophy 26 (1951), 53–68. 3 See, e. g., David Shoemaker, Personal Identity and Ethics, in: Edward N. Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2016), URL = https://plato.stanford.edu/archives/ win2016/entries/identity-ethics/. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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tity linked to the immortality of the soul and to the survival of the person after bodily death. To set the stage for this clarification, I will first highlight several aspects of the classic eighteenth-century epistolary debate that forms a significant part of the background for Butler!s and Reid!s theories of personal identity and their arguments pertaining to the soul!s immortality. I will then turn to the following texts: the introduction to and the first chapter of Butler!s The Analogy of Religion (i. e., the chapter titled "Of a Future Life!); the Lectures on the Nature and Duration of the Soul, recently made available for the first time in print at the end of volume 3 of the Edinburgh Edition of Thomas Reid; and finally, the two chapters in the Essays on the Intellectual Powers of Man (EIP) where Reid appeals to Leibniz!s concept of the monad in order to determine the nature and basis of personal identity.4
I. The early 1700s debate between Samuel Clarke and Anthony Collins was triggered by Clarke!s response to a work written by Henry Dodwell, one of the most renowned English biblical scholars of his day. The title of this 1706 work – An Epistolary Discourse proving from Scripture and the first fathers that the Soul is a principle naturally Mortal, but immortalized by the Pleasure of God – provides a very useful indication of its actual contents. According to Dodwell, to deny the soul!s natural mortality is tantamount to undermining the doctrine of the human body!s resurrection. Dodwell did not contend that the soul is subject to destruction at death along with the body!s decomposition. But despite its continuance beyond death, Dodwell maintained that it must still be understood as something naturally mortal, and thus as something subject to annihilation by non-miraculous means, since otherwise no coherent account can be given of the forensically relevant metaphysical and moral conditions of resurrection that must obtain on the Day of Judgment. Dodwell!s supporting argument for this position is complex. Indeed, his use of the heavy arsenal of scriptural and patristic source materials is such that it is difficult (at least for the contemporary reader) to sort out the main strands of his thinking. Nonetheless, his central concern seems to be this: If the human soul were not naturally mortal, and thus subject to annihilation by natural means, then, for the purpose of resurrecting the dead, God would not know how to dispose of the souls My treatment of Butler and Reid is thus not limited to their standardly analyzed writings on personal identity, i. e., the Dissertation on Personal Identity, appended to Butler!s Analogy of Religion, and the chapter in the Essays on the Intellectual Powers of Man where Reid extends the criticism of Locke offered in Butler!s Dissertation. 4
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of heathens, given that there have been (and likely will continue to be) so many of them. Clarke opposes Dodwell!s entire approach to bodily resurrection, pointing out that God!s house has many mansions – and that Dodwell had an unduly restricted view of divine power, not to mention God!s cognitive capacity.5 The following lines, taken from Clarke!s reply to Dodwell, are of most direct relevance to the exchange that would soon develop between Clarke and Collins: [a] For Matter being a divisible Substance, consisting always of separable, nay of actually separate and distinct parts, "tis plain, that unless it were essentially Conscious, in which case every particle of Matter must consist of innumerable separate and distinct Consciousnesses, no System of it in any possible Composition or Division, can be an individual Conscious Being: For, suppose three or three hundred Particles of Matter, at a Mile or any given distance one from another; is it possible that all those separate parts should in that State, be one individual Conscious Being? Suppose then all these particles brought together into one System, so as to touch one another; will they thereby, or by any Motion or Composition whatsoever, become any whit less truly distinct Beings, than they were when at the greatest distance? How then can their being disposed in any possible System, make them an individual conscious Being? If you will suppose God by his infinite Power superadding Consciousness to the united Particles, yet still those Particles, being really and necessarily as distinct Beings as ever, cannot be themselves the Subject in which that individual Consciousness inheres, but the Consciousness can only be superadded by the addition of Something, which in all the Particles must still itself be but one individual Being. The Soul therefore, whose Power of Thinking is undeniably an Individual Consciousness, cannot possibly be a Material Substance. (CC 22 et sq.)
The debate between Clarke and Collins gets off the ground when Collins takes the field in support of Dodwell!s views on the soul!s natural mortality and against this argument from “the single consideration, even of bare sense or consciousness itself” (CC 22), as Clarke calls it. Collins maintains against this argument that it is quite possible to explain how there can be a system of material parts that both constitutes an individual being and furnishes a subject of the power of thinking.6 Collins also holds that even if we grant Clarke!s supposition that a system of material parts cannot, strictly speaking, be an individual being on account of its divisibility, See CC 2–12, 56–58, 61–63. “Since it is only required that a thing be an Individual Being, in order to its being a proper Subject of a Power of Thinking, or at least that it may be possible for God to superadd to it a Power of Thinking; it is evident, by Mr. Clarke!s own account of Matter, which he makes to consist of actually separate and distinct Parts though I wonder that at the same time he should make it divisible, when by its consisting of separate and distinct Parts it is actually divided.) That those separate and distinct Parts care capable of having a Power of Thinking, or an Individual Consciousness superadded to each of them; because the want of Individuality or Distinctness is the sole Reason urged, what a System of Matter cannot have a Power of Thinking, or an Individual Consciousness: And consequently, according to Mr. Clarke!s own reasoning, Matter may have a Power of Thinking, or an Individual Consciounsess” (CC 77). 5
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it can still constitute a material system that can be the subject of individual powers, including the power of thinking.7 Thus, as long as we grant as well that an individual power of thinking is the same as an individual consciousness,8 there can no fundamental difficulty in explaining the identity of the person in terms of the unity of consciousness without relying on a metaphysical theory of substantial identity that presupposes the immateriality of the soul. And that, according to Collins, is a happy circumstance for the Christian believer, for whom the resurrection of the body is an article of faith.9 Clarke defends himself at quite considerable length against the line of attack just summarized. The following passages present several central components of Clarke!s further argument: [b] Thinking, if it was the Result of the Powers of the different Parts of the Machine of the Body, or of the Brain in particular, would be something really inhering in the Machine it self, specifically different from all and every one of the Powers of the several Parts out of which it resulted: Which is an express Contradiction, a supposing the Effect to have more in it than the Cause. (CC 156) [c] You suppose that the Particles which compose the Brain, though themselves void of Consciousness when taken singly, may yet by other different Powers contribute towards the make up One Conscious Whole. This I affirm to be, and I think I have proved to be, an express Contradiction; an assigning more to the Effect than was in the Cause; a making the Whole bigger than all its Parts, and Specifically different from All and every One of them. […] All compositions of Magnitude, Figure and Motion together, are still nothing but Magnitude, Figure and Motion: And how many other Qualities soever, known or unknown, the Particles of Matter be supposed to be indued with; those Qualities can never in any Composition or Division produce any new Power specifically different from themselves, unless a Cause could give more to the Effect than is in it self. And consequently, if the Matter of the Brain be the Subject in which Consciousness inheres, That Consciousness cannot possibly be the Result of any other known or unknown Powers of the several constituent Particles, but what must themselves have been originally of the same Species, that is to say, so many several Consciousnesses. (CC 158–160)
Clarke thus maintains that no particles of matter endowed with the corpuscular primary qualities of magnitude, figure, and motion can ever produce, either by division or by composition, a new power different in kind from themselves. “But let us suppose with Mr. Clarke, that a Material Substance in any manner disposed, is not an Individual Being; yet I cannot see but that an Individual Power may reside in a Material System, which consists of actually separate and distinct Parts: and consequently, that an Individual Being is not indispensably necessary to be the subject of an Individual Power. […] And Matter of Fact is so plain and obvious, that a Man cannot turn his Eye but he will meet with Material Systems, wherein there are Individual Powers, which are not in every one, nor in any one of the Particles that compose them when taken apart, and considered singly” (ibid., 78 et sq.). 8 See ibid., 75, 150, 191. 9 See ibid., 366–376. 7
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For the supposition that the particles comprising the brain as a material system could contribute to making up a single conscious whole is one that can be shown to contain a contradiction when the principle that the whole effect cannot be greater than its cause is brought to bear. Disregarding here the variety of issues raised by the implicit assumption that this causal principle amounts to an analytic truth, I will refer to the line of reasoning followed in the passages just quoted as Clarke!s "contradiction argument!. When countering this argument, Collins makes use of considerations put forward by John Locke in chapter 27 of the second book of An Essay concerning Human Understanding.10 Collins insists that the personal identity of the conscious subject can be explained without having to ground it in the identity of individual substance. Clarke repudiates this (broadly speaking) Lockean approach, especially as it applies to the doctrine of resurrection, by presenting what I will refer to as the "reduplication argument!:11 [d] The Notion of the Soul!s Immateriality, evidently facilitates the Belief of a Resurrection and of a future Retribution, by securing a Principle of Personal Individuality, upon which the Justice of all Reward or Punishment is entirely grounded: But if Thinking be in reality nothing but a Power or Mode, which inhering in a loose and fleeting System of Matter, perishes utterly at the Dissolution of the Body; then the restoring the Power of Thinking to the same Body at the Resurrection, will not be a Raising again of the same Individual Person; but it will be as truly a Creation of a new Person, as the Addition of the like Power of Thinking to a new Body Now, would be the Creation of a new Man. […] From whence it would follow, that Two, or Two Hundred, several Persons, might All, by a Superaddition of the like Consciousness, be one and the same individual Person, at the same time that they remain several and distinct Persons: It being as easy for God to add my Consciousness to a new formed Matter of One or of one Hundred Bodies at this present Time, as to the Dust of my present Body at the Time of the Resurrection. […] For, the Particles of Dust, which in the Course of Twenty Years have successively been part of the Substance of my Body, are enough in Quantity to form several Bodies: And if the Addition of a like Consciousness with what I now find in my self, to One of those Bodies at the Resurrection, will make It to be the same Individual Person with Me; the Addition of the like Consciousness to Twenty of them, would consequently make every one one of them to be (not Persons like Me, but) the same Individual Person with Me, and with each other likewise. Which is the greatest Absurdity in the World. (CC 308–310; cf. CC 292 et sq.) Collins pursues a dual strategy refutation when responding to the implications of this argument in the further course of his correspondence with Clarke. The first part of this strategy is to expose what he takes to be the fallacy of composition underlying Clarke!s denial that the composition and division of material parts can give rise to consciousness as an individual power that is also, in effect, an emergent property (see CC 331 et sq.). Clarke, needless to say, will have none of this. But I will not go into the details of his self-defense against the fallacious reasoning charge leveled by Collins. 11 This designation is in keeping with William Uzgalis!s corresponding characterization of Clarke!s argument. See Samuel Clarke and Anthony Collin, The Correspondence of Samuel Clarke and Anthony Collins, 1707/08, ed. by William L. Uzgalis, Peterborough, Ontario 2011, 33. 10
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When opposing this line of argument, Collins affirms that Clarke correctly understands how a theory of personal identity based on consciousness alone must leave open the possibility of reduplicative regress with respect to the creation or re-creation of self-same persons. But, Collins contends, to regard this as providing the crucial objection to raise against the consciousness-based theory is simply to miss the essential point of such a theory insofar as it relates to the doctrine of resurrection: [e] To which objection I answer, by asking him, If these thinking Beings can know themselves to be the same or different Persons any other way, but purely by Consciousness? And I ask him, whether each of them must not unavoidably think himself the same Person with Mr. Clarke? […] I suppose Mr Clarke, when he expects any Deference should be given to an Authority he cites against me, will pay the same Deference to the same Authority that he expects I should; and therefor on this occasion I shall give him Mr. Locke!s own Words, who says, It must be allowed, that if the same Consciousness can be transferred from one thinking Substance to another, […] it will be possible that two thinking Substances may make but one Person. […] It is an Article of Christian Faith, that the same numerical Particles that are laid in the Grave, shall be raised at the Resurrection. And since God Almighty has made that necessary by the Declaration of his Will; the same Person will at the Resurrection only exist in those very numerical Particles that were laid in the Grave; by virtue of which, personal Identity of Self will begin in the same manner at the Resurrection, as it does in the Morning when we awake from sleep. (CC 372 et sq.; cf. CC 368–370)
In the final phase of his correspondence with Collins, Clarke excoriates the latter for refusing to face up to the “absurdities” (CC 424) involved in his merrily polemical acceptance of the reduplicative implications of his view of personal identity. Yet it is difficult to see how Clarke!s emphasis on these implications could do much damage to Collins! view as long as a Christian believer can appeal to the necessity, issuing from God!s will, that the same person will be resurrected from numerically identical material particles. There is one further strain of argument in the Clarke/Collins debate that needs to be brought out before we turn to Butler and Reid. Clarke maintains, as we have seen, that personal identity cannot be adequately accounted for if it is assumed that the forensically relevant identity of the person is thought to consist in consciousness alone. According to Clarke, a coherent theory of personal identity requires the supposition that the soul is a “permanent indivisible immaterial substance” (CC 310). This is the crucial point that Clarke wants to establish against Collins! insistence that consciousness can be understood as, in effect, an emergent property with respect to a causally unified system of material parts. But there is a further key item on Clarke!s metaphysical agenda that we should bear in mind as we approach Butler and Reid: Clarke wants to establish at least the possibility that the soul, despite its immateriality and indivisibility, is an extended substance:
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[f] But in Immaterial Beings we do not know of any such Properties, as any wise imply Discerpibility. It cannot be collected from any Property we know of Them, but that they may be such Beings as can no more be divided than annihilated […]. Nay, the only Properties we certainly and indisputably know of them, namely Consciousness and its Modes, do prove […] that they must necessarily be such indiscerpible Beings. As evidently as the known Properties of Matter prove it to be certainly a discerpible Substance, whatever other unknown Properties it may be endued with; so evidently the known and confessed Properties of Immaterial Beings prove them to be Indiscerpible, whatever other unknown Properties They may endued with. How far such Indiscerpibility can be reconciled and be consistent with some kind of Expansion; that is, what unknown Properties are joined together with these known ones of Consciousness and Indiscerpibility; is another Question of considerable Difficulty, but of no Necessity to be resolved in the present Argument. Only This: As the Parts of Space or Expansion it self, can demonstrably be proved to be absolutely Indiscerpible; so it ought not to be reckoned an insuperable Difficulty, to imagine that all Immaterial Thinking Substances (upon Supposition that Expansion is not excluded out of their Idea,) may be so likewise. (CC 101 et sq.)
The notion that the soul must be conceivable as expansive, i. e., extended, immaterial substance is one that Clarke derives mainly from Henry More!s work, The Immortality of the Soule.12 In lending credibility to the idea that the soul, despite its immateriality, is indiscerptible extended substance,13 Clarke thus picks up on a crucial implication of More!s basic metaphysical position that all substance must be extended.14 By insisting that the human soul can intelligibly be thought of as an indiscerptible immaterial substance that is also extended, Clarke implicitly rejects the Cartesian distinction between the soul, as an absolutely indivisible res cogitans, and the absolutely divisible res extensa in terms of which corporeal
See Henry More, The Immortality of the Soule, So Far Forth as It is Demonstrable from the Knowledge of Nature and the Light of Reason, London 1695, 12–15, 17–19, 27, 29 et sq., 36 et sq., 341. For relevant discussion, see Ezio Vailati, Clarke!s Extended Soul, in: Journal of the History of Philosophy 21/3 (1993), 387–403. 13 There is, to put it mildly, a good deal going on in the background to More!s view of the soul as indiscerptible extended substance. For example, there is the question of how this view fits together with More!s idea of the Spirit of Nature (see, e. g., Immortality of the Soule [see fn. 12], 453, 458, 465, 483 et sq.). There is also the question of how this idea relates to More!s and Clarke!s views concerning indiscerptible unity of absolute space (see CC 101, 175 et sq.), not to mention the problem of how these views might be linked to Isaac Newton!s conception of space as the divine sensorium. But I will disregard here these background factors since this is not the place to become involved in the metaphysics of space at issue in Cambridge Platonism. See, however, Jasper W. Reid, The Evolution of Henry More!s Theory of Divine Absolute Space, in: Journal of the History of Philosophy 45/1 (2007), 79–102. 14 See More, Immortality of the Soule (see fn. 12), Preface, § 3, 14. For pertinent discussion of More!s relation to Descartes and Cartesianism, see David Leech, The Hammer of the Cartesians. Henry More!s Philosophy of Spirit and the Origins of Modern Atheism, Leuwen 2013. 12
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substance must be understood.15 Let us keep this implication in mind as we now go on to consider Butler and Reid. II. In The Analogy of Religion Butler concentrates on the likeness between “that system of things and dispensation of providence, which revelation informs us of, and that system of things and dispensation of providence, which experience together with reason informs us of, i. e. the known course of nature” (AR 153). As an investigation concerned with probable evidence, the Analogy!s procedure is to compare “the known constitution and course of things, with what is said to be the moral system of nature; the acknowledged dispensation of providence, or that government which we find ourselves under, with what religion teaches us to believe and expect” (AR 155). Since the intelligent agent!s future survival after bodily death figures prominently in the sources of revealed religion, it must also have its place in the examination of the likeness between the two systems in question. Thus, when examining the probability of future-state survival, Butler proceeds by considering “what the analogy of nature, and the several changes which we have undergone, and those which we know we may undergo without being destroyed, suggest, as to the effect which death may, or may not, have upon us” (AR 157). What exactly does Butler mean by “analogy of nature”? There are various uses to which this expression was put in eighteenth-century Britain (and of course elsewhere). Butler!s understanding of the idea of nature!s analogy is perhaps best clarified with reference to this idea!s most influential textual source, which is found in the rules of reasoning in philosophy that Newton added to the 1713 edition of the Principia mathematica. In the explanatory comments appended to the third of the regulae philosophandi, Newton links the idea of the analogy of nature to the notion of nature!s simplicity and self-consonance (i. e. its internal causal consistency and uniformity): [g] Nam qualitates corporum non nisi per experimenta innotescunt, ideoque generales statuendae sunt quotquot cum experimentis generaliter quadrant; & quae minui non possunt, non possunt auferri. Certe contra experimentorum tenorem somnia temere consingenda non sunt, nec a Naturae analogia recedendum est, cum ea simplex esse soleat & sibi semper consona. […] Extensio, durieties, impenetrabilitas, mobilitas, & vis inertiae totius, oritur ab extension, duritie, impenetrabilitate, mobiliate & viribus inertiae partium: & inde concludimus omnes omnium corporum partes minimas extendi & duras esse & impenetrabiles & mobiles & viribus inertiae partibus. Et hoc est fundamentum Philosophiae totius. […] Denique si corpora omnia in circuitu Terrae gravia esse in Terram, idque pro quantitate materiae in singulis, & Lunam gravem esse in Terram pro qualtitate materiae suae, & 15
Cf. More, Immortality of the Soule (see fn. 12), 14 et sq., 17–20.
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vicissim mare nostrum grave esse in Lunam, & Planetas omnes graves esse in se mutuo, & Cometarum simile esse gravitatem per experimenta & observationes Astronomicas universaliter consistet: dicendum erit per hanc Regulam quod corpora omni in se mutuo gravitant. Nam & forties erit argumentum ex Phaenomenis de gravitate universali quam de corporum impenetrabilitate: de qua utique in corporibus Coelestibus nullum experimentum, nullam prosus observationem habemus.16
Newton!s immediate interest when referring to the analogy of nature is to ground his view of the corpuscular constitution of sensible bodies. But his initial comments, of course, leave plenty of room for extending the scope of analogical reasoning in natural philosophy to include the conformity of celestial bodies to the law of universal gravitation, which in turn invites the theologically astute reader to apply the analogy-grounding principle of nature!s simplicity and self-consonance to domains of knowledge well beyond that of the world-system of rational mechanics. Butler is clearly content to act on this sort of invitation when, as we will soon see, he exploits the possibility of extending that principle!s application beyond even sensible nature as long as it remains anchored in what we learn by experience. The implicit warranting assumption is evidently that the principle!s extension beyond the domains of sense-based cognition is justified just because this is what empirically grounded reasoning in accordance with nature!s analogy demands. So what does the principle of nature!s simplicity and self-consonance “suggest”, as Butler puts it, about the effect that death may or may not have upon us? According to Butler, it suggests that “we are to exist hereafter in a state as different (suppose) from our present, as this is from our former [developmental states of life]” (AR 157). Cogent reasoning in keeping with the analogy of nature thus leads us to infer that having the powers and capacities of happiness and misery before death furnishes “a presumption that we shall retain them through and after death” (AR 158). At issue is precisely [h] that kind of presumption or probability from analogy, express!d in the very word continuance, which seems our only natural reason for believing the course of the world will continue to morrow, as it has done so far as our experience or knowledge of history can carry us back. Nay, it seems our only reason for believing, that any one substance, now existing, will continue to exist a moment longer; the self-existent substance only excepted. (AR 158)
The presumptive probability of future-state continuance that is suggested by the universal analogy of nature, then, is supported by the same type of reasoning that underlies the particular analogies of experience which, according to Butler, express our fundamental empirically grounded beliefs in the permanence of substance and in the causal uniformity of all natural alterations occurring in the order 16
Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Cambridge 1713, 357 et sq.
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of time. Thus, since the experientially anchored presumption that our living powers will not be destroyed by death is an expectation fully warranted by the analogy of nature,17 the burden of proof for the contrary presumption must be shouldered by its advocates. According to Butler, there are but two initially plausible ways in which advocates of the mortalist view of our living powers can try to shoulder this burden. They can argue “from the reason of the thing” (AR 158), i. e., by attempting to specify essential features of the state of being dead. Alternatively, they can attempt to argue from the analogy of nature by bringing in the distinction between sensible and supersensible nature. Butler holds that these divergent avenues of mortalist argumentation are equally unpromising. The first avenue is blocked on both a priori and empirical grounds: [i] But we cannot argue from the reason of the thing, that death is the destruction of living agents, because we know not at all what death is in itself; but only some of its effects such as the dissolution of flesh, skin, and bones. And these effects do in no wise appear to imply the destruction of a living agent. (AR 158)
Moreover, the very principle of inductive inference at issue in the analogy of nature rules out the notion that the distinction between sensible and supersensible nature could be used to support the mortalist position: [j] Nor can we find any thing throughout the whole analogy of nature, to afford us even the slightest presumption, that animals ever lose their living powers; much less, if it were possible, that they lose them by death; for we have no faculties wherewith to trace any beyond or through it, so as to see what becomes of them. This event removes them from our view. It destroys the sensible proof, which we had before their death, of their being possessed of living powers, but does not appear to afford the least reason to believe, that they are then, or by that event, deprived of them. (AR 158 et sq.)
Reason, then, can provide no proof that death implies the destruction of the living powers of even brute animals, let alone the powers of rational beings.18 Consequently, reason!s logically warranted primary role in dealing with the question of future-state survival and natural immortality is to offer arguments that counteract the human imagination!s unavoidable propensity to generate epistemic illusion and error, especially with respect to what occurs to us after death:19 Butler holds that the proof of survival according to the analogy of nature is prior to “the natural and moral proofs of a future life commonly insisted upon” (AR 158). 18 It is worth noting here that Butler is willing to concede the possibility that his observations in support of natural immortality are applicable to brute creatures (see AR 162) – which makes them a far cry from Dodwell!s worry about naturally immortal heathens making uninvited and unwelcome Doomsday appearances. 19 “However, as one cannot but be greatly sensible, how difficult it is to silence imagination enough to make the voice of reason even distinctly heard in this case; as we are accustomed, from our youth up, to indulge that forward delusive faculty, ever obtruding beyond its sphere; of some 17
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Two of Butler!s arguments against the imagination!s presumptions are of particular relevance to the aims of this paper: [k] All presumption of death!s being the destruction of living beings, must go upon supposition that they are compounded, and so discerptible. But, since consciousness is a single and individual power, it should seem that the subject in which it resides, must be so too. For, were the motion of any particle of matter absolutely one and indivisible, so as that it should imply a contradiction to suppose part of this motion to exist, and part not to exist i. e. part of this matter to move, and part to be at rest; then its power of motion would be indivisible; and so also would the subject in which the power inheres, namely, the particle of matter: for, if this could be divided into two, one part might be moved and the other at rest, which is contrary to the supposition. In like manner, it has been argued [* See Dr. Clarke!s letter to Mr. Dodwell, and the Defenses of it], and, for any thing appearing to the contrary, justly, that since the perception, or consciousness, which we have of our own existence is indivisible, so as that it is a contradiction to suppose one part of it should be here and the other there; the perceptive power, or the power of consciousness, is indivisible too; and, consequently, the subject in which it resides, i. e. the conscious being. Now, upon supposition that living agent each man calls himself, is thus a single being, […] it follows, that our organized bodies are no more ourselves, or part of ourselves, than any other matter around us. […] It is as easy to conceive, that we may exist out of bodies, as in them. (AR 159) [l] The simplicity and absolute oneness of a living agent cannot, indeed, from the nature of the thing, be properly proved by experimental observations. But as these fall in with the supposition of its unity, so they plainly lead us to conclude certainly, that our gross organized bodies, with which we perceive the objects of sense, and with which we act, are no part of ourselves, and therefore show us, that we have no reason to believe their destruction to be ours; even without determining whether our living substances be material or immaterial. […] And it is certain, that the bodies of all animals are in a constant flux, from that never ceasing attrition which there is in every part of them. Now, things of this kind unavoidably teach us to distinguish between these living agents, ourselves, and large quantities of matter, in which we are very nearly interested: since these may be alienated, and actually are in a daily course of succession, and changing their owners; whilst we are assured, that each living agent remains one and the same permanent being [see Dissertation I]. (AR 160)
Let us consider these arguments in the order that they are quoted: Noteworthy in quotation [k] is Bulter!s favorable assessment of Clarke!s initial argument from the consideration of consciousness itself (see above, p. 113 [a]) as well as, apparently, the type of argument that Clarke directs against Collins when defending the position taken in that initial argument. But instead of relying, like Clarke, on the purported analyticity of the principle that an efficient cause must be assistance, indeed, to apprehension, but the author of all error: as we plainly lose ourselves in gross and crude conceptions of things, taking for granted that we are acquainted with what indeed we are wholly ignorant of; it may be proper to consider the imaginary presumptions, that death will be our destruction, arising from these kinds of early and lasting prejudices; and to shew how little they can really amount to; even though we cannot wholly divest ourselves of them” (AR 159).
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at least as great as its whole effect,20 the reductio phase of Butler!s reasoning focuses narrowly on the concept of local motion and the moving power that a material particle has in virtue of being in motion. Butler!s analogue version of Clarke!s contradiction argument is by no means easy to follow, but the line of inference that he pursues when combining the two phases of proof in question21 seems to divide up into five distinct stages: (1) Suppose that the motion of a single material particle (i. e., a corpuscle) is absolutely one and indivisible, which is only reasonable since the contrary supposition entails a contradiction with respect to the existence of parts of that particle!s motion. (2) Consistently with that conceptually coherent supposition concerning the oneness and indivisibility of motion, the power attributable to the motion of the single particle should be indivisible as well. (3) Consequently, the subject in which such a power inheres (i. e., the single particle or corpuscle) must also be one and indivisible. For assuming even the twofold divisibility of this kind of subject would imply that one part of one and the same subject is in motion while the other part is at rest. And this implication is contrary to the supposition in question, i. e., the supposition according to which a contradiction is implied if we hold that the absolutely unitary and indivisible motion of a particle of matter is such that part of its motion both exists and does not exist at one and the same time. (4) Therefore, in keeping with the analogy of nature, one may licitly argue just as Clarke did when responding to Dodwell and Collins. That is, one is metaphysically warranted in maintaining: (a) since the consciousness of one!s own existence must be understood as indivisible, so too must be the power of consciousness; and (b) the subject in which this power resides, i. e., the conscious being, must be indivisible as well. (5) Moreover, supposing that consciousness of being a living human agent involves consciousness of being such a single entity, it follows that we, as living agents, can think of our possible existence outside our composite (hence divisible) organized bodies as easily as we can think of our actual existence in them. It is thus with supporting reference to Clarke!s key arguments against Dodwell and Collins that Butler attempts to show how the demonstrable indivisibility of the power of consciousness, qua power of a single subject, suffices to establish that we are able to exist as indivisible subjects that are also conscious beings and living agents capable of future-state existence.
See above, p. 114 [c]. That is, the phases of Butler!s argument before and after the reference to Clarke!s letter to Dodwell. 20
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The considerations presented in quotation [l] build upon the proof just explicated. Butler holds that the simplicity and absolute oneness of a living agent cannot be proved empirically. Nonetheless, according to Butler, the very supposition of such an agent!s indivisibility and unity (i. e., the supposition established in the preceding proof of the indivisibility of the subject in which the power of consciousness resides) furnishes the platform for drawing the conclusion that not even the composite organized bodies with which we perceive sensible objects are part of ourselves in the sense that their destruction would be tantamount to our annihilation as living agents. Moreover, this conclusion22 is one that is independent of the question whether our living substance is material or immaterial. Thus, no matter how this latter question is answered, there is every reason to infer further that each living agent remains one and the same permanent being. This last strand of argumentation is exceptionally interesting when regarded from the point of view of Butler!s relation to Clarke and Collins. As we have just seen, Butler appeals to Clarke!s position in order to establish the possibility of the future-state existence of the living agent as the subject of the indivisible power of consciousness. Despite his favorable view of this position, however, Butler considers the inference that our gross organized bodies are no part of ourselves to be a step we can cogently take without first determining whether our living substance is material or immaterial. Contrary to Clarke, then, Butler seems quite intent on separating the problem of the simplicity and numerical identity of the living agent from any description of the soul as an immaterial substance. For the further discussion of how the living agent can remain one and the same thing in relation to all possible bodily changes, we are referred to Butler!s treatment of personal identity in Dissertation I (“Of Personal Identity”). As Butler indicates in the advertisement for the appendices to The Analogy of Religion, the content of his account of personal identity had originally been inserted into the first chapter (i. e., the chapter on future life), but was later singled out as a topic requiring a separate examination.23 Thus, taking this indication in conjunction with the separating intention just mentioned, there is good reason to think that Butler wants to put as much distance as is feasible between his views on the probability of future-state survival and Clarke!s insistence that the soul must be a permanent immaterial substance. So just how much distance is feasible for a thinker like Butler? Bearing this issue in mind, let us turn to Dissertation I.
That is, the conclusion to which we are led by considering the simplicity and absolute oneness of a living agent qua subject of the power of consciousness. 23 See AR 304. 22
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III. Taking up the question of personal identity, Butler holds that it should be “selfevident that consciousness of personal identity presupposes, and therefore cannot constitute, personal identity, any more than knowledge, in any other case, can constitute truth which it presupposes” (AR 358). Accordingly, he also holds that sameness or identity, when understood in the strict sense of identity that applies to persons, “cannot subsist with the diversity of substance” (AR 360). Thus, to explain the “strange perplexities” (AR 357) to which contemporaneous philosophical discussion of personal identity has been subject, we need to target first of all the major modern source of doubt concerning the necessary connection between the concepts of personal identity and the identity of substance. That source, of course, is easy to locate in John Locke!s Essay concerning Human Understanding; and the doubt pertaining to the relationship between the sameness of the person and the sameness of substance derives from Locke!s own failure to recognize what ought to be, for anyone paying close attention, the obvious implication of his definitions of a person and personal identity: [m] The thing here considered, and demonstratively, as I think, determined, is proposed by Mr. Locke in these words, Whether it, i. e., the same self or person, be the same identical substance? And he has suggested what is a much better answer to the question than that which he gives it in form. For he defines person, a thinking intelligent being, etc. and personal identity the sameness of a rational being. The question then is, whether the same rational being is the same substance; which needs no answer, because being and substance, in this place, stand for the same idea. The ground of the doubt, whether the same person be the same substance, is said to be this; that the consciousness of our own existence in youth and in old age, or in any two joint successive moments, is not the same individual action, i. e., not the same consciousness, but different successive consciousnesses. […] […] Mr. Locke!s observations upon this subject appear hasty; and he seems to profess himself dissatisfied with suppositions, which he has made relating to it. But some of those hasty observations have been carried to a strange length by others; whose notion, when traced and examined to the bottom, amounts, I think, to this [* See an Answer to Dr. Clarke!s third Defense of his Letter to Mr. Dodwell, 2d Edit. p. 44, 56, &c.]: “That personality is not a permanent, but a transient thing: that it lives and dies, begins and ends, continually: that no one can any more remain one and the same person two moments together, than two successive moments can be one and the same moment: that our substance is indeed continually changing; but whether this be so or not, is, it seems, nothing to the purpose; since it is not substance, but consciousness alone, which constitutes personality; which consciousness, being successive, cannot be the same in any two moments, nor consequently the personality constituted by it.” (AR 306 et sq.)
Thus, the fundamental flaw in Locke!s treatment of the relationship between personal and substantial identity is merely inconsistency in adhering to his most basic definitional considerations on the person and its identity. Locke!s inconsistency,
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however, was all that was needed to enable someone like Collins to exploit the opportunity that Locke!s overall theory of the forensically relevant identity of the person opens up, i. e., the opportunity to treat the question of personal identity in terms of consciousness alone. Given his concern to establish conclusively that the sameness of substance is what provides the basis for a conceptually coherent account of personal identity, Butler goes on to present a number of arguments against this sort of exploitative approach. His third argument is of particular relevance in view of our focus on the connection between personal and substantial identity: [n] Thirdly, every person is conscious, that he is now the same person or self he was, as far back as his remembrance reaches; since, when any one reflects upon a past action of his own, he is just as certain of the person who did that action, namely himself, the person who now reflects upon it, as he is certain that the action was at all done. Nay very often a person!s assurance of an action having been done, of which he is absolutely assured, arises wholly from the consciousness that he himself did it. And this he, person, or self, must either be a substance, or the property of some substance. If he, if person, be a substance; then consciousness that he is the same person, is consciousness that he is the same substance. If the person or he be the property of a substance, still consciousness that he is the same (the same property) is as certain a proof that his substance remains the same, as consciousness that he remains the same substance would be; since the same property cannot be transferred from one substance to another. (AR 308)
Let us take this line of argument in conjunction with the considerations on futurestate survival that Butler presents in the first chapter of The Analogy of Religion. Notice that Butler not only keeps his proof of the identity of the person entirely separate from the question of the materiality or immateriality of the substance at issue. Just as significantly, he also explicitly makes his substance-based conception of personal identity independent of the task of determining whether a person is either a self-same substance itself or the self-same property of such a substance. In brief: Butler!s account of personal identity allows not only for Clarke!s view of the soul as an indiscerptible immaterial substance. Butler also makes room for the materialist view of consciousness as an emergent property in terms of which alone the identity of the person must be understood – provided, of course, that such a view can be understood as presupposing the identity of substance as the self-sameness of a rational being. It may be noted in this connection that the crucial metaphysical premise of Butler!s argument, i. e., the supposition that one and same property cannot be transferred from one substance to another, is one expressly shared by both Clarke and Collins.24 I will have something more to say about the ramifications Butler!s "big tent! approach to the substance-based account of personal identity after discussing Reid!s relation to the Clarke/Collins debate and his reception of Leibniz. 24
See CC 185, 235 et sq.
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IV. My treatment of Reid will be relatively brief. Let me begin without further ado by quoting four passages from Reid!s 1766 Lectures on the Nature and Duration of the Soul, i. e., the lecture notes on pneumatology that have been appended to the recent critical edition of the Essays on the Intellectual Powers of Man (EIP): [o] There are some Questions with Regard to the Nature & Duration of the Soul which I shall handle before I leave the Subject of Pneumatology. Q[uestion]1 Whether the Soul be Immaterial. 1 The Powers and Faculties of the Soul appear so immensely superior to {all} the known Properties of Body that this affords a Strong Presumption that they must be beings of a quite different Nature. 2 The Qualities and Operations of Mind are all Single & Individual incapable from all we can conceive of them of being Made up of Parts. And therefore must belong to a Subject incapable of Division and Not consisting of Parts Whereas all the powers and Properties of Body are compounded things made of the like powers of its Several Parts. Obj[ection] 1 From Collins that Rotundity is an individual Quality Answer from Dr Clark. (EIP 617) [p] The Immateriality of the Soul proved 1 from its Ideas feelings & Modes being Indivisible Whereas all the Qualities of Matter are made up of the Qualities of its Several Parts This Argument of Doctor Clarks Explained at full Length. (EIP 619) [q] There does not appear in Nature any distinction of any simple Substances but onely a resolution of those that are compounded into their parts. The Mind is a simple Substance which cannot be destroyed by resolving it into its compounding parts if it is destroyed it must be annihilate, but this is an operation of which the whole course of Nature, And all that has been discovered in Natural Philosophy and Chemistry does not afford a single instance and there for we can have no reason to supposes it in the case of the Soul. This Argument is elegantly expressed by the Roman Orator in these words. Quod si nihil sit in animis admixtum nihil concretum, nihil copulatum, nihil coagmentatum, nihil duplex; certe nec secerni, nec dividi, nec descerpi, nec distrahi postst: nec interire igitur. Est enim interitus, quasi discessus, et seccretio, ac diremptus earum partium quae ante interitum iunctione aliqua tenebantur. (EIP 625 et sq.) [s] Thus we see that it is a general law of Nature that Man and other animals pass from one state of Existence, to another extreamly different, which is as it were an entrance into a new World. And that this passage from one state of Existence into another is often made by an Event not very unlike to that which we call Death. And that Death should be a passage into a new state of Existence is much more agreable to the Analogy of Nature than that it should put a final Period to our Existence. (EIP 629)
Taken together, these passages reflect three essential facets of Reid!s pneumatological thinking in 1766 that I want to underscore before moving on to the considerations on personal and substantial identity presented in the Essays on the Intellectual Powers of Man. First, Reid holds that individual qualities or operations of the mind must belong to a subject that is both non-composite and indiscerptible
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because they cannot be conceived to be made up of parts.25 That is, contrary to what Collins maintained and consistently with what Clarke argued against Collins, those qualities or operations must belong to the kind of subject that is entirely distinct from the powers and properties that are characteristic of composite bodies. Second, given this view of the indiscerptible subject of the mind!s individual qualities or powers, the immateriality of the soul can be proved – in keeping with what Clarke!s contradiction argument establishes against Collins – from the indivisibility of the soul!s ideas, feelings, and modes. Third, the mind or soul, which is the indiscerptible subject of all indivisible powers, operations, ideas, feelings and modes, is itself a simple substance. It is with reference to such a substance that we can see, in keeping with the analogy of nature, how it is possible for human beings as well as other animate beings26 to pass at death to a new state of existence. With these three facets of Reid!s 1766 pneumatology laid out before us, I turn to Reid!s account of the basis of personal identity in the Essays on the Intellectual Powers, first published in 1785. I will not comment here, however, on the particulars of Reid!s criticism of Locke!s corresponding theory – a criticism which, as Reid explicitly claims, is entirely in agreement with Butler!s views.27 Instead, I will concentrate on the monadological conception of the self-identical person that is supposed to ground Reid!s rejection of the Lockean approach to person identity. What Reid!s monadological conception involves can be discerned in the following lines taken from the fourth chapter of EIP III: [t] It is sufficient for our purpose to observe, that all mankind place their personality in something that cannot be divided, or consist of parts. A part of a person is a manifest absurdity. […] A person is something indivisible, and is what LEIBNITZ calls a monad. My personal identity, therefore, implies the continued existence of that indivisible thing which I call myself. Whatever this self may be, it is something which thinks, and deliberates, and resolves, and acts, and suffers. I am not thought, I am not action, I am not feeling; and am something that thinks, and acts, and suffers. My thoughts, and actions, and feelings, change every moment; they have no continued but a successive existence; but that self or I to which they belong, is permanent, and has the same relation to all the succeeding thoughts, acts, and feelings, which I call mine. (EIP 263 et sq.) [u] The identity of a person is a perfect identity; wherever it is real, it admits of no degrees; and it is impossible that a person should be in part the same, and in part different; because a person is a monad, and is not divisible into parts. (EIP 265)
It may be worth noting that Reid does not appeal to Clarke or to More when characterizing the argument that establishes the soul!s indiscerptibility (see quotation [q]). Instead, Reid refers to the expression of this argument provided by Cicero in Tusculanae disputationes I.xxix.71. 26 See note 18. 27 See EIP 275. 25
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The appeal to the authority of Leibniz discernible in these lines is quite remarkable for a variety of reasons. First of all, it may be noted that Reid!s appeal involves no reference to terminological and conceptual terrain that had already been prepared by Henry More and that figured in the immediate historical background of Clarke!s replies to Collins. Despite his earlier (1766) proximity to Clarke on issues concerning the soul!s immateriality and indiscerptibility, Reid now (in 1785) seems quite willing to take on the task of explaining the metaphysical basis of personal identity by bringing to bear the Leibnizian concept of the monad without linking this concept of substance to any particular set of pneumatological assumptions and arguments.28 Second, the mere fact that Reid would appeal to Leibniz as an authority for anything is itself something quite surprising if we consider the exceedingly disparaging remarks about Leibniz that he makes in the fifteenth chapter of EIP II (i. e., in the chapter titled “Account of the System of LEIBNITZ”).29 To be sure, these remarks are primarily directed against Leibniz!s theory of pre-established harmony. But Reid!s disparagement of Leibnizian metaphysics is by no means limited to this interpretation of the idea of the universal harmony of substances. Indeed, given his interest in using the Leibnizian concept of the monad to ground his theory of personal identity in the substantial permanence of “that self or I” to which all successive thoughts, actions, and feelings belong (quotation [t]), perhaps the most remarkable feature of Reid!s relation to Leibniz lies in the following circumstance. Reid explicitly denies that Leibniz!s concept of apperception is of any real philosophic value: [v] This Philosopher makes a distinction between perception and what he calls apperception. The first is common to all monads, the last proper to the higher orders, among which are human souls. By apperception he understands that degree of perception which reflects, as it were, upon itself; by which we are conscious of our own existence, and conscious of our perceptions; by which we can reflect upon the operations of our own minds, and can comprehend abstract truths. […] […] I observe […] that the distinction made between perception and apperception is obscure and unphilosophical: As far as we can discover, every operation of our mind is attended with consciousness, and particularly that which we call the perception of external objects; and to speak of a perception of which we are not conscious, is, we know not what; and to call such an operation by the name of perception is an abuse of lanRegarding Reid!s 1766 lectures, Derek Brooke (the editor of EIP) writes: “We know that they were given as an "appendix! to his lecture series on pneumatology […], but it is not clear why they were omitted from the Intellectual Powers – particularly since Reid states that "of all Questions in Philosophy this concerning the future Existence of the Soul is the most important!” (EIP 616). If there is an explanation for this omission, it is plausible to think that it has to do with Reid!s employment of Leibniz!s concept in connection with the ideas of personhood and personal identity. 29 See EIP 187–193. 28
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guage. No man can perceive an object, without being conscious that he perceives it. No man can think, without being conscious that he thinks. What men are not conscious of, cannot, therefore, without impropriety, be called either perception or thought of any kind. (EIP 189–191)
Reid!s rejection of Leibniz!s concept of apperception is, of course, based on an interpretation of available texts that did not include the Nouveaux essais.30 Reid thus did not have the benefit of any first-hand acquaintance with the crucial source materials needed for understanding how such a concept relates to Leibniz!s general criticism of Locke and to the question of personal identity in particular.31 Nonetheless, it is striking how Reid effectively rules out the possibility of employing the concept of apperception when accounting for the unity of consciousness involved in the perception of objects and awareness of the mind!s operations. Thus, despite his appeal to Leibniz!s monadological conception of substance when accounting for the absolute indivisibility and perfect identity of a person, it seems that Reid excludes the option of understanding a person!s unity of consciousness as a unity of apperception, i. e., as a unity grounded in the specifically rational reflective capacity32 of a subject that can think of itself as something persisting through time as one and the same substance.33 Let me now conclude my discussion of both Reid and Butler by pointing out just one significant consequence of this sort of exclusionary move on Reid!s For details on the 1720 collection of Leibniz!s writings used by Reid, see EIP 190 (note). Udo Thiel provides a clear account of difficulties involved in understanding Leibniz!s use of the term l!apperception. See his book The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume, Oxford 2011, 295–301. 32 “Cette pens1e de moy, qui m!apperÅois des objets sensibles, et de ma propre action qui en resulte, ajoute quelque chose aux objets des sens. Penser ) quelque couleur et considerer qu!on y pense, ce sont deux pens1es tres differentes, autant que la couleur m1me differe de moy qui y pense. Et comme je conÅois que d!autres Estres peuvent aussi avoir le droit de dire moy, ou qu!on pourroit le dire pour eux, c!est par l) que je conÅois ce qu!on appelle la substance en general, et c!est aussi la consideration de moy mÞme, qui me fournit d!autre notions de metaphysique, comme de cause, effect, action, similitude etc., et mÞme celles de la Logique et de la Morale. Ainsi on peut dire qu!il n!y a rien dans l!entendement, qui ne soit venu des sens, except1 l!entendement m1me, ou celui qui entend” (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, ed. by Carl Immanuel Gerhardt, vol. 6, Hildesheim 1978, 502). 33 More precisely, ruling out this option seems to preclude that a person!s unity of consciousness could be understood to involve the reason-based identity of a subject that can think of itself as persisting through time as the same substance in virtue of its relation to the manifold of substances constituting the organic body of a living agent: see, e. g., Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l!entendement humain, in: id., Sämliche Schriften und Briefe, ed. by the Deutsche Akademie der Wissenschaften, vol. VI/6, ed. by A. Robinet and H. Schepers, Berlin 1962, 58 et sq., 67 et sq., 72, 113 et sq., 117 et sq., 155, 212, 220 et sq., 232 et sq., 240 et sq., 307, 313, 317 et sq., 228 et sq., 388. The consideration of this particular implication, however, is not part of the line of inquiry pursued in this paper. 30 31
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part: It is unclear how Reid can avoid ending up with precisely the type of invisible thinking thing that More and Clarke, for instance, were concerned to repudiate. Specifically, despite his career-long endeavor to overcome the legacy of the Cartesian “system of ideas” or “ideal system”,34 Reid!s monadological account of the basis of personal identity holds on tightly to the substantial indivisibility of a res cogitans – and evidently to nothing more.35 It is worth noting in this regard that Butler could attempt to escape this by and large negative outcome in two different ways: first, by allowing that a person!s “consciousness that he is the same person is consciousness that he is the same substance” (AR 364);and second, alternatively, by allowing that a person!s “consciousness that he is the same property [of a substance], is as certain a proof that his substance remains the same as consciousness that he remains the same substance would be” (ibid. – italics mine).36 Indeed, by holding open both of these options, Butler could in principle accommodate even a materialist theory in which consciousness is regarded as an emergent property – provided, of course, that such a theory can in turn accommodate an account of personal identity based on the supposition that one and the same property cannot be transferred from one substance to another. Dieser Beitrag behandelt die Arten von Substanz, die in Joseph Butlers und Thomas Reids Argumenten zur persönlichen Identität impliziert sind. Insbesondere geht es darum, die verschiedenen Vorstellungen von Substanz zu klären, die Butlers und Reids jeweiligen Darstellungen der Erhaltung der persönlichen Identität nach dem Tode zugrundeliegen. Um diese Klärung vorzubereiten, hebe ich zuerst einige Aspekte des im frühen 18. Jahrhundert veröffentlichten Briefwechsels zwischen Samuel Clarke und Anthony Collins hervor. Anschließend wende ich mich den folgenden Texten zu: Butlers The Analogy of Religion, Reids Lectures on the Nature und Duration of the Soul, und schließlich zwei Kapiteln der Essays on the Intellectual Powers of Man, in denen Reid sich auf See IHM 10–24, 72–76, 90–95, 203–218; EIP 104–187. See notes 15, 32, and 33. 36 As Udo Thiel has pointed out: “Butler argues that […] Locke and his followers have misunderstood the true claim, that whenever there is a person there is consciousness, as implying that consciousness brings about personality and personal identity. This analysis […] confirms that Butler does not accept Locke!s distinction between the soul or thinking substance and the person. For Locke would agree that that which is "endued with consciousness! is the soul or thinking substance; and he does not claim that consciousness constitutes the identity of the thinking substance; rather, he holds that it constitutes a distinct identity: that of the human subject as a person” (The Early Modern Subject [see fn. 30], 201). While correct, these points seem to require further qualification with regard to Butler. For what Butler first allows regarding a person!s consciousness that he is the same person is consistent with allowing that consciousness constitutes the identity of the human subject as a person, provided that a human person!s consciousness that he is the same person is consciousness that he is the same substance. Moreover, if Butler alternatively allows that consciousness of being the same property of a substance proves that one!s substance remains the same, then it seems he could also allow that the identity of a human person can be constituted by consciousness as long as he holds that consciousness can be the self-same property of a substance that remains the same. 34
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den leibnizschen Monadenbegriff beruft, um die Basis der Identität von Personen zu bestimmen. This paper focuses on the kinds of substance involved in Joseph Butler!s and Thomas Reid!s arguments for personal immortality. Thus, I am concerned to clarify the different notions of substance that Butler and Reid brought into their respective portrayals of the conditions of the identity of persons capable of future-state survival. To set the stage for this clarification, I highlight several aspects of the early eighteenth-century epistolary debate between Samuel Clarke and Anthony Collins. I then turn to the following texts: Butler!s The Analogy of Religion; Reid!s Lectures on the Nature and Duration of the Soul; and, finally, two chapters in the Essays on the Intellectual Powers of Man where Reid appealed to Leibniz!s concept of the monad in order to determine the nature and basis of personal identity. Prof. Dr. Jeffrey Edwards, Stony Brook University, Department of Philosophy, Stony Brook University, Harriman Hall 213, Stony Brook, NY 11794, USA, E-Mail: [email protected]
Dieter H!ning „Who will repose such trust in any pretended philosophy?“ Humes Kampf gegen die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele
Hume gehört – neben den französischen Materialisten – zu den prominentesten und radikalsten Kritikern der religiösen Vorstellungen seiner Zeitgenossen. Der Kampf gegen die Religion bildet einen dauernden Schwerpunkt in Humes Philosophie. Humes Kritik sowohl des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele wie auch ihrer philosophischen Begründung bildet insofern nur einen besonderen Aspekt seines umfassenden langjährigen Kampfes gegen Aberglauben, religiösen Fanatismus und theologische Hybris.1 Diese Religionskritik ist bei Hume die Konsequenz seines erkenntnistheoretischen Programms bzw. seines „attempt to introduce the experimental method of reasoning into moral subjects“.2 In dieser Hinsicht ist Humes Religionskritik systematisch zugleich eng verknüpft mit der Bekämpfung des metaphysischen Rationalismus der Neuzeit. Obwohl die Religionskritik schon vom Umfang her einen Schwerpunkt in Humes Œuvre bildet, ist ihre systematische Rolle unter den Interpreten umstritten. Einige sehen in ihr den eigentlichen Ausgangspunkt für Humes Philosophie insgesamt,3 andere betrachten sie demgegenüber eher als Anwendungsfall seines „anthropologischen Naturalismus“.4 Einigkeit besteht demgegenüber erstens weitgehend darin, Vgl. hierzu Humes Verdammungsurteil über sämtliche Formen der Theologie: „[O]ne may safely affirm, that all popular theology, especially the scholastic, has a kind of appetite for absurdity and contradiction“ (David Hume, The Natural History of Religion, in: ders., Principal Writings on Religion, hg. von John Charles Addison Gaskin, Oxford 1993, XI, 166). 2 So lautete bekanntlich der Untertitel seines Treatise of Human Nature. 3 Kreimendahl ist der Ansicht, „daß Humes Anliegen in erster Linie ein aufklärerisch-religionsphilosophisches“ gewesen sei und sich „die kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Religion […] wie ein roter Faden von seinen frühen unveröffentlichten Notizen durch sein gesamtes Werk hindurch bis zu den erst posthum veröffentlichten Dialogen über die natürliche Religion [zieht]“ (Lothar Kreimendahl, ,Die Kirche ist mir ein Greuel". Studien zur Religionsphilosophie David Humes, Würzburg 2012, 7). 4 Rudolf Lüthe, David Hume. Historiker und Philosoph, Freiburg im Breisgau, München 1991, 76. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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dass Humes Religionskritik anders als bei seinen materialistischen Zeitgenossen in Paris nicht zur mehr oder weniger dogmatischen Behauptung einer atheistischen Gegenposition führt. Während die Fragen theologischer Letztbegründung – die Existenz und das Wesen Gottes – nicht mit hinreichender Gewissheit beantwortbar sind, ist es bleibende Aufgabe der Philosophie religiöse Vorstellungen und darauf bezogene theologische Lehrstücke zurückzuweisen, weil beide einer Sphäre angehören, die jenseits möglicher Erfahrung liegt und deshalb im besonderen Maße für Aberglauben bzw. für unhaltbare theoretische Spekulationen anfällig ist. Andererseits sind religiöse Vorstellungen, weil sie nicht auf einer vorsichtigen, erfahrungsgestützten und rational rekonstruierbaren Grundlage beruhen, sondern aus den trüben Quellen der Affektbesetzung hervorgehen, nichts anderes als Vorurteile. Als solche vermögen sie das Handeln zahlreicher Menschen bzw. Gruppen innerhalb einer Gesellschaft zu beeinflussen und sind deshalb von nicht zu unterschätzender politischer und sozialer Relevanz für den Bestand, den Zusammenhalt und den inneren Frieden einer Gesellschaft. Hume hat seit seiner Jugendzeit nicht mehr an die persönliche Unsterblichkeit bzw. an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt.5 In seinem Kampf gegen die spekulative Metaphysik und gegen die religiösen Vorstellungen seiner Zeitgenossen hat er vielmehr versucht, die philosophischen und theologischen Geltungsansprüche ebenso wie die diversen religiösen Überzeugungen und Praktiken einer umfassenden Kritik zu unterziehen. Die Radikalität dieser Kritik erweist sich darin, dass es Hume nicht um eine Kritik der metaphysischen und theologischen Antworten geht, sondern um den Nachweis der völligen Absurdität der ihnen zugrunde liegenden Fragen: Thus neither by considering the first origin of ideas, not by means of a definition are we able to arrive at any satisfactory notion of substance; which seems to me a sufficient reason for abandonning utterly that dispute concerning the materiality or immateriality of the soul, and makes me absolutely condemn even the question itself.6
Die Frage nach der Natural History of Religion, d. h. nach der historischen Genese religiöser Vorstellungen,7 die Konzeption der natürlichen Religion, die Phänomene der Schwärmerei und des Aberglaubens, die Kritik an der Glaubwürdigkeit der Wunderberichte – alle diese Aspekte gehörten ebenso zum antitheologischen und Gaskin betrachtet dies als einen „biographical fact“ (John Charles Addison Gaskin, Hume!s Philosophy of Religion, Houndsmill u. a. 21988, 85). 6 David Hume, A Treatise of Human Nature, Bd. 1, hg. von David Fate Norton und Mary J. Norton, Oxford 2007 [The Clarendon Edition of the Works of David Hume], 1.4.5, 153 (im Folgenden abgekürzt als Treatise mit Angabe von Buch, Kapitel und Abschnitt). 7 Es liegt auf der Hand, dass schon im Titel dieser Schrift für die frommen Gemüter unter den Zeitgenossen eine fundamentale Provokation lag: Derjenige, der behauptet, dass die Religion überhaupt Gegenstand einer „natural history“ sein könne, setzt voraus, dass ihr Anspruch, geoffenbarte Wahrheit zu sein, irrelevant ist. 5
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antirationalistischen Kampfprogramm Humes wie die Kritik an den Vorstellungen über die Unsterblichkeit der Seele. Der Essay Of the Immortality of the Soul beginnt mit der programmatischen Feststellung einer Schwierigkeit: „By the mere light of reason it seems difficult to prove the Immortality of the soul“.8 Diese Aussage bildet nicht nur den Leitfaden von Humes eigener Kritik an der Vorstellung der Unsterblichkeit, sondern zugleich auch den Leitfaden der nachfolgenden Überlegungen. Ich werde mich auf zwei Schriften Humes zu diesem Problem beschränken: Zum einen finden wir im vierten Teil des ersten Buches des Treatise of Human Nature eine Abhandlung zur Frage der Immaterialität der Seele. Zum anderen besitzen wir einen kurzen, aphoristisch gehaltenen Essay mit dem Titel Of the Immortality of the Soul, den Hume zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hat. Dieser Essay war vermutlich ursprünglich ein Bestandteil des Traktats, den Hume allerdings bei der Endredaktion seines Werkes, die er selbst als Kastration, d. h. als das Herausschneiden seiner ,edelsten Teile", bezeichnete, unterdrückt hatte. Diese ,Kastration" sollte dazu dienen, die Angriffsfläche des Treatise für die Gegner möglichst klein zu halten. Jedenfalls war Hume überzeugt, dass sein Werk nur in dieser kastrierten bzw. bereinigten Fassung „into the Drs. Hands“ gelangen sollte.9 Hume hatte dann geplant, den Essay Of the Immortality of the Soul und denjenigen On Suicide gemeinsam mit der The Natural History of Religion zu veröffentlichen, war dann aber wegen der zu erwartenden polemischen Reaktionen von Seiten der Theologen wieder von dieser Absicht abgegangen, obwohl der entsprechende Band bereits gedruckt war. Allerdings gelangten einige Druckbögen des Essays nach Paris, wo der Baron d!Holbach eine Übersetzung anfertigte, die im Jahre 1770 in einem Sammelband – angeblich in Paris, vermutlich aber in London – veröffentlicht wurde.10 I. „A Treatise of Human Nature“ Ich beginne mit einigen Bemerkungen zum Kapitel über die Immaterialität der Seele im Treatise. Wie der Untertitel des Werkes herausstellt, geht es Hume darum, die experimentelle Methode des Denkens auf „moral subjects“, also menschliche Angelegenheiten im weitesten Sinne, anzuwenden. In dieser Berufung auf Der Essay Of the Immortality of the Soul wird zitiert nach folgender Ausgabe: David Hume, Dialogues Concerning Natural Religion. With Of the Immortality of the Soul, Of Suicide, Of miracles, hg. von Richard H. Popkin, Indianapolis, Cambridge 1998, 91–97. 9 Brief an Henry Home, 2. Dez. 1737, in: Raymond Klibansky, Ernest C. Mossner (Hg.), New Letters of David Hume, Oxford 1954, 3. 10 Vgl. Günter Gawlik, Lothar Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 140. 8
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die experimentelle Methode kommt bereits Humes Frontstellung gegen die neuzeitliche Substanzmetaphysik und insbesondere gegen die rationalistische Psychologie zum Ausdruck. Es scheint angebracht, ein paar Bemerkungen zu Humes methodischer Vorgehensweise voranzustellen. Humes Auseinandersetzung mit den rationalpsychologischen Fragen der Immaterialität bzw. Immortalität der Seele zielt nicht darauf ab, diese Annahme durch die entsprechenden Gegenbehauptungen zu ersetzen. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, diese Fragen als solche aus dem Kanon rationaler Fragen auszuschließen. Er bedient sich dabei eines kritisch-negativen Verfahrens, das dazu dient, die Schwachpunkte der Argumentation der Gegenseite herauszustellen, ohne selbst gezwungen zu sein, positive Beweise des Gegenteils zu erbringen. Humes skeptische Philosophie ist deshalb in erster Linie an der kritischen Durchsicht der Argumente für die Unsterblichkeit interessiert. Der Nachweis, dass alle diese Argumente mehr versprechen, als sie halten können, dass sie auf rational nicht nachprüfbaren Prämissen beruhen und deshalb insgesamt keine Überzeugungskraft besitzen, ist das eher bescheidene philosophische Beweisziel Humes. Hume ist sich der argumentationstheoretischen Überlegenheit dieser Vorgehensweise völlig bewusst: „It is an infinite advantage in every controversy, to defend the negative. If the question be out of the common experienced course of nature, this circumstance is almost, if not altogether, decisive“.11 Die von Hume intendierte ,Rationalisierung" philosophischer Debatte bedeutet den Verzicht auf spekulative Höhenflüge, weil die Philosophie gerade durch diesen Verzicht an Wissenschaftlichkeit gewinnt, die dann allerdings an ganz bestimmte epistemologische Bedingungen geknüpft ist, hat schon den Widerspruch vieler Zeitgenossen hervorgerufen. Auch seine Vorgehensweise, die rationalpsychologischen Positionen im Hinblick auf die Überzeugungskraft der vorgebrachten Argumente zu prüfen, ohne eine entsprechende Gegenposition zu beziehen, ist immer ein Gegenstand der Kontroversen gewesen. Ein aktuelles Beispiel für die zeitlose Aktualität der Fragestellung, die den Gegenstand des vorliegenden Bandes bildet, hat vor einiger Zeit Holm Tetens in seinem sowohl dem Umfang wie dem Gehalt nach dünnen Bändchen Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie gegeben. Tetens bekämpft in seinem theismusaffinen Alterswerk den dominierenden Naturalismus der Wissenschaftstheorie, dem er selbst lange Zeit angehangen hatte, und propagiert stattdessen eine Rehabilitierung der Rationaltheologie, die ihm zahlreiche Einladungen von theologischen Fakultäten, christlichen Akademien usw. eingebracht hat. Tetens konstatiert eine Krise der Philosophie, die seiner Ansicht nach durch die Dominanz naturalistischer Positionen in den letzten Jahrzehnten hervorgerufen worden ist:
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Hume, Essay (wie Anm. 8), 96.
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Um die Philosophie wird es erst dann wieder besser bestellt sein als gegenwärtig, wenn Philosophen mindestens so gründlich, so hartnäckig und so scharfsinnig über den Satz ,Wir Menschen sind Geschöpfe des gerechten und gnädigen Gottes, der vorbehaltlos unser Heil will" und seine Konsequenzen nachdenken, wie Philosophen zur Zeit pausenlos über den Satz ,Wir Menschen sind nichts anderes als ein Stück hochkompliziert organisierter Materie in einer rein materiellen Welt" und seine Konsequenzen nachzudenken bereit sind.12
Es verbietet sich, über die Gründe zu spekulieren, warum Tetens solche Sätze wie ,Wir Menschen sind Geschöpfe des gerechten und gnädigen Gottes, der vorbehaltlos unser Heil will", für irgendwie bedenkenswert hält. Der Sache nach ist sein Versuch, die Rationaltheologie wiederzubeleben, skandalös, weil er hinter das erreichte Niveau der neuzeitlichen Epistemologie und Religionskritik zurückfällt. Während sich Hume und andere Kritiker des Unsterblichkeitsglaubens damit begnügt hatten, die Argumente der Verteidiger dieses Glaubens zu entkräften, ohne dass sie sich verpflichtet gefühlt hätten, den positiven Beweis der Sterblichkeit der Seele führen zu müssen, will Tetens die Beweislast in dieser Frage umkehren.13 Er behauptet nämlich, dass die Annahme, der Tod sei gleichbedeutend mit dem „unwiderrufliche[n] Verlöschen meines individuellen ich-zentrierten Selbstbewusstseins und Weiterlebens“, nur dann plausibel sei, „falls das Leib-Seele-Problem überzeugend naturalistisch gelöst werden kann.14 Davon kann jedoch keine Rede sein“.15 Die frohe Botschaft aus dieser ,Einsicht" folgt auf dem Fuße: Tetens behauptet nämlich, „aus den immanenten Schwierigkeiten des Naturalismus“ gezeigt zu haben, dass „unser ich-zentriertes Selbstbewusstsein und Weiterleben […] sich über den Hirntod unseres Organismus hinaus fortsetzen [könnte]“, und dass sich wegen der Unbeweisbarkeit der naturalistischen Annahme die „Möglichkeit [des Weiterlebens, D.H.] nicht definitiv verwerfen“ lässt. Hinzu Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015. Der Skandal von Tetens! Behauptung liegt in der Unterstellung, der Kritiker des Unsterblichkeitsglaubens sei verpflichtet, den Nachweis zu erbringen, dass z. B. der Hirntod die Möglichkeit des Weiterlebens definitiv ausschließt. 14 Es ist nicht einsichtig, warum nur der Naturalismus als Gegenposition zum Theismus genannt wird. 15 Holm Tetens, Gott denken (wie Anm. 12), 66 f. Tetens hätte sich an die Regel ,ex falso quodlibet" der klassischen Logik erinnern sollen: Es mag zutreffen, dass der Naturalismus den positiven Nachweis, dass mit dem Hirntod die Fortexistenz der Seele unvereinbar sei, nicht erbringen kann; und er könnte tatsächlich falsch sein, obwohl wir kein Kriterium und kein Wissen haben, um die mögliche Falschheit der naturalistischen Position positiv zu bestimmen. Aber wie soll sich daraus ein Argument für das „Weiterleben […] über den Hirntod unseres Organismus“ hinaus ergeben? Mit dem gleichen Recht könnte jemand die Behauptung aufstellen, der Zoologie sei es bisher nicht gelungen, die Nichtexistenz von Einhörnern definitiv zu beweisen, um dann im Umkehrschluss zu behaupten, die Existenz von Einhörnern sei denkbar. Und was wäre damit gewonnen? Für Hume handelt es sich in beiden Fällen um ein Scheinproblem: „matters of fact“ können nur aufgrund von Erfahrung entschieden werden. 12 13
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kommt, dass wir zwar als „endliche Ich-Subjekte […] in Materie verkörpert sein“ müssen, aber wir, weil wir „in erster Linie geistige Wesen sind, […] wir nicht intrinsisch an Materie gebunden [sind], und wir müssen auch nicht unbedingt in Materie von der Art verkörpert sein, aus der ein menschlicher Organismus in dieser empirischen Welt besteht“. Es ist leider nur ein kruder pseudo-cartesianischer Dualismus – hier endliche, in Materie verkörperte Wesen, dort geistige Wesen, die nicht intrinsisch an Materie gebunden sind –, der mit Tetens! Bekenntnissen wieder aufgewärmt wird. Aber Tetens! theistische Wende hatte doch den schönen Effekt, dass die Frommen in diesem unserem Lande Grund nunmehr zum Frohlocken hatten, dass es doch mit dem Glauben an die Unsterblichkeit nicht so schlecht bestellt ist, wie der vorherrschende Naturalismus dies propagiert.16 Empiriefreie, metaphysische Behauptungen haben nach Humes Ansicht demgegenüber den Nachteil, dass ihnen das, was man als empiristisches Sinnkriterium bezeichnet, abgeht. Diese Auffassung verdankt sich Humes Überzeugung, dass alle unsere Erkenntnis auf impressions beruht, die wir durch Wahrnehmung (perception) erlangen, wir aber von einer Substanz, die „entirely different from a perception“ ist, keine Vorstellung (idea) bilden können.17 Den metaphysischen Prämissen der Rationalpsychologie, dass unsere Perzeptionen körperlichen bzw. unkörperlichen Substanzen inhärieren, begegnet Hume mit einer Frage, die nach seiner Ansicht geeignet ist, „to stop to these endless cavils on both sides […]. What they mean by substance and inhesion?“18 Die Frage nach dem von der Substanzmetaphysik behaupteten Zusammenhang von Vorstellungen und Substanz kann nun in zweierlei Hinsicht behandelt werden: entweder durch Untersuchung „[of] the first origin of ideas“,19 um auf diese Weise zu zeigen, ob für ihre EntsteIn den Feuilletons und Besprechungen waren die meisten Kommentatoren und Rezensenten für solche frommen Botschaften auch recht dankbar. Der französische Orden der PrÞtres du Sacr1Cœur de J1sus kann auf seiner Homepage sein Frohlocken kaum zügeln: „In seinem sehr interessanten Buch Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie zeigt Holm Tetens, dass im Vergleich mit dem Naturalismus es vernünftiger ist, Theist zu sein und auf Gott als Erlöser zu hoffen und zu vertrauen“ (http://scjef.org/main/index.php/actualites/3347-geschoepfe-gottes-oder-hochkomplizierte-materie-einer-rein-materiellen-welt.html; letztmals aufgerufen am 29. 09. 2017). Natürlich haben die Priester vom Heiligen Herzen Jesu das immer schon gewusst, aber es ist doch erbaulich, wenn ein philosophischer Renegat zurückkehrt. 17 Ganz ähnlich lauten die Einwände d!Holbachs zur Rationaltheologie in seinem Syst(me de la nature gegen die „suppositions gratuites“, auf welche die meisten Philosophen ihre Seelenlehre gestützt hätten: „C!est de l) que sont venus successivement les notions de spiritualit), d!immat)rialit), d!immortalit), et tous les mots vagues que l!on inventa peu ) peu, ) force de subtiliser, pour marquer les attributes de la substance inconnue que l!homme croyait renferm1e en lui-mÞme, et qu!il jugait Þtre le principe cach1 de ses actions visibles“ (Paul-Henri Thiry d!Holbach, Syst-me de la nature, Paris 1821 [Reprint Hildesheim 1966], Bd. 1, Kap. 6, 94 f.). 18 Hume, Treatise (wie Anm. 6), 1.4.5, 153, 304. 19 Ebd., 1.4.5, 153. 16
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hung die Annahme einer Seelensubstanz vorausgesetzt werden muss, oder durch die Analyse der traditionellen Definition der Substanz als etwas, „which may exist by itself“, und was als bleibendes Substrat aller mentalen Prozesse anzunehmen ist.20 Auf keinem dieser beiden Wege ist es jedoch nach Hume möglich, zu einem „satisfactory notion of substance“ zu gelangen, sodass schon hierin allein ein ,hinreichender Grund" liegt, die Streitfrage über die Körperlichkeit oder Unkörperlichkeit der Seele zu den Akten zu legen.21 Was den ersten Weg betrifft, so macht Hume Gebrauch von seiner eigenen empiristischen Erkenntnistheorie, wonach jede Vorstellung (idea) aus einem früheren Eindruck entstammt bzw. dessen ,Kopie"22 ist. Entsprechend behauptet Hume auch in der Enquiry concerning Human Understanding, dass all our ideas are nothing but copies of our impressions, or, in other words, that it is impossible for us to think of any thing, which we have not antecedently felt, either by our external or internal senses.23
Der Eindruck stammt also entweder aus der (äußeren) Sinneswahrnehmung oder aus der (inneren) Selbstwahrnehmung. Hätten wir eine Vorstellung von der unkörperlichen Substantialität des Geistes, dann müsste es einen entsprechenden Eindruck geben. In einem weiteren Schritt behandelt Hume die seines Erachtens problematischen Konsequenzen, die aus der Behauptung der „simplicity and immateriality of the soul“ resultieren, nämlich den Atheismus spinozistischer Couleur: Wer die Einfachheit und Unkörperlichkeit der Seele behauptet, hat den Weg zu einem „dangerous and irrecoverable atheism“ beschritten.24 Eng mit diesen kritischen Überlegungen zur Immaterialität der Seelensubstanz ist die Theorie der personalen Identität verknüpft, in welcher sich Hume mit den metaphysischen Lehren von der Persistenz, Identität und Einfachheit des Ichs ausVgl. hierzu die Kritik von Locke: „The Idea then we have, to which we give the general name Substance, being nothing but the supposed, but unknown support of those Qualities, we find existing, which we imagine cannot subsist, sine re substante, without something to support them, we call that Support Substantia; which, according to the true import of the Word, is in plain English, standing under, or upholding“ (John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditsch, Oxford 1975, II.xxii.2, 296). 21 Hume, Treatise (wie Anm. 6), 1.4.5, 153. 22 Vgl. ebd., 1.4.5, 157. 23 David Hume, An Enquiry concerning Human Understanding, hg. von Tom L. Beauchamp, Oxford 1999, VII, 4, 135. 24 Hume, Treatise (wie Anm. 6), 1.4.5, 160. Gaskin, Hume!s Philosophy of Religion (wie Anm. 5), 91 bemerkt Folgendes zu Humes Polemik gegen Spinoza: „I have never been able to decide if this is because Hume genuinly disliked Spinoza!s "absurd! metaphysics or because he thought it prudent to identify himself on occasions with those who condemned Spinoza!s "atheism!“. Angesichts der antirationalistischen Stoßrichtung von Humes Epistemologie scheint dies eher ein Scheinproblem zu sein. 20
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einandersetzt. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist bekanntlich, dass wir über keinerlei „idea of self“ verfügen und dass unser Geist oder unser Ich „nothing but a bundle or collection of different perceptions“ ist.25 Oder – um eine Formulierung aus dem Abstract, den Hume 1740 unmittelbar nach dem Erscheinen des ersten Bandes seines Treatise verfasst hatte, zu gebrauchen – die Seele, „as far as we can conceive it, is nothing but a system of train of different perceptions“.26 Aber aus diesem empirischen Begriff der Seele als eines kontinuierlichen ,Stroms von Perzeptionen" lässt sich nach Hume kein Schluss auf das Vorhandensein eines zugrundeliegenden, identischen und substantiellen Subjekts aller dieser Perzeptionen ziehen. Denn davon haben wir keine Sinneseindrücke. Ich werde diesen Punkt hier nicht weiter verfolgen, so interessant er auch sein mag, sondern verweise stattdessen auf die entsprechenden Passagen in Udo Thiels Studie über The Early Modern Subject. Thiel hat gezeigt, dass es sich bei der ,Bündel"-Lehre Humes nicht – wie manche Zeitgenossen annahmen – um eine ontologische Behauptung, gemäß welcher das Ich auf bloße Perzeptionen reduziert werden kann, handelt. Die Bündel-Lehre ist kein „statement about the real nature or essence of the self“,27 sondern in erster Linie das Ergebnis eines „epistemic claim“:28 Insofern das Ich Gegenstand der Selbstwahrnehmung ist, besteht es nur aus einer Vielzahl von Perzeptionen. Wegen dieser epistemischen Perspektive ist Hume nach Thiel nicht zu der Annahme gezwungen, ein dauerhaft bestehendes Ich (persisting self) jenseits der Perzeptionen anzunehmen. II. Der Essay „Of the Immortality of the Soul“ In seinem Essay verweist Hume darauf, dass für die Unsterblichkeit der Seele in der philosophischen Tradition unterschiedliche Argumente vorgebracht worden sind: metaphysische, physische und moralische. Hume behauptet, den Nachweis erbracht zu haben, dass keines dieser Argumente dazu taugt, die Unsterblichkeit der Seele unzweifelhaft zu beweisen. Vorab können vier auffallende Umstände bemerkt werden: (1) Ähnlich wie im Fall der Wunderkritik richtet sich Humes Kritik nicht unmittelbar auf die Frage, ob die Seele unsterblich ist. Stattdessen behandelt er die Frage nach der Plausibilität der Argumente der Immortalitätsverteidiger: Hume, Treatise (wie Anm. 6), 1.6.4, 165. David Hume, An Abstract of a Book lateley published; entituled A Treatise of Human Nature, &c./Abriß eines neuen Buches: Ein Traktat über die menschliche Natur, etc., hg. von Jens Kulenkampff, Hamburg 1980, 44/46. 27 Udo Thiel, The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume, Oxford 2011, 418. 28 Ebd., 422. 25
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By what arguments or analogies can we prove any state of existence, which no one ever saw, and which no wise resembles any that ever was seen? Who will repose such trust in any pretended philosophy, as to admit upon its testimony the reality of so marvellous a scene?29
(2) Hume macht allerdings keine Anstalten, die Position der Verteidiger des Unsterblichkeitsglaubens genauer zu charakterisieren und sie hinsichtlich der ganzen Breite ihrer Argumentation zu würdigen. Im Hinblick auf die metaphysischen Argumente ist Descartes der einzige Referenzautor. Die moralischen und physischen Argumente sind so unspezifisch, dass sie keinen konkreten philosophischen Positionen zugeordnet werden können.30 Die intensiven Debatten um die Unsterblichkeit der Seele, über die „denkende Materie“ und z. B. das Vordringen spezifisch anthropologischer Fragestellungen bei den englischen, französischen oder deutschen Immortalitätsverteidigern lagen jenseits des Horizonts von David Hume. (3) Ein begründungstheoretisches Problem liegt darin, dass Hume bei der Auseinandersetzung mit den drei Klassen von Argumenten systematisch von Grundpositionen seiner Erkenntnistheorie Gebrauch macht, diese Grundpositionen, die für das Verständnis seiner Kritik zentral sind, im Essay selbst aber nicht ausführlicher dargestellt werden. Argumentativ hängt der Essay deshalb gewissermaßen in der Luft. Ein Leser, der mit Humes Philosophie nicht vertraut ist, wird deshalb die Kritik nicht ohne weiteres für einleuchtend halten. (4) Auffällig ist, dass Hume insgesamt – wie Lothar Kreimendahl betont – äußerst zurückhaltend argumentiert: Weder behauptet er, dass er den Nachweis erbracht habe, die Argumente für die Unsterblichkeit seien schlechtweg falsch (sie sind nur nicht überzeugend), noch wird umgekehrt die Sterblichkeit der Seele „affirmativ bewiesen“.31 Im Folgenden behandele ich Humes Argumente in der Reihenfolge, wie sie der Essay vorbringt.
Hume, Essay (wie Anm. 8), 96 f. Vgl. hierzu Thomas Holden, Spectres of False Divinity. Hume!s Moral Atheism, Oxford 2010, 183, der Humes Argumente als „highly compressed and hence rather cryptic“ bezeichnet. Buchegger bescheinigt dagegen Hume eine „strenge[] und konsequente[] Vorgangsweise“ (Josef Buchegger, David Humes Argumente gegen das Christentum, Frankfurt am Main 1987, 52). 31 Lothar Kreimendahl, Einige Bemerkungen zu Humes Auseinandersetzung mit den metaphysischen Argumenten für die Unsterblichkeit der Seele, in: ders., ,Die Kirche ist mir ein Greuel" (wie Anm. 3), 93–108, hier 97. 29 30
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II.1. Metaphysische Argumente An erster Stelle behandelt Hume die metaphysischen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele, wie sie in der neuzeitlichen Rationalpsychologie entwickelt worden sind.32 Dieser tradierten Metaphysik setzt er eine „just metaphysics“, die eigentlich gar keine Metaphysik im strengen Sinne, sondern seine eigene erkenntnistheoretisch restringierte Philosophie ist, entgegen. Diese ,rechte Metaphysik" lehrt zum einen, dass irgendeine rein rationale Überlegung (abstract reasonings) nichts über das Vorleigen eines bestimmten Sachverhaltes bzw. der Existenz von etwas entscheiden kann und dass deshalb Erfahrung „the only source of our judgements“ bei derartigen Problemen sein kann,33 zum anderen, dass „the notion of substance is wholly confused and imperfect, and that we have no other idea of any substance, than as an aggregate of particular qualities inhering in an unknown something“.34 Zu den „metaphysical topics“ gehört die Behauptung von der Immaterialität der Seele. Genauer gesagt lautet das metaphysische Argument, dass das Denken – als eigentliche Seelentätigkeit betrachtet – nur einer immateriellen Substanz zukommen kann, die ihrerseits wegen der angenommenen Immaterialität keinen empirischen Veränderungen unterliegt, also unveränderlich bzw. unsterblich ist. Die Seele ist also immateriell, insofern vorausgesetzt wird, dass Denken aufgrund seiner Idealität – denn Gedanken haben weder Ausdehnung noch befinden sie sich an einem bestimmten Ort – unmöglich einer „material substance“ angehören kann.35 Die damit angedeutete Problemstellung, die spätestens seit Lockes Essay concerning Human Understanding die Gemüter bewegt hatte, nämlich die Frage, ob die Materie denken könne, wird von Hume nur angedeutet, aber nicht weiter verfolgt, weil solche metaphysischen Spekulationen jenseits seines Interesses lagen. Denn für Hume sind „Matter, […] and spirit, […] both at bottom equally unknown“. Deshalb ist Hume – zum Verdruss seiner materialistischen
Dass die metaphysischen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele „are equally inconclusive“, war schon die Botschaft des Treatise, vgl. Hume, Treatise (wie Anm. 7), 1.4.5, 164. Hume hatte dort aber behauptet, dass die moralischen Argumente demgegenüber „strong and convincing“ seien. 33 Hume, Essay (wie Anm. 9), 91: „Abstract reasonings cannot decide any question of fact or existence“. 34 Ebd. 35 Die Behauptung findet sich z. B. in Ren1 Descartes, Discours de la m1thode IV, 2, in: ders., Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996, 53 f.: „[J]e connus de l) [d. h. aus der Möglichkeit der Abstraktion, also der Annahme, „que je n!avais aucun corps, et qu!il n!y avait aucun monde, ni aucun lieu o, je fusse“] que j!1tais une substance dont toute l!essence ou la nature n!est que de penser, et qui, pour Þtre, n!a besoin d!aucun lieu, ni ne d1pend d!aucune chose mat1rielle“. 32
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Freunde in Paris – auch nicht bereit, der materialistischen Hypothese von der möglichen Denkfähigkeit der Materie den Vorzug zu geben.36 Aber selbst wenn man die Existenz einer „spiritual substance“ zugäbe, welche als „the only inherent subject of thought“ fungieren würde, wäre damit nichts für die Behauptung der Unsterblichkeit einer individuellen Seele gewonnen. Die geistige Substanz könnte zwar individuelle Seelen hervorbringen, aber deren „consciousness, or that system of thought, which they formed during life“, würde sich mit dem Tode der Einzelseelen auflösen. Und deshalb hätten diese keinerlei Interesse an der unterstellten „new modification“ eines zukünftigen Zustandes. Es besteht daher nach Humes Ansicht kein logisch notwendiger Zusammenhang zwischen der Annahme der Spiritualität der Seele auf der einen und derjenigen der Unsterblichkeit ihrer Substanz. Seine Kritik, die – wie schon betont – Hume selbst als die „just metaphysics“ präsentiert, richtet sich vielmehr gegen den Begriff der Substanz, den er für „wholly confused and imperfect“ erklärt, womit er an vergleichbare Überlegungen in Lockes Essay concerning Human Understanding anknüpft.37 Das zweite metaphysische Argument verweist auf Humes Auffassung der Kausalitätskategorie zurück. Er stellt die Frage, worin „the cause of thought“ bestehe und ob nicht auch die Materie „by its structure or arrangement“ als Ursache in Anders als Hume hatte d!Holbach weniger Bedenken, in seinem Systeme de la nature die „materialit1 de l!(me“ zu behaupten – trotz des auch ihm geläufigen epistemologischen Problems, dass die „nature particuli-re et sa faÅon d!agir“ der Seele unerkennbar ist: „D-s que j!aperÅois ou que j!1prouve du mouvement, je suis forc1 de reconna3tre de l!1tendue, de la solidit1, de la densit1, de l!imp1n1trabilit1 dans la substance que je vois se mouvoir, o, de laquelle je reÅois du mouvement; ainsi, d-s qu!on attribue de l!action ) une cause quelconque, je suis oblig1 de la regarder comme mat1rielle. Je puis ignorer sa nature particuli-re et sa faÅon d!agir, mais je ne puis me tromper aux propri1t1s g1n1rales et communes ) toute mani-re“ (d!Holbach, Syst-me de la nature [wie Anm. 17], Bd. 1, Kap. 7, 111). Hume und Kant haben bestritten, dass eine solche Vorgehensweise oder – mit Kant zu reden – ein solcher Paralogismus, der von bekannten Wirkungen auf eine unerkennbare Substanz schließt, auf einem unvermeidlichen logischen Denkzwang beruht. An anderen Stellen artikuliert d!Holbach durchaus ein Bewusstsein darüber, dass sein materialistischer Erklärungsansatz nur den Stellenwert einer Hypothese besitzt, die zwar mit der Erfahrung eher übereinstimmt als die metaphysischen Theorien, die aber dennoch nicht empirisch beweisbar ist. Der Vorteil der materialistischen Hypothese lag aber für den Religionskritiker d!Holbach auf der Hand, weil er aus ihr ein Argument gegen die Unsterblichkeit der Seele gewinnen wollte. 37 Locke, An Essay concerning Human Understanding (wie Anm. 20), I.iv.19, 95: „I confess, there is another Idea, which would be of general use for Mankind to have, as it is of general talk as if they had it; and that is the Idea of Substance, which we neither have, nor can have by Sensation or Reflection. If Nature took care to provide us any Ideas, we might well expect they should be such, as by our own Faculties we cannot procure to our selves: But we see, on the contrary, that since by those ways, whereby other Ideas are brought into our Minds, this is not, We have no such clear Idea at all, and therefore signify nothing by the word Substance, but only an uncertain supposition of we know not what; (i. e. of something whereof we have no particular distinct positive) Idea, which we take to be the substratum, or support, of those Ideas we do know.“ 36
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Frage käme. Diese Anwendung des Kausalitätsproblems auf das Denken, gemäß welcher ein rationalistischer Metaphysiker das Denken als Wirkung einer persistierenden Seelensubstanz behaupten könnte, ist allerdings problematisch, worauf schon Kreimendahl hingewiesen hat. Denn eine solche Problemstellung trifft nicht das Selbstverständnis der Rationalpsychologie. Für Descartes z. B. fallen Denken und Seele (thought and mind) zusammen, für ihn waren „thought and perception in general […] the essence of the mind“ – wie Hume im Abstract38 Descartes! essentialistische Position korrekt wiedergibt.39 Unter dieser cartesischen Voraussetzung, wenn Denken das Wesen der Seele ist, wäre es jedoch sinnlos, beides wieder zu trennen, indem nach der Ursache des Denkens gefragt wird.40 Nach Hume kann über das Verhältnis von Ursache und Wirkung nichts a priori entschieden werden, weil die Erfahrung „the only source of our judgments of this nature“ darstellt. Wir sind deshalb nicht berechtigt, das Faktum des Denkens einer Ursache zuzuschreiben, die kein Gegenstand der Erfahrung ist. Die Frage, was Ursache des Denkvermögens ist, bleibt unbeantwortbar, sodass wir auch nicht wissen können, „whether matter, by its structure or arrangement, may not be the cause of thought“.41 Die rationalistische Metaphysik kann also die materialistische Hypothese nicht widerlegen, aber – so hätte Hume hinzufügen können, was er allerdings an dieser Stelle nicht tut – auch die materialistische Hypothese bleibt unbeweisbar.
II.2. Moralische Argumente Auf die Kritik der metaphysischen Argumente folgt die Zurückweisung der moralischen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele durch Hume. Diesen Argumenten kommt in religionskritischer Perspektive eine wichtige Funktion zu, weil sie die Grundlage der Ängste der Menschen im Hinblick auf die Zukunft bilden, von denen einige Gemüter beherrscht werden. Hume betrachtet diese Furcht als ein Ergebnis der religiösen Sozialisation und Indoktrinierung, sie ist „the result of artifically fostered superstition that exploits our natural horror of annihilation“.42 Hume will nicht die Gesamtheit der einschlägigen Argumente behandeln, sondern nur diejenigen moralischen Argumente, die „from the justice of God“ abgeleitet werden können. Genauer gesagt wird die Unsterblichkeit der Seele im HinHume, Abstract (wie Anm. 26), 46. Descartes, Meditationen II: „res cogitans, id est mens, sive animus, sive intellectus, sive ratio“ (Philosophische Schriften [wie Anm. 35], 46). 40 Vgl. Kreimendahl, Einige Bemerkungen (wie Anm. 31), 103. 41 Hume, Essay (wie Anm. 8), 91. 42 Jane L. McIntyre, Hume and the Problem of Personal Identity, in: The Cambridge Companion to Hume, hg. von David Fate Norton und Jacqueline Taylor, Cambridge 22009, 207. 38
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blick auf „further punishment of the vicious and reward of the virtuous“ thematisiert.43 Die Annahme einer göttlichen Gerechtigkeit in einer zukünftigen Welt setzt systematisch die Fortdauer der individuellen Seele voraus. Auch in dieser Hinsicht besteht Humes Vorgehensweise nicht in der unmittelbaren Leugnung dieser Annahme, sondern eher in einer skeptischen Erörterung des zugrunde gelegten Begriffs göttlicher Gerechtigkeit: Welchen Begriff können wir uns von ihr machen bzw. was lässt sich vernünftigerweise unter Gerechtigkeit verstehen? Es liegt auf der Hand, dass hierin in der Tat ein zentraler Aspekt nicht nur des religiösen Glaubens, sondern auch der christlichen Theologie sowie insbesondere der philosophischen Theodizee liegt. Denn die Erfahrung lehrt, dass es den Bösen in dieser Welt durchaus gut gehen kann, also moralisch gutes Handeln und Denken nicht notwendigerweise mit dem Glück des Betroffenen verbunden sind. Ein Entsprechungsverhältnis von bösen Taten und bösen Folgen existiert nicht. Für die Theologie und Moralphilosophie war deshalb der Gedanke der zukünftigen Belohnung bzw. Bestrafung in einer anderen Welt eine notwendige Bedingung der Gültigkeit ihrer Morallehren. Das (moral-)theologische Argument für die Erfüllung der göttlichen Gebote lautete dementsprechend, Gott, der alles sieht und weiß, was Menschen während ihres Erdenlebens tun, würde die irdischen Missetaten in einer zukünftigen Welt bestrafen.44 Ein repräsentativer Vertreter dieser Hume, Essay (wie Anm. 8), 92. Für viele Moralphilosophen und Naturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts war die Annahme der Existenz Gottes bzw. der göttlichen Gerechtigkeit zwecks Gewährleistung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes unverzichtbar. So leitet z. B. Christian Thomasius in seinen weitgehend von Pufendorfs Naturrechtslehre abhängigen Institutiones Jurisprudentiæ Divinæ Libri Tres, Halle 71720, Reprint Aalen 1994 (anders als in den späteren Fundamenta Juris Naturæ!) das Recht vom göttlichen Willen ab: „[L]egum omnium fons est voluntas divina“ (Institutiones I, 2, § 85). Auch was den Gesetzesbegriff betrifft, folgt Thomasius dem Vorbild Pufendorfs: „Lex est jussus imperantis obligans subjectos, ut secundum istum jussum actiones suas instituant“ (Institutiones I, 1, § 28). Für die Geltung von Normen bedeutet dies, dass eine Norm nur dann mehr als ein bloß gutgemeinter Rat ist, d. h. nur dann die verpflichtende Kraft eines Gesetzes haben kann, wenn es eine mit absoluten Befehlsgewalt ausgestattete Instanz gibt, die dadurch die Menschen zu verpflichten vermag: „Obligationem non esse posse, si tollatur superior, & omnium minime, si tollatur Deus“ (Institutiones I, 1, § 136). Angesichts dieser Rolle des göttlichen Willens als Garantieinstanz für die Geltung der natürlichen Gesetze ist es nur konsequent, wenn Thomasius glaubt, dem Atheisten die Rechtsfähigkeit bestreiten zu müssen, weil derjenige, der die Existenz Gottes bestreitet, „fundamentum omnis moralitatis destruit“ (Institutiones I, 3, § 88). Ähnlich wie Thomasius bestreitet auch Budde die baylesche These vom tugendhaften Atheismus: „Derjenige wird denen Atheisten allein eine wahrhafte Tugend beymessen, der da gantz und gar nicht weiß, was Tugend sey. Denn da die wahre Tugend in einer auffrichtigen Bemühung bestehet, sich und alle seine Thaten nach dem Willen und Befehl GOttes einzurichten, wie solte es denn geschehen können, daß ein Mensch, welcher keinen GOTT glaubet, und also kein göttlich Gesetz zulässet, dennoch sich befleißigen solte, nach denselben seine Verrichtungen zu reguliren. Es reden zwar die Atheisten viel von der Tugend, Ehrbarkeit, Gerechtigkeit, aber nur denen Einfältigen ein Blendwerck vor Augen zu machen. Spinoza kan die Stelle aller anderen vertreten, welcher auf allen Blättern der Gerechtigkeit 43 44
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Lehre von der Dependenz der Verbindlichkeit moralischer Normen von der Annahme der göttlichen Strafgerechtigkeit ist Samuel Pufendorf. Sehr deutlich kommt diese Auffassung in einer Passage seiner Schrift De officio hominis et civis zum Ausdruck. Die Leugnung des göttlichen Strafgerichts würde bedeuten, ut dum nemo in alterius fide […] solidam fiduciam collocare posset, singuli perpetuo metu & suspicionibus anxii viverent, ne ab aliis deciperentur, aut læderentur. Sed & tam imperantes quam subjecti parum proclives futuri essent ad præclara & gloriosa opera patranda. […] Cum enim sine religione nulla quoque futura foret conscientia, non facile esset occulta ejusmodi scelera deprehendere; quippe quæ plerumque per inquietudinem conscientiæ, & terrores, in exteriora indicia erumpentes, prodantur. Unde adparet, quantopere intersit generis humani, atheismo omnes vias, ne invalescat, præcludere.45
Die Zurückführung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes auf den Willen Gottes schien Pufendorf schon deshalb geboten, weil er in dem angegebenen funktionalistischen Sinne den Glauben an Gott als moralischen Gesetzgeber als das „ultimum & firmissimum humanæ societatis vinculum“ betrachtet, auf welchem das Wohl des gesamten Menschengeschlechts beruht.46 Ihre Funktion als staatliches Disziplinierungsmittel bzw. als stabilisierendes Element zur Sicheund Liebe gedencket, so gar, daß er darinn das gantze Wesen der Religion setzet; allein, nachdem man in ihn gedrungen, genauer seinen Sinn zu erklären, so läßt er keine andere Gerechtigkeit und Liebe zu, als die sich auf pacta, Bündnisse und das Ansehen des bürgerlichen Regiments stützt und gründet“ (Johann Franz Budde: Lehr-Sätze von der Atheisterey und dem Aberglauben, mit gelehrten Anmerkungen erläutert, Jena 1717, 302 f.). – Gemäß dieser Grundüberzeugung der ThomasiusSchule, dass die Quelle der Verbindlichkeit der Wille Gottes sei, hat Friedrich August Müller: Einleitung in die philosophischen Wissenschaften, Bd. 3: Das Natur- und Völckerrecht, Leipzig 1728 die These aufgestellt, dass der „erste grund des Rechts der natur […] nothwendig die lehre von gott, von der existenz göttlicher natürlicher geseze, und von dem ihnen zu leistenden gehorsam, schon voraussetzen“ muss (Kap. I, § 4, 6), und dass aus diesem Grunde „die natürliche moralTheologie vor dem Rechte der natur in engerm verstande, von natur vorhergehe: so gewiß erhellet auch ein gleiches von der Ethic, und dem Rechte der natur in engestem verstande“ (Kap. I, § 12, 35). Vgl. zur Frage der vorgeblichen Unverzichtbarkeit der Geltung moralischer Normen im Willen Gottes Dieter Hüning, Die Grenzen der Toleranz und die Rechtsstellung der Atheisten. Der Streit um die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes in der neuzeitlichen Naturrechtslehre, in: Lutz Danneberg u. a. (Hg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin, New York 2002, 219–273. 45 Samuel Pufendorf, De Officio Hominis & Civis juxta Legem Naturalem Libri Duo, Cambridge 1682 (Reprint Oxford 1927), I, 4, § 9. – Ähnlich Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, Halle 1721 (Reprint Frankfurt am Main 1971), § 366: „Ein Mensch, der GOtt erkennet, ist vergewissert, daß er das böse strafet und fürchtet sich vor ihm (§ 707. & seqq, Mor.). Wenn der demnach weiß, daß etwas seinem Willen zuwieder ist und er es bestraffe, wenn man es thut oder auch unterlässet, was er haben will; so wird er aus Furcht für GOtt unterlassen, was er sonst thun würde, und thun, was er sonst lassen würde.“ 46 Pufendorf, De officio (wie Anm. 45), I, 4, § 9.
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rung der „civitatum firmitas intrinseca“ erfüllt die Religion dadurch, dass sie dort, wo die Furcht vor irdischen Strafen nicht ausreicht, ein – wie Pufendorf glaubt – unfehlbares Mittel bereithält, um sowohl die Bürger als auch die Herrscher zur Einhaltung ihrer Pflichten zu motivieren. Dieses Mittel ist das Gewissen (conscientia) und das mit ihm verbundene Bewusstsein möglicher ewiger Verdammnis. Angesichts der vorausgesetzten Unverzichtbarkeit der Annahme der göttlichen Strafgerichtsbarkeit sei es für das Menschengeschlecht von entscheidender Bedeutung, dem Atheismus alle Wege der Ausbreitung zu verschließen und ihn mit „gravissimis poenis“ zu ahnden.47 Eine ähnliche verbindlichkeitstheoretische Position wie Pufendorf hat John Locke bezogen. Er folgt Pufendorf in der Auffassung, dass der „true ground of Morality […] can only be the Will and Law of God“.48 Und ähnlich wie bei Pufendorf geht auch Locke von der Voraussetzung der natura corrupta, der durch den Sündenfall verdorbenen menschlichen Natur, aus, die, wenn sie sich ungehemmt entfalten könnte, nur zum „over-turning of all Morality“ führen würde. Die moralischen Normen, denen die Menschen unterworfen sind, erscheinen so „as a curb and restraint“, die den sündigen Begierden der Menschen angelegt werden. Eigentliche Gesetzeskraft erhalten die moralischen Normen allerdings erst durch das vom Willen des – göttlichen oder staatlichen – Gesetzgebers mit der Befolgung bzw. Übertretung verknüpfte System der Belohnungen und Strafen, wobei die Strafen so beschaffen sein müssen, dass sie „will over-balance the satisfaction any one shall propose to himself in the breach of the Law“.49 An Pufendorf erinnert auch Lockes Bestimmung des geltungstheoretischen Verhältnisses von Gesetz und Pflicht, wenn er erklärt, dass die Bedeutung der Pflicht nicht ohne ein vorhergehendes Gesetz, das Gesetz jedoch nicht ohne die Voraussetzung eines (autorisierten) Gesetzgebers bzw. ohne ein geltendes Sanktionssystem verstanden werden kann.50 Die Sanktion erweist sich als konstitutives Element des Gesetzesbegriffs. Die notwendige Konsequenz aus dieser Lehre ist der Ausschluss der Atheisten aus der Rechtsgemeinschaft, die Locke in seinem berühmten Letter concerning Toleration zieht. Weil die Leugnung der Existenz Gottes identisch ist mit der Aufhebung aller Verbindlichkeit, können Atheisten nicht geduldet werden: „Promises, covenants, and oaths, which are the bonds
Ebd., I, 4, § 2. – Zur Auffassung Pufendorfs, dass nur der göttliche Gesetzgeber als Autor des moralischen Gesetzes in Frage komme, siehe Jerome B. Schneewind: The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998, 134–140. 48 John Locke, An Essay concerning Human Understanding (wie Anm. 20), I.iii.6. 49 Ebd., I.iii.13. 50 Vgl. ebd., I.iii.12. 47
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of human society, can have no hold upon an atheist. The taking away of God, though but even in thought, dissolves all“.51 Hume wusste also, dass die moralischen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele unter den Zeitgenossen eine wesentliche Rolle spielten. Aber anders als die meisten dieser Zeitgenossen argumentiert Hume nicht mit den angeblichen Funktionsnotwendigkeiten der Moralphilosophie, die ohne den Rückgang auf den Willen Gottes ihren Normen keine Verbindlichkeit schaffen kann, sondern konzentriert sich auf den Umstand, dass diese Argumente insgesamt spekulativer Art sind, indem Gott Eigenschaften zugeschrieben werden, die jenseits möglicher Erfahrung liegen. Dies führt in epistemologischer Perspektive zu der Frage, mit welchem Recht wir Gott überhaupt die Eigenschaft der Gerechtigkeit zuschreiben können. Für einen scholastischen oder rationalistischen Metaphysiker wäre dies selbstverständlich eine merkwürdige Frage gewesen. Denn Gott fungiert hier als „Inbegriff aller Realitäten“, als diejenige Entität, der metaphysische, moralische und physische Realitäten in höchstem Maße zukommen. Insofern – so würde ein Metaphysiker behaupten – liegt die Gerechtigkeit unmittelbar im Begriff Gottes. Humes Fragestellung verdankt sich, was nicht überraschen kann, seiner empiristischen Erkenntnistheorie, für welche die Zuschreibung von Eigenschaften, die Gott zukommen sollen, die sich aber zugleich nicht innerhalb der erfahrbaren Welt manifestieren, zum Problem wird.52 Und was könnte uns dazu berechtigen, Gott bestimmte transzendente Eigenschaften zuzuschreiben? Sinnvoller wäre es nach Humes Ansicht, Gott nur solche Attribute zuzuschreiben, die sich in der uns bekannten, gegenwärtigen Welt manifestieren.53 Auf den ersten Blick scheint er damit den Intentionen des Gläubigen und des Theologen entgegenzukommen. Er unterstellt erstens, „that, whatever we know the deity to have actually done, is best“; zweitens, dass die Welt eine zweckmäßige Einrichtung darstellt, die auf einen vernünftigen Urheber verweist. Diese von uns nachvollziehbare Zweckmäßigkeit ist allerdings rein diesseitig geartet: „But if any purpose of nature be clear, we may affirm, that the whole scope and intention of man!s creation, so far as we can judge by natural reason, is limited to the present life“.54 Auch die „the original, inherent structure of the mind and passions“ der John Locke, Ein Brief über Toleranz, übersetzt, eingeleitet und in Anmerkungen erläutert von Julius Ebbinghaus, Hamburg 21966, 94. 52 Hume fragt: „Where do we infer the existence of these attributes?“ (Hume, Essay [wie Anm. 8], 92). 53 In dieser scheinbaren Konzession liegt allerdings eine gewisse antitheologische Malice. Denn der Gläubige bzw. der Theologe, wenn er nicht einfach nur ein unwissender, abergläubischer Tropf ist, verzichtet normalerweise darauf, Gott zur Erklärung innerweltlicher Ereignisse heranzuziehen. Und insofern könnte man sagen, dass der Gläubige ein solches Bedürfnis, Gott Attribute zuzuschreiben, die sich empirisch aufweisen lassen, gar nicht verspürt. 54 Hume, Essay (wie Anm. 8), 91. 51
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Menschen führe dazu, dass diese in erster Linie am irdischen Leben interessiert sind, und sie entwickeln deshalb nur ein „weak […] concern“ für alles, was über dieses Leben hinausgeht.55 Bei denjenigen hingegen, für die das zukünftige Leben eine Rolle spielt, sind eher pathologische Aspekte wie „some unaccountable terrors with regard to futurity“ ausschlaggebend. Solche Vorstellungen würden nach Humes Auffassung verschwinden, wenn sie „were not artifically fostered by precept and education“.56 Die Pointe von Humes Argument liegt ersichtlich darin, dass er die physikotheologische Überlegung der transzendenten Implikationen beraubt: Das Argument von der Zweckmäßigkeit der Einrichtung der Welt und der Existenz der Menschheit vorausgesetzt, verbleiben wir mit derartigen Zweckmäßigkeitsüberlegungen im Rahmen der diesseitigen Welt. Wenn die Gottheit angesichts der Ausrichtung des Lebens der Menschen auf die Zwecke des Diesseits noch eine andere Welt für die Menschen nach dem irdischen Tod bereithalten würde, läge darin die größte „cruelty, […] iniquity, […] injustice“; es wäre ein „barbarous deceit“, den wir unmöglich der Gottheit zuschreiben könnten.57 Wechselt man dagegen die Perspektive und verbleibt bei der Betrachtung der weltimmanenten Zweckmäßigkeit, dann zeigt sich, „with what exact proportion the task to be performed and the performing powers, are adjusted throughout all nature“.58 Diese von Hume unterstellte durchgängige weltimmanente Zweckmäßigkeit führt zu einer Relativierung der angeblichen Sonderstellung der Menschen. Die vermeintliche „superiority above other animals“, die den Menschen aufgrund ihres Vernunftvermögens zugeschrieben wird, ist nur Ausdruck der Vervielfältigung ihrer Bedürfnisse, also gewissermaßen eine evolutionsbiologisch fundierte Anpassungsleistung. In der verhältnismäßigen Entsprechung von Vermögen und Bedürfnissen liegt kein prinzipieller Unterschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen begründet. In der Enquiry concerning Human Understanding,59 in der Natural History of Religion60 und dann in den Dialogues concerning Natural Religion scheint Hume der Auffassung zu sein, dass sich aus der zweckmäßigen Einrichtung der Natur zwar keine stichhaltigen Argumente für die Unsterblichkeit der Seele, wohl aber ein – wenngleich schwaches – metaphysisches Argument für die Existenz Gottes gewinnen lässt. Bekanntlich lässt Hume in seinen Dialogues concerning Natural Religion Cleanthes, den erklärten Vertreter der natürlichen Religion, Ebd., 92. Ebd. 57 Ebd., 92 f. 58 Ebd., 93. 59 Hume, Enquiry (wie Anm. 23), XI, 17, 192. 60 Hume, Natural History (wie Anm. 1), 134: „The whole frame of nature bespeaks an intelligent author“. 55 56
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als Verfechter des teleologischen Arguments auftreten: Wir verstehen – so Cleanthes – die „curious adapting of means to ends, throughout all nature“ am ehesten, wenn wir sie mit den „productions of human contrivance; of human design, thought, wisdom, and intelligence“ vergleichen. Da die Zweckmäßigkeit der Natur und die Zweckmäßigkeit menschlicher Hervorbringungen vergleichbar sind, sind wir auch – so erklärt Cleanthes weiter – „by all rules of analogy“ auch zu dem Schluss berechtigt, dass die Ursache der zweckmäßigen Einrichtung der Natur das Werk eines intelligenten Urhebers ist, der dem menschlichen Geist zumindest ähnelt.61 Diese teleologische Betrachtung der Natur, von Hume in der Enquiry auch als ,religiöse Hypothese" bezeichnet hatte,62 spielt auch in anderen Schriften Humes eine wichtige, allerdings durchaus ambivalente Rolle. Hume unterscheidet die Plausibilität der ,religiösen Hypothese" nach den Fällen ihrer Anwendung. Dementsprechend wird in der Enquiry zwar konzediert, dass die Behauptung der inneren Zweckmäßigkeit der Welt in Bezug auf die natürlichen Eigenschaften Gottes zutrifft: Hume lässt Epikur in seiner Rede, dass „the chief and sole argument for a divine existence […] is derived from the order of nature, where there appear such marks of intelligence and design“. Eine gewisse Plausibilität kommt der ,religiösen Hypothese" nur als eine „particular method of accounting for the visible phænomena of the universe“ zu.63 Die Übertragung der ,Hypothese" auf die moralische Welt scheitert, weil es nach aller Erfahrung in der Welt weder vernünftig noch moralisch zugeht: „the present scene of things […] is full of ill and disorder“.64 Das teleologische Argument bzw. das „argument from design“ – wenn es über den Aspekt der Zweckmäßigkeit der Natur hinaus zum universellen Prinzip hypostasiert wird – wird von Hume als Folge „of the unbounded licence of conjecture“ präsentiert, das uns dazu verführt, uns „in the place of the Supreme Being“ zu versetzen und zu unterstellen, dasselbe würde „on every occasion, observe the same conduct, which we ourselves, in his situation, would have embraced as reasonable and eligible“. Aber diese „method of reasoning“ widerspricht „all rules of analogy“, weil „the intentions and projects of men“ sich grundlegend von denjenigen „of a Being so different, and so much superior“ unterscheiden, sodass sich Analogieschlüsse verbieten.65 Es wird dann zu einem Argument, das „priests and Hume, Dialogues (wie Anm. 8), II, 15: „[T]hat the Author of Nature is somewhat similar to the mind of man, though possessed of much larger faculties, proportioned to the grandeur of the work which he has executed“. 62 Ebd., 192 und 197. 63 Hume, Enquiry (wie Anm. 23), XI, 18, 192. 64 Ebd., XI, 15, 191. 65 Ebd., 196 f. 61
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poets“ würdig ist, aber nicht von Philosophen vorgebracht werden sollte, „who pretend to neglect authority, and to cultivate reason“.66 Auch in den Dialogues findet sich der Gedanke der Zweckmäßigkeit der Natur als ein Element der natürlichen Religion, dem sich scheinbar auch der Skeptiker nicht völlig verschließen kann. Er kann deshalb den Grundsatz, der das Resümee der natürlichen Religion darstellt, „[t]hat the cause or causes of order in the universe probably bear some remote analogy to human intelligence“, akzeptieren.67 Wir können deshalb sogar, falls es ein Bedürfnis für eine solche tröstliche Annahme gibt, dem theistischen Gedanken zustimmen, which presents us as the workmanship of a Being perfectly good, wise, and powerful; who created us for happiness; and who, having implanted in us immeasurable desires of good, will prolong our existences to all eternity, and will transfer us into an infinite variety of scences, in order to satisfy those desires and render our felicity complete and durable.68
Dennoch bleibt ein entscheidender Einwand gegen diesen Analogieschluss: Der teleologische Gottesbeweis, der von der Zweckmäßigkeit der Welt auf einen intelligenten Urheber schließt, erfüllt die wesentliche Bedingung nicht, wonach Analogieschlüsse nur dort erlaubt sind, „when two species of objects are found to be constantly conjoined“. Im Fall der Schöpfung bzw. der zweckmäßigen Einrichtung der Natur handelt es sich aber um eine einzigartige Wirkung, die keiner Gattung von Ereignissen zugeordnet werden kann und bei welcher sich deshalb eine Vermutung über ihre Ursache eigentlich verbietet.69 In der Enquiry hat Hume deshalb der ,religiösen Hypothese" eine klare Absage erteilt: While we argue from the course of nature, and infer a particular intelligent cause, which first bestowed, and still preserves order in the universe, we embrace a principle, which is both uncertain and useless. It is uncertain; because the subject lies entirely beyond the reach of human experience. It is useless; because our knowledge of his cause being derived entirely from the course of nature, we can never, according to the rules of just reasoning, return back from the cause with any new inference, or making additions
Ebd., 191. Hume, Dialogues (wie Anm. 8), XII, 88. Allerdings wird die Zustimmung zu diesem Prinzip unmittelbar relativiert, indem Hume erklärt, es handele sich um „one simple, though somewhat ambiguous, at least undefined, proposition“. 68 Ebd., XII, 86. Auch erscheint ist Humes Akzeptanz dieses Grundsatzes „of genuine theism“ als durchaus fragwürdig, wenn er betont, dass diese Annahme, man sei selbst Gegenstand der Fürsorge eines höheren Wesens, „the most agreeable reflection which […] is possible for human imagination“. Auch in der Natural History (wie Anm. 1) spricht er von den „comfortable views, exhibited by the belief of futurity“ (General corollary, 185). Indem Hume den Glauben an den theistischen Grundsatz zum Zustand perfekter Glückseligkeit ausdeutet, erweckt er den Verdacht, dass dieser Gedanke zu schön sei, um wahr zu sein. 69 Hume, Dialogues (wie Anm. 8), 198. 66 67
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to the common and experienced course of nature, establish any new principles of conduct and behaviour.70
Warum die teleologische Betrachtung der Natur moralisch folgenlos bleibt, ist im Folgenden näher auszuführen. Die Art und Weise, deren sich Hume im weiteren Verlauf seiner Argumentation bedient, ist uns schon von der Analyse der metaphysischen Argumente her bekannt: Er misst auch die moralischen Argumente mit den systematischen Ansprüchen seiner eigenen Moralphilosophie. Das heißt in diesem Fall, an die Stelle des Begriffs der göttlichen Gerechtigkeit, der uns immer unklar bleiben muss, seine eigene moralphilosophische Position über die Herkunft unserer moralischen Urteile zu setzen. An erster Stelle benennt Hume ein Argument, das ihm dazu geeignet scheint, die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit überhaupt auszuhebeln. Der Gedanke, in welchem Hume die Gerechtigkeit Gottes gegen seine Providenz ausspielt, lautet: As every effect implies a cause, and that another, till we reach the first cause of all, which is the Deity; every thing that happens is ordained by him, and nothing can be the object of his punishment or vengeance.71
Denn – so hatte Hume bereits im Treatise ausgeführt – die Annahme, „that the deity were the great and efficacious principle, which supplies the deficiency of all causes“, führt notwendigerweise zu „the grossest impieties and absurdities“. Wird die Gottheit als „the author of all our volitions and perceptions“ betrachtet, dann entfällt die Möglichkeit, einem Menschen seine Handlungen als von ihm verantwortet zuzuschreiben.72 Und wird auch der Begriff der göttlichen Gerechtigkeit und die damit verknüpfte Vorstellung von Strafe und Belohnung hinfällig. Es ist nicht ganz einleuchtend, warum Hume es nach diesem – wie Kreimendahl es nennt – „knock-down-Argument“,73 das eben einen grundsätzlichen Angriff auf den Begriff der göttlichen Gerechtigkeit herbeiführen soll, noch unternimmt, einzelne Aspekte der göttlichen Gerechtigkeit separat zu widerlegen. Es handelt sich um insgesamt fünf Punkte. 1. Der erste Aspekt betrifft den normativen Gehalt der göttlichen Gerechtigkeit. Wir können mit dem Begriff der göttlichen Gerechtigkeit nach Hume nicht viel anfangen. Denn wie sollen wir derartige Fragen, wie „[b]y what rule are punishments and rewards distributed? What is the Divine standard of merit and demerit“, beantworten? Da wir uns nicht an die Stelle der Gottheit setzen könHume, Enquiry (wie Anm. 23), XI, 194. Hume, Essay (wie Anm. 8), 93. 72 Hume, Treatise (wie Anm. 6), 1.4.5, 163. 73 Lothar Kreimendahl, Einige Bemerkungen zu Humes Auseinandersetzung mit den moralischen und physischen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele, in: ders., ,Die Kirche ist mir ein Greuel" (wie Anm. 3), 109–138, hier 123. 70
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nen, müsse diese Frage „[a]ccording to human sentiments“ beantwortet werden. Im Hinblick auf die Strafen bedeutet dies, dass wir menschliche „measures of approbation and blame“ voraussetzen müssen: „Whence do we learn, that there is such a thing as moral distinctions, but from our own sentiments?“74 Wenn wir aber behaupten, Gottes Gerechtigkeit ähnele der menschlichen, dann würde dies auf einen unzulässigen Anthropomorphismus hinauslaufen, der in der Gottheit „human sentiments“ unterstellen würde.75 2. Der nächste Aspekt betrifft die Frage, welche Handlungsweisen und welche Tugenden belohnt werden. Der Gläubige und der Theologe neigen dazu, alle Belohnungen auf die Ausübung von „one species of virtue“ zu reduzieren, nämlich – so können wir ergänzen, denn Hume präzisiert diesen Gedanken nicht – auf die spezifisch religiösen wie Frömmigkeit, Demut, Keuschheit usw., die er an anderer Stelle als „the whole train of monkish virtues“ charakterisiert hatte76. Nach menschlichem Empfinden stehen andere Tugenden im Vordergrund, nämlich „sense, courage, good manners, industry, prudence, genius“.77 3. Auch im Hinblick auf den Strafbegriff tauchen nach Humes Ansicht unüberwindliche Probleme auf. Das rationale Strafprinzip kann nur Abschreckung oder Besserung der Täter sein. Aber worin könnte der Zweck der Strafe bestehen, wenn – wie in einer jenseitigen Existenz – „the whole scene is closed“ und es keinen Grund zur Abschreckung oder Besserung mehr gäbe? Eine Bestrafung „without any proper end or purpose“ ist mit menschlichen „ideas of goodness and justice“ unvereinbar.78 4. Das Gleiche gilt für die aufklärerische Forderung nach Proportionalität bzw. Angemessenheit von Strafe und Vergehen. Eine verbrecherische Handlung ist immer ein zeitlich und örtlich beschränktes Phänomen. Wie können dann aber „eternal punishment for the temporary offences of so frail a creature as man“ daraus folgen? 5. Schließlich ist der menschliche Bewertungsmaßstab und die „chief source of moral ideas […] the reflection on the interest of human society“. In welchem Verhältnis stehen „these interests, so short, so frivolous“ zur Androhung ewiger und unendlicher Strafen?79
Hume, Essay (wie Anm. 8), 94. Ebd., 92. 76 David Hume, An Enquiry concerning the Principles of Morals, hg. von Tom L. Beauchamp, Oxford 1998, IX, 1, 73; vgl. auch Hume, Natural History (wie Anm. 1), X, 163. 77 Hume, Essay (wie Anm. 8), 93. 78 Ebd. 79 Ebd., 94. 74 75
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II.3. Physische Argumente Die letzte Klasse von Argumenten, die physischen Argumente „from the analogy of nature“, fallen aus der Reihe, weil sie von Hume sogleich als diejenigen Argumente bezeichnet werden, die im starken Maße „for the mortality of the soul“ sprechen. Sie sind darüber hinaus „really the only philosophical arguments, which ought to be admitted with regard to this question, or indeed any question of fact“.80 Im Abschnitt über die physischen Argumente will Hume aber zeigen, dass es in der Erfahrungswelt „keinerlei tragfähige Analogien gibt, die einen Schluss auf die Unsterblichkeit der Seele gestatten“.81 Der Gegenstand der physischen Argumente ist das Verhältnis von Körper und Seele: Hume nennt hier verschiedene Phänomene wie den Schlaf oder die miteinander verbundene Entwicklung von Körper und Seele im Durchgang durch die verschiedenen Lebensalter der Menschen. Für die Beurteilung dieser Argumente, die das gleichzeitige Bestehen von Seele und Körper betreffen, spielen wiederum Humes Regeln der Analogie die entscheidende Rolle: Where two objects are so closely connected, that all alterations, which we have ever seen in one, are attended with proportionable alterations in the other: we ought to conclude, by all rules of analogy, that, when there are still greater alterations produced by the former, and it is totally dissolved, there follows a total dissolution of the latter.82
Mit dem Hinweis auf die Analogien verweist Hume auf ein zentrales Lehrstück seines Empirismus: Außer den unmittelbaren Wahrnehmungsinhalten der impressions stehen uns bei der Beurteilung der matters of fact legitimerweise nur kausale Schlüsse zur Verfügung, die insgesamt auf einer „species of analogy“ gründen, die uns veranlasst, „to expect from any cause the same events, which we have observed“.83 Die Analogie ist umso vollkommener, je ähnlicher die Ursachen sind, aus denen die Schlussfolgerungen gezogen werden. Aus Analogien können jedoch nur Schlüsse mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit gezogen werden, je nach der Ähnlichkeit der Ursachen.84 Nun steht am Ende jedes menschlichen Lebens der allmähliche Verfall von Körper und Geist, der mit ihrer „common dissolution in death“ seinen Abschluss findet. Urteilen wir „by the usual analogy of nature“, dann ist angesichts der permanenten Veränderungen in der Welt, in welcher nichts ewig ist und sich alles „in continual flux and change“ befindet, und angesichts dessen, dass die Seelen der 80 81 82 83 84
Ebd., 95. Kreimendahl, Einige Bemerkungen (wie Anm. 73), 127. Hume, Essay (wie Anm. 8), 95. Hume, Enquiry (wie Anm. 23), IX, 1, 167. Hume, Treatise (wie Anm. 6), I, 3, § 12.
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Tiere „are allowed to be mortal“, die Annahme der Unsterblichkeit der menschlichen Seele auch in dieser Hinsicht unplausibel: How contrary to analogy, therefore, to imagine, that one single form, seeming the frailest of any, and from objects and causes subject to the greatest disorders, is immortal and indissoluble?85
Hume schließt seine Überlegungen mit einer rhetorischen Frage ab, die seine unüberwindliche Skepsis in Sachen der Unsterblichkeitsproblematik auf den Punkt bringt: By what arguments or analogies can we prove any state of existence, which no one ever saw, and which no wise resembles any that ever was seen? Who will repose such trust in any pretended philosophy, as to admit upon its testimony the reality of so marvellous a scene? Some new species of logic is requisit for that purpose; and some new faculties of the mind, that they may enable us to comprehend that logic.86
Mit dieser Bemerkung hätte der Essay seinen Abschluss finden können. Aber unser Autor ergänzt sein skeptisches Statement noch durch eine ironische Volte, mit der er unter scheinbarer Anerkennung der Theologie diese ad absurdum führen will. Denn im letzten Absatz des Essays behauptet Hume, „this great and important truth“ der Unsterblichkeit der Seele könne durch kein anderes Mittel der Erkenntnis begründet werden als durch den Rückgang auf die göttliche Offenbarung: Nothing could set a fuller light in the infinite obligations which mankind have to divine revelation; since we find, that no other medium could ascertain this great and important truth.87
Sollte dieses Bekenntnis zur Offenbarung die angesprochene „new species of logic“ sein? Und die Anerkennung der Autorität des Bibeltextes wäre die „new faculties of the mind that they may enable us to comprehend that logic“? Man hat den Eindruck, dass die so gestellten Fragen uns ein Stück weit an dem satirischen Vergnügen des Autors Hume teilhaben lassen. Dennoch haben manche Interpreten dieses ,Bekenntnis" zur Offenbarung als Ausdruck von Humes Fideismus angesehen.88 Dafür spreche zum einen, dass Hume in seinen unsterblichkeitskritischen Ausführungen ganz wesentlich durch Pierre Bayles Dictionnaire beeinflusst ist. Zum anderen habe Hume diese ,Flucht in die geoffenbarte Wahrheit" auch in anderen Schriften ins Spiel gebracht, so in den Schlussbemerkungen in
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Hume, Essay (wie Anm. 8), 96. Ebd., 97. Ebd. Vgl. Kreimendahl, Einige Bemerkungen (wie Anm. 31), 96.
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seinen posthum erschienenen Dialogues concerning Natural Religion89 sowie im berühmten Kapitel 10 seiner Enquiry concerning Human Understanding, die Humes berühmte Kritik an den Wundern bzw. an der Glaubwürdigkeit der Wunderberichte enthält.90 Aber diese wiederkehrende Berufung auf die Offenbarung für bare Münze zu nehmen, d. h. für eine ernstzunehmende philosophisch akzeptable Position zu halten, hieße, Humes Umgang mit dem theologischen Irrationalismus zu verkennen. Zu behaupten, „this great and important truth“ der Unsterblichkeit der Seele könne nur durch Offenbarung begründet werden, ist – ganz ähnlich wie im Falle der Wunderkritik in der Enquiry concerning Human Understanding – Ausdruck seiner überlegenen Ironie, die den Theologen, die in dieser Hinsicht einen Wahrheitsbeweis führen wollen, nur den Ausweg in den Irrationalismus des Offenbarungsglaubens übrig lässt. III. Fazit Lothar Kreimendahl hat mit Recht darauf hingewiesen, dass „Hume darauf aus ist, die Unsterblichkeitsfrage auf erfahrungswissenschaftliches Gebiet zu ziehen und dort zu entscheiden“.91 Hume diskutiert also die Unsterblichkeitsfrage – wie nicht anders zu erwarten – im Lichte seiner eigenen „just metaphysics“, d. h. im Lichte seines gemäßigten erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Das Ergebnis dieser Anwendung seiner Erkenntnistheorie auf die Unsterblichkeitsproblematik ist mit der Wunderkritik in der Enquiry concening Human Understanding vergleichbar: Humes Interesse gilt nicht dem vergeblichen Unternehmen, die Existenz einer unsterblichen Seele zu widerlegen. Worum es ihm vielmehr geht, ist der Nachweis, dass alle spekulativen Argumente, die hierfür vorgebracht werden, zweifelhaft und keineswegs geeignet sind, uns der Unsterblichkeit der Seele zu versichern. Keines der metaphysischen, moralischen und physischen Argumente ist geeignet, bei uns die erforderliche Gewissheit zu erzeugen, die notwendig wäre, um diese Argumente zu akzeptieren. Vielmehr zeigt sich in allen Fällen, dass die unsere bisherige Erfahrung mit diesen Argumenten nicht übereinstimmt.
Hume, Dialogues (wie Anm. 9), 89: „A Person, seasoned with a just sense of the imperfection of natural reason, will fly to revealed truth with the greatest avidity […]. To be a philosophical sceptic is, in a man of letters, the first and most essential step towards being a sound, believing Christian“. 90 Vgl. hierzu Dieter Hüning, Humes Wunderkritik und das Problem des Zeugnisses anderer. Mit einem Ausblick auf Kant, in: Dieter Hüning, Stefan Klingner, Carsten Olk (Hg.), Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants und ihrem Umfeld aus Anlass des 60. Geburtstags von Bernd Dörflinger, Berlin, Boston 2013, 453–476. 91 Kreimendahl, Einige Bemerkungen (wie Anm. 73), 126. 89
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Ein formaler Mangel von Humes Argumentation im Essay wurde bereits erwähnt: Die empiristische Erkenntnistheorie wird von Hume vorausgesetzt und angewandt, aber ihrerseits nicht näher erläutert. Es wurde ebenfalls schon darauf hingewiesen, dass sich Hume bei den metaphysischen Argumenten ausschließlich auf einen prominenten Vertreter der philosophischen Unsterblichkeitslehre, nämlich Descartes, konzentriert und damit die Vielfalt der metaphysischen Positionen unterschlägt. Gravierender ist ein anderer materialer Aspekt, der allerdings nicht nur Hume, sondern nahezu alle Vertreter der Religionskritik der Aufklärungsepoche trifft. Während kein aufgeklärter Religionskritiker darum verlegen ist, „the greatest absurdities and contradictions“92 in den religiösen Überzeugungen und theologischen Rechtfertigungen aufzuzeigen, bleibt die Frage, warum die meisten Menschen denn bereit sind, sich derartig fragwürdige Religionsauffassungen zu eigen zu machen, letztlich weitgehend unbeantwortet. Eine gängige Antwort auf diese Frage, die Hobbes im XII. Kapitel des Leviathan93 in Anknüpfung an Lukrez entwickelt hatte, lautete, dass es das Gefühl der Ohnmacht und die Furcht sind, welche die Menschen zu religiösen Vorstellungen geneigt machen. Auch Hume greift diesen religionspsychologischen Ansatz auf: Wenn die Menschen sich Vorstellungen machen, die „beyond the present course of things“ liegen und zu der Annahme einer „invisible intelligent power“ übergehen, dann ist es nicht „speculative curiosity“, sondern „the ordinary affections of human life; the anxious concern for happiness, the dread of future misery, the terror of death, the thirst of revenge, the appetite for food and other necessaries“.94 Dass vielen Aufklärern diese religionspsychologische Erklärung der Genese religiöser Vorstellungen attraktiv erschien, ist leicht nachvollziehbar: Wenn sich der Glaube der Unwissenheit und der (unbegründeten) Furcht vor Naturerscheinungen, Krankheit, Tod usw. verdankt, dann – so die Hoffnung der Aufklärer – wird dieser Glaube mit den Fortschritten der Aufklärung, mit dem Voranschreiten der Naturerkenntnis und mit der erweiterten technologischen Beherrschung der Natur seine Grundlagen einbüßen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt: Trotz allgemeiner Verfügbarkeit – wenigstens in den kapitalistischen Metropolen dieser Welt – der entsprechenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse und trotz hinreichender Argumente in Sachen Religionskritik sind die Glaubensüberzeugungen nicht verschwunden, sondern die Kirchen als institutionelle Träger der Religion wie der Glaube selbst werden vielmehr staatlich anerkannt und finanziell gefördert, weil Politiker wissen, was sie an der staatsnützlichen frommen Denkungsart des Glaubens haben. Man muss Hume, Natural History (wie Anm. 1), VI, 156. Vgl. hierzu die ausführliche Untersuchung von Dietrich Schotte, Die Entmachtung Gottes durch den Leviathan. Thomas Hobbes über Religion, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. 94 Hume, Natural History (wie Anm. 1), II, 140. 92
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deshalb feststellen, dass der Gläubige sich nicht wegen, sondern trotz der Fragwürdigkeit der Argumente, die für seine Überzeugungen ins Feld geführt werden, zu diesen bekennt. Insofern liegt der Grund des Glaubens nicht in der Stimmigkeit der entsprechenden Behauptungen, sondern in den tröstenden Aussichten, die die Religion dem Gläubigen verspricht. Statt diesem Problem nachzugehen, beschränkt sich Hume – wie zahlreiche andere Religionskritiker der Aufklärung – auf eine bloß negative Stellung zur Religion, in der ihr Irrationalismus gebrandmarkt wird. Die Schwäche der aufgeklärten Religionskritik zeigt sich darin, dass sie dem Glauben nicht anders zu begegnen weiß als ihn als Produkt der Dummheit der Gläubigen oder der Machenschaften der Pfaffen zu denunzieren, sodass das Phänomen des religiösen Irrationalismus weitgehend unerklärt bleibt, wenn man von den erwähnten trivialpsychologischen Erklärungen aus Unwissenheit und Furcht einmal absieht. Eine Religionskritik, die über die Feststellung, dass religiöse Überzeugungen nicht angemessen begründet werden können bzw. auf absurden Voraussetzungen beruhen, hinausgeht, ist in Ansätzen im 19. Jahrhundert von Ludwig Feuerbach vorgelegt worden. Bei ihm tritt an die Stelle der aufklärerischen Kritik an der Widersprüchlichkeit der Glaubensüberzeugungen der Versuch, die Frage nach den Gründen, warum sich Menschen dazu entscheiden, von ihrem Verstand einen Gebrauch zu machen, der die Objektivität des Denkens aufhebt, zu beantworten. Feuerbach plädiert für eine Erklärung der Religion aus dem Wesen des Menschen, insbesondere aus seinen unbefriedigten Bedürfnissen. Dieser genealogische Ansatz ähnelt nur auf den ersten Blick den psychologischen Erklärungsversuchen, die man schon bei Hobbes oder Hume finden kann. Aber bei genauerem Hinsehen ist der Unterschied zur Religionskritik der Aufklärung nicht zu übersehen. Denn während der Anthropomorphismus nach Humes Auffassung geradezu das Indiz für die Unwahrheit der Religion darstellt, kommt es für Feuerbach darauf an, den wahren, d. h. anthropologischen, Kern der Religion freizulegen.95 Feuerbach leitet die Religion nicht nur wie seine Vorgänger genealogisch aus bestimmten psychologischen Dispositionen (Unwissenheit, Leichtgläubigkeit usw.) ab, sondern zeigt, dass die Religion im Wunsch nach der - allerdings illusorischen bzw. bloß eingebildeten - Befriedigung subjektiver Interessen ihren Grund hat, die Anthropologie also selbst das Zentrum der Glaubensinhalte ist.96 Dass seine genealogiElisabeth Heinrich, Religionskritik in der Neuzeit. Hume, Feuerbach, Nietzsche, Freiburg im Breisgau, München 2001, 58. 96 Ludwig Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Werner Schuffenhauer, Bd. 6, Berlin 1967, 38, 43 f., 31: „Ich unterscheide mich von den früheren Atheisten und Pantheisten, welche in dieser Beziehung gleiche Ansichten mit den Atheisten hatten, wie namentlich Spinoza, eben wesentlich dadurch, daß ich von der Religion nicht nur negative Erkenntnisgründe, sondern auch positive gebe, nicht nur die Unwissenheit und Furcht, sondern auch die der Furcht entgegengesetzten Affekte, die positiven Affekte der Freude, Dank95
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sche Erklärung der Religion ihrerseits markante Schwächen aufweist, weil er das „Wesen des Menschen“, das er zur Grundlage der Religion machen will, selbst ganz unhistorisch und losgelöst von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen fasst, unter denen die religiösen Überzeugungen zum Tragen kommen, ist schon von den Zeitgenossen, insbesondere von Marx und Engels, hervorgehoben worden. Der Beitrag behandelt Humes Auseinandersetzung mit den rationalpsychologischen Fragen der Immaterialität bzw. Immortalität der Seele. Seine Kritik zielt nicht darauf ab, diese Annahme durch die entsprechenden Gegenbehauptungen zu ersetzen – hierin unterscheidet sich Hume z. B. von den französischen Materialisten. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, diese Fragen als solche aus dem Kanon rationaler Fragen auszuschließen. Er bedient sich dabei eines kritisch-negativen Verfahrens, das dazu dient, die Schwachpunkte der Argumentation der Gegenseite herauszustellen, ohne selbst gezwungen zu sein, positive Beweise des Gegenteils zu erbringen. Humes skeptische Philosophie ist deshalb in erster Linie an der kritischen Durchsicht der Argumente für die Unsterblichkeit interessiert. Der Nachweis, dass alle diese Argumente mehr versprechen, als sie halten können, dass sie auf rational nicht nachprüfbaren Prämissen beruhen und deshalb insgesamt keine Überzeugungskraft besitzen, ist das eher bescheidene philosophische Beweisziel Humes. This contribution deals with Hume!s critique with the claim of the immortality of the soul in early modern rational theology. This critique will not answer the questions whether the soul is immaterial or immortal. Hume is rather interested in eliminating such questions from the rational discourse of philosophy. Hume is using a negative method in order to demonstrate the weakness of the arguments in favour of the immortality of the soul without to be forced to claim the opposite. apl. Prof. Dr. Dieter Hüning, Universität Trier, FB I: Philosophie. Kant-Forschungsstelle, Universitätsring 15, D-54286 Trier, E-Mail: [email protected]
barkeit, Liebe und Verehrung, zu Erklärungsgründen der Religion mache. […] Ich selbst, ob ich gleich Atheist bin, bekenne mich offen zur Religion, [… insofern] die Religion ursprünglich gar nichts anderes ausdrückt als das Gefühl des Menschen von seinem Zusammenhang, seinem Einssein mit der Natur oder Welt. […] Allerdings ist es eine Folge meiner Lehre, daß kein Gott ist, d. h. kein abstraktes, unsinnliches, von der Natur und dem Menschen unterschiedenes Wesen, welches über das Schicksal der Welt und Menschheit nach seinem Wohlgefallen entscheidet; aber diese Verneinung ist nur eine Folge von der Erkenntnis des Wesens Gottes, von der Erkenntnis, daß dieses Wesen nichts andres als einerseits das Wesen der Natur, andererseits das Wesen des Menschen“.
Udo Thiel Materialismus und Konzeptionen des Lebens nach dem Tode im England des 18. Jahrhunderts
Die Debatten, die im England des 18. Jahrhunderts über die Unsterblichkeit der Seele und das Leben nach dem Tode geführt wurden, haben offensichtlich eine lange Vorgeschichte, die weit über diesen geographischen und zeitlichen Rahmen hinausgeht. Auf diese Vorgeschichte kann im gegenwärtigen Kontext nicht eingegangen werden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich vielmehr auf eine ganz bestimmte Entwicklung, die das schwierige Verhältnis der im 18. Jahrhundert wirkmächtiger werdenden materialistischen Auffassungen von der menschlichen Seele zur Theologie betrifft. Denn der psychologische Materialismus scheint mit der theologischen Dogmatik der Zeit unvereinbar zu sein. Kann man, wenn man eine immaterielle Seele ablehnt, noch von einem Leben nach dem Tode sprechen? Oder muss man, wenn man die immaterielle Seele aufgibt, auch die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode aufgeben und damit ein wesentliches Dogma der christlichen Lehre? Die meisten englischen Materialisten, so radikal sie sich auch sonst gaben, wollten die christliche Religion aber keineswegs aufgeben. In diesem Bezug auf die christliche Religion besteht das ,objektive Interesse" ihrer Untersuchungen zur Frage der Unsterblichkeit und eines zukünftigen Lebens. Die Herausforderung bestand für sie darin, die christliche Religion und damit auch den Gedanken eines zukünftigen Lebens mit dem psychologischen Materialismus kompatibel zu machen. Die Materialisten mussten versuchen, diesen Gedanken so zu gestalten, dass er einer immateriellen Seele nicht bedarf. Dieser Versuch bestand kurz gesagt darin, dass man die Hoffnung auf ein zukünftiges Leben ganz auf die materielle Seite verlagerte, das heißt auf die Auferstehung des Leibes bezog.1 Da die christliche Vorstellung von einem zukünftigen Leben beinhaltet, dass der ganze Mensch leben werde, gehört zu ihr ohnehin nicht nur die UnsterblichVgl. zu dieser Verlagerung auf die Lehre von der Auferstehung des Leibes William Rounseville Alger, A Critical History of the Doctrine of a Future Life, Philadelphia 1864, 502 f. 1
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keit der Seele, sondern auch die Auferstehung des Leibes.2 Darüber hinaus macht die christliche Vorstellung von einem zukünftigen Leben eine metaphysische Annahme über Identität. Die Identität des Menschen, als aus Seele und Leib bestehendem Wesen, muss für die Möglichkeit gerechter göttlicher Strafen im anderen Leben vorausgesetzt sein. Dies scheint zu bedeuten, dass wir bei der Auferstehung nicht nur dieselbe Seele, sondern auch denselben Körper wie in diesem Leben haben müssen. Was die Seele betrifft, so wurde meist auf ihre immaterielle und damit unveränderbare Natur als Garantie für ihre Identität verwiesen. Dass aber auch der Leib bei der Auferstehung derselbe wie in diesem Leben sein müsse, betont im 17. Jahrhundert John Pearson in seinem wichtigen und überaus einflussreichen Werk An Exposition of the Creed. Dieses Buch erschien zuerst 1659 und wurde in den folgenden zwei Jahrhunderten vielfach neu aufgelegt und gilt als die vollständigste Darstellung der anglikanischen dogmatischen Theologie. Pearson weist darauf hin, dass schon der Begriff der Auferstehung, der ,re-surrection", enthalte, dass es sich bei der Auferstehung nicht nur um dieselbe Seele, sondern auch um denselben Leib wie in diesem Leben handeln müsse. Wenn entweder derselbe Leib mit einer anderen Seele vereinigt werde, oder die Seele mit einem anderen Leib, dann handele es sich nicht um die Auferstehung desselben Menschen.3 Und da göttliche Strafen oder Belohnungen sich sowohl auf den Körper als auch auf die Seele beziehen, könnten diese Belohnungen und Strafen nicht gerecht sein, wenn der Leib bei der Auferstehung ein anderer wäre als in diesem Leben.4 Für christliche Materialisten reduziert sich die Konzeption vom Leben nach dem Tode wie angedeutet auf die Auferstehung. Wenn der Mensch ganz und gar Materie ist, dann beruht die Hoffnung auf ein zukünftiges Leben auf dem für sie einzig übrig gebliebenen materiellen Bestandteil. Die christlichen Materialisten müssen daher die Auferstehung des Leibes oder des rein materiell verstandenen Menschen als Garant für ein zukünftiges Leben betrachten. Dadurch, Vgl. hierzu beispielsweise Oscar Cullmann, Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung der Toten? Die Antwort des Neuen Testaments, in: Godehard Brüntrup, Matthias Rugel, Maria Schwartz (Hg.), Auferstehung des Leibes – Unsterblichkeit der Seele, Stuttgart 2010, 13–24, hier 13 f. Der Sammelband verbindet die alte Frage nach der Auferstehung mit der neueren analytischen Debatte über Identitätskriterien von Personen. Eine Verbindung der Auferstehungsproblematik mit der der Identitätskriterien bestand allerdings bereits spätestens im 17. und 18. Jahrhundert, wie aus dem vorliegenden Beitrag hervorgeht. 3 „If either the same body should be joyned to another soul, or the same soul united to another body, it would not be the resurrection of the same man“ (John Pearson, An Exposition of the Creed, London 1659, 758). 4 „That which shall receive the reward, and be lyable to the punishment, is not onely the soul but the body; it stands not therefore with the nature of a just retribution, that he which sinned in one body should be punished in another, he which pleased God in his own flesh should see God with other eyes“ (ebd., 762). 2
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dass die Berufungsmöglichkeit auf eine unsterbliche, immaterielle und damit über die Zeit hinweg identische Seele wegfällt, wird aber die Frage, wodurch sich die Identität des menschlichen Leibes oder überhaupt eines Körpers konstituiert, essentiell. Da der Leib ständiger Veränderung unterworfen ist, scheinen materialistische Konzeptionen eines Lebens nach dem Tode auf wackligen Beinen zu stehen. Dies wurde von den zahlreichen Gegnern materialistischer Metaphysik auch immer wieder vorgetragen. Der wohl wichtigste materialistische Denker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Philosoph, Naturwissenschaftler und Theologe Joseph Priestley, berichtet von diesen kritischen Fragen, die anti-materialistische Denker vorbringen.5 In ihren Versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, beziehen sich die Materialisten im 18. Jahrhundert auf unterschiedliche Konzeptionen der Identität des Leibes bei der Auferstehung, die zum Teil bereits im 17. Jahrhundert diskutiert worden waren, ohne dass diese Konzeptionen in einem Zusammenhang mit materialistischen Ansätzen gestanden hätten. Denn auch für Denker, die des Materialismus ganz unverdächtig sind, wie etwa John Pearson, muss die Identität des Leibes bei der Auferstehung ja garantiert sein. Für die Materialisten waren diese Überlegungen ein Anknüpfungspunkt, um ihre Konzeptionen vom Leben nach dem Tode plausibel zu machen. I. Die Identität des Leibes bei Auferstehung in den Debatten des 17. Jahrhunderts Die theologischen Debatten zur Auferstehung des Leibes im 17. Jahrhundert stehen in einem engen Zusammenhang mit Disputen metaphysischer Art über die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Körper überhaupt ihre diachrone Identität erhalten können. Wie oben angedeutet muss die Metaphysik der Identität geklärt werden, damit man einen mit der Vernunft jedenfalls vereinbaren Begriff vom Leben nach dem Tode entwickeln kann. Es ging darum zu erklären, wodurch der Leib, der sich bei der Auferstehung mit der Seele vereinigt, derselbe Leib wie in diesem Leben bleibt. Hierzu gab es im England des 17. Jahrhunderts im Wesentlichen folgende Positionen.6 Laut einer extremen und oft als nicht plausibel Man habe behauptet, sagt Priestley, „that if all our hopes of a future life rest upon the doctrine of a resurrection, we place it on a foundation that is very precarious“. Denn nach dem Tode „the body putrefies, and the parts that composed it are dispersed, and form other bodies, which have an equal claim to the same resurrection. […] And where, they say can be the propriety of rewards and punishments, if the man that rises again be not identically the same with the man that acted and died?“ (Joseph Priestley, Disquisitions relating to Matter and Spirit, London 1777, 156). 6 Zu unterschiedlichen Ansätzen im 17. Jahrhundert, körperliche Identität zu erklären, die nicht auf den Kontext der Auferstehungsdebatte eingeschränkt sind, vgl. Udo Thiel, Individuation, in: 5
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angesehenen Auffassung muss der Leib bei der Auferstehung aus numerisch denselben Teilchen bestehen wie der Leib in diesem Leben. Dafür argumentierten offenbar Denker wie Thomas Browne in Religio medici und sein Kritiker Alexander Ross.7 Wäre der Leib bei der Auferstehung nicht in diesem strikten Sinne mit dem Leib in diesem Leben identisch, so meinen diese Denker, dann handelte es sich nicht um Auferstehung, sondern um eine Seelenwanderung in einen anderen Körper.8 Unter denjenigen, die diese Auffassung von der notwendigen Identität aller körperlichen Teilchen bei der Auferstehung zurückwiesen, gab es verschiedene Positionen dazu, welche Aspekte oder Teile des Körpers für seine diachrone Identität wesentlich seien. Einige, wie Humphy Hody, beriefen sich auf eine Analogie zum organischen Wachstum und auf die biblische Samen-Analogie.9 Andere vertraten die Auffassung, dass für die Identität des Leibes bei der Auferstehung nur dies erforderlich sei, dass Materie mit derselben Seele vereinigt werde (die von einigen als ,Form", von anderen als vollständige Substanz aufgefasst wurde). Robert Boyle beispielsweise, der Begründer der modernen Chemie und Verfasser mehrerer theologischer Schriften, vertrat diese Position. Die materielle Komposition und Struktur des Körpers seien für die Identität des Leibes bei der Auferstehung gar nicht relevant.10 Obwohl Vertreter dieser Auffassung verbal an der Lehre von der Identität des Leibes festhalten, ist diese Position im Grunde eine kaum verschleierte Version der dem anglikanischen Dogma widersprechenden Auffassung, dass die Identität des Leibes nicht für die Identität des Menschen bei der Auferstehung erforderlich sei. Hierfür konnte man sich auf die PaulusBriefe berufen, wonach der natürliche Körper bei der Auferstehung in einen geistigen oder ,spirituellen" Leib verwandelt werde (1 Kor 15,44). Wenn es sich bei der Auferstehung um einen ,geistigen" Leib handeln soll, dann ist er offensichtlich Daniel Garber, Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1998, Bd. 1, 212–262. Vgl. im selben Band auch Udo Thiel, Personal Identity, 868–912. Vgl. auch ders., Religion and Materialist Metaphysics: Some Aspects of the Debate about the Resurrection of the Body in Eighteenth-Century Britain, in: Ruth Savage (Hg.), Philosophy and Religion in Enlightenment Britain. New Case Studies, Oxford 2012, 90–111, hier 92–98. 7 Alexander Ross, Medicus Medicatus: Or the Physician!s Religion Cured, by a Lenitive or Gentle Potion: With some Animadversions upon Sir Kenelme Digby!s Observations on Religio Medici, London 1645, 98 f. Vgl. auch Thomas Browne, Religio Medici (1643), in: ders., The Major Works, hg. von C. A. Patrides, Harmondsworth 1977, 59–161, hier 120 f. 8 Ross, Medicus Medicatus (wie Anm. 7), 108 f. 9 Humphry Hody, The Resurrection of the (Same) Body Asserted, London 1694, 187 f. 10 „In regard that the human soul is the form of man – so that, whatever duly organised portion of matter it is united to, it therewith constitutes the same man – the import of the resurrection is fulfilled in this, that after death there shall be another state, wherein the soul shall no longer persevere in its separate condition“ (Robert Boyle, Some Physico-Theological Considerations about the Possibility of the Resurrection, in: ders., Selected Philosophical Papers, hg. von Michael A. Stewart, Manchester 1979, 192–208, hier 206).
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in einem ganz wesentlichen Sinne nicht mit dem Leib identisch, den wir in diesem Leben haben.11 Diese Denker konzedierten, dass die Auferstehung zwar den Leib betreffe, argumentierten aber, dass, da das göttliche Urteil sich nur auf die Seele beziehe, die Identität des Leibes bei der Auferstehung nicht erforderlich sei.12 Die Auffassung, der gemäß anders als bei der Autorität Pearson die Identität des Leibes bei der Auferstehung nicht verlangt wird, vertrat auch John Locke. Locke wandte sich allerdings auch gegen die traditionelle Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele, der gemäß diese einfach aus der immateriellen Natur der seelischen Substanz deduziert werden könne. Schon früh kritisiert Locke diesen „üblichen Beweis“ für die Unsterblichkeit der Seele, in dem wie folgt argumentiert werde: Materielle Wesen könnten nicht denken, also sei die Seele immateriell; und eine immaterielle Substanz könne auf natürliche Weise nicht zerstört werden; also sei die Seele ihrer Natur nach unsterblich. Locke wendet ein, dass Unsterblichkeit nicht eine „bloße substantielle Existenz und Dauer“ bedeute, wie es der „übliche Beweis“ aber annehme, sondern einen „Zustand der Empfindungsfähigkeit“ (sensibility) involviere, das heißt die Seele müsse sich in einem Zustand des Bewusstseins von Glückseligkeit oder Elend befinden können. Andernfalls, so könnte man hinzufügen, macht auch göttliche Belohnung oder Strafe keinen Sinn. Wenn man die bloße Existenz der Seele nach dem Tode nachgewiesen habe, habe man daher noch nicht gezeigt, dass sie Glück und Elend empfinden könne.13 Von Unsterblichkeit in dem für das Leben nach dem Tode relevanten Sinne könnte dann noch nicht gesprochen werden. Ralph Cudworth beispielsweise betont diesen Aspekt, indem er sagt, dass der Leib bei der Auferstehung ,gereinigt" werde und „transformed into a spiritual and heavenly body“. Daher gilt für Cudworth, dass „the Christian Mystery, of the Resurrection of Life, consisteth not in the Souls being reunited to these Vile Rags of Mortality, these Groß Bodies of ours (such as now they are) but in having them changed into the Likeneß of Christ!s Glorious Body, and in this Mortal!s putting on Immortality“ (Ralph Cudworth, The True Intellectual System of the Universe, London 1678, 799). 12 Arthur Bury, der diese Position vertritt, schreibt: „If Human justice punish an old crime, though between the act and the discovery every particle of the body be chang!d, because the same soul makes him the same person; how can we doubt but Divine justice may at the resurrection do the same?“ (Arthur Bury, The Naked Gospel, London 1690, 71). 13 So argumentiert Locke bereits in einer Tagebuch-Eintragung von 1682. „The usuall physicall proofe (as I may soe call it) of the immortality of the soule is this, Matter cannot thinke ergo the soule is immateriall, noe thing can naturally destroy an immateriall thing ergo the soule is naturally immortall […] But methinks if I may be permitted to say soe neither of these speake to the point in question and perfectly mistake immortality whereby is not meant a state of bare substantiall existence and duration but a state of sensibility. For that way that they use of proveing the soul immortal will as well prove the body soe too. For since noething can naturally destroy a materiall substance more then immateriall, the body will naturally endure as well as the soule for ever […] Whatsoever shall establish the existence of the soule will not therefor prove its being in a state of happynesse or misery, since tis evident that perception is noe more necessary to its being then motion is to the being of body“ (Tagebuch-Eintragung vom 20. Februar 1682, in: John Locke, An Early Draft of Locke!s 11
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Darüber hinaus argumentiert Locke im Essay concerning Human Understanding, dass es weder für Fragen der Moral noch für solche der Religion, und damit für die nach der Unsterblichkeit und des Lebens nach dem Tode, überhaupt erforderlich sei, die Immaterialität der Seele philosophisch bewiesen zu haben.14 Locke geht sogar noch weiter und argumentiert, für die Philosophie der Folgezeit durchaus folgenschwer, dass der Gedanke einer ,denkenden Materie" keinen Widerspruch enthalte, und dass es Gott gewiss möglich sei, einer angemessen organisierten materiellen Substanz Denkfähigkeit zukommen zu lassen.15 Damit unterminiert Locke auch die erste Prämisse des „üblichen Beweises“ für die Unsterblichkeit. Da Locke für eine Konzeption des Lebens nach dem Tode weder die Identität einer immateriellen seelischen Substanz noch die Identität des Leibes für erforderlich hält, stellt sich die Frage, wie es um seine Konzeption des Lebens nach dem Tode bestellt ist. Denn als gläubiger Christ will auch Locke an dieser Vorstellung festhalten. Für diese beruft er sich auf seine neue Theorie der Person.16 Die Person bestimmt Locke weder durch die Seele als Substanz noch durch den menschlichen Körper, sondern durch das Bewusstsein von Gedanken und Handlungen. Der Begriff der sensibility in der zitierten Tagebuchnotiz gibt einen Hinweis auf das Gemeinte. Die Person ist etwas, das mein eigenes Bewusstsein durch die Selbstzuschreibung von Gedanken und Handlungen erst schafft und nicht durch die denkende Substanz schon vorgegeben ist. Das Bewusstsein, das zur Empfindungsfähigkeit oder sensibility gehört, ist das Gewahrsein von Handlungen, Gedanken, von Schmerz und Freude; erst dadurch bin ich überhaupt eine Person. Die Identitätsbedingungen, die für eine plausible Konzeption des Lebens nach dem Tode erfüllt werden müssen, beziehen sich auf die so verstandene Person, nicht auf die denkende Substanz oder Seele und nicht auf den Leib. Und das Essay together with Excerpts from his Journals, hg. von R. I. Aaron und Jocelyn Gibb, Oxford 1936, 121 f. (Hvhg. U.T.). 14 „All the great ends of Morality and Religion, are well enough secured, without philosophical Proofs of the Soul!s Immateriality“ (John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975, Buch IV, Kap. iii, § 6). Auch David Hartley, der zwar eine naturalistische Erklärung der Funktionen des menschlichen Geistes anstrebt und für Materialisten des 18. Jahrhunderts ein wichtiger Bezugspunkt ist, sich aber keineswegs für den Materialismus ausspricht, spielt die Verbindung von Immaterialität und Unsterblichkeit herunter: „[I]t is most worthy of notice, that the immateriality of the soul has little or no connexion with its immortality“ (David Hartley, Observations on Man, 2 Bde., London 1749, Bd. 1, 512). 15 „It […] [is], in respect of our Notions, not much more remote from our Comprehension to conceive, that GOD can, if he pleases, superadd to Matter a Faculty of Thinking, than that he should superadd to it another Substance, with a Faculty of Thinking“ (Locke, Essay [wie Anm. 14], IV.iii.6). 16 Vgl. ausführlich zu dieser Theorie Udo Thiel, The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume, Oxford 22014, 97–150.
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heißt: Das gegenwärtige und das zukünftige Leben wird durch dieses Bewusstsein eine einheitliche und identische Person. Denn es wird ein einheitliches Bewusstsein von den Gedanken und Handlungen geben: Das Bewusstsein der göttlichen Strafe oder Belohnung wird derselben Person angehören, die sich in diesem Leben durch das Bewusstsein von den Handlungen konstituiert hat, die dann Gegenstand des göttlichen Urteils werden.17 Daher müsse der Leib bei der Auferstehung auch nicht mit dem Leib aus diesem Leben identisch sein, obwohl Locke nicht leugnen will, dass wir mit einem Leib auferstehen werden. Es werde sich allein dadurch um ,meinen" Leib handeln, dass er zu derselben Person gehört, das heißt zu dem Ich, dem eine Einheit von Gedanken, Empfindungen und Handlungen eignet. Für sich genommen brauche dem Leib keine Identität über die Zeit hinweg zu kommen, die ihm ja auch in diesem Leben nicht zukomme.18 Da die Identität der Seele, als Substanz, auch nicht für ein Leben nach dem Tode erforderlich ist, braucht Locke sich auch nicht auf die Immaterialität der Seele nach dem Tode festzulegen.19 Nur um unsere Identität als Person gehe es bei der Auferstehung.20 Locke streitet sogar ab, dass im Neuen Testament überhaupt von einer Auferstehung des Leibes die Rede sei oder gar von der Identität des Leibes bei der Auferstehung.21 Vielmehr werde dort von der Auferstehung „derselben Personen“ gesprochen.22
Locke, Essay (wie Anm. 14), II.xxvii.26. „The body he had, and did things in at five or fifteen, was no doubt his body, as much as that which he did things in at fifty was his body, though his body were not the very same body at those different ages: and so will the body, which he shall have after the resurrection, be his body, though it be not the very same with that which he had at five, or fifteen, or fifty“ (John Locke, The Works, hg. von Edmund Law, New Edition, 10 Bde., London 1823, Bd. 4, 308). 19 „It suffices, that all the dead shall be raised, and every one appear and answer for the things done in this life“ (ebd., 312). 20 „And thus we may be able without any difficulty to conceive, the same Person at the Resurrection, though in a Body not exactly in make or parts the same which he had here, the same consciousness going along with the Soul that inhabits it“ (Locke, Essay [wie Anm. 14], II.xxvii.15; Hvhg. U.T.). Vgl. zur Diskussion über Lockes Auffassung zur Auferstehung auch Maria-Cristina Pitassi, Une r1surrection pour quel corps et pour quel humanit1? La r1ponse lockienne entre philosophie, ex1g-se et th1ologie, in: Rivista di storia della filosofia 1998, 45–61. 21 „I do not remember in any place of the New Testament (where the general resurrection at the last day is spoken of) any such expression as the resurrection of the body, much less of the same body“ (Locke, Works [wie Anm. 18], Bd. 4, 304). 22 „The scripture being express, that the same persons should be raised and appear before the judgment-seat of Christ“ (ebd., 324; Hvhg. U.T.). Locke zweifelt zwar nicht daran, „that the dead shall be raised with bodies“, weist aber darauf hin, dass, wenn Paulus „speaks of the resurrection, he says, you, and not your bodies. l.Cor.vi.14“ (ebd., 304). 17 18
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II. Materialismus und Konzeptionen des Lebens nach dem Tode um 1700 Lockes Bestimmung der Person und ihrer Identität durch den Begriff des Bewusstseins verhält sich neutral gegenüber der Frage nach dem Wesen der Seele oder der denkenden Substanz und ist mithin sowohl mit immaterialistischen als auch mit materialistischen Positionen über den Geist oder die Seele vereinbar.23 Es waren allerdings vornehmlich materialistische Denker, die sich im 18. Jahrhundert in einem positiven Sinne auf Locke beriefen. Der bereits erwähnte Joseph Priestley beispielsweise meinte, Lockes Position „was not far from proper materialism“.24 Angesichts der prinzipiellen Vereinbarkeit von Lockes Auffassung vom Leben nach dem Tode mit einer materialistischen Metaphysik überrascht es auch nicht, dass sich Materialisten gerne der lockeschen Position bedienten, wenn sie versuchten, die Vorstellung von einem zukünftigen Leben auf materialistischer Grundlage plausibel zu machen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts akzeptiert beispielsweise der materialistische Denker Henry Layton Lockes Konzeption der Auferstehung, wonach dieselbe Person auferstehe und dasselbe Bewusstsein die diachrone Identität der Person bei der Auferstehung garantiere.25 Denker wie Layton wollen weiterhin eine numerische Identität bei der Auferstehung behaupten, doch bezieht sich die Identität nicht auf den Leib, sondern auf die Person. Da Materie sich ständig verändere und da man stillschweigend die – sehr problematische – Auffassung der immaterialistischen Kritiker akzeptiert, dass Identität mit Veränderung nicht vereinbar sei, zieht man sich auf die lockesche Position zurück, die zwar nicht genuin materialistisch, aber doch mit einer materialistischen Position vereinbar ist. Wir werden sehen, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch Joseph Priestley die lockesche Konzeption in sein System einzubauen versucht. Anders argumentiert zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Materialist William Coward, wenn er die Auffassung zu verteidigen sucht, dass numerische Identität des Leibes für die Auferstehung nicht verlangt werde.26 Man brauche nur eine Wenn hier von ,Immaterialismus" bzw. ,immaterialistischen" Positionen die Rede ist, ist damit nur die These gemeint, dass die menschliche Seele eine immaterielle Substanz sei. 24 Priestley, Disquisitions (wie Anm. 5), 221. 25 „There shall arise and accrue to the same Person the same Sensation, Perception, Understanding, Memory and Conscience that he had before in the Time of his former Life. So as Mr. Locke seems to be in the right, when Fol. 183 of his said Book he teaches, That it is the same consciousness which at the resurrection makes the same person“ (Henry Layton, Observations upon a Short Treatise. Writen by Mr. Timothy Manlove: Intituled, The Immortality of the Soul Asserted, London 1698, 126). 26 William Coward, Second Thoughts concerning the Human Soul, London 1702; William Coward, Further Thoughts concerning the Human Soul, London 1703. 23
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Ähnlichkeitsbeziehung oder eine „specifical identity“, keine numerische Identität anzunehmen.27 Dabei bleibt allerdings unklar, welcher Grad von Ähnlichkeit laut Coward für gerechte göttliche Strafen oder Belohnung ausreichend sein soll. Ohne in diesem Zusammenhang auf weitere Details von Cowards Argumentation eingehen zu können, sei angemerkt, dass sich Coward wie andere auf die bereits erwähnte Vergeistigung unseres Leibes bei der Auferstehung und die entsprechenden Bibelstellen (1 Kor 15,44) beruft, um zu zeigen, dass es sich bei der Auferstehung nicht um denselben, numerisch identischen Leib wie in diesem Leben handeln könne.28 Auch hier betont er die Ähnlichkeitsbeziehung zum Leib in diesem Leben als Kriterium dafür, dass der Leib im zukünftigen Leben mit dem in diesem Leben wesentlich verknüpft sei.29 Was immer wir uns genau unter dieser Vergeistigung des Körpers vorzustellen haben, Coward besteht darauf, dass es sich immer noch um ein materielles Wesen handeln werde, nicht etwa um eine immaterielle Entität.30 Diese Vergeistigung des Leibes beeinträchtige daher keineswegs die Art von Identität, die für gerechten Lohn und Strafe erforderlich sei.31
III. Joseph Priestleys Materialismus und Konzeption des Lebens nach dem Tode Im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der psychologische Materialismus dank Entwicklungen in der Physiologie und einer damit zusammenhängenden Entstehung eines neuen dynamischen Materie-Begriffs immer mehr zu einer wirkmächtigen Kraft in der Philosophie des Geistes.32 Einer der wichtigsten und bekanntesten materialistischen Denker aus dieser Zeit ist der bereits zi„A Specifical Identity is sufficient, not a Numerical, as to all the particles Man!s Body was compounded of, when he died. Where by the by, do not mistake me as if I excluded a Numerical Difference, for what are specifically the same must be Numerically Different; nor do I take Body as a part of Man contradistinct to his Soul, but for a Living Man, when I apply it to Man“ (Coward, Further Thoughts [wie Anm. 26], 85 f.). 28 Vgl. hierzu Thiel, Early Modern Subject (wie Anm. 16), 90–93 und ders., Religion and Materialist Metaphysics (wie Anm. 6), 99–101. 29 „The Similitude of the same Man, compos!d of Spiritualiz!d Flesh, seems to be sufficient“ (Coward, Second Thoughts [wie Anm. 26], 434; Hvhg. U.T.). 30 „But I tell you still, that it will be your Body, and not a Spirit, or Spiritual Substance, that will be so raised and spiritualiz!d“ (ebd., 428 f.). 31 „So that the Change here meant, seems no ways to infer a Change of Man into some other different Being or Creature, but only from a State of Imperfection to one of great Perfection, i. e. From a Natural Body to a Spiritual Body, Man still retaining Body as when living upon Earth“ (ebd., 439). 32 Zu dieser Entwicklung vgl. John W. Yolton, Thinking Matter, Oxford 1983; ders., Locke and French Materialism, Oxford 1990. 27
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tierte Joseph Priestley. Im Gegensatz zu vielen anderen Materialisten des 18. Jahrhunderts, die ihren Materialismus thesenhaft oder als Doktrin vortragen, geht Priestley argumentativ vor und erörtert ausführlich das Für und Wider, geht auf Einwände ein, analysiert Probleme der Gegenposition und stellt einen Bezug zu den Wissenschaften seiner Zeit her. Priestley hält den christlichen Glauben mit dem Materialismus nicht nur für vereinbar, sondern er behauptet sogar, dass das wahre Christentum materialistisch sei. Der Gedanke einer den Körper überlebenden immateriellen Seele sei dem Christentum ursprünglich ganz fremd gewesen und erst später aus der orientalischen und griechischen Philosophie in das christliche Denken eingeführt worden.33 Allerdings erkennt Priestley, wie eingangs angedeutet, die Herausforderung für einen christlichen Materialisten, die darin besteht, eine konsistente Konzeption des Lebens nach dem Tode zu entwickeln. Und er sieht, dass eine solche Konzeption nur über die Lehre von der Auferstehung gelingen kann. In seinem materialistischen Hauptwerk Disquisitions relating to Matter and Spirit von 1777 argumentiert Priestley für zwei Erklärungen der Auferstehung des Leibes, die beide nicht genuin materialistisch sind und auf Denker zurückgehen, die keine Materialisten sind. Erstens bezieht er sich auf seine „eigene Meinung“, dass der Leib bei der Auferstehung derselbe sei wie in diesem Leben.34 Für diese Auffassung verweist Priestley vor allem auf die Keim-Theorie von Charles Bonnet.35 Bonnets Konzeption der Auferstehung und der Identität des Leibes ist Teil eines komplexen naturalistischen Systems, das er in seinem Riesenwerk La Paling)n)sie philosophique (1769) vorstellt.36 Sein System schöpft aus einer Vielzahl naturwissenschaftlicher, psychologischer und metaphysischer Quellen, und ist nicht unwesentlich vom (des Materialismus unverdächtigen) System eines Leibniz beeinflusst, auch wenn Bonnet diesen in Bezug auf einzelne Punkte scharf kritisiert.37
„The common opinion of the soul of man surviving the body was […] introduced to christianity from the Oriental and Greek philosophy, which in many respects exceedingly altered and debased the true christian system“ (Priestley, Disquisitions [wie Anm. 5], 156). Vgl. zu Priestley auch Thiel, Religion and Materialist Metaphysics (wie Anm. 6), 101–106. 34 Priestley, Disquisitions (wie Anm. 5), 156. 35 Ebd., 161. 36 Charles Bonnet, La Paling1n1sie philosophique, ou Id1es sur l!1tat pass1 et sur l!1tat futur des Þtres vivans, 2 Bde., Genf 1769. Vgl. auch Charles Bonnet, Essai analytique sur les facult1s de l!(me, Kopenhagen 1760; Charles Bonnet, Essai de psychologie; ou Consid1rations sur les op1rations de l!(me, sur l!habitude et sur l!1ducation, London 1755. Zu Bonnets Behandlung der personalen Identität gibt es noch nicht viel Literatur. Relevant ist beispielsweise Lorin Andersons, Charles Bonnet and the Order of the Known, Dordrecht 1982, 105–111. 37 Vgl. Olivier Rieppel, The Reception of Leibniz!s Philosophy in the Writings of Charles Bonnet (1720–1793), in: Journal of the History of Biology 21 (1988), 119–145. 33
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Ein Aspekt von Bonnets allgemeiner Theorie der Lebewesen, die er in seinem System entwickelt, ist direkt für das Thema der Auferstehung relevant. So wie es Seelen in allen Lebewesen gebe, meint Bonnet, bestehe der Körper jedes Lebewesens aus individuellen „Keimen“, die für diesen wesentlich seien und die unzerstörbar bei allen Veränderungen des Körpers beharrten. Auch dem menschlichen Leib sind daher solche Keime zuzuschreiben. Diese haben u. a. auch die Funktion, die Identität des physischen Selbst bei der Auferstehung des Leibes zu garantieren. Die Verbindung zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Zustand nach dem Tode ist damit für Bonnet von ganz natürlicher Art. Belohnungen und Strafen im zukünftigen Leben sind hiernach einfach Resultat einer natürlichen Verknüpfung zwischen den beiden Stadien im Leben eines Menschen. Genaugenommen bestraft Gott gar nicht, sondern er hat vielmehr eine Ordnung geschaffen, in der Tugend Quelle des Guten und Laster Quelle des Bösen sei.38 Durch Bonnets Keim-Theorie wird die Auferstehung als Wirkung von Naturgesetzen erklärbar und ist kein übernatürliches Mysterium mehr.39 Schon vor Bonnet hat der englische Philosoph Isaac Watts in seinen Philosophical Essays von 1733 eine ähnliche Theorie vorgetragen, auf die sich Priestley ebenfalls bezieht. Watts führt den Begriff von wesentlichen oder samenartigen Teilchen ein, eine Vorstellung, die auch dem oben erwähnten Gedanken Humphry Hodys ähnelt, der sich auf die biblische Samen-Analogie beruft.40 Watts ist nach eigenem Bekunden eher ein eklektischer als ein systematischer Denker.41 Die Philosophical Essays enthalten ausführliche kritische Auseinandersetzungen mit vielen philosophischen Positionen, insbesondere von Locke, obwohl er sich allgemein auch sehr positiv über Locke als Denker äußert. Anderseits preist er die cartesianische Philosophie des Geistes, folgt aber nicht dem cartesianischen, sondern dem newtonschen System, was die materielle Welt betrifft. Seine Konzeption vom Leben nach dem Tode entwickelt Watts in Auseinandersetzung mit Locke. Er ist mit Locke insofern einig, als auch er meint, es könne sich bei der Auferstehung nicht in dem Sinne um denselben Leib wie in diesem Leben handeln, dass alle materiellen Teilchen identisch wären.42 Doch im Gegensatz zu Locke insistiert Watts, dass es sich in einem bestimmten Sinne bei der Auferstehung doch um denselben Leib wie in diesem Leben handeln müsse, denn der Bonnet, Paling1n1sie (wie Anm. 36), Bd. 1, 313. Bonnet, Essai analytique (wie Anm. 36), § 743; Bonnet, Paling1n1sie (wie Anm. 36), Bd. 1, 311 f. 40 Isaac Watts, Philosophical Essays on Various Subjects. With Remarks on Mr. Locke!s Essay on the Human Understanding, London 1733; zitiert nach der 3. Aufl. 1742 (Nachdruck Bristol 1990). Watts behandelt das Thema der Auferstehung des Leibes auf den Seiten 183–195. 41 Watts, Philosophical Essays (wie Anm. 40), v–viii. 42 „It cannot be the very same Body in all the Particles or Atoms of it which were united to the Soul in this World, that shall be raised and united to it in the Resurrection“ (ebd., 188). 38
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Apostel Paulus sage, dass der Leib bei der Auferstehung in einigen, wenn auch nicht in allen Hinsichten mit dem Leib aus diesem Leben identisch sei.43 Obwohl der Leib bei der Auferstehung unzerstörbar sei und im Sinne des glorreichen Leibes Christi geschaffen werde, handele es sich dennoch um denselben Leib in dem Sinne, dass es schon in diesem Leben einige dem individuellen menschlichen Körper wesentliche samenartige ursprüngliche Teilchen gebe, von Watts auch stamina oder „staminal particles“ genannt, die sich nie verändern und die es uns daher erlauben, mit Recht nicht nur im Laufe dieses Lebens, sondern auch bei der Auferstehung von demselben Leib zu sprechen. Und wenn dieser mit derselben Seele vereinigt werde, sei der auferstandene Mensch dieselbe Person, die gestorben sei. Watts behauptet nicht, einen Beweis für seine Theorie zu haben, hält sie jedoch wenigstens für „sehr wahrscheinlich“. Sie ist für ihn eine Hypothese, ein Modell, mittels dessen wir die diachrone Identität des menschlichen Leibes in diesem und im zukünftigen Leben erklären können, ohne behaupten zu müssen, wir wüssten genau, welche Teilchen im menschlichen Körper diese Funktion als stamina erfüllen.44 Priestley bezieht sich auf Watts und Bonnets Theorien von ,Keimen" oder samenartigen Teilchen als eine einzige oder einheitliche Theorie, die es erlaubt, den Glauben an die Identität des Leibes bei der Auferstehung rational zu begründen. Er ist davon überzeugt, dass man im strengen Sinne von demselben Leib bei der Auferstehung sprechen könne, nicht in Bezug auf alles, was ihm äußerlich etwa durch Ernährung zugekommen sei, aber doch in Bezug auf die stamina oder die Teilchen, die zur Keimzelle des organischen Leibes gehörten.45 Priestley gibt den spekulativen Charakter dieser Lehre zu, betont aber auch die Tatsache, dass diese Lehre bei Bonnet von naturwissenschaftlichen Untersuchungen ausgeht.46 Darüber hinaus behauptet er, dass eine Theorie der leiblichen Identität im Sinne von stamina oder ,Keimen" ganz und gar mit den Äußerungen des Paulus über die Auferstehung übereinstimme, wenn dieser die Auferstehung mit einer WiederbeleEbd., 184, 190. Ebd., 190 f. 45 „I doubt not but that, in the proper sense of the word, the same body that dies shall rise again, not with everything that is adventitious and extraneous (as all that we receive by nutrition) but with the same stamina, or those particles that really belonged to the germ of the organical body. And there can be no proof that these particles are ever properly destroyed, or interchanged. This opinion was advanced by Dr. Watts, and no man can say that it is unphilosophical“ (Priestley, Disquisitions [wie Anm. 5], 161). 46 „That excellent philosopher Mr. Bonnet supposes (and advances a variety of arguments from new and curious experiments on the reproduction of the parts of animals to prove) that all the germs of future plants, organical bodies of all kinds, and the reproducible parts of them, were really contained in the first germ. […] Those who laugh at the mere mention of such a thing have certainly a small share of natural science, which indeed generally accompanies conceit and dogmatism“ (ebd., 161 f.). 43 44
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bung eines Samens vergleiche, der gesät wurde und scheinbar verstorben sei. Denn der Keim oder der Samen sterbe nicht, und in unserem zukünftigen Zustand nach dem Tod können wir so verschieden von unserem gegenwärtigen Zustand sein wie die Pflanze von dem Samen und doch wesentlich dieselben sein.47 Obwohl Priestley einerseits die naturalistische Erklärung im Sinne von Bonnets Keimen und Watts stamina akzeptiert und es als seine „eigene Meinung“ darstellt, dass der Leib bei der Auferstehung mit dem in diesem Leben identisch sei, fügt er eine zweite Konzeption der Auferstehung hinzu, für diejenigen, wie er sagt, die der Keimtheorie skeptisch gegenüberstehen mögen.48 Denn auch die Auffassung, dass es keine leibliche Identität bei der Auferstehung gebe, sei durchaus vereinbar mit einem Zustand zukünftiger Strafen und Belohnungen. Dieses wie auch unsere Hoffnungen und Befürchtungen diesbezüglich seien nicht von einer solchen Identität abhängig.49 Priestley argumentiert, dass leibliche Identität bei der Auferstehung zwar möglich, aber nicht notwendig für eine sinnvolle Konzeption des Lebens nach dem Tode sei. Sollte man die naturalistische Erklärung leiblicher Identität bei der Auferstehung, wie sie bei Bonnet vorliegt, nicht akzeptieren können, dann sei es sinnvoll, auf Lockes Lösung des Problems zurückzugreifen. Denn Locke erkläre die Möglichkeit personaler Identität bei der Auferstehung, ohne dabei die Identität des Leibes einzubeziehen. Und so argumentiert Priestley, Locke folgend, dass das Ich, selbst wenn seine materielle Substanz sich vollkommen veränderte, so dass eine „complete change of the man“ vorläge, es dank der Kontinuität des Bewusstseins doch dieselbe Person bliebe.50 Schließlich komme es nur auf diese personale Identität an, wenn es um Verantwortlichkeit für und Zuschreibung von Handlungen gehe.51 Es sei die personale Identität, nicht die Identität des Menschen, die als Grundlage für unsere Hoffnungen und Befürchtungen mit Blick auf die Zukunft fungieren solle.52
„For the germ does not die, and in our future transformation we may be as different from what we are in our present state, as the plant is from the seed, or the butterfly from the egg, and yet be essentially the same“ (ebd., 162). 48 Ebd., 161. 49 „The propriety of rewards and punishments, with our hopes and fears derived from them, do not at all depend on such a kind of identity“ (ebd., 157). 50 Ebd., 159. 51 „As far as the idea of identity is requisite as a foundation for rewards and punishments, the sameness and continuity of consciousness seems to be the only circumstance attended to by us“ (ebd.). 52 Ebd., 158. Vgl. auch folgenden Passus: „In this case, were any person fully persuaded, that every particle of which he consisted should be changed, he would, nevertheless, consider himself as being the same person to-morrow, that he was yesterday, and the same twenty years hence, that he was twenty years ago; and, I doubt not, he would feel himself concerned as for a future self, and regulate his conduct accordingly“ (ebd., 159). 47
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Priestley meint demnach, dass die Lehre von der Auferstehung und damit die des Lebens nach dem Tode für den Materialisten kein Problem darstelle, denn man könne diese Lehren auf zwei unterschiedliche und doch kompatible Weisen plausibel machen, einmal durch die Erklärung, die sich auf angenommene Keime oder stamina beruft, und einmal im Sinne Lockes durch Berufung auf die Kontinuität des Bewusstseins. Die Tatsache jedoch, dass Priestley nicht in der Lage zu sein scheint, eine genuin materialistische Erklärung zu liefern und sich stattdessen auf Theorien beruft, die gleichermaßen mit materialistischen und immaterialistischen Auffassungen von der menschlichen Seele vereinbar sind, deutet darauf hin, dass er trotz aller gegenteiliger Versicherungen sich dessen bewusst ist, dass das Thema ein Problem für den Materialismus darstellt. Wenn sein Kritiker Richard Price ihn diesbezüglich zur Rede stellt, weigert sich Priestley dementsprechend, darauf überhaupt detailliert einzugehen. Er verteidigt nicht Bonnet, Watts oder Locke und weist lediglich darauf hin, dass er hinsichtlich dieses Themas offen über Prinzipien spekuliere, die nicht seine eigenen seien, und die Stärke des Arguments gerne dem Urteil des Lesers überlasse.53 IV. Die „Nicht-Existenz“ von Identität und das Leben nach dem Tode: Thomas Cooper Priestleys heute kaum bekannter philosophischer Schüler Thomas Cooper (1759–1839) entwickelt in einer umfangreichen Abhandlung zum Identitätsthema von 1787 eine radikalere Erklärung der Auferstehung als sein Vorgänger, indem er die Implikationen der materialistischen Position für die Auferstehungslehre akzeptiert und sie in diese zu integrieren versucht.54 Wie Priestley ist Cooper der Meinung, dass der psychologische Materialismus nicht nur gute Metaphysik sei, sondern auch im christlichen Evangelium vom Begründer des Christentums vertreten werde.55 Er behauptet, dass die Lehre der Heiligen Schrift über die Auferstehung mit der Konzeption einer separaten, immateriellen und unsterblichen Seele unvereinbar sei.56 Laut Cooper braucht man für den Glauben an ein Leben
Priestley, in: A Free Discussion of the Doctrines of Materialism and Philosophical Necessity, in a Correspondence between Dr. Price and Dr. Priestley, London 1778, 75, 109. 54 Thomas Cooper, Tracts, Ethical, Theological, and Political, London 1787, 305–464; Nachdruck in: Udo Thiel (Hg.), Philosophical Writings of Thomas Cooper, 3 Bde., Bristol 2001, hier Bd. 1. Zu Cooper vgl. Udo Thiel, Introduction, in: ebd., Bd. 1, v–xix. 55 Vgl. Coopers Vorwort zu seiner Ausgabe von FranÅois-Joseph-Victor Broussais, On Irritation and Insanity, Columbia, South Carolina 1831, viii. 56 „The Scripture Doctrine of the resurrection is what is now called materialism: and […] it is inconsistent with the notion of a separate, immaterial and immortal soul“ (Thomas Cooper, The 53
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nach dem Tode nicht nur nicht den Begriff einer immateriellen Seele, sondern auch nicht den Gedanken, dass der Leib bei der Auferstehung derselbe wie in diesem Leben sei. Coopers philosophische Hauptthese ist hier, dass es Identität von Gegenständen und Personen gar nicht gebe (und nicht geben könne). Während William Coward zu Beginn des 18. Jahrhunderts argumentiert hatte, dass Identität bei der Auferstehung möglich, aber nicht erforderlich sei, gilt für Cooper gegen Ende des Jahrhunderts, dass Identität weder möglich noch erforderlich sei. Denn diese „non-existence“ der Identität müsse nicht die Sorge beeinflussen, die wir uns über unser zukünftiges Leben machten.57 Die philosophische These basiert auf einem problematischen Aspekt von Coopers Definition von Identität. Diese bestimmt er nämlich als etwas, das jegliche Veränderung ausschließe.58 Dieses Verständnis von Identität war im 18. Jahrhundert wie bereits angedeutet sowohl bei Materialisten als auch bei Immaterialisten weit verbreitet – und auch David Hume war dieser Auffassung. Damit versperrt man sich offensichtlich die Möglichkeit, überhaupt von Identität von materiell aufgefassten Gegenständen und Personen sprechen zu können. Als Materialist muss Cooper dann behaupten, dass Substanzen strenggenommen die Eigenschaft diachroner Identität nicht zukommen könne.59 Wenn wir umgangssprachlich dennoch Gegenständen Identität zuschrieben, so gehe unsere Evidenz für eine solche Zuschreibung nie über teilweise Ähnlichkeit hinaus.60 Kurz, für Cooper involviert die These von der leiblichen Identität unüberwindbare systematische Probleme, und sie stehe zudem im Widerspruch zur Heiligen Schrift.61 Dementsprechend weist Cooper alle ihm bekannten Versuche zurück, die Vorstellung von einer Identität bei der Auferstehung plausibel zu machen, und geht besonders auf die hier diskutierten Positionen von Locke, Bonnet, Watts und Scripture Doctrine of Materialism, Philadephia 1823; Nachdruck in Coopers Ausgabe von Broussais! On Irritation and Insanity [wie Anm. 55], 301–329, hier 310). 57 Cooper, Tracts (wie Anm. 54), 356, 454. Zu einer Diskussion von Coopers allgemeiner Theorie der Identität vgl. Udo Thiel, Locke and Eighteenth-Century Materialist Conceptions of Personal Identity, in: The Locke Newsletter 29 (1998), 59–83. Siehe auch ders., Religion and Materialist Metaphysics (wie Anm. 6), 107–110. 58 Cooper, Tracts (wie Anm. 54), 308, 435. 59 Ebd., 356. 60 Ebd., 355, 373. 61 Ebd., 438 f. Das systematische Problem besteht für Cooper darin, dass es sich, wie man sich die Auferstehung auch vorstellen mag, jedenfalls nicht um einen ganz unveränderten Leib handeln werde. „But whatever is changed, however it be changed, or in whatever degree, cannot be said to remain the same, and therefore at the resurrection, in all probability, we shall not (accurately speaking) rise the same persons, that at any former time we were“ (ebd., 452 f.). Dies verweist wieder auf die Tatsache, dass das systematische Problem eigentlich in Coopers eigener Konzeption von Identität liegt, gemäß der Identität mit jeglicher Veränderung unvereinbar ist.
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Priestley ein. Lockes Unterscheidung zwischen der Identität des Menschen und der Identität der Person weist Cooper zurück und argumentiert, dass Bewusstsein eine Eigenschaft einer materiellen Struktur sei und materielle Strukturen wie menschliche Gehirne ständig der Veränderung unterworfen seien; daher könne das Bewusstsein, das zu dieser materiellen Struktur gehöre, auch nicht über die Zeit hinweg identisch bleiben62 – eine problematische These. In ähnlicher Weise argumentiert Cooper gegen die Auffassung, dass die „Organisation“ der materiellen Teile in einem Lebewesen die Identität des Menschen oder der Person bei der Auferstehung konstituiere. Denn es könne keine identische Struktur oder Organisation bei ständiger Veränderung der Teile, die organisiert oder strukturiert werden, geben63 – ebenfalls eine problematische These. Bonnets Keimen und Watts! stamina ergeht es in Coopers Analyse nicht besser. Bonnets „prä-existierende Keime“ seien obskure Entitäten, die von Bonnet in die „Welt der Mutmaßungen“ eingeführt worden seien. Sie hätten ebenso wie Watts! stamina einen sehr zweifelhaften Anspruch auf reale Existenz.64 Und da Cooper weder die Erklärungen von Bonnet/Watts noch die von Locke akzeptiert, sieht er auch keinen Grund, Priestleys Konzeption zu akzeptieren, dessen diesbezügliche „Hypothese“ er ganz richtig als eine „Kombination“ von Lockes Theorie der personalen Identität und Watts" Theorie der Identität des Menschen ansieht.65 Wie angedeutet hält Cooper seine Auffassung von der „Nicht-Existenz“ der Identität nicht für ein Problem für seinen Glauben an die Auferstehung. Identität sei weder für gerechte Belohnungen und Strafen noch für unsere gegenwärtige Sorge um das zukünftige Leben erforderlich. Cooper spricht daher von einer „non-necessity of identity toward future existence“.66 Er meint vielmehr, dass die Auferstehung am besten durch seine Hypothese von der „Nicht-Existenz“ der Identität erklärt werden könne. Seine Argumentation erinnert hier teilweise an Aspekte, die uns bereits bei William Coward begegnet sind. Damit göttliche Strafen und Belohnungen gerecht sein könnten, meint Cooper, bedürfe es keiner Identität, sondern nur einer Ähnlichkeit zwischen der Person bei der AufersteEbd., 430 f. „For new organs are either perpetually forming or old ones decaying, both in animals and vegetables: additions, diminutions, obstructions or alterations are perpetually going forward. But the organization of an animal or vegetable is compounded of its several organs; and these being perpetually altering, the aggregate cannot remain unaltered“ (ebd., 384). 64 Ebd., 431 f. Selbst wenn diese Keime existierten, könnten sie nicht Identität konstituieren: „For the new properties at first induced by the stimulus of the male secretion on the irritable embryo, and the susbsequent perpetual increase and change of properties, will render its future identity still more hypothetical than its present existence. Neither is it possible to avoid the conclusions deducible from actual phenomena, respecting the perpetual alteration these germs […] must undergo“ (ebd., 432 f.). 65 Ebd., 353. 66 Ebd., 454, vgl. 458. 62 63
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hung und in diesem Leben. Allgemein gelte, dass uns keine Grundlage zur Verfügung stehe, auf der wir mehr als Ähnlichkeit über einen Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten seiner Existenz aussagen könnten.67 Freilich setzt Coopers Formulierung, die von „dieser Existenz“ spricht, also von ein und derselben Existenz zu verschiedenen Zeitpunkten, die von ihm verbal negierte Identität schon voraus. Für Cooper ist Ähnlichkeit aber auch eine der Relationen, die für die Rationalität meiner Sorge um das Leben nach dem Tode relevant sind. Denn ein hoher Grad von Ähnlichkeit bedeute immerhin eine Annäherung an die Identität; und diese Ähnlichkeit reiche auch in diesem Leben dafür aus, dass ein Mensch sich heute um den Menschen, der er morgen sein wird, besorge.68 Andere relevante Relationen betreffen (1) Abhängigkeit und (2) psychologische Kontinuität. Zu (1) führt Cooper zunächst aus, dass auch in diesem Leben gelte, dass der Mensch von einem Tag zum anderen zwar nicht in einem strengen Sinne identisch bleibe, dass aber ein Mensch morgen in seiner Existenz von dem Menschen heute abhängig sei. Entsprechendes gelte für das Leben nach dem Tode: Obwohl wir im zukünftigen Leben nicht dieselben Personen sein werden, wird die zukünftige Existenz jedoch zu der in diesem Leben in einer Abhängigkeitsrelation stehen.69 Darum gebe es in diesem Leben auch genug Gründe, sich um das Leben nach dem Tode zu sorgen. Denn der gegenwärtige Mensch wisse, dass ein zukünftiges Wesen, dessen Existenz von seiner gegenwärtigen Existenz abhängt, für die Handlungen des gegenwärtigen Menschen belohnt oder bestraft werden wird, und sei daher auch motiviert, in diesem Leben das moralisch Richtige zu tun und sich vom Schlechten abzuwenden.70 Wir antizipieren, so könnte man sagen, die zukünftige Person in einer Weise, als ob sie mit unserer gegenwärtigen Person identisch wäre. Schließlich versucht Cooper die hier relevante Abhängigkeitsrelation zu präzisieren, indem er darauf hinweist, dass diese stärker bzw. enger oder näher sein müsse als die, die zwischen mir und anderen von mir abhängigen Personen besteht, etwa zu meinen eigenen Kindern.71 „Similarity is all that a reasonable being, deciding according to evidence, can actually predicate in any case of the existence of a living human creature, at any two moments of that existence“ (ebd., 456). 68 „The approximation to identity, i. e. the high degree of similarity between the two men […] [is] sufficient to make one care about the other: and in fact they do so“ (ebd., 463; Hvhg. U.T.). 69 „As the man of to-morrow, though not in all points the same with, yet depends for his existence upon the man of to-day, there is sufficient reason to care about him“ (ebd., 462; Hvhg. U.T.). 70 „A good man knowing that a future being, whose existence depends upon his, will therefore be punished or rewarded as the actions of the present man (whose habits and associations will be propagated) deserve, will have a sufficient motive to do right and abstain from wrong“ (ebd., 463; Hvhg. U.T.). 71 „The man of a twelvemonth hence, or some more indefinitely long period, depending for his existence and properties on the man of to-day, is nearer to the latter considerably, with respect to the interest the latter has in him, than the children of this man of to-day, and yet the children of a person, 67
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Zu (2) sagt Cooper, dass so, wie ein Mensch morgen sich an die Handlungen des heutigen Menschen erinnern werde, er sich nach dem Tode an die Handlungen in diesem Leben erinnern werde. Da er wisse, dass diese Handlungen ihm aus diesem Grunde in der Zukunft zugeschrieben werden und die Konsequenzen die zukünftige Person betreffen werden, könnten die Handlungen ihm nicht gleichgültig sein.72 Hier ist es wichtig festzuhalten, dass für Cooper die Erinnerungsrelation zwar den heutigen mit dem morgigen Menschen verknüpft, aber keineswegs eine Identität konstituiert. Coopers Erklärung der Auferstehung und damit seiner Konzeption des Lebens nach dem Tode kann offensichtlich nicht überzeugen. Trotz der angesprochenen Präzisierungsversuche erklärt er die relevante Abhängigkeitsrelation nicht genau und ausführlich genug. Auch seine Berufung auf einen hohen Grad von Ähnlichkeit lässt wie schon bei William Coward zu Beginn des 18. Jahrhunderts offen, welcher Grad von Ähnlichkeit genau erforderlich ist, damit eine Sorge um das Leben nach dem Tode rational begründet sein kann. Ein Hauptproblem bezieht sich wie bereits erwähnt auf seine Konzeption der Identität, indem er wie die meisten seiner immaterialistischen Gegner und auch die meisten Materialisten meint, diachrone Identität sei selbst mit bloß teilweiser Veränderung nicht vereinbar.
IV. Schluss Die materialistische Diskussion über das Leben nach dem Tode ist offensichtlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in eine Sackgasse geraten, indem sie sich wie im Falle Coopers in eine aussichtslose Situation hineinargumentiert hat, die verlangt, eine Konzeption des zukünftigen Lebens zu entwickeln, ohne sich auf diachrone Identität berufen zu können. Natürlich gab es auch trotz Cooper und anderen weiterhin philosophische Verteidigungsversuche der Lehre von der Auferstehung. Dabei scheinen die verfügbaren Argumente für und wider die leibliche Identität bei der Auferstehung um die Jahrhundertwende bereits erschöpft gewesen zu sein. Man berief sich meist auf altbekannte Spekulationen. Samuel Drew beispielswei-
though at the utmost only half his, furnish very strong motives to care and anxiety concerning them, and a guard upon a man!s present conduct, in consideration of the effect it will have upon their future happiness“ (ebd., 464 f.). 72 „The man of to-morrow possessing a reminiscence of the actions of the man to-day, and knowing that those actions will be referred to him, both by himself and others, they cannot be indifferent to the man to-day, who looks forward to the properties of the man to-morrow“ (ebd., 462 f.; Hvhg. U.T.).
Materialismus und Konzeptionen des Lebens nach dem Tode
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se bezieht sich 1809 wieder positiv auf Isaac Watts! staminal particles.73 Schließlich argumentiert aber W. R. Alger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass die Versuche von Materialisten, das Leben nach dem Tode zu erklären, von vornherein zum Scheitern verurteilt seien. Wenn man den Materialismus akzeptiere, schreibt Alger nicht ganz zu Unrecht, solle man auch die Implikationen akzeptieren und die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode ganz und gar zurückweisen: „Once admit that the body is all, its dissolution a total death, and you are gone forever“.74 Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Verhältnis materialistischer Theorien des menschlichen Geistes zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bzw. zu Konzeptionen des Lebens nach dem Tode. Die meisten englischen Materialisten hielten am Christentum fest und suchten dieses und damit auch den Gedanken eines zukünftigen Lebens mit dem psychologischen Materialismus kompatibel zu machen. Da man die Immaterialität und natürliche Unsterblichkeit der Seele ablehnte, sah man sich gezwungen, die Hoffnung auf ein zukünftiges Leben ganz auf die materielle Seite zu verlagern, das heißt auf die Auferstehung des Leibes zu beziehen. Da die christliche Vorstellung von einem zukünftigen Leben die Identität des Menschen für die Möglichkeit gerechter göttlicher Strafen im anderen Leben voraussetzt, gerät für die Materialisten die Frage nach der Identität des Leibes bei der Auferstehung ins Zentrum der Erörterungen. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf den Versuchen Joseph Priestleys und seines kaum bekannten philosophischen Schülers Thomas Cooper, dieses Problem anzugehen. Dabei zeigt sich, dass die materialistische Diskussion sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in eine Sackgasse manövriert, indem sie wie im Falle Coopers einerseits an der traditionellen Konzeption des zukünftigen Lebens festhalten will, aber anderseits leugnet, dass die theologisch geforderte Identität überhaupt möglich sei. This paper examines how materialist theories of the mind relate to the doctrine of the immortality of the soul and to conceptions of a future life after death. Most English materialists remained Christian and attempted to make their materialism compatible with Christianity and the notion of a future life. As they rejected the idea of an immaterial and naturally immortal soul, materialists had to argue that the hope for a future life rests totally on the material part of man, and that is on the resurrection of the body. To ensure that divine rewards and punishments be just, the Christian idea of a future life involves the notion of the identity of man at the resurrection. Therefore, for Christian materialists the question of what constitutes the identity of the body at the resurrection becomes central. The focus of this paper is on the attempts by Joseph Priestley and his little known philosophical pupil Thomas Cooper to deal with this issue. It becomes apparent that at the end of the eighteenth century the materialist debates arrive at an impasse. This is evident in the case of Cooper
Samuel Drew, An Essay on the Identity and General Resurrection of the Human Body, London 1809, 237–264. „The sameness of our future Bodies must be constituted by some Germ or Stamen“ (237), denn „that in which sameness consists must remain immovable also“ (247). 74 Alger, Critical History (wie Anm. 1), 503. 73
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who wants to hold on to the idea of a future life but denies that the identity demanded by theology is even possible. Prof. Dr. Udo Thiel, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Philosophie, Heinrichstraße 33, A-8010 Graz, E-Mail: [email protected]
G!nther Mensching Die Sterblichkeit der Seele im französischen Materialismus
Die Frage nach der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele scheint im Materialismus der französischen Aufklärung sehr eindeutig und ohne viel Aufwand beantwortet zu sein. Die Vorstellung, dass es im Menschen eine Instanz geben sollte, die sein zeitliches Dasein übersteht und womöglich nach dem Tode in einen unvergänglichen seligen Zustand eintritt, erschien den Protagonisten des Materialismus im 18. Jahrhundert als ein Aberglaube, der zwar womöglich Jahrtausende alt ist, aber für die moderne Wissenschaft keines Beweises fähig war. So schreibt Paul-Henri Thiry d!Holbach in seinem berühmten oder auch berüchtigten System der Natur über die Seele: Alles beweist uns auf die überzeugendste Art, daß ihr Wirken und ihre Bewegungen denselben Gesetzen folgen wie die übrigen Dinge der Natur; daß sie nicht vom Körper unterschieden werden kann, daß sie entsteht, wächst und sich in demselben Maße modifiziert wie er; daraus ist nun auch zu schließen, daß sie mit ihm zugrunde geht.1
Das Argument erscheint einfach, es liegt in der Linie der Reduktion alles Seienden auf die materielle Natur. Dennoch enthält es eine Aussage, der die traditionelle philosophische und theologische Lehre von der Unsterblichkeit der individuellen Seele nur schwer etwas entgegenzusetzen weiß. In dem Zitat ist die psychische Entwicklung des Individuums angedeutet. Die Frage wäre danach: Welche Seele ist unsterblich, die des Säuglings, die er mit auf die Welt bringt oder die des Greises, die womöglich manche ihrer Funktionen nicht mehr ausüben kann? Offensichtlich ist doch – so scheint es – dass die seelischen Vermögen mit den sich entwickelnden oder schwindenden körperlichen wachsen oder abnehmen. Sogleich aber stellt sich die Frage, woraufhin von einer und derselben Seele des Individuums gesprochen werden kann, zumal zwischen den psychischen Eigenschaften eines Säuglings oder Kleinkindes und denen des daraus herangewachsenen Menschen oft nur schwer eine Kontinuität oder Ähnlichkeit festzustellen ist. Gibt es also nicht doch einen identischen Kern im Menschen, der auf rein physische GePaul-Henri Thiry d!Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, übers. von Fritz-Georg Voigt, Berlin 1960, 188. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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gebenheiten nicht zurückgeführt werden kann und der deshalb auch als unvergänglich angenommen werden muss? Wie aber können wir andererseits mit Gewissheit von ihm reden, wenn die Physiologie hierfür keine Grundlage liefert? Mit diesem Widerstreit ist eine Problematik bezeichnet, die das Verhältnis der materialistischen Aufklärung zur Frage der Sterblichkeit der Seele betrifft. Es ist darüber hinaus der Antagonismus zwischen einem auf empirische Verifikation setzenden Denken, das seine Aussagen, wo immer möglich, durch sinnliche Gewissheit bestätigen will, und einer geistigen Orientierung, die ihre Einsichten durch gedankliche Konstruktion und durch logische Schlussfolgerung gewinnt, auch gegen den zuweilen täuschenden Augenschein. Der Streit geht also um einen der zentralen Begriffe der Metaphysik, den der Seele. Deren Daseinsberechtigung bestreitet der französische Materialismus ganz grundsätzlich. So schreibt Holbach: [Der Mensch] wollte zu seinem Unglück die Grenzen seiner Sphäre überschreiten und versuchte, sich über die sichtbare Welt zu erheben; und unaufhörlich belehrten ihn wiederholte schreckliche Rückfälle vergeblich über die Torheit seines Unternehmens: er wollte Metaphysiker sein, ehe er Physiker war; […] er wollte wissen, welches Schicksal ihn in den Regionen eines jenseitigen Lebens erwartet, ehe er daran dachte, an dem Ort glücklich zu werden, wo er lebte.2
Demgegenüber haben die großen Metaphysiker des Mittelalters die Unsterblichkeit der Seele auf vielfältige Weise zu demonstrieren versucht. So sagt Thomas von Aquin, dass die Erkenntnis als seelischer Vorgang nicht materiell sein könne, da sonst Körperliches als solches nicht frei erkannt werden könne.3 Sämtliche materiellen Dinge sind räumlich und zeitlich begrenzt. Ist die Seele aber, wie offensichtlich ist, nicht materiell, so ist sie auch nicht räumlich und zeitlich begrenzt. Dieses und noch andere Beweise oder Hinweise für die Unsterblichkeit der Seele wurden von Dominicus Gundissalinus (12. Jahrhundert) in seiner Schrift De immortalitate animae zusammengetragen.4 Nicht unwichtig ist hier das desiderium naturale, der Wunsch des Menschen, von der zeitlichen Grenze seines Lebens befreit zu sein. In der islamischen Philosophie, aus der Gundissalinus seine Sammlung gewann, wird die Unsterblichkeit u. a. durch das Argument gestützt, dass die erkennende Seele ihre eigene Nichtexistenz nicht denken könne und dass sie als denkendes Agens jedem Denkakt und jeder Erkenntnis immer schon unmittelbar vorausgesetzt ist. Die Frage der Unsterblichkeit der Seele blieb indessen auch bei mittelalterlichen Theologen umstritten. So stellt Johannes Duns Scotus gegen Ende des 13. Jahrhunderts fest, die Unsterblichkeit sei wissenschaftlich nicht Ebd., 5. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, 75, 2.c. 4 Vgl. Des Dominicus Gundissalinus Schrift von der Unsterblichkeit der Seele, hg. von Georg Bülow, Münster 1898. 2 3
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zu beweisen, obwohl sie ein Glaubensartikel ist.5 Für Wilhelm von Ockham im 14. Jahrhundert gehört die These von der Unsterblichkeit zur Theologie, die im strengen Sinne gar keine Wissenschaft mehr sein sollte, deren Aussagen vielmehr nur unter der Voraussetzung des Glaubens plausibel sein sollten.6 Zum Thema der Sterblichkeit haben sich in der französischen Aufklärung vor allem zwei Autoren geäußert: Holbach und La Mettrie. Sie wenden sich in unterschiedlicher Akzentsetzung gegen das christliche Dogma von der Unsterblichkeit und vom ewigen Leben, wie es im Glaubensbekenntnis festgehalten ist und in der religiösen Unterweisung der Kirche der Jugend vermittelt wird. Holbach nimmt einige Aspekte der theologischen Argumentation auf und sucht sie zu entkräften.7 La Mettrie ist Arzt und argumentiert rein naturwissenschaftlich.8 Beide begeben sich freilich auf ein Gebiet, das vor ihnen schon seit Jahrhunderten mit großer Subtilität und Intensität behandelt worden ist. Die aufklärerischen Argumente für den physischen Charakter der Seele und ihre Endlichkeit haben ihre Vorgeschichte, die bis in die Antike zurückreicht und im Mittelalter kulminiert. Im Folgenden soll daher diese Vorgeschichte skizziert werden, um den Sinn der aufklärerischen Polemik gegen die Unsterblichkeit der Seele zu verstehen und gerecht zu beurteilen. Die Religionsgeschichte kennt zahlreiche Lehren von einem unsterblichen Teil des Menschen. Sei es, dass – wie in den Religionen der Naturvölker und im alten Ägypten – das Leben nach dem Tode eine modifizierte Fortsetzung des vorherigen darstellte, sei es, dass Leib und Seele als getrennt angenommen wurden und nach dem Tode die Seele an einen wie immer vorgestellten Ort sich zurückzieht, es überwiegt in allen Religionen die Vorstellung, dass der individuelle Tod nicht das Ende des Lebens überhaupt sei. In der antiken Philosophie haben die Ideen von der Unsterblichkeit eine reflektierte Gestalt angenommen. Bei Platon leitet sich die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele von der Erkenntnislehre her.9 Die Seele schließt das Vermögen in sich, die Dinge vermöge der Ideen zu erkennen, die sie vor aller konkret-dinglichen Erkenntnis immer schon geschaut hat. Da diese Ideen ungeworden und unvergänglich sind, kann nur ein Vermögen mit ihnen operieren, das selbst an dieser Unvergänglichkeit partizipiert. Dies ist die Erkenntnisseele, die nach Platon gewiss unsterblich ist und sogar nach dem Tode Johannes Duns Scotus, In Sent., d. 43, qu. 2, in: ders., Opera omnia, Bd. 20, Paris 1894, 42–65. Wilhelm von Ockham, Quodl. I, qu.10, in: ders., Opera philosophica et theologica, Bd. 9, St. Bonaventure N.Y. 1980, 156–161 und ders., In IV. Sent, qu. 12, in: ders., Opera philosophica et theologica, Bd. 7, 239–256. 7 Vgl. das 7. Kapitel des 1. Teils des Systems der Natur (wie Anm. 1), 73–81. 8 Vgl. Julien Offray de La Mettrie, L!homme machine, frz.-dt. hg. von Claudia Becker, Hamburg 1990, 95–107. 9 Der Dialog Phaidon sucht die Unsterblichkeit der Seele unter verschiedenen Gesichtspunkten zu erweisen. 5 6
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ihres Trägers in einem anderen Leib inkarniert wird. Für Aristoteles, dessen Gedanken die spätere, über Jahrhunderte ergehende Auseinandersetzung über das Thema maßgeblich bestimmt haben, ist klar, dass es eine Fortsetzung des individuellen Lebensprinzips nicht geben kann, ist doch die Seele Form des individuellen Körpers, und beide können nicht ohne einander existieren.10 Stirbt also ein Mensch, so verlässt wohl die Seele als das Lebensprinzip den materiellen Körper, aber ohne diesen kann sie nicht selbständig existieren. Sie muss also, da der Mensch nur als ens compositum substantiell ist, ebenfalls zugrunde gehen, zumal ihre sinnlichen Vermögen an die vergänglichen Körperfunktionen gebunden sind. Allenfalls das theoretische Erkenntnisvermögen, das Logistikon, kann den Körper überdauern, weil es zu überzeitlicher Erkenntnis, z. B. in der Mathematik, befähigt ist. In der Spätantike ist dann auch die Position entstanden, die der Seele jegliche selbständige Existenz abspricht, die Theorie Epikurs und seiner Schule. Hier ist die Seele, wie bei den französischen Materialisten, die Epikur zu ihren Ahnen zählten, eine bloße Variation der Körpersubstanz. Sie besteht, wie alles Seiende, aus Atomen, die nach dem Tode ebenso auseinander fallen wie die Atome des physischen Körpers. Die aristotelische Lehre ist in seiner Nachfolge über Jahrhunderte im Okzident wie vor allem auch im Orient intensiv studiert und kommentiert worden. Eine Vielzahl von Intellektlehren ist hieraus entstanden.11 Ihnen ist gemeinsam, dass sie durch die neuplatonische Seelenvorstellung geprägt sind. Danach ist die Seele nicht allein das belebende Prinzip des Körpers, sondern ein Vermögen, das zwar im Körper existiert, aber doch in seinen höchsten Funktionen immer schon vor seiner Vereinigung mit dem Körper in selbstbewusster Form eine substantielle Existenz hat. Vereinfacht gesagt, ist das Selbstbewusstsein in reiner Form aller Erkenntnis schon vorausgesetzt, dergestalt, dass das Bewusstsein und zumal das Selbstbewusstsein nicht erst durch das Gegebensein materieller, sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände entsteht, also nicht nur aus einer Relation sich ergibt, sondern immer schon rein für sich substantiell ist. Als solches untrügliches Selbstbewusstsein kann die Seele auch nicht zugrunde gehen. Die neuplatonische, von den spätantiken und mittelalterlichen Aristotelikern aufgenommene Lehre besagt, dass diese substantielle Seele im Körper nicht ihre wahre Existenzform hat, sondern zu ihrem rein geistigen Ursprung zurückstrebt, da sie selbst geistig ist. Der Hervorgang der Seele aus dem göttlichen Einen und das Streben in diesen Ursprung zurück können nur von einem selber unsterblichen Seienden vollzogen Vgl. Aristoteles, Über die Seele, Buch 2, Kap. 2, 412a–417a. An Aristoteles anschließend wären hier zahlreiche Aristoteles-Kommentatoren wie Alexander von Aphrodisias, Simplikios, Johannes Philoponos u. v. a. sowie Plotin und Proklos zu nennen, sodann die vielen alexandrinischen Autoren zum Thema und die großen islamischen Denker Averroes und Avicenna, die wiederum das okzidentale Denken nachhaltig beeinflusst haben. 10
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werden. Die Seele partizipiert also als Substanz an der Ewigkeit ihres göttlichen Ursprungs. Auf dem Boden dieses Denkens sind die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele geführt worden, gegen deren letzte Auswirkungen die französischen Materialisten zu Felde gezogen sind. Außer dem Baron d!Holbach, von dem die Kritik an der Seelenlehre am ausführlichsten formuliert worden ist, hat La Mettrie die Überzeugung von der Immaterialität der Seele und ihre daraus folgende Unsterblichkeit auf dem Boden der damals bekannten Physiologie und Mechanik kritisiert. Außerdem ist in diesem Zusammenhang noch Diderot, der Herausgeber und Mitautor der berühmten Enzyklopädie, zu nennen, der in einigen seiner aphoristischen Bemerkungen zum Thema die Aporien der materialistischen Positionen unversehens hervortreten lässt.12 Die Basis für die Kritik an der traditionellen Seelen- und Unsterblichkeitslehre sind die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die auf die Materialität aller Lebensäußerungen wiesen. In diesem Punkt sind die Autoren des 18. Jahrhunderts auch mit Descartes einer Meinung, der in seinem Werk Les passions de l!%me eine ganz materialistisch anmutende Phänomenologie der menschlichen Seelenregungen entwickelt hat. Gegen die Metaphysik der Meditationen und ihrer Lehre von den beiden Substanzen haben sie freilich scharf argumentiert. Descartes hat eine materialistische Seite, die der modernen Naturwissenschaft folgt und eine „idealistische“, die am Ende zu Kant und dem deutschen Idealismus führt. Hier konzipiert er eine denkende Seele, über deren Unsterblichkeit er freilich keine Aussage macht. Ganz im Sinne der übrigen Materialisten schreibt Holbach: Die einfachsten Betrachtungen über die Natur unserer Seele müßten uns davon überzeugen, daß die Idee von ihrer Unsterblichkeit nur eine Illusion ist. Was ist die Seele in der Tat anderes als das Prinzip unseres Empfindungsvermögens? Was ist denken, genießen, leiden anderes als empfinden? Was ist das Leben anderes als die Anhäufung dieser Modifikationen oder Bewegungen, die dem organisch gebauten Körper eigentümlich sind? Wenn also der Körper zu leben aufhört, kann das Empfindungsvermögen nicht mehr in Tätigkeit sein; er kann also keine Ideen und folglich auch keine Gedanken mehr haben.13
Von der sinnlichen Wahrnehmung hatte man im 18. Jahrhundert bereits einige physiologische Erkenntnisse, man experimentierte mit den Nervenbahnen und mit ihrem Verhältnis zum Gehirn. Aus dem experimentell darstellbaren Zusammenhang wurde gefolgert, dass die Tätigkeit des Gehirns mit der Denktätigkeit identisch sei und folglich jeder Gedanke ein materieller Prozess sei. Damit schien die wichtigste Funktion der Seele, das Denken, auf die materielle Körpersubstanz Vgl. Denis Diderot, Elemente der Physiologie, in: ders., Philosophische Schriften, hg. von Theodor Lücke, 2 Bde., Berlin 1961, Bd. 1, 703 f. 13 Holbach, System der Natur (wie Anm. 1), 191. 12
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zurückgeführt. La Mettrie hat dies unter ausdrücklicher Berufung auf die empirische Wissenschaft ausgesprochen: Ich sehe, wie das empfindende und denkende Prinzip zusammen mit dem Körper sich verwirrt, einschläft und verlöscht. Was sage ich! Die Seele schläft zuerst, ihr Feuer erlischt in dem Maße, wie die Fasern, aus denen sie zu bestehen scheint, schwach werden und durcheinanderfallen. Wenn sich alles dies erklären läßt durch das, was mir Anatomie und Physiologie über die Hirnsubstanz verraten, warum muß ich dann noch ein ideales Sein erdichten?14
Die Sinnesempfindungen, die die Grundlage aller seelischen Tätigkeiten sein sollen, sind endlich und folglich ist auch die Seele, wenn sie denn überhaupt als selbstständiges Prinzip festgehalten werden kann, endlich. Sie ist für die Materialisten im Grunde nichts anderes als ein Bewegungsprinzip, das selbst mechanischen und physiologischen Gesetzen gehorcht. Das gesamte menschliche Leben, besonders auch die Lust, ist nur Teil der vollkommen gesetzlich bestimmten Natur. Ein Problem bleibt indessen bei dieser Erklärung der Seele und ihrer materiell bedingten Endlichkeit das Vermögen der Selbsterkenntnis und des Selbstbewusstseins. Holbach wollte es wie die übrigen Seelenvorgänge auf die Natur und ihre Gesetze zurückführen: In der Tat, mit welcher Argumentation wollte man uns beweisen, daß die Seele, die nur vermittels ihrer Organe empfinden, denken, wollen und wirken kann, Schmerz und Freude kennen oder auch nur das Bewußtsein ihrer Existenz haben könne, wenn die Organe, die sie davon unterrichten, aufgelöst oder zerstört sind? Ist es nicht evident, daß die Seele von der Anordnung der Körperteile und von der Ordnung abhängig ist, auf Grund derer die Teile ihre Funktionen oder Bewegungen ausführen? Wenn also die Struktur der Organe zerstört ist, so muß zweifellos auch die Seele zerstört sein.15
In dem Zitat ist unversehens das Problem bezeichnet: Das Vermögen, das Schmerz und Lust registriert, muss eine gewisse Distanz zu den physischen Gegebenheiten haben, die diese Zustände erzeugen. Das Bewusstsein von etwas Materiellem ist nicht selber materiell, auch wenn die Einflüsse äußerer Umstände wie Nahrung und Krankheit unbestreitbar sind. La Mettrie hat diese Schwierigkeit zu bewältigen versucht, indem er nahezu stillschweigend die reflexive Fähigkeit der Seele in Anspruch nimmt ohne sie ihrerseits noch materialistisch zu bestimmen. Grundsätzlich ist für ihn die Seele nur ein leerer Begriff, von dem man keine Vorstellung hat und den ein kluger Kopf nur gebrauchen darf, um den Teil zu bezeichnen, der in uns denkt. Setzt man nur das geJulien Offray de La Mettrie, Trait1 de l!(me, in: ders., Œuvres philosophiques, 3 Bde., Berlin 1774, Bd. 1, 98 (Übers. G.M.). 15 Holbach, System der Natur (wie Anm. 1), 191 f. 14
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ringste Bewegungsprinzip voraus, so werden die belebten Körper alles haben was sie brauchen um sich zu bewegen, zu fühlen, zu denken, zu bereuen – kurz um sich in der physischen wie in der moralischen Welt, die von jener abhängt, richtig zu verhalten.16
Fühlen aber ist zugleich ein Bewusstseinsvorgang, Denken und Bereuen noch viel mehr, die eine reflexive Instanz voraussetzen, die nicht selbst wieder aus den Gesetzen der belebten Natur hergeleitet werden können, denn dies wäre ein Zirkel, der dem Argument die Aussagekraft nimmt. Im Zusammenhang mit der Darlegung seiner hedonistischen Lehren, in einer Passage, die die Natürlichkeit des physischen Glücksstrebens dartun will, kommt La Mettrie darauf, dass das individuelle Glück eine reflexive Fähigkeit erfordert. Dies steht zu seiner Theorie des Menschen als Maschine in Kontrast. Indessen rekurriert La Mettrie auch in diesem Kontext auf ein Selbstverhältnis, das er nach seinen Prämissen nicht erklären kann: „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht – ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung.“17 Da La Mettrie die Unmöglichkeit des perpetuum mobile bekannt war, musste er dem Organismus eine selbsttätige Energiezufuhr zusprechen. Dieser Vorgang ist aber auch ein Selbstverhältnis: „Der Körper ist nur eine Uhr, deren neuer Nährstoff der Uhrmacher ist.“18 Vollendet wäre aber das System des Maschinenmenschen erst dann, wenn es sein eigener Uhrmacher wäre. Dann aber müsste die Maschine von sich selbst einen zureichenden Begriff haben, welcher nicht seinerseits Bestandteil der Maschine wäre. Dazu müsste die Maschine zu sich selbst in Distanz treten, d. h. der Mechanismus müsste sich selbst wie von außen betrachten. Als Wirkung eines strikt kausal determinierten Systems ist dies nicht denkbar, denn nur ein geschlossenes System kann als in sich determiniert begriffen werden, wie annähernd das Planetensystem, das zur Entstehung der Mechanik den historisch ersten berechenbaren Gegenstand bot. Ein solcher unlösbarer Widerspruch kennzeichnet noch die gegenwärtigen Bemühungen um empfindungsfähige Computer. Wäre das Selbstbewusstsein eine Funktion der Maschine, so müsste es eine aus deren Bewegungsgesetz folgende Ursache haben. Diese wäre wiederum außerhalb dieses Bewusstseins, das sich selbst damit gar nicht adäquat erfasste, also gar kein Selbstverhältnis bilden könnte. Nach dem Grunde dieses Selbstverhältnisses wird in den materialistischen Reflexionen zum Thema der Seele und ihrer Unsterblichkeit gar nicht gefragt. Diderot hat in seinen aphoristischen Bemerkungen zur Philosophie die Aporie der materialistischen Position erfasst, die auch die seine war. So schreibt er in seinen nachgelassenen El)ments de physiologie über die Seele:
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La Mettrie, L!homme machine (wie Anm. 8), 97. Ebd., 35. Ebd., 111.
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Diese Triebkraft, wenn sie überhaupt existiert, ist von sehr untergeordneter Bedeutung. Ihre Macht ist geringer als die des Schmerzes, der Lust, der Leidenschaften, des Weins, des Bilsenkrauts, der Giftmorchel, der indischen Nuß. Was vermag denn die Seele im Fieber und in der Trunkenheit? Welche Idee man auch von ihr haben mag: jedenfalls ist die ein bewegliches, ausgedehntes, empfindliches und zusammengesetztes Wesen. Sie wird müde wie der Körper; sie ruht aus wie der Körper. Sie verliert ihre Autorität über den Körper, wie der Körper seine Autorität über sie verliert.19
Danach ist fraglich, welche Funktion sie im Körper überhaupt hat, wenn sie ihm substantiell vollkommen gleicht, denn Diderot reduziert im selben Zusammenhang auch das Selbstbewusstsein auf einen körperlichen Vorgang: „Man ist sich des Prinzips der Vernunft und damit der Seele nur bewußt wie der eigenen Existenz, der Existenz des Fußes, der Hand, der Kälte, der Wärme, des Schmerzes, der Lust. Wenn Sie von jeder körperlichen Empfindung absehen, so ist es aus mit der Seele.“20 Es entsteht dann aber das Problem, welche Instanz Hand, Fuß, Schmerz und Lust zum Bewusstsein erhebt, denn das Bewusstsein dieser empirischen Gegebenheiten ist unterschieden von diesen Daten selbst. Für die spätantike und mittelalterliche Philosophie war es geradezu ein Erkenntnisweg zur substantiell verstandenen Seele, von den körperlichen Empfindungen abzusehen, um zu der Instanz zu gelangen, vermöge derer diese Empfindungen erst möglich sind und als zu einem wahrnehmenden Subjekt gehörig erfasst werden. Im Anklang an die aristotelische Lehre von der Seele als Form des Körpers in jedem seiner Teile sucht Diderot hier einen Ausweg: „Das Lebewesen ist ein Ganzes, eine Einheit mit Hilfe des Gedächtnisses die Seele, das Selbst, das Bewußtsein.“21 Dieses Ganze kann dann aber nicht die Summe seiner Teile sein, sondern eine diese auf eine Einheit hinordnende Instanz. Eben dies hat die traditionelle metaphysische Psychologie im Sinne gehabt. Diderot hat die Aporie der materialistischen Reduktion der Seele auf den Körper allerdings sehr deutlich bezeichnet. Ebenfalls in den El)ments de physiologie hat er eine Überlegung angestellt, die sich bei den übrigen Materialisten nicht findet: Betrachten Sie die weiche Substanz des Gehirns als eine empfindliche und lebende Wachsmasse, der alle möglichen Formen eingeprägt werden können, die keine der Formen, die ihr eingeprägt wurden, wieder verliert und doch unaufhörlich neue Formen aufnimmt und bewahrt. Nun gut: das ist das Buch. Wo aber ist der Leser? Der Leser – das ist das Buch selbst, denn es ist doch ein empfindendes, lebendes und sprechendes Buch, das heißt ein Buch, das durch Laute oder durch Zeichen die Reihenfolge seiner
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Diderot, Elemente der Physiologie (wie Anm. 12), 713. Ebd. Ebd.
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Empfindungen mitteilt. Und wie kann es sich selbst lesen? Indem es das empfindet, was in ihm steht und es durch Laute ausdrückt.22
Diderot ist hier an der Aporie des Materialismus angelangt, denn – um in seiner Metaphorik zu bleiben – das Buch, das sich selbst liest, ist nicht identisch mit dem physisch in ihm Geschriebenen. Um dessen Sinn zu erfassen, muss es die Zeichen deuten und koordinieren, was selbst nicht wieder ein materieller Vorgang sein kann, welcher nämlich wiederum eine deutende und koordinierende Instanz voraussetzt. Ist aber bei allen materiellen und durch die Sinnlichkeit bestimmten Erkenntnisvorgängen immer schon ein Selbst vorausgesetzt, das die disparaten Wahrnehmungen und Gedanken zur Einheit bringt, welche es als in ihm bestehend erkennt und als den Inhalt seines Ich bestimmen kann, dann kann sich diese Einheit nicht aus der empirischen Erfahrung ergeben oder sukzessive entwickeln. Diesen Sachverhalt hat Kant zum zentralen Gedanken seiner Erkenntnistheorie gemacht. Das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“, ist nicht Erfahrung, macht Erfahrung vielmehr erst möglich. Es konstituiert auch die zeitliche Sukzession der Erkenntnisse und ist damit der Zeit in gewissem Sinne enthoben. Es ist die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, die jederzeit auf sich selbst reflektieren kann. Kant hat diese Einheit aber nicht als substantielle Seele verstanden, sondern als Funktion, vermöge derer die Kategorien und damit letzthin die Einheit aller Erkenntnisse möglich ist. Trotz dieser Permanenz ist diese ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption nicht eine Substanz, kein individuelles Selbst, sondern nur eine Funktion. Aus diesen Überlegungen folgt nun aber für Kant noch keineswegs die Unsterblichkeit der Seele, die in diesem Falle gleichsam als ein persistierendes Ding aufgefasst werden müsste. Kant hat vielmehr die Lehre von der Unsterblichkeit einer scharfen Kritik unterzogen. Das Paralogismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft untersucht die traditionelle Überzeugung von der Seele als Substanz. Von jedem Dinge überhaupt kann ich sagen, es sei Substanz, sofern ich es von bloßen Prädikaten und Bestimmungender Dinge unterscheide. Nun ist in allem unserem Denken das Ich das Subjekt, dem Gedanken nur als Bestimmungen inhärieren, und dieses Ich kann nicht als die Bestimmung eines anderen Dinges gebraucht werden. Also muß jedermann Sich selbst notwendigerweise als die Substanz, das Denken aber nur als Akzidenzen seines Daseins und Bestimmungen seines Zustandes ansehen. Was soll ich aber von diesem Begriffe einer Substanz für einen Gebrauch machen? Daß ich, als ein denkend Wesen, für mich selbst fortdaure, natürlicherweise weder entstehe noch vergehe, das kann ich daraus keineswegs schließen und dazu allein kann mir doch der Begriff der Substantialität meines denkenden Subjekts nutzen, ohne welches ich ihn gar wohl entbehren könnte.23 22 23
Ebd., 703. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, A 349.
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Kant hat die Kritik an der Substantialität und damit auch an der Unsterblichkeit der Seele nicht formuliert, um deren Sterblichkeit zu lehren, sondern um einen der zentralen metaphysischen Begriffe in einem kritischen Sinne zu retten, denn der kritische Weg ist nach seiner Einsicht ja allein noch offen. Auf diese Weise nimmt Kant die Unsterblichkeit der Seele als ein Postulat der praktischen Vernunft an. Die „Heiligkeit“, d. h. die vollkommene Angemessenheit des Willens zum praktischen Gesetz ist in der Dauer eines Menschenlebens nicht zu erreichen, es ist eine unendliche Aufgabe, welche die entsprechende Dauer des denkenden und handelnden Wesens erfordert. Diese in sich durchaus aporetische Konstruktion hat ihren Sinn in der Intention Kants, der zufolge die spekulative Vernunft unter dem Primat der praktischen steht, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist.“24 Die französischen Materialisten wollten eine wissenschaftliche Philosophie betreiben, die sich von Metaphysik, die sie für das Gegenteil von Wissenschaft hielten, frei gemacht hat. Sie konnten jedoch nicht umhin, indirekt und gegen die eigene bekundete Absicht, metaphysische Annahmen zu machen. Das Interesse der Materialisten an einer vollständigen Naturalisierung des Menschen, der ohne Rest als ein endliches und determiniertes Wesen begriffen werden sollte, ging paradoxerweise auf die Freiheit, die in der Revolution zum Schlüsselbegriff wurde. Die Determination durch die Gesetze der Natur sollte die religiöse Überzeugung von der Drohung des Jüngsten Gerichts und der ewigen Strafen auflösen. Die Kehrseite des Glaubens an die Unsterblichkeit wurde nämlich in den unbegrenzten Qualen der Verdammten gesehen. Mit dieser Drohung hatte die Kirche lange versucht, ihre Mitglieder zum Gehorsam zu nötigen. Der Determinismus ist also gegen das kirchlich gestützte Ancien R1gime gerichtet. Das Reich der Natur, das gegen den unkalkulierbaren Willen Gottes gesetzt wird, ist jedoch eine Annahme, die sich weit tiefer noch in die Aporien der Metaphysik stürzt als es die spekulative Vernunft früherer Zeiten getan hatte. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele scheint im französischen Materialismus eindeutig beantwortet zu sein: Die Seele ist ein Teil des Körpers oder allenfalls eine Funktion desselben. Sie geht deshalb mit dessen Tod ebenfalls zugrunde. Dieser Reduktionismus, dem die moderne Naturwissenschaft bis heute gefolgt ist, führt indessen im Aporien,die im der traditionellen Philosophie der Antike und des Mittelalters bereits reflektiert wurden. Der Beitrag versucht, die innere Verbindung der klassischen metaphysischen Theorien ueber die Seele mit dem französischen Materialismus aufzuweisen.
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Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. von Joachim Kopper, Stuttgart 1961 u. ö.,
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The question of the immortality of the soul seems to be answered clearly in French materialism: The soul is a part of the body or, perhaps, a function of it. When the body dies then this is also the end of the soul. Modern science agrees, up to now, with this reductionism, but there are aporias which were already considerate on traditional antique and medieval philosophy. The following contribution tries to show the intrinsic connection between the traditional metaphysical theories on the soul and the ideas of the French materialism. Prof. Dr. Günther Mensching, Leibniz Universität Hannover, Institut für Philosophie, Leisewitzstraße 30, D-30175 Hannover, E-Mail: [email protected]
Falk Wunderlich Mortalismus und Materialismus in der deutschen Aufklärung Ob aber diese Seele zusammengesetzt, oder einfach ist, (eine Monade) überhaupt, ob Materie mit der Kraft zu denken von Gott begabt werden könne, oder blos Monaden denken können, ist eine Frage, die jeder nach seiner Philosophie bestimmen muß, denn die Bibel entscheidet hier nichts. Ein sogenannter Materialiste kann sehr wohl ein Leben nach dem Tode glauben, und denn ist er kein Ungläubiger, sondern kann ein völlig gläubiger Christ seyn.1
Ginge man von den vielfach geteilten Standard-Auffassungen über den Materialismus aus, dann ließe sich die Frage, mit der sich dieser Beitrag beschäftigt, in wenigen Zeilen beantworten: Materialisten behaupten dieser Auffassung zufolge, dass sich erstens mentale Fähigkeiten unmittelbar auf den Körper oder Teile desselben (in der Neuzeit also Gehirn und Nervensystem) zurückführen lassen.2 Damit wäre bereits entschieden, dass es gar nichts geben kann, was den Tod des Organismus überdauert, und damit auch keinen systematischen Ort für Unsterblichkeit.3 Zweitens, dass Materialisten a fortiori Atheisten sind und daher auch kein systematisches Interesse an der Frage nach Unsterblichkeit haben können.4 Johann David Michaelis, Dogmatik, Zweite umgearbeitete Ausgabe, Göttingen 1784, 272. Dieser Beitrag ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts WU 695/1–2. Ich danke der DFG für die großzügige Förderung, ebenso wie Erik Eschmann für seine Unterstützung bei der zugrundeliegenden Recherche. 3 Vgl. z. B. Robert C. Koons, George Bealer (Hg.), The Waning of Materialism, Oxford 2010, X. Zur Kritik vgl. Falk Wunderlich, Varieties of Early Modern Materialism, in: British Journal for the History of Philosophy 24/5 (2016), 797–813. 4 Diese Auffassung ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass oft einseitig der französische Materialismus als Modell für den Materialismus überhaupt angesehen wird, für den diese Gleichsetzung eher zuzutreffen scheint. Zur Kritik vgl. Ann Thomson, Bodies of Thought, Oxford 2008 sowie das Special Issue „Varieties of Early Modern Materialism“ des British Journal for the History of Philosophy 24/5 (2016; hg. von Patricia Springborg und Falk Wunderlich). 1
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Drittens gehört es zur Standard-Auffassung, dass speziell die deutsche Aufklärung überhaupt keine nennenswerte materialistische Tradition hervorgebracht hat und somit auch kein historischer Ort für die hier behandelte Fragestellung existiert.5 Die Standard-Auffassung ist in allen drei Hinsichten unzutreffend. In diesem Beitrag werde ich mich vor allem mit der ersten und zweiten Annahme beschäftigen, wobei die zweite Annahme hier im Zentrum stehen wird.6 Es soll gezeigt werden, dass der Materialismus der deutschen Aufklärung auf eine differenzierte mortalistische und (teils explizit) sozinianische Theologie (oder Häresie) zurückgreift und also keineswegs dem Atheismus im heutigen Sinne zuzurechnen ist. Mortalistische Theologien gehen in unterschiedlich bestimmter Weise davon aus, dass die menschliche Seele nicht aus sich heraus unsterblich ist, sondern maximal in einer Art Todesschlaf den Tod des Organismus überdauern kann. Im Hinblick auf die erste Annahme, wonach der Materialismus grundsätzlich von einer Identität von organischem Körper und Geist ausgeht, wird sich zeigen, dass Materialisten nicht auf eine, anachronistisch formuliert, Identitätstheorie verpflichtet waren, sondern in der deutschen Aufklärung überwiegend (jedoch nicht ausschließlich) die Existenz einer vom Körper verschiedenen, materiellen Seele unterstellten, deren mögliche Unsterblichkeit je unterschiedlich konzeptualisiert wurde (ohne dass dies hier im Einzelnen herausgearbeitet werden könnte).7 Diese Unterscheidung findet sich in der deutschen Aufklärung, wie im Folgenden zu sehen, als diejenige von „subtilem“ und „grobem“ Materialismus wieder.8
Diese These hat sich seit den Tagen Friedrich Albert Langes (Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1974 [Iserlohn 11866], 406–425) gehalten, vgl. etwa Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, 455; Günther Mensching, Art. Sensualismus/Materialismus, in: Heinz Thoma (Hg.), Handbuch Europäische Aufklärung, Stuttgart 2015, 475–484, hier 470. 6 Zur dritten Annahme vgl. ausführlicher Falk Wunderlich, Materialism in late Enlightenment Germany. A neglected tradition reconsidered, in: British Journal for the History of Philosophy 24/5 (2016), 940–962. 7 Vgl. Wunderlich, Varieties (wie Anm. 3), 807 f. 8 Vgl. zu dieser Unterscheidung z. B. August Wilhelm Hupel, Anmerkungen und Zweifel über die gewöhnlichen Lehrsätze vom Wesen der menschlichen und der thierischen Seele, Riga 1774, 57–60 et passim; Johann Gottlieb Karl Spazier, Anti-Phädon, oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, hg. von Werner Krauss, Berlin 1961 [11785], 108–110. 5
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I. Formen des Mortalismus Mortalistische Theologien ergänzen den Materialismus recht unmittelbar, jedenfalls dann, wenn dieser nicht umstandslos von einer Körper-Seele-Identität ausgeht und zugleich an christlichen Auferstehungskonzepten festhält.9 Wenn die Seele aber materiell und zugleich nicht mit dem Körper identisch sein soll, dann liegt es nahe, dass sie vom Tod des Organismus nicht ganz unbeeindruckt bleiben kann; insofern bietet sich der Mortalismus hier als theoretische Ressource an. In grober Einteilung der wichtigsten Varianten des Mortalismus kann die vom Körper unterschiedene und zugleich materielle Seele sich entweder mit dem Tod des Körpers auflösen und zerstreuen (wie im Epikureismus), sie kann zusammen mit ihm vergehen und am jüngsten Tag wiederauferstehen, oder sie kann ihn überdauern und in einen todesartigen Schlaf treten. Der Mortalismus ist im Hinblick auf das neuzeitliche Großbritannien recht gut erforscht worden.10 Hier hat sich die von Norman T. Burns begründete Einteilung des Mortalismus in zwei grundsätzliche und zwei weiter spezifizierte Formen eingebürgert, die jedoch, wie Burns klar macht, nur der äußerlichen Orientierung dienen kann; insbesondere deshalb, weil sich unter dem Mortalismus eine große Bandbreite ansonsten schwer vereinbarer Theorien und Autoren vereinigen lässt.11 Den „Annihilationisten“ zufolge vergeht die Seele vollständig und unwiderruflich mit dem Tod des Körpers. Die „Soul sleeper“ dagegen sind sich einig, dass es zumindest ein Weiterleben nach der Wiederauferstehung des ganzen Menschen am jüngsten Tag gibt. Unterschiedliche Auffassungen bestehen unter den Soul sleepers hinsichtlich des Zustandes zwischen Tod und Auferstehung: Während „Thnetopsychisten“ annehmen, dass die Seele bis zur Wiederauferstehung in Zum systematischen Zusammenhang von Mortalismus, Sozinianismus und Materialismus vgl. auch Nicholas Jolley, The relation between theology and philosophy, in: Michael Ayers, Daniel Garber (Hg.), The Cambridge History of Seventheenth Century Philosophy, Cambridge 1998, 363–392, hier 382–385; vgl. auch Winfried Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg 1987 sowie Sascha Salatowsky, Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. 10 Vgl. Norman T. Burns, Christian Mortalism from Tyndale to Milton, Cambridge, MA 1972 und Bryan W. Ball, The Soul Sleepers. Christian Mortalism from Wycliffe to Priestley, Cambridge 2008 zur mortalistischen Theologie im Allgemeinen, sowie zu ihrem Zusammenhang mit dem Materialismus Thomson, Bodies (wie Anm. 4), 97–134; Catherine Wilson, Matter, Mortality, and the Changing Ideal of Science, in: Scientia in Early Modern Philosophy. Seventeenth-Century Thinkers on Demonstrative Knowledge from First Principles, hg. von Tom Sorell, G. A. J. Rogers und Jill Kraye, Dordrecht 2010, 35–51; Liam P. Dempsey, Byron Stoyles, Comfort in annihilation: Three studies in materialism and mortality, in: Forum Philosophicum 15/1 (2010), 119–140; Udo Thiel, Religion and materialist metaphysics, in: Ruth Savage (Hg.), Philosophy and Religion in Enlightenment Britain, Oxford 2012, 90–111. 11 Burns, Christian Mortalism (wie Anm. 10), 10–12. 9
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einem wörtlichen Sinne ebenso tot ist wie der Körper und also in gewisser Weise gar nicht persistiert, sind „Pychopannychisten“ überzeugt, dass die Seele nach dem Tod des Organismus weiterexistiert, in einem bewusstlosen, dem Schlaf ähnlichen Zustand. Die psychopannychistische Auffassung unterscheidet sich daher dadurch von geläufigeren christlichen, insbesondere katholischen und calvinistischen Positionen, dass die letzteren darüber hinaus auch eine Art von mentaler Präsenz oder Aktivität der Seele nach der Trennung vom Körper behaupten.12 Begrifflich wichtig ist hier, dass Mortalisten nicht zwangsläufig die Möglichkeit von Unsterblichkeit in jeder Form leugnen, obwohl einige dies tatsächlich tun. Was sie gemeinschaftlich leugnen ist lediglich, dass die menschliche Seele aus eigenen Ressourcen unsterblich ist.13 Diejenigen Mortalisten, die Unsterblichkeit zulassen, argumentieren in der Regel, dass sie auf einen zusätzlichen Akt göttlicher Gnade zurückzuführen ist; also ein Wunder, das dasjenige außer Kraft setzt, was in der Natur des erschaffenen Gegenstandes (der Seele) selbst liegt, ihre Sterblichkeit. Die Forschungslage zum Mortalismus in Deutschland ist im Unterschied zum britischen als sehr fragmentarisch zu bezeichnen; hier sind fast nur die Arbeiten von Schröder, Salatowsky und Mulsow zu erwähnen.14 Bei den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts finden sich dagegen ausführliche Diskussionen und Überblicksdarstellungen mortalistischer Theorien, so etwa bei Christian Ernst Simonetti, Johann Ludewig Buchwitz und Justus Christian Hennings in primär kritisch-polemischer Absicht, oder etwas später die umfassende historische Darstellung bei Christian Wilhelm Flügge.15 Im folgenden Abschnitt 2 werde ich einige deutsche Materialisten diskutieren, die sich etwas ausführlicher oder nachdrücklicher mit der Unsterblichkeitsthematik befasst haben. Friedrich Wilhelm Stosch, dessen Concordia rationis et fidei bereits 1692 erschien, soll hier den Anfang bilden, weil bereits bei ihm diejenigen Ebd., 16–18. Calvins Position ist tatsächlich komplizierter, da er sich selbst ausdrücklich sowohl gegen die Annahme natürlicher Unsterblichkeit als auch gegen den Mortalismus richtet (vgl. Burns, Christian Mortalism [wie Anm. 10], 22–26). Da die einbezogenen deutschen Mortalisten und ihre Gegner jedoch hauptsächlich vom Gegensatz von natürlicher und gnadenbasierter Unsterblichkeit ausgehen, kann dieser Aspekt hier vernachlässigt werden. 14 Schröder, Spinoza (wie Anm. 9); ders., Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Stosch, Concordia rationis et fidei (1692), hg. von Winfried Schröder, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 7–29; Salatowsky, Die Philosophie der Sozinianer (wie Anm. 9); Martin Mulsow, Freigeister im Gottsched-Kreis, Göttingen 2007, 44–46. 15 Christian Ernst Simonetti, Gedanken über die Lehren von der Unsterblichkeit und dem Schlafe der Seele, Frankfurt an der Oder 21751; Justus Christian Hennings, Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere, Halle 1774; Johann Ludewig Buchwitz, Philosophische Betrachtung über das Schicksal des Menschen im Tode, Halle 1766; Christian Wilhelm Flügge, Geschichte des Glaubens an Unsterblichkeit, Auferstehung, Gericht und Vergeltung, 4 Bde., Leipzig 1794–1800. 12 13
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Theorieelemente anzutreffen sind, die auch für die Materialisten nach 1770 entscheidend sind. Sodann widme ich mich materialistischen Autoren nach 1770, nämlich Michael Hißmann, Karl von Knoblauch und Johann Gottlieb Karl Spazier, sowie abschließend dem materialistischen Mortalismus-Kritiker August Wilhelm Hupel. Anschließend gehe ich der Frage nach, wie sich eigentlich die Universitätstheologie der Aufklärung zu den entsprechenden Problemlagen verhält und ob sich dort ihrerseits Spuren des Mortalismus finden lassen (Abschnitt 3), und damit einem weiteren Aspekt der vermeintlichen oder tatsächlichen „Radikalität“ materialistischer Philosophie. II. Deutsche Materialisten über Seelensterblichkeit Der sowohl an Spinoza als auch am Epikureismus orientierte Materialismus von Friedrich Wilhelm Stoschs Concordia rationis et fidei16 drückt sich in der Behauptung aus, der Geist als der edlere Teil des Menschen bestehe aus dem Gehirn und seinen Teilen,17 und die als Lebensprinzip verstandene Seele bilde sich zusammen mit und auf dieselbe Weise wie die „menschliche Maschine“.18 Hinsichtlich der vermeintlichen Unsterblichkeit der Seele stellt Stosch unmissverständlich fest, dass die Seele ihrer Natur nach sterblich ist und nicht außerhalb des menschlichen Körpers existiert.19 Das bedeutet aber nicht, dass Stosch die Möglichkeit von Unsterblichkeit überhaupt verneint. Vielmehr ist Unsterblichkeit durch Gottes Gnade möglich, und zwar mit der Auferstehung des ganzen Menschen.20 Die schwerste Strafe, die Gott verhängt, liegt in der Verweigerung dieser Unsterblichkeit, Stosch leugnet also auch die ewigen Höllenstrafen.21 Stosch kann damit recht eindeutig dem Thnetopsychismus zugerechnet werden.
Friedrich Wilhelm Stosch, Concordia rationis & fidei, sive harmonia philosophiae moralis & religionis christianae, Amsterdam [recte: Berlin] 1692 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, hg. von Winfried Schröder). Zu Stosch vgl. auch Corey W. Dyck, Materialism in the mainstream of early German philosophy, in: British Journal for the History of Philosophy 24/5 (2016), 897–916; Paola Rumore, Mechanism and materialism in early modern German philosophy, in: British Journal for the History of Philosophy 24/5 (2016), 917–939. 17 Stosch, Concordia (wie Anm. 16), 11. 18 „[E]odem tempore ac modo, quo tota machina humana concipitur“ (ebd., unpag. Addenda zu S. 76). 19 „Animam, sive Mentem per se & natura sua non esse immortalem, nec existere extra corpus humanum“ (ebd., 77). 20 Ebd., 77, 85. 21 Ebd., 87 f. 16
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Michael Hißmann zufolge macht die Erfahrung es wahrscheinlicher, dass die menschliche Seele materiell ist.22 Das steht ihrer Unsterblichkeit jedoch nicht im Wege: Was hindert also, daß man die Seele für ein zusammengeseztes, unzertrennbares Wesen halte? Unzerstörbarkeit sey ihr Charakter, der sie vom groben Körper unterscheide.23 Auch für Hißmann ist die Seele nicht aus sich heraus oder ihrer Natur nach unsterblich, sondern aufgrund göttlicher Intervention: „Immer kömt es einzig und allein auf seinen gnädigen Willen an, ob er jene [Monade] in Ewigkeit nicht vernichten, und diese [materielle Seele] durch seine Allmacht ewig unterstützen und beleben werde.“24 Mortalistisch argumentiert Hißmann im übrigen auch hinsichtlich einer möglichen immateriellen Seele (was wiederum naheliegt, da er materielle Seelen ja nur für wahrscheinlicher, nicht aber für metaphysisch gesichert hält): Auch immaterielle Seelen wären nicht aus sich heraus unsterblich: „Gott wird meine Seele […] nimmermehr untergehen lassen, sie sey einfach oder zusammengesezt.“25 Ebenso ist die vermeintliche Immaterialität der Seele „der allerunzuverlässigste Bürge für meine ununterbrochene Fortdauer“.26 In der Materialität der Seele liegt auch kein Hinderungsgrund für ihre Unsterblichkeit; wenn Gott Materiellem die Fähigkeit zu denken verleihen kann, warum sollte er sie dann nicht auch unsterblich machen können? Diese Überlegungen werden ergänzt durch weitere Gründe für die Realität der Unsterblichkeit, die Hißmann „moralische“ nennt: Ein Tod der Seele lasse sich, so Hißmann, nicht vereinbaren mit „den göttlichen Eigenschaften“ (hier sind die üblichen Attribute Gottes gemeint, namentlich seine „Weisheit und Güthe“), ebensowenig wie mit „der perfektibeln Natur der Seele“ und auch „dem ganzen Naturlauf“.27 Hißmann zufolge gilt also: „Es ist ein ganz unerwiesener Satz, daß die materielle Seele zu gleicher Zeit mit verwesen müsse, wenn der grobe Körper zerfält, weil nicht eine jede Materie nothwendig zerstörbar ist.“28 Dies erläutert er unter Bezugnahme auf eine spekulative Überlegung Charles Bonnets, der zufolge Organismen unzerstörbare Keime enthalten könnten, die ihrerseits alle künftigen Generationen des jeweiligen Organismus bereits in sich schließen: „Bonnets KeiMichael Hißmann, Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik, Frankfurt am Main, Leipzig 1777, 252 (Ausgewählte Schriften, hg. von Udo Roth und Gideon Stiening, Berlin 2013, 45–137, hier hier 128). 23 Ebd., 255 (Ausgewählte Schriften, 129). Der Gegensatz zum „groben“ Körper deutet an, dass die Seele aus „subtiler“ Materie bestehen soll. 24 Ebd. 25 Ebd., 255 f. Vgl. ebd.: „Mit eben der Kraft, mit welcher Gott eine einfache Monade erhält, kan er eine materielle Substanz ewig leben lassen“ (Ausgewählte Schriften, 129). 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., 254 (Ausgewählte Schriften, 128 f.). 22
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me haben sich von Anbeginn der Schöpfung in dem Gewühl der Natur herumtreiben lassen, ohne zerstört zu werden“.29 Auch die Existenz von sehr festen Materialien wie Diamanten, die sich nur unter sehr hohen Temperaturen zerstören lassen, deutet Hißmann zufolge auf die grundsätzliche Möglichkeit noch festerer, unzerstörbarer materieller Körper hin. Hißmanns Argumente für die Unsterblichkeit der Seele, die sich aus mortalistischen Überlegungen speisen, haben die weitere Folge, dass die Entscheidung für oder gegen den Materialismus in theologischer Hinsicht unproblematisch ist, da sie die eigentlich zentrale Frage nach der Möglichkeit von Unsterblichkeit und ihre moralphilosophischen Implikationen gar nicht tangiert.30 Auch in moralischer Hinsicht besitzt der Materialismus also keine Nachteile, da er einerseits die Fortexistenz nicht betrifft, andererseits aber mögliche Fortexistenz gerade nicht zur moralischen Motivation dienen soll, denn: „Kan derjenige wol redlich, kan er tugendhaft heißen, der sich gern seinen Lieblingslastern ergeben würde, wenn ihn nur keine künftige Strafe schrekte“?31 Hißmanns Mortalismus kann aufgrund der Überlegungen zu einer den Tod des Organismus überdauernden, materiellen Seele (möglicherweise nach Art der bonnetschen Keime) eher dem Psychpannychismus zugeordnet werden.32 Johann Gottlieb Karl Spazier äußert in seinem Antiphädon zunächst Zweifel am Nutzen der Unsterblichkeitslehre. Der Glaube an die Unsterblichkeit mag, so Spazier, zwar „herzerhebend und wohltätig“ sein, aber er kann nicht die alleinige Grundlage der Glückseligkeit bilden. Zudem kann in diesem Gebiet keine Rede von „evidenter Gewißheit“ sein, sondern bestenfalls von „unbedingte[m] Glauben“.33 Dies gilt namentlich für die sehr verbreiteten Unsterblichkeitsbeweise, die auf der vermeintlichen Einfachheit der Seele aufbauen; die Unsterblichkeitslehre kann auf ihrer Grundlage nur „mit redlichem Herzen geglaubt werden“ Ebd. Ebd., 252: „Der größte Teil der Tugendhaften denkt sich seine Seele ohnehin nicht als einfach“ (Ausgewählte Schriften, 128). 31 Ebd., 257 (Ausgewählte Schriften, 129). 32 Zum vermutlich von Priestley beeinflussten sozinianischen Einschlag seines Mortalismus vgl. Wunderlich, Materialism in late Enlightenment Germany (wie Anm. 6), 957 f. und Michael Hißmann, Briefwechsel, hg. von Hans-Peter Nowitzki u. a., Berlin, Boston 2016, 51 f., 282 f. Eine mit Priestleys Idee von der körperlichen Auferstehung vereinbare Spekulation findet sich im Übrigen auch schon am Ende von Christoph Meiners Psychologischem Fragment über die Verschiedenheit des Bewußtseins: Der Mensch bleibt auch nach dem Tod dieselbe Person, „wenn die Organen des Gedächtnisses entweder unzerstört fortdauren, oder nach ihrer Auflösung durch die Stimme des Allmächtigen in eben der Ordnung zusammengefügt werden, in welcher sie am Ende des irdischen Lebens coexistierten“ (Meiners, Vermischte Philosophische Schriften, 3 Bde., Leipzig 1776, Bd. 1, 43 f.). Vgl. Joseph Priestley, Disquisitions relating to matter and spirit, London 1777, 155–166. 33 Spazier, Anti-Phädon (wie Anm. 8), 48 f. 29 30
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oder allenfalls Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen.34 Eine eher erfolgversprechende Plausibilisierung müsste Spazier zufolge auf dem Gesetz der Stetigkeit aufbauen, das er seinerseits auf den Satz des zureichenden Grundes zurückführt; er sieht solche Beweisversuche bei Boscovich und Mendelssohn realisiert. Spazier rekonstruiert ihren Kern folgendermaßen: In der Natur lässt sich zwischen zwei Veränderungen keine „absolute Entfernung“ denken.35 In der Natur gibt es aber keinen Übergang vom Sein zum Nichtsein, so Spazier, also „kann die Natur mit all ihren Kräften nichts vernichten, sondern nur die Allmacht Gottes, wenn sie es will.“36 Da Gott aber unendlich gütig ist, kann er dergleichen nicht wollen, und so gibt es zumindest eine Hoffnung auf Fortdauer, die sich aber nie in eine andere Art von Gewißheit umwandeln lässt und bloß ein „Geschäft des Herzens“ im einzelnen Menschen bleibt.37 Spazier fasst zusammen: Es hilft in der Tat zu nichts, daß wir so ängstlich für die Einfachheit der Seele streiten und wer weiß wie viel Schreckliches besorgen, wenn jemand daran zweifelt; denn wir müssen am Ende doch ebensogut die Möglichkeit zugeben, daß das Einfache vernichtet werden kann. Und daß dies an sich möglich ist, davon hat noch kein Philosoph das Gegenteil bewiesen.38
In einer Linie mit der mortalistischen Tradition betont Spazier über den ganzen Antiphädon hinweg die entscheidende Rolle göttlicher Gnade bei der Unsterblichkeit qua Wiederauferstehung, „die immer nur ein göttliches Geschenk bleibt“ und die, wie auch bei Hißmann ausgeführt, unabhängig von der materiellen oder immateriellen Natur der Seele ist.39 Eine bei den anderen Materialisten nicht anzutreffende, zusätzliche Überlegung verstärkt das Motiv der Gnade noch einmal: Ließe sich die Unsterblichkeit der Seele beweisen, dann könnten wir, so Spazier, gewissermaßen gegenüber Gott auf unserer Unsterblichkeit insistieren und so „auf die Unvergänglichkeit unseres Wesens trotzen“.40 Stattdessen lässt uns die gnadenabhängige, nur wahrscheinliche Unsterblichkeit „unsere gänzliche Abhängigkeit von dem allmächtigen, allgütigen und höchstgerechten Vater der Menschen desto tiefer fühlen und anerkennen“.41 Schließlich ist auch Spazier der Ansicht, dass die Moral nicht auf die Erwartung der Unsterblichkeit angewiesen ist, sondern im Gegenteil „die Verbindlichkeit zur Rechtschaffenheit und echten Tugend […] jedem denkenden Menschen an sich dringend und heilig genug sollte 34 35 36 37 38 39 40 41
Ebd., 65. Ebd., 66. Ebd. Ebd. Ebd., 67. Ebd., 89. Ebd., 87. Ebd.
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gemacht werden können.“42 Seine Bevorzugung einer vom Körper unterschiedenen, materiellen Seele spricht eher für den Psychopannychismus, ohne dass sich dies eindeutig aus Spaziers oft umwegigen Ausführungen entnehmen ließe. Dafür spricht, dass er der aus subtiler, ätherischer Materie zusammengesetzten Seele eine „relative[] Unteilbarkeit“ und damit Unabhängigkeit vom Körper zuspricht.43 Karl von Knoblauch ist einer der bemerkenswertesten Materialisten der deutschen Aufklärung, weil er einerseits einen eng an Spinoza orientierten Materialismus entwickelt, ganz im Gegensatz etwa zu dem eher empiristisch-naturalistisch orientierten Hißmann.44 Andererseits verbindet er seinen Materialismus auch mit Kant. Anders als Hißmann, Spazier oder Hupel lässt er sich am ehesten der Richtung des Annihilationismus zuordnen, die keinerlei Fortexistenz nach dem Tode vorsieht, auch hier verbunden mit den üblichen, deutlich epikureischen Motiven.45 So wendet sich Knoblauch im ersten Teil der Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos gegen die Angst vor dem Tod. Der Zustand des Menschen vor dem Beginn des Lebens sei ebenso empfindungslos wie der nach seinem Ende, ohne dass man ihn fürchten müsse,46 denn der Tod beraubt uns aller Sinne und zerstört die „physische Sensibilität“.47 Derartig „desorganisiert“ kann man weder leiden noch genießen, Güter und Übel gibt es, ganz klassisch wie im Epikureismus, nur für Lebende.48 Daraus folgt bereits, dass es für Knoblauch auch keinen Lohn und keine Strafe nach dem Tod geben kann. Näher wird dies hinsichtlich der Erinnerung spezifiziert: Da die medizinische Literatur zur Genüge die Körperlichkeit des Gedächtnisses bewiesen haben und auch schon im Diesseits körperliche Faktoren der Erinnerung abträglich sein können, sei erwiesen, dass mit der Auflösung des Körpers neben den Empfindungen auch die Erinnerung verschwinde, und gerade dies soll die „eingebildeten Schreken des Orkus völlig verschwinden“ maEbd., 138, unter Berufung auf Garves Anmerkungen zu Cicero. Ebd., 90. 44 Karl von Knoblauch, Über das Denken der Materie, in: Der Teutsche Merkur, September 1787, 185–197; ders.: Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos, s.l. 1790. 45 Vgl. aber Knoblauchs gelegentliche Rede von todesartigem Seelenschlaf, die jedoch wieder konterkariert wird durch das Fehlen einer Auferstehungsperspektive. So spricht er von einem traumlosen Schlaf ohne Erwachen (Nachtwachen, 47). An anderer Stelle spricht er von „Todesschlaf“ und „Murmelthierleinsschlaf“ (o. T., in: Das Graue Ungeheur 10 [1787], 307–315, hier 307). 46 Knoblauch, Nachtwachen (wie Anm. 44), 35, vgl. ebd., 45: „Die Furcht vor dem Nichtsein ist Furcht vor einem Übel, welches wir nie empfinden werden.“ 47 Ebd., 37. 48 Ebd. Vgl. bei Epikur etwa den Menoikeus-Brief (Epikur, Ausgewählte Schriften, hg. von Christof Rapp, Stuttgart 2010, 4). 42
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chen.49 Es ist für Knoblauch also erwiesen, dass alles, was uns im Hinblick auf unseren Zustand nach dem Tod innerlich betreffen oder unmittelbar angehen könnte, nach dem Tod eben nicht mehr existiert und wir somit in keinerlei relevanter Verbindung zu möglichen Zuständen danach stehen. Um trotz dieser Schwierigkeiten an der Idee der Unsterblichkeit festhalten zu können, so Knoblauch, habe man den Gedanken der körperlichen Wiederauferstehung gefasst, da die Abhängigkeit von Empfindung und Erinnerung vom Körper doch zu deutlich macht, „die Seele allein sei doch nicht der Mensch“.50 Knoblauch zufolge trägt die Lehre von der Auferstehung des Leibes also vor allem dem Umstand Rechnung, dass der Körper ebenso zu den wesentlichen Eigenschaften des Menschen gehört wie das Denken oder die Seele.51 Doch ist diese Lehre nicht ohne eigene Schwierigkeiten: Selbst wenn man körperliche Auferstehung für grundsätzlich möglich hielte, dann würde auch ein solcher Leib, selbst wenn er kunstvoller zusammengesetzt ist als der ursprüngliche, nicht für die Ewigkeit taugen, da es in der Natur kein Perpetuum mobile gibt und auch die härtesten natürlichen Stoffe sich als letztlich vergänglich erweisen. Würde jedoch bei der Auferstehung meine Seele „einen neuen Leib von ganz anderm Stoffe, und ganz anderer Zusammensezung“ beleben, „so wäre sie meine Seele nicht mehr“.52 Dies folgt daraus, dass die menschliche Seele erst in Verbindung mit ihrem jeweiligen Körper zu dem individuellen Wesen wird, das sie ist, und ohne diese Verbindung, oder in Verbindung mit einem anderen Körper, ist sie nicht mehr dasselbe Wesen.53 Dies aber macht alle Wiederauferstehungsszenarien unmöglich, sogar solche, die unmittelbar von Gott gewirkt werden. Es handelte sich hier vielmehr um Neuschöpfungen; dies würde umso mehr für den „verklärten Leib“ aus den theologischen Debatten etwa bei Jerusalem gelten (s. Abschnitt 3). Doch warum sollte ich ein weiterreichendes Interesse an einem mir völlig fremden Wesen haben, das zu einem späteren Zeitpunkt existiert (welchen inneren „concern“ sollte ich dafür haben)?54 Die Auferstehung als eine desselben Wesens zu verstehen, erweist sich somit letztlich als widersprüchlich und damit unmöglich: „Unmöglich kann ein Ebd., 39. Ebd., 43. 51 „Ich bin ein Mensch, und nichts weiter. Der Mensch ist offenbar kein einfaches geistiges Wesen. Ohne Ausdehnung hätte er keinen Cörper. Ohne Cörper wäre er nicht Mensch. Die Ausdehnung und Bewegung d. h. der Cörper, ist dem Menschen eben so wesentlich, als die Seele, oder das Denken“ (Knoblauch, Nachtwachen [wie Anm. 44], 35). 52 Ebd., 44. 53 „Der Cörper ist es eben, der unsere Seele zu einer menschlichen Seele macht. Von den Wirkungen einer vom Cörper geschiedenen Seele können wir uns nicht die geringste Vorstellung machen“ (ebd., 35 f.). 54 Ein besonderer, innerer „concern“, den wir für unsere eigenen künftigen Zustände haben, ist ein zentrales Element von Lockes Theorie personaler Identität, vgl. John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975, 346. 49 50
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und dasselbe Ding zweimal existiren. Aus seinen Elementen bildet die Natur was neues. Aber ist dieses Neue auch wirklich das vorige Ding?“55 In anderem Zusammenhang macht Knoblauch deutlich, dass die Auferstehung, wenn überhaupt, dann als göttliches Wunder zu verstehen ist: Bonnet hat die Auferstehung in die Reihe der Naturgesezze gestellt. Dr. Priestley und Selle urtheilen richtiger davon, das Erwachen vom eisernen Schlaf sei ein Wunder, aber ein solches, welches man glauben könne, und glauben müsse, weil sich seine Gewisheit nicht etwan auf bloße Zeugniße der Menschen, sondern auf ein untrügliches Orakel, gründe.56
Bedenkt man dabei, wie vehement Knoblauch in seinem gesamten Werk von Spinoza inspirierte Wunderkritik übt, so muss sich der Eindruck aufdrängen, dass er auch die Perspektive von Selle und Priestley nicht teilt.57 Auch sein Annihilationismus lässt sich unmittelbar mit Spinozas sogenanntem Parallelismus von Körper qua Attribut der Ausdehnung und Seele qua Attribut des Denkens in Zusammenhang bringen: Körper und Seele sind für Spinoza nur zwei Attribute der einen Substanz, und die Frage nach ihrer je unabhängigen Existenz stellt sich überhaupt nicht. Schließlich bezieht sich Knoblauch, ausführlicher noch als andere Materialisten, auf sozinianische Theorien (ausdrücklich Andreas Wissowatius) und kritisiert die Trinitätslehre.58 August Wilhelm Hupel, Verfasser des ersten materialistischen Traktats der 1770er Jahre (Anmerkungen und Zweifel über die gewöhnlichen Lehrsätze vom Wesen der menschlichen und der thierischen Seele, 1774) stellt im Zusammenhang der Unsterblichkeitsdiskussion eine Ausnahme insofern dar, als er einerseits den Materialismus befürwortet, andererseits aber gerade von der natürlichen Unsterblichkeit der Seele ausgeht. Diese zu etablieren ist das wichtigste Ziel der Anmerkungen und Zweifel, Hupel behauptet nämlich, „aus stärkern Gründen die ewige Fortdauer unsers Seyns“ zeigen zu können, als sie den Dualisten zur Verfügung stehen.59 Zugleich richtet er sich damit gegen solche Materialisten, die naheliegenderweise dem Mortalismus zuzuordnen sind (wie „des la Mettrie sein unglückliches Maschinen-System“).60 Hupel geht grundsätzlich von der Unzerstörbarkeit jeder Substanz aus, unterstellt also einen stärkeren Substanzbegriff als etwa Descartes, für den die ErhalKnoblauch, Nachtwachen (wie Anm. 44), 44. Karl von Knoblauch, o. T., in: Das Graue Ungeheur 10 (1787), 61–68, hier 64. 57 Z. B. Knoblauch, Nachtwachen (wie Anm. 44), 53–82 („Zwote Nachtwache. Theorie der Mirakel“). 58 Ebd., 73–75; Andreas Wissowatius, Religio rationalis. Editio trilinguis, hg. von Zbigniew Ogonowski u. a., Wiesbaden 1982 (11685). 59 Hupel, Anmerkungen (wie Anm. 8), 4; vgl. ebd., 36 ff. Zu Hupels Materialismus vgl. Falk Wunderlich, The „Subtle“ Materialism of August Wilhelm Hupel, in: Quaestio 16 (2016), 119–137. 60 Hupel, Anmerkungen (wie Anm. 8), 72. 55 56
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tung endlicher Substanzen vom beständigen Eingriff Gottes abhängt. Dies folgt für Hupel aus der ihrerseits als metaphysisches Prinzip verstandenen Kette der Wesen: Alles kettet sich in der Schöpfung nicht allein durch Ähnlichkeit, sondern auch durch Wirkung; nichts steht einzeln, nichts überflüßig, alles in einander geflochten; jede, auch die kleinste, Substanz ist eine Ursach und enthält den Grund unzählbarer aus der ersten Einrichtung her nothwendiger Folgen.61
Dies impliziert auch, wie Hupel deutlich macht, dass das Mentale nicht unmittelbar im Körper lokalisiert sein kann, sondern in einer vom Körper verschiedenen, materiellen Seele. Hupel bestreitet nicht, dass Gott seine Schöpfung aufgrund seiner Allmacht zerstören könnte. So sollten wir nicht wagen, dieser Allmacht Grenzen zu setzen, denn „unabhangend“ könnte Gott sehr wohl auch Seelen vernichten.62 Doch mit seiner Allmacht ist untrennbar seine Allgüte verbunden und verhindert diese mögliche Vernichtung der Schöpfung. Aus der Kette der Wesen ergibt sich ein weiteres Argument: Da alle Substanzen in der Welt, auch die kleinsten und scheinbar unbedeutendsten, auf verschiedene Weise miteinander verbunden sind, nicht nur kausal, sondern auch durch Ähnlichkeitsbeziehungen, würde die Zerstörung auch der kleinsten Substanz notwendig zu einer „allgemeinen[n] Stockung in der ganzen Natur“ führen.63 Übertragen auf die menschliche Seele gilt daher, unabhängig von ihrer Materialität oder Immaterialität: „Gott wird sie, die ihn bewundert, ihn näher zu kennen wünscht, nie vernichten“.64 Was mit der Seele des näheren nach dem Tod geschieht, ist nicht wichtig, etwa wohin genau sie sich begibt, denn es ist, so Hupel, „Genug, daß wir bey des Leibes Zerstörungen unsterblich fortdauern.“65 Er behauptet damit seine Sonderstellung als dezidiert anti-mortalistischer Materialist.
III. Mortalismus und Aufklärungstheologie Man könnte erwarten, dass die Unsterblichkeitslehren der Materialisten auf den entschiedenen Widerstand der etablierteren Universitätstheologie stoßen mussten, als heterodoxe Lehren auf einem unmittelbar zur Theologie gehörigen disziplinären Zuständigkeitsgebiet. Doch einiges spricht dagegen. Besonders auffällig ist der Umstand, dass die Göttinger Materialisten Meiners und Hißmann im Uni61 62 63 64 65
Ebd., 30. Ebd. Ebd., 31. Ebd., 44; vgl. ebd., 40, 36. Ebd., 44.
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versitätskontext nicht nur geduldet wurden, sondern ansehnliche, akademische Karrieren machten (wenn auch, im Falle Hißmanns, nach einigen Anlaufschwierigkeiten). Dies hat, wie an anderem Ort dargelegt, eine Reihe für Göttingen spezifischer universitäts- und wissenschaftspolitischer Gründe,66 die sich jedoch mit einigen Beobachtungen zur an dieser Hochschule vertretenen Theologie ergänzen lassen. Daher soll hier abschließend ausführlicher zunächst der vermutlich einflussreichste Göttinger Neologe in den Blick genommen werden, Johann David Michaelis.67 In der weitgehend überarbeiteten zweiten Auflage von Michaelis! Dogmatik ist ein ganzes Kapitel der Anthropologie gewidmet, das auch die Seelentheorie enthält.68 Michaelis stellt fest, dass die herkömmliche, philosophische Definition des Menschen als animal rationale auch mit der Bibel am besten vereinbar ist. Sodann ist die Existenz einer vom menschlichen Körper unterschiedenen Seele überhaupt unstrittig: „Daß wir eine denkende, aber dabey unsichtbahre, und allen unsern leiblichen Sinnen unentdeckbahre Seele haben, fühlen wir, und es bedarf keines Beweises, daß wir sie von den Thieren zum voraus haben“.69 Die Frage aber, wie diese Seele genauer beschaffen ist – und das heißt, ob sie materiell oder immateriell ist – ist für Michaelis zumindest nicht durch die Bibel zu entscheiden: Ob aber diese Seele zusammengesetzt, oder einfach ist, (eine Monade) überhaupt, ob Materie mit der Kraft zu denken von Gott begabt werden könne, oder blos Monaden denken können, ist eine Frage, die jeder nach seiner Philosophie bestimmen muß, denn die Bibel entscheidet hier nichts. Ein sogenannter Materialiste kann sehr wohl ein Leben nach dem Tode glauben, und denn ist er kein Ungläubiger, sondern kann ein völlig gläubiger Christ seyn.70
Diese Passage ist in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen: Hier stellt ein führender Vertreter der Neologie fest, dass der Materialismus eine theologisch akzeptable Position ist. Akzeptabel ist er genau dadurch, dass er der Unsterblichkeit der Falk Wunderlich, Empirismus und Materialismus an der Göttinger Georgia Augusta – Radikalaufklärung im Hörsaal?, in: Aufklärung 24 (2012), 65–90 sowie ders., Materialism at the University of Göttingen: Between Moderate and Radical Enlightenment, in: Steffen Ducheyne (Hg.), Reassesing the Radical Enlightenment, London, New York 2017, 223–239. 67 Es ist aber zu beachten, dass Michaelis institutionell nie zur theologischen, sondern zur philosophischen Fakultät gehörte (für diesen Hinweis danke ich Avi Lifschitz). Dennoch wird er aufgrund seines Wirkens der neologischen Theologie zugerechnet, vgl. Albrecht Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 2009, 115. Zu Michaelis vgl. weiter Berend Hinrichs, Die religionsphilosophischen Elemente in Johann David Michaelis! Dogmatik, Göttingen 1911, bes. 43–48; Michael Legaspi, The Death of Scripture, Oxford 2011; Avi Lifschitz, Language and Enlightenment. The Berlin Debates of the Eighteenth Century, Oxford 2012, 95–118. 68 Michaelis, Dogmatik (wie Anm. 1). Die erste Auflage (Compendium theologiae dogmaticae, Göttingen 1762) ist weitgehend anders aufgebaut und enthält kein Kapitel über den Menschen. 69 Michaelis, Dogmatik (wie Anm. 1), 271; er verweist auf Hiob 35,11. 70 Ebd., 272. 66
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(dann materiell zu konzipierenden) Seele nicht entgegensteht. Gerade so argumentieren auch die Göttinger Materialisten, namentlich Hißmann. Michaelis macht auch deutlich, aus welcher Art von Materie eine materielle Seele bestehen müsste, nämlich aus einer für uns unsichtbaren; also derjenigen, die zumeist „subtil“ genannt wird. Weiterhin behauptet Michaelis, dass ein künftiges Leben zwar wahrscheinlich, aber nicht eigentlich gewiss sei.71 Seine hohe Wahrscheinlichkeit ergibt sich aus einer Reihe von Überlegungen, die er in philosophische und theologische (oder biblische) einteilt. Er entwickelt also einerseits einen „philosophische[n] Beweiß“ für ein zukünftiges Leben,72 wobei er sich aber ausdrücklich nicht auf die für ihn ohnehin unstrittige Auferstehung nach dem jüngsten Gericht bezieht, sondern auf die Fortexistenz unmittelbar nach dem Tode. Andererseits trägt auch die Auslegung der Bibel Wesentliches im Hinblick auf die so verstandene Unsterblichkeitsfrage bei, so dass sie aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden soll, „erst philosophisch, und dann nach der Bibel“.73 Der philosophische Beweis ist Michaelis zufolge nicht völlig gewiss, sondern nur „sehr wahrscheinlich“.74 Es handelt sich jedoch nicht um den Beweis aus der „Unzertheilbarkeit der Seele“: Ist die Seele einfach und immateriell, so wird oft argumentiert, dann kann sie keine Teile verlieren und ist damit auch unzerstörbar und somit unsterblich. Diesen Beweis hält Michaelis für unzureichend, da einerseits die Unzerteilbarkeit der Seele und die ihr zugrundeliegende Einfachheit gerade nicht erwiesen sei – der Materialismus ist, wie oben gesehen, für Michaelis eine legitime Option. Andererseits garantiere auch Einfachheit keine Unsterblichkeit: auch eine Monade kann „wieder in den Stand, in dem sie vorhin gewesen ist, in ewigen Schlaaf und Unbewustseyn zurück sinken“.75 Auch dies ist, wie gesehen, ein bei den Materialisten geläufiges Argument. Worin besteht nun der philosophische Beweis, und was soll genau bewiesen werden? Hier gibt es zunächst zwei Möglichkeiten: entweder gelangen „die abgeschiedenen Seelen der Gläubigen unmittelbar nach dem Tode zum Genuß der Seeligkeit des ewigen Lebens“ oder sie bleiben „bis zum jüngsten Tage in einem Seelenschlaaf, so daß ihr ewiges Leben erst mit der Auferweckung des Leibes angeht“.76 Michaelis diskutiert nun einige Argumente für den Seelenschlaf. Wenig überzeugend erscheint ihm die Überlegung, dass, da wir alle Ideen durch die Sinne 71 72 73 74 75 76
Ebd., 285. Ebd., 290. Ebd., 720. Ebd. Ebd., 290. Ebd., 720.
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erhalten, die sich vom Körper lösende Seele sofort aufhören müsse zu denken. Denn sie könnte auch an vor der Trennung erworbene Ideen denken, und es wäre auch vorstellbar, dass sie ohne die Restriktionen des Leibes sogar mehr und unmittelbare, nicht durch die Sinnesmodalitäten vermittelte Eindrücke erhalten könnte.77 Für bedeutender hält er dagegen die Beobachtung, dass Erschütterungen und Verletzungen des Gehirns zum Verlust des Gedächtnisses führen können. Das lege nahe, dass es doch einen Zustand vollständigen „Unbewustseyns“ geben könnte, wie er dann auch im Seelenschlaf realisiert ist. Auch diese Überlegung ist kein wirklicher Beweis, macht die Seelenschlaf-Hypothese aber wahrscheinlicher, so dass Michaelis konstatiert: „doch ich will es ausgemacht annehmen, was mir das wahrscheinlichste ist, unsere Seele sinkt natürlicher Weise in einen tiefen Todtenschlaaf, aus dem niemand sie erwecken kann, als die Allmacht“.78 Auch dies ist in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen, bedeutet es doch, dass Michaelis die Theorie der Soul sleeper für eine wahrscheinliche und mit dem christlichen Glauben vereinbare Position hält, ohne dass sich hier eine Präferenz für den Thnetopsychismus oder den Psychopannychismus erkennen ließe. Die biblische Antwort auf die Unsterblichkeitsfrage ist dagegen Michaelis zufolge anders beschaffen.79 Während einige Passagen aus dem Alten Testament für den Seelenschlaf zu sprechen scheinen (Michaelis erwähnt Psalm 6, Jesaia 38, Prediger 9), sei dem Neuen Testament dagegen eindeutig zu entnehmen, dass die Seele unmittelbar nach dem Tod weiterlebt: „Petrus setzt der Furcht vor den Leiden das Beyspiel Christi entgegen, der zwar dem Leibe nach getödtet, der Seele nach aber lebend geblieben sey“.80 Michaelis zufolge lässt sich diese Bemerkung, soll sie irgendeinen Sinn haben, nur so auslegen, dass „wenn wir gleich dem Leibe nach getödtet würden, der Seele nach lebend bleiben.“81 Eindeutig ist die Bibel Michaelis zufolge auch im Hinblick auf die Auferstehung im Zusammenhang des Jüngsten Gerichts, und zwar als eine des Leibes (wie auch von den Mortalisten besonders hervorgehoben) und sowohl der Bösen als auch der Guten.82 Nun scheinen sich Bibelauslegung und Philosophie im Hinblick auf die Unsterblichkeit vor dem Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts zu widersprechen: WähEbd., 721. Ebd., 724. 79 Ebd., 724–727. 80 Ebd., 726; Michaelis bezieht sich hier auf 1. Petr 3,17–20. 81 Ebd., 726 sowie entsprechend 291: die Bibel lehrt das Leben nach dem Tode zuverlässig; Quelle ist v. a. das Buch Hiob, sowie Andeutungen in den Büchern Mose, ansonsten das Neue Testament. Michaelis verweist weiter auf seine Abhandlung Argumenta immortalitatis animorum humanorum et futuri seculi ex Mose collecta (Göttingen 1752). 82 Michaelis, Dogmatik (wie Anm. 1), 728. 77 78
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rend die Philosophie den Seelenschlaf als wahrscheinlichere Option etabliert hat, spricht die Bibel vor allem im Neuen Testament für ein unmittelbares Weiterleben. Bemerkenswerterweise hält Michaelis dies für unproblematisch, da es keinen „eigentliche[n] Widerspruch“ mit sich bringt.83 Ein Widerspruch tritt deswegen nicht auf, weil es sich in beiden Fällen, dem Seelenschlaf (oder genauer: seiner Beendigung durch Wiedererwecken) und dem unmittelbaren Weiterleben der Seele, um ein Wunder handelt. Es ist Michaelis zufolge unstrittig, dass dieses Wunder zu einem Zeitpunkt stattfinden wird, den wir nicht mit letzter Sicherheit bestimmen können; doch dass es eintritt, sei gesichert. Die Differenz zwischen den beiden Positionen ist also geringer, als sie erscheint, denn sie bezieht sich lediglich auf den Zeitpunkt des Wunders. Betrachtet man die Ausführungen von Michaelis und anderer, wichtiger Vertreter der Neologie zu Fragen der Unsterblichkeit und des Wesens der menschlichen Seele im Vergleich, dann fällt ihre Uneinigkeit ins Auge. In äußerlicher Durchsicht entsteht der Eindruck, dass Michaelis in seiner Affinität zum Mortalismus und der Offenheit gegenüber dem Materialismus weiter geht als die meisten anderen.84 Substanzdualisten mit den dazugehörigen Implikationen hinsichtlich der Unsterblichkeitsfrage sind etwa Johann Gottlieb Toellner (Töllner), Johann Joachim Spalding oder der Göttinger Gottfried Leß. Toellner beschreibt den Menschen als „aus einem organischem Leibe, und einer vernünftigen Seele, zusammengeseztes Wesen, welche beide zusammen Eine Person ausmachen“.85 Die Seele „ist eine vom Leibe unterschiedne, mit Verstand und Willen begabte Substanz: ein Geist“,86 und sie ist „an und für sich unverweßlich, und kan nicht anders als durch eine Vernichtung untergehn“.87 Ganz anders als bei Michaelis ist bei Spalding der Leib eine Last und auch eine epistemische Einschränkung: „Ich werde also, von diesem niederdrückenden Gewichte des trägen Leibes entlastet, mich mit einem weit schnellern und mächtigern Fluge durch den weiten Umfang der möglichen Erkenntnisse schwingen können.“88 Spalding argumentiert cartesianisch, wenn er behauptet, dass die Glieder des Körpers mein Ich geEbd., 720. Für einen Überblick über die Theologie der Aufklärung insgesamt vgl. Beutel, Kirchengeschichte (wie Anm. 67) sowie Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, Walter Sparn u. a., Philosophie und Theologie, in: Helmut Holzhey, Vilem Mudroch (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 5, Basel 2014, 449–518, bes. §§ 21 f. sowie den Beitrag von Malte van Spankeren im vorliegenden Band. 85 Johann Gottlieb Toellner, Grundriß der dogmatischen Theologie für seine Zuhörer, Frankfurt an der Oder 1760, 76. 86 Ebd. 87 Ebd., 77. 88 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, Von neuem verbesserte und vermehrte Auflage mit einigen Zugaben, Leipzig 1774, 59. 83 84
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rade nicht wesentlich ausmachen; vielmehr gilt: „Ich bin eigentlich das, was in mir Vorstellungen hat, urtheilet, sich entschließt; und dieses Ich ist ganz gewiß nicht etwas in vielen, oder in verschiedenen außer einander befindlichen Theilen bestehendes.“89 Aus dieser Einfachheit des Ich folgert Spalding unmittelbar seine „unwandelbare[] Beständigkeit“,90 und dies ist ihm beweiskräftig genug, um zu „schließen, daß dasjenige, was eigentlich ich bin, nicht nothwendig der Vertilgung, die meinen Leib dahin reißet, mit unterworfen seyn müsse.“91 Auch Leß verbindet die dualistische Ontologie unmittelbar mit der Unsterblichkeit der Seele: Wohlthat ist er [der Tod, F.W.] nicht bloß darum, weil der Redliche, der Freund Gottes gleich nach dem Tode in den Himmel geht; sondern auch deswegen, weil er ganz und gar nicht stirbt. Der Tod trift nicht ihn, sondern bloß seinen Leib. Dieser wird von ihm, oder welches einerlei ist, von der Seele gänzlich getrennt.92
Dennoch ist er nicht der Auffassung, dass die Immaterialität der Seele notwendige Voraussetzung ihrer Unsterblichkeit ist.93 Leß geht auch ausdrücklich auf die (von ihm zurückgewiesenen) Varianten des Mortalismus ein und unterscheidet drei Irrthümer in dieser Lehre. Einige leugnen, daß die Seele vom Körper verschieden, und ganz unkörperlich sey (die Materialisten). Andere geben dieses zu, leugnen aber ihre Fortdauer nach dem Tode; und wieder andre leugnen ihr Denken und Bewustseyn nach dem Tode, wenigstens so lange sie vom Körper getrennt bleibe. Diese letzten heissen Seelenschläfer.94
Wilhelm Abraham Teller leugnet die Existenz eines mittleren Zustandes zwischen dem Tod des Leibes und der Seligkeit in Christus, und entsprechend lehnt er auch alle Vorstellungen eines Seelenschlafes ab, u. a. unter direkter Berufung auf Calvin.95 Im eigentlichen Sinne tot ist Teller zufolge nur der Leib, und im uneigentlichen Sinne die Seele der Gottlosen, „wenn die Kräfte derselben das sittlich gute verlohren haben“.96 Michaelis am nächsten kommt insgesamt wohl Friedrich Wilhelm Jerusalem (der jedoch einer wesentlich ausführlicheren Untersuchung bedürfte). Jerusalem betont beispielsweise, dass für die Perspektive auf Unsterblichkeit die metaphysische Frage unerheblich ist, ob wir als „moralisch denkende Naturen“ einfach Ebd., 56. Ebd. 91 Ebd., 58. 92 Gottfried Leß, Christliche Religions-Theorie fürs gemeine Leben, oder Versuch einer praktischen Dogmatik, Zweite gebesserte und vermehrte Auflage, Göttingen 1780, 506. 93 Ebd., 510. 94 Ebd. 95 Wilhelm Abraham Teller, Lehrbuch des Christlichen Glaubens, Helmstedt, Halle 1764, 28 f. 96 Ebd., 533. 89 90
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oder materiell sind; sie ist nur auf Gottes Weisheit gegründet.97 Er wendet sich sowohl gegen Epikureer und Stoiker wegen ihrer gänzlichen Leugnung der Unsterblichkeit, zugleich aber auch gegen Platon, den er wohl für den modernen Substanzdualismus in Anspruch nimmt. Stattdessen sei die Auferstehung von Leib und Seele zusammen die sowohl historisch ursprüngliche als auch richtige Konzeption. Dabei ist zentral, daß der Tod keine Vernichtung, sondern ein Übergang in ein neues vollkommneres Leben ist; daß es aber nicht bloß Fortdauer der Seele, sondern daß dieselbe auch in dem neuen Leben mit einem Leibe verbunden seyn, und also das ganze menschliche Geschlecht in die Ewigkeit über gehen werde.98
Nur „diese Auferstehung, nämlich die Vereinigung der Seele mit einem Leibe [ist] die wahre Philosophie.“99 Jerusalems umwegige Diskussion der Schlafmetapher bedürfte einer eigenständigen Diskussion, lässt jedoch Aufgeschlossenheit für die Soul sleeper erkennen.100 IV. Fazit Der Mortalismus stellt eine gewichtige Position im Rahmen der Unsterblichkeitsdebatte dar, ohne dass er auf die gänzliche Bestreitung der Unsterblichkeit der Seele in Gestalt des Annihilationismus eingeschränkt wäre. Die Theorievarianten der Soul sleeper bieten weitere, differenzierte Ressourcen für die Erklärung einer gnadenbasierten Unsterblichkeit. Wie gezeigt wurde, ist mit dem lange unterschätzten oder gar in seiner Existenz geleugneten Materialismus in der deutschen Aufklärung zugleich der Mortalismus als sein gewissermaßen natürliches Pendant auch in diesem, und nicht nur im britischen Kontext präsent. Auch die von Burns unterschiedenen drei Formen des Mortalismus haben Entsprechungen im deutschen Materialismus: Knoblauch lässt sich dem Annihilationismus zuordnen, Stosch dem Thnetopsychismus, Hißmann und Spazier dem Psychopannychismus. Mit Hupel tritt dagegen ein Materialist als entschiedener Gegner des Mortalismus auf, der den Materialismus allererst für die natürliche und nicht nur gnadenbasierte Unsterblichkeit der Seele mobilisieren will. Unter dem Mortalismus wird eine Gruppe verschiedener Theorien zur Seelensterblichkeit verstanden, der eine gewichtige Position im Rahmen der Unsterblichkeitsdebatte einnimmt. Den „Annihilationisten“ zufolge vergeht die Seele vollständig und unwiderruflich Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Zweyte verbesserte Auflage, Braunschweig 1769, 247 f. 98 Friedrich Wilhelm Jerusalem, Nachgelassene Schriften, 1. Theil, Braunschweig 1792, 371. 99 Ebd., 372. Dabei handelt es sich nicht um den jeweils jetzigen Körper, sondern um einen verklärten, vgl. ebd., 374, 377. 100 Ebd., 385–396. 97
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mit dem Tod des Körpers. Die „Soul sleeper“ dagegen sind sich einig, dass es zumindest ein Weiterleben nach der Wiederauferstehung des ganzen Menschen am jüngsten Tag gibt. Unterschiedliche Auffassungen bestehen unter den Soul sleepers hinsichtlich des Zustandes zwischen Tod und Auferstehung: Während „Thnetopsychisten“ annehmen, dass die Seele bis zur Wiederauferstehung in einem wörtlichen Sinne ebenso tot ist wie der Körper, sind „Pychopannychisten“ überzeugt, dass die Seele nach dem Tod des Organismus in einem bewusstlosten, dem Schlaf ähnlichen Zustand weiterexistiert. Materialistische Theorien des Geistes greifen oft auf mortalistische Ressourcen zurück, wenn sie, was oft der Fall ist, nicht einfachhin den Geist auf eine Funktion des organischen Körpers reduzieren und an einer Unsterblichkeits- bzw. Auferstehungsperspektive festhalten. Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Mortalismus der deutschen Materialisten Friedrich Wilhelm Stosch, Karl von Knoblauch, Michael Hißmann und Johann Gottlieb Karl Spazier, sowie mit August Wilhelm Hupel als materialistischem Kritiker des Mortalismus. Ebenso wird die Reaktion der neologischen Theologie auf den Mortalismus in den Blick genommen, v. a. des ihm gegenüber aufgeschlossenen Johann David Michaelis. Mortalism is a host of theories that constitutes importantly to the debates on immortality. Whereas according to „annihilationists“, the soul perishes entirely with the death of the body, the „soul sleepers“ agree on that there is some kind of afterlife after judgment day. The soul sleepers have different opinions on the state of the soul before that time: According to „thnetopsychists“, the soul is dead in a literal sense until resurrection, whereas „psychopannychists“ believe that the soul persists in an unconscious state after the death of the body. Materialist theories of mind often rely on mortalist resources when they (as often is the case) do not reduce the mind to bodily functions altogether and maintain a belief in resurrection. The paper deals with the mortalism of the German materialists Friedrich Wilhelm Stosch, Karl von Knoblauch, Michael Hißmann and Johann Gottlieb Karl Spazier, as well as with August Wilhelm Hupel, a materialist critic of mortalism. The paper also discusses reactions to mortalism by neological theologians, primarily by Johann David Michaelis who is liberal-minded in this respect. Dr. Falk Wunderlich, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie, Emil-Abderhalden-Straße 26–27, D-06099 Halle (Saale), E-Mail: [email protected]
Oliver Bach Christian Fürchtegott Gellert über die Bedeutung der Unsterblichkeit der Seele für das Naturrecht der Aufklärung: Pufendorf – Leibniz – Thomasius – Wolff – Baumgarten
In seiner dritten moralischen Vorlesung Von dem Vorzuge der heutigen Moral vor der Moral der alten Philosophen, und von der Schrecklichkeit der freygeisterischen Moral fällt Christian Fürchtegott Gellert ein vernichtendes Urteil über die antike Moralphilosophie: Die Sittenlehre der Alten zeigt kein sichres Mittel der Beruhigung in den mannichfaltigen Leiden und Uebeln dieses Lebens, keinen wahren Trost, der allein in einer demuthigen Ergebung in die Hand des Allmächtigen, und in der Versicherung besteht, daß denen, die ihm gehorchen und vertrauen, alles zur Wohlfahrt dienet, und daß er unsre Schicksale mit Güte und Weisheit von Ewigkeit her geordnet hat und täglich regieret. Unsere heutige Moral hat alle diese Mängel nicht, hat würdige und erhabene Begriffe von Gott, richtige und edle von der Menschenliebe, von der Einschränkung und Mäßigung unsrer Begierden; sie hat auch mehr Gewißheit von der Unsterblichkeit der Seele, und den mit ihr verknüpften Strafen des Lasters und Belohnungen der Tugend.1
Gellert kritisiert an der Moralphilosophie der Antike insbesondere ihre pflichtentheoretischen Mängel: Selbst dort, wo der „weise Heide“ sich die goldene Regel in Ansätzen erschlossen hat, habe er doch nur einen negativen Begriff von derselben („Was du nicht willst, das dir Andre thun sollen, das thue ihnen auch nicht!“), nicht aber den Begriff eines Gebots („Was du willst, das dir Menschen thun sollen, das thue ihnen auch“).2 Die Ursache glaubt Gellert im Rationalismus der heidnischen Philosophen gefunden zu haben: „Diese höchste Regel der Pflicht ist nie die Regel der sich selbst gelaßnen Vernunft gewesen“.3 Das größte Manko heidni-
Christian Fürchtegott Gellert, Dritte Vorlesung. Von dem Vorzuge der heutigen Moral vor der Moral der alten Philosophen, und von der Schrecklichkeit der freygeisterischen Moral, in: ders., Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. 4, hg. von Bernd Witte, Berlin, New York 1992, 33–49, hier 41. 2 Ebd., 38. 3 Ebd. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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scher Moralphilosophie ist dieses propositionale Defizit der Vernunft gleichwohl noch nicht, denn selbst [w]enn sie also auch einen wesentlichen Unterschied des Guten und Bösen erkannten: so erkannten sie doch nicht, daß dieser Unterschied in dem Willen Gottes und in seiner Herrschaft über die Menschen, als über seine Geschöpfe und Unterthanen, gegründet sey, und leiteten ihre Tugend nicht aus dem Gehorsame gegen Gott, sondern bloß aus der natürlichen Schönheit des Guten und der natürlichen Häßlichkeit des Lasters her.4
Gellert schreibt dem Handeln aus Furcht vor Strafe gerade nicht diejenige moralische Inferiorität zu, die Kant diesem später als bloß zweckklugem, maximenfreiem Handeln zuschreiben wird.5 Bei Gellert verhält es sich umgekehrt, da es Gott ist, der zwischen Gut und Böse unterscheidet. Im Voluntarismus muss die Strafandrohung der moralischen Maxime nachgerade zugrunde liegen und kann von ihr nicht unterschieden sein. Der entscheidende Mangel der antiken Philosophie – wobei Gellerts Kritik an dieser Stelle noch sowohl säkulare als auch atheistische Moralentwürfe treffen will – ist ihre mangelnde Erkenntnis von der Verbindlichkeit allgemeiner, d. h. überpositiver Normen. Diese Erkenntnis kann aber nur aus dem letztlich geoffenbarten Wissen um Gottes Willen und aus der eingangs zitierten „Gewißheit von der Unsterblichkeit der Seele, und den mit ihr verknüpften Strafen des Lasters und Belohnungen der Tugend“ resultieren.6 So wenig also Gellerts Kritik an den Alten verwundern mag, so sehr verwundert doch sein Urteil über die Moralphilosophie seiner Gegenwart: „Unsere heutige Moral hat alle diese Mängel nicht“.7 Selbstverständlich nennt Gellert die Namen derjenigen Zeitgenossen, die schon allein wegen ihres Status als Religionskritiker einen defizitären, weil unverbindlichen Moralbegriff haben müssen: „die Lehrer der Freygeisterei“.8 Da trifft Gellerts Polemik „einen Rochester, einen Hobbes, einen Bolingbrocke und Schaftsbury“, „die Sophistereyen eines Bayle“ und den „Witz eines La Mettrie“.9 Ihnen hält Gellert als Leseempfehlungen an seine Studierenden Albrecht von Haller, Johann Lorenz von Mosheim, Samuel Squire, Johann August Nösselt und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem entgegen;10 wenn diese – wie im Falle Hallers – auch nicht alle als Theologen fungierten, so argumentierten sie in ihren Morallehren doch allesamt theologisch. Eigentümlich ungenannt bleiben also die verbindlichkeitstheoretischen Entwürfe philosoEbd., 37. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seite Zeile), Bd. IV (1911), 4013–6. 6 Gellert, Dritte Vorlesung (wie Anm. 1), 41. 7 Ebd. 8 Ebd., 47. 9 Ebd. 10 Ebd., 48. 4 5
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phischer Provenienz, mithin ausgerechnet diejenigen, die sich stärker mit der obligatio beschäftigten als die Antike: Die Rede ist vom Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Verwunderlich ist Gellerts Lob der in seinen Augen theonomen Verbindlichkeitstheorien seiner Zeit mithin deshalb, weil es ungenannt auch der philosophischen Traditionsbildung gilt. Diese war gerade in der Entstehungszeit von Gellerts Vorlesungen, 1744–1769,11 im Vergleich zu Haller, Mosheim, Squire und Nösselt weitaus namhafter und Gellert selbstverständlich bekannt.12 Im Folgenden soll daher eine Problemgeschichte naturrechtlicher Bindungswirkung entfaltet werden. Es geht um die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele nicht schon insofern, als Naturrechtsentwürfe die Annahme von der Unsterblichkeit der Seele und von den ewigen Strafen bloß bejahten; sondern es geht dabei um die Frage, ob diese Entwürfe diese Annahme tatsächlich zur Bedingung der Verpflichtungskraft überpositiver Normen machten. Zu untersuchen sind daher das Naturrechtsdenken Samuel Pufendorfs (I.), Gottfried Wilhelm Leibniz! (II.), Christian Thomasius! (III.), Christian Wolffs (IV.) und Alexander Gottlieb Baumgartens (V.) Erst vor dem Hintergrund dieser Verbindlichkeitstheorien lässt sich die Stoßrichtung von Gellerts dritter Vorlesung angemessen verstehen (ohnehin haben die Vorlesungen nur wenige Einzeluntersuchungen erfahren und dies nur mit Blick auf die von Gellert explizit genannten Kontexte).13 Inwiefern Gellerts dritte Vorlesung tatsächlich auch die Tradition von Pufendorf bis Baumgarten anspricht, weil Gellert in bestimmter Weise mit derselben umgeht, soll abschließend (VI.) gezeigt werden.
Sibylle Späth, Zur Edition. Entstehungsgeschichte, in: Christian Fürchtegott Gellert, Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. 4, hg. von Bernd Witte, Berlin, New York 1992, 313–315. 12 Vgl. Sibylle Späth, Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie, in: Bernd Witte (Hg.), „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts, München 1990, 151–171, hier 154–159; Friedrich Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001, 275–285; Jan Engbers, Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 2001, 37–40. 13 Vgl. herausragend Mark-Georg Dehrmann, Moralische Empfindung, Vernunft, Offenbarung. Das Problem der Moralbegründung bei Gellert, Spalding, Chladenius und Mendelssohn, in: Sibylle Schönborn, Vera Viehöver (Hg.), Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur, Berlin 2009, 53–65; Jutta Heinz, Empfindsame Wissenschaft. Zur Vermittlerfunktion der „schönen Wissenschaften“ bei Gellert, in: ebd., 23–37; Sikander Singh, Christian Fürchtegott Gellert und die Empfindsamkeit, in: Michael Hofmann (Hg.), Aufklärung. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2013, 27–43; Olaf Kramer, Poetik der Ausgrenzung. Zur Konturierung von Empfindung und Vernunft bei Christian Fürchtegott Gellert, in: Das achtzehnte Jahrhundert 40/1 (2016), 30–46. 11
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I. Samuel Pufendorf Nachdem Samuel Pufendorf in Buch 2, Kapitel 2 seines Hauptwerkes De jure naturae et gentium aus der Naturzustandsfiktion die Geselligkeit des Menschen abgeleitet hat, beschäftigt er sich im folgenden Kapitel 3 mit dem Beweischarakter dieser Ableitung und der Verpflichtungskraft jener socialitas. Zur angemessenen Erkenntnis des Naturrechts ist weder die Offenbarung noch Innation, d. h. das Hineinlegen der natürlichen Gesetze in die mens, notwendig.14 Gleichwohl ist es Pufendorf vor allem um eine deutliche Kritik an Hugo Grotius zu tun: Was dieses Prinzip [i. e. die socialitas; O.B.], aus dem das Naturrecht herzuleiten ist, betrifft, so ist dasselbe nicht nur echt und wahrhaftig, sondern ich meine auch, dass es soweit hinreichend und angemessen ist, dass es keine einzige Vorschrift des Naturrechts im Hinblick auf andere Menschen gibt, das seinen Grund nicht aus diesem Prinzip bezieht. Damit diese Urteile der Vernunft Gesetzeskraft erhalten, ist es gleichwohl, wie wir zeigen werden, notwendig vorauszusetzen, dass ein Gott ist und er durch seine Vorsehung alles, insbesondere aber das Menschengeschlecht regiert. Deshalb können wir Grotius nicht zustimmen, wenn er in seinen Prolegomena behauptet, dass die natürlichen Rechte auch dann existierten, wenn wir annähmen – was ohne das höchste Verbrechen nicht möglich ist –, dass kein Gott existierte oder sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht kümmerte. Denn angenommen, jemand vertritt die gottlose und widersprüchliche These, dass das Menschengeschlecht gleichsam aus sich selbst heraus entstanden sei, so hätten die Vernunfturteile in keiner Weise Gesetzeskraft, denn diese setzt mit Notwendigkeit einen Oberen voraus.15
Das Kriterium der Verpflichtungskraft als wesentliche Bestimmung des Rechtsund Gesetzesbegriffs auch im Bereich des jus naturae nötigt Pufendorf zur Annahme einer Obrigkeitsinstanz, die im Naturzustand keine andere als eine überSamuel Pufendorf, Gesammelte Werke, Bd. 4: De jure naturae et gentium, hg. von Frank Böhling, Berlin 1998, Hbd. 1, 153 (JNG II. 3. § 13): „Ubi illud manifestum judicamus, etsi divinae literae liquidius cognoscendo juri naturali plurimam lucem adferant; illud tamen etiam citra istud adminiculum per vires rationis, homini abs Creatore concessae, & adhuc superstitis, posse investigari, & solide demonstrari. Quam ad rem tamen vix necessarium arbitramur praefracte contendere, animis hominum ab ipsa nativitate congenita, & velut impressa esse juris naturalis saltem generalia praecepta, ad modum distinctarum, & actualium propositionum.“ 15 Ebd., 153 (JNG II. 3. § 19): „Caeterum isthoc principium deducendi juris naturalis non genuinum solum & maniefestum, sed & sufficiens atque adaequatum esse arbitramur hactenus, ut non sit ullum praeceptum juris naturalis, alios homines spectans, cujus ratio non ultimo exinde petatur. Etsi, quod mox ostendemus, ut ista rationis dictamina obtineant vim legum, necessum sit praesupponere, Deum esse, & per ipsius providentiam tum omnia, tum inprimis genus humanum gubernari. Neque enim adstipulari possumus Grotio, qui in prolegomenis autumat, jura naturalia locum aliquem habitura, etiamsi daremus, quod sine summo sceleri dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana. Nam si vel maxime quis impiam istam, & absurdam hypothesin fingeret, ac genus humanum ex se scilicet ortum conciperet; ista tamen rationis dictata tunc nullo modo possent habere vim legis, quippe quae necessario superiorem ponit.“ Übers. O.B.; Hervorhebungen im Text. 14
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menschliche sein kann.16 Man kann dies als naturrechtlichen Gottesbeweis Pufendorfs bezeichnen. Diese Interpretation hat gleichwohl ihren philosophischen Schwachpunkt darin, dass Pufendorf die verbindliche Geltung des Naturrechts je schon setzte, um aus ihr Gottes Existenz und seinen Status als Gesetzgeber zu folgern. Als gesichert hat Pufendorf jedoch nur den intelligiblen Charakter des Naturrechts vorausgesetzt; die vis legis hat er hiervon ausdrücklich unterschieden. Um dieselbe zu beweisen, meint Pufendorf, sei die Prämisse eines Gottes notwendig. Unbestritten ist dies eine notwendige Prämisse („necessum sit praesupponere“); dies würde Pufendorf jedoch nur dann weiterhelfen, wenn die vis legis bereits evident wäre. So aber sind sowohl Gottes Existenz als notwendige Prämisse als auch die Geltung des Naturrechts als notwendige Folgerung prekär – mehr noch: Es ist nicht einmal deutlich, was Beweisziel, was Beweisgrund sein soll. Mit Blick auf seine Grotius-Polemik scheint es zunächst so, dass Pufendorf einen naturrechtlichen Gottesbeweis führt – die Annahme des Holländers, Gott sei keine notwendige Prämisse eines verbindlichen Naturrechts, möchte Pufendorf im angeführten Zitat widerlegen. Die Lesart, Pufendorf führe an zitierter Stelle einen naturrechtlichen Gottesbeweis, hat darüber hinaus einen philologischen Schwachpunkt, wenn man auf die in den unmittelbar vorausgehenden Paragraphen vollzogene Hobbes-Kritik blickt. Dessen Naturrechtsanalyse unzulässig dem Epikureismus zuschreibend glaubt Pufendorf nämlich, Hobbes in der Meinung widerlegen zu müssen, das Naturrecht folge allein aus dem Eigennutzen: Hobbes hat die natürlichen Gesetze allein aus dem Eigennutz abgeleitet, und zwar durchaus scharfsinnig. Im Hinblick auf seine Beweisführung ist zunächst anzumerken, dass aus ihr schlüssig folgt, dass der Nutzen des Menschen gemehrt wird, wenn alle Menschen ihr Leben gemäß den Urteilen der Vernunft führen. Trotzdem ist hieraus eben nicht nur zu schlussfolgern, dass der Mensch lediglich das Recht hätte, entsprechende Mittel für seine Selbsterhaltung aufzuwenden; sondern er ist aus irgendeinem Gesetz heraus auch angehalten, diese Selbsterhaltung zu beachten. Damit also jene Vernunfturteile Gesetzeskraft erhalten, sind sie aus einem gänzlich anderen Prinzip herzuleiten.17
Dieses Prinzip ist die socialitas: Nicht nur meint Pufendorf, in der Geselligkeit die allein angemessene Realisierungsbedingung der Selbsterhaltung gefunden Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau, München 1998, 44. 17 Pufendorf, De iure naturae et gentium (wie Anm. 14), 150 (JNG II. 3. § 16): „Quod autem ex sola propriae salutis cura Hobbesius leges naturales sat argute deduxit; circa eam demonstrationem initio est notandum; id quidem liquido ex illa constare, saluti hominum expedire, ut ab hominibus juxta ista rationis dictamina vita agatur. Non tamen statim ita concludi posse; jus est homini ista media ad sui conservationem adhibere; ergo & ad eadem observanda velut ex lege aliqua tenetur. Inde ut illa rationis dictamina vim legum accipiant, omnino ex alio principio est deducendum.“ 16
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und auf diesem Wege egoistisches Eigen- und altruistisches Fremdinteresse erfolgreich im Gemeininteresse vermittelt zu haben. Pufendorf schreibt darüber hinaus gerade der socialitas jene Verpflichtungskraft zu, die die propria salus in seinen Augen nicht hat: Eine Pflicht zur Selbsterhaltung ist aus dieser selbst gar nicht abzuleiten (anders als Hobbes ist Pufendorf also je schon an einem Selbstmordverbot interessiert). Bereits in der Vorbereitung seiner Hobbes-Kritik hatte Pufendorf der socialitas selbst eben nicht nur ratsamen und damit nur nützlichen Charakter, sondern auch Verpflichtungskraft zugeschrieben: „Unter Geselligkeit verstehen wir diejenige Einstellung des Menschen gegen jeden anderen, durch die er diesem mit Wohlwollen, Frieden, Hochachtung und sogar gegenseitige Verpflichtung verbunden ist“.18 Pufendorf schreibt hier dem verstandesmäßigen Prinzip des Naturrechts selbst diejenige vis legis zu, die er bei seiner GrotiusKritik streng aus demselben extrahiert. Pufendorfs Versuch, sein Naturrecht gegen Hobbes! Dezisionismus intellektualistisch zu stärken und es zugleich gegen Grotius! Intellektualismus voluntaristisch zu profilieren, kommt zu keineswegs widerspruchsfreien Ergebnissen. Aus der socialitas folgt anders als die Notwendigkeit einer Gottesinstanz nicht die Notwendigkeit einer Unsterblichkeit der Seele. Hier richtet Pufendorf seine Kritik gegen einen ungenannten Autor: Ein gewisser Gelehrter glaubt, aus unserem Prinzip könne gerade die Tugend der Tapferkeit nur dann bewiesen werden, wenn man ihm die Unsterblichkeit der Seele zugrundelegt. Denn anders könne demjenigen kein Lohn zuteilwerden, der sein Leben für eine gute Sache hingibt. Diese These bereitet keine geringen Probleme. Obgleich es nämlich gottlos wäre, die Unsterblichkeit der Seele zu negieren oder auch nur in Zweifel zu ziehen, so kann dennoch auch ohne dieselbe bewiesen werden, dass ein Soldat angehalten ist, für das Vaterland bis zum Tode zu kämpfen. Zum einen ist nämlich noch nicht klar bewiesen, dass die gute Tat notwendig mit einem gleichsam äußeren Lohn beschenkt wird. Zum anderen ist nicht zu leugnen, dass es einem Herrscher zusteht, seine Bürger zu bewaffnen und zur Sicherheit des Staates gegen den Feind zu schicken und, wo es der Krieg wesentlich erfordert, bei Strafe des Lebens zu verbieten, dass jemand seinen ihm anbefohlenen Posten durch Flucht verlässt. Der Mensch wählt nämlich zwischen zwei Übeln immer das kleinere. Es ist aber weniger von Übel, lediglich unter der Ebd., 150 (JNG II. 3. § 15): „[P]er socialitatem innuimus ejusmodi dispositionem honminis erga quemvis hominem, per quam ipsi benevolentia, pace & caritate, mutuaque adeo obligatione conjunctus intelligitur.“ Vgl. die keineswegs einhelligen Forschungsmeinungen zu Pufendorfs Hobbes-Rezeption: Horst Dreitzel, Hobbes-Rezeption. Zur politischen Philosophie der frühen Aufklärung in Deutschland, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Strukturen der deutschen Frühaufklärung 1680–1720, Göttingen 2008, 263–307, hier 282–284; Thomas Behme, Gegensätzliche Einflüsse in Pufendorfs Naturrecht, in: Fiammetta Palladini, Gerald Hartung (Hg.), Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694–1994), Berlin 1996, 74–82; Fiammetta Palladini, Pufendorf disciple of Hobbes: The nature of man and the state of nature: the doctrine of socialitas, in: History of European Ideas 34 (2008), 26–60. 18
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Gefahr des Todes zu kämpfen, als einen sicheren Tod [i. e. durch Desertion] auf sich zu nehmen.19
Pufendorf beweist nur die Möglichkeit einer positivrechtlichen Verpflichtung, eine Todesgefahr einzugehen, und zwar mit utilitaristischen Argumenten, insofern der Heldentod allemal besser sei als der Hinrichtungstod. Schon dieses utilitaristische Argument überzeugt nicht, weil es die Todesstrafe auf Desertion und Befehlsverweigerung immer schon voraussetzt (und dies zugleich relativiert: „wo es der Krieg erfordert“); die Kapitalstrafe nämlich einmal beiseite gesetzt zugunsten einer Freiheitsstrafe, leuchtete keineswegs ein, warum der Utilitarist mutatis mutandis nicht das Leben in Gefangenschaft einem Tod auf dem Felde vorziehen sollte. Es ist dieses Beispiel, das zeigt, warum Pufendorf eigentlich selbst zuvor mit großem Aufwand eine utilitaristische Begründung von Recht abgelehnt hatte.20 Darüber hinaus krankt Pufendorfs Argumentation an dieser Stelle vor allem daran, dass sie nicht vom status naturalis ausgeht, sondern eben von der Möglichkeit positivrechtlicher Obligation handelt. Mag man also Pufendorfs utilitaristischer Argumentation sogar zustimmen, so ist damit dennoch das ursprüngliche Beweisziel verfehlt: Wie wird normkonformes bzw. normwidriges Handeln jenseits staatlicher Verpflichtung belohnt bzw. bestraft? Wo Pufendorf zu dieser allererst triftigen Frage gelangt, beschränkt er sich auf die Behauptung, von der Unsterblichkeit der Seele könne darum abstrahiert werden, weil es eine diesseitige Glückseligkeit gebe, die sich eben nicht in der Realisierung epikureischer voluptas erschöpfe: Wenn man die Unsterblichkeit der Seele nicht voraussetzt, folgt auch nicht, dass das höchste Gut des Menschen in der Wollust zu lozieren sei. Denn sieht man einmal davon ab, dass diejenige Naturrechtslehre, die wir hier vortragen, die Unsterblichkeit der Seele nicht leugnet, sondern von ihr abstrahiert, so taugt jene Wollust des Körpers, die von Epikureern als höchstes Gut bestimmt wird, nicht zur Erhaltung, zur Geselligkeit, zu Frieden und Ruhe, sondern ist ihnen sogar entgegengesetzt.21 Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 14), 153 (JNG II. 3. § 19): „Quod autem quidam eruditus vir credidit, ex nostro principio non posse demonstrari saltem virtutem fortitudinis, nisi fundamenti loco substernatur simul immortalitas animae; cum ali)s praemium non possit cadere in eum, qui pro bona causa vitam profundit; id parum habet difficultatis. Quanquam enim alias istam negare, aut in dubium revocare impium sit; tamen etiam citra eandem demonstrare licet, militi posse injungi, ut pro patria ad necem usque pugnet. Praeterquam enim quod nondum liquido sit probatum, quodlibet recte factum necessario aliquo praemio velut extrinseco esse mactandum; id sane in cofesso est, penes summum imperium esse, cives armare, & in hostem educere pro securitate civitatis, ac, ubi ratio belli postulaverit, sub poena capitis edicere, ne quis assignatam stationem per fugam deserat. Jam vero ex duobus malis non potest non minus eligere homo. Est vero minus malum, pugnare cum periculo, & ad extremum usque spiritum, quam certam subire mortem.“ 20 Ebd., 139–142 (JNG II. 3. § 10). 21 Ebd., 154 (JNG II. 3. § 19): „Neque vero sequitur, nisi immortalitas animae supponatur, collocandum hominis summum bonum in voluptate. Nam praeterquam quod in disciplina juris 19
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Nach dieser Behauptung bricht Pufendorf jedoch ab, ohne auszuführen, ob er damit beispielsweise natürliche Strafen im Blick hat. Dass epikureische Wollust die Erhaltung, Geselligkeit, Frieden und Ruhe bedrohte, begründet noch nicht hinreichend, wodurch dieselben gesichert, ihre mögliche Verletzung sanktioniert wird. Hier wird einmal mehr deutlich, dass Anthropologie weniger zur juridischen Grundlage als zur Vermeidung rechtlicher Problemstellungen taugt, denn offensichtlich hält Pufendorf an dieser Stelle ebenjene Möglichkeit einer Verletzung der socialitas für ausgeschlossen. Insofern Pufendorf nur von der Unsterblichkeit der Seele abstrahiert, ist es zunächst keineswegs widersprüchlich, wenn er im folgenden Kapitel 4 die Pflege der Seele als die vordringlichste Pflicht des Menschen gegen sich selbst bestimmt: Weil aber der Mensch aus zwei Teilen besteht, nämlich aus Seele und Körper, und weil jene Ursprung und Prinzip, dieser nur Mittel der dem Menschen eigentümlichen Handlungen ist, haben die Sorge um die Seele und ihre Pflege zurecht Priorität.22
Hier geht es Pufendorf um die Seele nicht als Zielursache menschlicher Handlungen, weshalb von ihrem zukünftigen Zustand im Jenseits ganz abgesehen werden kann; sondern es geht um die Seele gleichsam als Materialursache moralischer Handlungen. Im Übrigen changiert Pufendorf in seinen folgenden Ausführungen zwischen der Verwendung des Begriffes Seele („anima“) und Gemüt („animus“): So spricht er schon in der unmittelbaren Folge der soeben zitierten Passage von der „Pflege des Gemüts, die anzustreben alle Menschen verpflichtet sind und die zum angemessenen Gehorsam der Pflicht des Menschen notwendig ist“,23 womit deutlich wird, dass die Seele bei Pufendorf Ort der Verstandes- und Willenstätigkeit sowie der Affekte ist. Mit dieser Einbettung der moralischen Urteile in eine auf den Willen abgestimmte Psychologie baut Pufendorf der „voluntaristischen Wende“ im Naturrechtsdenken seines Schülers Christian Thomasius durchaus schon selbst vor.24 Denn die Seele ist auch für Pufendorf allemal Realisierungsbedingung des Naturrechts.
naturalis, hoc modo adornata, immortalitas animae non negatur, sed duntaxat ab eadam abstrahitur, voluptas illa corporis, quae vulgo Epicuri summum bonum dicitur, ad conservationem, socialitatem, pacem & tranquillitatem generis humani non facit, sed potius eidem adversatur.“ 22 Ebd., 164 (JNG II. 4. § 1): „Cum autem ex duabus partibus homo constet, anima & corpore, quarum illa actionum homini propriarum origo & principium est, hoc instrumenti vicem obit, illius cura & cultura merito primas sibi partes vindicat.“ 23 Ebd., 164 (JNG II. 4. § 2): „Cultura animi, ad quam capessendam omnes homines obstringuuntur, & quae ad rite obeundum hominis officium est necessaria.“ 24 Vgl. Oliver Bach, Natur als juridisches Argument an der Schwelle zur Aufklärung. Zu den theonomen, rationalistischen und voluntaristischen Systemstellen des Denkens vom Naturzustand bei Samuel Pufendorf und Christian Thomasius, in: Jahrbuch Aufklärung 25 (2013), 23–50, hier 47.
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Gleichwohl geht es Pufendorf ebenso um die Relevanz der Moralität für das seelische Wohlergehen – und damit kehrt er die ursprünglich angestrebte Beweisrichtung um. So nimmt er entschieden Stellung gegen die Auffassung, dass es für wahrhafte Glückseligkeit keinen Unterschied mache, ob einer der Tugend oder den Lastern ergeben ist, dass es einem Frommen nicht besser ergehe als einem Gottlosen. Vgl. Cicero Über das Wesen der Götter, Buch 3: „Wenn es keinen Unterschied zwischen guten und bösen Menschen gibt, so gibt es keine göttliche Herrschaft über die Menschen“.25
Zwar handelt diese Stelle nicht zwingend vom ewigen Seelenheil, sondern lässt sich auch auf das diesseitige Wohlergehen der Seele anwenden. Dennoch hat Pufendorf seine zunächst materialursächliche Betrachtung der Seele zugunsten einer finalursächlichen aufgegeben. Damit stellt sich allemal erneut die juridische Frage nach dem Telos der Seele; mithin ergibt sich erneut die Möglichkeit einer jenseitigen Antwort auf diese Frage. Und Pufendorf nutzt diese Möglichkeit im direkten Anschluss unumwunden: Es ist ebenso ein gefährlicher Wahn, dass der Mensch nichts Höheres zu erwarten habe, als nur das gegenwärtige Kitzeln der Sinne zu genießen, und dass die Seele mit dem Körper sterbe; dass alles natürliche Recht nur eine Erfindung des Menschen sei, Gott nicht zu seinem Urheber habe und daher keine göttliche Verpflichtungskraft und Heiligkeit in sich trage. Diese und ähnliche Ansichten müssen vollständig ausgerottet werden, da sie die Pflicht des Menschen gegenüber Gott zerstören und sein festes Bemühen unterbinden, seine Sitten auf die gesunde Vernunft auszurichten.26
Damit rückt Pufendorf von seiner im vorausgegangenen Kapitel noch behaupteten Irrelevanz der Annahme einer Unsterblichkeit der Seele für die Geltung des Naturrechts radikal ab. Ebenso wie er sich unentschlossen zeigt, die Verpflichtungskraft des Naturrechts der socialitas intellektualistisch zu implizieren oder voluntaristisch aus derselben zu extrahieren und Gott zuzuschreiben, so ist Pufendorf auch unentschlossen, die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele als einer säkularen Abstraktion fähig oder als eschatologisch notwendig zu bestimmen. Deutlich wird an der zitierten Stelle, dass Pufendorfs Unentschlossenheiten zwischen Intellektualismus und Voluntarismus zum einen und Säkularismus und Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 14), 167 (JNG II. 4. § 4): „Perniciosa quoque opinio est, ad solidam felicitatem nihil interesse, virtuti quis studeat, an vitiis sese dedat, nec meliorem conditionem manere probos, quam improbos. Cicero de nat. deorum l. 3. Divina in homines moderatio profecto nulla est, si in eas discrimen nullum est bonorum & malorum.“ 26 Ebd., 167 f. (JNG II. 4. § 4): „Item, nil sublimius esse homini expectandum, quam ut praesenti seunsuum titillatione furatur; & cum corporibus animas quoque interire. Item, omne jus, etiam quod naturale vocatur, esse commentum humanum, nec ad autorem Deum referri, ab eoque vim & sanctimoniam obtinere. Hae igitur & similes opiniones plane sunt eradicandae, quippe quae officium hominis erga Deum destruunt, ac firmum studium mores ad sanam rationem componendi intercipiunt.“ 25
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Eschatologie zum anderen zusammenhängen. Solange er sich nicht entschließen kann, die Geltungsinstanz des Naturrechts aus der Transzendenz in die Immanenz zu verlegen, solange will es Pufendorf nicht gelingen, die Sanktionen des Naturrechts in die Immanenz zu verlegen und von Glückseligkeitserwägungen kategorisch zu unterscheiden. Es ist diese bis Kant nicht angemessen vollzogene Trennung zwischen Rechts- und Glückseligkeitslehre,27 die bei Pufendorf ihren Grund in einer misslungenen Vermittlung zwischen Intellektualismus und Voluntarismus hat und die naturrechtliche Unsterblichkeitsdebatte des 18. Jahrhundert nachhaltig prägen wird. II. Gottfried Wilhelm Leibniz Dies manifestiert sich bereits bei Gottfried Wilhelm Leibniz, von dessen Seite sich Pufendorf den Vorwurf einer tendenziell epikureischen Position zuzieht. Im März 1713 schreibt Leibniz aus Wien an den Rintelner evangelischen Theologen und Professor für Rhetorik und Politik Friedrich Wilhelm Bierling:28 An so ruhmreichen Männern wie Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und ihren Anhängern missbillige ich vor allem die Meinung, dass die Unsterblichkeit der Seele, die Strafen und Belohnungen über dieses Leben hinaus nur durch Offenbarung erkannt werden können. Die Pythagoräer und Platoniker urteilten in dieser Sache richtiger. In meinem Brief an [Justus Christoph, O.B.] Böhmer bemerkte ich über Pufendorfs Büchlein De officio, dass die Grundlage der natürlichen Theologie jedem Einzelnen aus dem Volk evident sei, wenn er nur die göttliche Vorsehung und ihre Folgen anerkennt, und zwar auch unabhängig von den metaphysischen Argumenten, die wir gewisslich haben. Eine Moral-, Rechts- und Pflichtentheorie ist äußerst unvollkommen, wenn sie nur auf diesseitigen Gütern beruht, wie ich in demselben Brief zeigte. Eine Lehre von der Vorsehung ist ohne jeden Nutzen, wenn man die Unsterblichkeit der Seele aufhebt, und sie richtet nichts aus, um die Menschen zu verpflichten – wie die Götter der Epikureer, die keine Vorsehung haben. Wenn Gott daher keine Prinzipien in uns hineingelegt hätte, aus denen wir die Unsterblichkeit erkennen, so wäre die natürliche Theologie hinfällig und richtete gegen den praktischen Atheismus nichts aus.29 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden, hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 1992, 1–48, hier 8–10 (AA VIII, 27917–2805). 28 Karl Bernhardi, Art. Bierling, Friedrich Wilhelm, in: Allgemeine Deutsche Biographie 2 (1875), 629. 29 Gottfried Wilhelm Leibniz an Friedrich Wilhelm Bierling, Wien, März 1713, Transkription für die Leibniz-Akademieausgabe der Leibniz-Forschungsstelle Hannover vom 6. September 2011 (http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1713.pdf [eingesehen am 22. 04. 2017]): „In Viris Celeberrimis Samuele Pufendorfio, Christiano Thomasio et sequacibus hoc maxime improbo, quod immortalitatem animae, poenasque et praemia trans hanc vitam praesentem sola revelatione cognosci arbitrantur. Pythagoraei et Platonici rectius sapiebant. 27
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Abgesehen davon, dass diese Passage deshalb für den hiesigen Zusammenhang triftig ist, weil sie von metaphysischen Argumenten ausdrücklich absehen will, besagt sie viel über die Naturrechtsdebatte der Frühaufklärung und ihr Verhältnis zur Unsterblichkeitsfrage. Leibniz! Pufendorf-Lektüre ist erstens eklektisch: Der Hannoveraner Frühaufklärer beschränkt sich auf Pufendorfs Aussage, dass seine Naturrechtslehre „die Unsterblichkeit der Seele nicht leugnet, sondern von ihr abstrahiert“.30 Zweitens legt Leibniz seiner Polemik gegen Pufendorf einen offensichtlich anderen Epikureismus-Begriff zugrunde, als Pufendorf seiner Polemik gegen die Epikureer. Dieser hatte es an besagter Stelle noch als epikureische Position ausgewiesen, eine rein diesseitige Ordnung kenne nur „jene Wollust des Körpers […] als höchstes Gut“.31 Leibniz sieht im Gegenteil eine diesseitige Ordnung nur dann gegen Wollustökonomie abgesichert, wenn sie durch jenseitige Strafen garantiert wird. Mehr noch: Es liegt sogar nahe, dass Leibniz sich seinerseits von Pufendorf den Vorwurf des Epikureismus zugezogen hätte, widerspricht er doch gerade Pufendorfs These, „wenn man die Unsterblichkeit der Seele nicht voraussetzt, folgt nicht, dass das höchste Gut des Menschen in der Wollust zu lozieren sei“:32 Leibniz! Diesseits wäre ein nach Pufendorfs Dafürhalten epikureisches Diesseits. Drittens aber lässt sich Leibniz! Identifikation aller Vorsehung mit ausschließlich jenseitigen Strafmaßnahmen Gottes mit seinem Deismus erklären, den Pufendorf in dieser Weise nicht teilt:33 Eine Sterblichkeit der Seele ebenso wie eine juridisch irrelevante Unsterblichkeit derselben bedingten für Leibniz einen concursus Dei, wie er mit einer konsequenten deistischen Konzeption unvereinbar ist. Leibniz! Auffassung, die Unsterblichkeit der Seele sei aus Ego in epistola ad Boehmerum de Pufendorfiano officiorum libello data, notavi, hoc Theologiae naturalis fundamentum etiam cuivis de populo manifestum esse, qui divinam providentiam ejusque consequentias agnoscit; sepositis licet metaphysicis argumentis, quae invicta habemus. Imperfectissima est doctrina de moribus, justitia, officiis, quae solis hujus vitae bonis nititur, ut in eadem epistola ostendi. Inutilis est providentiae doctrina, sublata animae immortalitate, nec plus efficit ad obligandos homines, quam Dii Epicureorum, providentia carentes. Itaque si Deus nobis non indidit principia, unde immortalitatem nosceremus, inanis est Theologia naturalis, nec quicquam contra atheismum practicum valet.“ Übersetzung O.B. 30 Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 14), 154 (JNG II. 3. § 19): „[I]n disciplina juris naturalis, hoc modo adornata, immortalitas animae non negatur, sed duntaxat ab eadam abstrahitur.“ Vgl. Werner Schneiders, Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 20/3,4 (1966), 607–650, hier 645. 31 Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 14), 154 (JNG II. 3. § 19): „[V]oluptas illa corporis, quae vulgo Epicuri summum bonum dicitur, ad conservationem, socialitatem, pacem & tranquillitatem generis humani non facit, sed potius eidem adversatur.“ 32 Ebd., 154 (JNG II. 3. § 19): „Neque vero sequitur, nisi immortalitas animae supponatur, collocandum hominis summum bonum in voluptate.“ 33 Insofern ist Pufendorf nicht ohne weiteres als Deist zu kennzeichnen, vgl. Michael Titzmann, Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit: Relevanz – Formen – Kontexte, in: Hartmut Laufhütte, Michael Titzmann (Hg.), Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, 5–118, hier 69.
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Prinzipien evident, die Gott „in uns hineingelegt“ habe, belegt viertens, dass er einer Vorstellung von ideae innatae anhängt, von denen Pufendorf mit seiner juridischen Naturzustandsanalyse gerade abstrahieren wollte. Nicht nur also die vorsehungstheoretischen, sondern auch die rechtstheoretischen Voraussetzungen Pufendorfs und Leibniz! sind unterschiedlich: Möchte Pufendorf das Naturrecht aus der socialitas ableiten und ist insofern schon theoretisch gezwungen, von weiteren Prinzipien abzusehen, so kennt Leibniz neben der socialitas andere bzw. zusätzliche Prinzipien des Naturrechts, die auf die Unsterblichkeit der Seele als Bedingung einer Strafbewehrtheit des ius naturae sicher schließen lassen. Nun wäre dieses Bild einer ersten eklektischen Rezeption der widersprüchlichen juridischen Unsterblichkeitskonzeption Pufendorfs an ihm selbst schon komplex genug, und dennoch wäre es nicht komplett. Nicht zu vernachlässigen ist nämlich Leibniz! 1708 verfasstes, aber erst 1773 von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichtes Vorwort zu Ernst Soners Theologischen und Philosophischen Beweis, dass eine ewige Bestrafung der Sünder die Gerechtigkeit Gottes nicht belegt, sondern ihr widerspricht:34 Dieses Vorwort versteht sich als eine Widerlegung der sonerschen These, die jenseitigen Strafen könnten nicht ewig sein, weil die Sünden endlich sind und zwischen Sünden und Strafen ein angemessenes Verhältnis bestehen muss.35 Leibniz gibt Soners Aufzählung von Aspekten wieder, unter denen die Unendlichkeit von Sünden in Frage kommt: [E]ntweder haben sie diese unendliche Kraft aus sich selbst oder von Seiten des Delinquenten oder mit Blick auf den Geschädigten bzw. von einigen oder allen dieser Aspekte zusammen. Aber keiner dieser Aspekte kann unendlich sein, und zugleich bleibt kein weiterer Aspekt übrig, gemäß dem die Sünden unendlich genannt oder gar unendlich sein können: Also sind sie überhaupt nicht unendlich.36
Gotthold Ephraim Lessing, Leibnitz von den ewigen Strafen, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 7: Werke 1770–1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, 472–501, hier 477 f.; vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Lessings origenistische Eschatologie, in: Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt (Hg.), Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata, Berlin, Boston 2011, 138–153, hier 150–152; Martin Schmeisser, Sozinianische Bekenntnisschriften. Der Rakower Katechismus des Valentin Schmalz (1608) und der sogenannte Soner-Katechismus, Berlin, Boston 2012, 68 f. 35 Lessing, Leibnitz von den ewigen Strafen (wie Anm. 34), 477: „Peccata finita sunt; inter finitum et infinitum nulla est proportio; ergo poenae quoque debent esse finitae.“ 36 Ebd.: „[V]el habent vim istam infinitam ex se ipsis, vel a delinquente, vel ab eo in quem et contra quem delinquitur, vel ab horum aliquibus, vel ab omnibus simul; sed nullo istorum modorum possunt esse infinita, aut ut talia considerari, et tamen praeter hos nullus alius superest modus, quo infinita dici et esse possint: ergo omnino non sunt infinita.“ Übers. O.B. 34
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Leibniz will sich nun nicht mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafen beschäftigen – die Antwort auf dieselbe überlässt er ausdrücklich den Theologen.37 Seine Kritik zielt vielmehr auf jene in seinen Augen eben unvollständige Aufzählung von Aspekten, nach denen etwas als unendlich bezeichnet werden kann. Denn Sünden können nicht nur mit Blick auf den Gegenstand der Sünde, nämlich Gott, oder von der Art und Weise der Sündenhandlung bzw. vom Grade ihrer Stärke her oder mit Blick auf andere Aspekte, die Soner zu bedenken gibt, als unendlich gelten, sondern Sünden können auch mit Blick auf ihre Anzahl als unendlich bezeichnet werden. Selbst wenn wir Soner also einräumen, dass keine Sünde an ihr selbst unendlich sei, so kann gleichwohl festgestellt werden, dass die Sünden der Verdammten ihrer Anzahl nach unendlich sind. Denn die Verdammten fahren in alle Ewigkeit fort zu sündigen. Wenn daher die Sünden ewig sind, so ist es nur gerecht, dass auch die Strafen ewig sind.38
Leibniz! Argument ist zwar prima vista weder metaphysischer noch glückseligkeitstheoretischer Natur, insofern es Leibniz dem Anspruch nach tatsächlich um die Frage der Gerechtigkeit geht: Strafen seien deshalb ewig, weil das Sündigen fortdauere. Dies ist aber bei näherem Hinsehen ein Argument mit Bezug auf das Strafsystem, mithin ein Argument für die Notwendigkeit von allein dessen Fortdauer. Gerechtigkeitstheoretisch im Sinne kommutativer Gerechtigkeit, d. h. auf die Frage der Adäquanz der je einzelnen Strafe zur je einzelnen Straftat kann und will dieses Argument nicht eingehen, weil es ihm um dieselbe nicht zu tun ist. Man mag Leibniz! Überlegungen also überzeugend finden oder nicht: Sie sind allein Urteile über die civitas Dei und als solche göttliche Staatsphilosophie, die mit einer göttlichen Rechtsphilosophie nicht identisch ist. Metaphorisch gewendet, heißt das: Ebenso wenig wie aus der staatsphilosophischen Notwendigkeit, dass Gefängnisse dauerhaft existieren müssen, nicht der rechtsphilosophische Schluss zu ziehen ist, dass jedwede Straftat mit lebenslanger Haft zu ahnden ist, so wenig ist auch mit der Notwendigkeit eines ewigen jenseitigen Strafsystems irgendetwas ausgesagt über die Notwendigkeit ewiger Strafen. Auf den Begriff gebracht, bedeutet dies: Die staatsphilosophische Perspektive betrifft Überlegungen über die Bedingung der Möglichkeit von Straftaten und – insofern diese Möglichkeit dauerhaft ist – über die Folgen hieraus für die Notwendigkeit einer dauerhaften Möglichkeit, diese Straftaten zu sanktionieren. Die rechtsphilosophische Ebd.: „Quae communiter respondere solent Theologi ad hoc argumentum a proportione delictorum poenarumque petitum, apud ipsos utilius legentur.“ 38 Ebd.: „[N]empe imperfectam enumerationem modorum, quibus aliquid dici potest infinitum. Neque enim tantum ab objecto in quod peccatur, Deo videlicet, vel a modo peccandi, seu gradu intensivo, aliisque quorum autor meminit, sed et a numero peccata infinita dici possunt. Etiamsi igitur concederemus ipsi, nullum peccatum per se infinitum esse; revera tamen dici potest, damnatorum infinita numero peccata esse; quoniam per totam aeternitatem in peccando perseverant. Quare si aeterna sunt peccata, justum est, ut aeternae etiam sint poenae.“ 37
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Perspektive betrifft Überlegungen über die Bedingung bestimmter Straftaten und über die Folgen für die Notwendigkeit ihrer Sanktionierung. Insofern erstere Perspektive sich also mit der dauerhaften Möglichkeit der Sanktionierung befasst, letztere Perspektive hingegen mit der Möglichkeit einer dauerhaften Sanktionierung, sagen sie über einander nichts aus. Leibniz! Überlegungen tun genau nur ersteres: Sie berücksichtigen die gegenüber dem ens perfectissimum notwendige Unvollkommenheit bzw. nur ad infinitum denkbare Vervollkommnung der menschlichen Seele als eben eine solche Bedingung einer dauerhaften Möglichkeit der Sanktionierung menschlicher Straftaten. Sie besagen daher nichts über die Möglichkeit einer dauerhaften Sanktionierung menschlicher Straftaten. Insofern ist Leibniz! Beweis der Unsterblichkeit der Seele vollkommenheitstheoretischer Natur und als solcher womöglich durchaus schlüssig; gleichwohl ist er selbst weder ein naturrechtlicher Beweis für die Unsterblichkeit der Seele noch lassen sich aus ihm Schlüsse über die Bestrafung von Naturrechtsverstößen ableiten. Leibniz! Unsterblichkeitstheorie ist trotz ihrer Terminologie eben keine Straftheorie, sondern letztlich eine Glückseligkeitslehre, von der Pufendorf – zumindest in den angezeigten Stellen – seine Rechtstheorie unterschieden wissen will. III. Christian Thomasius Dem ,Vater der deutschen Aufklärung" Christian Thomasius wird ausgerechnet in seinem rechtsphilosophischen Kerngebiet häufig vorgeworfen, „unselbständiger Schüler S. Pufendorfs“ zu sein.39 Dass dieser Vorwurf unzutreffend ist, ist mehrmals gezeigt worden,40 und wird anhand einer praktischen Neubestimmung in seiner Introductio ad Philosophiam aulicam (1688) sowie insbesondere anhand der geltungstheoretischen Neuerung seines zweiten Naturrechtsentwurfs Fundamenta iuris naturae et gentium (1705) deutlich.41 Beide Innovationen sind für die rechtstheoretische Bedeutung der Unsterblichkeit der Seele von hoher Relevanz. Schon in der Introductio darf als entscheidender Ausgangspunkt Thomasius! die Bedrohung der Moralphilosophie durch die machiavellische Staatslehre gelten: Sie macht die Findung verbindlicher moralischer Prinzipien für das politische Handeln dringlich. Ziel von Thomasius! Kritik ist daher insbesondere die aristoMatthias J. Fritsch, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004, 52; vgl. auch Christoph Bühler, Die Naturrechtslehre und Christian Thomasius (1655–1728), Regensburg 1991, 4. 40 Vgl. Friedrich Vollhardt, Vorwort, in: Christian Thomasius, Cautelen zur Erneuerung der Rechtsgelehrtheit, hg. von Friedrich Vollhardt, Hildesheim, Zürich, New York 2006, V–XXXVI, hier IXf.; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), München 2012, 137. 41 Siehe ausführlich Bach, Natur als juridisches Argument (wie Anm. 24), 41–50. 39
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telische Philosophie:42 Diese habe in ihrer Moralphilosophie „nichts Handfestes“ zustande gebracht, weil sie sich um schlechterdings unnütze Fragen gekümmert hat, von denen Thomasius an erster Stelle diejenige nach dem höchsten Gut nennt.43 Neben dieser nicht immer konsequenten Trennung von Moral- und Güterlehre im Allgemeinen liefert Thomasius! Introductio ebenso schon besondere Anhaltspunkte für die spätere Abstraktion von ewigen Strafen und der Unsterblichkeit der Seele. Nicht nur nämlich kann Gott als körperloses und insofern nicht sinnenfälliges Wesen weder distinkt noch klar erkannt werden;44 sondern auch gilt dieser Sinnesvorbehalt a fortiori für alle „geistigen Substanzen“, die freie Seele45 und damit auch für die Erkennbarkeit der Unsterblichkeit der Seele: Oh, diese elenden Menschlein, die ihr durch Eure Wahrnehmungen den Status der freien Seele durchdringen wollen, wo sie doch noch nicht einmal den Status der dem Körper noch verbundenen Seele durchdringen können! […] Denn der Mensch hat von seiner Seele keinen anderen Begriff als durch seine Wahrnehmung; der Zustand der freien Seele aber widerspricht schon der Bestimmung der Wahrnehmung.46
Dies übernimmt Thomasius konsequent auch in seinem ersten Naturrechtsentwurf aus demselben Jahr, den Institutiones iurisprudentiae divinae (1688): Denn zwar ist für Thomasius ebenso wie schon für Pufendorf die Pflege der Seele als einer Materialursache moralischer Handlungen ein officium erga seipsum;47 gleichwohl gilt mit Blick auf die Unsterblichkeit auch für die Rechtsphilosophie: Christian Thomasius, Introductio ad Philosophiam Aulicam, seu Lineae Primae Libri de Prudentia Cogitandi et Ratiocinandi ubi ostenditur media inter praeiudicia Cartesianorum, & ineptias Peripateticorum, veritatem inveniendi via, Leipzig 1688, 35, 37–39, Cap. I, §§ 75, 80 f., 83. 43 Ebd., 38 f., Cap. I, § 83: „Porro integrum Philosophiam morale Aristotelicam præter quæstiones inutiles de Summo Bono, & catalogum undecim virtutum, ac divisions rerumpublicarum, nihil fer- solidi continentem jam dudum imperfectam esse judicarunt Theologici Pontificii, qui, in alterum extremum prolapsi, scriptis vastis de Justitia & Jure, loco Philosophiæ moralis exhibuerunt informe chaos, miscentes videlicet inter se Philosophiam, Theologiam & Jurisprudentiam Romanam, digni ade0, qui barbar. Moralistarum nomine communiter appellarentur.“ Hervorhebungen im Text. 44 Ebd., 136 f., Cap. VII, § 13: „Deus enim non immediate incurrit in sensus, quia non est corpus. At quæ sensus non incurrunt, ea distincte non possum concipere, quia non habent partes, neque clare quia per argumentationem & non immediate per sensum cognoscuntur.“ Hervorhebungen im Text. 45 Ebd., 141, Cap. VII, § 26: „Substantia vulgariter dividitur in Spiritualem & corpoream? De Spritualibus agit Pneumatica, scilicet de Deo, Angelis & anima separata. Sed si unquam Philosophia Scholastica mysteria Theologiæ invasit, id hic factum est. Paucis: Substantiam spiritualem ratio nostra nescit, quia ipsius modus existendi non incurrit in sensus.“ Hervorhebungen im Text. 46 Ebd., 142, Cap. VII, § 30: „O miseros vero homunciones, qui penetrare velint cogitationibus suis statum animæ separatæ, cum non penetrare possint exate statum animæ corpori junctæ. […] cum homo de anima sua præter cogitationem non habeat conceptum, status autem animæ separatæ repugnet definitioni cogitationis.“ Übersetzung O.B. 47 Christian Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae in Positiones succincte contractae, in quibus Hypotheses Illustris Pufendorfii circa doctrinam Juris Naturalis Apodictice demonstrantur 42
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Über die geistigen und insbesondere die ewigen Güter der Seele schweige ich […]. Ich sehe nämlich nicht, wie die ewige Glückseligkeit des Menschen und die hierfür fast immer vorausgesetzte Unsterblichkeit der menschlichen Seele durch das Licht der Vernunft bewiesen werden könnten.48
Schon der frühe Thomasius der Leipziger Zeit lieferte mithin eine Begründung dafür, dass die Annahme jenseitiger Strafen und mit ihr die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele für eine naturrechtliche Verbindlichkeitstheorie zu beweisen unmöglich ist. In seinen späteren, Hallenser Fundamenta liefert Thomasius darüber hinaus ein Argument dafür, dass die Annahme einer jenseitigen Strafe nicht notwendig und sogar widersprüchlich ist. Die Fundamenta iuris naturae et gentium sind vor allem dafür berühmt, dass Thomasius seinen „grundlegenden und auf alle Disziplinen sich erstreckenden Irrtum von der Übereinstimmung von Verstand und Wille, d. h. von der Herrschaft des Verstandes über den Willen“ korrigiert.49 Er weist Pufendorfs Unterscheidung von Entia physica und Entia moralia zurück und konstatiert im Gegenteil, „dass es eine enge Verknüpfung zwischen Moralia und Naturalia gibt, und deshalb sogar alle Moralia aus den Naturalia bewiesen werden können“.50 Die Folge ist weniger eine anti-rationalistische Rechtslehre als vielmehr ein die Sinnlichkeit und Triebnatur in das verstandesmäßige Urteilen integrierendes Naturrecht.51 Eigentlich hatte Thomasius dieser Entwicklung schon in der Introductio und in den Institutiones vorgebaut, schließlich wurde dort gleichfalls schon das verstandesmäßige Begreifen (concipere) am Kriterium sinnlicher Wahrnehmbarkeit (cognitio per sensus) bemessen. In den Fundamenta zieht Thomasius lediglich die konsequenten Schlussfolgerungen. Thomasius geht es dabei im fünften Kapitel des ersten Buches vor allem um die perseitas natürlicher Güte bzw. Schlechtigkeit, die & corroborantur, praecepta vero Juris Divini Positivi Universalis primum a Jure Naturali distincte secernuntur, & perspicue explicantur, Frankfurt am Main, Leipzig 1688, 4, lib. 2, Cap. 1, § 14. 48 Ebd., 5, lib. 2, Cap. 1, § 18: „De bonis animæ spiritualibus atque æternis sileo […]. Non enim video, quomodo beatitudo hominis æterna & quam hæ fere præsupponit, animæ humanæ immortalitas, lumine rationis demonstrari possit.“ Hervorhebungen im Text. 49 Christian Thomasius, Fundamenta Juris Naturæ et Gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur Principia Honesti, Justi ac Decori, Halle, Leipzig 1705, 4, Caput Proœmiale, § 6: „[R]etentus tamen adhuc fuit & per totum librum disseminatus fundamentalis iste & ad omnes disciplinas pertinens error, de habitudine intellectus & voluntatis ad se invicem, id est de imperio intellectus in voluntatem […].“ Übersetzung O.B. Vgl. Thomas Ahnert, Problematische Bindungswirkung. Zum ,Epikureismus" im Naturrecht der deutschen Frühaufklärung, in: Vanda Fiorillo, Frank Grunert (Hg.), Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert, Berlin 2009, 39–54, hier 44–48. 50 Thomasius, Fundamenta Juris Naturæ et Gentium (wie Anm. 49), 5, Caput Proœmiale, § 7: „[R]es ipsa ostendat, intimam esse moralium & naturalium connexionem, & imo moralia omnia demonstrari posse ex naturalibus.“ 51 Vgl. Bach, Natur als juridisches Argument (wie Anm. 24), 45–47.
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ihm für ein qua Vernunft erkennbares Naturrecht notwendige Ermöglichungsbedingung ist: Wenn Gott als ein absoluter Gesetzgeber begriffen wird, der den Menschen unter Androhung äußerlicher Strafe verpflichtet, Ehrbarkeit und Schändlichkeit mithin als Synonyme von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufgefasst werden, so ist es falsch, dass es Handlungen gebe, die durch ihr Wesen und schon vor dem göttlichen Willensakt ehrbar bzw. schändlich sind.52
Damit gleitet Thomasius nicht etwa in einen theologischen Intellektualismus über, denn in der Tat hat Gott als Urheber auch der natürlichen Gesetze die moralische Güte bzw. Schlechtigkeit von Handlungen durch seinen Willen festgelegt. Es geht Thomasius um die von ihm nunmehr als additiv verstandene Strafandrohung, wie sie einen Gesetzgeber und ein Gesetz im strengen Sinne ausmachen. Eine solche Strafandrohung wäre Thomasius zum einen ein den natürlichen Dingen unmöglich wesentliches Attribut, also notwendig äußerlich und akzidentiell. Zum anderen bedeutete für Thomasius eine solche Akzidentialität umgekehrt den Wesentlichkeitsverlust der Naturrechtsnormen und damit nichts weniger als den Verlust ihres Universalitätsanspruchs: Das Naturrecht wäre nur solange in Kraft, wie die Strafandrohung durch Gott bestand hat, oder gölte sogar nur solange, wie diese Strafandrohung unter den Menschen noch bekannt ist. Da dieses Recht nur für diese Zeit Geltung besäße, wäre es mehr auf die Offenbarung dieser Strafandrohung angewiesen als auf inhaltliche Schlüssigkeit. Das Ergebnis wäre kein universales Naturrecht, sondern ein begrenztes positives Offenbarungsgesetz. Dieses Ergebnis wäre aber nur dann zu schlussfolgern, wenn die Strafe bzw. Strafandrohung wesentlicher Bestandteil des Begriffs des natürlichen Gesetzes selbst wäre. Demgegenüber sieht Thomasius im consilium-Charakter, der für die gesamte Tradition noch das wesentlich Unterschiedene von jedwedem Gesetz dargestellt hatte, gerade die epistemologische Chance für sein universales Recht – gleichwenn er dessen obligationstheoretische Schwächen mit in Kauf nehmen muss: Wenn Gott hingegen als ein Vater, Ratgeber und Lehrer begriffen wird, und die Ehrlichkeit und Schändlichkeit mehr Gutheit oder Bosheit bzw. Laster im Allgemeinen als Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit im Besonderen bedeuten, dann ist zutreffend, dass Handlungen, von denen das sowohl weit als auch eng gefasste Naturrecht handelt, an ihnen selbst und durch ihr moralisches Wesen mit Blick auf das gesamte Menschengeschlecht schlecht bzw. gut sind.53 Thomasius, Fundamenta Juris Naturæ et Gentium (wie Anm. 49), 112, lib. I, cap. 5, § 51: „Si Deus concipitur ut legislator despoticus hominem extrinsece ad poenam obligans, & honestas ac turpitudo sumitur pro synonymo justitiæ & injustitiæ, falsum est dari actus per se sua natura ac antecedenter ad voluntatem divinam honestos vel turpes, per demonstrata jam alibi.“ 53 Ebd., 112, lib. I, cap. 5, § 52: „At si Deus concipitur ut pater, consiliarius, Doctor, & honestas ac turpitudo denotat magis bonitatem aut malitiam seu vitium in genere, quam in specie justitiam & 52
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Thomasius verdeutlicht die positivistischen Folgen einer göttlichen Strafandrohung. Dem Unterschied von Wesentlichkeit und Akzidentialität entspricht der von Allgemeinheit und Besonderheit zwangsfreier Naturrechtsnormen und positiver Zwangsgesetze. Erstaunlich ist dieser Bruch mit dem praeceptum-Charakter jedweden Rechts allerdings besonders dadurch, dass Thomasius den Unterschied von innerer Verpflichtung und äußerem Zwang aufgreift, wie er der Spätscholastik ebenso wie dem philippistischen Naturrecht schon längst bekannt war; Thomasius setzt ihn jedoch anders um: Thomasius bestreitet weder die Akzidentialität äußerer Zwangsandrohung, noch bestreitet er die exklusiv naturrechtliche Gewissensverpflichtung; noch auch bestreitet Thomasius, daß Gott als Urheber des Naturrechts dieses der Sache nach mit Strafen ausstattet. Aber „die Übel, die Gott den Übertretern des natürlichen Rechts gesetzt hat, kommen verborgen und heimlich“.54 Der Vernunft ist dem Begriffe nach unmöglich, sich in der Erkenntnis des Naturrechts an Strafandrohungen zu halten. Die Annahme einer unsterblichen Seele ist für Thomasius! 1705er Naturrechtsentwurf mithin erstens nicht notwendig, weil Naturrecht Strafe nicht mehr als wesentlichen Bestandteil enthält; und diese Annahme wäre zweitens widersprüchlich, weil die jenseitige Strafe – aus den schon 1688 formulierten Gründen – nicht bekannt sein kann und insofern eine Strafandrohung nur durch einen Offenbarungsakt erfolgen könnte, der bereits dem Begriff eines natürlichen Rechts widerspricht. IV. Christian Wolff Auch bei Christian Wolff gilt es bei der Frage nach einer naturrechtlichen Notwendigkeit der Unsterblichkeit der Seele, seine verbindlichkeitstheoretischen Bestimmungen zu untersuchen. In seinen Grundsätzen des Natur- und Völckerrechts (1754; lateinisch 1750) definiert Wolff zu Beginn des zweiten Hauptstücks Verbindlichkeit zunächst im Allgemeinen: Verbindlichkeit besteht in nichts anderem als in der „Verbindung eines Beweggrundes mit einer Handlung, es mag diesselbe eine auszuübende, oder zu unterlassende sein“.55 Mit dieser Bestimmung der Verbindlichkeit durch einen Beweggrund (motivum) wird der Aspekt einer Verbindung durch äußeren Zwang bereits aus dem Verbindlichkeitsbegriff extrahiert. Schon diese motivationale Reduktion des allgemeinen Verbindlichkeitsbegriffs injustitiam verum est, actus de quibus jus naturæ tam late quam stricte dictum agit, esse per se & natura sua morali, intuitu totius homani [!] generi malos ac bonos.“ 54 Ebd., 110, lib. I, cap. 5, § 39: „Porro omnis poena visibiliter infertur, at mala quæ Deus ordinavit transgressoribus juris naturæ, occulte veniunt.“ 55 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Halle 1754, 23, § 35.
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legt es nahe, dass es in Wolffs Naturrecht ein verpflichtungstheoretisches Bedürfnis nach ewigen Strafen, mithin nach einer Unsterblichkeit der Seele gar nicht geben kann, und zwar wegen des Verpflichtungsbegriffs selbst. Mag also Wolff auch in seinen Vernünfftigen Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen von 1720 eine metaphysische Begründung der Unsterblichkeit der Seele liefern, die besagt, dass nur die Seele des vernünftigen Wesens in ihrem gegenwärtigen Zustand „etwas von dem vergangenen hervorbringt“, damit „den Zustand ihrer Person“ perpetuiert und somit notwendig unsterblich ist,56 so bedarf es dieser Unsterblichkeit der Seele und ihrer Begründung nicht als Voraussetzung einer naturrechtlichen Verpflichtungstheorie. Ein Beweggrund besteht nun ferner „in der Vorstellung des Guten, welches aus der auszuübenden Handlung, und des Bösen, welches aus der zu unterlassenden Handlung fließt“.57 Damit ist an sich zwar noch nicht ausgeschlossen, dass als solch ein Böses u. a. eben ewige Strafen vorgestellt werden. Allerdings gilt speziell für die natürliche Verbindlichkeit:58 Selbst durch die Natur wird der Mensch verbunden, die Handlungen zubegehen, welche seine und seines Zustandes Vollkommenheit befördern. Denn, weil die Handlungen, welche die Vollkommenheit des Menschen und seines Zustandes befördern, einen Bewegungsgrund des Willens, diejenigen aber, welche die Unvollkommenheit befördern, einen Bewegungsgrund des Nichtwollens in sich enthalten; so sind jene an und vor sich selbst begehrungswürdig, diese verabscheuungswürdig.59
Im eigentlichen naturrechtstheoretischen Zusammenhang wird also eine solche Vorstellung des zu erleidenden Bösen weniger durch den Begriff einer Strafe als Sanktion für normwidriges Handeln gefüllt als vielmehr durch den Begriff eines Vollkommenheitshindernisses als Konsequenz des die Selbstliebe nicht angemessen realisierenden Handelns. Dies ist weniger triebtheoretisch gemeint, als die Formulierung „begehrungswürdig“ dies auf den ersten Blick nahelegt; vielmehr ist das Böse gerade deshalb der Vollkommenheit hinderlich, weil in Wolffs Begriff des Guten die Vollkommenheit, in seinem Begriff des Bösen die Unvollkommenheit schon analytisch enthalten ist, „[d]a man alles dasjenige gut nennet, was den Menschen und seinen Zustand vollkommener macht; böse oder übel Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Frankfurt am Main, Leipzig 1733, 573, § 926. 57 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (wie Anm. 55), 23, § 35. 58 Vgl. ausführlich Dieter Hüning, Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-FranÅois Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004, 143–167; Andreas Thomas, Die Lehre von der moralischen Verbindlichkeit bei Christian Wolff und ihre Kritik durch Immanuel Kant, in: ebd., 169–189, hier 179 f. 59 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (wie Anm. 55), 24, § 36. 56
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aber, was denselben unvollkommener macht“.60 Während also Thomasius seinen Begriff des natürlichen Gesetzes schwächt, indem er das Kriterium der Verpflichtung aus demselben entfernt, so belässt Wolff zwar die Verpflichtung im Begriff der lex naturalis, schwächt aber den Begriff der Verpflichtung, indem er aus diesem das Kriterium des äußeren Zwangs entfernt. Dies mag vor dem Hintergrund der von Walter Sparn beschriebenen ,eklektischen Theologie" in Halle erklären helfen,61 warum sich die Hallenser theologische Fakultät an Thomasius weniger rieb als an Wolff: Die thomasianische Verpflichtungstheorie erscheint säkularisiert, die wolffianische Verpflichtungslehre hingegen säkular.62 Stellt man jedoch Überlegungen darüber an, wie unter diesen Voraussetzungen Handlungskonflikte, mehr noch aber Rechtskonflikte im Naturzustand zu regeln sind, stellen sich alsbald Probleme mit Wolffs naturrechtlicher Verpflichtungslehre ein: Unrecht bestimmt Wolff als Verletzung eines vollkommenen Rechts; eine solche Verletzung ist naturrechtlich verboten.63 Verbindlichkeit eines natürlichen Gesetzes ist dadurch gewiss, dass es in einem Verbot, d. h. in einer Unterlassung besteht. Daraus erwächst einer Person, der etwas anzutun verboten ist, ein vollkommenes Recht darauf, dass ihr nichts angetan wird.64 Deutlich wird, welche herausragende Funktion Wolff der Selbstliebe in seinen Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts einräumt. Denn es ist sie, die das Interesse an der eigenen Vollkommenheit ausmacht und damit ein Anthropologem ist, das offensichtlich zugleich rechtsförmig, weil allgemeine Verbindlichkeit begründend, und wirksam, weil den einzelnen motivierend, ist. Und es ist der amor proprius, mit dem Wolff daher das vierte Hauptstück Von den Pflichten des Menschen gegen sich selbst abschließt: „Die Selbstliebe (amor proprius) ist die Beschaffenheit des Gemüths, aus seiner eigenen Glückseeligkeit ein Vergnügen zu empfinden.“65 Diese Glückseligkeit soll man suchen und insofern ist Selbstliebe nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten: „Da der Mensch sorgfältig seyn sol, daß er glückseelig und nicht unglückseelig werde; so muß er sich selbst lieben“.66 Illegitime Selbstliebe kann für Wolff mithin nur in einer Gemütsregung bestehen, die durch ein falsches Verständnis der Glückseligkeit oder der sie fördernden Mittel hervorgerufen wird. Insofern besteht die Rolle der Vernunft gegenEbd., 3, § 12. Walter Sparn, Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten, in: Norbert Hinske (Hg.), Halle: Aufklärung und Pietismus, Berlin, New York 1989, 71–90. 62 Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1996, 46–62. 63 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (wie Anm. 55), 54 f., §§ 87 f. 64 Ebd., 56, § 89. 65 Ebd., 85 f., § 132. 66 Ebd., 86, § 132. 60 61
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über der Neigung nicht darin, den Eigennutzen gegen fremden und gemeinen Nutzen aufzurechnen: Die Begierde des Menschen ist überhaupt zur Glückseeligkeit bestimmt; auch das Gemüth des Menschen ist natürlicher Weise geneigt, ein Vergnügen aus seiner eigenen Glückseeligkeit zu empfinden; also ist die Selbstliebe nicht unerlaubt. Es muß dieselbe aber doch durch die Vernunft regiert werden, daß man nicht die scheinbahre Glückseeligkeit mit der wahren verwechselt.67
Anders also als beispielsweise die politische Anthropologie des Hugo Grotius, der dem appetitus societatis einen eigenständigen anthropologischen Status mit einer ihr eigenen Verpflichtungswirkung zuschrieb,68 anders aber auch als Samuel Pufendorf, der wie oben gezeigt ausschließlich der Geselligkeit Verpflichtungskraft beimaß, generiert für Wolff die Verbindlichkeit aller natürlichen Pflichten, auch derjenigen gegen andere, allererst aus der Selbstliebe. Im Naturzustand ist der amor proprius nach Wolff der einzige Faktor, auf den sich der einzelne Mensch beziehen kann, und daher der einzig mögliche Faktor, aus dem Verbindlichkeit überhaupt generieren kann. Dass diese Verbindlichkeit die Achtung anderer unter das je eigene Glückseligkeits- und Vervollkommnungsinteresse subsumiert und somit ein Konfligieren von Glückseligkeitsinteressen und -maßnahmen offensichtlich immer schon unterbindet, ist durch ihren wahrhaften Charakter garantiert, deren Unterschied zu „scheinbarer Glückseeligkeit“ zu bestimmen die grundlegende Aufgabe der Vernunft in Wolffs keineswegs streng intellektualistischem Naturrecht ist. Ob dieses Argument vom Eigen- am Gemeininteresse in der Tat rechtliche Verbindlichkeit begründet oder vielmehr einen naturalistischen Fehlschluss darstellt, dass ferner Wolffs Überlegungen zum amor proprius überhaupt sehr spät erfolgten und daher etwa auf Baumgarten, Köhler und Meier keinen Einfluss mehr nahmen,69 sei hier dahingestellt: Fest steht, dass Wolff hier versucht, durch eine Bindungswirkung des amor proprius eine obligatio naturalis zu begründen, die nicht mehr in der Androhung jenseitiger Strafen besteht.
Ebd., 86, § 132. Vgl. Gideon Stiening, Natur und Staat. Zur politischen Anthropologie bei Marsilius von Padua und Hugo Grotius – mit einem Seitenblick auf die Antike, in: Susanne Lepsius, Friedrich Vollhardt, Oliver Bach (Hg.), Von der Allegorie zur Empirie. Natur im Rechtsdenken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2017 [i. D.]. 69 Clemens Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 137, Anm. 410. 67 68
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V. Alexander Gottlieb Baumgarten Es ist das Verdienst Clemens Schwaigers, auf die bedeutende Rolle hingewiesen zu haben, die Alexander Gottlieb Baumgarten in der frühen Ethik Immanuel Kants einnahm: Diese Rolle hatte weder Wolff inne, denn dessen naturrechtliche Gewichtung der Vollkommenheit stand vor allem im Fokus der kantischen Kritik; noch füllten diese Rolle die britischen moral sense-Theoretiker aus, denn sie vernachlässigten zu sehr den Aspekt der Verbindlichkeit; noch auch kam diese Rolle Christian August Crusius zu, denn dessen Vermittlung zwischen einem von der Vernunft unabhängigen moralischen Empfinden einerseits und einer äußeren göttlichen Verpflichtungsinstanz andererseits in einem Gewissenstrieb musste für Kant noch zu sehr den Charakter eines theologischen Moralpositivismus haben.70 Es ist Baumgarten, der die Ethik wie alle praktische Philosophie am Begriff der Verbindlichkeit auszurichten71 und zugleich die positivistischen Folgen zu vermeiden versucht, die sich aus der Notwendigkeit einer göttlichen Strafandrohung ergeben und die schon Thomasius umgehen wollte. Einerseits – so zeigt Merio Scattola – führt Baumgarten in den Initia einen metaphysischen Beweis der Theonomie naturrechtlicher Obligation.72 Andererseits – so zeigt Clemens Schwaiger – kommt es Baumgarten stärker noch als Wolff auf eine motivational bestimmte Funktionalität der Verbindlichkeit an: Moralische Notwendigkeit kann letztlich nur „moralische Nötigung“ (necessitatio moralis) bedeuten, d. h. die Beweggründe, eine gebotene Handlung zu vollziehen, müssen wirkmächtiger sein als die Beweggründe, die ihr entgegengesetzte Handlung zu vollziehen.73 Im Folgenden kann es daher nur darum gehen zu untersuchen, welchen Status die Annahme der Unsterblichkeit der Seele für die Verbindlichkeit naturrechtlicher Normen bei Baumgarten hat. Zur Unendlichkeit und Unsterblichkeit äußert sich Baumgarten in seinen Initia Philosophiae Practicae Primae (1760) bereits an früher Stelle: Alle freien Handlungsbestimmungen des Menschen sind gut oder übel. Sie alle haben Folgen ins Unendliche, und diese Folgen sind entweder gut oder übel. […] Moralische Güter und moralische Übel, deren gute bzw. üble Folgen nach dem Tod des gut Han-
Dieter Henrich, Hutcheson und Kant, in: Kant-Studien 49 (1957), 49–69, hier 64; Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten (wie Anm. 69), 145–147; Engbers, Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland (wie Anm. 12), 41–43. 71 Vgl. die Gliederung (synopsis) der Initia: Alexander Gottlieb Baumgarten, Initia Philosophiae Practicae Primae Acromatice, Halle 1760, [fol. )( 4v]. 72 Merio Scattola, Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips, in: Aufklärung 20 (2008), 239–265, hier 261 f. 73 Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten (wie Anm. 69), 133, 151–154. 70
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delnden und des Sünders andauern, werden unsterblich genannt. Alle moralischen Güter und alle Laster sind unsterblich.74
Die Frage nach der naturrechtlichen Relevanz der Unsterblichkeit der Seele bei Baumgarten ist damit allerdings keineswegs erledigt. Denn diese vor allem metaphysischen Überlegungen Baumgartens sagen ausschließlich etwas über die Extension der Folgen guter und schlechter Handlungsbestimmungen aus. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, ob diese Extension ins Unendliche und die daraus gefolgerte Unsterblichkeit der Güter und Laster selbst auch Bedingungen der Verbindlichkeit des Naturrechts sind. Die natürlichen Gesetze, das Recht und ihre Verbindlichkeit werden durch natürliche Offenbarung erkannt; diese ist zwar nur Offenbarung im weiteren Sinne, aber gleichwohl göttlich.75 Schon in der Metaphysik (1739) bestimmt Baumgarten die Offenbarung „im strengeren Sinne“ (revelatio strictius dicta) als Erkenntnis durch das Wort Gottes; sie ist überall dort wirksam, wo die natürliche Offenbarung allein nicht wirksam genug ist.76 Offenbarung „im strengsten Sinne“ (revelatio strictissime dicta) ist Erkenntnis dessen, was durch natürliche Offenbarung gar nicht erkannt werden kann.77 Scheinen insofern die natürliche Religion und mit ihr die natürliche Offenbarung als Erkenntnisquelle des Naturrechts als unterste Stufe des Offenbarungswissens auf den ersten Blick theologisch diskreditiert, so beeilt Baumgarten sich in der Metaphysik umgehend, diesen Anschein zu korrigieren: Nichts zeugt so sehr von Gottes Größe wie die natürliche Offenbarung, denn Gott widerspricht sich nicht – „in mente dei nulla est contradictio“.78 Aus diesem Grund kann durch Offenbarung im strengeren und strengsten Sinne nichts erkannt werden, was der natürlichen Offenbarung widerspricht. Die revelatio naturalis ist weniger unterste als vielmehr fundamentale Stufe allen Wissens.
Baumgarten, Initia Philosophiae Practicae (wie Anm. 71), 14, § 32: „Omnes determinationes hominis liberae sunt vel bonae, vel malae, omnes habent consectaria in indefinitum, eaque vel bona, vel mala. […] Bona et mala moralia, quorum consectaria respective bona vel mala durant adhuc post mortem bene agentis et peccantis, dicuntur immortalia. Omnia bona moralia, omnia peccata sunt immortalia.“ Übersetzung O.B. Hervorhebung im Text. 75 Ebd., 62, § 100: „[I]us naturae et singulae leges obligationesque naturales divina sunt […] cognoscunturque per revelationem divinam naturalem, eatenus naturalia. Si veil simul per reveluationem strictius dictam, vel omnino per strictissime dictam, eatenus sunt positiva divina.“ Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Editio tertia, Halle 1750, 355 f., §§ 982 f. 76 Ebd., 356 f., § 986: „Revelatio strictius dicta est supernaturalis revelatio divina hominibus per orationem facta […] et in hoc mundo actualis, quotiescunque religio per revelationem naturalem solam aeque bene actuari non potest.“ 77 Ebd., 357, § 989: „Revelatio stricte dicta naturaliter creaturis incognoscibilium, est revelatio strictissime dicta.“ 78 Ebd., 358, § 991. 74
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Das hat zum einen zur Folge, dass auch der Heide das Naturrecht ebenso wie seine Verbindlichkeit angemessen, d. h. widerspruchsfrei, erkennen kann. Zum anderen ist der Atheist bei Baumgarten wegen der perseitas der natürlichen Offenbarung ein Atheist entgegen besseres Wissen. Auch er besitzt ein Wissen, das in ihm wirksam ist, ohne dass er um die prima causa allen Seins weiß oder sie anerkennt. Dies mag mit Blick auf die verstandesmäßige Erkenntnis, mit Blick also auf ein Wissen aus Ursachen, ein profunder Nachteil ,atheistischer Gesetzeskenntnis" sein; gleichwohl ist bei Baumgarten ohnehin nicht die verstandesmäßige, sondern die anschauende Erkenntnis von moralisch entscheidendem Gewicht.79 Denn obgleich sie zwar irrtumsgefährdet ist, so ist eben sie „lebendige Erkenntnis“ (cognitio viva), und zwar gerade weil sie ebenso wie die „lebhafte Vorstellung“ (perceptio vivida) nicht die Merkmalsarmut abstrakten Wissens besitzt und daher „Triebfedern zum Handeln“ enthält.80 Man kann sich die Möglichkeit des Atheisten, ohne Wissen um die prima causa angemessene Erkenntnis vom Naturrecht und seiner Verbindlichkeit zu besitzen, mithin schon mit dem allgemeinen „Bedeutungsverlust demonstrativer Gewißheit“ bei Baumgarten erklären.81 Dennoch ist der Blick auf die besonderen Überlegungen Baumgartens zur naturrechtlichen Bindung von Atheisten geboten. Zwar findet sich eine ausführliche Beschäftigung mit dem „Naturrecht der Atheisten“ erst im postum fragmentarisch publizierten Ius Naturae (1763), einem Kommentar zu Heinrich Köhler:82 Hier räumt Baumgarten dem Atheisten die Möglichkeit einer Vernunfterkenntnis des Naturrechts ein, obgleich diese sogenannte „empirische Methode“ der Erkenntnis der natürlichen Religion nicht gleichwertig ist.83 Gleichwohl finden sich wichtige Aussagen Baumgartens zur Verpflichtungskraft des Naturrechts für Atheisten bereits in den Initia, die sich grundsätzlich an der Verbindlichkeitsfrage ausrichten. Ein Blick auf den Aspekt der Belohnung (praemium) soll dies verdeutlichen, die ebenso wie die Strafe zu Dagmar Mirbach, Ingenium venustum und magnitudo pectoris. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica, in: Aufklärung 20 (2008), 199–218, hier 201–205, 214 f. 80 Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten (wie Anm. 69), 77, 101–103. Vgl. dort auch den wichtigen Hinweis, dass lebendige Erkenntnis und lebhafte Vorstellung bzw. Wahrnehmung nicht identisch sind (ebd., 125). 81 Ebd., 101. 82 Vgl. Alexander Aichele, Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12 (2004), 115–135. 83 Alexander Gottlieb Baumgarten, Ius Naturae, Halle 1763, 4, § 6 ad Kohlerum § 287: „Huc quaestiones de I.N. Athei 1) an daretur ius naturae, si non daretur Deus? Negatur. 2) An Atheus excepto atheismi errore sanam rationem sequens potest conuinci de iure naturae? Et affirmatur. 3) An ius naturae aeque bene ab atheo cognosci potest, ac ab admittente theologiam naturalem? Et negatur. […] Si methodum per omne ius naturae tractandum abstrahentem ab ipsa theologia naturali dicamus empiricam […].“ Hervorhebung im Text. 79
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den obligantia, den Verbindlichkeit generierenden Aspekten der praktischen Philosophie zählt:84 Verbindlichkeit besteht erstens „in der Verknüpfung von stärkeren Antriebsursachen mit der freien Bestimmung einer Handlung“85 – eine solche Antriebsursache kann eben Belohnung sein; Verbindlichkeit generiert mithin zweitens u. a. aus einer zu erwartenden Belohnung; Belohnung ist drittens gegründet in bzw. folgt aus moralischen Gütern;86 viertens sind diese Güter natürlich, folgen also aus der an sich guten Handlung, oder sind arbiträr, folgen also aus der freien Setzung des Gesetzgebers;87 fünftens sind alle natürlichen Belohnungen selbst schon Setzungen des göttlichen Willens (praemia naturalia divina);88 mithin werden sechstens gute Handlungen schon durch natürliche Belohnungen – und nicht erst durch übernatürliche, mirakulöse Belohnungen – angemessen und „ebenmäßigst“ vergolten;89 für den Atheisten gilt daher siebtens: Jede gute freie Handlungsbestimmung hat ihre guten Folgen, mithin natürliche Belohnungen, die auch dem Atheisten zuzugestehen sind, obgleich er leugnet, dass sie zugleich arbiträre göttliche Belohnungen sind. Da die Gutheit einer Sache in der durch sie gesetzten Vollkommenheit besteht, wird diese freie Handlungsbestimmung gut sein, insofern sie gute Folgen hat bzw. natürliche Belohnungen […]. Da diese Belohnungen Antriebsursachen sind, um eine solche freie Handlungsbestimmung eher zu verwirklichen als die ihr entgegensetzte Handlung, tragen sie zur Verbindlichkeit bei.90
Damit ist Baumgartens Argumentationsgang über die Verpflichtungswirkung natürlicher Belohnungen abgeschlossen. Dass dies nicht nur für die Belohnungen, sondern auch für die Bestrafungen von Naturrechtsbrüchen gilt, sei hier nur erwähnt: Die Abteilung poenae gleicht demjenigen über die Belohnungen in Gliederung, Argumentationsgang und sogar in den Formulierungen bis ins Detail.91 Baumgarten, Initia Philosophiae Practicae (wie Anm. 71), [fol. )( 4v]. 85 Ebd., 6, § 15: „Obligatio […] potest definiri perconnexionem [!] […] caussarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione.“ Übersetzung von Clemens Schwaiger, Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung, in: Aufklärung 20 (2008), 219–237, hier 224. 86 Baumgarten, Initia Philosophiae Practicae (wie Anm. 71), 67, § 106: „Sunt quidem praemia rationata bonorum moralium, et consectaria […].“ 87 Ebd., 14, § 33: „Haec autem aut proprius satisque connectuntur cum libera determinatione per naturam eius, et subiecti, cui inest, naturalia, aut per arbitrium alicuius liberum, arbitraria, aut per utrumque.“ Hervorhebungen im Text. 88 Ebd., 69, § 109: „[N]aturalia omnia sunt etiam arbitraria divina.“ 89 Ebd.: „Quae [i. e. bonae determinationes liberae; O.B.] tamen praemiis naturalibus, et arbitrariis non miraculosis aeque bene et proprotionalissime, ornari possunt, ob ea nunquam miraculosa praemia conferet.“ 90 Ebd. 69 f., § 110: „Omnis determinatio libera bona, habet sua consectaria bona, hinc praemia naturalia, ipsi atheo concedenda, quamvis neget ea esse simul arbitraria divina, et quoniam bonum est, quo posito ponitur perfectio, bona erit, quatenus bona fundit consectaria, sicut praemia habet naturalia […] haec praemia quum sint caussae impulsivae ad actuandam potius talem determinationem liberam, quam eius oppositum, ad obligationem aliquid conferent.“ 91 Baumgarten, Initia Philosophiae Practicae (wie Anm. 71), 74–81, §§ 115–124. 84
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Anders also, als der eingangs dieses Abschnittes zitierte Paragraph 32 der Initia dies vermuten ließ, spielt das Attribut der Unsterblichkeit aller moralischen Güter und Übel für ihre Verpflichtungswirkung weder eine spezifische noch gar eine exklusive Rolle. Auch der Atheist kann das Naturrecht nicht nur inhaltlich kennen, sondern darüber hinaus auch einen natürlichen Antrieb haben, mithin sich verbunden fühlen, die naturrechtlich gebotenen Handlungen auszuführen92 – ohne reflektiertes Wissen um den göttlichen Gesetzgeber, ohne Wissen um die Unendlichkeit der moralischen Güter bzw. Übel, ohne folglich voraussetzen zu müssen, dass die Seele unsterblich sei. VI. Schluss: Gellerts pädagogischer Positivismus Gellerts empirisches Urteil über den theonomen Charakter des Verbindlichkeitsbegriffs seiner Gegenwart hält einer Überprüfung nicht stand, wenn man es an der Entwicklung der naturrechtlichen Verbindlichkeitstheorien misst. Alle hier vorgestellten Naturrechtler bejahen zwar die Unsterblichkeit der Seele, gehören mithin der Sache nach nicht zur Gruppe der Freigeister, gegen die Gellerts dritte Vorlesung ausdrücklich polemisiert. Gleichwohl macht keiner von ihnen das Wissen um bzw. die Annahme der Unsterblichkeit der Seele zur Bedingung einer Bindungswirkung überpositiver Normen, wenngleich mit unterschiedlichen Mitteln und unterschiedlichem Erfolg. Pufendorf glaubt immerhin noch, diese Bedingung nachschieben zu müssen, obgleich er damit der schon intrinsischen Verpflichtungskraft der rein rational hergeleiteten Geselligkeit widerspricht. Leibniz führt zwar den Beweis einer ewigen Notwendigkeit von Strafen, verfehlt aber sein eigentliches Beweisziel, nämlich die Notwendigkeit ewiger Strafen und das Wissen um dieselbe als verpflichtungstheoretische conditio sine qua non. Thomasius leugnet die Möglichkeit der unsterblichen Seele und ewiger Strafen zwar nicht, schließt jedoch überhaupt mit dem Zwangscharakter natürlicher Gesetze ab, so dass sich die Frage nach der Relevanz sowohl irdischer als auch ewiger natürlicher Strafen ohnehin nicht stellt. Wolff wiederum stärkt zwar wieder den Verpflichtungscharakter auch und gerade der natürlichen Gesetze; er gewinnt diese Verpflichtungskraft jedoch nicht aus der Annahme ewiger Strafen, mithin einer unsterblichen Seele, sondern aus dem Begriff einer wohlverstandenen SelbstlieInwieweit diese Verbindlichkeit beim Atheisten quantitativ eingeschränkt sein soll, wie Merio Scattola behauptet, geht aus dieser Stelle nicht hervor: Scattola, Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens (wie Anm. 72), 255. Vgl. demgegenüber Dieter Hünings Analyse des KöhlerKommentars Georg Friedrich Meiers: Dieter Hüning, Das Naturrecht der Atheisten. Zur Debatte um die Begründung eines säkularen Naturrechts in der deutschen Aufklärungsphilosophie, in: Albrecht Beutel, Martha Nooke (Hg.), Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie, Tübingen 2016, 409–424, hier 420. 92
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be, die im Naturzustand als motivationale und insofern verbindende Kraft auf die Einhaltung allgemeiner Normen hinwirkt. Auch Baumgarten identifiziert Beweggrund und Verpflichtungsgrund und bestimmt dabei sogar wieder die Handlungsfolgen (bzw. die lebhafte Vorstellung von denselben) als solche Beweggründe; diese Folgen müssen gleichwohl nicht notwendig in Strafen bzw. in ewigen Strafen bestehen, so dass auch bei Baumgarten die Bindungswirkung natürlicher Gesetze nicht von der Annahme der Unsterblichkeit der Seele als ihrer Bedingung abhängt. Taugt diese Problemgeschichte naturrechtlicher Verbindlichkeit der Sache nach zwar als Einwand gegen Gellert, so darf gleichwohl nicht verschwiegen werden, dass Gellert sich gegen diesen Einwand abzusichern versucht: Auch und gerade diejenigen nämlich, die meinen, ihre Moral- und Pflichtenlehren seien weitgehend säkular, d. h. auf Vernunft und Sinne gegründet, verdanken ihre von Gellert unbestrittenen Vorzüge dem Licht des Glaubens und der Offenbarung: Es ist offenbar, daß wir diesen Vorzug in der Moral, dem Lichte, das uns die christliche Religion angezündet hat, zu danken haben; so sehr sich auch einige Philosophen schmeicheln mögen, daß sie diese Ueberlegenheit ihrem Scharfsinne schuldig wären. Durch den Unterricht, den wir von Jugend auf in den Wahrheiten der Religion empfangen, macht unsre Vernunft dieselben sich eigen, ohne daß wirs wissen. Wir finden sie, wenn wir anfangen selbst zu denken, in unserm Gedächtnisse; und so meynen wir, daß wir sie, so wohl nach ihrem Umfange als nach dem Grade der Gewißheit, allein dem Lichte der Vernunft zu danken hatten. In der That sind auch die Sittenlehren der Religion das Sittengesetz, das die Vernunft billiget und größten Theils für ihre eigene Stimme erkennet. Aber warum waren gleichwohl diese Gesetze der Vernunft und des Gewissens in dem Verstande der größten Geister unter den Alten mit so vielen Finsternissen überzogen, oder warum fehlten ihnen einige gar in ihren Lehrgebäuden? Nachdem die Offenbarung der christlichen Religion die Vernunft wieder in ihre Rechte eingesetzet, und ihr das verlorne Licht, das sich so wohl mit den ihr zuruck gebliebnen Stralen verträgt, ertheilet hat: so schmeichelt sich unser Stolz, daß diese Verbeßrung der Moral, dieser Sieg über die abergläubischen und ungläubigen Meynungen, die Frucht unsers Fleißes, unsers Tiefsinns, und unsrer gründlichern Methode sey, und daß also der Vorzug unsrer heutigen Moral der gereinigten Philosophie angehöre. Aber die Frage bleibt stets: Was hat denn diese Philosophie so gereiniget?93
Anders als bei Baumgarten bildet nicht die natürliche, sondern die übernatürliche, positive Offenbarung die Basis allen Wissens. Durch das Argument einer frühen Aneignung und Habitualisierung von Wahrheiten kann Gellert diese der Religion, mithin der positiven Offenbarung zuschreiben und zugleich erklären, wie es zum Irrtum kommt, sie als Vernunftwahrheiten einzuordnen. Gerade die frühe und grundlegende Aneignung der Offenbarungswahrheiten bewirke den Anschein einer Evidenz, wie man sie nur apriorischer Vernunfterkenntnis zuzuschreiben können glaubt. Die gellertsche Vernunft hat selbst eine präreflexive Ausstattung 93
Gellert, Dritte Vorlesung (wie Anm. 1), 41 f.
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(„ohne daß wirs wissen“) und lebt insofern ,von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann".94 Die Folgen für Gellerts Vernunftbegriff sind dabei dieselben wie diejenigen für seinen Begriff der natürlichen Religion: Obgleich beide dem Anschein nach natürlich und insofern überpositiv sind, sind sie in der Tat von Setzungen abhängig und insofern selbst positiv. Gellert begreift die natürliche Theologie nicht als theoretische Grund-, sondern als historische Vorstufe der christlichen Theologie und behandelt sie daher nicht anders als jede andere positive Religion.95 Ebenso begreift Gellert die Vernunft nicht als theoretische, sondern als historische Instanz des Wissens und behandelt sie daher nicht anders als jede positive Vernunftausstattung.96 Das bedeutet, „[u]nsere heutige Moral hat […] mehr Gewißheit von der Unsterblichkeit der Seele, und den mit ihr verknüpften Strafen des Lasters und Belohnungen der Tugend“97 selbst dort, wo vermeintlich philosophische Systeme vermeintlich säkulare Verbindlichkeitslehren vorlegen. Während Gellerts explizite Kritik all diejenigen Morallehren trifft, die die Religion ablehnen, subsumiert er implizit die der Religion indifferent gegenüberstehenden Naturrechtslehren handstreichartig unter einen umfassenden Positivismus. Das rhetorische Geschick, durch das Gellert mit seinem Lob der „heutigen Moral“ eben nicht nur theologische und atheistische, sondern den gesamten Pflichtdiskurs der Aufklärung anspricht und vereinnahmt, ist durchaus bemerkenswert. Verheerend natürlich muss das systematische Urteil ausfallen: Indem Gellerts Argumentation in einen Positivismus umschlägt, wird sie ihrem Anspruch, Vernunft- und Theoriekritik zu sein, nicht gerecht. Denn die Frage, ob eine überpositive Wissens- und Normbildung überzeugend ist, ist je schon verneint, weil bereits ihr ontologischer Status unvermittelt geleugnet ist. In seiner Vorlesung Von dem Vorzuge der heutigen Moral vor der Moral der alten Philosophen, und von der Schrecklichkeit der freygeisterischen Moral behauptet Christian Fürchtegott Gellert, dass es gute Gründe dafür gebe, die zeitgenössische christliche Moralphilosophie zu bevorzugen, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihren Gehalt, sondern auch mit Blick auf ihre Verbindlichkeit und Methode. Für Gellert gibt es keine andere Garantie einer angemessenen Einhaltung naturrechtlicher Normen als die Voraussetzung der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Mit dieser Behauptung kritisiert Gellert nicht nur Diese Formulierung ist den staatsrechtlichen Überlegungen von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, 42–64, hier 60 entlehnt. 95 Gellert, Dritte Vorlesung (wie Anm. 1), S. 43. 96 Insofern versucht Gellert nicht „das aufklärerisches Rationalitätsprinzip und lutherische Orthodoxie zu harmonisieren“, sondern ersteres in letztere zu integrieren: Kramer, Poetik der Ausgrenzung (wie Anm. 13), 32. 97 Gellert, Dritte Vorlesung (wie Anm. 1), S. 41. 94
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die paganen Moralisten der Antike sowie die atheistischen und materialistischen Philosophen seiner Zeit wie La Mettrie; sondern er schreibt die Unsterblichkeitsprämisse auch der deutschen Naturrechtstradition seit Samuel Pufendorf zu. Der vorliegende Artikel möchte die Konzeptionen von Verbindlichkeit bei Pufendorf, Christian Thomasius, Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten untersuchen, um Gellerts Zuschreibung zu prüfen und um seine Argumentationsstrategie zu bewerten, mithilfe derer er die Vernunft in die Offenbarungstheologie integriert. In his lecture On the today!s Morals! Advantage over the Morals of the Antique Philosophers, and on the Terribleness of the Atheistic Morals Christian Fürchtegott Gellert maintains that there are good reasons to prefer the contemporary Christian moral philosophy, not only with regard to its content, but also with regard to its obligation and method. For Gellert there is no other guarantee for observing natural law!s rules than the premise of the immortality of the human soul. By doing so, Gellert is not only criticizing the antique pagan moralists and the atheistic and materialistic philosophers of his days like La Mettrie; he is also imputing the premise of immortality to the German natural law tradition since Samuel Pufendorf. This article aims to examine the conceptions of obligation by Pufendorf, Christian Thomasius, Christian Wolff and Alexander Gottlieb Baumgarten in order to verify Gellert!s imputation and to value his rhetorical strategy of integrating reason into revealed theology. Dr. Oliver Bach, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, E-Mail: [email protected]
Gideon Stiening Von der Unsterblichkeit des ganzen Menschen zur ewigen Wiederkehr der Seele Zum Palingenesiegedanken bei Charles Bonnet und Gotthold Ephraim Lessing
I. ,Unsterblichkeit" in der Aufklärung zwischen Theologie und Philosophie Die Resultate und Konsequenzen des 30-jährigen Krieges zeitigten nicht nur in der politischen Theorie1 und in der politischen Praxis2 einen außergewöhnlichen Säkularisierungsschub; auch in der Theologie, in der Metaphysik, ihren häufig unklaren und umstrittenen Überschneidungen sowie in ihren Teilbereichen, wie der Psychologie oder der Kosmologie, wirkte sich die schwindende Verbindlichkeitsleistung der christlichen Religion und ihrer theologischen Legitimationstheorien nachhaltig aus. Neben der nachgerade erodierenden Sündentheologie3 sind es u. a. die Soteriologie4 und die Anthropologie,5 die erheblichen Auflösungserscheinungen bzw. grundlegenden Veränderungen ausgesetzt waren. Schon für den in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts besonders entwicklungsstarken Sozinianismus steht auch das Dogma der Unsterblichkeit der Seele bzw. von Seele und Körper zur Disposition. Fausto Sozzini selbst begründete die NotVgl. hierzu u. a. Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau, München 21999; Holger Glinka, Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und in der Aufklärung, Hamburg 2012. 2 Vgl. hierzu Joachim Whaley, Das Heilige Römische Reicht deutscher Nation und seine Territorien, 2 Bde., Darmstadt 2014, hier Bd. 1, 774: „Der westfälische Frieden war säkular und hatte säkularisierende Wirkung, weil er geistlichen Mächten, Konzilen oder dem Papsttum explizit das Recht verweigerte, ihn infrage zu stellen.“ 3 Siehe hierzu Anselm Schubert, Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen 2002. 4 Vgl. hierzu Daniela Kohler, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Kaspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Berlin, Boston 2015. 5 Vgl. Simone de Angelis, Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ,Wissenschaft vom Menschen" in der Frühen Neuzeit, Berlin, New York 2010. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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wendigkeit einer „Sterblichkeit des ganzen Menschen“.6 Das 18. Jahrhundert wird auf vielen Wegen und Umwegen diese Tendenzen zur Verweltlichung von Theorie und Praxis sowohl der Politik als auch der Anthropologie und Psychologie verstärken.7 Seit den 1750er Jahren werden diese Tendenzen durch einen europaweit wirksamen Empirismus, Skeptizismus und Materialismus systematisiert, denen in vielen seiner Formationen die Unsterblichkeit zur Unmöglichkeit geriet.8 Diese Skizze zu den Säkularisierungstendenzen im 17. und 18. Jahrhundert impliziert jedoch keineswegs die These eines linearen Prozesses zunehmender Verweltlichung, der zudem noch als Fortschrittgeschichte zu kennzeichnen wäre;9 schon Hans Blumenbergs komplexes Modell einer sich notwendig säkularisierenden Neuzeit konturierte diese Fortschrittsideologie – trotz anderslautender Vorwürfe10 – keineswegs.11 Vielmehr lassen sich in den unterschiedlichen Phasen des erst im frühen 19. Jahrhunderts zunächst abbrechenden Aufklärungsprozesses stets Gegenbewegungen zu den Verweltlichungsentwicklungen feststellen, wie der Pietismus12 oder die an Pascal anknüpfende katholische Gegenaufklärung,13 deren systematische Konturen allererst durch ihre polemische, resakraliSiehe hierzu Sascha Salatowski, Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2015, spez. 366 ff. 7 Siehe hierzu sowohl Christoph Link, Zwischen Absolutismus und Revolution. Aufgeklärtes Denken über Recht und Staat in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Aufbruch aus dem Ancien R1gime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 1993, 185–209 als auch Fernando Vidal, Les Sciences de l!ffme, XVIe–XVIIIe si-cle, Paris 2006 und Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012. 8 Siehe hierzu u. a. Lothar Kreimendahl, Einige Bemerkungen zu Humes Auseinandersetzung mit den metaphysischen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele, in: Aufklärung und Kritik 18 (2011), 85–99 sowie ders., Humes Auseinandersetzung mit den physischen Argumenten für die Unsterblichkeit der Seele und seine Kritik an Joseph Butler, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 69 (2015), 435–473; Paola Rumore, Georg Friedrich Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele im zeitgenössischen Kontext, in: Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.), Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“, Berlin, Boston 2015, 145–161. 9 Siehe hierzu schon Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 31973, 178 ff. 10 Vgl. hierzu die ebenso aufgeregten wie unzutreffenden Kritiken von Karl Löwith und Hans Georg Gadamer, Hans Blumenberg. Die Legitimität der Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 15 (1968), 196–209 sowie von Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung der politischen Theologie, Berlin 1970, 85–98. 11 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1988, 87 ff. 12 Siehe hierzu u. a. Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997. 13 Vgl. dazu Darrin M. McMahon, Seeing the Century of Lights as a time of Darkness: the catholic counter-enlightenment in Europa and the Americas, 1750–1799, in: Florence Lotterie, Darrin M. McMahon (Hg.), Les lumi-res europ1ennes dans leurs relations avec les autres grandes cultures et religions, Paris 2002, 81–204. 6
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sierende Funktion gegen die Verweltlichung oder gar Weltlichkeit von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft vollständig zu erfassen sind. Pascals energische Apologie des Unsterblichkeitsdogmas, „L!immortalit1 de l!(me est une chose qui nous importe si fort, qui nous touche si profond1ment, qu!il faut avoir perdu tout sentiment pour Þtre dans l!indiff1rence de savoir ce qui en est“,14 ist ohne Montaignes Skepsis, gegen die sie sich wendet, nicht zu verstehen. Die neuzeitliche Theologie und ihre ebenso neuzeitlichen Apologeten stehen – verstärkt im Zeitalter der Aufklärung – unter dem Druck zunehmender Säkularität.15 Oder komplexer noch: Selbst die von Kräften, die wie Leibniz oder Locke der christlichen Tradition weitgehend verbundenen bleiben, als Gefahr für Theologie und Philosophie sowie deren rationalistischen Burgfrieden wahrgenommenen Sozinianer verbleiben bei näherem Zusehen selbst noch auf dem – wenngleich schmaler gewordenen – Boden christlicher Theologie. Sie wollen diese gar vor den Konfessionsgegnern oder ,dem Atheismus" erretten und sind somit von tatsächlich säkularen Positionen, wie denjenigen einiger Radikalaufklärer16 oder Kants,17 noch immer um Welten entfernt. So sehr der Sozinianismus folglich der Vorgeschichte der europäischen Aufklärung als einer Säkularisierungsbewegung zuzuschreiben ist, weil für die Crells und Stegmanns die Vernunft unteilbar war und daher die Wahrheiten der Religion deren Kriterien unterworfen werden müssen, so sehr geht es dieser Bewegung um die Aufrechterhaltung jener religiösen Gehalte, die mit der Vernunft zusammenstimmen können – ohne selbst vernünftig sein zu müssen. Zwar musste die Trinität dieser Position ebenso zum Opfer fallen wie der Unsterblichkeitsglaube, nicht aber die Jungfrauengeburt oder die Annahme der Himmelfahrt Christi, die zwar physische Gesetze, nicht aber Blaise Pascal, Pens1es, hg. von L1on Brunschvijg, Paris 1897, 47 (Fr. 194). Siehe hierzu u. a. Walter Sparn, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Werner Schneiders (Hg.), Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 18–57. 16 Vgl. hierzu u. a. Jacob Mauvillons Brief an Michael Hißmann vom 23. Juni 1777: „Denn unter uns u. als Freund gesagt, bin ich überzeugt, daß man der Menschheit keinen wichtigern Dienst erzeigen kann als an der Untergrabung des Christentums zu arbeiten. Diese Religion macht die Menschen schwach, furchtsam, kleinmüthig; sie erstickt jede Hoheit des Geistes, allen Adel der Seelen. Muth im Tode, Widerstand gegen Gefahren u. Unterdrückung sind ihr ein Greuel“; zitiert nach: Michael Hißmann, Briefwechsel, hg. von Hans-Peter Nowitzki u. a., Berlin, Boston 2016, 40. 17 Zu Kants strenger Säkularität insbesondere auf dem Feld der politischen Theorie vgl. die Auseinandersetzung zwischen Georg Geismann und Joachim Detjen in Georg Geismann, Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ,klassischen" politischen Philosophie, in: Jahrbuch für Politik 2 (1992), 319–336; Joachim Detjen, Kantischer Vernunftstaat der Freiheit oder klassische Ordnung zum Gemeinwohl? Zur Kontroverse mit Georg Geismann um die Grundlagen der politischen Philosophie, in: Jahrbuch für Politik 4 (1994), 157–188 sowie Georg Geismann, Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die klassische Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben, in: Jahrbuch für Politik 5 (1995), 141–177. 14
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das formale Prinzip der Widerspruchsfreiheit tangierten. Kurz: Der Sozinianismus kann und muss einerseits als Beginn der Aufklärung, andererseits – und zwar bis zu Michael Hißmanns eigentümlichen Unsterblichkeitsüberzeugungen18 – als deren geschickte Gegenbewegung interpretiert werden.19 Gleiches gilt für das angeblich säkulare, in Wahrheit lediglich säkularisierte Naturrecht.20 Einen ähnlichen Januskopf zeigt auch dasjenige – in seinem Zentrum theonome – Theoriegebäude, das im Folgenden betrachtet werden soll: Charles Bonnets und Gotthold Ephraim Lessings Vorstellungen von einer Seelenwanderung bzw. einer Wiedergeburt. An beiden methodisch, systematisch und in der sprachlichen sowie literarischen Präsentation höchst unterschiedlichen Konzeptionen von Unsterblichkeit, die durch Lessings Rezeption der bonnetschen Paling)n)sie philosophique um 1776 eine wenigstens empirische Verbundenheit haben,21 lässt sich anschaulich ablesen, dass und wie das theologische Dogma einer immortalitas animae in die je aktuellsten, hier natur- und geschichtsphilosophischen Vorgaben integriert werden konnte, wenn es denn musste, d. h. um es unter den Bedingungen aufklärerischen Wissens zu retten. Beide Autoren behaupten eine solche Notwendigkeit der Unsterblichkeit und es soll sich zeigen, welchen Anstrengungen sie sich aussetzten, um ihre jeweilige ,Vermittlung" von Theologie und Philosophie bzw. Wissenschaft zu ermöglichen. Dabei wird sich eröffnen, dass eine durchaus naheliegende Interpretation der schon für viele Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts nur als „Narrheit“22 zu beurteilenden Seelenwanderungslehre durch ihren Widerspruch zu „jedem pragmatischen Vernunftbegriff“23 zu kurz greift.
Vgl. hierzu Udo Thiel, Hißmann und der Materialismus, in: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.), Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung, Berlin 2013, 25–41. 19 Diese Sicht auf die zugleich gegenaufklärerischen Tendenzen des religiösen Sozianismus fehlt der ansonsten brillanten Studie von Salatowski (wie Anm. 6). 20 Siehe hierzu Gideon Stiening, Politische Theologie als Lösung und Problem. Francisco Su+rez! ,De legibus ac Deo legislatore" als Krisenphänomen und Befriedungsangebot, in: Wilhelm Schmidt-Biggemann, Friedrich Vollhardt (Hg.), Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, 83–111. 21 Zum Nachweis einer Bonnet-Lektüre Lessings vgl. schon Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 21991, 139 f.; Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999, 350 f. 22 So Johann Christoph Adelung, Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibung berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen-, und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, 8 Bde., Leipzig 1785–1799, Bd. 1, 50. 23 So Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009, 11. 18
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II. Charles Bonnet – Naturgeschichtliche Unsterblichkeit
1. Von der Entomologie zur Philosophie der Offenbarung Als Charles Bonnet im Jahre 1769 seine Paling)n)sie philosophique, die er mit deutlichen Hinweisen versah, dass dieser Text sein opus magnum sei, in Genf erscheinen ließ, konnte er auf eine schon 112 Jahrzehnte währende philosophische Publikationsgeschichte zum Thema zurückblicken. Und diese Geschichte war außerordentlich erfolgreich: Schon die erste philosophische Veröffentlichung, der anonym publizierte Essai de Psychologie (1755), war europaweit ein großer Erfolg. Mit dem ungleich differenzierteren Essai analytique sur les Facult)s de l!ffme (1760), den Consid)rations sur les corps organis)s (1762) sowie der Contemplation de la nature (1764) befestigte und erweiterte Bonnet seinen Ruf als ebenso solider wie innovativer Psychologe und Naturphilosoph.24 Einen echten Durchbruch zum europäischen Modephilosophen erlebt Bonnet allerdings erst in den 1770er Jahren nach der und durch die Paling)n)sie, die in der deutschsprachigen Aufklärung durch die Übersetzung Lavaters berühmt wird25 und schnell weitere Übersetzungen der älteren Werke Bonnets nach sich zieht.26 Erst und ausgerechnet die Paling)n)sie macht ihn zu dem Referenzautoren des deutschen Empirismus, so bei Feder, Meiners, Hißmann, Irving, Tiedemann, Hennigs oder Tetens.27 Die weitgehend positive Rezeption – nur strenge Rationalisten können der Nervenfasernpsychologie Bonnets nichts abgewinnen28 – ist jedoch weniger auf die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen und Prinzipien der bonnetschen Theorien zu Psychologie und organischer Natur zurückzuführen;29 zwar war Bonnet
Vgl. hierzu u. a. Raymond Savioz, La Philosophie des Charles Bonnet de Gen-ve, Paris 1948, 340 ff.; Jacques Marx, Charles Bonnet contre les Lumi-res 1738–1850, Oxford 1976, 438 f. sowie den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. 25 Zu Lavaters Bonnet-Rezeption vgl. Kohler, Eschatologie und Soteriologie (wie Anm. 4), 17 ff. 26 Vgl. hierzu die Bibliographie in Charles Bonnet, Systemtheorie und die Philosophie organisierter Körper, übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen von Tobias Cheung, Frankfurt am Main 2005, 57 f. 27 Vgl. hierzu Johannes Speck, Bonnets Einwirkungen auf die deutsche Psychologie des vorigen Jahrhunderts, in: Archiv für die Geschichte der Philosophie X (1897), 504–515, XI (1898), 58–72 und 181–211. 28 Vgl. hierzu Wilhelm Ludwig Gottlob Freiherr von Eberstein, Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibnitz bis auf die gegenwärtige Zeit, 2 Bde., Halle 1794/99, Bd. 1, 327 f. 29 So aber Martin Mulsow, Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, 211–273, spez. 232 f. oder auch Matthias Cheung, Einleitung, 24
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schon in den 1740er Jahren als Naturforscher, näherhin als Entomologe,30 in Erscheinung getreten und wandte sich der Philosophie nur zu, weil ihn ein Augenleiden an mikroskopischer Arbeit hinderte.31 Zudem hält er an den methodischen Prinzipien seiner Naturforschung auch auf den Feldern der Psychologie und Anthropologie fest. Gleichwohl ist sein Erfolg als Philosoph vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass er einerseits als epistemologischer und methodischer Empirist in der expliziten Anbindung an John Locke32 und &tienne Bonnot de Condillac33 auf die neuesten, bisweilen selbst erbrachten Ergebnisse der Neurophysiologie und -anatomie zurückgreift und doch zugleich andererseits an metaphysischen, vor allem aber theologischen Voraussetzungen bzw. Beweiszielen festhält.34 Nicht nur ergänzt er schon 1755 seinen Essai de Psychologie um stets mitabgedruckte Principes philosophiques sur la cause premi(re et sur son effet (1754), die sich ausführlich und weitgehend deduktiv über den Nutzen der Metaphysik und die Notwendigkeit der Religion auslassen; in der Paling)n)sie philosophique bezeichnet er sich selbst als „Philosophe Chr1tien“,35 bezieht sich häufig in argumentationstragender Weise auf die Heilige Schrift und nimmt daher für sich und seinen Text zu Recht in Anspruch: „J!ai voulu que mon Esquisse p*t Þtre lue & go*t1e par toutes les Soci1t1s Chr1tiennes.“36 Diese Bekenntnisse zu einer christlichen Philosophie und einer christlichen Gesellschaft sind der psychologischen und naturgeschichtlichen Argumentation Bonnets in all seinen Texten keineswegs äußerlich. Vielmehr stellt der Genfer Autor seine theologische, sich der Metaphysik lediglich bedienende Arbeit als notwendige Folge seiner langjährigen konsequenten Auseinandersetzung mit der Psychologie und der Naturlehre dar. Zunächst weist er die Planung der Schrift über die ,Wiedergeburt" als Fortsetzung von Problemlagen und Fragestellungen aus, die er im 24. Kapitel des Essai analytique ausgeführt hatte. Tatsächlich behandelte Bonnet schon an jener Stelle seiner 1760er Schrift den Begriff der Persönlichkeit sowie dessen zeitliche Extension und entwickelte daraus Argumente in: Charles Bonnets Systemtheorie (wie Anm. 26), 5–85, die Bonnet beide zum (modernen) Naturwissenschaftler machen. 30 Vgl. Charles Bonnet, Trait1 d!Insectologie, 2 Bde., Paris 1745. 31 Siehe hierzu die Skizze bei Johannes Klingen-Protti, Charles Bonnet: ,Essai analytique sur les Facult1s de l!ffme" (1760); ,Contemplation de la nature" (1781 [sic]), in: Rudolf Behrens, Jörn Steigerwald (Hg.), Aufklärung und Imagination in Frankreich (1675–1810), Berlin, Boston 2014, 356–369. 32 Charles Bonnet, Paling1n1sie philosophique, 2 Bde., Genf 1769/70, Bd. 2, 80. 33 Charles Bonnet, Essai analytique sur les Facult1s de l!ffme, Kopenhagen 1760, 122. 34 Siehe hierzu auch Göran Blix, La paling1n1sie romantique: histoire et immortalit1 de Charles Bonnet ) Pierre Leroux, in: Paule Petitier, Gisela S1ginger (Hg.), Les formes du temps. Rythme, histoire temporalit1, Straßburg 2007, 225–240. 35 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 168. 36 Ebd., Bd. 1, XII f.
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gegen den Materialismus und für eine Unsterblichkeit der Seele von Tier und Mensch. Schon 1760 ist im Zusammenhang der Immortalit1 de l!homme für Bonnet evident: „L!Amour de n.tre Etre nous porte ) le souhaiter; la Raison nous le rend probable; la REVELATION nous le persuade.“37 Ausgehend von diesen Überlegungen zur Persönlichkeit38 und zum künftigen Zustand des Menschen – so Bonnet in der Vorrede zur Paling)n)sie – hätten sich über Reflexionen zur Unsterblichkeit der Tiere die nachfolgenden Gedanken gleichsam zwanglos ergeben: Enfin; apr-s avoir march1 quelque temps au milieu de cette Campagne riante & fertile, une Perspective plus vaste & plus riche s!est offerte ) mes regards; & quelle Perspective encore! celle de ce Bonheur & venir que DIEU r1serve dans sa bont" ) l!Homme mortel. J!ai donc 1t1 conduit par une marche aussi neuve que philosophique ) m!occuper des Fondemens de ce Bonheur; & parce qu!ils reposent principalement sur la R&V&LATION, l!Examen logique de ses Preuves est devenu la Partie la plus importante de mon Travail.39
Tatsächlich wird Bonnet die Kapitel XVII bis XXI und damit den Abschluss und Höhepunkt seines opus magnum mehreren „Esquisse des Recherches philosophiques sur la R1l1vation“ widmen40 und damit anzeigen, dass ein Beweis der Unsterblichkeit des Menschen nur über den Nachweis einer eigenen Wahrheitsgewissheit der Offenbarung gelingen kann. Also gilt – wie schon für Locke so41 auch – für Bonnet: ohne Heilige Schrift keine Unsterblichkeitsüberzeugung. Diese Auffassung unterscheidet Bonnet ersichtlich vom Rationalismus, für den es bekanntermaßen möglich und notwendig war, „die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, ohne die Offenbarung zur Hülfe zu nehmen.“42 Allerdings muss für Bonnet – und hierin unterscheidet er sich von Locke ebenso wie von Wolff – der Text der Heiligen Schrift zunächst einer philosophischen Untersuchung unterzogen werden, um seine Wahrheiten denen der Psychologie und Naturlehre wenigstens anzunähern, beispielsweise indem sie durch ein spezifisches Verfahren aus Erfahrungen erschlossen werden. Bonnet macht damit die Bonnet, Essai analytique (wie Anm. 33), 473. Zur Definition der Persönlichkeit in der Paling)n)sie philosophique siehe Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 2, 66 f.: „Je parle toujours de la Personnalit) relativement au sentiment que chaque Individu a de son Moi.“ 39 Ebd., Bd. 1, XI. 40 Ebd., Bd. 2, 157–401. 41 Ausdrücklich hielt Locke in einer Tagebuchnotiz fest, dass es für ihn keinen überzeugenden Beweis für die Unsterblichkeit gebe; vgl. An Early Draft of Locke!s Essay together with Excerpts from his Journals, hg. von Richard I. Aaron und Jocelyn Gipp, Oxford 1936, 121–123. 42 Vorrede eines Ungenannten, in: Johann Gustav Reinbeck, Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit, nebst einigen Anmerckungen über ein Frantzösisches Schreiben, darin behauptet werden will, daß die Materie dencke, Berlin 1740, [unpag.]. 37 38
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Offenbarung zu einem Moment der empirischen Naturgforschung.43 Wie genau aber und warum kommt Bonnet von einer empirischen Psychologie und metaphysischen Naturgeschichte zu einer ,Philosophie der Offenbarung"?
2. Von der Neuroanatomie über die Anthropologie zur Theologie – Bonnets Psychologie Wie erwähnt, setzt Bonnet vor den eigentlichen Beginn der Paling)n)sie, die sich mit der Unsterblichkeit der Tiere, des Menschen und der naturgeschichtlichen Dignität der Offenbarung befasst, drei Abschnitte, die die zentralen und für das Folgende konstitutiven Ergebnisse seines Essai analytique, seiner Consid)rations sur les corps organis)s sowie seines Essai de Psychologie in konzentrierter Form reproduzieren. Bonnet erläutert in diesen Abschnitten die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die daraus resultierenden Bestimmungen der theoretischen und praktischen Anthropologie, eine für deren vollständige Ausführung erforderliche metaphysische Naturtheorie des Organismus sowie die Anwendung der Ergebnisse beider Felder für vermögenspsychologische Bestimmungen zum Gedächtnis und zur Ideenassoziation, dem Grundgesetz empiristischer Epistemologie seit Hume und Hartley.44 Schon in den ersten vier Paragraphen des ersten Abschnittes, die den empiristischen Fundamentalgrundsatz des gesamten Werkes, nach dem alle unsere Erkenntnis in der Sinneserfahrung gründen, vorstellen, werden Theoreme ausgeführt, die zu jenen Problemen führen, die allererst mithilfe der Seelenwanderungs- oder Paling1n1sielehre gelöst werden können. Allein die Überschriften zu diesen ersten Paragraphen lauten nämlich: 1. Principe fondamental de tout l!Ouvrage. Les Sens, premi-re Origine des Id1es 2. La R1flexion , seconde Source de nos Id1es 3. L!Union de l!Ame & du Corps , & sa Loi 4. Simplicit1 de l!Ame. L!Homme , Etre mixte.45
Diese Reinthronisation der Heiligen Schrift in den szientifischen Psychologiediskurs gegen die Tendenzen ihrer wissenschaftlichen Indifferentsetzung verbindet Bonnet mit Herder, Hamann und Lavater, wenngleich deren Umgang mit jenem Text zusätzlich eine ästhetische Komponente hat, die Bonnet abgeht, vgl. zu diesem Kontext u. a. Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung – Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999. 44 Vgl. hierzu u. a. Falk Wunderlich, Assoziationen der Ideen und denkende Materie. Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley, in: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.), Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung, Berlin 2013, 63–84. 45 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, XIX. 43
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Liefern die ersten beiden Paragraphen eine vereinfachte Variante der lockeschen Distinktion zwischen Sensation und Reflexion, so bietet schon der dritte Paragraph eine gewisse Eigentümlichkeit: Denn die Vereinigung der Seele mit dem Körper ist für Bonnet zwar eine Tatsache, die als „Entsprechung“ von Hirnnervenbewegungen mit den sinnlichen Vorstellungen der Seele beschrieben wird, eine Erklärung für diese Entsprechung wird aber explizit zurückgewiesen: Le Philosophe ne recherche point comment le mouvement d!un Nerf fait na3tre dans l!Ame une Id1e. Il admet simplement le Fait, & renonce fans peine ) en conno3tre la Cause. Il fait qu!elle tient au myst-re de l!Union des deux Substances, & que ce myst-re est pour lui imp1n1trable. Il lui suffit de favoir, qu!) l!1branlement de tel ou tel Nerf, r1pond toujours dans l!Ame telle ou telle Sensation. Il regarde la Sensation, non comme l!effet physique Se imm1diat du mouvement du Nerf ? mais comme la fuite ins1parable de ce mouvement. Il considere en quelque forte, ce mouvement comme un Signe naturel de la Sensation, & ce Signe est de l!institution du CR&ATEUR.46
In diesem frühen Paragraphen ist auf engstem Raume diejenige Vermittlung von empiristischer Psychologie, metaphysischer Anthropologie und Schöpfungstheologie entfaltet, die für Bonnet charakteristisch ist: Die Sinneserkenntnis wird zunächst durch einen neurologischen Mechanismus konkretisiert, dessen spezifisch psychophysische Funktionsweise allerdings als „Myst-re“, als Geheimnis jeder Erklärung entzogen wird; klar ist dem Philosophen nur, dass in Körper und Seele, in Gehirn und Geist zwei Substanzen vereinigt sind, deren Interaktion den konkreten Erkenntnisprozess allererst ermöglicht. Nicht wie genau, sondern nur dass die Bewegung der Nerven und die Entstehung der Vorstellungen zusammenstimmen, ja zusammenhängen müssen, ist dem Betrachter erkennbar, und zwar als Ausdruck der Schöpfungsleistung Gottes. Damit ist für Bonnet schon das mind-body-problem, das Locke, Hume und noch Kant als (noch oder überhaupt) unlösbares aus der Wissenschaft verbannt sehen wollten,47 gerade als ungelöstes Problem Grund für die Verbindung von wissenschaftlicher Anthropologie und Theologie. In dieser Weise hat Bonnet nicht nur Lockes empirische mit Descartes! metaphysischer Anthropologie verknüpft, sondern beiden und deren eigentümlicher Vermittlung eine theologische Fundierung verpasst. Denn es ist – wie sich noch zeigen wird – der Schöpfer und nur er, der die einfache Substanz der menschlichen Seele mit der einfachen Substanz ihres Körpers zu vereinigen Ebd., Bd. 1, 6; der Sachverhalt dieser Unkenntnis der tatsächlichen Vorgänge des commercium mentis et corporis wird häufig wiederholt, so in ebd., Bd. 2, 16 ff., 30 ff. u. ö. 47 Vgl. hierzu John Locke, An Essay concerning Human Understanding, mit einer Einl., krit. Apparat und Glossar hg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1979, 43; David Hume, ATreatise of Human Nature, hg. von David Fate Norton, Mary J. Norton, Oxford 2000, 11 (1.1.2); Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seite), Bd. IX, 119. 46
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vermag und es ist ausschließlich die Offenbarung, also das Wort dieses Schöpfer, das die Unsterblichkeit dieses vermischten Wesens garantiert.48 Bonnet ist allerdings nicht weltfremd genug, diese radikale Retheologisierung des Körper-Seele-Problems nicht doch noch konventionell abzufedern. Im folgenden Abschnitt V wird er daher der Hypothese des influxus physicus einige Plausibilität zuschreiben, allerdings – Gottsched hierin verwandt49 – lediglich unter Bezug auf den Common Sense.50 Zuvor aber wird er im vierten Paragraph dieser Zusammenfassung des Essai analytique – nach der Beteuerung, dass er zwar nicht gesagt habe, „es sey unmöglich, daß die Seele ohne Körper denke“,51 dass er diese Vorstellung aber „nicht im mindesten einsehen“ könne, sowie der erneuten Bekräftigung, dass die Seele eine immaterielle Substanz sei, die der Schöpfer mit einem organischen Körper zu vereinbaren beliebt habe – die folgende Bestimmung entwickeln: Dans cet Ordre de Choses, je vois que je n!ai des Id1es que par l!intervention de mon Corps, & plus je m!1tudie moi-mÞme, plus je fuis forc1 de reconno3tre la grande influence de la Machine sur toutes les Op1rations de mon Ame. […] Mon Ame n!a aucune prise sur elle-mÞme; elle ne peut se voir & se palper elle-mÞme ; mais elle voit & palpe des Corps, ) l!aide de celui auquel elle est unie.52
Es gibt also für Bonnet weder eine Außenwahrnehmung noch eine Selbstwahrnehmung oder gar Selbstreflexion ohne vermittelnde Referenz auf den Körper. Diese dem französischen und englischen Sensualismus ebenso wie der WolffSchule entstammende,53 sich in den 1760er und 1770er Jahren auch im deutschsprachigem Empirismus – bei Platner, von Irving, oder selbst Sulzer – durchsetzende These von einer notwendigen Bindung der Seele an den Körper,54 um sie selbst, also erkennende Seele zu sein, wird weitreichende Konsequenzen zeitigen, So die Argumentation in Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 6–8. Siehe hierzu Gideon Stiening, „[D]arinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beipflichten können.“ Gottsched und Wolff, in: Eric Achermann (Hg.), Johann Christoph Gottsched. Philosophie, Poetik, Wissenschaft, Berlin, Boston 2014, 39–60. 50 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 10 f. 51 So die Übersetzung der Passage in Herr C. Bonnets Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen hg. von Johann Caspar Lavater, 2 Bde., Zürich 1769/70, Bd. 1, 9. 52 Ebd., 7 f. 53 Siehe hierzu u. a. Gottlieb Alexander Baumgarten, Metaphysica, Halle 1739, 225 ff. (§ 583 ff.) sowie Reinbeck, Philosophische Gedancken (wie Anm. 42), 7: „Denn der Nahme einer Seele beziehet sich allemahl auf einen Cörper, zu dessen Vereinigung sie bestimmet, und welcher mit sinnlichen Werkzeugen versehen ist“. 54 Vgl. hierzu auch Udo Thiel, Sulzer über Bewusstsein im Kontext, in: Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, Berlin 2011, 21–36, spez. 27 ff. 48 49
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nicht nur, aber vor allem für das Problem der Unsterblichkeit.55 Denn da die Seele auch nach dem Tode ihres irdischen Körpers erkennen können muss, u. a. um ihren jenseitigen Belohnungen und Strafen Folge leisten zu können, muss sie auch dort mit einem Leib ausgestattet sein, dem u. a. die Eigenschaft der Ewigkeitsfähigkeit zukommen muss. Vollkommen konsequent hält Bonnet noch in diesem ersten Abschnitt fest: „C!est moins l!Immortalit1 de l!Ame, que l!Immortalit1 de l!Homme, que l!EVANGILE a mise a 1vidence.“56 Kurz: Die These von einer notwendigen Bindung jeder Seele an einen Körper als deren Erkenntnisinstrument, musste auf das Problem eines ewigen Leibes führen, das nur durch den Gedanken der Seelenwanderung bzw. einer Wiedergeburt im Endlichen zu umgehen war – letzteres war Lessings Weg, doch dazu später. Im Hintergrund dieser Konzeption einer Unsterblichkeit des ganzen Menschen steht Bonnets Anthropologie des Menschen als eines je schon vermischten Wesen; bei allem grundsätzlichen und unaufhebbaren Dualismus beider Substanzen sind Körper und Seele dennoch sowohl in ihrer irdischen als auch in ihrer jenseitigen Existenz stets aufeinander angewiesen: „Homme n!est pas une certaine Ame, disois-je […], il n!est pas un certain Corps; il est le r)sultat de l!Union d!une certaine Ame ) un certain Corps.“57 Lavater hat in seiner frühen Übersetzung diese zentrale und für die deutschsprachigen Debatten der 1770er Jahre prägende Passage wie folgt gefasst: „Der Mensch ist nicht eine gewisse Seele […], er ist nicht ein gewisser Körper. Er ist das Ganze aus der Vereinigung einer gewissen Seele mit einem gewissen Körper.“58 Allein eine Formulierung aus Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise von 1772 zeigt den immensen Einfluss der bonnetschen Schrift auf die Anthropologiedebatten der deutschen Spätaufklärung, bei Platner heißt es nämlich: „Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist eine Harmonie von beyden“.59 Zwar zitiert Platner Bonnet in diesem Text nicht, holt dies aber in den Philosophischen Aphorismen von 1776 umgehend nach;60 in jedem Falle bildet Bonnets theonome Schrift und dessen intensive Re-
Siehe hierzu auch Gideon Stiening, Zur physischen Anthropologie einer „Unsterblichkeit der Seele“, in: Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, Berlin 2011, 57–81. 56 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 47. 57 Ebd.; vgl. auch Charles Bonnet, Principes philosophiques, in: ders., Essai de Psychologie, London 1755, 271–390, hier 296 f. 58 Bonnets Philosophische Palingenesie (wie Anm. 51), Bd. 1, 60. 59 Ernst Platner, Anthropologie für Ärzte und Weltweise, Leipzig 1772, IV. 60 Siehe hierzu Ernst Platner, Philosophische Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur Geschichte der Philosophie, Leipzig 1776, 419. 55
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zeption einen gewichtigen Auftakt zur Anthropologiedebatte der deutschsprachigen Philosophie und Wissenschaft der 1770er Jahre.61 Bonnet macht noch in diesem Paragraphen der Abschnitte zur psychologischen Analyse deutlich, dass jene starke mind-body-Bindung mit Offenbarung und Schöpfungstheologie vollkommen übereinstimmt: J!apprens encore de la R&V&LATION, que mon Ame sera 1ternellement unie ) une portion de Mati-re; je serai donc 1ternellement un $tre-mixte. L!intention de l!AUTEUR de mon 2tre n!a donc pas 1t1 que je fusse un Esprit pur. IL a donc voulu que mon Ame n!exerÅ(t ses Facult1s que par l!intervention d!un Corps.62
Die Seele überhaupt kann und ist also nichts ohne einen Bezug auf den Körper; dass hier ein ,übersinnlicher Leib" bzw. ein ,unsterblicher Körper" inauguriert wird, liegt auf der Hand und wird von Bonnet auch in einem anderen Systemteil, der noch zu betrachten sein wird, ausgeführt. Entscheidend ist vorerst zweierlei: Erstens setzt Bonnet schlicht voraus, dass die Seele als Substanz unzerstörbar und dass sie also unsterblich ist, an keiner Stelle dieses Grundlegungsparagraphen wird das Moment ihrer Substanzialität eigens, d. h. rational begründet. Zweitens bindet Bonnet seine Substanzmetaphysik gleichsam handstreichartig an seinen epistemologischen Empirismus; im Anschluss an den Einführungssatz, nach dem er zwar nicht behauptet habe, es gebe keine reinen Geister, man könne sich allerdings keinerlei Begriff davon machen, heißt es nämlich Je sais seulement, que le sentiment que j!ai de mon Moi est toujours un, simple, indivisible; d!o, j!infere que je ne suis pas tout mati-re.63
Allerdings sind weder Bonnets Substanzendualismus noch seine Referenz auf die Offenbarung für eine Bestätigung der Überzeugung einer Unsterblichkeit von Geist und Körper sonderlich originell, wenngleich die Bindung der Erkenntnis der Substanzmetaphysik an die Empfindung wenigstens eigensinnig erscheint. Das gilt aber auch für eine weitere Referenz auf einen rationalistischen Grundsatz, den Bonnet seiner Leibniz-Lektüre entnommen haben dürfte.64 Im sechsten Abschnitt der eigentlichen Palingenesie hießt es nämlich unvermutet: La Philosophie nous donne les plus hautes Id1es de l!Univers. Elle nous le repr1sente comme la Collection Syst)matique ou harmonique de tous les 2tres cr11s. Elle nous apprend qu!il n!est un Syst(me, que parce que toutes ses Pi-ces s!engra3nant, pour Die die Anthropologie der Spätaufklärung vor allem als Wendung zum Empirismus interpretierende germanistische Forschung, sieht über Bonnets Theologie zumeist großzügig hinweg; vgl. jüngst Matthias Löwe, Idealstaat und Anthropologie Problemgeschichte der literarischen Utopie im 18. Jahrhundert, Berlin, Boston 2012, 55. 62 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 7. 63 Ebd.; zu einer vergleichbar sensualistischen Begründung der Substanzialität der Seele vgl. ebd., Bd. 1, 50 f. 64 Siehe hierzu Marx, Bonnet (wie Anm. 53), 79–85. 61
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ainsi dire, les unes dans les autres, concourent ) produire ce Tout unique, qui d1pose si fortement en faveur de l!UNIT& & de l!INTELLIGENCE de la CAUSE PREMIERE. Comme rien ne fauroit exister fans une Raison suffisante; c!est une cons1quence n1cessaire de ce grand Principe, que tout soit li) on harmonique dans l!Univers. Ainsi, rien n!y est solitaire ou s1par1; car s!il existoit un 2tre absolument isol); il seroit impossible d!assigner la Raison suffisante de l!existence d!un tel 2tre. Et il ne faudroit pas dire, que DIEU a voulu le cr1er isol1; parce que la VOLONT& DIVINE ne peut ELLE-mÞme se d1terminer sans Raison suffisante, & qu!il n!y en auroit point pour cr1er un 2tre, qui ne tiendroit absolument ) rien, & pour le cr1er avec telles ou telles D1terminations particulieres.65
Ist dieser Bezug auf das principium rationis sufficientis als ,großem Prinzip" unter gleichzeitigem Ausgangspunkt bei Beobachtung und Erfahrung als Grundlagen der Erkenntnis sachlich problematisch, so ist solcher Empirio-Rationalismus zumindest für die Anthropologie der Spätaufklärung keineswegs ungewöhnlich.66 Tatsächlich ungewöhnlich ist vielmehr Bonnets Kombination dieser theologisch-philosophischen Psychologie und Anthropologie mit einer Nervenfasernphysiologie, nach der jede Vorstellung der Seele mit der Bewegung einer bestimmten Nervenfaser korrespondiert: En me plaÅant dans ce point de vue, je n!ai pu me rendre raison ) moi-mÞne de la distinction de mes Sensations. J!ai donc 1t1 forc1 de supposer qu!il y a dans chaque Sens des Fibres appropri1es ) chaque espece de Sensation. J!ai cru appercevoir dans l!Organisation des Sens des particularit1s qui justisioient ma supposition, & je les ai indiqu1es. Les Observations sur la diff1rence de R)frangibilit) des Rayons color1s, & sur celle des Vibrations des Cordes des Instrumens sonores, m!ont paru ajouter un nouveau degr1 de probabilit1 ) cette Conjecture.67
Diese strenge Bindung jeder Vorstellung und jedes Vorstellungkomplexes an bestimmte Nerven, Nervenbündel und deren spezifische, quantitativ variierbare Erschütterungen führt konsequenterweise zu einer vollständigen Individualisierung nicht allein jeder Seele, sondern jedes einzelnen Gehirns, weil es keine zwei gleichen Bewegungs- bzw. Erschütterungsgeschichten menschlicher Gehirne geben kann. In einem schon den Zeitgenossen absurd erscheinenden,68 den Leser des
Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 243. Vgl. hierzu u. a. Falk Wunderlich, Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2005; Udo Thiel, The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume, Oxford 2011. 67 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 2, 12; vgl. hierzu schon die Hinweise bei Michael Hagner, Aufklärung über das Menschenhirn. Neue Wege der Neuroanatomie im späten 18. Jahrhundert, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, 145–161, spez. 147 f. 68 Siehe hierzu die Hinweise Bonnets in der Paling)n)sie (Bd. 1, 43), die Reaktionen auf das nämliche Beispiel im den Essais analytiques dokumentieren. 65
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21. Jahrhunderts an die Phantasien von B-Movies erinnernden69 Gedankenexperiment macht Bonnet diese durchaus denkbare Konsequenz seines Systems plausibel: Ainsi quand toutes les Ames seroient 1xactement identiques, il suffroit que DIEU eut vari1 les Cerveaux pour varier toutes les Ames. Si l!Ame d!un Huron e*t pu h1riter du Cerveau de Montesquieu, MONTESQUIEU cr1eroit encore.70
Zwar sind die Ursprungszustände beider Hirne gleich, die unvergleichliche Prägung des montesquieuschen Gehirns würde sich aber nach der Verpflanzung in den Kopf des Huronen in nichts geändert haben (und vice versa); die unmittelbare Verbindung von Nervenbewegung und Vorstellung macht diese Überlegung verständlich – gerade weil sich Bonnet zu Recht keinerlei Gedanken über deren praktische Umsetzung und deren Bedingungen macht. Trotz des phantastischen Eindrucks dieser Exemplifikation seiner Neuropsychologie lässt sich festhalten: Die Kombination aus Neurologie, Psychologie, Anthropologie und Theologie scheint die Zeitgenossen beindruckt zu haben – und dabei vor allem die deutschsprachigen Empiristen der 1770er Jahre.71 Fasst man die bis hierher entwickelte Argumentation zusammen, dann ergibt sich das folgende Bild: 1) Die Seele/das Ich ist Substanz; das ist aus Schlüssen zu ermitteln, die die unmittelbare Selbstempfindung des Ich ermöglicht. 2) Erkennen, und zwar sich selbst, die Welt und Gott kann die Seele nur mithilfe des Körpers; der Mensch ist auch als unsterblicher stets ein vermischtes Wesen, die Seele je schon und auf ewig auf den Körper angewiesen. 3) Diese Lehrsätze führen zu der Notwendigkeit, die Seele auch nach dem Tode des erkennbaren Körpers mit irgend Körperlichkeit auszustatten.
Siehe hierzu den Beitrag von Fernando Vidal, Wiedergeburtsphantasien. Hirnverpflanzungen im Film, in: Martin Hense, Jutta Müller-Tamm (Hg.), Poetik der Seelenwanderung, Freiburg im Breisgau 2014, 229–254, der 230 auch Bonnets Passage zitiert. 70 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 35 f. 71 Die nach wie vor boomende, allerdings zumeist germanistische Erforschung einer Anthropologie der Spätaufklärung hat sich der Bedeutung der bonnetschen Psychologie, Naturgeschichte und Theologie nur selten zugewandt; vgl. lediglich Ralph Häfner, „L!Ame est un Neurologie en miniatur“. Herder und die Neurophysiologie Charles Bonnets, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, 390–409 sowie Martin Schmeisser, „Der eigentliche Materialist […] weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft“. Michael Hißmann und die Psychologie Charles Bonnets, in: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.), Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung, Berlin 2013, 99–118; beide Studien verpassen allerdings die eigentümlich theonome Grundordnung der bonnetschen Philosophie. 69
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4) Entscheidend ist nun, dass nicht nur für die Phase des Übergangs, sondern für einen spezifischen, nicht eben beliebigen Fortgang des Menschen als vermischtem Wesen Formen einer unsterblichen Körperlichkeit erforderlich sind; diese hatte Bonnet aber tatsächlich in seiner Naturtheorie, und zwar aus ganz anderen theoretischen Erfordernissen als der Unsterblichkeitsfrage entworfen; nämlich mit der Theorie der Keime.
3. Bonnets Keimtheorie Um dies zu erläutern, muss im Folgenden die kurze Zusammenfassung seiner Betrachtungen der organischen Naturkörper, die Bonnet der eigentlichen Paling)n)sie ebenfalls voranstellte, in den Blick genommen werden. Mithilfe der Theorie des Keimes hatte Bonnet nämlich versucht, „deux des plus grands myst-res de la Nature, le M)chanisme des Op1rations de l!Ame , & l!Origine des Etres organis1s“ einer Erklärung näher zuzuführen.72 Die Frage nämlich, wie es u. a. dazu kommt, dass Individuen einer bestimmten natürlichen Art sich nach vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln und auch nur innerhalb dieser Art vermehren, konnte nach Bonnet nicht mechanistisch, d. h. nach dem Kausalitätsprinzip,73 sondern nur dadurch erklärt werden, dass es in der Natur gleichsam programmierte kleinste Einheiten – „les Germes“ – gibt, die sich im Laufe der Weltgeschichte, also nach Bonnet von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag, sukzessive realisieren, und zwar nach einem Plan, der in ihnen von Anbeginn der Zeiten enthalten ist.74 In die Existenz werden sie durch den Schöpfer gesetzt und lassen sich daher auch nur durch ihn wieder zerstören.75 Der Keim eines jeden Individuums ist mithin seit der Schöpfung präformiert, wird sich also zu dem ihm bestimmten Zeitpunkt in der Endlichkeit realisieren und nach dem Tode des Individuums in seinen unzerstörbaren Urzustand zurückBonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 62. Siehe hierzu schon Bonnet, Principes philosophiques (wie Anm. 57), 341. 74 Dass dies in der Form einer Höherentwicklung als Vervollkommnung des gesamten Universums gedacht wird, zeigt Arthur Onken Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt am Main 1985, 342 ff. 75 Zu Bonnets Keimtheorie vgl. u. a. Arthur Onken Lovejoy, Kant and Evolution, in: Bentley Glass, Owsei Temkin, William L. Strauss Jr. (Hg.), Forerunners of Darwin. 1745–1859, Baltimore 1968, 173–206; Tobias Cheung, Der Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem bei Kant und Bonnet, in: Ernst-Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, Berlin, New York 2009, 25–50 sowie Gideon Stiening, „Es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.“ Systematizität und historische Semantik am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse zum Begriff der Menschenrasse, in: Rainer Godel, Gideon Stiening (Hg.), Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, München 2012, 19–53. 72
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kehren. Dass Bonnet in diesem Zusammenhang Leibniz! Monadenlehre gleichsam naturalisiert, d. h. für eine Naturtheorie des Organismus fruchtbar macht, ist bekannt.76 Dagegen wurde der Sachverhalt, dass Bonnet diese metaphysische Theorie aus empirischen Fragestellungen entwickelt, die, wie die oben zitierten, empirisch nicht beantwortet werden konnten, kaum beachtet. Bonnet reflektiert aber auf diese eigentümliche Herkunft seiner Metaphysik des natürlichen Organismus aus empirischen Problemlagen auch dadurch, dass er ihr einen spezifischen Erkenntnisstatus zuweist, den nämlich der „l!Art de conjecturer en Physique“,77 einer – wie Lavater treffend übersetzt – „Muthmassungskunst in der Naturlehre“.78 Sowohl die Sache dieser spezifischen Erkenntnisweise in der Naturforschung als auch den Terminus der „Muthmassungen“ haben Bonnet und Lavater nämlich von Johann Heinrich Lambert, der in seinen Kosmologischen Briefen von 1760 jene „Art de conjecturer en Physique“ auf das Milchstraßensystem anwendete. Lambert hatte nicht nur das Problem der Kometen, sondern auch die in den 1730er Jahren erstmals beobachtete Tatsache, dass sich die Fixsterne kurvenartig bewegen, zum Anlass für Überlegungen über den Weltenbau des gesamten Universums genommen: In der letztern Helfte dieser Briefe habe ich mich vorzüglich bemüht, dem Weltbaue eine ansehnliche Grösse zu geben, und besonders hierinn scheint eine ziemliche Dreistigkeit den Mangel schärferer Beweise zu ersetzen. Ich kann es dem Leser ganz anheim stellen, wie viel er davon zugeben will, zumal, wenn sich nicht jemand die Mühe nimmt, die vorgeschlagenen Observationen und Berechnungen vorzunehmen, oder wenn diese Bemühung fruchtlos seyn sollte. Biß dahin finde ich dennoch keinen Grund, diese gewagte Gedanken ganz zu verwerfen, so sehr sie noch eine blose Glaubenssache seyn mögen, und theile die uns sichtbaren Fixsterne ohne Bedenken in besondere System ein, die zusammen genommen, die Milchstrasse ausmachen. Diese stellt mir ein ganzes System vor, welches vermuthlich noch zu mehrern andern gehört. Da ich indessen die Sache nur als wahrscheinlich angeben kann, und überdiß die zweifelhaftere Stücke unbestimmt lasse, so bleibt allerdings noch ein weiteres Feld zu neuen Muthmassungen, die jeder Leser, der sie der Untersuchung nicht unwürdig achtet, nach Belieben weiter treiben kann.79
Da also dieser Nachweis empirisch nicht möglich ist – noch wir Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts sehen die Weiten des Universums eben nicht, auch nicht mit den Siehe hierzu u. a. Oliver Rieppel, The Reception of Leibniz!s philosophy in the writings of Charles Bonnet (1720–1793), in: Journal of the History of Biology 21 (1988), 119–145; Tobias Cheung, System, Mikrooperator und Transformation: Leibniz! gemeinsames Ordnungsdispositiv der Monade und des Lebendigen im naturgeschichtlichen Kontext, in: Hanns-Peter Neumann (Hg.), Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung, Berlin 2009, 143–202. 77 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 73 ff. 78 Bonnets Philosophische Palingenesie (wie Anm. 51), Bd. 1, 89. 79 Johann Heinrich Lambert, Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues, Augsburg 1761, XV f.; zu Bonnets Lambert-Lektüre vgl. Cheung, Einleitung (wie Anm. 26), 8. 76
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besten Teleskopen – muss er mit anderen Mitteln erfolgen, die sich hypothetisch oder gleichsam tentativ möglichen Erklärungen nähern. Um den Status dieser Erklärungsannäherungen zu fassen, bedient sich Lambert des Begriffs der Mutmaßung, den er als ,dreistes" – und das heißt hier nicht überkräftiges, sondern zupackendes – Wagestücke des Denkens charakterisiert. Es sind eben Annahmen über empirische Sachverhalte, die zugleich das empirische Vermögen übersteigen, wie dies auch Bonnet in seinen Naturforschungen über die jedem Mikroskop sich entziehenden kleinsten Einheiten der Organismen anstellt und noch Kant in den 1780er Jahren im Hinblick auf den Ursprung der Menschheitsgeschichte ausführt. „Muthmassungen“ sind folglich aus der Empirie geschlossene Annahmen über empirische Sachverhalte, die sich der empirischen Erkenntnis gleichwohl noch oder je schon entziehen.80 Bemerkenswert ist nun, dass sowohl bei Lambert als auch bei Bonnet solcherart Mutmaßungen nicht ohne metaphysische Rückbindungen auskommen, d. h. die Kriterien der mutmaßenden Füllung jener Lücken in der Empirie, die empirisch nicht zu leisten ist, werden der Metaphysik entnommen: Bedient sich Lambert in seinen kosmologischen Überlegungen der Teleologie, die seine „Muthmassungen“ leiten sollen, so bezieht sich Bonnet auf die Monadenlehre, die die kleinstmöglichen Einheiten der organischen Natur als relativ autonome Kraftzentren erfassen lässt, aus denen die Entwicklungsgesetze von Gattungen und Individuen erklärbar werden. Nur Kant wird für seine Mutmaßungen der Metaphysik nicht mehr bedürfen.81 Dabei lässt sich nachzeichnen, dass Bonnets Entscheidung für eine Präformationstheorie dadurch befördert wurde, dass die Gesetzmäßigkeiten von Zeugung und Entwicklung des organischen Individuums und der Gattung durch dieses Modell einer Erklärung zuzuführen waren; die explizit verworfene Epigenesis,82 die in der elaborierten Variante Kaspar Friedrich Wolffs seit den späten 1750er Jahren Aufsehen erregte, setzte dagegen auf einen rein innerweltlichen Mechanismus äußerer Einflüsse für jede natürliche Entwicklung eines Organismus.83 Zielte Wolff folglich auf eine rein natürliche Erklärung des Organismus, so musste Bonnet auf die übernatürliche Schöpfungsleistung Gottes rekurrieren. Gerade weil er die EpiVgl. hierzu demnächst Gideon Stiening, Popularphilosophische Teleologie. Zu Lamberts Kosmologischen Briefen, in: Hans-Peter Nowitzki, Gideon Stiening (Hg.), Johann Heinrich Lambert (1728–1777) und die Mathematisierung der Aufklärung, Berlin, Boston 2018 [i.V.]. 81 Zum kantischen Mutmaßungsbegriff siehe auch Gideon Stiening, „Wissen“ oder „Muthmassung“? Herders und Kants Streit über Gehalt und Status von Genesis 1–6, in: Ludger Lieb, Manfred Kern (Hg.), Genesis – Poiesis. Der biblische Schöpfungsbericht in Literatur und Kunst, Heidelberg 2009, 133–158. 82 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), 96 ff. 83 Vgl. hierzu Olaf Breidbach, Einleitung. Zur Mechanik der Ontogenese, in: Caspar F. Wolff, Theoria generationis. Über die Entwicklung der Pflanzen und Thiere, mit einer Einleitung hg. von Olaf Breidbach, Frankfurt am Main 1999 [EA 1759], I–XXXIV. 80
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genesis für ein Einfallstor des Atheismus hielt, sagte ihm das Präformationsmodell auch aus theologischen Gründen zu. Die Nähe seiner Monadologie der Keime – wie auch Lamberts Teleologie der Sterne – zu den Prinzipien der Schöpfungstheologie gab für beide Naturforscher eine mindestens zusätzliche Begründung dafür ab, ihre Mutmaßungen durch sie zu gestalten. Keime sind für Bonnet also sinnlich nicht wahrnehmbare, individuelle organische Einheiten, die das Programm ihrer Verwirklichung und Entwicklung sowie alle weiteren Keime der aus ihnen entstehenden Individuen in sich tragen;84 in der Theoriefassung der Paling)n)sie85 bedürfen sie allerdings des äußeren Anlasses zur Verwirklichung, so einer Befruchtung durch einen Samen oder – bei ungeschlechtlicher Vermehrung – lediglich spezifisch klimatischer Bedingungen oder Ereignisse. Entstehen aber können sie nach Bonnet in ihrer – auch die Einzigartigkeit des Individuellen enthaltenden – Komplexität weder zufällig noch ausschließlich durch äußere Einflüsse. Die komplexe Gesetzmäßigkeit ihrer Realisation und Entwicklung setzt vielmehr eine intelligente Ursache voraus, so dass sich ihre Präexistenz seit der und durch die Schöpfung auch szientifisch aufdrängt: A quoi bon en effet mettre son Esprit ) la torture pour chercher des solutions m)chaniques qui ne satisfont point ) la Question, tandis qu!il est des Faits tres-d1cisifs qui semblent nous conduire comme par la main, ) la pr)existence des Germes? Je ne pr1tends point prononcer sur les voies que le CR&ATEUR a pu choisir pour amener ) l!existence divers Touts organiques; je me borne ) dire, que dans l!ordre actuel de nos Connoissances physiques, nous ne d1couvrons aucun moyen raisonnable d!expliquer m)chaniquement la formation d!un Animal, ni mÞme celle du moindre Organe. J!ai donc pens1, qu!il 1toit plus conforme ) la saine Philosophie, parce qu!il 1toit plus conforme aux Faits, d!admettre au moins comme tr-s-probable, que les Corps Organis1s pr)existoient d-s le commencement.86
Diese Metaphysik präexistierender Keime entsteht nach Bonnet also durch plausible Mutmaßungen einer gesunden Philosophie. Tatsächlich aber ist sie eine metaphysische Spekulation, die Kant schon 1775 aufgrund ihrer letztlich sinnlichen Qualität in der Vorstellung eines unendlich kleinen, aber vollständig determinierten Individuums als schlechte Metaphysik kritisierte.87 Gleichwohl erhielt sie eine empirische Plausibilität durch Bonnets Beobachtungen zur Parthenogenese der Blattlaus, die der naturgeschichtlichen Konzeption monadischer Entstehung und Entwicklung scheinbar eine empirisch-experimentelle Verifikation verlieh. Siehe hierzu u. a. Charles Bonnet, M1moire sur les Germes, in: ders., Œuvres d!histoire naturelle et de philosophie, 9 Bde., Neuch(tel 1779–1783, Bd. 5.1, 1–11. 85 Dass Bonnets Keimtheorie durchaus Veränderungen erfährt, zeigt Cheung, Der Baum im Baum (wie Anm. 70), 40 ff. 86 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 1, 99. 87 Immanuel Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, in: AA II, 427–443, spez. 434 f. 84
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Denn die ungeschlechtliche Vermehrung der Blattlaus setzte voraus, dass das Programm ihrer Vermehrung und die Entwicklungsgesetze der Individuen in ihnen enthalten sein mussten – und dies ohne jeglichen, auch nur befruchtenden Einfluss von außen.88 Diese naturentwicklungstheoretische Konzeption kann nach Bonnet im Rahmen seiner Paling)n)sie, die als Höhepunkt und Synthesis seines gesamten Schaffens dargestellt wird, eine immortalitas corporis ermöglichen, denn jene präformierten Keime sind nicht nur seit der Schöpfung existent, sie überdauern auch den Tod des endlichen tierischen bzw. menschlichen Körpers, sie sind der Körper als Substanz. Mit diesem Keim als unsterblichem Leib ist die erforderliche Bindung der zugleich ganz von ihm verschieden bleibenden Seele an eine Körperlichkeit nach dem Tode des endlichen Individuums garantiert. Schon in der Contemplation de la Nature hatte Bonnet versichert, dass die Keimtheorie den Schlüssel zur naturgeschichtlichen Verifikation des christlichen Unsterblichkeitsglaubens darstelle: Chr1tiens qui favourez cette doctrine de vie, redouteriez-vous la mort? Votre Ame immortelle tient encore ) l!immortalit1 par des liens physiques, & ces liens sont indissolubles. Unie, d-s ) pr1sent, ) un Germe imp1rissable, elle ne voit dans la mort qu!une heureuse transformation, qui, en d1barassant le grain de son enveloppe, donnera ) la Plante un nouvel Þtre. O mort o' est tan aiguillon! O s)pulchre o' est ta victoire!89
Die schon durch die Offenbarung in den Status der Glaubensüberzeugung gehobene Unsterblichkeit wird allererst durch den naturgeschichtlichen Nachweis der Existenz von Keimen zu Wissen transformiert, weil es die Keimtheorie ist, die einen unsterblichen Körper und damit die Unsterblichkeit des ganzen Menschen garantieren kann. Bonnet abstrahiert allerdings in dieser argumentativen Engführung von Offenbarung und Naturgeschichte davon, dass die Keimtheorie den Status der Mutmaßung nicht zu überschreiten vermag; im Furor der naturgeschichtlichen Legitimation der Offenbarung und der theologischen Fundierung der Naturgeschichte gehen diese ,feinen Unterschiede" unter. Auch in der drei Jahre später veröffentlichten Paling)n)sie philosophique hat sich daran nicht viel verändert. Dabei befasst sich Bonnet zunächst über mehrere Kapitel mit der Frage einer Unsterblichkeit der Tiere, die er gegen die Tradition auf der Grundlage seiner Psychologie und Naturlehre verteidigt; diesen Gedankengang zusammenfassend hält der Autor fest: J!ai assez montr1 dans les premi-res Parties de cet Ecrit, combien il est vraisemblable, que les Animaux sont appelles ) revÞtir un jour un autre Etat, qui perfectionnera & ennoblira toutes leurs Facult1s. J!ai assez fait sentir, que les Moyens physiques de ce PerSiehe hierzu Hubert Erhard, Die Entdeckung der Parthenogenese durch Charles Bonnet, in: Gesnerus 3 (1946), 15–27. 89 Charles Bonnet, Contemplation de la Nature, 2 Bde., Amsterdam 1764, Bd. 1, 90. 88
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fectionnement peuvent exister actuellement dans l!Animal, & qu!ils ont pu y exister d-s le commencement des choses. On comprend que je veux parler de ce Germe imp1rissable, auquel je conÅois que l!Ame est unie, & qu!elle ne doit point abandonner. C!est cette Ame unie de tout tems ) ce Corps invisible, qui constitue, dans mon Hypoth-se, la v1ritable Personne de l!Animal. Tout le reste n!en est donc que l!Ecorce, l!Enveloppe ou le Masque.90
Bonnet weitet also den Geltungsumfang des schon im Essai analytique entwickelten Persönlichkeitsbegriffes auf die Tiere aus, weil auch für sie eine Unsterblichkeitskonzeption gilt, die mit dem keineswegs auf den menschlichen Körper reduzierbaren Keim konstitutiv zusammenhängt; denn: wo Keime, da Unvergänglichkeit. Es macht folglich die bedeutende Anstrengung Bonnets in den ersten zehn Kapiteln der Paling)n)sie aus, den Tieren eine solche Seele zu attestieren, dass diese mit den unvergänglichen Keimen ihres Körpers eine zukünftige Gemeinsamkeit ausbilden kann. Dennoch scheint Bonnet dieser rein naturphilosophischen und rationalpsychologischen Argumentation nicht zu trauen. Ausdrücklich referiert im Abschnitt XVI der Paling)n)sie erneut auf das große Prinzip einer Raison suffisante,91 wendet dieses Prinzip auf das Verhältnis von gegenwärtigem und künftigem Zustand der Tiere an und fasst diese Argumentationsbewegung wie folgt zusammen: Il suit donc de ces Principes, que l!Etat pr)sent des Animaux, renferme des Choses qui d1termineront par elles-mÞmes, leur Etat futur. Ainsi, chaque instant de la Dur1e des Animaux est d1termin1 par l!instant qui pr1c-de. L!instant actuel d1termin1 ) son tour, l!instant qui suit. Cette Cha3ne se prolonge de la mÞme mani-re au-del) de ce terme que nous nommons improprement la Mort, & la Personnalit) se conservant toujours par les moyens physiques pr1ordonn1s, forme cette forte d!Unit) permanente, qui constitue le Moi de l!Individu.92
Diese unmittelbare Verbindung des principium rationis sufficientis mit dem Unsterblichkeitstheorem – weil es einen gegenwärtigen Zustand gibt, muss es nach dem Satz des zureichenden Grundes einen zukünftigen geben – ist ebenso überraschend wie schlicht; nicht mal die überzeugtesten Wolffianer waren allerdings zu diesem Kurzschluss bereit – er taucht auch in der Rezeption der 1770er Jahre nirgends auf. Nur der deutsch-dänische Theologe und Hofprediger Erik Ludvigsen Pontoppidan verwendet in seiner Rationaltheologie der Unsterblichkeit von 1766 einen vergleichbaren Schluss.93 Bonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 2, 5. Ebd., Bd. 2, 64. 92 Ebd., Bd. 2, 65. 93 Vgl. Erik Ludvigsen Pontoppidan, Schrift- und vernunftmäßige Abhandlung von der Unsterblichkeit menschlicher Seelen, von deren Befinden in dem Tode, von deren Zustand gleich nach dem Tode, bis an das jüngste Gericht, Kopenhagen 1766, 65 f. 90 91
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Für seinen wissenschaftlichen Nachweis der Unsterblichkeit des Menschen, den Bonnet im 16. Abschnitt der Paling)n)sie endlich durchführt, greift er erneut auf die Grundlagen seiner psycho-physiologischen Anthropologie zurück: Si donc l!Homme doit conserver sa Personnalit) dans un autre Etat, si cette Personnalit) d1pend essentiellement de la M)moire; si celle-ci ne d1pend pas moins des D1terminations que les Objets impriment aux Fibres sensibles & qu!elles retiennent; il faut que les Fibres qui composent le v)ritable Si(ge de l!Ame participent ) ces D)terminations, qu!elles y soient durables, & qu!elles lient l!Etat futur de l!Homme ) son Etat pass).94
Nur als vermischtes Wesen mit identischer Personalität – so hält Bonnet ausdrücklich fest – kann auch dem Menschen ein tatsächlich zukünftiger Status, d. h. Unsterblichkeit zugeschrieben werden. Allerdings ist die Körperlichkeit des jenseitigen Menschen nicht mit seinen endlichen Gehirnfibern selbst identisch, sondern nur mit den in ihnen enthaltenen Keimen, die sich jedoch jeder Sichtbarkeit „hienieden“ entziehen.95 Weil aber die Existenz dieser Keime im Status einer Mutmaßung verbleiben muss, können auch die Überzeugungen von einer Unsterblichkeit des ganzen Menschen keine demonstrativen Gewissheit erlangen, auch sie bleiben auf der Ebene empirischer Spekulationen über einen empirischen Sachverhalt, der die empirischen Vermögen des Menschen übersteigt. Bonnets Konzept von einer Unsterblichkeit des ganzen Menschen erweist sich so als eine Form von Systemzwang, und zwar zur Unsterblichkeit des Körpers und der Seele. Wurde die Unsterblichkeit der Seele als Substanz zwar vorausgesetzt, so war Bonnet durch die Prämisse von der Notwendigkeit ihrer ununterbrochenen Bindung an den Körper, um erkennen zu können und damit ihrem Wesen zu entsprechen, genötigt, einen unsterblichen Körper zu erfinden. Nun hatte ihm seine Theorie natürlicher Entwicklung die Annahme solcher Teile unsterblicher Materie schon nahegelegt, so dass er den Erfordernissen seiner Epistemologie im Hinblick auf die Unsterblichkeitslehre mit den Ergebnissen seiner Naturlehre begegnen konnte. III. Lessings „mehr als einmal“: Ewige Palingenesie Endete Bonnets Versuch eines wissenschaftlichen Nachweises der Unsterblichkeit des ganzen Menschen im szientifischen Desaster, weil mehr als eine erneuerte Glaubensgewissheit auch nach hunderten von Seiten nicht herausspringen wollte, so baute Lessing solchem Scheitern vor, indem er jeden strengen Wissenschaftsanspruch – sei er empirisch, sei er rational – schon durch die Gattungswahl abBonnet, Paling1n1sie philosophique (wie Anm. 32), Bd. 2, 145. So die eindringliche Übersetzung Lavaters in Bonnets Philosophische Palingenesie (wie Anm. 51), Bd. 2, 15. 94
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wehrte. Zwar ist die Erziehung des Menschengeschlechts in 100 Paragraphen angeordnet, doch verbindet sich mit dieser Paraphierung – anders als in Wolffs oder Crusius! Kompendien – nicht der Anspruch auf demonstrative Beweisführung.96 Vielmehr spricht Lessing im Vorbericht des Herausgebers ausdrücklich von einem „Fingerzeig“,97 also einer möglichen Denkrichtung, in die er sich mit den nachfolgenden Seiten begeben wird – auch Lessing tastet, allerdings nicht auf dem Feld des Empirischen. Entscheidend – auch im Hinblick auf den Unterschied zu Bonnets Palingenesievorstellung, der entgegen den jacobischen Insinuationen ganz erheblich ausfällt98 – ist nämlich, dass Lessings Überlegungen keineswegs psychologischer oder naturgeschichtlicher Provenienz sind, sondern Konsequenzen einer Geschichtsphilosophie austragen – und damit auch und vor allem rational, nicht empirisch argumentieren. Denn die Geschichtsphilosophie um 1800 suchte nicht nach einem Verlauf von Geschichte, sondern nach den Entwicklungsgesetzen der Menschheit bzw. der menschlichen Gesellschaft.99 Lessing nimmt also, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderem Geltungsstatus als Bonnet, eine Seelenwanderungslehre an, die er nicht nur in einem kleinen unveröffentlichten Text,100 sondern auch in den letzten Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts skizziert. Unabhängig von den spezifischen Gründen für die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele überhaupt, musste für Lessing von Beginn solcher Reflexionen an klar sein, dass die Seele – wenn denn schon unsterblich – innerweltlich verbleiben musste, weil es für ihn als Spinozisten keinerlei von der Welt geschiedene Sphäre eines ewigen Jenseits geben konnte.101 Diese strenge Innerweltlichkeit der Ausführungen Lessings muss als erste, in der Erziehung nicht genannte Prämisse für seine Unsterblichkeitskonzeption
So auch Hugh Barr Nisbert, Lessing. Eine Biographie, München 2008, 754 f. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: ders., Werke in 8 Bänden, hg. von Herbert G. Göpfert u. a., München 1970–1979, Bd. 8, 489. 98 Vgl. hierzu Jacobis – ausschließlich denunziatorischer – Hinweis auf eine angebliche Lektüre der Palingenesie in Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, hg. von Marion Lauschke, Darmstadt 2000, 40 f. 99 Vgl. hierzu Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006 sowie Gideon Stiening, Historisierte Religion? Mendelssohn und Lessing über den Anspruch der jüdischen Religion, in: Lessing Yearbook 39 (2010/11) [Lessing und die jüdische Aufklärung / Lessing and the Jewish Enlightenment, hg. von Stephan Braese und Monika Fick], 221–239. 100 Gotthold Ephraim Lessing, Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können, in: ders., Werke (wie Anm. 97), Bd. 8, 557–560. 101 Vgl. hierzu Gideon Stiening, „Werden Sie lieber ganz sein Freund“. Zur Bedeutung von Lessings Spinoza-Rezeption, in: Eva Schürmann, Norbert Waszek, Frank Weinrich (Hg.), Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas (1942–1997), Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 193–220. 96
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gelten. Die für Lessings tentative Unsterblichkeitsüberlegungen zentrale Passage lautet: § 92 Du [d. i. die ewige Vorsehung] hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu tun! – Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlechte seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert? § 93 Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. – „In einem und eben demselben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen sein? Kann er in demselben Leben beide überholet haben?“ § 94 Das wohl nicht! – Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?102
Hiermit hat Lessing ein entscheidendes Argument für seine Seelenwanderungslehre entworfen, zwar werden die nachfolgenden Paragraphen das Thema berühren, aber weitgehend nur mehr illustrativ; unbestreitbar wird der Status dieser Reflexion durch den nachfolgend verwendeten Terminus der „Hypothese“ in der für Lessing typischen Weise eingeschränkt. Das mag einem skeptischen Habitus geschuldet sein, den sich der Wolfenbütteler Bibliothekar zur Abwehr eines spekulativen Dogmatismus angeeignet hatte; doch bleibt dieser Habitus – wie so häufig – der systematischen Sache äußerlich.103 Das entscheidende Problem,104 das Lessing in diesen Paragraphen reflektiert, besteht darin, dass der Fortschritt der Menschheit, den Lessing in drei Erscheinungsformen der praktischen Vernunft des Menschen geordnet sieht, deren Rationalitätsgrad zunimmt, zur Entwicklung des einzelnen Menschen in eine doppelte Beziehung gesetzt werden muss. Zum einen muss sich die Menschheit in diesem Prozess des Einzelnen bedienen, weil sie kein autonomes Subjekt darstellt, sondern nur ein Kollektivsubjekt – Lessing presst diesen Gedanken in das (unglückliche) Bild der kleinen Räder, die das große Fortschrittsrad drehen müssen. Zum anderen aber kann und darf diese Fortschrittsgeschichte sich des einzelnen nicht ausschließlich als Mittel bedienen, um der in ihr wirksamen übernatürlichen GeLessing, Erziehung (wie Anm. 97), 509 f. Siehe hierzu Gideon Stiening, Von der empirischen zur fiktiven Genese. Anmerkungen zur Argumentationsmethode in Lessings ,Laokoon", in: Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Unordentliche Collectanea: Lessings ,Laokoon" zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung, Berlin, Boston 2013, 113–128. 104 Zum Folgenden vgl. u. a. Alexander Altmann, Lessings Glaube an die Seelenwanderung, in: Lessing Yearbook 8 (1976), 7–41; Manfred Beetz, Lessings vernünftige Palingenesie, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, 131–147 sowie Daniel Cyranka, Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung, Göttingen 2005. 102 103
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rechtigkeit Rechnung zu tragen. Nicht nur der Menschheit, auch dem einzelnen Menschen muss es möglich sein, jenen Fortschritt der Motivation zu moralischer Gesinnung zu durchlaufen, die durch die Stadien Altes Testament (Vermeidung göttlicher Strafen im Diesseits), Neues Testament (Vermeidung ewiger Strafen im Jenseits), praktische Metaphysik (Moralität um ihrer selbst willen) ausgeprägt wird. Weil es aber mehr als unwahrscheinlich ist, dass der einzelne Mensch in einem Leben erst Jude, dann Christ und letztlich säkularer Metaphysiker wird, muss es ihm möglich sein, mehrere Leben zu durchlaufen, um jenen Fortschritt der Menschheit auch individuell zu realisieren. Um der überindividuellen Gerechtigkeit des Menschheitsfortschritts willen gibt es folglich eine Notwendigkeit zur ewigen Wiederkehr des Menschen – eine Vorstellung, die Lessing offenbar nicht schreckt: „Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“105 Neben der geschichtsphilosophischen Notwendigkeit muss Lessing aber auch die anthropologische Möglichkeit einer ewigen Wiederkehr des Menschen wenigstens reflektieren. Die entscheidende Voraussetzung dafür, dass es einen ewigen Fortschritt für den einzelnen im ewigen Prozess seiner Wiederkehr geben kann, besteht darin, dass es tatsächlich eine Identität der einen Seele gibt, die stets wiederkehrt, sie aber zugleich ihre empirische Individualität vergessen muss, „weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen“ (§ 99). Kurz: diese ewig wandernde Seele muss die Fähigkeit haben, sich auf ewig „neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten“ (§ 98) anzueignen und darf zugleich kein Bewusstsein ihrer selbst als diese ewig aneignende Seele haben. Übrigens ist das Argument der Bewusstlosigkeit der seelischen Ewigkeit ein empirisches, weil nur Kranke und Behinderte sich als Wiedergänger begreifen. Diese tatsächlich entscheidende Argumentationsbewegung, nach der die Seele stets ewig neue Erkenntnisse, „neue Fähigkeiten“ akkumuliert, entspringt allerdings keiner frühneuzeitlichen heterodoxen Theologie, sondern einer rationalistischen Philosophie, und zwar der Vollkommenheitsmetaphysik Christians Wolffs. Denn auch bei Wolff ist die Seele einem steten Vervollkommnungsprozess ausgesetzt, und zwar deshalb, weil sie definiert ist als steter Prozess bzw. Kraft der erkennenden Interaktion mit der Welt: Weil nämlich diese Kraft [d. i. die Kraft, sich die Welt vorzustellen nach dem Stande ihres Körpers in der Welt] der Grund ist von allem demjenigen, was veränderliches in der Seele ist, so bestehet in ihr das Wesen der Seele und ist solchergestalt das erste, was sich von der Seele gedencken lässt.106 Lessing, Erziehung (wie Anm. 97), 510. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr [Gesammelte Werke, hg. und bearbeitet von Jean ðcole, Hans Werner Arndt u. a., Hildesheim 1979 ff., Bd. I.2], Hildesheim 1983, 469. 105 106
Von der Unsterblichkeit des Menschen zur ewigen Wiederkehr der Seele
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Dieser Prozess ist auch nach dem Tode des endlichen Körpers nicht beendet – und kann es auch nicht sein, weil er zum Wesen, zum Begriff der Seele gehört. Nun gibt es zwei spezifische Modifikationen, die Lessing dieser wolffschen Vorstellung unterwirft: Zum einen realisiert sich der Vervollkommnungsprozess der einzelnen Seele nicht an der Aufnahme von Wissen und Informationen überhaupt, sondern in ihrer Befähigung zum Durchlaufen verschiedenen Religions- bzw. Weltanschauungsstufen, von Judentum über das Christentum zum dritten Evangelium der Vernunft. Diese Überzeugungen beinhalten vor allem den Gottesbegriff, den der Unsterblichkeit der Seele und – natürlich – Gründe für die Gültigkeit von Normen, die Lessing um ihrer selbst willen realisiert sehen will. Diesen Prozess kann der Menschen in der Tat nicht in einem einzigen Leben durchlaufen, und so legt diese Vorstellung von Vervollkommnung mehrere Anläufe nahe. Die andere Modifikation gegenüber der Vollkommenheitsmetaphysik und anthropologie Christians Wolffs betrifft zum anderen die Frage der Dauer dieses Prozesses. Ist dieser für Wolff durch die zeitliche Extension der Schöpfung, mithin als nur relativ unbegrenzt, bestimmt, so kehrt Lessing dieser christlichen Vorstellung erkennbar den Rücken und findet zur aristotelischen Annahme einer Ewigkeit der Welt zurück.107 In dieser ewigen Welt kann und muss auch die Seelenwanderung zur Vollkommenheit eine ewige sein; deshalb formuliert der zitierte letzte Paragraph kein Schreckensszenario, sondern eine energische Abkehr vom christlichen Schöpfungsgedanken. Mit Bonnets Paling)n)sie philosophiques und Lessings Vorstellung von der ewig wiederkehrenden, ewig erkennenden Seele des Menschen erhält die Jahrtausende alte Vorstellung von Seelenwanderungen als spezifischer Variante der Unsterblichkeit im späten 18. Jahrhundert neue Konjunktur;108 Georg Schlossers wiederum abweichende Konzeption109 hat in diesen Modellen ihren prägenden Kontext. Alle drei Modelle weisen dabei jene ambivalente Kontur zwischen der Säkularisierung und einer Resakralisierung der leitwissenschaftlichen Psychologie auf, die das späte 18. Jahrhundert bis auf Kant maßgeblich prägte. Dabei waren es weder „Esoterik“ noch „Narrheit“, die dazu führten, diese Form der Unsterblichkeit für wenigstens möglich zu halten, sondern epistemologische, anthropologische und moralphilosophische Prämissen, die eine säkularisierte, keineswegs säkulare Substanz aufweisen.
Zu diesem aristotelischen Theorem und dessen Problematik für die christliche Theologie vgl. u. a. Salatowski, Die Philosophie der Sozinianer (wie Anm. 6), 276 ff. 108 Siehe hier Zander, Geschichte der Seelenwanderung (wie Anm. 21), 343 ff. 109 Johann Georg Schlosser, Über die Seelenwanderung, Basel 1781; ders., Über die Seelenwanderung. Zwey Gespräche, Basel 1782. 107
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Der Beitrag beschäftigt sich mit den Palingenesie- bzw. Seelenwanderungskonzepten, die Charles Bonnet und Gotthold Ephraim Lessing im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vorlegten und damit zu einiger Berühmtheit verhalfen. Dabei wird zu zeigen versucht, dass die Gründe für die Annahme solcher schon im 18. Jahrhundert kritisch beäugten Varianten des Unsterblichkeitstheorems weniger in esoterischen Idiosynkrasien der beiden Autoren als vielmehr in den Konsequenzen ihrer anthropologischen, naturgeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Grundlagentheorien zu finden sind. The essay deals with the Palingenesis and souls migration concepts, presented by Charles Bonnet and Gotthold Ephraim Lessing in the last third of the eighteenth century, and thus contributed to some fame. It is attempted to show that the reasons for the assumption of these types of the theory of immortality, already critically observed in the eighteenth century, are less to be found in esoteric idiosyncrasies of the two authors than in the consequences of their anthropological, natural-historical, and philosophical theories of history. PD Dr. Gideon Stiening, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, E-Mail: [email protected]
Hans-Peter Nowitzki „Wie lebt man so wohl im Schatten des ewigen Throns!“1 Christoph Martin Wieland und die ,Unsterblichkeit"
I. Am 24. Oktober 1812 brilliert2 der 79jährige Wieland „im Orient von Weimar“,3 in der Freimaurerloge ,Anna Amalia zu den drei Rosen", anlässlich ihres 48. Stiftungsfestes mit einer Rede, die sich dem Fortleben im Andenken der Nachwelt widmet. Es sollte zugleich seine letzte sein. Er verstirbt knapp drei Monate später, am 20. Januar 1813, gegen Mitternacht, zuvor noch versichernd: „Sein oder Nichtsein, das ist mir jetzt so ziemlich egal.“4 Im Druck erscheint die sich mit der Fortexistenz beschäftigende Rede posthum als Beilage VII in Wieland!s Todtenfeier in der Loge Anna Amalia zu Weimar am 18. Februar 1813. Gedruckt als Manuscript für Brüder. Sie bildet gleichsam den Schlussstein einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Thema ,Unsterblichkeit", seinen Begründungsweisen, -methoden und -motivationen. Das schloss zugleich das intensive Nachdenken über Leben und Tod ein.5 Denn die Vorstellung von der ,Unsterblichkeit" des Menschen traf traditionellerweise mit dem zusammen, was man seine ,Bestimmung" nannte. Auf ihr lag, bemaß man sie nach ihrer existentiellen Relevanz für das InWieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (1754), in: Wielands Gesammelte Schriften, 1. Abt.: Werke, Bd. 2, hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1909, 222–229, hier 228, 219 [künftig: AA Abteilung/Band, Seite, (Vers)Zeile]. 2 Thomas C. Starnes, Christoph Martin Wieland: Leben und Werk, Bd. 3: „Der Dekan des deutschen Parnasses“ 1800–1813, Sigmaringen 1987, 454. 3 Christoph Martin Wieland, Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt (1812), in: AA I/20 (wie Anm. 1), 374–382 und 108 A–123 A, hier 109 A. 4 Starnes, Christoph Martin Wieland (wie Anm. 2), Bd. 3, 464. Vgl. Christoph Martin Wieland, Vorbericht zum Anti-Cato (1773), in: Wielands Werke, Bd. 11.1, hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, Berlin u. a. 2009, 34–49, hier 34, 9–14 [künftig: WOA Band, Seite, (Vers)Zeile]. 5 Vgl. Lieselotte E. Kurth-Voigt, Existence after Death: Changing Views in Wieland!s Writings, in: Lessing Yearbook 17 (1985), 153–176, sowie dies., Continued Existence, Reincarnation, and the Power of Sympathy in Classical Weimar, Rochester and Woodbridge 1999 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), 85–110. 1
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dividuum, das Schwergewicht der ,Bestimmung".6 ,Unsterblichkeit", sei es als Versprechen, sei es als Drohung, ist, zusammen mit der ,Einheit Gottes" und der ,künftigen Vergeltung", konstitutiv für das Christentum.7 Denn zweierlei schien unumstößlich festzustehen: (1) Weder sind im Tod alle gleich, noch sind alle Tode gleich. Die Verklammerung von Tat und Schicksal, Belohnung und Bestrafung, Genugtuung und Vergeltung sind geschichtsimmanent nicht denkbar. Das angesichts dessen obwaltende Desinteresse am Todesproblem unter den Lebenden könne als Indiz gewertet werden, dass die im Rahmen der dogmatischen Moralisierung des Todesproblems angedrohte oder verheißene Unsterblichkeit nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die in Anbetracht ihres Status als moralitätsermöglichend erwartbar wäre. Das macht Wieland skeptisch: Eine nicht zu leugnende Tatsache sei es, führt Wieland, möglicherweise im Anschluss an Epikur (Menon 125), in der Rede dazu u. a. aus, „daß die Menschen, vermöge der gemeinsten und natürlichsten Vorstellungsweise, das Leben für das größte aller Güter, folglich den Tod, in sofern er uns als ein gänzliches Stillstehen und Aufhören des Lebens erscheint, für das größte aller Übel halten“.8 Mit dem Satan des Buches Hiob konstatiert er: „Alles, was ein Mann hat, läßt er um sein Leben.“9 Und dennoch: Solange die Menschen sich leidlich wohl befinden, gedenken Sie des Todes nicht. Diesen empirischen Befund setzt Wieland gegen das dogmatisch aufgerüstete Theologumenon ,Unsterblichkeit", nicht zaghaft, aber rücksichtsvoll, wissend, dass es viele, so man sie darauf hinweist, dennoch vehement verteidigen würden. Möglicherweise, so Wieland angesichts der paradoxen Situation, liege dem ein psychologisches Faktum zugrunde, wonach ,Sein" und ,Nichtsein" zwei einander derart ausschließende Vorstellungen sein könnten, dass sie sich in einem Subjekt weder zugleich noch nacheinander denken lassen. Vielleicht aber ist der Begriff ,Nichtsein" ja auch ein leerer, ohne Vorstellungsinhalt. Aber wie dem auch sei, um zu wissen, was der ,Tod", das ,Nichtsein" ist, müsste jemand zuvor die Todes-Erfahrung gemacht und in der Lage gewesen sein, sie auch bezeugen zu können. Zwar kann die Antike mit einigen Wiedergängern aufVgl. Johann Joachim Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, Dritte und vermehrte Auflage, Berlin 1749, 27: „Wer die Billigkeit und Unpartheylichkeit hat, die Religion der H. Schrift in ihrem wesentlichen und in ihrem Hauptzweck aufmerksam zu erwägen, der wird so fort finden, daß diese das schönste Zeugniß und der stärkste Beyfall ist, der den hieher gehörigen Wahrheiten der Natur und Vernunft gegeben werden kann. Die allgemeine Liebe gegen Gott, gegen die Menschen, und gegen das Gute, die Besserung und Glückseligkeit der unsterblichen Sele. Das ist augenscheinlich das emsigste Geschäfte der Stifter unsers Glaubens.“ 7 Vgl. z. B. Karl Franz von Irwing an Michael Hißmann, Berlin, 24. April 1781, in: Michael Hißmann, Briefwechsel, hg. von Hans-Peter Nowitzki u. a., Berlin, Boston 2016, 125–129, hier 126. 8 Wieland, Über das Fortleben (wie Anm. 3), 374. 9 Hiob 2,4. 6
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warten – Homers Odysseus,10 Platons Er11 und Vergils Aeneas12 etwa –, aber nur von einem, dem „Einzigen“, ist von ehrwürdigen Zeugen glaubhaft bezeugt worden, dass er „nach einem anderthalbtägigen Schlummer“ wieder ins Leben zurückgekehrt sei.13 Doch ausgerechnet dieser habe von dem ,Paradies"14 genannten jenseitigen Ort keine nähere Beschreibung hinterlassen. Auch über die näheren Umstände der Auferweckung und über das Leben nach dem Tod schweigt sich Jesus von Nazareth aus. ,Statthafte historische Zeugnisse" für ein „Leben nach dem gegenwärtigen“, so Wielands ernüchterndes Fazit, fehlten bislang in Gänze, und damit auch – das führt er allerdings wohlweislich nicht aus – ein Beleg dafür, daß analog zur Auferstehung Jesu,15 „des Erstgeborenen von den Toten“,16 eine Auferstehung aller17 stattfinden werde. Da von der Geschichte ganz offensichtlich keine diesbezüglichen Ergebnisse zu erwarten sind, bleibe nur noch die Befragung seiner selbst, die Selbsterkenntnis. Bereits im Stande der Natur, als „Naturmensch“, bei dem die Vernunft noch vergleichsweise unentwickelt ist, sei eine Ahnung, eine Art dunkler Empfindung rege, dass es nicht der „Leib, sondern das unsichtbare Etwas, was sein Dasein in Ihm durch Denken, Wollen und Wirken zu erkennen giebt, sein wahres Ich sei“.18 Im Stande der Zivilisation würden mit fortschreitender Entwicklung und Ausbildung Fragen virulent wie: „Wer und wo bin ich? j Was war ich vor dem Eintritt in dieses Leben? j Was wird nach dem Ausgang aus demselben aus mir werden?“ Geht man ihnen nach, wird man eines „zweifachen Lebensprincip[s]“ gewahr, „aus dessen innigsten Verbindung und Homer, Odyssee 11. Platon, Politeia 10, 614a ff. 12 Vgl. Aeneis 6, 384 ff. 13 Nach 1 Kor 15,3 f. ist Jesus von Gott am dritten Tag nach der Kreuzigung, d. h. etwa eineinhalb Tage nach seinem Tod auferweckt worden. Vgl. zur Berechnung Johann Albrecht Bengel, Richtige Harmonie der Vier Evangelisten da die Geschichten, Werke und Reden JEsu Christi unsers HErrn, in ihrer geziemenden natürlichen Ordnung, zur Befestigung der Wahrheit, wie auch zur Übung und Erbauung in der Gottseligkeit vorgestellet werden, Dritte Auflage, Tübingen 1766, 584–588. Vgl. auch Wieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229, hier 222, 11, und 227, 155–157. 14 Lk 23,43. 15 Apg 2,24, 32 u. ö. 16 Kol 1,18. 17 1 Kor 15,12–22, Apg 24,15, Joh 5,28 f. Paulus knüpft in 1 Kor 15,12–19 (vgl. auch 1. Thess 4,13–18) die Auferstehung an die Existenz des Christentums. Denn ohne den Auferstehungsglauben (!m\stasir mejq_m) gibt es keine Auferstehung und Apotheose Jesu und somit auch keine Befreiung des Glaubenden von den Sünden: „Jst Christus aber nicht aufferstanden / So ist ewer glaube eitel / So seid jr noch in ewren sünden / So sind auch die / so in Christo entschlaffen sind verloren“ (1 Kor 15,17 f.). Auch der Umkehrschluss gilt: Ohne Jesu Auferstehung und Apotheose kann es keinen Auferstehungsglauben geben. Vgl. Günter Unger, Das Glaubensbekenntnis am neuen Testament kritisch erklärt, Stuttgart 2009, 73–98 und 120–122. 18 Wieland, Über das Fortleben (wie Anm. 3), 375. 10
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Zusammenwirkung die Art von Dasein entspringt, die wir unser Leben nennen“. Das sinnliche wie das geistige Lebensprinzip, beide wesentlich unterschieden, sind nur im irdischen Leben vereint, und zwar „unerklärbar[]“. Obgleich vom Körper eingeschränkt, scheint das Geistige doch seinem Wesen und seinen Tätigkeiten nach „ganz unabhängig“ von dem Körperlichen. Diesen Befund bestätigen die „weisesten Männer und schärfsten Denker des Alterthums, oder vielmehr aller Zeiten“ einstimmig. Die Seele bzw. der Geist ist das empfindende, denkende und wollende Wesen in einem mit Bewusstsein begabten Menschen. Sie ist „unkörperlich, folglich unaufhörlich und unvergänglich“. Der „Leib“ ist nur ihr „sichtbare[r] Repräsentant[] und Lebensgehülfe[] in der Sinnenwelt“ und die Trennung vom Leib ihrem Wesen nicht abträglich. Sie lebt weiter und fährt fort, zu denken, zu wollen und zu wirken. – Dieser, „jedem guten Menschen“ natürliche, „von der Vernunft kräftig unterstützte Glauben“ ist indes nicht so stark, als dass er jeden Zweifels überhoben ist, sondern ruft Fragen nach dem Wo und Wie der postmortalen Existenz wach.19 Der dabei von der Vernunft im Stich Gelassene sucht hierfür naturgemäß „Offenbarungen von außen“ auf, wie Cicero etwa die Demeter-Mysterien von Eleusis.20 Doch Hilfe wird man hier nicht erwarten können, wie das Beispiel Cicero illustriere, der wie Sokrates für die Unsterblichkeit nur Glaubensgewißheit ausmachen konnte: In Gottes großer Stadt21 kann der Tod für den Menschen „unmöglich ein Übel“ sein, weil entweder „mit dem Tode Alles aufhöre“ oder die Seele nach ihrer Entleibung ein „neues Leben beginne“, an einem Ort, „wo sie, in Gesellschaft aller Weisen und Guten, eines ihrer Natur vollkommen angemessenen, unbeschreiblich glückseeligen und unaufhörlichen Daseins zu genießen bestimmt sei“. Letzteres sei von jeher „der Glaube der Edelsten und Besten unter den Menschen“ gewesen und werde es vermutlich auch bleiben. Dem pflichtet auch Wieland bei.22 Auffällig sind Wielands Vokabular und Bezugnahmen. Obgleich auf den ersten Blick argumentationslogisch alles auf das heidnische Altertum abgestellt zu sein scheint, spielt das christliche Denken hier eine fundamentale Rolle. Nicht nur die vielfältigen Anspielungen auf Biblisches, der Hinweis auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus, dessen Name unerwähnt bleibt, und seine Jünger, aber auch die anthropologischen Termini weisen nicht nur beiläufig auf einen vertrauten christlichen Horizont. Wielands Behandlung der Unsterblichkeitsfrage bewegt sich im Umkreis biblischer und theologischer Anthropologien, die zwischen antirationalistischem jüdischem Denken, das ursprünglich nur ein Weiterleben in den Nachkommen 19 20 21 22
Ebd., 376 f. Cicero, De legibus 2, 14, 36, Tusculanae disputationes 1, 2. Ps 87,3, 46,4, Offb 21,2. Wieland, Über das Fortleben (wie Anm. 3), 377 f.
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kannte (5 Mose 25,6 f.),23 der materialistischen24 und der spiritualistischen Auferweckungsauffassung25 changierend. Sie geben Raum für die Annahme von ewigem Leben (fyµ aQ~mior; 1 Tim 1,16, Tit 1,2 u. a.) schon im Irdischen (Joh 3,36, 6,53), so dass die Seele an sich, ohne das Heilshandeln Jesu Christi, unsterblich sei und eine Auferweckung nicht benötige. Sie lassen auch unentschieden, ob nur die Gerechten (Lk 20,35, 14,14) oder alle auferstehen (Apg 24,15, Joh 5,28 f.). Theologisch, im Zuge dogmatischer Rationalisierungen der Religion, wurde die Unsterblichkeit der Seele als etwas ihr naturhaft Zukommendes behauptet.26 Sie ist Voraussetzung für die Ewigkeit der Bestrafungen und Belohnungen. Der Tod ist nicht das Ende bzw. die Vernichtung des Menschen, sondern nur die natürliche Auflösung des ,ganzen Menschen". Danach trennt sich die die ganze Persönlichkeit repräsentierende Geistseele vom Leib. Diese Vorstellung widerstreitet dem biblischen Verständnis grundlegend. Denn dieses spricht von einem von Natur aus sterblichen Menschen, dessen Tod Resultat der Erbsünde ist und dem allein
Weish 2,3: „Wenn dasselbige verlosschen ist / so ist der Leib dahin / wie ein Loderassche / Vnd der Geist zufladdert / wie eine dünne lufft.“ Vgl. auch 1 Mose 13,15, 28,13–15, Hiob 18,19. 24 Danach habe der Mensch im Jenseits all die gleichen physischen Merkmale wie im Irdischen (Lk 24,29 f., 41–43, Joh 20,20, 24–29). 25 Eine spiritualistische Auferweckungsauffassung vertrat der vormalige Pharisäer Paulus: „MOchte aber jemand sagen / Wie werden die Todten aufferstehen? vnd mit welcherley Leibe werden sie komen? Du Narr / das du seest / wird nicht lebendig / es sterbe denn. Vnd das du seest / ist ja nicht der Leib / der werden sol / Sondern ein blos Korn / nemlich / Weitzen oder der andern eines. Gott aber gibt jm einen Leib / wie er wil / vnd einem jglichen von dem Samen seinen eigen Leib. […] Also auch die aufferstehung der Todten. ES wird geseet verweslich / Vnd wird aufferstehen vnuerweslich. Es wird geseet in vnehre / Vnd wird aufferstehen in herrligkeit. Es wird geseet in schwacheit / vnd wird aufferstehen in krafft. Es wird geseet ein natürlicher Leib [s_la xuwij|m] / Vnd wird aufferstehen ein geistlicher Leib [s_la pmeulatij|m]. Hat man einen natürlichen Leib / so hat man auch einen geistlichen Leib“ (1 Kor 15,35–38, 42–44). In gewissem Sinne bibelfremd sei, so Hoheisel, der ihrer ganzheitlichen Auffassung des Menschen widerstreitende Gedanke, „daß der Tod Trennung von Leib und Seele bedeutet, die Seele allein einem Zwischenzustand an verschiedenen Orten unterworfen ist, am Ende der Tage deshalb nur der Leib auferweckt und für ein Leben in Paradies oder Hölle mit der Seele vereinigt wird“ (Karl Hoheisel, Sterben und Weiterleben aus der Sicht von Judentum und Christentum, in: Ein Leben nach dem Leben? Die Antwort der Religionen, hg. von Hans Waldenfels, Düsseldorf 1988, 82–108, hier 87). Diese Auffassung entstammt der griechischen Philosophie und wurde erst im Mittelalter an sie herangetragen. Vor allem Kabbalisten zeigten sich offen für die Vorstellung einfacher, nach dem Tode leibfrei existierender Intelligenzen. 26 Augustinus trennte noch strikt zwischen (a) unsterblichem Leben, dem gänzlichen Fehlen der ,Sterbens"-Eigenschaft ,kann nicht sterben" (non posse mori), das als ,größere bzw. positive Unsterblichkeit" (immortalitas major) die Seligen kennzeichnet, und (b) ewigem Leben, der Eigenschaft des ,Nicht-Sterbens", dem ,es kann sein, daß man nicht stirbt" (posse non mori), als ,geringere Unsterblichkeit" (immortalitas minor). Letztere, die ,Ewigkeit", hatten die Menschen vor dem Sündenfall besessen und verloren durch den freien Willen, ,Unsterblichkeit" werden sie durch Gottes Gnade empfangen (Enchiridion de fide, spe et caritate 28, 105 f., De correptione et gratia 12, 33). 23
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von Gott vermittelst des Erlösungshandelns Jesu Christi nach seiner Vernichtung eine neue Existenz geschenkt werden kann.27 Diesem Problemkomplex soll im Folgenden nachgegangen werden, und zwar u. a. durch die Sichtung der von Wieland im Jahre 1758, am Ende seiner Züricher Zeit, gehaltenen Privatvorlesung Grundlegung der Christlichen Religion, die uns als Diktat überliefert ist. Sie ist Wielands einzige systematische theologische Arbeit. In ihr dokumentiert sich eine exzellente Vertrautheit mit dogmatischen Fragestellungen.28 Bevor diese im Kommenden einlässlicher besprochen werden, sei einführend Wielands religiöse Sozialisierung skizziert. II. Wieland, 1733 als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren, verlebte seine Kindheitsjahre im oberschwäbischen Biberach, besuchte von 1739 bis 1742 die dortige Lateinschule, wurde danach privat unterrichtet und kam alsdann zur Vorbereitung einer theologischen Laufbahn an die von Johann Adam Steinmetz pietistisch geführte Schule zu Klosterbergen bei Magdeburg (1747–1749). Im Anschluss daran hielt er sich zwei Semester lang an der katholischen Universität in Erfurt auf, bevor er, über Biberach reisend, nach Tübingen ging, um ein Jurastudium aufzunehmen. Kurz darauf, im Mai 1752, lud ihn Johann Jakob Bodmer nach Zürich in sein Haus ein. Verstimmt verließ es Wieland im Sommer 1754 und verdingte sich danach in Zürich bis 1759 als Hauslehrer der Geschwister Johann Konrad und Johann Kaspar Ott sowie Hans Rudolf Grebel. Anschließend ging er für kurze Zeit nach Bern und 1760 schließlich als Kanzleischreiber nach Biberach. Aus der täglichen Fronarbeit halfen ihm gelegentliche Aufenthalte bei dem freigeistigen Heinrich Friedrich Reichsgraf von Stadion im unweit von Biberach gelegenen Warthausen.
Hoheisel, Sterben und Weiterleben (wie Anm. 25), 98–100. Später hat Wieland sich vehement gegen die Publikation seiner Vorlesungen, unter ihnen die ,Grundlegung der Christlichen Religion" (ZB Zürich. FA Ott. 16) gestemmt: „Des Queerkopfs [Johann] Konrad Ott Unternehmen, Hefte die ich in meiner Jugend meinen Schülern vor mehr als 37 Jahren dictiert (denn NB anno 1758 war ich in Bern) wider meinen Willen u mir zu Trotz drucken zu lassen ist unsinnig und noch etwas mehr. So wie er sich dessen unterfangen würde, würd! ich mich genöthigt finden, eine sehr stark motivierte Protestazion, wodurch seine Ausgabe gewiß zu Makulatur werden sollte, in allen Sprachen der Welt zu manifestieren. Ich verstehe keinen Spaß über solche Punkte“ (Christoph Martin Wieland an Heinrich Geßner, Weimar, 2. November 1795, in: Wielands Briefwechsel, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur u. a., 20 Bde., Berlin 1963–2007, Bd. 13.1, 115–118, hier 116 [künftig: WBr]). 27
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Das religiöse Curriculum wurde in den unteren Klassen der Biberacher Lateinschule von der sogenannten Kinderlehr, dem 1681 erstmals erschienenen, bis Mitte des 19. Jahrhunderts wiederholt aufgelegten Auszug der Catechetischen Unterweisung zur Seligkeit bestimmt.29 In der obersten Klasse widmete man sich den lateinischen Anfangs-Gründen der Moralischen Theologie.30 Intensive Bibellektüre, vom Vater gefordert, begleitete die Knabenjahre. Gängige Passionsliteratur wie Rambachs Betrachtungen über das Leiden Christi oder dessen Betrachtungen über das innerliche und äußerliche Leiden Christi31 indes mied Wieland: Die bluttriefenden Beschreibungen der Martern Jesu stießen ihn ab. Stattdessen begeisterte er sich für Barthold Heinrich Brockes! Dichtungen: „Brokes war mein Leibautor.“32 Bei ihm fand Wieland eine literarisch ausgestaltete, feierliche Schöpfungsgeschichte. Ausgespart blieb darin die christologische Errettungs- und Erlösungstheologie.33 In Christian Scrivers Seelen-Schatz,34 einer Sammlung überarbeiteter Wochenpredigten, lernte Wieland eine christliche Anthropologie kennen, die den Heilsweg der christlichen Seele beschreibt, dabei sehr stark auf das Sündenbewusstsein abstellend und die Bedürftigkeit an göttlichen Gnadenwirkungen betonend. In Klosterbergen lagen dem Religionsunterricht die Lehrbücher des FranckeSchülers Johann Anastasius Freylinghausen zugrunde.35 Wieland war anfangs in Klosterbergen, als „Hölle u. ewige Verdammnis“ auf ihn „noch große Wirkung thun konnte[n]“,36 „einer der erwecktesten und frömmsten Beter“, hatte […] oft heilige Zerknirschungen und Ekstasen, flehte oft kniefällig Gott um Gnade, und glaubte erst wirklich […] das jüngste Gericht und die Glorie des Weltrichters sei Johann Heinrich Schellenbauer, Auszug j Der j Catechetischen j Unterweisung j zur Seligkeit / Uber den j Brenzischen j Catechismum. j Für die j Einfältigen und Schul-Ju-jgend gestellt: j Und j Im gantzen Hertzogthumb Wür-j temberg eingeführt, Stuttgart 11681. 30 Johann Basilius Ruckdeschel, Anfangs-Gründe j der j Moralischen j Theologie j Zum Gebrauch j Der studierenden Jugend j Mit einer Vorrede j Hn. Joh. Georg Walchs, Jena 1733. 31 Johann Jacob Rambach, Betrachtungen über das Leiden Christi auf dem Berge Golgatha, nach der Harmonischen Beschreibung der vier Evangelisten, Jena 1730; ders., Betrachtungen über das innerliche und äußerliche Leiden Christi in dem Ölgarten, Jena 1722. 32 Wieland an Johann Jakob Bodmer, Tübingen, 6. März 1752, in: WBr 1 (wie Anm. 28), 45–52, hier 49, 129 f. 33 Uwe Blasig, Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, Frankfurt am Main u. a. 1990, 64. 34 Christian Scriver, Seelen-Schatz / Darinn von der menschlichen Seelen hohen Würde / tieffen und kläglichen Sündenfall / Busse und Erneuerung durch Christum / Göttlichen heiligen Leben / vielfältigen Creutz / und Trost im Creutz / seligen Abschied auß dem Leibe / Triumphirlichen und frölichen Einzug in den Himmel / und ewiger Freude und Seligkeit / erbaulich und tröstlich gehandelt wird, Leipzig 1675. 35 Blasig, Die religiöse Entwicklung (wie Anm. 33), 82 f. 36 Karl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von Klaus Gerlach und Ren1 Sternke, Berlin 2005, 161. 29
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in Anzuge. Allein diese Herrlichkeit nahm bald ein Ende. W[ieland] borgte sich […] Bayles Wörterbuch […] und gerieth bald in die sonderbarsten Labyrinthe über die Entstehung der Welt. Daß ein Gott die Welt geschaffen, wurde ihm alle Tage unglaublicher. Bald gerieth er auf den Gedanken, seine aus Anaxagorischen und Leucippischen Ideen wunderbar zusammengeschmolzene Hypothese ins französische zu übersetzen, u. bey Lüzak in Leiden drucken zu lassen, damit endlich die Binde des Irthums fiele, u. die klüger gewordenen Menschen auch in unausbleiblicher Progression besser würden.37
Wielands religiöse Grundüberzeugungen jener Zeit spiegeln drei erhalten gebliebene Schulaufsätze aus dem Jahre 1748: Darin geht es um die Ewigkeit der Höllenstrafen, die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserkenntnis aus der Natur und der Schrift sowie die Frage nach der Zulässigkeit des Atheismus hinsichtlich seiner Auswirkungen auf das Gemeinwesen. In der Frage nach der Ewigkeit der Höllenstrafen votiert er mit Mosheim und Augustinus gegen Origines und Marie Huber für ihre Ewigkeit. In der Behandlung der Frage nach der Erkennbarkeit Gottes, mit der das Verhältnis von allgemeiner und spezieller Offenbarung, also der Erkenntnis aus den Schöpfungswerken und der aus der Verkündigung und Verheißung Jesu, angesprochen ist, verficht Wieland die von der Mehrheit der Lutherisch-Orthodoxen verfochtene, Melanchthon folgende Lehre,38 die im Anschluss an stoische Vorstellungen von einem jedem Menschen eingeborenen Wissen von Gott (Röm 1,19–21) ausgeht. Über diese notitia dei innata resp. insita hinaus kann der Mensch durch Betrachtung der Schöpfung (notitia dei acquisita) zu weiterem Wissen von Gott gelangen. Beide natürliche Wissens- bzw. Erkenntnisweisen (notitia dei naturalis) sind indes nicht hinreichend. Zwar seien die Menschen prinzipiell in der Lage, so Wieland, schon im Rahmen der natürlichen Religion Gott zu erkennen (notitia dei naturalis), sei doch die ganze Welt „ein Theater der Göttlichen Vollkommenheiten“,39 tatsächlich jedoch hätten sie sich dessen als unfähig erwiesen, so dass sie einer speziellen Offenbarung teilhaftig werden mussten. Viel mehr als ein Wissen davon, dass Gott existiert, dass er diese und jene Eigenschaften hat, dass man ihm Demut und Verehrung schuldig ist, kann die zumal durch den Sündenfall geschwächte und eingeschränkte natürliche Erkenntnis Gottes nicht gewähren. Der Mensch bedarf darüber hinaus zwingend der allein heilsversichernden übernatürlichen Gotteserkenntnis (cognitio dei revelata). Ebd., 224 f. Die angesprochene, aber wohl aus Demokrit und Leibniz schöpfende kosmologische Studie hatte Wieland im Spätherbst 1748 konzipiert (vgl. Wieland an Johann Jakob Bodmer, Tübingen, 6. März 1752, in: WBr 1 [wie Anm. 28], 45–52, hier 50, sowie Blasig, Die religiöse Entwicklung [wie Anm. 33], 105 f.). 38 In Abgrenzung von der augustinischen ,liber naturae"-Unterscheidung mit ihrer Differenzierung von notitia dei ex libro naturae und notitia dei ex libro scripturae. 39 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion. Von Herrn Wieland seinen Schülern diktiert (1758), in: Wielands Gesammelte Schriften, 1. Abteilung: Werke, Bd. 4, hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1916, 474–629, hier 581. 37
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In einem dritten, dem Atheismus gewidmeten Aufsatz stellt Wieland vor allem die gesellschaftspolitische Relevanz der Religion sowie des mit ihr verbundenen Gottes- und Unsterblichkeitsglaubens heraus. Dieser sei nicht auf die Privatsphäre beschränkt, sondern greife auf das Gemeinwesen aus, und zwar in ganz fundamentaler Weise, sei er doch Stütze und Garant eines funktionierenden Gemeinwesens; sein Fehlen bringe die Grundfesten ins Wanken. Mit der Leugnung der Auferstehung Christi würden das moralische Fundament der Gesellschaft untergraben und die „Sæulen der Tugend“ zum Einsturz gebracht, wie er es später in einer Ode unterstreicht.40 1750 kehrt Wieland aus Erfurt nach Biberach zurück. Es lässt sich beobachten, dass in dieser Zeit das Verhältnis der Eigenschaften Gottes von ihm neu gefasst wird: Das vormalige, eher lutherisch-orthodox zu charakterisierende Verhältnis von göttlicher Liebe und strafender Gerechtigkeit verändert sich nun in empfindsamer Weise zugunsten der göttlichen Liebe.41 Der strafende macht nun dem bessernden Gott Platz.42 Das dokumentiert nicht zuletzt seine von Georg Friedrich Meier in Halle zum Druck beförderte Lehrdichtung, Die Natur der Dinge (1752), eindrücklich. Er scheut nun auch nicht mehr, sich der empfindsam gebrochenen Todessehnsucht ) la Edward Young hinzugeben: „O Tod! du süßer Tod! dich scheuet nur ein Thor! j Du hebest das Geschöpf zu seinem Ziel empor, j Du trägst der Gottheit uns und unserm Glück entgegen; j Wie froh will ich mich einst in deine Arme legen!“43 Analogem begegnet man in dem Hermann-Fragment (1751), wo es heißt: „Laß uns sterben, mein Vater; komm laß uns dem Tode zu eilen, Wenn uns so himlische Hoffnungen lachen! Wie ist mir die Erde eckelhaft! Meiner Begierden unwerth. Laß uns sterben zu leben.“44 In der Natur der Dinge kommt es zu einer Neuakzentuierung auch dahingehend, dass nun das Lehrgedicht vor allem auf den alttestamentlichen Schöpfungsund den neutestamentlichen Liebesgedanken abhebt und dabei die Verkündigungen sowie die Versöhnungs- und Erlösungstat Christi in den Hintergrund drängt. Damit steht der naturalistische Schöpfungsbegriff im Zentrum, dem mit der graduellen Vervollkommnung der Seele ein aufklärerischer und christlich-pietistischer Entwicklungsgedanke zugleich eingeschrieben ist.
Wieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229, hier 227, 177. Vgl. 1 Kor 15, 12–21. 41 Blasig, Die religiöse Entwicklung (wie Anm. 33), 124. 42 Wieland, Die Natur der Dinge in sechs Büchern, in: Wielands Gesammelte Schriften, 1. Abteilung: Werke, Bd. 1, hg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1909, 5–128, hier 115, 706 f., 125, 323. 43 Ebd., 111, 551–554. 44 Wieland, Hermann (verf. 1751), in: AA I/1 (wie Anm. 42), 137–217, hier 141, 173–142, 175. 40
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Der Lehrdichtung Die Natur der Dinge folgen noch im gleichen Jahr die Moralischen Briefe (1752), gedacht als „Sittenlehren“ für den irdischen Aufenthalt.45 ,Religion" wird hier als ,Aufklärung", Jesus als ,Tugendlehrer" begriffen. „[A]ufgeklärten Seelen“ könne der Tod kein Schrecken sein: „O selig […], wer […] mitten in der Zeit der Ewigkeit gelebt. j Mit Freuden wird er sich von dieser Erde schwingen, j Und zum beglückten Chor bewohnter Weisen dringen.“46 Allein den „Gottesläugner […], j Der nicht den schwächsten Rest der Menschlichkeit gezeigt“, schaudere vor dem herannahenden Tod.47 Wieland wird nicht müde, die transzendente Glückseligkeit zu preisen („O Tod! wenn führst du uns zu diesem Leben ein?“48), in der Natur der Dinge, in den Moralischen Briefen und in den an Elizabeth Singer Rowes Friendship in Death, in Twenty Letters From the Dead to the Living (11728)49 angelehnten Briefen von Verstorbenen an hinterlassene Freunde (1753). Eine Welle der Begeisterung schlägt Wieland dafür entgegen, aber auch verhaltene Bedenken, so die seines Freundes Johann Heinrich Waser, der ihm Lk 16, 31 in Erinnerung ruft: „Wenn sie Moses und die Propheten nicht hören [d. h. die Bibel als Offenbarung nicht ernstnehmen], so werden sie auch nicht überzeugt werden, wenn jemand aus den Toten aufersteht.“50 Der neutestamentliche Erlösungsgedanke mit Christi Versöhnungstat kommt in der Dichtung erstmals 1753 im Gepryften Abraham zur Sprache.51 Damit verschiebt sich in der frühen Züricher Zeit die Perspektive weg vom Kosmologisch-Prälapsarisch-Schöpfungstheologischen hin zum Anthropologisch-Postlapsarisch-Soteriologischen, wodurch die Christologie an Bedeutung gewinnt. In der Hymne auf Gott heißt es: „Ihr Himmel j Hœrt und erstaunt! Du Ewigkeit hœre! Die Schœpfung ist kynftig j Nicht mehr das grœste
Wieland, Zwölf moralische Briefe in Versen (1752), in AA I/1 (wie Anm. 42), 223–307, hier 223, 32. 46 Ebd., 300, 129, 132–134. Vgl. auch ebd., 301, 167–172, 185. 47 Ebd., 298, 87 f. 48 Ebd., 301, 168. 49 Wieland las die Rowe in Jean Bertrands französischer Übersetzung L!Amiti1 apr-s la Mort, contenant Les Lettres des Morts aux Vivans. Et les Lettres Morales et Amusantes, Par Madame Rowe. Traduites de l!Anglois Sur la cinqui-me Edition, Tome Premier / Tome Second, A Amsterdam, Aux Depens de la Compagnie, M DCC XL. 50 Johann Heinrich Waser, Briefwechsel zweyer Landpfarrer über Wielands Briefe der Verstorbenen. 1753, in: Neues Schweitzerisches Museum 1 (1793/4), 9, 689–709, 10, 721–736, hier 693. Vgl. Luthers Anmerkung zur Lukasstelle: „Hie ist verboten den Poltergeistern vnd erscheinenden Todten zu gleuben.“ Vgl. Friedrich Sengle, Wieland, Stuttgart 1949, 59, sowie Kurth-Voigt, Existence after Death (wie Anm. 5), 153–176, hier 161 f. 51 Blasig, Die religiöse Entwicklung (wie Anm. 33), 183 und 187. 45
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der Wunder. Ganz neue reihen der dinge j Heben sich an. Der heilige hat den syndern vergeben.“52 Hinzu kommt nun, in den beiden Weihnachts- und Ostergedichten, in der Ode auf die Geburt des Erlösers und die Ode auf die Auferstehung Jesu,53 eine Aufwertung der Empfindung als religiöse Gefühlsgewissheit. Auf die frühe Phase eines enthusiastischen, mit esoterischen Elementen verwobenen schwärmerischen Pietismus folgt eine ,mystisch-asketische" Phase mit einer ungebremst schwärmerischen christlich-platonischen Tendenz, die sich nicht so sehr dem calvinistischen Einfluss Bodmers verdankt, in dessen Haus er von Oktober 1752 bis Juni 1754 lebte, als vielmehr dem Kreis ,frommer" Züricher Damen, in dem er nach seinem Auszug aus Bodmers Haus verkehrte.54 Möglicherweise war die von seiner ersten Verlobten Sophie Gutermann mit Frank La Roche im Dezember 1753 eingegangene Ehe Auslöser einer existentiellen Krise, die „Wielanden wieder eine Zeit lang dem Pietismus in die Arme geworfen zu haben [scheint], von dem er aber zeitig wieder einlenkte.“55 Auf der Suche nach weltanschaulich-religiöser Orientierung, die ihn in der Vergangenheit schon verschiedene Welt- und Menschenerklärungsmodelle literarisch hat durchspielen lassen, ist er nun, Mitte der 1750er Jahre, bei einem zum Teil überaus fanatisch vorgetragenen, radikalpietistisch gefärbten Gefühlschristentum56 angelangt, das, so glaubt er, selbst vor öffentlichen Denunziationen nicht Halt zu machen braucht.57 Wielands pädagogische Ambitionen in seiner Schweizer Zeit, sein Plan von einer neuen Art von Privat-Unterweisung und die damit verbundene Absicht, eine Privatschule ins Leben zu rufen, um sich nach der Trennung von Bodmer eiWieland, Zweite Hymne auf Gott (1754), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 183–188, hier 186, 124–127. Vgl. auch ebd., 219, 117 f. 53 Wieland, Ode auf die Geburt des Erlösers (1754), in: ebd., 215–222 sowie ders., Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229. 54 Sven-Aage Jørgensen, Der fromme Wieland, in: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Festschrift für Bernhard Gajek, hg. von Gerhard Hahn und Ernst Weber, Regensburg 1994, 265–272, hier 266. Vgl. Wieland an Zimmermann, Zürich, 6. Oktober 1758, in: WBr 1 (wie Anm. 28), 362–367, hier 366: „Ohne gewiße drey Damen würden die Nat.[ur] d.[er] Dinge, die Moral.[ischen] Briefe, die Erzählungen, die Sympathien, der Theages und selbst die Christl.[ichen] Empfind.[ungen] nie von mir geschrieben worden seyn.“ Die Natur der Dinge verdankt sich dem Umgang mit Sophie Gutermann, die übrigen Dichtungen dem mit Elisabeth und Verena Grebel (vgl. ebd., 365 f.). Wieland an Sophie von La Roche, Weimar, 20. Dezember 1805, in: WBr 16.1 (wie Anm. 28), 514–516, hier 515. 55 Carl Wilhelm Böttiger, Christoph Martin Wieland nach seiner Freunde und seinen eigenen Äußerungen, in: Historisches Taschenbuch 10 (1839), 359–464, hier 414. 56 Vgl. Wieland, Gebet eines Deisten (1753), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 188–191, hier 189, 9 f., 21 f., 34–37. 57 Wieland, An den Hochwürdigen Herrn, Herrn A. F. W. Sack, Sr. Majestät, des Königs von Preussen, Ober-Consistorial-Rath, und Hofprediger, etc, in: Empfindungen eines Christen[.] Lobe den Herrn du meine Seele [Ps 103,1], Zürich 1757, in: ebd., 336–345. 52
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nen Lebensunterhalt zu verschaffen, verraten ebenfalls ihre religiöse Grundierung.58 Das spiegelt Wielands erster Lektürekurs mit seinen Zöglingen wider: Spaldings Bestimmung des Menschen.59 Zudem aber auch die beiden, flankierend verfassten Hymnen auf die Allgegenwart und Gerechtigkeit Gottes,60 in denen der trinitarische Gott gepriesen wird, der Schöpfer, Erlöser und Wohltäter. Wielands Selbstverständnis als Dichter war das eines erbaulichen, missionarisch eifernden Dichters, der alles, auch die Poesie, in den Dienst der Religion stellte. Das dokumentieren nicht zuletzt die christologisch perspektivierten Empfindungen eines Christen mit ihren „Betrachtungen und Empfindungen über die wichtigsten Verhältnisse Gottes gegen uns“.61 Nichts hat einen Eigenwert, selbst der Mensch nicht. Alles hat einen Wert erst in Bezug auf Gott.62 Aufs Neue feiert er seinen Gott als den ,Gott der Liebe", dem er den letzten der Psalmen in den Empfindungen eines Christen widmet. Die heilsgewisse Unsterblichkeit lässt das eigentliche Leben erst post mortem beginnen, wenn die Seele von ihrem Körper entleibt und in der Schau der göttlichen Glorie (visio dei) selig ist. Christi Versöhnungs- und Erlösungstat öffnet dem Gläubigen die Perspektive auf eine Unsterblichkeit, auf eine ewige Fortdauer des Lebens im Jenseits voller Glückseligkeit: „Daß mich der Tod nicht schreken müßte, starbest du! daß meine Seele, die nach Unsterblichkeit athmet, nicht vor diesem nächtlichen Grabe bebte, ruhtest du im Schoos der mütterlichen Erde, und standst wieder auf, mich meiner Auferstehung zu versichern.“63
Wieland, Plan von einer neuen Art, von Privat-Unterweisung (1753), in: AA I/4 (wie Anm. 39), 176–182. Der Offenbarungsreligion, einem „unentbehrlichen Supplement zur Philosophie“, war im Curriculum ein bedeutender Platz zugewiesen, denn: „Ohne die geoffenbahrte Religion wandelt ein Philosoph im Dunkeln und stoßt sich alle Augenblike. Auch dieses will ich meinen Untergebenen beweisen und ihnen zeigen, wie nichtig die Einwendungen sind, welche die Ungläubigen, Deisten und Naturalisten, gegen die Christliche Religion, ihre Nothwendigkeit, die Weissagungen, Wunderwerke, Geheimnisse und gewisse Moralische Sätze machen“ (ebd., 179, 15 f., und 178, 37–179, 2; vgl. auch 179, 14–19, sowie die Skizze des Religionsunterrichtes in Wielands Plan einer Academie zu Bildung des Verstandes und des Herzens junger Leute [1758], vgl. ebd., 183–206, hier 195, 23–196, 2). 59 Laut Tagebucheintragung Friedrich Dominikus Rings. Vgl. Thomas C. Starnes, Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, Bd. 1: „Vom Seraph zum Sittenverderber“ 1733–1783, Sigmaringen 1987, 75. 60 Wieland, Hymnen auf die Allgegenwärtigkeit und Gerechtigkeit Gottes (1756), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 304–336. 61 Wieland, Empfindungen eines Christen (1757), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 336–404, hier 344, 5–11. 62 Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (1756), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 309–336, hier 309, 31–310, 37. 63 Wieland, Empfindungen eines Christen (wie Anm. 61), 370, 35–38. 58
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Auch in der im Jahr darauf für den Unterricht verfaßten Grundlegung der Christlichen Religion64 bildet die Versöhnungslehre Christi das Kernstück.65 In ihr, Lehrstück und Bekenntnisschrift zugleich, spiegelt sich all das, was er in den vorangegangenen Dichtungen zum Ausdruck gebracht hat.66 In einer Einleitung und 14 Kapiteln unterrichtet er über das Verhältnis der natürlichen und der geoffenbarten Religion, über den Verlauf der christlichen Heilsgeschichte (oeconomia divina), über Gott und das Verhältnis der Menschen zu ihm, über die Trinität und über die anthropologischen Grundlagen dieser Lehren.
III. ,Religion" wird von Wieland in diesem Diktat bestimmt als „die Erkenntniß und Liebe Gottes“ und damit als „Quelle der Glückseligkeit“. Dieser teilhaftig zu werden, haben „[a]lle mit Empfindung begabte Geschöpfe […] ein Vermögen und ein angebornes Recht, glücklich zu seyn“, der kleinste Wurm ebenso wie der vollkommenste Erzengel.67 Gleichwohl sind die menschlichen Seelen sowie die Engel und vollkommensten Geister gegenüber „allen geringeren Geschöpfen“ darin bevorzugt, und zwar „unendlich“, dass sie über Verstand und Freiheit verfügen. Ihnen, insbesondere den Menschen, erwächst daraus andererseits die größte Gefährdung ihrer Glückseligkeit, was die Geschichte der Menschheit, die sich als eine Geschichte des Abfalls und der fortgesetzten Entfernung von Gott darstellt, belege. Die Ursache, „warum die meisten Menschen schlimm“ seien und ihren „anerschaffenen Stand der Unschuld und Glückseligkeit“ (S. 490) verlassen haben, sieht Wieland nicht in der Verkennung ihrer Pflichten, sondern darin, „daß sie dieselben nicht beobachten wollen“ (S. 487). Dieser Vorsätzlichkeit wegen sei die besondere göttliche Offenbarung, die Heilige Schrift, vonnöten gewesen. Um den vom Schöpfer zur Unschuld, Rechtschaffenheit und Glückseligkeit bestimmten, durch ihr eigenes Verschulden verderbten, lasterhaften Menschen Aufschluss hinsichtlich Gottes Gerechtigkeit und der eigenen Zukunft nach dem Tode zu geben, wurde ihnen diese Offenbarung als göttlicher Ratschluss gegeben. Denn die beiden Fragen – die nach der Absicht Gottes hinsichtlich der verderbten sündigen Menschen (ob sie die strengste Strafe oder die liebende Begnadigung zu gewärtigen haben) und die nach dem Schicksal der menschlichen Seele nach ihrer Trennung vom Leib (ob sie aufhöre oder fortfahre zu existieren und, wenn letzteres, ob Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629. Blasig, Die religiöse Entwicklung (wie Anm. 33), 281. 66 Ebd., 274–300. Berhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe, 2 Bde., Berlin 1908/09 [ND Hildesheim 1989], Bd. 2, Nr. 114, S. 54 f. 67 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 482. 64 65
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in Glückseligkeit oder Verdammung) – diese beiden Fragen ließen sich durch bloßen Vernunftgebrauch nicht „mit völliger Gewißheit“ beantworten, weil „sie schlechterdings von dem Willen Gottes abhangen“, der allein aus seinen Offenbarungen erschlossen werden könne (S. 489). Gott sei der einzige, „der die Menschen glücklich machen will und kann“ (S. 516). Ziel des Menschen müsse es daher sein, sich der Gnadengewissheit und der Unsterblichkeit der Seele und damit der „frohe[n] Aussicht in das Zukünftige“ (S. 493) zu versichern. Hierfür ist er gehalten, sich vollkommen dem Willen Gottes zu unterwerfen. Dies sei die „vornehmste Eigenschaft und die nöthigste Tugend eines Menschen“ (S. 499). Dazu rufe Christus auf, halte er die Menschen zur Buße (metanoia), zur Umkehr (conversio) an. „Alle Predigten Christi“, heißt es, „haben keinen anderen Inhalt, als daß er diese Buße lehret und die seeligen Folgen derselben anpreiset.“ Richtschnur des Handelns sollten die Grundsätze und Vorschriften der geoffenbarten „erhöheten Vernunft“ sein (S. 511). Diese seien Ausdruck der „Öconomie der Göttlichen Vorsehung“ und Garant der „wahre[n] und unsterbliche[n] Glückseligkeit“ (S. 515). Christus habe solche Wahrheiten gelehrt, die vor ihm zwar auch die „besten unter den heydnischen Weisen (als Pythagoras, Socrates, Confucius, Plato)“ propagiert haben, zum Beispiel, dass Gott über alles geliebt werden soll, dass man gehalten ist, ihn nachzuahmen. Darüber hinaus habe Christus aber auch neue, bislang unbekannte Lehren und neue, nicht bekannte oder nicht gebrauchte Motive für ein tugendhaftes Leben verkündet. „Unter die neuen Lehren gehören hauptsächlich die Demuth und die Unsterblichkeit der Seelen“. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sei Pythagoras, Platon und ihren Schülern zwar „nicht ganz unbekannt“ gewesen, aber entweder nur „sehr verworren“ oder „ungewiß“. Es war ihnen nämlich nicht anders möglich, „indem der Zustand der Seele nach dem Tod eine Sache ist, die nur durch eine Göttliche Offenbarung uns bekannt gemacht werden kann“. Es sei daher erst Jesus Christus vorbehalten gewesen, Gottes Ratschluss bekannt zu machen und den Menschen zu verkünden, wie es denen vom Leibe geschiedenen Seelen ergehen werde: Nämlich daß ihr Zustand der moralischen Beschaffenheit ihres vorigen Lebens proportioniert seyn werde, daß sie an einem feyerlichen Tag, bey einer zweyten und glorreichen Zurückkunft des Messias nach dem Göttlichen Gesetz sollen gerichtet und darauf, je nachdem sie Gutes oder Böses in ihrem Leben gethan haben, in einen glückseligen oder elenden Zustand eingeführt werden sollen. (S. 517)68
Aus der Notwendigkeit einer verhältnismäßigen Belohnung und Bestrafung führt auch Crusius den Beweis der Fortexistenz resp. Unsterblichkeit der Seele (vgl. Christian August Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, Leipzig 1744, 266, § 220). 68
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Die „Offenbarung durch den Gott-Menschen“ (theanthropos) ist daher das „Centrum“ aller Offenbarungen schlechthin.69 Das Christentum könne vor der heidnischen Philosophie, aber auch vor allen anderen Religionen eine Vorrangstellung behaupten, da sie nicht durch abstrakte Lehren, sondern direkt auf die Herzen der Menschen wirke. Christus zeigt und lehrt, dass die sinnlichen und irdischen Dinge dem Endzweck des Menschen zuwiderlaufen und eben darum, „weil sie irdisch, vergänglich und nicht in unsrer Gewalt sind, der Liebe unsterblicher Seelen“ unwürdig sind.70 Aus ihnen erwachse kein dauerhaftes Vergnügen, das frei ist von verbitternder Nachreue. Die Frommen erwarte dereinst „gewisse und unaussprechliche Glückseligkeit“, die Lasterhaften, die sog. „freyen Geister[]“ unausbleiblich „ihrer verkehrten Gemüths-Art und schändlichen Thaten proportionierte[] Strafen“ (S. 518). Da die Bibel einzigartig ist, von unzweifelhafter göttlicher Autorität und „Quelle der wahren Religion“ (S. 525) – die deshalb auch keiner irgendwie gearteten Beweisführungen philosophischer oder anderer Art bedarf –, ist das Bekenntnis dazu wahrhafte Aufklärung: Vor Christi Verkündigung herrschte „dicke[] Finsterniß eines Aberglaubens“. Denn [o]hne eine richtige und lebendige Erkenntniß Gottes ist die menschliche Seele ganz blind, unfähig, sich selbst zu kennen, unvernünftig in der Einrichtung und Führung ihres ganzen Lebens. Ohne Erkenntniß Gottes ist der Mensch nur das listigste und boßhafteste unter den Thieren und zur Vernunft eben so untüchtig, als zur Tugend. (S. 542)
Das ist der Kern der „Göttlichen Anthropologie“ (S. 561). In der Wichtigkeit und Bedeutsamkeit folgt sie als Bestandteil der Philosophie unmittelbar der Theologie, der „nothwendigste[n], nützlichste[n] und angenehmste[n] Wissenschaft“ (S. 556, 559 f.) Ihr zufolge durchmisst der Mensch in seinem ,Leben" vier heilsgeschichtliche Stadien: den status creationis (bzw. integritatis), den Stand der Unschuld, den status corruptionis, den Zustand des Abfalls von Gott, den status correctionis (bzw. gratiae) als desjenigen Zustands, in dem der Mensch, unterstützt von der Gnade Gottes, im praktischen Glauben Gott verherrlicht, und den status restitutionis als denjenigen Zustand, der den Menschen „nach der zweiten herrlichen Zurückkunft des Heilands“ verheißen ist, den Gläubigen als status gloriae, den Ungläubigen als status damnationis (S. 561–607). Der status damnationis fehlt in Wielands Aufzählung, was auf seine Hoffnung hindeutet, dass Gott als Erzieher die Sünder nicht ewig büßen lässt und sie stattWieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 581. Vgl. auch Wieland, Gebet eines Christen (1753), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 192–196, hier 194, 4. 70 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 517. 69
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dessen nach einer Zeit reuiger Besserung auch in den status restitutionis überführen wird. Gott ist Schöpfer, Erhalter, Aufseher, Erbarmer, gütiger Vater, Christus Erlöser, Mittler, Lehrer, Anführer,71 gesandt zur Versöhnung und Unterweisung, damit der Mensch „das Unsichtbare dem Sichtbaren, das Himmelische dem Irdischen und das Zukünftige dem Gegenwärtigen vorzieh[t]“, „der Herrschaft der Sinnlichkeit“ entsagt und sich durch die wiederhergestellte Unschuld auf den künftigen Zustand vorbereitet.72 Überzeugt, dass die christliche Religion der einzige Weg ist, den Menschen glückselig zu machen, entwickelt Wieland von hier aus missionarischen Eifer. Seine ,heilige Poesie" verdankt sich der Überzeugung, dass die Religion nicht nur „das höchste Gut und der größte Schatz des menschlichen Geschlechts, die erhabenste, schönste und angenehmste aller Wissenschaften“ ist, sondern auch „die heilsamste und lieblichste Unterhaltung und Speise unsrer Seelen“ (S. 589). Da die Bibel die „einzige Quelle [ist], aus der die Religion geschöpft werden kann“ (S. 625) – geschöpft, nicht demonstriert oder deduziert –, kann über die Unsterblichkeit der Seele nur Folgendes herausgebracht werden: Erstlich, daß die Seelen nach ihrer Trennung vom Leib noch leben73 und sich ihrer selbst und ihres vorhergehenden Zustands bewußt seyn werden, damit sie einer Belohnung oder Bestrafung fähig werden. Zweytens, daß der Zustand, worin sie sich sogleich nach dem Tod befinden werden, demjenigen proportioniert seyn werde, worin sie in ihrem irdischen Leben gestanden, nämlich dem Grad ihrer Gottseligkeit und Tugend, oder dem Mangel dieser Gemüthsbeschaffenheit. Drittens, daß also für diejenigen, welche an Jesum Christum geglaubet und seine wahre Jünger gewesen, der Tod nichts anders, als ein höchst erfreulicher und erwünschter Übergang in ihr wahres Vaterland und in die seligen Gegenden sey, wo sie sich schon im irdischen Leben mit ihren liebsten Wünschen und Hoffnungen aufgehalten.74
Wielands biblizistische Beschränkung des dogmatischen Aufrisses beschnitt konsequenterweise weiterführende Argumentationen und Beweisführungen. Der biblizistische Standpunkt bedingte zudem eine kritische Haltung gegenüber herkömmlichen Glaubensbekenntnissen und bewog ihn, ein neues, eigenes ,Glaubensformular" aufzusetzen (S. 625–629),75 das er in Titus 2,11–1476 münden ließ. Wieland, Empfindungen eines Christen (wie Anm. 61), 336–404, hier 344, 8 f. Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 588. 73 Deshalb seien die Menschen auch gehalten, die „unsterbliche Seele höher [zu] schäzen und fleissiger zu besorgen als den vergänglichen Leib, der nur ihr Werkzeug ist“ (Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes [wie Anm. 62], 309–336, hier 315, 33–35). 74 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 605. 75 Zum Biblizismus vgl. auch Wieland, Gebet eines Christen (wie Anm. 69), 192–196, hier 193, 15 f. 76 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 597, 14–21 (dt.). 71 72
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Mit den Deisten teilt Wieland in jener Zeit die hohe Wertschätzung des Schöpfungsgedankens, nicht aber den der Vernunft. Er unterscheidet sich von ihnen zudem grundlegend in der Annahme fortgesetzten Schöpfungswirkens Gottes (creatio continua) und der biblischen Offenbarung. In zwei Gebeten, dem Gebet eines Deisten und dem Gebet eines Christen (beide 1753), führt Wieland einen „tugendhaften Heiden“ im Selbstgespräch vor,77 im ersten als einen sich nach Hoffnung Verzehrenden, immer wieder von Glaubensanfechtungen Niedergeschlagenen, dessen Zweifel sich durch die natürliche Religion (revelatio naturalis) nicht zerstreuen lassen, im zweiten als einen dank der ihm inzwischen zuteil geworden revelatio supranaturalis Heilsgewissen: „So gewiß Gott ist, so gewiß als Gott die Sünder erlöset hat; so gewiß wird der Sünder, der Gott die Ehre gegeben hat und mit Thränen gekommen ist, von ihm Gnade zu flehen, ein unvergängliches Leben empfangen.“78 All denen, so Wieland, die im Leben ihre Seele hauptsächlich Gott geheiligt haben, ist die Erlösung gewiss:79 „Ich fühl, ich fühl es, dass ich unsterblich bin.“80 Diese Art Glaubens- und Erlösungsgewissheit ist für den Wieland der 1750er Jahre charakteristisch. Darin zeigt er lutherisch-orthodoxe Prägung.81 Das Festhalten an der Offenbarung als Notwendiges und neben der Vernunft für die christliche Religion nicht zu Erübrigendes eint Wieland mit Männern wie August Friedrich Wilhelm Sack (Vertheidigter Glaube der Christen, 1748–1751) und Johann Joachim Spalding (Bestimmung des Menschen, 11748–111794). Sie kommt in der Christuszentrierung zum Ausdruck. Christus ist der „Erlœser der Menschen“, indem er sie wieder ,vergœttert"82 und ihnen, den „Erben der Ewigkeit“, einen „Himmel voll Seligkeit“ eröffnet habe, auf „[d]aß die Seele des Menschen j Im Flug zu ihrem Erschaffer auf j Nicht mehr verirre.“83 Wiederholt gestaltet Wieland, anthropologisch perspektiviert und in parainetischer Absicht, das Weltgericht, die „zweite Schœpfung“, poetisch, besonders anschaulich in dem Gesicht von dem Weltgerichte.84 Der Jüngste Tag ist der In: Wieland, Sammlung einiger Prosaischen Schriften, Bd. 3, Zürich 1758, 71–93, hier 71. Wieland, Gebet eines Christen (wie Anm. 69), 194, 12–15. 79 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 605, 20–26. 80 Wieland, Odenfragment (1754), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 230 f., hier 231, 6. 81 Vgl. Wieland, Gebet eines Christen (wie Anm. 69), 192–196, hier 192, 5 f., und 194, 12–16. Im Unterschied zur lutherischen Orthodoxie ist dem Pietismus die Heils- und Gnadengewissheit stets fraglich. 82 Wieland, Ode auf die Geburt des Erlœsers (1754), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 215–222, hier 217, 28, 33, 55. 83 Ebd., 218, 73, 77, und 219, 97–99. 84 Wieland, Gesicht von dem Weltgerichte (1755), in AA I/2 (wie Anm. 1), 238–254, hier z. B. 242, 161–164: „Tausend bei tausend, ætherisch bekleidete kinder der Erde, j Wimmelten aus der Erd und schwungen sich yber die flammen. j Bebend sahen sie auf. Die wiederbekleidete Seele j Fyhlt! aufs neu und erstaunt!.“ 77
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Tag des Gerichtes, des Sieges und Triumphes Christi sowie der Tag der Erlösung und Errettung der Gläubigen, der Höhepunkt und die Erfüllung der Heilsgeschichte sowie kosmischer Neubeginn. Er ist zugleich aber auch das „ernste Gericht“, das „die Welt von den Elenden reinige, welche zu verhärtet sind, durch Güte erweicht oder durch Drohungen erschrekt zu werden“.85 Mit ihm verknüpft sind zugleich der Untergang und die Wiederherstellung der Körper- und Geisterwelt (dies restitutionis omnium).86 Gleichwohl lässt sich auch bei Wieland eine spiritualisierende Tendenz beobachten, indem der Leiblichkeit nur sekundärer Stellenwert zugemessen wird, wodurch die Auferstehung (Hes 37, Hiob 19,25–27) eigentlich hinfällig wird. Damit einher geht die Entwertung des Irdisch-Materiellen – Widerschein des gängigen Substanzendualismus. Am Tag der Tage bekommen die Menschen die „Ewigkeit aus [s]einen [i. e. Christi] Hænden“.87 Er ist der Bürge des Lebens nach dem Tode: „Und lebt! er nicht […] j Dann flucht nur dem Seyn, j Ihr Seelen! Welch ein Scheusal ist j Der Tod alsdann! Dann schwinden auf ewig j Die goldnen Træume unsterblicher Scenen!“88 Gottes Gerechtigkeit und Güte verbieten es, von einer „Endlichkeit der Höllenstrafe und der allgemeinen Wiederherstellung der Geschöpfe, die aus ihrem ursprünglichen Zustand gefallen“89 sind, auszugehen.90 Die Hölle ist der Ort der Verdammung, worin „die unheilbar verderbten Geister […] durch sinnliche Schmerzen, oder physicalische Übel, gezüchtiget oder eingeschränkt werden“.91 Zuweilen ist Wieland besorgt, ob „die Hœlle j Fyr den, der izt noch syndigt, genug“ sei.92 Nicht nur die Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 318, 14–17. Wieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229, hier 229, 237–252, und 229, 227–236; Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 326, 23–25 (Offb 21,1); Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 605, 29; Wieland, Empfindungen eines Christen (wie Anm. 61), 336–404 (391–393: „Aussichten in die zukünftige Erneuerung oder zweyte Schöpfung der Erde“), hier 392, 23–25: „O! selige Verwandlung! Siehe, alles ist neu worden! was finster war, ist Licht; was todt war, lebet; was sterblich war, hat Unsterblichkeit angezogen!“; Wieland, Gesicht von dem Weltgerichte (wie Anm. 84), 238–254, hier 251, 527. 87 Wieland, Ode auf die Geburt des Erlœsers (wie Anm. 82), 215–222, hier 221, 194. 88 Wieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229, hier 227, 168–172. 89 Wieland, Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde (1753), in AA I/2 (wie Anm. 1), 1–101, hier 63, 379–385, sowie ders., Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 603, 34–604, 23. 90 Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 324, 10–39. 91 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 605, 36–40, 606, 16 f., 30–38, Zitat 606, 33–35 (hier mit Verweis auf Johann Friedrich Jacobi, Betrachtungen über die Weisen Absichten GOttes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen, Zweytes und Drittes Stück, Göttingen 1738, 99–211: V. Betrachtung: „Von der weisen und gütigen Absicht GOttes bey dem Himmel und der Hölle“). Vgl. auch Wieland, Hymne auf die Allgegenwart Gottes (1756), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 304–309, hier 307, 12. 92 Wieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229, hier 223, 45 f. 85 86
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Hölle, sondern das ganze Jenseits, wo man die irdischen Freunde wiedertreffe, wird sinnlich-materialistisch aufgefasst.93 Das überkommene lutherische, statisch verstandene Schema der Heilsordnung (ordo salutis), gegen Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend dynamisch aufgefasst, mündete, unter dem Einfluss der reformierten Föderaltheologie, in eine anthropologische Perfektibilitätskonzeption, die eine unbegrenzte moralische und intellektuelle Vervollkommnung des Menschen annahm. Durch schrittweise Übung der Gottseligkeit (praxis pietatis), worin die christliche Vervollkommnung (renovatio) im Kern besteht, nähert sich der Mensch schließlich der Gottebenbildlichkeit an.94 In der reformatorischen Urstandslehre werden die anerschaffenen habituellen Vollkommenheiten zu nur noch anerschaffenen potentiellen Fähigkeiten, die es nun aktualisierend zu habitualisieren, also zu vervollkommnen gilt.95 Gott, so Wieland, habe den Menschen mit Kräften und Trieben ausgestattet, die ihn in die Lage versetzen, „sich immer vollkommner zu machen“.96 Diese Vervollkommnung bleibt nicht auf das irdische Dasein beschränkt; die stufenweise Vervollkommnung der „Geschöpfe“ setzt sich nach dem Jüngsten Gericht fort:97 „Dort wird diss Leben sich entwickeln“.98 Auch klingt bei Wieland die pietistische Unterscheidung von ,wahren Christen" und ,Weltkindern" an, wenn Wieland von der unsichtbaren bzw. wahren Kirche im Gegensatz zu der sichtbaren Kirche spricht. ,Unsichtbar" ist die wahre Gemeinde Christi, weil ihre Mitglieder in Raum und Zeit zerstreut sind.99 Wielands Zeitdiagnose in den 1750er Jahren fällt eher pessimistisch aus. Sein pietistisch tingiertes Endzeitbewusstsein lässt ihn über grassierenden Unglauben klagen („Der Unglaub! ist izt j Die grœßte Schuld“). Überall wähnt er „Feinde unsers allmæchtigen Glaubens“, die „Feinde der Menschheit“, die die „Sæulen der Tugend“, „des Lebens einzigen Werth“, untergraben.100 Dies und Zeichen, die das Weltende ankündigen, wie das Lissabonner Erdbeben vom 1. November 1755 (Lk 21,11), lassen Wieland frohlocken: „Ja, ja, die Zeit ist bald zu der grosWieland, Ode (1754), in: AA I/2, 231–235, hier 233–235, 44 ff., sowie 235, 107–112 („amaranthne Lauben“), sowie ders., Hymne auf die Allgegenwart Gottes (wie Anm. 91), 304–309, hier 307, 36 („ambrosische Lauben“). Vgl. Kurth-Voigt, Existence after Death (wie Anm. 5), 156 f. 94 Anselm Schubert, Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen 2002, 124–137. 95 Ebd., 138 f. 96 Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 312, 34 f. 97 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 606, 7–12. 98 Wieland, Ode (1754), in: AA I/2 (wie Anm. 1), 231–235, hier 232, 39. 99 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), hier 601, 19–602, 2. 100 Wieland, Ode auf die Auferstehung Jesu (wie Anm. 1), 222–229, hier 223, 43 f., 227, 156, 176–178, sowie ders., Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 322, 27–33, 337, 19–41, 338, 44–339, 8, 391, 33–392, 2. Die „Ruchlosesten“ unter ihnen seien die Atheisten (vgl. ders., Empfindungen eines Christen [wie Anm. 61], 336–404, hier 342, 15). 93
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sen Revolution gereifet, – er nähert sich, er nähert sich, der entscheidende feyerliche Tag des zweiten grossen Gerichts, der Richter schrekt uns schon von ferne!“101 „Es ist ein GOTT! es ist ein naher Richter!“102 Damit steht Wieland quer zur orthodoxen Enteschatologisierung, indem er in pietistischer Manier die reformatorische Endzeiterwartung wiederbelebt, ohne jedoch deren chiliastische Vorstellungen zu teilen. Die Idee kurz bevorstehender Parusie und Zeitenwende bringt er allerdings nur verhalten zum Ausdruck: „[…] es stehen große Veränderungen bevor“.103 Derlei Naherwartung war vor allem typisch für den württembergischen Pietismus. Sie war verbunden mit dem Weckruf zur Umkehr an die ,sorglosen, unbesonnenen Menschen".104 Obgleich der Herr, um den Sündern Gelegenheit zur Umkehr zu geben, das Weltgericht noch hinauszögere, ,eilt" der Jüngste Tag heran. Seine „plözliche überfallende Gegenwart“ werde „keinen Raum zur Besserung übrig lassen“.105 IV. Rechenschaft über sein im Vergleich zu den 1750er Jahren grundlegend gewandeltes Religionsverständnis und das Verhältnis der Religion zur Philosophie und zum esoterischen Denken legt Wieland im Jahre 1788 in seinem religionsgeschichtlichen Aufsatz Gedanken von der Freyheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophiren106 ab. Er hat sich darin zum Ziel gesetzt, einen ,gereinigten" Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 323, 4–7. Der Hymnus mündet in eine apokalyptische Schilderung der Endzeit, symbolisiert durch die Zerstörung einer Stadt durch ein Erdbeben (ebd., 329, 10–333, 8) – eine „starke Mahnung des Ewigen“, ja „die kräftigste Bußpredigt“, um die Sünder, Abgöttischen und Ungläubigen „aus ihrem gefährlichen Seelenschlaf“ zu erwecken (ebd., 333, 9, 12). Vgl. auch ders., Empfindungen eines Christen (wie Anm. 61), 336–404 (336–345: „Zuschrift“, 391–393: „Aussichten in die zukünftige Erneuerung oder zweyte Schöpfung der Erde“), hier 339, 10–15, und 392, 3 f. 102 Wieland, Erzaehlungen (1752), in: AA I/1 (wie Anm. 42), 340–424, hier 406, 445. 103 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 603, 22. 104 Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 323, 27. 105 Ebd., 309–336, hier 329, 11 f. Wohl ein terministischer Reflex (Philipp Jakob Spener zufolge sei dem Menschen ein bestimmter Termin zur Umkehr und Besserung gesetzt; wird dieser überschritten, könne der Gläubige weder Vergebung noch Seligkeit mehr erlangen; Spener: Die Evangelische Lebens-Pflichten. Frankfurt a. M. 1692, 396, und ders.: Das Gericht der Verstockung. Frankfurt a. M. 1701, 28 – 87, hier 73 f.). 106 In: Der Teutsche Merkur 16 (1788), 1, 77–93, 3, 195–226, 6, 549–567, 7, 3–28. Hier zit. nach Christoph Martin Wieland, Sämmtliche Werke, Bd. 29, Leipzig 1797, hg. von der ,Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" in Zusammenarbeit mit dem ,Wieland-Archiv" Biberach/Riß und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm, Nördlingen 1984, 3–144: „Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen sammt einer Beylage“, 1788 [künftig C1r]. Vgl. dazu John A. McCarthy: Essayistik und Literaturkritik, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart u. a. 2008, 350a–373b, hier 364a–368a [künftig: WHb]. 101
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Religionsbegriff herauszuarbeiten und zu begründen. Danach verhalten sich Religion und Esoterik wie das Reine zum Unreinen, der Glaube zum Aberglauben. Christi Auftreten markiert den Beginn eines wirksamen Widerstandes gegen den „magischen und theurgischen Aberglauben“. Durch seine Lehre und sein Beispiel wurde der Glauben „an einen allgemeinen Vater im Himmel“ verkündet und damit allererst der „ächte[n] Gottesverehrung“ der Boden bereitet, die ausschließlich auf der „Redlichkeit des Herzens“, der „Liebe zu Gott und den Menschen“ und der tätigen Hingabe an die „moralischen Tugenden“ beruht.107 Zwei Glaubenswahrheiten108 insbesondere, die „erweislich und erwiesen“ dem Menschen „unentbehrlich“ sind, kennt die Christusreligion:109 das ewige Daseyn eines obersten Grundwesens von unbegrenzter Macht, von welchem das ganze Weltall nach unveränderlichen Gesetzen mit Weisheit und Güte regiert wird – und die Fortdauer unsers eignen Grundwesens, mit Bewußtseyn unsrer Persönlichkeit und ewigem Fortschritt zu einer vollkommenern Art von Existenz.110
Sie sind, möglichst rein und einfach gedacht und geglaubt, von „wohlthätigstem Einfluß auf unsre innere Moralität, Zufriedenheit und Glückseligkeit“ (S. 53). Sie versetzen den Menschen in die Lage, „froher zu leben und mit besserer Hoffnung zu sterben“ (S. 26 f.). Der ,Glaube an ein unerforschliches Urwesen" erklärt die Existenz der Welt und ihre gesetzmäßige Verfasstheit. Diese unveränderlichen Gesetze sind Ausweis der „vollkommensten Gerechtigkeit, oder (was eben dasselbe sagt) der vollkommensten Güte und Weisheit“. Jener ,Glaube an ein unerforschliches Urwesen" und der Glaube an die „Fortdauer unsers eigenen, uns nicht minder unerforschlichen Grundwesens, mit Bewußtseyn unsrer Persönlichkeit und einem solchen Fortschritt zu größerer Vollkommenheit, der durch unser Verhalten in diesem Leben modificiert wird“ (S. 87 f.),111 sind dasjenige, was den ,wahren Glauben" ausmacht. Von einem gefallenen, sündenbeladenen, Gottes Gnaden bedürftigen Menschen ist hier keine Rede mehr. An die Stelle einer Erlösung bringenden Gnadenund Rechtfertigungslehre tritt selbstverantwortliches, moralisches Handeln. Aus Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 41. Im Gegensatz zur „Evidenz […,] der Gewißheit unsers eigenen Bewußtseyns“ kommt ihnen ,nur" ein „hoher Grad von Wahrscheinlichkeit“ zu, da sie nicht Gegenstände der spekulativen Vernunft, sondern des „vernünftigen Glaubens“ sind (ebd., 25). 109 Geist und Zweck Jesu Christi teilen sich dem Gläubigen „in dem größten Theile der vier Evangelien“ mit, in denen „alles, was wir von seiner Person und Geschichte wissen, enthalten ist“ (ebd., 96). Zur Kritik der Bücher des Neuen Testamentes vgl. auch Wieland, Agathodämon in sieben Büchern, in: C1r 32 (wie Anm. 106), 382–385, 388. Vgl. dazu Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 474–629, hier 627, 31–35. 110 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 26. 111 Vgl. Wieland, Vorbericht zum Anti-Cato (1773), in: WOA 11.1 (wie Anm. 4), 34–49, hier 39, 15–24. 107 108
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eigener Kraft ist der Mensch berufen, sich aufzurichten, sich gleichsam selbst zu erlösen. Der sündenbeladene ohnmächtige Mensch wich dem sich semipelagianisch selbstermächtigenden, die Erbsünde leugnenden,112 die Freiheit des menschlichen Willens (gegen Augustinus! Gnadenlehre) behauptenden Menschen, der, seiner Perfektibilität eingedenk, an der Vervollkommnung seiner selbst und seiner Art tätig ist. Das unerforschliche Wesen Gottes und seiner Schöpfung lasse sich nicht ergrübeln. Es sei Herzens-, nicht Vernunftsache. Daher sollten die die Vernunft transzendierenden Glaubensartikel, die sogenannten Offenbarungswahrheiten, auch nur „in den Worten der Schrift“ und nur insofern sie „dem moralischen Zwecke der Religion förderlich“ sind, vorgetragen werden.113 Der wahre Glaube ist „ein moralisches Bedürfniß der Menschheit“; wurzelt als eine Art nobilitas ingenita114 und unzertrennlich von ihm im Menschen;115 wird hinlänglich von der Vernunft unterstützt und kann daher als ,vernünftiger Glaube" apostrophiert werden; und ist als ein von Aberglauben und „Dämonisterey“116 freier Glaube dem Menschen nicht nur nicht von Nachteil, sondern vielmehr sogar „höchst wohlthätig“ und „unentbehrlich“. Die Vererbung der Erbsünde (traducem peccati) qua propagatio animae per traducem lehnte Wieland schon in den 1750er Jahren ab. Vielmehr sei unter ,Erbsünde", meinte er damals, eine teils angeerbte, teils erworbene „Corruption der menschlichen Seele“, die gleichsam ein ,Herd der Sünde" (fomes peccati) ist, die (a) aus einer starken Geneigtheit zu sinnlichen Dingen, Phantasien und Vergnügungen, (b) aus einer Disharmonie der Neigungen und Affekte und (c) der „unordentlichen Selbstliebe“ resultiere. Vgl. Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 573–576, sowie Blasig, Die religiöse Entwicklung (wie Anm. 33), 288 f. 113 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 127. Bereits in seinem Plan von einer neuen Art, von Privat-Unterweisung (1753) hatte er gefordert, dass von den „eigentlichen Glaubensartikeln (Geheimnissen versteht sich) mit keinen andern als mit Worten der Schrift“ geredet werde ([wie Anm. 58], 195, 36 f.). 114 Vgl. auch Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes (wie Anm. 62), 309–336, hier 315, 18–22. 115 In der Grundlegung der Christlichen Religion aus dem Jahre 1758 ging Wieland zudem davon aus, dass Gott durch den Heiligen Geist unmittelbar auf die Seelen einwirken kann, „ihre Herzen innerlich aufwecke[n], überzeuge[n], bestrafe[n], lenke[n] und auf andre Weise in dieselbigen influiere[n], je nachdem es ihr Zustand und die allezeit gnädigen Absichten Gottes mit sich bringen“ ([wie Anm. 39], 628, 37–629, 3). 116 Wieland stützt sich in seiner Begriffsverwendung von ,Dämonismus" auf Shaftesbury, An Inquiry concerning Virtue, or Merit, in: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. In Three Volumes. By the Right Honourable Anthony, Earl of Shaftesbury. The Fifth Edition, Corrected. With the Addition of a Letter concerning Design. Volume II. An Inquiry concerning Virtue and Merit. The Moralists: a Philosophical Rhapsody. Printed in the Year M.DCC.XXXVIII, 3–176, hier 11. 112
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Jene beiden Grundartikel der „Religion Christi“ sowie die Grundgesetze der Vernunft sind unabweisbar und unhintergehbar. Ihr Beweis erübrige sich hier, da sie „längst ausgemacht“ und ihre Zustimmung bei allen an der Thematik des Aufsatzes interessierten Lesern vorausgesetzt werden kann.117 Sie zu unterstützen, wird der Philosophie zur Pflicht gemacht, diese anzufechten ist vergleichbar einem öffentlichen Angriff auf die Grundverfassung des Staates, da sie ein wesentlicher Bestandteil des Staates ist und „die öffentliche Ruhe und Sicherheit“ stützt (S. 131 f.).118 Zu Recht und vernünftigerweise werde der Religion deshalb von jeher zugebilligt, den bürgerlichen Vertrag zu sanktionieren, die Sittenlehre mit den stärksten Beweggründen auszustatten und die Tugend mit der höchsten Begeisterung zu versehen, eben weil dies der „richtige[n] und lebendige[n]119 Kenntniß der menschlichen Natur“ entspricht und in ihr, der Religion, begründet ist.120 Obgleich und gerade auch, weil sie „keinen festern Grund als Meinung, Glauben, Alterthum, fromme Einfalt, Trägheit und Geduld der Völker“ hat, müsse sie durch die Obrigkeit gegen libertine Verächtlichmachung gesichert werden (S. 336). Den Menschen die Religion nehmen, hieße, sie ihrer sittlichen und geistigen Entwicklungsfähigkeiten und -möglichkeiten berauben, hieße, sie auf ihre tierischen Triebe einschränken, hieße, ihnen den Glauben ihrer Väter, den Glauben an eine Vorsehung die für alles sorgt, an einen unsichtbaren Weltbeherrscher dem alles unterthan ist, an unsichtbare Beschützer von welchen Hülfe zu erlangen ist, wenn sonst nichts helfen kann, an ein künftiges Leben wo alles in Ordnung und Gleichgewicht kommt, alles, was hier gesündiget wurde, gebüßt, alles, was hier unvergolten blieb, vergolten werden wird. (S. 318 f.)
Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 87–89. Vgl. zur Religion als Stütze des Staats auch Wieland, Freymüthige Gespräche über einige neueste Weltbegebenheiten (1782), in: C1r 15 (wie Anm. 106), 253–334, hier 324 f., sowie ders., Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen Weltbürgers (1783), in: C1r 28 (wie Anm. 106), 305–339, hier 321, 324, 335 f. 119 Es geht dabei um die ,lebendige", durch ,Erleuchtung" bewirkte ,Erkenntnis" der göttlichen Lehren (Eph 1,17 f., Apg 26,18), so bereits Siegmund Jakob Baumgarten und der frühe Semler. (Wieland spricht ganz zu Recht in Bezug auf die Lehren des Gefühlschristentums von ihrer ,lebendigen Empfindung".) Durch „geistliche Augen“, die Gott dem Gläubigen im Zuge der Erleuchtung „gibt“, wird dieser vermögend, „den rechten Gebrauch“ von seiner Erkenntnis zu machen, „welche sonst tot und bloß historisch ist“ (Johann Salomo Semler, Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiae. Erster Anhang, Halle 1758, 17). Durch die ,Erleuchtung" wird nicht das menschliche Erkenntnisvermögen verbessert, wie die Pietisten behaupten, so Semler, sondern die „innere willentliche Einstellung, die aus einer bereits vorhandenen Erkenntnis die uns unmittelbar betreffende ,lebendige" und ,heilsame" Erkenntnis werden läßt“ (Gottfried Hornig, Semlers Lehre von der Heilsordnung. Eine Studie zur Rezeption und Kritik des halleschen Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 10 [1984], 152–189, hier 170). 120 Wieland, Antworten und Gegenfragen (wie Anm. 118), 305–339, hier 324. 117 118
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Damit würde die Menschheit ihres ,Trostes" verlustig gehen. Aber die in der Bibel, im Neuen Testament, gebotene Religion Christi als Quelle der Lehre Christi sei „nicht von allem dämonistischen Schlamme rein“.121 Gereinigt nur und als Ausdruck des dem Menschen eingepflanzten „vernünftigen Glaubens“, der natürlichen Religion, ist sie ,wahrer Deismus", der den Mittelweg weist zwischen der Skylla des Atheismus und der Charybdis der Dämonie (S. 88 und 57).122 ,Dämonistisch" ist danach all jenes, was von der ,natürlichen (theistischen) Religion" abweicht und kein ,Atheismus" ist. Atheismus und Dämonismus sind beide vernunftwidrig, insofern sie der natürlichen Religion und dem vernünftigen Glauben widersprechen. Dabei wird die atheistische Position für viel grundsätzlicher angesehen. Sie sei gleichsam „ein öffentlicher Angriff auf die Grundverfassung des Staats“ und müsse, da sie mit der Leugnung Gottes und der Unsterblichkeit der menschlichen Seelen zugleich auch die „öffentliche Ruhe und Sicherheit“ gefährde, und damit ein „öffentlicher Angriff auf die Grundverfassung des Staats“123, ein „Attentat gegen die Menschheit und gegen die bürgerliche Gesellschaft“124 sei, bei Strafe verboten werden. Denn die Gewissenspein als Ausdruck der Furcht vor Gott ist nach wie vor eines der wirksamsten Herrschaftsinstrumente der Landesfürsten. Sie hilft, den Subalternen zu einem gefügigen, gemeinschaftsfähigen Untertan zu disziplinieren.125 Bereits seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts – vermutlich hat Wieland hier Matthew Tindals Christianity as Old as the Creation (1730) im Sinn – seien die „Grundwahrheiten, von deren Erkenntniß und Befolgung das Wohl des menschlichen Geschlechts und der bürgerlichen Gesellschaft abhängt“, allgemein beWieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 98, Anm. Vgl. Martin Schmeisser, Aufklärung und Deismus bei Christoph Martin Wieland. ,Die Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren" (1788), in: WielandStudien 7 (2012), 19–42, hier 31–42. Vgl. auch Gerhard Braunsperger, Aufklärung aus der Antike: Wielands Lukianrezeption in seinem Roman „Die geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus“, Frankfurt am Main u. a. 1993, 176–186, sowie Bernd Auerochs, Wieland und die Religion, in: WHb (wie Anm. 106), 53–67. 123 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 132. Später wird Wieland von der entschiedenen Forderung nach gesetzlichem Schutz der natürlichen Religion mit angedrohter Strafverfolgung abstehen, indem er selbst den „Glauben an einen künftigen Zustand nach dem Tode“ (ebd., 131) infrage stellt, damit seinen Anspruch nach „freie[m] Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen“ konsequent einlösend. 124 Wieland, Beschluß der Gedanken von der Freyheit in Glaubenssachen zu philosophiren, in: Der Teutsche Merkur 16 (1788), 7, 3–28, hier 28. 125 Denn im Gegensatz zum aristotelischen Verständnis des ,Bürgers", der von sich aus als gesellschaftsfähig galt, muss der protestantische erst dazu gebildet, ja gezwungen werden (Klaus Schreiner, Rechtgläubigkeit als „Band der Gesellschaft“ und „Grundlage des Staates“. Zur eidlichen Verpflichtung von Staats- und Kirchendienern auf die ,Formula Concordiae" und das ,Konkordienbuch", in: Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, hg. von Martin Brecht und Reinhard Schwarz, Stuttgart 1980, 351–379, hier 355). 121
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kannt, zumindest „um ein mäßiges Geld in allen Buchläden feil“ zu haben.126 Dieser mit der „Fackel der Vernunft“ erleuchtete „wahre Deismus“, der gleich weit entfernt ist von Atheismus, Dämonismus und epikuräisch aufgefasstem Deismus, bildet die Grundlage von Wielands Gefühlschristentum.127 Die Aufklärung mit ihrem Instrument ,Vernunft" ist die „Hauptfestung der christlichen Religion“, die zwar deren „unhaltbare[] Außenwerke“ preisgibt,128 sie aber zugleich „gegen alle Angriffe der Vernunft sichert“. – Glaube und Liebe, so Wieland, seien „die einzigen Stützen unsers armen Erdenlebens“. Diese würden „untergraben und um[ge]stürz[t]“, wollte man die Vernunft zur „einzige[n] Führerin seines Lebens“ machen wollen.129 Das bedeutet, dass der prinzipiell vervollkommnungsfähige Mensch danach trachten muss, sich unter Zugrundelegung des ,vernünftigen Glaubens" mittels eines bessern Vernunftgebrauches zu vervollkommnen. Allein die Vernunft lässt den Menschen „einer wahren Religion fähig“ sein.130 Da die Matthew Tindals Werk übertrug Johann Lorenz Schmidt, der Übersetzer der ,Wertheimischen Bibel", ins Deutsche unter dem Titel: Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung desselben. Beydes aus dem Englischen übersetzt, Frankfurt am Main, Leipzig 1741. Dazu Günter Gawlick, Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Ein „bekannter Unbekannter“ der Aufklärung in Hamburg, hg. von Wolfgang Walter, Göttingen 1973, 15–43, hier 16. 127 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 54, 57. Die ,wahre Religion" ist keine politische Institution, sondern eine ,Herzensangelegenheit" (ebd., 97 f., vgl. auch ebd., 123, sowie ders., Agathodämon [wie Anm. 109], 389–391, 392–395, insb. 389 f.: „Nichts kann einem irdischen Reich und dem, was die Menschen darin suchen, mehr entgegen gesetzt seyn, als sein [i. e. Christi] Begriff von diesem Reiche Gottes, dessen unsichtbarer Beherrscher nur über Herzen regiert, nur einen Dienst des Herzens fordert, nur im Geist angebetet seyn will, und seinen Unterthanen nur geistige Güter verspricht. Den Willen Gottes zu thun, der durch Vernunft und Gewissen jedem Menschen kund wird, ist nach ihm die erste Pflicht der Genossen dieses Reichs, die alle andern in sich schließt. Sie sind alle frey, denn sie gehorchen nur ihrem Vater, und ihr Gehorsam ist munter, freudig und unbedingt, weil er aus Liebe und Vertrauen kommt; sie sind, als Kinder eben desselben Vaters, alle gleich, und zu allem, was ihres Vaters ist, gleich berechtigt; und in dem einzigen Wort Liebe sind alle ihre wechselseitigen Pflichten enthalten. Sie lieben Gott über alles; aber sie können ihm diese Liebe nur dadurch beweisen, daß sie ihn in seinen Kindern, ihren Brüdern, lieben. Was bedürfte es mehr als diese reine, kindlich einfältige Sinnesart, um allgemeine Harmonie und Glückseligkeit auf ewig zu gründen, und die Erde zu einem Himmel, ihre Bewohner zu den Engeln dieses Himmels zu machen?“). 128 Vgl. Hegels unausgesprochene Bezugnahme darauf in: Bern 1793 bis 1796 (Fragmente über Volksreligion und Christentum [1793–1794], 2. Frg., 45–47 „Man lehrt unsere Kinder …“, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 21990, 45). 129 Wieland, Was ist Wahrheit?, in: C1r 24 (wie Anm. 106), 39–54, hier 43 f. Bemerkenswert ist, dass Wieland nur zwei der drei christlichen Tugenden (1 Kor 13,13) benennt, die dritte, die Hoffnung, aber ausspart. 130 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 61 f., 71 f. Darin gründet auch Wielands intuitionistischer bzw. gefühlsphilosophischer Ansatz (ders., Was ist Wahrheit? [wie Anm. 129], 39–54). 126
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Vernunft aber nicht angeben kann, was Gott ist, sondern nur, was er nicht ist, also in theologicis nur rein negativ verfahren kann, kann es eine „Theologie der Vernunft“ nicht geben.131 Es sei nicht darum zu tun, über Gottes Wesen zu vernünfteln, es geht um das Praktischwerden des Glaubens. Man habe ihm zu gehorchen, und zwar nicht hinsichtlich eines Bekenntnisses oder Formulars, sondern in tätiger Menschenliebe und „lebendige[r] Hoffnung eines besseren Lebens für diejenigen, die sich dessen in dem gegenwärtigen fähig machen“ (S. 123 f.). Zweck der Christus-Religion, die auch „über alle Vernunft gehende[] Glaubensartikel[]“ enthält, ist die „innerliche[] moralische[] Besserung der Menschen“ (S. 127). Wenn Wieland davon spricht, dass der ,wahre Deismus" sich „leicht […] in die Pythagorische und Platonische, ja sogar in die Sokratische oder Epiktetische Sprache übersetzen“ lasse, so verweist er auf seinen universellen Charakter und seine anthropologische Verankerung. „[U]ngezwungen [lässt sich] aus diesen äußerst einfachen Begriffen und Grundsätzen eine vollständige, dem Fassungsvermögen aller, auch der ungelehrtesten, Menschen angemessene Lebensphilosophie […] entwickeln“ und gibt damit dem Menschen all das, was er „zu Erfüllung seiner moralischen Bestimmung und zum Aufstreben nach dem höchsten Gipfel menschlicher und geistiger Vollkommenheit vonnöten hat“.132 Den ,wahren Deismus" zu verkennen bedeute, die anthropologischen Grundfesten zu leugnen und die darauf aufbauenden, theonom begründeten sozialen Strukturen zu negieren. Mit der Situierung des „vernünftigen Glaubens“ im Menschen werden Anthropologie und Theologie ineinander verflochten und miteinander verschränkt. Wielands Annahme übervernünftiger Glaubenssätze könnte eine pauschale Charakterisierung als ,Deismus" im gängigen Verstande fragwürdig machen. Man ist daher gehalten, seine Unterscheidung von ,Deismus" bzw. ,Theismus" und ,wahrem Deismus" ernstzunehmen. Er stützt sich dafür ganz unverkennbar wiederum auf Shaftesbury, nun aber auf The Moralists, a Philosophical Rhapsody,133 wo es heißt: Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 92. Wieland, Agathodämon (wie Anm. 109), 391. 133 Dehrmann konzentriert sich in seiner Studie zur Shaftesbury-Rezeption in der deutschen Aufklärung im Wieland-Kapitel (271–340) vornehmlich auf Fragen der Moral Grace, des Kalokagath+a- und Virtuoso-Konzeptes und damit auf die Zeit von etwa 1755 bis 1766, seiner sog. ,metamorphose", so dass Wielands darüber hinausgehende Anknüpfungen religiös-politischer Art von ihm nicht in den Blick genommen worden sind (Mark-Georg Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008, 17, 274). Von seiner „metamorphose“ spricht Wieland erstmals in einem Brief an Johann Georg Zimmermann vom 8. November 1762, in: WBr 3 (wie Anm. 28), 129–131, hier 130. Zu Wielands ,Metamorphose" vom christlich-platonischen Tugendschwärmer zum skeptisch freisinnig-libertären Dichter vgl. Julius Steinberger, Wielands Metamorphose in seiner eigenen Beurteilung, in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 115 (1905), 290–297. 131
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Denn sosehr ich den Theismus oder den Namen Deist134 in dem Sinne, da die Offenbarung dadurch verworfen wird, hasse, so glaub ich doch, daß im genauesten Verstande alles auf dem Theismus beruhet und daß keiner ein festgegründeter Christ sein kann, ohne vorher ein guter Theist zu sein. Denn Theismus kann bloß dem Polytheismus oder Atheismus entgegengesetzt werden. Ich kann!s daher nicht ausstehen, wenn man den Namen Deist, den höchsten aller Namen, als ein Schimpfwort gebraucht und ihn dem Christentum entgegensetzt, gleich als wäre unsre Religion eine Art von Magie, die nicht auf dem Glauben eines einzigen höchsten Wesens beruhte. Oder als wäre der feste vernunftmäßige Glaube an ein solches Wesen nach philosophischen Gründen eine Eigenschaft, die uns unfähig machte, noch etwas mehr zu glauben. Herrliche Voraussetzung für diejenigen, die von Natur zum Unglauben gegen die Offenbarung geneigt sind oder aus Eitelkeit eine solche Freidenkerei affektieren! –135
Diese Auffassung, so Shaftesbury weiter, sei der „Grund aller Religion“ (fundamental to all Religion).136 Die von Wieland propagierte Christus-Religion geht von zwei Offenbarungsquellen aus, der Natur und Christus: „Gott war ihm Alles in Allem, Alles in der Natur, Alles in ihm selbst.“137 Diesen zu vernehmen erst verschafft den Zugang ,Deismus" ist eine Selbstbezeichnung, erstbelegt 1563. Mitte des 17. Jahrhunderts kam der Begriff ,Theist", zuerst in Ralph Cudworths The True Intellectual System of the Universe (1678), als Antonym von ,Atheist" auf. Bei Cudworth begegnet er dann schon in der spezifischen Bedeutung eines ,Bekenners der vernünftigen Religion". Vgl. Gawlick, Der Deismus (wie Anm. 126), 19 f., 39, Anm. 11. Wielands Deismus steht nicht in der Tradition des epikuräischen Verständnisses, wonach Gott sich selbst genug ist, sich nicht offenbart und sich nicht um die Menschen und die Welt kümmert, sondern in der des stoischen, die Gott als für Mensch und Welt Besorgten auffasst, die christliche Offenbarung für unabdingbar hält und sein ,natürliches Gesetz" als Grundlage moralischer Praxis versteht. Die epikuräische Auffassung ist tendenziell radikaler, indem sie nicht nur die christliche Offenbarung, sondern auch das göttliche Gericht und die Unsterblichkeit verwirft. Während ,Theist" und ,Deist" ausgangs des 17. Jahrhunderts noch gleichbedeutend verwendet wurden, bezeichneten Mitte des 18. Jahrhunderts ,Theist" die stoische, ,Deist" die epikuräische Auffassung (ebd., 21–25, 41 f.). 135 In: Untersuchung über die Tugend, in: Anthony Earl of Shaftesbury, Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays, hg. von Karl-Heinz Schwabe, München u. a. 1990, 41–209, hier 61. „For as averse as I am to the Cause of Theism, or Name of Deist, when taken in a sense exclusive of Revelation; I consider still that, in strictness, the Root of all is Theism; and that to be a settled Christian, it is necessary to be first of all a good Theist. For Theism can only be oppos!d to Polytheism, or Atheism. Nor have I patience to hear the Name of Deist (the highest of all Names) decry!d, and set in opposition to Christianity. ,As if our Religion was a kind of Magick, which depended not on the Belief of a single Supreme Being. Or as if the firm and rational Belief of such a Being, on Philosophical Grounds, was an improper Qualification for believing any thing further." Excellent Presumption, for those who naturally incline to the Disbelief of Revelation, or who thro Vanity affect a Freedom of this kind!“ (Shaftesbury, An Inquiry [wie Anm. 116], 179–443, hier 209). 136 Ebd., 210. 137 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 99. Gott ist danach (panentheistisch) in der Welt, keine transzendental zu verortende Instanz. Damit werden solch zentrale dogmatische Voraussetzungen des Christentums wie der Sündenfall, die Auferstehung, das Weltgericht und die 134
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zur „ächte[n] Theosofie“, im unbelasteten, einfachen Sinn des Wortes. Sich dieses ,Reich Gottes" zu gewärtigen, sich einer Teilhabe daran würdig zu machen, seien alle Menschen ,eingeladen", alle ,berufen", wenige jedoch ,auserwählt" (Mt 20,16).138 Die wenigen, gleiche Vorstellungsarten und Gesinnungen teilenden Auserwählten bildeten nur „eine kleine Gesellschaft von Brüdern“, gleichsam im spenerschen Sinne eine Ecclesiola in ecclesia. Unter ihnen walte „brüderliche[] Gleichheit […], als Kinder Eines Vaters“.139 Solcherart theistisches Denken ist prinzipiell auf einen guten und gerechten Gott abgestellt und drängt den alttestamentlichen notgedrungen in den Hintergrund.
Fortdauer der persönlichen Existenz hinfällig. In optimistischem Verständnis wird dabei von einer guten Weltordnung, einem liebenden Gott und prinzipiell guten Menschen ausgegangen; an die Stelle der Gnaden- tritt nun die Fortschrittslehre. Die Moral, worauf dieses Religionsverständnis verweist, ist immanent begründet. Wieland orientiert sich darin wohl ebenfalls an Shaftesbury (vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, 397). Vgl. Wieland an Johann Kaspar Lavater, Weimar, 21. Juni 1776: „Nach meiner Überzeugung ist das he?om überall – im kleinsten Insekt wie im Menschen oder Engel. Also lauter Superlativi oder gar keine! Hoheit der Menschheit! – Hoheit der Wurmheit – Mir ist!s eins. Das Göttliche im Menschen, das Göttliche im Wurm – ist gleich göttlich. Die Menschheit ohne dasselbe, die Wurmheit ohne dasselbe – ist höchstens ein leeres Gefäß, wo bey einem die Form schöner ist als beym andern“ (WBr 5 [wie Anm. 28], 516–518, hier 518). 138 Nicht mehr im Sinne der paulinischen Unterscheidung von ungläubigen Menschen, die jat± s\qja, dem Fleische, und gläubigen, die jat± pmeOla, dem Geiste (Gottes) gemäß leben. Wieland hat es vielmehr darauf abgesehen, daß alle Menschen ihres Menschseins (Humanität) eingedenk leben und sich um sich und ihresgleichen verdient machen sollen; nur wenigen ausgezeichneten – genialen – sei das jedoch in einem Höchstmaß vergönnt. Vgl. Wieland, Gebet eines Christen (wie Anm. 69), 192–196, hier 195, 6–8. 139 Wieland, Über den freyen Gebrauch (wie Anm. 106), 99 f. In dieser Vorstellung gründet Wielands Sicht auf den Kosmopoliten- wie auf den Freimaurerorden. Im Gegensatz zu den übrigen Freimaurerlogen stand die Weimarer Freimaurer-Loge Anna Amalia zu den drei Rosen, die seit 1808 von Bertuch geführt und 1809 auch Wieland unter seine Maurerbrüder aufnahm, allen hermetischen, magischen, gnostischen und kabbalistischen Einflüssen fern (vgl. Wieland, Betrachtungen über den Zweck und Geist der Freimaurerei, in: AA I/20 [wie Anm. 3], 358–365, hier 365). Die Freimaurerei als ein „Bruderbund“, als ein „Institut“, „durch welches, ohne alles prunkende Aufsehen und Geräusch, vermittelst eines immer still fortwirkenden und sich unvermerkt immer weiter ausbreitenden Einflusses, unter den Menschen […] mehr wahres und bleibendes Gutes gewirkt werden muß, als durch ein anderes Institut“, tritt bei Wieland gleichsam an die Stelle der christlichen Kirche (Wieland, Wie verhält sich das Ideal der Freimaurerei zu ihrer dermaligen Beschaffenheit, und was ist in dieser Rücksicht die Obliegenheit der Gesammtheit derselben sowohl als ihrer einzelnen Glieder?, in: ebd., 366–373, hier 371).
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V. In der an die Abhandlung Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben140 anknüpfenden Euthanasia.141 Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode (1805)142 kommt Wieland wiederholt auf die platonisch-neuplatonische „Hypothese von der feinern Körperhülle der Verstorbenen“143 als der gängigen zentralen pneumatischen Voraussetzung für die „fortdaurende[] Persönlichkeit in einem neuen geistigen Leben“ (S. 272)144 im Jenseits zu sprechen und ringt sich darin zu öffentlichen Äußerungen durch, die „andre gescheide Leute nur denken“.145 Wötzel, der Geister- und Gespensterseher, glaubte
In: C1r 24 (wie Anm. 106), 71–92, hier 84–89. ,Euthanasia" (eqhamas_a; Cicero, Atticus 16, 7, Sueton, Augustus 99) benennt die ,Sterbekunst" bzw. die ,Kunst, schön und freudig zu sterben", so der Titel einer Publikation von Emil Richard Pfaff aus dem Jahre 1869. Mit der Wahl des Begriffes ,Euthanasia" im Gegensatz zu dem der ,ars moriendi" deutet Wieland eine Abgrenzung von christlichen Vorstellungen an. Er gehört in das Begriffsfeld der Euzoia (Eqfy_a), der ,Lebenskunst", und benennt die das Leben beschließende Phase. Zum Begriff ,Euthanasia" vgl. Volker Roelcke, ,Ars moriendi" und ,euthanasia medica". Zur Neukonfiguration und ärztlichen Aneignung normativer Vorstellungen über den ,guten Tod" um 1800, in: Sterben und Tod bei Heinrich von Kleist und in seinem historischen Kontext, hg. von Dietrich von Engelhardt, Würzburg 2006, 29–44, hier 34. Gleichwohl war die Gattungsbenennung ,Eqhamas_a (christiana)" auch bereits im 16. und 17. Jahrhundert gebräuchlich. Zur antiken Geschichte des Begriffs ,Euthanasia" vgl. Udo Benzenhöfer, Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009, 13–19. 142 Euthanasia. Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode. Veranlaßt durch D. I. K. W**ls Geschichte der wirklichen Erscheinung seiner Gattin nach ihrem Tode, in: C1r 37 (wie Anm. 106), hier zit. nach AA I/20 (wie Anm. 3), 258–375. Er antwortet im ersten der drei Gespräche auf des Leipziger romantischen Philosophen Johann Karl Wözels, dem Herzog von Sachsen-Weimar und Eisenach, Carl August, gewidmeten Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode. Eine wahre unlängst erfolgte Geschichte für jedermann zur Beherzigung und vorzüglich für Psychologen zur unpartheiischen und sorgfältigen Prüfung (Chemnitz 1804). Im zweiten und dritten Gespräch setzt er sich mit Swedenborgs ,Belegen" auseinander. Dieser „versichert, daß ihm durch Gottes besondere Vergünstigung die unsichtbare Welt aufgethan worden sey, und daß er, unter andern, auch die verstorbenen Menschen, in derselben Gestalt worin sie sich bey Leibesleben gezeigt, im Reich der Geister auffinden und sich von Angesicht zu Angesicht mit ihnen besprechen könne.“ „[D]er Verstorbene“, davon habe er sich überzeugen können, „lebte also noch in einer für uns andern unsichtbaren Welt fort, erinnerte sich noch genau der besondersten Umstände seines vorigen Lebens, und hatte folglich seine ganze Persönlichkeit behalten“ (ebd., 305). Vgl. Diethard Sawicki, Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn u. a. 2002, 115–128, sowie Jan Philipp Reemtsma, Vom Fortleben im Andenken der Nachwelt, in: Pforte 6 (2002), 16–29. 143 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 260. 144 Vgl. auch ebd., 305. 145 Wieland an Karl August Böttiger, Weimar, 22. November 1804, in: WBr 16.1 (wie Anm. 28), 349–351, hier 350. 140
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mit der Erscheinung seiner Frau146 endlich einen Erfahrungsbeleg für die „handgreifliche[] Erscheinung […] de[r] Verstorbenen mit den neuen ätherischen Leibern, die sich ihnen anbilden sollen“, bekommen zu haben. Danach ziehe die Seele im Sterbeprozess aus dem groben irdischen Körper ein ,subtiles Organ", den ätherischen Seelenkörper heraus und mit sich ins neue Leben (S. 280).147 Es ist ein der Seele „unentbehrliches Werkzeug“ und „Verbindungsmittel mit der Welt“.148 Die Hypothese wird von Wieland letztlich geleugnet: Eine sie stützen sollende Geistererscheinung sei entweder eine Sinnestäuschung oder eine phantastische Einbildung oder Resultat eines „außerordentlichen Zustandes seines Nervensystems“ oder schlichtweg Betrug. Sie gibt sich dadurch zu erkennen, dass sie eine isolierte Begebenheit, von einer unbekannten Ursache in den natürlichen Zusammenhang unsers Lebens eingeschoben [ist], welcher dadurch zwar auf einen Augenblick unterbrochen, aber im geringsten nicht verändert wird. So wie sie aus Nichts entstand, zerfließt sie wieder in Nichts. (S. 313)
Der Glaube an Geistererscheinungen ist in der „innern Ökonomie“ des Menschen, in seiner Einbildungskraft, begründet. Der Geisterglaube entsteht aus einer Art „Ahnungsvermögen“, das, wie im diskutierten Fall, dann rege werden kann, wenn ein Mensch sich seines inniggeliebten Partners durch den Tod beraubt sieht. Gleich dem Phantomschmerz bei einem verlorenen Körperglied glaubt der Hinterbliebene die körperliche Gegenwart des Verstorbenen gelegentlich wahrnehmen zu können. Daneben wächst die Überzeugung, dass der Verstorbene ,lebe" und dem Hinterbliebenen ,nahe sei" und ,Anteil an ihm nehme" (S. 316, 318). Wie die Vorstellung, dass die Verstorbenen im Lande der Seelen ein fortdauerndes Leben führen, bei den Völkern „im Kindesalter des menschlichen GeWieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 284. Vgl. auch ebd., 324 f., 328–331. Die materialistische Annahme eines ätherischen Seelenorgans lässt Wieland seinen Protagonisten Wilibald ironisieren und schließlich ad absurdum führen, und zwar derart, dass er nachweist, dass die ,christliche Unsterblichkeit" für die Seele nach dem Tode die gleichen Verhältnisse annimmt, „von welchen sie in diesem Leben gefesselt war“ (ebd., 308–310, 346). Paulinischer Auffassung zufolge aufersteht nicht nur die Seele, sondern auch der Leib (1 Kor 15), denn ein Leib-Seele-Dualismus war ihm fremd. Der Sarkiker bzw. Psychiker ist seiner Seele wie seinem Leibe nach sarkisch, der Pneumatiker in beidem pneumatisch. Durch die Wiedergeburt bzw. Erneuerung (!maja_mysir) erst wird der Sarkiker resp. Psychiker zum Pneumatiker. So wie der natürliche Mensch eine leib-seelische Einheit ist, so auch der Wiedergeborene. Deshalb gibt es nicht nur eine Auferstehung der Seele, sondern stets auch zugleich eine des Leibes. Später erst glaubte man angesichts des verwesenden Leichnams nur noch an eine jenseitige Fortdauer der Seele. Die Hypothese vom Seelenkörper ,rettet" gewissermaßen die paulinische Sicht von der Verklärung beider, des Körpers und der Seele. – Auch Wieland spricht sich gegen eine dualistische Leib-Seele-Auffassung aus; vgl. Wieland, Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet, in: C1r 24 (wie Anm. 106), 55–70, hier 67 f. 148 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 298. 146
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schlechts“ entstanden zu sein scheint,149 so auch die ersten Gespenstergeschichten.150 Zumeist seien Geistererscheinungen „Erzeugnisse der Furcht und des Aberglaubens“. Tatsächlich, so Wilibald (in dessen Name ,Wieland" anklingt151), hören mit dem Tode jede Gemeinschaft und alle Verhältnisse der Lebenden mit den Verstorbenen auf.152 Es sei weder möglich, noch wünschenswert, sich im Jenseitigen des Diesseitigen erinnern zu können und wäre eine „täuschende Verwirrung reinmenschlicher Verhältnisse mit reingeistigen“. Daher könne auf die Hilfskonstruktion eines Seelenorgans verzichtet werden (S. 332 f.). Aber selbst wenn man unterstellte, es gebe einen fortlaufenden Prozess von Vereinigung und Trennung der Seele und des Körpers, scheint festzustehen, dass die Seele keine Erinnerung an ihren vorigen Zustand hat: So wie das Menschenleben, das wir mit unsrer Geburt begannen, keine Fortsetzung des vorigen uns gänzlich unbekannten Lebens ist, so wird auch das Leben, in welches wir durch den Tod geboren werden, aus gleichem Grunde keine Fortsetzung des gegenwärtigen, sondern der Anfang eines ganz neuen seyn. (S. 336)
Der Verwerfung der allgemein angenommenen und akzeptierten, für moralisch unverzichtbar gehaltenen Vorstellung von der Fortdauer der Persönlichkeit beim Übergang vom Dies- ins Jenseits stehen christliche Argumentationsmuster der Rechtfertigung, Vergeltung und Vergebung entgegen, etwa die „Bestrafung Von jeher, schrieb Wieland noch 1783, habe die Menschheit der Glaube an „eine erste Ursache, die alles schafft, nährt und zu Einem verbindet, eine alles umfassende Vorsehung, die Verwandtschaft unserer Natur mit der göttlichen, und die instinktähnliche Ahnung der Fortdauer unsers wahren Selbsts über die engen Grenzen dieses Augenblicks von Leben“ geeint. Letzteres, der Glaube an die Unsterblichkeit, sei, so Wieland unter Verweis auf Ciceros Tusculanae disputationes (1, 33), fundamental für die Religion, „weil jener Glaube so wenig[] ohne Religion, als Religion ohne jenen Glauben bestehen kann“ (Wieland, Antworten und Gegenfragen [wie Anm. 118], 322 f.). 150 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 318. Diese Auffassung übernimmt Wilibald von Agathodämon (vgl. Agathodämon [wie Anm. 109], 190 f.). 151 Dass Wilibald, der „Geister Erscheinungen für etwas schlechterdings unglaubliches“ hält, das Sprachrohr Wielands ist, geben Briefe unzweifelhaft zu erkennen (Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, Weimar, 14.–19. März 1807, in: WBr 17.1 [wie Anm. 28], 195–200, hier 196, sowie ders. an dies., Weimar, 26. Oktober 1807, in: ebd., 263–266, hier 265). Vgl. Kurth-Voigt, Existence after Death (wie Anm. 5), 167 und 176, Anm. 48, John McCarthy, Wieland in Weimar. 7. Lebensende, in: Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, hg. von dems. u. a., München 1994, 116–119, hier 117, Burghard Damerau, Zwischen Hirngespinst und Herzensangelegenheit. Wieland im Gespräch: ,Euthanasia", in: Offene Formen. Beiträge zur Literatur, Philosophie und Wissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Bernd Bräutigam und Burghard Damerau, Frankfurt am Main u. a. 1997, 118–139, hier 135–137, Thomas C. Starnes: Tod in Oßmannstedt, in: Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk, hg. von Walter Erhart und Lothar van Laak, Berlin u. a. 2010, 367–377, hier 373, Jan Philipp Reemtsma, Leben heißt sterben lernen, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 60 (2006), 410–424, hier 415, 417 f. 152 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 320–322. 149
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der Bösen und die Belohnung der Guten im künftigen Leben“, das zur Voraussetzung hat, dass man sich dessen erinnert, wofür man bestraft und belohnt wird. Wilibald alias Wieland zufolge lässt sich die Schwierigkeit meistern, wenn man sich von althergebrachten Anschauungen von Höllenfurcht und Paradiesverlangen löst und sich vor Augen führt, dass wahre Moralität davon unberührt bleibt, die ,innere Beschaffenheit des Gemüts" nicht tangiert. [N]ur der ist gut, der es aus Liebe des Guten, oder (was ganz dasselbe sagt) aus reiner Liebe Gottes ist. Unschuld, Güte des Herzens und Rechtschaffenheit des Lebens, jede Tugend und jede gute That, jedes Opfer das wir der Pflicht bringen, jede Besiegung einer unedeln Leidenschaft, belohnt sich selbst, und begehrt keinen andern Lohn. (S. 337)
Die Frage nach der proportionierten Bestrafung pariert Wilibald einmal mit dem Hinweis, dass der Grad der Gewissenspein keineswegs zu unterschätzen ist, zudem damit, dass die Gerechtigkeit des bürgerlichen Gesetzes (iustitia civilis), die die Rächung des Unrechts notwendig einfordert, unterschieden ist von der moralischen Gerechtigkeit, die keine Rache, sondern nur Vergütung des Übels kennt und die Notwendigkeit, den Übeltäter „in einen Zustand möglicher Besserung zu setzen“ (S. 339). Das Problem der proportionierten Belohnung durch Wiedergutmachung diesseitigen Leides durch jenseitiges Heil quittiert Wilibald mit dem Hinweis darauf, dass Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden könne und daher am besten mit einem „Zug aus dem Lethe“ entschädigt wird, andererseits damit, dass es unzulässig sei, „von dem, was sich zwischen Menschen und Menschen gebürt, auf das, was der höchsten Gerechtigkeit anständig ist, zu schließen“ (ebd.). Auch dem Einwurf, die jenseitige Perspektivierung im Diesseits sei moralitätsstiftend und stabilisierend, begegnet Wilibald relativierend: Der „moralische Einfluß“ des Rechtfertigungsglaubens sei vielmehr von unendlich geringem Einfluss. Es liegt nun einmahl in der menschlichen Natur, oder vielmehr in der Natur des Lebens selbst, daß der Mensch an den Tod und das was auf denselben folgen mag, ohne besondere Veranlassung von außen, nur sehr selten, und auch alsdann meistens nur sehr flüchtig denkt, und in dem warmen Lebensgefühl, worin er wie in seinem wahren Element webt und strebt, sich eines so fremdartigen Gedankens gar bald wieder entledigt.“ (S. 340)
Aber, wie gesagt, all das sollte nicht sonderlich beunruhigen, denn die Vorstellung von der fortdauernden Persönlichkeit nach dem Tode ist überhaupt nicht notwendig anzunehmen. Im Gegenteil, das ewige Leben der Seele könnte gänzlich geleugnet werden (S. 340 f.).153 In dem Falle, meint Wilibald in Rückgriff auf sadEn passant versichernd, dass es zunächst nicht darum gehe, „das ewige Leben unsers Geistes läugnen“ zu wollen (ebd.). Denn nicht den Satz von der Unsterblichkeit der Seele habe er bestritten, sondern nur gezeigt, dass die christliche Auffassung der Seele die gleichen Verhältnisse fürs Jen153
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duzäische Positionen, gewönne das diesseitige, wenn ihm kein jenseitiges folge, sogar noch an „Humanität und ächtem Lebensgenuß“. Verzichtete man wie die Sadduzäer völlig auf die Auferstehung (Mk 12,18–27, Lk 20,27, Apg 23,6–8, Ios. ant. Iud. 18,16) und endzeitliche Vergeltung, d. h. leugnete man die Unsterblichkeit der Seele, und nähme man eine göttliche Vergeltung bereits im Diesseits an, dann käme das allen zugute, indem es den Akzent auf das eigenverantwortliche Handeln legte (S. 341). (Wieland mag hier Pierre Bayles Ausführungen im Dictionnaire historique et critique und in den Pens)es diverses sur la com(te de 1680 im Blick gehabt haben.154) Davon gelte es aber alle von Grund auf verdorbenen Menschen auszuklammern. Denn für diese ist weder dieses noch jenes noch irgend ein anderes mehr als gleichgültig. Sie sind gleichsam moralisch indifferent. Für alle anderen gelte aber: Wenn man annimmt, dass der „Tod die letzte Linie und das eigentliche Ende [d]es Menschenlebens“ ist, alle Verhältnisse des Diesseits auflöst, dann werden die Menschen ihr Dasein und ihre Verhältnisse bewusster und intensiver gestalten. Das Gegenteil gilt unter der Voraussetzung, dass nach dem endlichen Dasein noch eine Ewigkeit folge. Im ersten Fall würden wir Menschen „milder, menschlicher, mitleidiger und nachsichtlicher gegen andere, und vornehmlich weit zarter, aufmerksamer und behutsamer in unserm Benehmen gegen diejenigen seyn, mit denen wir durch engere Bande der Freundschaft und Liebe zusammenhangen.“155 Unschwer lässt sich in Wilibalds sadduzäischer Hypothese diejenige ausmachen, der Wielands Sympathie gilt.156 Wenn anders noch sinnvoll von ,Unsterblichkeit" gesprochen wird – und hier nimmt er einen der platonischen Unsterblichkeitsbegriffe auf157 –, dann nur von der seitige behauptet wie fürs Diesseitige. „Aber wer bürgt uns für die Wahrheit dieser Voraussetzung.“ Weder lässt sich beweisen, dass die Seele wie im Irdischen so auch im Überirdischen eines Körpers bedarf, noch daß es kein Seelenorgan gebe (ebd., 346 f.). 154 Vgl. Michael Czelinski-Uesbeck, Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland, Würzburg 2007, 100–115. 155 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 343. 156 Das erste Gespräch der Euthanasia kreist um den gleich dem ungläubigen Thomas nach Gewissheit der Unsterblichkeit ringenden Wötzel (ebd., 263, 271, 274, 282). Damit wird Wieland gewissermaßen wieder auf die Anfänge seiner intellektuellen Biographie zurückverwiesen. Damals meinte er, gleich dem ,ungläubigen Thomas" „dem Kopf nach ein Freydenker und im Hertzen der tugendhafteste Mann“, in der Gefahr zu stehen, sich kläglich „im finstern Gebäu sadducäischer Träume“ (Klopstock, Der Messias 3, 267) zu verlieren (Wieland an Johann Jakob Bodmer, Tübingen, 6. März 1752, in: WBr 1 [wie Anm. 28], 45–52, hier 52). In seiner, heute im Wieland-Archiv Biberach aufbewahrten Messias-Ausgabe notierte Wieland auf der Seite 81, über dem Namen „Thomas“, seine Initialen „C. M. W.“ (vgl. Blasig, Die religiöse Entwicklung [wie Anm. 33], 144, und Heinrich Bock, Wielands religiöse Entwicklung, in: ders., „Einen oder zween Sparren zuviel“. Biberacher Wieland-Vorträge, hg. vom Wieland-Museum der Stadt Biberach an der Riß, Eggingen 2006, 99–122, hier 106). 157 Platon unterschied bekanntlich drei Arten von Unsterblichkeit, die durch die fortzeugende Kindschaft (biologisch), die durch forterbenden Nachruhm (geistig) und die durch die Fortdauer der
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Unsterblichkeit […] im Andenken unsrer Freunde und Zeitgenossen, – und da auch diese so vergänglich sind wie wir selbst – im Gedächtniß und in der Achtung einer nie aussterbenden Nachwelt fort zu leben; noch geliebt zu seyn, noch zu nützen, wenn wir nicht mehr sind, und durch das was wir Schönes, Gutes und Großes im Leben gewirkt, auch nach unserm Tode, noch Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, unter ihnen fort zu wirken. (S. 344)
Bereits im Januar 1795, gelegentlich einer Unterredung mit Böttiger, kam Wieland auf diese Art von Unsterblichkeit zu sprechen, die er durch die Nachgeborenen bei der Lektüre seiner Werke erfährt. „[D]ieser gewissen Unsterblichkeit“ freue er sich um so mehr, da die andere nur geglaubt werden könne, „und ich weiß nichts davon.“158 Dennoch wünschte er sich von Herzen, irgend jemand wollte ihm „für das Gegentheil von Wilibalds Behauptungen – nicht einmahl stärkere, sondern nur gleich starke Gründe vorlegen […], wie höchlich würde ich ihm verbunden seyn!!“159 Möglicherweise hat der Verstorbene, dessen Leistungen im Andenken bei den Hinterbliebenen fortwirken, selbst keinen ,Gewinn und Genuss" mehr davon, entweder, weil es keine postmortale Existenz gibt, oder aber, weil zwischen Diesund Jenseits keine Verbindungen existieren. Gleich, welche Gründe transzendenten ,Gewinn und Genuss" hindern, aus dem ,lebendigen Vorgefühl" seines über die eigene diesseitige Existenz hinaus fortwirkenden Handelns erwächst ihm bereits im Diesseits „ein moralischer Genuß“. Das Fortleben im Andenken der Nachwelt führt das „Leben in der Mitwelt“ fort, stiftet, erhält und sichert mit ihrer Einheit von Mit- und Nachwelt die fortdauernde Existenz der Persönlichkeit im eigentlichsten Sinne.160 Es ist dies die einzige Art von Unsterblichkeit, über die der Mensch selbst etwas vermag, weil sie ein fortwährendes „Leben im Herzen der Nachwelt“ stiftet. Die andere, die ,christliche Unsterblichkeit", sei vielmehr eine chimärische Einbildung, gegen die noch dazu „deren reelle Schädlichkeit“ spreche.161 Nichts werde man vom Jenseitigen erwarten können, alles aber von der Nachwelt.162 Die Religion, das „Palladium der Menschheit“,163 das „PalladiSeele. Vgl. Platon, Phaidros 276e, Nomoi 721b, Symposion 206d–207a, 208b–209d. Auch die Bibel kennt das Weiterleben im erinnernden Gedenken, vgl. Jer 11,19, Hiob 18,17. 158 Böttiger, Literarische Zustände (wie Anm. 36), 144. 159 Wieland an Elisabeth Charlotte Ferdinande zu Solms-Laubach, Weimar, 26. Oktober 1807, in: WBr 17.1 (wie Anm. 28), 263–266, hier 265. 160 Wieland, Über das Fortleben (wie Anm. 3), 374–382, hier 379 f. 161 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 344. Vgl. auch ders., Über das Fortleben (wie Anm. 3), 374–382, hier 378. 162 In seiner Logenrede Wie verhält sich das Ideal der Freimaurerei zu ihrer dermaligen Beschaffenheit, und was ist in dieser Rücksicht die Obliegenheit der Gesammtheit derselben sowohl als ihrer einzelnen Glieder? betont Wieland aufs Neue, dass menschliche Seelen „an ein bedingtes Dasein gebundene[] geistige[] Wesen [sind], die nur in Raum und Zeit leben, weben und wirken können [Apg 17, 28], aber eben darum, weil sie der göttlichen Natur theilhaftig worden, in immer
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um aller bürgerlichen Gesellschaft“164 bzw. „die reinste, höchste Humanität“,165 bedürfe keiner „stützenden Rohrstäbe“ wie der ,Unsterblichkeit der Seele". Wielands Theismus ist Prohumanismus. Ihm widerstreben Aberglauben, Schwärmerei, Magie, Dämonismus und Mönchswesen ebenso wie diese Art Unsterblichkeitsglaube.166 Nächstdem wendet sich Wilibald gegen die Behauptung, es sei dem Menschen natürlich, ein Wissen vom Tod und was auf ihn folgt zu haben. Das sei eine jener „vielen erkünstelten Begierden, die uns durch die Erziehung, und überhaupt durch den Einfluss der bürgerlichen Gesellschaft, worin wir leben, eingepflanzt werden.“167 Man könne ruhig, heiter und frohgemut dem Tod entgegensehen, wie einst Sokrates im „Bewußtseyn [s]eines wohlgeführten Lebens“.168 Dieses Bewusstsein steht in der Gewalt des Menschen und berechtigt ihn „bis zum letzten Atemzug, das Beste [zu] hoffen.“ Im Sterben senkt sich, so die Lehre der alten Griechen von der Euthanasia, die „Seele […], wie ein Kind in den Busen der Mutter, mit voller Zuversicht in den Schooß des Unendlichen, und schlummert
weiteren Kreisen und mit immer wachsenden Kräften ewig zu leben und zu wirken geeignet sind.“ Vgl. auch Wieland, Agathodämon (wie Anm. 109), 471–473 (= Agathodämons ,Gott"). Sie sind, idealiter gesprochen, „Abspiegelung des Unendlichen im Endlichen“, von dem sich allerdings, paulinisch gesprochen, nur töricht reden lässt (1 Kor 1,21, 27, 3,16). Als Ideal ist das Unendliche unaussprechlich (in: AA I/20 [wie Anm. 3], 366–373, hier 368 f.). Bereits in seinem Plan einer Academie zu Bildung des Verstandes und des Herzens junger Leute (1758) hatte Wieland gefordert, dass von den eigentlichen Glaubensartikeln als den Geheimnissen nur in „Worten der Schrift“ geredet werden dürfe (in: AA I/4 [wie Anm. 39], 183–206, hier 195). – Seit den 1790er Jahren sympathisierte Wieland mit der materialistischen Seelenauffassung des Lukrez (Böttiger, Literarische Zustände [wie Anm. 36], 136). 163 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 345. 164 Wieland, Antworten und Gegenfragen (wie Anm. 118), 336. 165 Vgl. Horst Thom1, Religion und Aufklärung in Wielands ,Agathodämon". Zu Problemen der ,kulturellen Semantik" um 1800, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990), 93–122, hier 105, 110, 118. 166 Wieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 345. 167 Analog lässt Abulfaouaris seinen ,Hermes" eine Religion stiften, die aus einem „politischen Gesichtspuncte“ betrachtet werden müsse, indem sie das Staatswesen ,fester zusammenzöge" und „durch den Glauben einer herrlichen Belohnung der Tugend und einer strengen Bestrafung des Lasters nach dem Tode der Unzulänglichkeit seiner Gesetze zu Hülfe“ komme (Wieland, Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Erster Theil [1770], in: WOA 9.1 [wie Anm. 4], 166, 16–20). 168 Xenophon, Apologie 3. Wieland hat dabei sicher Ciceros Bemerkungen im Blick, wonach „nur das als Gewinn übrig bleibt, was man sich durch Tugend und edle Handlungen erworben hat“ („tantum remanet, quod virtute et recte factis consecutus sis“; Cicero, Cato 69), und wenn „uns die gütige Natur gleichwohl nur ein kurzes Leben gegeben hat, so doch der Nachruhm eines wohlgeführten Lebens ewig bleibt“ („Brevis a natura vita vobis data est, at memoria bene redditae vitae sempiterna“; Cicero, Philippicae 14, 32). Vgl. auch Horaz, Carmina 3, 30, 1–5, sowie Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800), in: C1r 34 (wie Anm. 106), 24.
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unvermerkt aus einem Leben hinaus, worin sie nie wieder erwachen wird.“169 Das ist es, was die Eleusinischen Mysterien einst lehrten.170 Während bislang das Jenseits Ziel und Richtmaß war, das allem Tun, Lassen und Trachten Sinn gab, das Diesseitige im Vergleich dazu nur eine kurze Vorbereitungs-, Durchgangs- und Bewährungszeit, obgleich soteriologische conditio sine qua non, so doch bar jedweden Eigenwertes, verschob sich jetzt mit der Eliminierung der persönlichen Fortexistenz im Jenseits der Fokus grundlegend auf das Diesseits. Nun ging es nicht mehr darum, das Humane zu transzendieren; der Mensch wurde selbst zur Sinnstiftungsinstanz par excellence. Existentielles sinngebendes Zentrum war nunmehr das Diesseits. Hier wurde gerichtet, belohnt und verdammt, wenn auch oft erst von den Nachgeborenen. Keine extramundane Gerichtsbarkeit flößte mehr Furcht und Schrecken ein oder verhieß wonnige Seligkeit. Die irdische Mit- und Nachwelt gaben die Jurisdiktion ab. Damit hat Wieland das von ihm lange Zeit geteilte deistische, ins Transzendente weisende Unsterblichkeitspostulat ins Diesseits hereingeholt und geschichtsphilosophisch-memorial reformuliert. Nicht mehr die probantia dicta der Heiligen Schrift, sondern die Selbsterkenntnis wird zur Quelle erklärt, aus der derjenige schöpfen muss, der erfahren will, wer er ist, wer er vor diesem Leben war und was inskünftig, „nach dem Ausgang aus demselben“, aus ihm werden wird.171 Damit hat er nun auch die Position des stoisch aufgefassten Deismus verlassen und sich dem epikuräischen Verständnis geöffnet, ohne es sich jedoch konsequent zu eigen zu machen.
VI. Wielands Grundlegung der Christlichen Religion fasste ein Dezennium umtriebiger Suche nach religiös-weltanschaulicher Orientierung zusammen. Der AnWieland, Euthanasia (wie Anm. 142), 356 f. Cicero, Nomoi 2, 14, 36: „Nam mihi cum multa eximia divinaque videntur athenae tuae peperisse atque in vitam hominum attulisse, tum nihil melius illis mysteriis, quibus ex agresti immanique vita exculti ad humanitatem et mitigati sumus, initiaque ut appellantur ita re vera principia vitae cognovimus, neque solum cum laetitia vivendi rationem accepimus, sed etiam cum spe meliore moriendi“ (,Denn dein Athen scheint mir viel Hervorragendes und Göttliches erzeugt und in das Leben der Menschen hineingebracht zu haben, vor allem aber jene unübertrefflichen Mysterien, durch die wir uns aus einem primitiven und ungesitteten Leben zur Menschlichkeit fortentwickelt und verfeinert, die Anfänge, wie es heißt, in Wirklichkeit aber die Grundlagen des Lebens kennengelernt und die Möglichkeit nicht nur eines Lebens in Freude, sondern auch eines Sterbens in der Hoffnung auf ein besseres Leben bekommen haben"). Vgl. Wieland, Über das Fortleben (wie Anm. 3), 374–382, hier 377, sowie ders., Antworten und Gegenfragen (wie Anm. 118), 321 f., und ders., Göttergespräche, in: C1r 25 (wie Anm. 106), 5–276, hier 128. 171 Wieland, Über das Fortleben (wie Anm. 3), 374–382, hier 376. Vgl. ders., Agathodämon (wie Anm. 109), 319 ff. 169
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nahme und Begründung der ,Unsterblichkeit der Seele" war darin eine zentrale Rolle zugewiesen. Unterstellt wurde, daß das Jenseitige reiner und vollkommener als das Diesseits,172 dass das Diesseits eine kurze Vorbereitungs- und Bewährungszeit sei, mithin ihren Wert allein als Vorstufe vom Transzendenten erhält. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde vieles brüchig, manches verworfen, anderes behalten. Der missionarische Eifer verlor sich zusehends und machte toleranzgesättigten Sichtweisen Platz. Rückblickend schreibt er über die Zeit seiner religiös-weltanschaulichen Metamorphose bzw. „Wiederherstellung“: Mit meinem Übergang aus der Platonischen Schwärmerey zur Mystischen (ao 1755.56) und mit meinem Herabsteig aus den Wolcken auf die Erde gieng es sehr natürlich u gradatim. Mein Cyrus [entstanden 1757–1759] u meine Panthea u Araspes [entst. 1756–1760] waren die erste Frucht der Wiederherstellung meiner Seele in ihre natürliche Lage.173
Aufschlussreich für seine sich wandelnde Einstellung ist eine Ende 1758 gemachte Einlassung Wielands. In einem Brief an Zimmermann fragt er diesen: Haben Sie die Basiliade würklich nicht gelesen? Es scheint, weil sie in der Meynung stehen, der Verfasser derselben schildre eine glükliche Nation ohne Religion und Gesetze. […] Es ist eine Art von Histoire de Severambes oder Utopia; aber die Ausführung macht es neu. Es enthält eine severe Critik der Civil und Staatsgesetze aller policierten Nationen. Der Autor giebt seinem Volke nichts als die Natürliche Religion und eine mit den Gesetzen der Natur harmonische Unschuld und Güte. Wenn die unverderbte Natur schön und gut ist, So sind Zeinzemin und seine Nation liebenswürdig. Warum haben doch die besten Bücher das Unglük so schlecht gelesen und aus einem falschen point de vüe beurtheilt zu werden? Ihre Frage, Mein Freund, hätten Sie, mit Ihrer Erlaubnis so bestimmen sollen: Sollten wir wol ohne einen äusserlichen Gottesdienst und ohne positive CivilGesetze leben können? Nein, antworte ich, so lange wir so sind, wie wir sind. Aber die Iroquoisen, oder die ehmaligen Bewohner der deutschen Wildniße lebten ohne beydes in vielen Stücken nicht so unglüklich, in vielen glüklicher als wir, wie Sie wissen. Es ist gut, wenn man uns lebhafte Gemählde von der Seligkeit macht, welche wir genießen würden, wenn wir der Stimme der Natur und den Vorschriften der gesunden Vernunft gemäß lebten. Es ist nicht minder gut und in vielen )gards heilsam, wenn von Zeit zu Zeit Schriftsteller auftreten, die alle Vorurtheile Das irdische Leben sei ein „Thal der Todesschatten“, das es bis zur ,Stunde des Übergangs" zu durchwandern gelte (Wieland, Gebet eines Christen [wie Anm. 69], 192–196, hier 196, 4 f.). 173 Wieland an Leonhard Meister, Weimar, 28. Dezember 1787, zit. nach: Frank Zöllner, Zwei Briefe Christoph Martin Wielands an Leonhard Meister. Nachträge zu ,Wielands Briefwechsel", in: Wieland-Studien 8 (2013), 301–310, hier 306. Die ,Metamorphose" ist wohl in den Jahren 1757/58 anzusetzen, vgl. Wieland an Geßner, Biberach, 18. September 1766, in: WBr 3 (wie Anm. 28), 416–419, hier 417: „vor acht oder mehreren Jahren“, aber auch Wieland an Johann Georg Zimmermann, Zürich, 17. April 1758, in: WBr 1, 331–334, hier 333: „Voila bien de changemens, mais qui ont 1t1 amen1 par des degr1s presque imperceptibles.“ Vgl. ders. an dens., Biberach, 8. November 1762, in: WBr 2, 129: „Non sum qualis eram“ [Horaz, Carminae 4, 1, 3]. Vgl. auch ders. an dens., Zürich, 26. April 1759, in: WBr 1, 430–432, hier 430: „le voile tombera“. 172
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chocquieren, ob es gleich Vorurtheile giebt, die man überhaupt menagieren soll. Die Freyheit der Philosophen und Schriftsteller muß uneingeschränkt seyn, wenn sie nur die allgemeinen Grundsätze der Religion und Moral, worinn alle Völker von jeher übereingestimmet, ungekränkt lassen.174
Die Vollendung seiner Metamorphose liegt in Biberach.175 1764 bekennt er offen, über das Christentum wie Montesquieu auf seinem Totenbett,176 über falsche Weisheit fanatischer Geister und falsche Tugenden von Betrügern wie Lukian, über die spekulative Moral wie Helvetius und über Metaphysik – überhaupt nichts zu denken, sondern nur spotten zu können. Zugleich gesteht er, die platonischesoterische Lehre von der Präexistenz der Seele verabschiedet zu haben. Denn er sei gezwungen gewesen, entweder seinen Platonismus zu korrigieren oder sich in irgendeine verlassene Gegend von Tirol zurückzuziehen. Die Erfahrung habe ihm eine Illusion nach der anderen geraubt, bis er sich schließlich auf ebener Erde wiederfand.177 Die ,Unsterblichkeit", zunächst eine der unzweifelhaft ,gewissen religiösen Wahrheiten",178 ließ Wieland bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts unangetastet. Zu wichtig war ihm das moralische Wesen des Menschen, als dass er die ,Unsterblichkeit der Seele" infrage gestellt hätte. Gleichwohl erwog er hin und wieder diese Möglichkeit: „Warum nicht, wie ein gesättigter Gast von der Tafel der Natur aufstehen und sich schlafen legen?“179 Erst im letzten Lebensjahrzehnt rang er sich dazu durch, ihr nur noch Wahrscheinlichkeit zu attestieren. Sie war ihm aber Anlass, über eine andere, gewissere ,Unsterblichkeit" nachzudenken, Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt. Damit verabschiedete er die sog. ,Realunsterblichkeit" und ersetzte sie durch die
Wieland an Johann Georg Zimmermann, Zürich, 8. November 1758, in: WBr 1 (wie Anm. 28), 377–382, hier 380 f. 175 Wieland an Zimmermann, Biberach, 8. November 1762, in: WBr 3 (wie Anm. 28), 129–131, hier 130: „[C]!1toit principalement la suite de desastres, de peines et de miseres qui m!a poursuivi depuis mon retour dans ma vilaine patrie“. 176 „Ich habe immer die Religion geachtet; die Moral des Evangeliums ist etwas Ausgezeichnetes und das schönste Geschenk, das Gott den Menschen machen konnte“ (Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Herrn De Montesquieu zum Lobe. Gedenkrede Maupertuis! auf Montesquieu vom 5. Juni 1755, in: Montesquieu. Franzose – Europäer – Weltbürger, hg. von Effi Böhlke und &tienne FranÅois, Berlin 2005, 203–217, hier 217, Anm.). 177 Wieland an Julie von Bondeli, Biberach, 16. Juli 1764, in: WBr 3 (wie Anm. 28), 289–291, hier 289. 178 Wieland, Grundlegung der Christlichen Religion (wie Anm. 39), 604. 179 Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (wie Anm. 168), 106. 174
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sogenannte nominale Unsterblichkeit, d. h. die des Namens und seines Nachruhms und die ,papierne Unsterblichkeit".180 Möglich wurde das durch Wielands Bruch mit der pietistisch tingierten lutherisch-orthodoxen Dogmatik und den Anschluss an den Deismus shaftesburyscher Prägung. Damit lässt er zugleich die mit der an die persönliche Fortexistenz geknüpfte individuelle Gnadens- und Fortschrittsgewissheit zurück. Bis dahin waren die Psychologie bzw. Pneumatologie und damit die Anthropologie sowie die ,irdische Haushaltung" aufgefangen und eingebettet in ein umfassendes dogmatisches soteriologisches System.181 Dieses wird mit der Preisgabe der persönlichen Fortexistenz ihrer transzendenten Verankerung beraubt und die Anthropologie aus der soteriologischen Umklammerung befreit. An die Stelle der transzendenten Fortexistenz tritt die Möglichkeit einer diesseitigen, und zwar stets nur nach Maßgabe – sieht man einmal von der natürlichen Fortexistenz in den Nachkommen ab – des rühmens-, aber auch verabscheuenswerten Beitrags zur Vervollkommnung bzw. Verschlechterung der Gesellschaft bzw. der menschlichen Gattung. Damit verkehrt sich der Sinnstiftungsvektor fundamental: Die persönliche Fortexistenz wird immanent, nicht mehr transzendent begründet, die menschliche Existenz gleichsam ,umgepolt"und zum Zwecke der Humanisierung der Gesellschaft auf das Diesseits verpflichtet.182 Art. Unsterblichkeit, in: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, hg. von Wilhelm Traugott Krug, Bd. 4, Leipzig 21832, 311–316, hier 313. 181 Der Mensch ist in Anbetracht dessen, was seine Bestimmung zur Ewigkeit anlangt, auf der Erde „noch unvollendet“, ein „blosser Embryon“ (Wieland, Betrachtungen über den Menschen [1755], in: AA I/2 [wie Anm. 1], 277–295, hier 280, 29–31). Der Mensch dürfe sein diesseitiges Leben „nie anders als im Verhältnis mit dem Künftigen ansehen […], von welchem es erst seinen Werth und wahre Realität erhält“; es sei bloßes „Vorspiel des himmlischen“ (ebd., 293, 16–18, 294, 29 f.). 182 Wielands Neukonturie des Unsterblichkeitsglaubens wurde in den kommenden Jahrzehnten kontrovers diskutiert, u. a. Immortel Letromi [i. e. Christian Gotthold Anton], Lethe. Versuch einiger Grundlinien zur Untersuchung von der Fortdauer und dem Zustande des Menschen nach dem Tode. Mit Bemerkungen über einige Schriften verwandten Inhalts besonders über Wielands Euthanasia, Halle 1806; Christoph Friedrich Trauz, Versuch einer Rechtfertigung des Glaubens an die Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode mit besonderer Rücksicht auf die in Wielands Euthanasia dagegen erhobene Zweifel, Tübingen 1807; Jacques-Henri Meister, Euthanasie ou mes derniers entretiens avec elle sur l!immortalit1 de l!(me, Paris 1809; Heinrich Cornelius Hecker, Bemerkungen über Wielands Euthanasia, zur Beruhigung für diejenigen, welchen die Hofnung eines künftigen Lebens und der Vereinigung mit den Ihrigen theuer und wichtig ist, Leipzig 1810; ders., Neue Euthanasia. Zur Beruhigung für diejenigen, welchen die Hoffnung eines künftigen Lebens und der Vereinigung mit den Ihrigen theuer und wichtig ist, Leipzig 1817; Bernard Bolzano, Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele, Sulzbach 1827; Heinrich Christoph Krause, Euthanatos, oder der Tod von seiner Lichtseite betrachtet, in Briefen. Ein Trostbuch für Die, welche an den Gräbern ihrer Lieben weinen oder vor dem eignen Grabe erbeben, Neustadt an der Orla 1831; Die neue Unsterblichkeitslehre. Gespräch einer Abendgesellschaft, als Supplement zu Wieland!s Eu180
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Wielands Beschäftigung mit dem Thema ,Unsterblichkeit", seinen Begründungsweisen, -methoden und -motivationen war eine lebenslange. Das intensive Nachdenken über Leben und Tod kulminierte früh schon in einer christlichen Anthropologie. In ihr kam der ,Unsterblichkeit"-Konzeption zentrale Bedeutung zu. Sie war als Versprechen und als Drohung zusammen mit der ,künftigen Vergeltung" konstitutiv für die Moralität. Denn die Verklammerung von Tat und Schicksal, Belohnung und Bestrafung, Genugtuung und Vergeltung schienen geschichtsimmanent nicht denkbar. Seit den 1760er Jahren wandelte sich Wielands Auffassung. Am Ende seines Lebens hat Wieland nicht nur die transzendente Moralbegründung verabschiedet, sondern auch das dafür herangezogene christliche Unsterblichkeitsdogma. For Wieland, the issue of immortality, and the ways, methods, and motivations of reasoning about it, was a lifelong occupation. Thinking intensely about life and death led him early to develope a Christian anthropology in which immortality took on a central significance. Being promise as well as threat, immortality together with future vengeance constituted morality, because the connection of deed and fate, reward and punishment could not be resolved within earthly time. But in the 1760 s Wieland!s concept began to change. At the end of his life, Wieland did not only abandon any transcendental foundation of morals, but also gave up on the Christian dogma of immortality which he had used earlier to legitimate his Christianity-based moral concept. Dr. Hans-Peter Nowitzki, Wieland-Forschungszentrum, Wielandstraße 16, D-99510 Oßmannstedt, E-Mail: [email protected]
thanasia, hg. von Friedrich Richter, Breslau 1833. Zu weiteren polemischen und sachlichen Wortmeldungen vgl. Anonymus, Pnevmatologie und Athanatologie, in: Neue Leipziger Literaturzeitung, 17. und 18. Stück (5. und 7. Februar 1806), Sp. 257–275. Vielen war Wieland nun ein ,Materialist" wie Montesquieu und Lichtenberg (Amadeus Wießner, Lehre und Glaube der vorchristlichen Welt an Seelenfortdauer und Unsterblichkeit; mit besonderer Rücksicht auf das alte Testament. Historisch-kritisch-exegetisch dargestellt und die Gründe der neuern Philosophie angefügt, Leipzig 1821, 11 und 247 f.). Als ,Anhänger Epikurs habe er die Absicht verfolgt, „die Unsterblichkeit zweifelhaft zu machen, und wohl gar sie als unwahrscheinlich und den Glauben an dieselbe als beunruhigend und moralischschädlich darzustellen, übrigens den Grundsatz geltend zu machen: Gut leben und das beste hoffen. Immer wehte der Geist der Aristippe und Epikure in seinen Schriften, der Geist des Plato würde ihnen einen höheren Reiz geschenkt haben“ (Carl Friedrich Stäudlin, Lehrbuch der Dogmatik und Dogmengeschichte, Göttingen 31809, 433–435). Andere ziehen ihn als ,philosophischen Deisten", einen, der die Idee der unsterblichen Seele bis zur Unkenntlichkeit vergeistige: „Denn dieser zieht ihr nicht bloß das grobe, ihre natürliche Schönheit zu sehr verhüllende Gewand, worein der buchstäbliche Glaube an die Auferstehung des Fleisches sie kleidet, sondern auch das zarte Hautgewebe ab, in dessen plastischen Formen ihr übersinnliches Wesen sinnbildlich, (wie in der Physiognomie der Geist) sich offenbart. Und die so skalpirte Gestalt dieser Idee sollen wir nun für die wahre, wohl gar für schön halten, wenigstens vor ihr nicht kindisch erschrecken“ (Trauz, Versuch einer Rechtfertigung des Glaubens, 5 f.).
Malte van Spankeren Der Unsterblichkeitsdiskurs der Neologie als Instrument theologischer Modernisierung (1748–1766)
I. Unsterblichkeitshoffnung als Kontingenzbewältigung, oder: Einleitung Das Glück […] ist unschätzbar, eine Zuflucht bey Gott zu haben […,] auf eine selige Unsterblichkeit zu hoffen, weil durch diese Überzeugung eine jede Empfindung des Kummers erleichtert, und eine jede besorgliche Vorstellung aufgeheitert wird. […] So findet also das Herz Ruhe; die Plagen endigen sich, und die Ewigkeit bietet uns eine überschwängliche Vergütung dar. Welche Drangsal ist wohl so schwer, die bey einem solchen Glauben dem Christen nicht erträglich werden sollte!1
Der Optimismus, der aus diesen Zeilen spricht, ist repräsentativ für die protestantische Aufklärungstheologie, die in Ermangelung eines präziseren Terminus „Neologie“ genannt wird, und die seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend die Kanzeln und Katheder im deutschsprachigen Raum für sich einzunehmen wußte. Diese Worte stammen von dem bekanntesten lutherischen Aufklärungstheologen, Johann Joachim Spalding.2 Mit ihnen fasst er neologische Neuakzentuierungen der klassischen Unsterblichkeitslehre zusammen. Spalding, geboren 1714 und 90-jährig verstorben, spricht der Unsterblichkeitslehre unter anderem die Funktion zu, angesichts persönlicher Schicksalsschläge Kummer zu lindern, Trost zu spenden und Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung zu stiften. In seiner Trauerpredigt auf den 1767 überraschend verstorbenen Heinrich von Preußen, der ursprünglich als Thronfolger Friedrichs des Großen ausersehen war, verdeutlicht Spalding eine weitere Funktion der Unsterblichkeitslehre und funktionalisiert dafür das Schicksal des mit zwanzig Jahren verstorbenen Neffen Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe, hg. von Albrecht Beutel u. a., Tübingen 2001–2013 (im Folgenden: SpKA), 2. Abt.: Predigten, Bd. 4: Predigten, größtentheils bei außergewöhnlichen Fällen gehalten, hg. von Malte van Spankeren und Christian Elmo Wolff, Tübingen 2011, 101 f. 2 Zu Spalding siehe die grundlegende Biographie von Albrecht Beutel, Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2014. Dort finden sich auch weitere ausführliche Literaturhinweise zu Spalding. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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Friedrichs: „Wir erwarteten von ihm noch so viel; wir versprachen ihn noch auf eine so lange Zeit unsern Kindern und Enkeln, als einen Segen. Das waren unsere Gedanken, aber nicht Gottes.“3 Daraus leitet Spalding einen für alle menschlichen Pläne geltenden Vorbehalt ab: „So dachten wir, aber Gott dachte anders“.4 Gerade angesichts eines solch prominenten Schicksals gewinnt der Glaube an eine persönliche Unsterblichkeit der Seele zusätzliche Relevanz. Als lebenspraktische Hilfestellung zur Kontingenzbewältigung soll die Unsterblichkeitslehre deshalb gelehrt und weiter popularisiert werden. Bedeutung hat sie für die Aufklärungstheologie nicht mehr aufgrund ihrer theologischen Tradition, sondern weil sie praktisch von hohem Nutzen ist. Die Frage nach der Nutzbarkeit – ein „Modethema der Aufklärungszeit“5 – entscheidet über die Relevanz dieser Lehre. Die hier zu konstatierende theologiegeschichtliche Akzentverschiebung innerhalb der Unsterblichkeitslehre ist durch eine um die Jahrhundertmitte wachsende Christentumskritik mit initialisiert worden. Durch die Pariser Materialisten und zumal durch ihre Kritik an der Auffassung einer unsterblichen Seele geriet die Theologie insgesamt unter Druck. Angesichts dieser Herausforderung formulierte die Neologie eine Antwort, welche den christlichen Zeitgenossen vernünftig und in moralischer Hinsicht praktikabel erscheinen sollte. Dabei waren sie bestrebt, eine gleichermaßen „traditions- wie zeitgemäße Verbindung von Glaubensüberlieferung und modernem Bewußtsein“6 zu finden. Ihr sollte für die Durchsetzung des theologischen Programms der Neologie eine Hebelfunktion zukommen: Denn die Kritiken eines La Mettrie und Holbach wurden zum Anlass genommen, um eine neologisch geprägte Neuakzentuierung der Unsterblichkeitslehre zu popularisieren. Diese zeichnet sich durch die Vereinbarkeit von Vernunft und Gefühl ebenso aus wie durch eine optimistische Sicht des Menschen, dessen irdisches Ziel in einer diesseitigen Glückseligkeit avisiert wird, welche freilich durch die Aussicht auf eine jenseitige, ewige Glückseligkeit noch transzendiert wird. II. Aufbau Die Popularisierung neologischen Gedankenguts, die seit 1748 durch prominente Kirchenmänner und Universitätslehrer erfolgte und bis in die Mitte der 1780er Jahre benötigte, um zur dominierenden Variante protestantischer Theologie zu werden, wurde einerseits durch die vorwiegend aus Frankreich stammende Kritik Johann Joachim Spalding, Predigt auf das Absterben des Prinzen Friedrich Heinrich Carl, von Preussen, in: SpKA II/4, 66–85, hier 75. 4 Ebd., 71. 5 Beutel, Spalding (wie Anm. 2), 3. 6 Ebd., 16. 3
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an der Lehre von einer unsterblichen Seele motiviert. Andererseits musste sich die Neologie auch innerhalb des Protestantismus gegen die zeitgenössischen Vertreter der sogenannten Orthodoxie auf der einen wie des Pietismus auf der anderen Seite durchsetzen. Diese innerprotestantischen Revierstreitigkeiten sollen unter III. kurz beschrieben werden, bevor unter IV. einige theologiehistorische Schlaglichter auf die klassische Unsterblichkeitslehre im Christentum geworfen werden. Unter V. sollen kurz quellenkritische Erörterungen, unter anderem hinsichtlich der Repräsentativität der anschließend zu präsentierenden Theologen Spalding und Johann August Nösselt und ihrer Aussagen zur Unsterblichkeit erfolgen. Zum Schluss wird achtens ein kritisches Fazit gezogen. Ziel des Beitrags ist es somit einerseits, die Grundgedanken der neologischen Unsterblichkeitslehre darzustellen und davon ausgehend vertiefend aufzuzeigen, wie in traditionsprägender Weise die lebenspraktischen Bezüge dieser klassischen christlichen Glaubensvorstellung durch die Aufklärungstheologen herausgearbeitet wurden.
III. Neologische Unsterblichkeitskonzeption und innerprotestantische Revierstreitigkeiten Die seit der Jahrhundertmitte sich entfaltende Neologie sollte sich mittelfristig zur erfolgreichsten Variante protestantischer Theologie im 18. Jahrhundert entwickeln. Diese war als Ganze seit der Jahrhundertmitte unter Rechtfertigungsdruck geraten, denn die Kritiken eines La Mettrie oder Holbach hatten für einige Beunruhigung sowohl unter Theologen wie einfachen Kirchgängern gesorgt. Die von den Neologen „gröbere Atheisten“ genannten Christentumskritiker hatten mit ihren Schriften wie Der Mensch als Maschine (1748) oder dem System der Natur (1770) eine Debatte über Seele und Unsterblichkeit angestoßen, die mit einigem Recht Unsterblichkeitsdiskurs genannt werden kann.7 Indem die Neologie auf diese als Fundamentalkritik am Christentum empfundene Bezweiflung einer unsterblichen Seele reagierte und eine ihrer Ansicht nach vernunftgemäße Antwort darauf formulierte, zielte sie freilich weniger auf die „gröbern Atheisten“. Primär wollten die Neologen durch eine die moralische Komponente der Unsterblichkeitslehre ebenso wie deren gesellschaftlichen Nutzen betonende Konzeption innerhalb der protestantischen Theologie die Vorherrschaft erlangen. Denn die Neologie stand seit ihrem Beginn vor der innerprotestantischen Herausforderung, sich zum einen von den Vertretern der sogenannten Orthodoxie, die immer noch die wichtigsten kirchlichen und akademischen PoAllein zwischen 1751 und 1758 erschienen 54 selbständige Schriften zu diesem Thema im deutschsprachigen Bereich. Vgl. Malte van Spankeren, Johann August Nösselt. Ein Theologe der Aufklärung (1734–1807), Halle 2012 (Hallesche Forschungen 31), 69. 7
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sitionen besetzten, abzugrenzen. Zum andern galt es, sich von den Pietisten öffentlichkeitswirksam zu distanzieren. Zwischen diesen beiden protestantischen Flügeln bewegten sich Neologen wie Spalding und Nösselt. Wie wichtig diese Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Pietisten den Neologen war, zeigt z. B. Spaldings 1761 erschienene Schrift Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum. In dieser Schrift, die bis 1784 vier Folgeauflagen erlebte, setzte Spalding sich ausführlich mit einem von den Mecklenburger Pietisten seiner Heimatregion vertretenen, schwärmerischen Gefühlsbegriff auseinander. Er kritisiert insbesondere, dass diese Pietisten ihre unerklärbaren Gefühle als direkt durch Gott bewirkt ausgeben würden.8 Im Ganzen spiegelt diese Schrift wider, dass die Neologen gewillt waren, den Streit um die theologische Vorherrschaft gegen die Pietisten aktiv zu führen. IV. Die Unsterblichkeitslehre in kirchenhistorischer Hinsicht Die Unsterblichkeitslehre lässt sich als „Überzeugung von der Negation des Sterben-müssens und des Todes als definitive[m] Ende des (menschlichen) Lebens“9 definieren. Der Unsterblichkeitsgedanke kann in gewisser Hinsicht als ein Exportschlager des Christentums angesehen werden. Durch die Auferstehung des jüdischen Rabbis Jesus von Nazareth, mit der sich der Gott des Alten Testaments nachdrücklich zu seinem Sohn bekannt hat, ist die Auferstehung sämtlicher Christen ermöglicht worden. Da das Christentum, anders als seine jüdische Ursprungsquelle, aktive Missionierung betrieb, konnte potentiell jeder, ob Römer oder Barbar, an dieser Unsterblichkeitshoffnung partizipieren.10 Im Neuen Testament wird der Begriff der Seele (Psychä) vorwiegend als Eigenschaft eines Menschen verstanden. Sie wird als Ausgangspunkt des Willens, Fühlens und Denkens aufgefasst und ihr Sitz in der Kehle lokalisiert. Bei Paulus, der den Begriff der Seele nur sehr spärlich verwendet und ihn in der Regel von der
Vgl. Johann Joachim Spalding, Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum, Tübingen 2005 (SpKA I/2). 9 Hartmut Rosenau, Art. Unsterblichkeit, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8 4 ( 2005), 799 f., hier 800. 10 Dabei ist freilich darauf hinzuweisen, dass sich der Begriff der „unsterblichen Seele“ weder im Alten noch im Neuen Testament findet. Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Terminus Seele im Hebräischen (Nefesch und ruach) vom deutschen Begriffsgebrauch differiert und sachgerecht mit Atem/Odem zu übersetzen ist. Diesen Atem hat Gott dem ersten Menschen eingehaucht und ihm damit zum ersten Mal das Leben verliehen. 8
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Erörterung der Auferstehung trennt, findet sich ebenso wenig eine systematische Konzeption der Unsterblichkeitslehre wie im übrigen Neuen Testament.11 In der Reformationszeit wurde auf dem V. Laterankonzil 1513 die individuelle Unsterblichkeit der menschlichen Seele als Glaubensaussage verbindlich festgeschrieben. Dabei wurde behauptet, diese sei nicht nur eine geoffenbarte Lehre, sondern könne auch mithilfe des Verstandes eingesehen werden. Die Seele sei unabhängig vom Leib geschaffen worden und werde diesem dann eingegossen. Dagegen wandte sich Martin Luther und erklärte, die Seele sei zwar von Gott durch seinen Atem und sein Wort eingehaucht worden, entwickle sich dann aber von innen. Dies ließ sich plausibler mit der Vorstellung der erbsündlichen Verstrickung des Menschen vereinbaren, auf welche Luther aufgrund seiner reformatorischen Erkenntnis der Rechtfertigung allein aus Gnade unbedingten Wert legte. In der auf die Reformation folgenden und der Aufklärung vorhergehenden Epoche, die als Zeitalter der Konfessionalisierung bekannt ist, spielte die Frage nach der unsterblichen Seele vor allem im Zusammenhang mit dem Glaubensartikel vom ewigen Leben eine Rolle. Die Unsterblichkeitslehre wurde infolgedessen vor allem deshalb gelehrt, weil sie ein Glaubensartikel war. Gegen eine als zu intellektuell und lebensfern empfundene orthodoxe Tradition entwickelte der Pietismus und namentlich Philipp Jakob Spener das Konzept einer bereits im Leben anzustrebenden geistlichen Wiedergeburt,12 und der von Spener beeinflusste August Hermann Francke behauptete die Unfehlbarkeit der Bibelauslegung durch den Wiedergeborenen. Spalding sollte sich insbesondere von der von vielen Pietisten behaupteten innerlichen Gnadenversicherung einer Vereinigung mit Christus sowie einem vorausgehenden Pochen auf ein datierbares Bekehrungserlebnis deutlich distanzieren, auch weil er darin die Gefahr der Heuchelei erkannte. Diese Traditionsstränge bilden das historische Netz, aus dem sich die Neologie mit ihren Erläuterungen zur Unsterblichkeit emanzipiert hat. Dabei popularisierten Spalding und Nösselt auf unterschiedlichen Wegen eine neologische Unsterblichkeitsvorstellung, welche zukunftsfähiger werden sollte als die Aussagen der Tradition. Während der Hallenser Hochschullehrer Nösselt dabei stärker auf eine Ein Blick auf die patristischen Positionierungen zur Unsterblichkeitslehre zeigt, dass der Glaubensartikel vom „vitam aeternam“ rasch Eingang in die zentralen christlichen Glaubensbekenntnisse wie das Apostolikum fand. Als denkerische Konsequenz der Auferstehung Jesu setzte sich mehrheitlich die Ansicht durch, dass sowohl Leib als auch Seele auferstehen und in der Unsterblichkeit wieder vereint würden. Augustin unterschied traditionsprägend zwischen einem rationalen und einem irrationalen Teil der Seele. 12 Diese durch eifriges Bibelstudium ermöglichte, vollständige innere Umwandlung des Menschen wurde zwar nicht mit der klassischen Unsterblichkeit gleich gesetzt, wohl aber wurden dem wiedergeborenen Pietisten Eigenschaften zugesprochen, welche die durch die Wiedergeburt bewirkte Sonderstellung des „neuen Adam“ betonten. 11
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apologetische Begründung setzte, zeigt sich bei Spalding eine insgesamt raffinierter durchdachte, auf den Zielpunkt der Glückseligkeit ausgerichtete, Konzeption. Damit sind beide freilich repräsentativ für die zwei Hauptumgangsweisen der Aufklärungstheologie mit der Unsterblichkeitslehre. Ihr Hauptverdienst sollte es werden, die lebenspraktische Bedeutung der Unsterblichkeitslehre herauszuarbeiten. V. Quellenkritische Überlegungen Es existiert keine systematisch-zusammenhängende, von den Neologen gemeinsam entwickelte Unsterblichkeitskonzeption, welche in einem neologischen Handbuch der Dogmatik niedergeschrieben worden wäre. Stattdessen finden sich eine Vielzahl von Einzelaussagen neologischer Universitätslehrer und Kirchenmänner zur Unsterblichkeit, welche sich aufs Ganze gesehen darin ähneln, dass die Relevanz der Unsterblichkeitslehre nicht mehr über ihre Dignität als Glaubensartikel, sondern primär lebenspraktisch begründet wird. Im Hintergrund stehen ein bestimmtes Ordnungsdenken sowie eine optimistische Anthropologie. Um die neologische Unsterblichkeitslehre exemplarisch zu erschließen, wurden zwei Neologen ausgewählt und ihre diesbezüglichen Aussagen bis Ende der 1760er Jahre berücksichtigt. Zum einen mit Spalding einer der führenden Aufklärungstheologen, welcher die Neologie von Anfang an geprägt hat. Er war nicht nur höchster lutherischer Kirchenrepräsentant in Preußen, sondern auch ein überaus häufig gelesener theologischer Popularschriftsteller, zu dessen Lesern unter anderem Kant und Goethe zählten.13 Mit seiner 1748 erschienenen Schrift über „[d]ie Bestimmung des Menschen“ sollte er der Neologie einen entscheidenden Gründungsimpuls geben.14 Auch wenn er den Begriff „Unsterblichkeit“ in der ersten seiner insgesamt elf Auflagen dieses Erfolgsbuchs15 noch nicht verwendet hat, zeigt sich in Grundzügen darin seine Unsterblichkeitskonzeption.16 Der neben Spalding vorzustellende Johann August Nösselt dürfte deutlich unbekannter sein, zeitgenössisch zählte er freilich zu den führenden Neologen. Seine Wirkung resultiert hauptsächlich aus seiner gut 50-jährigen Lehrtätigkeit als Ordinarius an der halleschen Friedrichs-Universität, die damals diejenige theologische Fakultät mit den meisten Studenten im deutschsprachigen Bereich war. Er Vgl. Beutel, Spalding (wie Anm. 2), 19. Den Begriff „Thatsache“ hat Spalding als Übersetzung von „matter of fact“ 1756 in den deutschen Wortschatz eingebracht (ebenso die Worte „Selbstsucht“ und „Selbstneigung“); vgl. ebd., 53. 15 Mit Übersetzungen kommt diese Schrift auf 29 Auflagen. 16 Um Erweiterungen und mögliche Schwerpunktverschiebungen zu berücksichtigen, wurde der Gebrauch des Begriffs Unsterblichkeit zusätzlich in Spaldings Schriften und Predigten bis 1767 berücksichtigt. 13
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hat seine zentralen Überlegungen zur Unsterblichkeit in einer 1766 erschienenen Schrift mit dem Titel „Vertheidigung der Wahrheit und Göttlichkeit der Christlichen Religion“ dargelegt, welche sich hoher Popularität unter Studenten erfreute.17 Der Rezipientenkreis beider Theologen umfasst vom Kirchgänger über den Studenten und künftigen Hauslehrer, Pfarrer und Superintendenten auch die adligen Eliten, bis hinauf zur Königin18 und deckt einen Einflussbereich ab, der es berechtigt erscheinen lässt, von einer relevanten zeitgenössischen Breitenwirksamkeit Spaldings und Nösselts auszugehen.
VI. Ordnungswidrigkeit vs. Unsterblichkeit: J. J. Spalding Spaldings Unsterblichkeitslehre soll im Folgenden primär anhand seiner Erfolgsschrift Die Bestimmung des Menschen19 und seinen Predigten untersucht werden. In der Bestimmung des Menschen stellt Spalding zweierlei für den Kontext Relevantes fest. Zunächst über den Zustand der Welt: „Alles ist in Ordnung; alles ist Proportion“.20 Angesichts dieser wohlgeordneten Welt bestimmt Spalding den Zweck eines jeden Menschen im Streben nach einem doppelten Glückszustand. Individuell könne der Mensch nur glücklich sein, wenn er rechtschaffen handele,21 freilich solle er dabei auch die Glückseligkeit der gesamten Menschheit im Blick haben.22 Bei genauerem Nachdenken über die Stellung des Menschen in der Natur trete alsbald eine Beunruhigung auf. „Ich erschrecke über meine Kleinheit in der unermäßlichen Natur, und gegen die noch unermäßlichere Gottheit. Dieser Sonnenwirbel ist ein Sandkorn. Diese Erde ist ein Staub, ein Punkt. Und ich auf dieser Erde – was bin ich?“23 Von dieser Grundfrage ausgehend widmet sich Spalding in seinem Soliloquium der Funktion der Seele. Diese verbürge, dass es etwas die Johann August Nösselt, Vertheidigung der Wahrheit und Göttlichkeit der Christlichen Religion, Halle 11766–51783. 18 Siehe dazu VI. 19 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, Tübingen 2006 (11748–111794) (SpKA I/1). 20 Spalding, Bestimmung (wie Anm. 19), 14: „[E]in Ganzes voller Ordnung, von dem kleinesten Staube an bis zu der unermeßlichsten Ausdehnung, voller Regelmäßigkeit in allen seinen Gesetzen, der Körper sowol, als der Geister; ein Ganzes, das so mannichfaltig, und doch durch den genauesten Zusammenhang Eines ist; dieß giebt mir die Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten […] Hier erweitert sich meine erstaunte Sele bis zum Unendlichen.“ 21 Ebd. 22 Vgl. ebd., 12: „Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts, die mich so angenehm rühret, soll unveränderlich ein Gegenstand meiner ernstlichsten Bestrebungen und meine eigene Glückseligkeit seyn.“ 23 Ebd., 16. 17
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Welt Transzendierendes geben müsse.24 Aus diesen von ihm festgestellten und jedem Menschen zugesprochenen Seelenempfindungen zieht Spalding folgende Schlussfolgerung: „Ich erkenne nunmehr, daß ich zu einer ganz andern Klasse von Dingen gehöre, als diejenigen sind, die vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und vergehen; und daß dieses sichtbare Leben nicht den ganzen Zweck meines Daseyns erschöpfe. Ich bin also für ein anderes Leben gemacht.“25 Nachdem der Mensch dies erkannt habe, verstehe er auch den Zusammenhang zwischen irdischer und jenseitiger Glückseligkeit. Die Handlungen, welche die irdische Glückseligkeit befördern sind propädeutisch im Hinblick auf die jenseitige Glückseligkeit. Diesseits und Jenseits werden durch die unsterbliche Seele verbunden, und das moralische Handeln des Menschen qualifiziert diesen für eine ewige Glückseligkeit. Was aber passiert, wenn der moralisch richtig Handelnde ohne jede Belohnung im Irdischen bleibt? Darin erkennt Spalding eine Ordnungswidrigkeit. [D]er Tod endiget hier die Unterdrückung der Tugend, und dort das stolze Glück des Lasters. – Dieß widerspricht aller meiner Erwartung, die auf die Begriffe von der Ordnung gegründet war. […] Ebenmaaß und Uebereinstimmung verschwinden hier; und mein Begriff von einer herrschenden Ordnung verwirret sich gänzlich – Nein! es ist nicht möglich, daß die Welt also regieret werde, da sie einmal regieret wird. Es muß nothwendig ein besseres Verhältniß der Dinge da seyn, sollte ich dieß auch in seiner völligen Klarheit ausser dem Bezirk dieses Lebens zu suchen haben. Es muß eine Zeit seyn, da ein jeder das erhält, was ihm zukömmt.26
Hier zeigt sich gegenüber der theologischen Tradition eine Neuakzentuierung. Es gibt eine prinzipielle Ordnung in der Welt, und um diese mit aufrecht zu erhalten, soll der Mensch moralisch handeln. Infolgedessen wird er bereits im Diesseits mit einem Vorgeschmack der Glückseligkeit belohnt. Für den Fall, dass ihm diese Belohnung versagt wird, bleibt noch die jenseitige Glückseligkeit übrig. Erst auf diese Weise wird im Diesseits ein glückliches Leben, das stets um seine Belohnung weiß, ermöglicht. Spalding erklärt, diese Idee sei so gut, dass man sie sogar lehren sollte, selbst wenn sie falsch wäre – ein ebenfalls gegenüber der theologischen Tradition neues Argument.27
Vgl. ebd., 15: „Diese meine Sele umfasset die ganze Natur mit einer höhern Art der Liebe, als die von den Sinnen entspringet; darum ist auch ihre Befriedigung nicht in diese engen und wandelbaren Gränzen eingeschränkt.“ 25 Ebd., 22. 26 Ebd., 19 f. 27 Vgl. ebd., 24: „Ein so edler und wichtiger Einfluß von dieser grossen Ansicht meiner künftigen Bestimmung in die ganze Verfassung meiner Sele und meines Verhaltens würde verursachen, daß ich mich aufs möglichste hüten würde, sie falsch zu finden, wenn sie es auch seyn könnte. Es ist mir zu viel daran gelegen, daß sie wahr sey.“ 24
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In einer Predigt, die Spalding zwei Jahrzehnte später vor Königin Elisabeth Christine von Preußen, deren Beichtvater und Seelsorger er war, gehalten hat, äußert er seine Überzeugung, angesichts des zeitweiligen „Ueberdruß des Lebens“ und des „mannigfaltige[n] Misvergnügen[s], welches die veränderlichen Zufälle der Welt mit sich bringen“28 sei es umso wichtiger auf den aus der Unsterblichkeitsvorstellung erwachsenen „Trost, womit uns das Christenthum in diesem sonst so verlegenen Zustande zu Hülfe kömmt“,29 hinzuweisen. In diesem Zitat, das auf die mitunter schwierigen persönlichen Lebensumstände Elisabeth Christines als Gattin Friedrich des Großen rekurriert, erweist sich der Trost als die lebenspraktisch entscheidende Funktion der Unsterblichkeitslehre. Darauf aufbauend erklärt Spalding die Unsterblichkeitsvorstellung in Kombination mit der Überzeugung einer göttlichen Vorsehung schließlich zum „ganze[n] Zweck unsers Christenthums“.30 Die Ratifizierbarkeit durch die Vernunft ist ein wichtiger Aspekt im Hinblick auf die innertheologische, pietistische Konkurrenz. Dazu trete außerdem die intuitive Überzeugung.31 Diese Relevanz des religiösen Gefühls zeigt die von der Aufklärungstheologie vertretene Einsicht, dass eine bloß intellektuelle Überzeugung nicht ausreicht, um den Menschen vollumfänglich zu überzeugen. Im Hintergrund steht die neologische Auffassung vom „ganzen Menschen“, der nur durch eine Kombination von Verstand und Gefühl vollumfänglich überzeugt werden kann. Johann Joachim Spalding, Neue Predigten, Tübingen 2008 (SpKA II/2), 44. Ebd., 45. 30 Vgl. ebd., 46: „[Wir] werden […] doch nichts finden, das unserer Vernunft selbst so würdig wäre, als die weise und standhafte Entschlossenheit, mehr für die wichtige entscheidende Ewigkeit, als für die flüchtige hinfällige Welt zu leben. Das ist die Anlage unserer Natur; das ist der Beruf Gottes; das ist der ganze Zweck des Christenthums; und das allein giebt unserer Seele die Stärke, mit einer gottseligen Gleichheit des Gemüths über Veränderung und Zeit hinweg zu sehen und in dem lebendigen Glauben der Fürsehung und der zukünftigen Welt ihren völligen Frieden zu finden.“ In diesem Zusammenhang versteht Spalding unter „unserer Natur“ die Vorstellung, dass jeder Mensch im Diesseits nach Glückseligkeit strebt. Dies korrespondiert mit dem Willen Gottes, den Menschen zu dieser Glückseligkeit anzuleiten. Weil davon potentiell alle Menschen profitierten, gibt sich Spalding überzeugt, gerade die Unsterblichkeitslehre verbinde die Menschen untereinander. „Ueberhaupt ist das ein sehr enges und festes Band, welches alle Menschen zusammen hält, daß sie einerley Natur, einerley Ursprung, und einerley großen Endzweck haben. Dies ist die wesentlichste und beständigste Gleichheit bey noch so vielen andern zufälligen Ungleichheiten. Ein hinfälliger Leib und eine unsterbliche Seele […] das macht uns also einander ähnlich genug, so daß wir uns immer insgesammt in einer allgemeinen Verbindung betrachten, und daher auch unserer Herzen in einer liebreichen Zuneigung genauer vereinigte halten sollten“ (Spalding, Predigten bei außergewöhnlichen Fällen [wie Anm. 1], 320). 31 Vgl. ebd., 352 f.: „Erhöhe die natürliche Empfindlichkeit deiner Seele zu einem zarten und heiligen Gefühl für die Wahrheit, – für die Unschuld, – für die Unsterblichkeit, – für Gott. Ich will dich zu keinem Schwärmer machen; das wirst du so schon von mir nicht besorgen.“ 28
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Die zeitgenössische Konkurrenz, die er als „Schwärmer“ bezeichnet,32 setzte aus seiner Sicht einseitig auf Empfindungen und verzichtete auf eine vernunftadäquate Prüfung ihrer angeblich göttlichen Eingebungen. Auf den Spuren Christian Wolffs gedacht, müssen für Spalding offenbarte Lehren für die natürliche Religion anschlussfähig sein. Nur dann können sie auch die Tugendhaftigkeit und die menschliche Glückseligkeit befördern. Aufs Ganze gesehen soll die Unsterblichkeitslehre bei Spalding als eine vernunftadäquate, den zeitgenössischen Konkurrenzangeboten überlegene und nicht zuletzt lebenspraktisch wirksame Lehre dargestellt werden.
VII. Unsterblichkeit als Gerechtigkeitsgarantie: Johann August Nösselt Eine andere Variante der aufklärungstheologischen Unsterblichkeitslehre vertrat der Hallenser Hochschullehrer Johann August Nösselt (1734–1807). Er thematisierte die Unsterblichkeitslehre primär angesichts der Fragestellung einer umfassenden Gerechtigkeit. In seinem zeitgenössisch sehr populären Werk der Vertheidigung der Wahrheit und Göttlichkeit der Christlichen Religion (1766), einem mehrfach aufgelegten Readers digest christlicher Zentrallehren, führt er über das Schicksal eines nach den Gesetzen Gottes lebenden Menschen aus: Und wenn er mit Verleugnung selbst alles dessen, was ihm das liebste ist, mit williger Uebernehmung allerley Elendes, durch sein ganzes Leben nach Weisheit, Tugend und Beyfall GOttes gerungen hat: soll denn eben der Streich des Todes […] sein ganzes Daseyn und Glück vernichten? Wenn dis das Schicksal des Gerechten ist, (und das muß es seyn, wofern es im Tode ganz mit uns aus ist): so ist Weisheit, Tugend und Religion nichts als ein leerer Nahme.33
Nösselt erklärt seinen zahlreichen Studenten in diesem Zusammenhang, sogar die menschliche Würde sei abhängig von der Unsterblichkeit der Seele und schreibt ihnen pathetisch in die Federn: „O so laßt uns nicht taub seyn gegen die so laut rufende Stimme der Natur. Die Seele ist unsterblich. Dis allein rettet unsre Würde, rettet die Weisheit und Güte des Höchsten, und versichert uns, daß wir die Vollkommenheit gewiß erreichen sollen, wozu uns unsere ganze Natur auffordert.“ Die Vorstellung einer „Vollkommenheit“ speist sich bei ihm wie bei Spalding Der Begriff der Schwärmer, ein seit Luther klassischer Terminus, dient dazu, abgelehnte Gruppierungen wie die Täufer oder Muslime auf einen vermeintlich gemeinsamen Nenner zu bringen, der darin besteht, dass sie ihre menschlichen Vorstellungen als vermeintliche göttliche Gebote ausgeben. Spalding verwendet ihn hier, um eine zeitgenössisch populäre pietistische Gruppierung, die vor allem in Mecklenburg-Vorpommern stark vertreten war, zu kritisieren. 33 Nösselt, Vertheidigung (wie Anm. 17), 115. 32
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aus der Beobachtung, dass die menschlichen Triebe, freilich nur die guten, niemals vollständig im irdischen Leben erfüllt werden können, sodass es gedanklich naheliegend erscheint, dass man erst mittels einer unsterblichen Seele das Streben nach Glück final erreichen kann. Spaldings Schlussfolgerung aus der Bestimmung des Menschen „Ich bin also für ein anderes Leben gemacht“, affirmativ aufgreifend, schlussfolgert Nösselt somit aus der Realität irdischer Triebe die Existenz einer unsterblichen Seele, welche es erst ermöglicht, diese Triebe vollumfänglich zu befriedigen. Das Ziel des Menschen liege in einer umfassenden Glückseligkeit. Da der Lauf der Welt allerdings zeigt, dass diese Glückseligkeit auch bei einem rechtschaffenen Christen in der Regel nicht erreicht wird, muss es eine jenseitige zweite Chance geben. Ergo muss es eine unsterbliche Seele geben, welche diese Chance offeriert.34 Nösselt, der von 1757 bis 1807 mehrere Tausende Studenten ausgebildet hat,35 unter ihnen Friedrich Schleiermacher und Gottfried August Bürger, legt als conditio sine qua non eine umfassende Gerechtigkeit Gottes zu Grunde. Weil er sich von dieser überzeugt zeigt, erscheint es ihm vernünftig, eine unsterbliche Seele anzunehmen, als eine letzte Garantie dafür, dass sich ein sittlicher Lebenswandel auszahlt. Hier stößt man auf eine denkerische Schwierigkeit in Nösselts Argumentation. Indem er sich darüber ausschweigt, ob ein willentliches Abweichen von moralischen Maßstäben Konsequenzen für die jenseitige Glückseligkeit hat, wird die Frage erst mit Nachdruck virulent. Diese Leerstelle erscheint charakteristisch für die Aufklärungstheologie. Bereits die Frage, wie ein bewusst unsittliches Verhalten im Irdischen sich auf die irdische und weitaus problematischer noch, auf die jenseitige Glückseligkeit auswirkt, thematisiert Nösselt nicht. Er erklärt stattdessen, die für das Erreichen einer irdischen Glückseligkeit notwendigen sittlichen Handlungen korrespondierten mit demjenigen Verhalten, welches die Glückseligkeit im Jenseits ermögliche. Hier zeigt sich eine für die aufklärungstheologische Anthropologie charakteristische Grundüberzeugung: Der Mensch kann im Irdischen nur glücklich werden, wenn er sich moralisch möglichst angemessen verhält. Theologiegeschichtlich zeigt sich hier eine Distanzierung der Neologen vom reformatorischen Menschenbild, welches die Sündhaftigkeit des Menschen besonders hervorgehoben hatte, um dessen nachfolgende Gerechtwerdung durch Den von ihm namentlich genannten La Mettrie, Spinoza oder dem deutschen Radikaltheologen Johann Christian Edelmann wirft er vor, ihre Bestreitung einer unsterblichen Seele, entspringe letzten Endes nur einem egozentrischen Motiv: „Man hat auch die gröste Ursach zu glauben, daß die, so den künftigen Zustand bestreiten, von allem Widerspruch dagegen abstehen würden, wenn sie sich überreden könten, daß die Gewisheit der zukünftigen Belohnung nicht zugleich die zukünftigen Strafen fest setzte“ (Nösselt, Vertheidigung [wie Anm. 17], 129). 35 Zwischen 1775 und 1790 lag die Zahl der insgesamt in Halle Immatrikulierten im Durchschnitt bei über 1000 Studierenden. 34
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Christus umso wirkungsvoller zu betonen. Für die Aufklärungstheologie hingegen schränkt die menschliche Natur den Menschen in sittlicher Hinsicht eben nicht mehr ein, sondern ermöglicht es ihm vielmehr, sittsam zu leben, damit er einen Vorgeschmack der ewigen Glückseligkeit schon im Irdischen erlangen kann. Die Unsterblichkeit der Seele wird auf diese Weise zu einer Grundüberzeugung einer protestantischen Theologie, welche das irdische Glück des Menschen höher bewertet als jede kirchengeschichtliche Epoche vor ihr.36
VIII. Lebenspraktische Bedeutung der neologischen Unsterblichkeitslehre: Kritik und Fazit Das wesentliche Verdienst der neologischen Unsterblichkeitslehre ist ihr Nachweis einer lebenspraktischen Relevanz des Themas. Nicht weil die Vorstellung einer unsterblichen Seele Eingang in diverse Bekenntnistexte gefunden hatte, sondern weil sie im Diesseits den Menschen lebenspraktisch hilft, soll sie laut Ansicht der Aufklärungstheologen von Kanzel und Katheder weiterhin verkündet werden. Ihre wesentlichen Funktionen sind Trost, Kontingenzbewältigung und Motivation zum sittlichen Handeln. Ihre entscheidende Abzweckung liegt in der Beförderung einer irdischen Glückseligkeit. Innerhalb des neologischen Theologiekonzepts ist die Unsterblichkeitslehre somit der Glückseligkeit untergeordnet. Erst indem sie hilft, diese zu befördern, gewinnt sie lehrmäßige Autorität. Dieser Hauptzweck ist ebenso wie die zugrundeliegende optimistische Anthropologie eine entscheidende Weiterentwicklung gegenüber der protestantischen Tradition.37 Auch der hier so nüchtern reflektierende Theoretiker der irdischen Glückseligkeit ist freilich nicht von den Widrigkeiten der wissenschaftlichen Alltagsarbeit ausgenommen. In seiner Schrift Vorstellung die Klagen unserer Zeit über akademische Theologen betreffend (1776) beschreibt Nösselt seine lebenslange wissenschaftliche Existenz in Worten, die schwer an ein glückseliges Leben denken lassen. Er berichtet von „einem so mühseligen Leben, wie […] das akademische ist, wozu so wenige Lust und wahren Beruf haben, wobey, wenn man gewissenhaft handeln will, so wenig Ruhe, Bequemlichkeit, Vergnügungen des Lebens, mehrentheils auch so wenig ökonomischer Vortheil ist; bey der beständigen Schwächung der Leibes- und Gemüthskräfte, die man durch anhaltendes Studiren, Nachdencken und Reden vor der Zeit aufopfern muß; bey dem vielleicht nirgends so häufigen und kränckenden Undanck, auf den man um so mehr rechnen kan, je mehr man sich, immer weiter zu gehen und andre immer weiter zu bringen, bemüt“ (33 f.). Auch Spalding weiß freilich aus persönlicher Erfahrungen und den Widrigkeiten der menschlichen Existenz zu berichten. 1763, ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau Wilhelmine Sophie, klagt Spalding: „Ich wußte noch nicht, was Kreuz hieße. […] Diese heitern Stunden, die ich gehabt, kommen nicht wieder.“ Zitiert nach Beutel, Spalding (wie Anm. 2), 110. 37 Dabei ist freilich kaum zu verkennen, dass sich die Hochschätzung der Seele als Sitz der Innerlichkeit pietistischen Traditionssträngen verdanken dürfte. 36
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Deutlicher als Pietismus und Orthodoxie offeriert die Neologie eine von der Vernunft ratifizierbare Unsterblichkeitslehre, welche den moralischen Nutzen sowie die gesellschaftsstabilisierende Relevanz betont. Man kann freilich Spalding vorwerfen, dass sein Konzept eine Schönwettertheologie darstellt, die von existentiellen Krisenerfahrungen nichts wissen will. Die von ihm vertretenen Vorstellungen muten an, wie eine biedermeierhafte Religionsphilosophie, die sich vor allem für einen theoretischen Diskurs eignet. Damit wäre Spalding insofern Unrecht getan, als dass er primär darum bemüht war, eine modernitätsfähige Neufassung der Unsterblichkeitslehre auszuformulieren, welche davon ausging, dass selbst, wenn die Seele nicht unsterblich wäre, man dies trotzdem lehrmäßig vertreten solle, aufgrund des daraus resultierenden hohen Nutzens.38 Die apologetische Verengung der Unsterblichkeitslehre bei Nösselt zeigt, dass man sich auf eine Debatte mit den Kritiken der Pariser Materialisten nicht wirklich eingelassen hat. Stattdessen erklärte man verbindlich, dass ohne Unsterblichkeit Christentum und Tugend nichts mehr wert seien – und daran könne doch nun niemand ein Interesse haben – so lautet die nur halb ausgesprochene Warnung. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass es wohl unter den primären Adressaten Spaldings und Nösselt, also unter den Studenten und Lesern, kaum Materialisten gegeben haben dürfte; einzelne Ausnahmen bestätigen die Regel. Stattdessen wird man annehmen dürfen, dass die vereinzelte namentliche Nennung eines La Mettrie und anderer eine Gegnerfront imaginieren sollte.39 Dies diente dazu, neologische Identitätspolitik zu betreiben. Denn indem man die vermeintlichen „Verächter Gottes“ angriff, wollte man weniger diese ansprechen als vielmehr die Substantialität der neologischen Unsterblichkeitskonzeption vor dem Hintergrund der protestantischen Tradition und gegenüber den eigenen Lesern verdeutlichen. Zukunftsweisend im Unsterblichkeitskonzept beider Neologen ist der argumentative Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, der – so ihre Grundauffassung – von jedem Menschen geteilt werden kann. Die Empfindungen der Seele von Gerechtigkeit und das Streben nach Tugend werden zum Ausgangspunkt genommen, um aus ihnen die Vorstellung einer unsterblichen Seele abzuleiten. Anschließend werden die gegenwartsbezogenen Vorteile, welche aus dieser Lehre resultieren und die zur Kontingenzbewältigung dienen, klar benannt, und vor diesem doppelten Hintergrund wird die Notwendigkeit der Unsterblichkeitslehre betont. Nicht mehr ihre Autorität als Glaubensartikel, sondern ausschließlich ihr Bei der Unsterblichkeitslehre zeigt sich eine für die Aufklärungstheologie generell charakteristische Umgangsweise mit dem theologischen Traditionsbestand. Nicht die theologische Tradition, sondern allein der gegenwartsbezogene Nutzen bildet das entscheidende Kriterium für die Aufklärungstheologie, nach der sich jedes Theologumenon bewerten lassen soll. 39 An sprachlichen Hindernissen wird es nicht gelegen haben, denn Spalding selbst hatte zwei französischsprachige Werke ins Deutsche übersetzt, und Nösselt war infolge einer längeren Studienreise vermutlich ebenfalls des Französischen mächtig. 38
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Nutzen begründen ihr Recht, als Glaubensinhalt gelehrt zu werden. Der nüchternpragmatische Umgang mit diesem der Exportschlager der christlichen Religion dürfte letztlich die Modernitätsfähigkeit des Protestantismus im Hinblick auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und trotz späterer Fundamentalkritik, die unter anderem den Vorwurf der „Vernünftelei“ erheben sollte, gesichert haben. Mit einer solchen Unsterblichkeitskonzeption wie sie die reife Aufklärungstheologie in Gestalt Spaldings und Nösselt vertreten hat, ließ sich nicht nur im Preußen Friedrichs des Großen durchaus Staat machen. Die mit dem Namen „Neologie“ bezeichnete protestantische Aufklärungstheologie entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur dominierenden theologischen Gruppierung. Inwiefern die um die Jahrhundertmitte intensiv geführte Diskussion um die Unsterblichkeit der Seele den Neologen dabei als argumentativer Hebel diente, um ihr eigenes, sich zunehmend auf religiöse Mündigkeit konzentrierendes Religionskonzept zu popularisieren, wird in diesem Beitrag analysiert. Es soll dabei gezeigt werden, wie die als Fundamentalangriff auf traditionelle religiöse Lehrvorstellungen, welche die Unsterblichkeit der Seele als unverzichtbar für moralisches Handeln erklärten, empfundene Kritik der Pariser Materialisten von protestantischen Aufklärungstheologen aufgegriffen und instrumentalisiert wurde. Die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele fungierte aus Sicht der Neologen als Anreiz für moralisches Handeln im Diesseits und stellte insofern aus ihrer Sicht eine unverzichtbare Lehrvorstellung dar. The protestant theology referred to as „neology“ developed to the dominant current in Enlightenment theology in the second half of the 18th century. To what extent the debate on the immortality of the soul served the neologs from the middle of the 18th century onwards as an argument to popularize their concept of religion, which was increasingly based on emancipation of man, is the central topic of debate in this article. The paper aims to show, how fundamental attacks by the Parisian Materialists on traditional religious teachings who declared the immortality of the soul as indispensable for moral, were picked up and exploited by Enlightenment theologians. From the point of view of the neologs, the assumption of the immortality of the soul functioned as an incentive for moral behavior in this life and constituted as an indispensable Christian teaching. PD Dr. Malte van Spankeren, Ludwig-Wucherer-Straße 62, D-06108 Halle (Saale), E-Mail: [email protected]
Marion Heinz „Menschliche Unsterblichkeit“ – Herder versus Kant
Die ältere Forschung hat von einem „Ringen mit dem Problem der Unsterblichkeit“1 oder von der „Krisis des Unsterblichkeitsgedankens“2 im späten 18. Jahrhundert gesprochen und damit einen Kristallisationspunkt herausheben wollen, an dem die Umbrüche und Unsicherheiten der Zeit, die Erschütterung des religiösen Glaubens, die Krise der Metaphysik, die Zweifel an der Bestimmung des Menschen, die Veränderungen im Lebensgefühl und Weltverständnis, gleichsam anschließen. Was die Philosophie betrifft, so ist in erster Linie der Verlust rational erkannter Gewissheit über die postmortale Existenz der Seele, wie sie die dogmatische Metaphysik beansprucht hatte, zu nennen. Kants Kritik der reinen Vernunft3 destruiert die rationale Psychologie, und damit verliert die Lehre von der Unsterblichkeit ihren angestammten systematischen Ort; sie wird in seiner neu konzipierten kritischen Metaphysik aus dem Bereich des theoretischen Wissens verwiesen und kann nur mehr als Postulat, d. h. als Annahme der reinen praktischen Vernunft begründet werden.4 Das ist eine Zäsur in der Geschichte der Metaphysik, auf die sich die nachkantische Philosophie beziehen musste. Für Reinhold handelt es sich bei diesem Lehrstück um das wesentliche Resultat der Vernunftkritik Kants, auf das die Entwicklung der Philosophie und sogar der Menschheit zugelaufen sei, und an das jeder weitere Fortschritt in theoretischer und praktischer Hinsicht anzuknüpfen habe.5 Vollständig ablehnend hingegen verhält sich Herder, der frühere Mentor Reinholds und Schüler Kants; für ihn beweist diese Lehre die durch Kant Rudolf Unger, Herder, Novalis und Kleist, Frankfurt am Main 1922, 1. Ebd., 2. 3 Kants Schriften werden zitiert nach der Akademie-Ausgabe: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seite), die Kritik der reinen Vernunft (= KrV) wird zitiert nach der ersten (= A) und zweiten (= B) Originalauflage. 4 KrV, A 797/B 825–A 820/B 848 5 Karl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, 2. Aufl., 12. Brief, in: ders., Gesammelte Schriften. Kommentierte Ausgabe, hg. von Martin Bondeli u. a., Bd. 1 ff., Basel 2007 ff., Bd. 2/1 (2007), 223–245, vor allem 245; vgl. auch die Einleitung des Herausgebers ebd., IX–XLIII, insbes. XLIII–LXVII. 1 2
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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herbeigeführte Verkehrung der Philosophie. Denn bei diesen „Annehmungen“ (AA V, 11, Anm.) handelt es sich seines Erachtens nicht um fortgeschrittene neue Begründungen des Glaubens an die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, sondern um zuhöchst problematische „Voraussetzungen“ (KrVA 818/ B 846), aus denen die Zerstörung des Prinzips der Moralität folgt – eine abgründige Konsequenz, die in Herders Sicht die Haltlosigkeit des gesamten Unternehmens einer kritischen Metaphysik an den Tag bringt. Dass Kants Konzeption von Vernunft das gedankliche Fundament ist, aus dem diese Problematik erwächst und an dem die Korrektur anzusetzen hat, ist das Resultat seiner Analysen. Es ist daher konsequent, wenn Herder einen eigenen positiven Entwurf zur Konzeption von Vernunft mit dem Anspruch vorstellt, damit seinerseits eine Kritik der Metaphysik begründen zu können, die anders als die kantische die Fundamente der Moralphilosophie zu bewahren und eine wahrhaft orientierende Philosophie auf den Weg zu bringen vermag.6 Um das Problem der Unsterblichkeit am Ende der Aufklärung im Zusammenhang mit dem Kampf um das richtige Verständnis von Metaphysik und der Stellung der Theologie in ihr zu beleuchten, bietet sich mithin die Auseinandersetzung zwischen Herder und Kant an. Dabei geht es auch um die Konkurrenz zweier Vorstellungen von Unsterblichkeit im Denken der Aufklärung, um die Idee postmortaler Fortdauer allein der Seele bei Kant und die Idee der Palingenesie bei Herder. Auch diesen Differenzen liegen unterschiedliche Auffassungen von Vernunft und dem Verhältnis von Vernunft und Zeit zugrunde. Der Geltendmachung postmortaler Existenz in einem zeitenthobenen Jenseits als Bedingung für die Erreichbarkeit von moralischer Vollkommenheit bei Kant stehen bei Herder die Idee der Palingenesie und der Versuch, Vernunft und Zeit in einen notwendigen Zusammenhang zu bringen, gegenüber. Während die Lehre von der Unsterblichkeit des Menschen bei Kant durch die reine praktische Vernunft neu begründet wird, ist in Herders zu großen Teilen mit Kant befassten Schriften der 1790er Jahre ihre Verlagerung in die Geschichts- und Humanitätsphilosophie7 zu beobachten – jene für seine späte Philosophie zentraVgl. zur Absicht des Orientierens FA 8, 591, 598, Anm. Herders Kritik der Metaphysik ist sprachphilosophisch grundiert. Die in der Sprache verwendeten abstracta bieten in seiner an Berkeley orientierten Sicht die Ansatzpunkte für die in der Metaphysik anzutreffenden Reifizierungen und Hypostasierungen bloßer Gedankengebilde. Damit wird die Vernunft von der Anklage, Scheinwissen zu produzieren, entlastet. Vgl. FA 8, 421–428. 7 Zur Unsterblichkeitsthematik beim frühen Herder vgl. außer der in Anm. 1 genannten Schrift von Unger Erich Ruprecht, Herders Gedanken über die Seele und ihre Unsterblichkeit, in: Johann Gottfried Maltusch (Hg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1979, Rinteln 1980, 31–49; Marion Heinz, Die Bestimmung des Menschen. Herder contra Mendelssohn, in: Beate Niemeyer, Dirk Schütze (Hg.), Philosophie der Endlichkeit. Festschrift für Erich Christian Schröder zum 65. Geburtstag, Würzburg 1992, 263–285; Tino Markworth, Unsterblichkeit und Identität beim 6
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len Gebiete also, deren Konzeption erst durch eine Neubestimmung der Vernunft im Kontext mit einer lebensphilosophisch-spinozistischen Ontologie begründet werden konnten. Damit deutet sich bereits der entscheidende Unterschied zu Kant an; es ist nämlich die lebensphilosophische Ontotheologie des Gott, die das metaphysische Fundament auch der die Anthropologie, Geschichts- und Humanitätsphilosophie begründenden Konzeption menschlicher Vernunft bildet. Gemäß diesen Begründungsstufen sind bei Herder vier Konzepte von Unsterblichkeit im weiteren Sinne zu unterscheiden: erstens Unzerstörbarkeit lebendiger Kräfte, zweitens Palingenesie als Prinzip einer lebensphilosophisch gedachten Weltordnung; drittens Palingenesie als Prinzip des Werdens und Seins in der Geschichte der Menschheit, und schließlich die im Kontext dieser Lehre von der „wahre[n] menschliche[n] Unsterblichkeit“8 entwickelte Idee der Selbstverewigung eines sein Denken und Handeln am Maß der Menschheit ausrichtenden Individuums.9 Die folgende Abhandlung hat in der Hauptsache die Verlagerung des Unsterblichkeitsgedankens in die Geschichts- und Humanitätsphilosophie10 bei Herder zum Gegenstand. Einleitend ist jedoch die fundierende allgemeine Metaphysik frühen Herder, Paderborn 2005; Martin Keßler: Herder!s Theology, in: Hans Adler, Wulf Koepke (Hg.), A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder, New York 2009, 247–275. Zu Mendelssohn und Herder vgl. Anne Pollok, Facetten des Menschen. Zu Moses Mendelssohns Anthropologie, Hamburg 2010, 499–573. Siehe auch Laura Anna Macor, Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, §§ 30–32, 228–247. 8 FHA 8, 207. 9 Vgl. Über die menschliche Unsterblichkeit. Eine Vorlesung (FA 8, 203 – 219). Für das Denken Herders nach den Ideen sind für dieses Thema außerdem relevant: Tithon und Aurora, in: ebd., 221–239, eine Schrift, in der die Idee der Palingenesie geschichtsphilosophisch ausgedeutet wird; Palingenesie. Vom Wiederkommen menschlicher Seelen. Mit einigen erläuternden Belegen, in: ebd., 257–282, dieser Text bietet eine Auseinandersetzung mit Lessings Auffassungen zur Palingenesie in der Schrift Erziehung des Menschengeschlechts, §§ 93–100. Vgl. auch Vom Wissen und Nichtwissen der Zukunft, in: ebd., 283–296. Zu Herders Zerstreuten Blättern und ihrer Struktur, in denen die genannten Schriften zunächst erschienen sind, hat sich erhellend auch zum Thema Palingenesie Wulf Koepke geäußert, vgl. Herders ,Zerstreute Blätter" und die Struktur der Sammlung, in: Herder Yearbook 1 (1992), 98–117. Mit Georg Schlossers Lehren befasst sich Herder in seinen drei Gesprächen Über die Seelenwanderung (1782), vgl. dazu Martin Hense, „eine Palingenesie und Metempsychose […] ehemals fremder, jetzt eigner Gedanken“. Seelenwanderungsbegriffe in Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2012. 10 Darin folgt Herder in gewisser Weise Lessing, der die Lehre von der Seelenwanderung im Zusammenhang mit der Theodizee-Problematik behandelt, die im Zuge seiner in der Erziehung des Menschengeschlechts vorgestellten Geschichtsphilosophie auftritt. Einen knappen und informativen Überblick zu Lessings Auffassungen über die Seelenwanderung im Zusammenhang mit den Spinoza-Gesprächen gibt Monika Fick, Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2 2004, 441–444; einschlägig nach wie vor Alexander Altmann, Lessings Glaube an die Seelenwanderung, in: Lessing Yearbook 8 (1976),7–41.
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kurz zu skizzieren. Herders Begriff von Vernunft bildet die Gelenkstelle zwischen seiner Metakritik an Kants Moralphilosophie in der KrV und seiner in der Kalligone skizzierten Philosophie der Humanität. Zwar ist die Metakritik Herders auf eine bereits überholte Position Kants gerichtet,11 für die systematische Beurteilung der kantischen Lehren also bereits zur Zeit ihrer Niederschrift ein Anachronismus; in Hinsicht auf die Veränderungen im Vernunftbegriff der Spätaufklärung und ihre Auswirkungen ist ihre Rekonstruktion gleichwohl von Interesse. Für die teils auf Erfahrung, teils auf apriorische Prämissen gestützte spinozistische Ontotheologie des Lebens, die in der Schrift Gott (11787, 21800) in Grundzügen entfaltet wird, ist die Annahme unzerstörbarer immaterieller Kräfte grundlegend – Kräfte, die als organisch bezeichnet werden, sofern sie sich notwendigerweise mit einer Vielheit unterer Kräfte, die sie zu ihrem Körper vereinen, verbinden, um die Einheit eines lebendigen Individuums zu bilden.12 Diese auf Leibniz fußende Metaphysik der Kraft lehrt jedoch abweichend von dessen Monadenlehre einen realen influxus sowohl zwischen Seele und Körper als auch zwischen den lebendigen Individuen. Für Herders Bemühen, diese Ontologie mit Spinozas Monismus der einen Substanz zu verbinden, ist das Theorem wesentlich, dass die endlichen Kräfte Ausdruck der göttlichen Gedanken sind, deren im Raum und in der Zeit aufeinander wirkende Erscheinungen. Für den Begriff der Verknüpfung dieser endlichen Dinge ist die Idee der Palingenesie konstitutiv. Der Natur oder der Welt kann nur unter dieser Voraussetzung ewiges Leben zugesprochen werden, und die Welt kann nur so als Ordnung eines lebendigen Ganzen von Lebendigen begriffen werden. Dass der Körper – die von einer höheren Kraft beherrschte Mannigfaltigkeit von Kräften – sich auflöst, bedeutet den Tod des Individuums; der jedoch in Wahrheit ein Moment des Lebens selber ist, Übergang zu neuem Leben der sich wieder verkörpernden Kraft. Leben und Tod, Zusammensetzung und Auflösung sind die gegensätzlichen, sich miteinander vermittelnden Prinzipien einer Weltordnung, die Herder als „das immer wirkende Leben des Weltgeistes“13 beschreibt. Kein wahrer Tod sei in der Schöpfung, sondern alles sei „in einer rastlosen Bewegung, ewigen Palingenesie, damit es immer daure und ewigjung erscheine.“14 Der Begriff der Palingenesie ist aber nicht nur Prinzip des Entstehens und Vergehens von endlichen Dingen, sondern auch von Veränderungen. Wirkungen der lebendigen Dinge aufeinander sind in Herders Ansatz als unablässige Metamorphosen zu denken, d. h. als permanente anverwandelnde Aneignung Schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stellt Kant die Formalität des Sittengesetzes und die Achtung als Triebfeder heraus, Fortschritte, die in allen späteren Schriften zur praktiscen Philosophie erhalten bleiben. Vgl. AA IV, 421 und 401, Anm. 12 Vgl. FA 4, 679–809, insb. 2. und 5. Gespräch. 13 FA 4, 770. 14 Ebd., 790. 11
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von Sinnlichem oder Körperlichem durch ein Seelisches oder Geistiges, aber auch vice versa als Ausdruck des Seelischen im Körperlichen. Die durch die Idee der Palingenesie vorgestellte Lebendigkeit der Welt beinhaltet die Aufhebung des Gegensatzes von Ewigem und Zeitlichem. Durch die organischen Kräfte, die – abgekürzt gesprochen – als existierende Gedanken Gottes gedacht sind, bringen sich diese im ewig sich verjüngenden Allleben der Natur und d. h. im Zeitlichen wirkend zur Darstellung.15 In dieser monistischen Lebensphilosophie ist es notwendig, den Menschen und seine geschichtlichen Wirkungszusammenhänge als Teilsystem des Gesamtsystems der Natur zu begreifen. Demnach bildet die Ontologie des Lebens die philosophische Grundlage für Herders Geschichts-, Kultur- und Humanitätsphilosophie, in die entsprechend auch das Konzept der Palingenesie transferiert wird.16 Um die Gesetze der Welt des Menschen zu ergründen, bedarf es der Betrachtung dessen, was ihn auszeichnet, der Vernunft. Bereits durch die skizzierten Fundierungsverhältnisse ist entschieden, dass in diesem System weder ein Ort außerhalb der Natur, noch eine nicht als Naturzweck angesetzte Idee von Moralität gedacht werden kann. Kant lehrt das Gegenteil: „Freiheit und ihre eigene Kausalität“ durch das reine praktische Vernunftgesetz machen das Übersinnliche im Subjekt aus und dieses ist der Natur als Objekt der Sinne entgegengesetzt. Das Gebiet des Naturbegriffs unter der Gesetzgebung des Verstandes und das des Freiheitsbegriffs unter der der reinen praktischen Vernunft „sind gegen allen wechselseitigen Einfluß, […] durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert“.17 Herder hat – anders als die nachfolgende Philosophengeneration – diese fundamentalen Gegensätze artikuliert und nicht zufällig in seiner Metakritik18 anhand der beiden Hauptstücke der Methodenlehre – des Disziplin- und des Kanon-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft – zum Thema gemacht. Kant, der sich mit einem bloß negativen Nutzen der kritisch bereinigten Philosophie als einer Disziplin, die das „stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten“,19 nicht zuVgl. Unger, Herder, Novalis und Kleist (wie Anm. 1), 23. Lessing hatte das Palingenesie-Konzept – freilich auf anderer Grundlage als Herder – „zum erstenmal seit der Renaissance“ (Rudolf Unger, Zur Geschichte des Palingenesiegedankens im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literarturwissenschaft und Geistesgeschichte 1/1924, 257–274, hier 271) geschichtsphilosophisch ausgeweitet. Neuere diskurstheoretische Untersuchungen zeigen, dass dieses Konzept seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als vielseitig verwendbares Deutungsmuster kursiert, das den Tendenzen der Verzeitlichung und Vergeschichtlichung Rechnung zu tragen verspricht. Vgl. Hense, Seelenwanderungsbegriffe (wie Anm. 9). 17 AA VII, 70. 18 Johann Gottfried Herder, Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Erster Theil, Leipzig 1799; Vernunft und Sprache. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Zweiter Theil, Leipzig 1799, in: FA 8, 303–640. 19 KrV, A 795/B 823. 15 16
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friedengibt, versucht, die metaphysischen Lehrstücke der rationalen Theologie und Psychologie auf neue Weise zu rechtfertigen, ohne der Erkenntnis ihrer Unmöglichkeit im Feld des spekulativen Vernunftgebrauchs20 zu widersprechen. „Gott existiert“ und „die Seele ist unsterblich“ sind apriorische Lehrsätze, die anzunehmen notwendig ist, weil sie die unverzichtbaren Bedingungen des höchsten menschlichen Zwecks oder des höchsten Guts der Austeilung von Glückseligkeit im Verhältnis zur realisierten Sittlichkeit vorstellen. Der erste Komplex von Einwänden Herders richtet sich pauschal gegen das Disziplin- und das Kanon-Kapitel als die negativen und positiven Resultate des ihm zufolge von Grund auf verfehlten Unternehmens einer Kritik der reinen Vernunft.21 Die Vernunft ist für Herder ein Naturvermögen und kann als solches – anders als von Menschen hervorgebrachte Werke – nicht sinnvoll kritisiert werden.22 Abgesehen davon sei nicht einzusehen, wie dieselbe Vernunft als Gegenstand betrachtet in dialektischen Schein führe, aber als Instanz der Beurteilung ihrer selbst verlässliche Resultate erwarten lasse. Für Herder beruht Kants Auffassung in der Dialektik, die Vernunft werde „durch einen Hang ihrer Natur [zum transzendentalen Schein] getrieben“,23 auf einem Irrtum: Aus dem falschen Gebrauch dieses Vermögens werde auf seine verderbte Natur geschlossen. Als Naturkraft könne die Vernunft zwar durch Kultur verdorben sein, aber nicht durch in ihr selbst liegende Gründe „der Falschheit“24 unvermeidlich betrügen. Dementsprechend erscheint ihm auch Kants Unterscheidung zwischen Geltungsgründen in der spekulativen und in der praktischen Metaphysik von vornherein verfehlt und er führt in seiner Auseinandersetzung mit Kants Kritik der rationalen Theologie in der transzendentalen Dialektik seinen Generaleinwand ins Feld: Gott, der Vgl. ebd., A 797/B 825. Damit stellt sich Herder auch gegen Reinholds Briefe zur kantischen Philosophie, die das Kanon-Kapitel als das entscheidende positive Resultat der Kritik der reinen Vernunft werten. Vgl. dazu Grundzüge der Geschichtsphilosophie in Reinholds Briefen zur kantischen Philosophie, in: Pierluigi Valenza (Hg.), K. L. Reinhold. Am Vorhof des Idealismus, Pisa, Rom 2006, 313–326. 22 Vgl. FA 8, 318. Ausführlicher zu Herders Kritik der Kritik der reinen Vernunft Manfred Baum, Kritik, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, 65 – 77 und ders.: Herder über Kants „Verfehlte Kritik der reinen Vernunft“, in: Marion Heinz (Hg.), Herders ,Metakritik", Stuttgart- Bad Cannstatt 2013, 209 – 228. Vgl. auch die Darlegungen zu Kants Auffassung von der Selbsterkenntnis der Vernunft in Manfred Baum, Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant, in: Hans Friedrich Fulda, Jürgen Stolzenberg (Hg.), System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus, Bd. 1: Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, 25 – 40. Zum Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Kant und Herder vgl. Gideon Stiening, Dieser „große Künstler von Blendwerken“ – Kants Kritik an Herder, in: Mario Egger (Hg.), Philosophie nach Kant – Neue Wege zum Verständnis von Kants Transzendental- und Moralphilosophie, Berlin 2014, 473–498. Vgl. dort auch die Nachzeichnung der kontroversen Diskussion über die Berechtigung dieser Kritik. 23 KrV, A 797/B 825; vgl. aber auch A 669/B 697. 24 FA 8, 520. 20 21
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aus dem Gebiet der Vernunft als Erdichtung vertrieben [wurde], wird […] nachher für die praktische Vernunft als Postulat postulieret, als ob außer der Vernunft, die diese Erdichtung proskribierte, es noch eine zweite Vernunft gäbe, die das verbannte Figment aus dem Reich der Erdichtungen gebietend wiederfordern könnte!25
In der Lehre vom transzendentalen Ideal hat Kant den Unterschied zwischen der Notwendigkeit eines Gedankens und dem Erweis der Existenz des ihm korrespondierenden Gegenstandes erneut eingeschärft. Die Vernunft müsse zwar „den Begriff von aller Realität“ der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt zum Grunde legen, verlange aber nicht, „dass alle diese Realität objektiv gegeben sei und selbst ein Ding ausmache.“26 Die Annahme der Existenz eines ens realissimum sei in Wahrheit eine Erdichtung. Hierauf bezieht sich Herders harsche, aber keineswegs überzeugende Kritik. Die Supposition der Existenz dieses für alles Denken notwendigen transzendentalen Ideals als Erdichtung darzutun und zugleich aus Gründen der reinen praktischen Vernunft die Existenz Gottes zu postulieren, ist nicht widersprüchlich – wie es sich für Herder darstellt.27 Dieser reagiert auf Kants eindeutige Unterscheidung der aus theoretischer und praktischer Vernunft entspringenden Gründe für die Lehren der Theologie und rationalen Psychologie mit der Anklage, hier werde die eine Vernunft in gegensätzliche Behauptungen verteidigende Instanzen gespalten, Kant entfache damit einen „Krieg“ zwischen praktischer und theoretischer Vernunft und seine Schwächung der theoretischen Vernunft habe für die praktische zerstörerische Konsequenzen. Dass ohne theoretische keine praktische Vernunft ,stattfiinde" (vgl. FA 8, 580, 591), ist die philosophische Position jenes Metakritikers, der Spinozas vorkritischer Auffassung, die Substanzlehre sei zugleich Ethik, oder Ethik sei nur in der Ontologie der all-einen Substanz zu begründen, folgt. Durch den Versuch Herders nachzuweisen, das moralische Gesetz werde in der KrV zu einem Instrument der Selbstachtung des Subjekts herabgewürdigt und damit vernichtet, würde im Falle seines Gelingens die Position Spinozas ex negativo untermauert, und Mendelssohns Rede von Kant als „Alleszermalmer“ würde in geradezu dramatischer Weise substanziiert. Kant hinterlasse nichts als eine „große Wüste und Leere“ (FA 8, 743) – dies zu zeigen, ist die Absicht des Metacriticus. Gott, dessen Existenz theoretisch unerweisbar sei, als die einzig denkbare „Bedingung, unter der der Zweck der Moralität mit allen anderen Zwecken zusammenhängt“,28 zu erschließen und so seine praktische Gültigkeit sicherzustellen, kritisiert Herder als „zweckhafte[n] Glaube[n]“;29 also als Instrumentalisierung der Gotteslehre 25 26 27 28 29
Ebd., 534. KrV, A 580/B 608. Vgl. FA 8, 580. KrV, A 828/B 856. FA 8, 588.
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im Dienste des egoistischen Interesses, nicht unbelohnt ein tugendhaftes Leben zu führen. Ein zu einem Mittel degradierter Gott sei aber ein „Ungott“ (FA 8, 790). Des Weiteren wird die Triftigkeit der Argumentation in Frage gestellt: Die Berufung auf Moralität als „Zweck von allem“30 sei ein theoretischer Satz, den Kant voraussetze, ohne ihn zu beweisen.31 „Woher weißt du, daß der Zweck von Allem deine Moralität ist? […] woher weißt du, daß nur eine einzige Bedingung möglich sei, unter welcher dieser Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhange?“32 Weder sei die Prämisse, die Geltendmachung des Zwecks oder sogar des Sittengesetzes selbst, erwiesen,33 noch der als notwendig behauptete Zusammenhang von Mittel und Zweck. Denn es sei keinesfalls denkunmöglich, eine andere Bedingung zu seiner Erreichung anzunehmen, etwa eine günstigere Naturordnung als die uns bekannte. Also sei der Schluss auf Gott und Unsterblichkeit nicht zwingend. Als Höhepunkt und Schlussstein seiner Metakritik stellt Herder schließlich die für die Idee der Moralität desaströsen Folgen dieser Lehren von Gott und Unsterblichkeit heraus, die in nichts Geringerem als in der Vernichtung dieses Prinzips selbst bestehen sollen. Anders als wenige Jahre später macht Kant in der KrV nicht nur die Triebfeder-Problematik an der Garantie des höchsten Guts fest, sondern sogar den Anspruch des moralischen Gesetzes auf Verbindlichkeit. Ohne die Annahmen Gottes und eines künftigen Lebens seien „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte“ (A 811/B 839). Kant lehrt hier noch, was seit 1785 für ihn unmöglich ist: Ohne „Drohungen und Verheißungen“ (ebd.) könnten die moralischen Gesetze überhaupt keine Gebote sein (vgl. ebd.; A813/B 841, A 827/B 855). Und zur Begründung der Vorzüge des moralischen Glaubens heißt es: Die moralischen Grundsätze würden „umgestürzt“ ohne die Annahmen von Gott und Unsterblichkeit. Jener Gesetze könne der Mensch indessen „nicht entsagen“, ohne sich selbst zu verabscheuen (A 828/B 856). Dass eine Auffassung, die die Geltung des moralischen Gesetzes qua „schlechterdings gebietende[m] Gesetz“ (A 807/B 835)von Bedingungen – Gott und Unsterblichkeit – abhängig macht, seine unbedingte Gültigkeit und seinen Gesetzes-Charakter zugleich und damit es selbst aufhebt, hat Herder klar gesehen: „Wenn es schlechterdings notwendig ist, daß Du dem sittlichen Gesetz in Allem Folge leistest, da es die Vernunft gebietet, und die sittliche Vorschrift Deine Maxime ist, so hast Du ja an ihr genug. Du mußt ihr folgen, oder das Gebot Ebd., 588; vgl. KrV, A 828/B 856. Vgl. KrV, A 828/B 856. 32 FA 8, 588 f. 33 Vgl. KrV, A 807/B 835, wo Kant sagt, er setze die „schlechterdings gebietende[n] Gesetze“ voraus. 30
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der Vernunft ist nicht klar, und die Maxime ist nicht deine Maxime. Du abrogierst also ihr Gesetz, wenn Du ein […] Wesen zu Hülfe rufen, […] mußt, damit jenes Gesetz dadurch praktische Gültigkeit erhalte. Du erklärst es eben damit für unhinreichend, d. i, für null und nichtig“ (FA 8, 589). Herder deutet die von Kant in Ansatz gebrachte Begründungskette so, dass dem moralischen Gesetz selbst der status einer Annahme zugesprochen werde, die nur als notwendiges Mittel im Dienste menschlicher Selbstachtung gerechtfertigt wird (vgl. FA 8, 590).34 So glaubt Herder, sein Ziel zu erweisen, dass Kants Destruktion der dogmatischen Metaphysik auf dem Feld des theoretischen Vernunftgebrauchs die Subjektivierung des Prinzips der Moral unweigerlich zur Folge hat, erreicht zu haben. Für ihn ist klar, dass Kants Geltendmachung Gottes als Garant des höchsten Gutes ihr Komplement in der Entgöttlichung der Natur als Gegenstand der theoretischen Metaphysik hat. Kant habe mit der Destruktion der theoretischen Metaphysik der Moralphilosophie den Boden entzogen, die daher in der von ihm erarbeiteten Neufassung auf einen nur schlecht verhohlenen Utilitarismus und Subjektivismus hinauslaufen müsse.35 „Anerkennet die Vernunft keine Ordnung und Harmonie in der Natur, so darf sie solche auch in der moralischen Natur nicht anerkennen“ (FA 8, 590). Herders Kritik an der Vermischung und Verquickung der Konzeption des Sittengesetzes mit der Lehre vom höchsten Gut und den Annahmen von Gott und Unsterblichkeit trifft Punkte, die Kant wenige Jahre später selbst korrigiert hat, ohne in das alte Paradigma zurückzufallen, das die praktische Philosophie vorkritisch in der Ontotheologie der theoretischen fundiert – wie es Herder propagiert. In der Absicht, nun dem positiven Gehalt von Herders metakritischem Anliegen Rechnung zu tragen und damit seine eigene Lehre von Unsterblichkeit vorzubereiten, ist im Folgenden auf seine gegen Kant gewendete Idee von Vernunft als einem Naturvermögen genauer einzugehen. Dass es sich um ein Vermögen handelt, das wie alle Kräfte der Natur den ihm gegebenen Gesetzen gemäß wirkt und dadurch bereits seine Funktion erfüllt, behauptet Herder auf dem Feld der spekulativen Philosophie gegen Kants Feststellung von Fehlschlüssen und Antinomien der natürlichen Vernunft. Auf dem Feld der praktischen Philosophie lehrt er im Anschluss an die stoische Moralphilosophie, der Vernunft Herder sieht sich selbst in einer Reihe mit Spinoza und Lessing in der Frontstellung gegen die sog. Lohnethik, die die Frage der Moralität mit den christlichen Vorstellungen von Jüngstem Gericht und jenseitiger Vergeltung oder Belohnung verknüpft 35 Bezogen auf die theoretische Philosophie Kants ergibt sich der nämliche Befund. Sein Unternehmen, die natürliche Vernunft und die von ihr natürlicherweise hervorgebrachte Metaphysik zu kritisieren, die so zutage kommende Dialektik zu korrigieren, damit Metaphysik als Wissenschaft begründet werden kann, erscheint Herder als eine Anmaßung, die die Perversion von Vernunft in von subjektiven Interessen geleitete Klugheit zur Folge habe. Zum Beleg für die unterstellte Hybris zitiert er das dictum Kants „der kritische Weg allein ist noch offen“ (FA 8, 591). 34
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sei das Gesetz der Natur als Prinzip der Moralität gegeben; sie hege keine Zweifel an seiner Dignität und folglich bedürfe es keiner Vergewisserung darüber, ob es sich möglicherweise um ein Hirngespinst handelt.36 Als Korrektiv der kantischen Verfehlungen bedürfe es daher vor allem der Besinnung auf den wahren Begriff von Vernunft, den Herder mit seinen Explikationen zur Vernunft als Vermögen und als Erkenntnisquelle, aber auch als Gegenstand metakritisch geltend macht und damit die Grenzen der Vernunft in grundlegend anderer Weise als Kant zu bestimmen sucht.37 Vernunft ist für Herder wie in der dogmatischen Metaphysik vor Kant sowohl im Gegenstand als auch im erkennenden Subjekt. „Daß dasselbe Gesetz in mir wie in der Natur, im Erkenntnisvermögen wie im Erkennbaren, obwaltet“38 – diese Subjekt-Objekt-Identität ist das grundlegende ontologische Theorem, das für ihn die Verlässlichkeit der Vernunft als Naturvermögen „sichert“: „[D]enn ich sehe, meine innere ist auch des mir zur Anerkennung gegebenen Weltalls Regel. Die Vernunft, sehe ich, gehört zum Gegenstande, wie der Gegenstand zur Vernunft; nach Einem Gesetz, zu einander geordnet.“39 Herder will diese Identität von subjektiver und objektiver Vernunft so verstehen, dass sie durcheinander vermittelte Momente der einen komplexen Struktur der Vernunft sind: Die den Gegenstand als vernünftig erkennende Vernunft, wird sich als subjektiv Vernünftiges objektiv; und der Gegenstand wird als durch die Vernunft erkannter subjektiv, stellt sich als Vernünftiger subjektiv dar. Subjekt und Objekt sind als wechselseitig sich bedingende Momente der Vernunfteinheit nach dem Modell des Lebens gedeutet: Indem das Objektive subjektiv, und das subjektiv Vernünftige sich objektiv wird, erfährt sich jedes Moment als im anderen gegeben und als durch das andere bedingt.40 Die Vernunft ist jedoch nach Herder im Unterschied zu den nachkantischen Philosophen des deutschen Idealismus in dem Sinne unproduktiv, dass sie nicht in der Lage ist, aus sich heraus die Objektivität der Objekte oder gar diese selbst zu konstituieren. Definierend für sie ist die Struktur des Anerkennens, und d. h. der Identifizierung von anderweitig gegebenem objektiv Vernünftigem als vernünftig. Dem entspricht, dass Herder die Vernunft als Richterin begreift, die die – durch Sinnlichkeit und Verstand erbrachten, sprachlich artikulierten – Erfah-
Vgl. zu Herders Auffassung vom Gesetz der Natur, das ,dunkel" in uns liege und durch auf uns geerbte Sitten nur ,erhellt" werde ebd., 208. Zur Kritik an Kants praktischer Philosophie vgl. Herders Kalligone, ebd., 908–912. 37 FA 8, 592–600. 38 Ebd., 598. 39 Ebd. 40 Vgl. Marion Heinz, Heinrich Clairmont, Herder!s Epistemology, in: Hans Adler, Wulf Koepke (Hg.), A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder, New York 2009, 43 – 64. 36
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rungserkenntnisse beurteilt.41 Vermittelst der ihr inhärenten Regeln, und das sind für Herder die logischen Gesetze, prüft sie durch das Verfahren des Schlusses, nicht nur die logische Konsistenz der Gedanken, sondern sie bezieht die Abstrakta der Sprache als Prädikate auf Dinge und sichert damit, dass es sich nicht bloß um Worte, d. h. um gegenstandsloses Allgemeines handelt.42 Diese in manchem auf Berkeley verweisenden Zusammenhänge können hier nicht weiter verfolgt werden. Es kommt nur darauf an zu erkennen, dass sich aus diesem Verständnis von Vernunft als Richterin über die in der Sprache niedergelegten und allgemein mitgeteilten Erfahrungserkenntnisse die spezifisch herdersche Auffassung von der Geschichtlichkeit der Vernunft ergibt. Davon handelt der Passus über die „Vernunft, als Erkenntnisquelle betrachtet“.43 Die Vernunft wird als organische Kraft gedacht, die von einem ihr vorausliegenden Gegebenen abhängig ist, an dem sie sich betätigt und als Erkenntniskraft realisiert, und zu der es gehört, sich als geistige Kraft ebenso wie die durch sie erwirkten Erkenntnisse auszudrücken. Sie ist daher eine sprachlich verfasste Vernunft, die notwendigerweise im Wirkungszusammenhang mit anderen steht. Zufolge ihrer doppelten Gebundenheit an die Sprache ist die menschliche Vernunft nur als kollektive und geschichtliche Vernunft adäquat zu begreifen, und d. h. zugleich als etwas Gewordenes und Werdendes, das nur in Einheit mit den ihr vorausliegenden und nachfolgenden über Sprache und Kultur vermittelten Äußerungen der Vernunft anderer sein kann.44 Daher ist der Titel „allgemeine Menschenvernunft“45 für Herder „Kollektivname dessen, was in mehreren Menschen die Vernunft als Erkenntnisvermögen hervorgebracht und zusammengetragen hat“.46 Die kantische Idee allgemeiner Menschenvernunft ist für ihn ein Abstraktum, dem nichts Wirkliches entspricht; um einen ihrer eigenen Prüfung standhaltenden Begriff von Vernunft zu erreichen, müssen die realen geschichtlich und kulturell diversen Gestalten berücksichtigt werden. Mit dieser Anwendung der zuvor entwickelten Ansätze zu einer – empiristische und rationalistische Elemente kombinierenden – Erkenntnistheorie auf den Begriff der Vernunft attackiert Herder Kants Lehre von der allgemeinen reinen Vernunft in zweifacher Weise. Der Anspruch, Philosophie in einer so verstandenen Menschenvernunft zu beVgl. FA 8, 593 f. Vgl. auch Marion Heinz, Vernunft ist nur eine Eine. Untersuchungen zur Vernunftkonzeption in Herders ,Metakritik", in: dies. (Hg.), Herders ,Metakritik", Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, 163 – 194. 42 Zum Zusammenhang von Sprach- und Metaphysikkritik vgl. Violetta Stolz, Der Nonsense der Metaphysik, in: Marion Heinz (Hg.), Herders ,Metakritik", Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, 81 – 104. 43 FA 8, 595. 44 In die Sprache sind also nicht nur Erfahrungserkenntnisse, sondern auch Resultate der Vernunft eingegangen, die ebenso wie jene permanenter Beurteilung unterliegen. 45 FA 8, 595. 46 Ebd. 41
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gründen, ohne die Vernunftanstrengungen anderer zu würdigen, sei eine Anmaßung gepaart mit einer Art von Selbstbetrug darüber, dass die forschende Vernunft selbst47 spätes Resultat vorhergehender Leistungen ist. Gegen Kants Kritik der dogmatischen Metaphysik und seinen Plan, Philosophie als System synthetischer Erkenntnisse a priori aus bloßen Begriffen neu zu begründen, macht er geltend, dass die reine Vernunft weder als theoretische über eigene Begriffe von Dingen wie Gott, Seele, Welt verfüge,48 noch als praktische eigene Prinzipien des Handelns und Wollens begründen könne. Ist die Vernunft, wie Herder lehrt, ein durch logische Regeln geleitetes Organ zur Prüfung von sprachlich vermittelten Erfahrungen, deren Ergebnisse sich wiederum in die Sprache einschreiben, ist sie geschichtlich in einem zweifachen Sinne: Als Subjekt der Verarbeitung vorgegebenen Erfahrungswissens wird sie sich selbst nur gemäß dem jeweiligen Entwicklungsstand empirischer Erkenntnis objektiv49 und bildet so sich selbst in verschiedenen Gestalten aus, die sich ihrerseits in der Zeit zu einem geschichtlichen Wirkungszusammenhang verbinden. Demzufolge ist die Erkenntnis ihrer selbst eine geschichtliche Erkenntnis, die die in diesen Gestalten manifest gewordenen Formationen der Vernunft zu beachten hat.50 Ungeachtet dieser Einwände gegen das Konzept allgemeiner Menschenvernunft gibt Herder seinerseits einen distributiv allgemeinen Begriff von Menschenvernunft an: „In mir ist ein doppeltes Ich; mir selbst bewußt, kann und muß ich mir Objekt werden. Dieser Vorzug erhebt mich über die Tiere; er ist der Charakter unsrer Art.“ Als „die Macht, […] von der alle Wirkung meines Geistes abhängt“ erscheint ihm die Fähigkeit, dass ich „auf mich wirken“ kann.51 Und weiter heißt es: „der Gedanke schafft Formen“.52 In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist damit Folgendes gemeint: das erkennende Subjekt erfährt die ihm homologen Objekte, und erwirkt vermittelst der in ihnen gegebenen Formen Begriffe, die als abstracta durch die Vernunft auf Dinge bezogen werden. Gegen die Kantischen Dualismen und Trennungen will Herder auch das Erkennen als organische Einheit einer Mannigfaltigkeit von Funktionen deuten, um die Harmonie von Subjekt und Objekt zu betonen: auf der Subjektseite stellt sich im Ausgang von Gegebenem eine dem Vgl. ebd. Herder verkennt offenbar, dass die transzendentalen Ideen bei Kant nichts anderes als ins Unbedingte gesteigerte Verstandesbegriffe sind, die keines Gebrauchs zur Erkenntnis fähig sind – dass also von Kant in anderer Art eine Depotenzierung der Vernunft in theoretischer Hinsicht vorgenommen wird. 49 Metaphysik ist für Herder konsequenter Weise ,Nachphysik"; vgl. Günther Scholz, Herder und die Metaphysik, in: Walter Jaeschke (Hg.), Transzendentalphilosophie und Spekulation: der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799 – 1807), Hamburg 1993, 13 – 31. 50 Vgl. FA 8, 596. 51 Ebd., 592. 52 Ebd. 47 48
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Gegenstand entsprechende gegliederte Ganzheit von Verarbeitungsformen her, die in einer Gedankengestalt, und d. h. in einem mit dem Besonderen vereinten allgemeinen Gedanken resultiert (vgl. FA 8, 613). Für Herders Philosophie ist es charakteristisch, das Besondere nicht als das durch das begrifflich Allgemeine Gedachte, folglich als unter ihm stehende Teile des Begriffsumfangs zu begreifen, sondern nach dem Modell des Lebendigen als die mit dem Allgemeinen gleichartigen, zu einem Individuum vereinten Teile. Die Vernunftkonzeption der ersten Metakritik ist das Scharnierstück, das die Kritik am Kanon-Kapitel der KrV fundiert und die Grundlage der Humanitätsund Geschichtsphilosophie der Kalligone bildet, die in Herders Philosophie zum systematischen Ort der Unsterblichkeitslehre wird. In der metaphysischen Anthropologie dieser Schrift ist der Mensch als „Kunstgeschöpf“53 konzipiert. „Das Gabenreichste Kunstprodukt der Natur soll selbst Künstler [im weitesten Sinne] sein, darauf ist alles bei ihm berechnet.“54 Der Mensch ist das vollkommenste Produkt der Natur, das das Bildungsprinzip der Natur, und das ist Gestaltung im Sinne des körperlichen Ausdrucks eines Geistigen zum Zweck von Selbsterhaltung und Glückseligkeit,55 nicht nur wie alle anderen Naturwesen befolgt, sondern auch nachzuahmen versteht. Als das vernünftige Wesen, das zu sich ich sagen kann, ist er in der Lage, diese Regel zu erkennen und „mit Selbstbewußtsein“56 anzuwenden. Gegenstand seiner Kunst ist sowohl das Ganze der Natur als auch er selbst in seiner inneren und äußeren Natur. 57 In der ersten Hinsicht ist er als „Herrscher der Welt,58 in der zweiten als Objekt seiner geschichtlichen und kulturellen Selbstproduktion gedacht. Die höchste Form der Kunst besteht darin, dass der Mensch sich selbst als vollkommenstes Wesen der Natur zum Muster seines Wirkens zu machen versteht. „Protagoras schon nannte den Menschen das Maas des Universum; außer uns haben wir kein anderes, uns denkbar“,59 bekennt Herder. Damit deutet sich die Idee der Harmonisierung von Mensch und Natur als Bestimmung des Endzwecks aller menschlichen Kunst an, die in der Kalligone in Grundzügen entworfen ist.60 Kultivierung der Natur und Selbstbildung des Menschen gehören in Herders Konzept Ebd., 751. Ebd., 761. 55 Vgl. ebd., 750. 56 Ebd., 752. 57 Ebd., 943. 58 Ebd., 762. 59 Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913, Bd. 20, 368. 60 Vgl. FA 8, 776; vgl. ausführlicher dazu Marion Heinz, Stephan Nachtsheim, Kalligone, in: Stefan Greif, Marion Heinz, Heinrich Clairmont (Hg.), Herder-Handbuch, Paderborn 2015, 284 – 317. 53 54
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der Geschichte der Menschheit als die wechselseitig sich befördernden Momente einer Vervollkommnung der göttlichen Schöpfung durch den Menschen als „Kunstschöpfer“ – wie Herder im Anschluss an Shaftesburys Diktum vom Künstler als ,second maker" sagen kann – zusammen.61 So interessant die Verweise auf eine als Gegenentwurf zu Kants Kritik der Urteilskraft intendierte herdersche Teleologie in seiner zweiten Metakritik sein mögen, für die Unsterblichkeitsthematik kommt es darauf an, die Konzeption der geschichtlichen Selbstbildung des Menschen zur Humanität näher zu untersuchen. Der springende Punkt zu ihrem Verständnis liegt in der dem Menschen qua Kunstgeschöpf zugemuteten Paradoxie: Die aus der metaphysischen Anthropologie der späten Schriften begründete Aufgabe des Menschen ist es, nach dem Muster seiner selbst als dem höchsten Wesen der Natur zu produzieren, und zwar so, dass in diesem Prozess das Muster selbst erst auszuarbeiten ist.62 Der Mensch ist das Geschöpf, das „alles durch sich selbst werden sollte.“63 Die höchste Norm, die Idee der Menschheit, durch die Geschichte auszubilden,64 ist die Bestimmung des Menschen, während alle anderen Naturwesen schlicht ihrem Gattungscharakter gemäß leben. Zwar folgt aus Herders Ontotheologie und ihrem Ansatz von Dingen als realisierten Gedanken Gottes, dass „in der menschlichen Natur […] alles im Keim da ist, und nur auf seine Entwicklung wartet.“65 Aber nur durch die geschichtliche Tätigkeit des Menschen wird die Idee der Menschheit „sichtbar“,66 so dass Herder den Menschen auch als Pygmalion seiner selbst charakterisieren kann.67 „Auf Kunst ist das Sein und Wohlsein seines [des Menschen] Geschlechts gebauet; nur durch Kunst ist er, was er ist, worden.“68 In Herders lebensphilosophischer Deutung der Geschichte kann die Ausarbeitung des Gattungscharakters der Menschheit zwar die Richtung oder Tendenz der Geschichte angeben,69 nicht aber als der zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erreichende Endzweck der Geschichte gedacht werden – etwa in Analogie zur Herbeiführung des Rechtszustands in Kants Geschichtsphilosophie. Denn aus seiner Vernunftkonzeption folgt die Gebundenheit alles Idealen an seine sinnliche ErFA 8, 762. Vergleichbar sind die von Abbt gegen Mendelssohn vorgebrachten, in eine Parabel gekleideten, Überlegungen, vgl. Thomas Abbt, Zweifel über die Bestimmung des Menschen (1764), in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Alexander Altmann u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 ff., Bd. 6, 11 f.; siehe dazu auch Macor, Die Bestimmung des Menschen (wie Anm. 7), 168 – 172. 63 FA 8, 762. 64 Vgl. dazu die Humanitätsbriefe (FA 7, 123–129). 65 Vgl. FA 7, 34. 66 FA 8, 928. 67 Vgl. ebd., 946. 68 Ebd., 774. 69 Vgl. ebd., 218 f. 61 62
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scheinung im weitesten Sinne. Ideales ist für Menschen nur als Gestalt,70 und d. h. als sinnlich erfahrbare Erscheinung und somit als notwendig unvollkommene Realisierung in der Zeit zugänglich. Herder, der gegen Kants Idee einer allgemeinen reinen Vernunft und die Geltendmachung von überzeitlichen reinen praktischen Gesetzen polemisiert, kann, um überhaupt ein Identisches im Wandel angeben zu können, nur formal auf die Vernunft als proprium des Menschen71 oder auch auf die „reinmenschliche Form“72 als die seiner körperlichen Gestalt „einwohnende Idee und Regel“73 verweisen. Für seine Philosophie stellt sich damit das Problem, wie unter der Voraussetzung der Verzeitlichung der Vernunft und der Durchstreichung einer jenseitigen Welt überhaupt irgendeine Art von Normativität menschlichen Handelns und eine Teleologie der Geschichte begründet werden können. Es ist die für seinen spinozistischen Vitalismus konstitutive Idee der Einheit von Ewigkeit und Zeitlichkeit, von Geist und Körper, auf der sein Lösungsversuch beruht, für den die Idee menschlicher Unsterblichkeit zentral ist: Im Rekurs auf diese Idee beabsichtigt er die Frage nach einem mit den genannten Voraussetzungen zu vereinbarenden Kriterium menschlichen Handelns beantworten zu können; und vermittelst ihrer kann Herder seine Auffassung von der Bestimmung des Menschen in Verbindung mit der vom Endzweck der Geschichte präzisieren. Eine auf den Menschen und seine Hervorbringungen bezogene Form von Palingenesie ist für die ganz in die lebensphilosophische Lehre von der Natur eingegliederte Humanitäts- und Geschichtsphilosophie ebenso unverzichtbar wie die Palingenesie der organischen Kräfte für die im Gott entwickelte Konzeption der „lebendigen“ Naturordnung. Herders Vernunftkonzeption ist holistisch in dem Sinne, dass die Vernunft wie das lebendige Naturding kein „isoliertes Ganze [s]“ ist, sie lebt, d. h. ist wirksam als Moment eines Ganzen, das Herder daher auch als ihr „Element“ bezeichnet:74
Akzentuiert wird mit dem Begriff ,Gestalt" insbesondere, dass jedes Ding die Einheit von Einheit und Vielheit ist, analog zu dem Verhältnis von Gott und Welt als dem Eins und Alles. Das Geistige oder Seelische stellt sich als Einheitsgrund in der gegliederten Vielheit des Körpers als solches dar, so dass es aus dieser seinerseits durch Einfühlung erkannt werden kann, vgl. z. B. FA 8, 750, 956. Der Begriff ,Gestalt" ist noch in anderer Weise für die Epistemologie Herders von entscheidender Bedeutung: Gegen Kants Trennung der philosophischen von der mathematischen Erkenntnis lehrt Herder, dass der Mensch „nur durch Gestaltung zu denken“ vermöge (FA 8, 752). 71 Vgl. ebd., 948, wo Herder den Fortgang der Geschichte als Beseitigung alles Tierischen, d. h. bloß Sinnlichen beschreibt. 72 Ebd., 927. 73 Ebd. 74 Ebd., 230; vgl. auch ebd., 208, wo dieses Ganze als Medium bezeichnet ist, um die Vermitteltheit einer einzelnen Vernunft durch es hervorzuheben. 70
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Seine [des Menschen] Vernunft hängt mit der Vernunft andrer, seine moralische Bildung mit dem Betragen andrer, seine Anlage sich als ein freies Wesen selbst und mit andern zu konstituieren, hangt mit der Denkart, der Billigkeit und der wirksamen Unternehmung Vieler so genau zusammen, daß er außer diesem Element ein Fisch auf trockenem Lande, ein Vogel in luftleerem Raum sein muß.75
Anders als das Tier lebt der Mensch nicht in einem „Naturreich“,76 er ist das einzige Wesen, das sich mit der Sprache und den Produkten der menschlichen Kunst und Kultur seine eigene menschliche Welt schafft, in der es als Vernunftwesen mit seinesgleichen verbunden ist und durch die es in der Ausprägung seiner individuellen Vernunft bestimmt ist.77 Um diesen Zusammenhang aller Vernunftwesen fassbar zu machen, verwendet Herder das Konzept der Palingenesie. Es enthält die Vorstellung, dass alle Äußerungen der Vernunft in der Zeit sind und als solche dem Wandel und dem Vergehen anheim gegeben sind,78 aber auch den Gedanken, dass sie eine „Kette von Wirkungen“79 bilden, in die die einzelnen Vernunftsubjekte eingegliedert sind und durch die sie bedingt und in der Gestalt ihrer Vernunft bestimmt sind.80 Analog zu den Naturdingen ist die Vergänglichkeit aller menschlichen Errungenschaften, die Herder so unerschrocken herausstellt,81 als notwendiges Moment sich verjüngender unaufhörlicher Wirksamkeit gedacht. Es ist der Gedanke der Wechselwirkung zwischen vergeistigender Aneignung zeitlicher Manifestationen der Vernunft anderer Vernunftwesen und ihres erneuten Ausdrucks in Sinnlichem, der es Herder ermöglicht, die Menschheitsgeschichte insgesamt als „fortgehende Metamorphose“82 oder – mit Akzent auf dem Moralischen – als „große Palingenesie der Gesinnungen“83 zu beschreiben. Es genügt indessen nicht, den Zusammenhang der Vernunftwesen analog zu dem der Naturdinge vorzustellen, um die „wahre menschliche Unsterblichkeit“84 vor Augen zu bringen. Sie ist nur vermittelst der für die Menschheitsgeschichte Ebd., 230 f. Ebd., 723. 77 Vgl. ebd., 208 f. 78 Das gilt auch für gesellschaftliche und politische Formationen wie „Einrichtungen, Verfassungen, Stände, Korporationen“, ebd., 224; vgl. ebd., 229. Wenn hier statt des Begriffs Palingenesie bevorzugt von Evolutionen die Rede ist, so sind die das Lebendige in Natur und Geschichte konstituierenden Momente von Sterben und Verjüngung damit von ihrem Ziel her beschrieben als „Entwickelung ihrer [der Natur] Gestalten, Gattungen und Arten“ (ebd., 229). 79 Ebd., 208. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. ebd.; vgl. auch Herder, Tithon und Aurora (wie Anm. 9), 221–239, in der Herder die Vergänglichkeit aller menschlichen Einrichtungen, Werke und Leistungen – einschließlich von Kunst und Wissenschaft – vor Augen führt. 82 Herder, Sämmtliche Werke (wie Anm. 59), Bd. 13, 254. 83 FA 8, 272. 84 Ebd., 207. 75 76
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konstitutiven Idee der Humanität zu definieren85 und ist von einer anderen nur dem Menschen möglichen Art der Unsterblichkeit abzugrenzen: von der Unsterblichkeit des Nachruhms,86 „Kunst-Unsterblichkeit“87 genannt. Der „süße Traum, […] mit seinem Namen, in seiner Person und Gestalt auf die Nachwelt überzugehen, und ein leibhafter Gott zu werden“,88 hatte in der Jugendzeit der Menschheit im antiken Griechenland seine Berechtigung, wo einzelne Menschen sich ins Göttliche und Heroische erheben und im Glanz dichterischer Darstellung sich verewigen konnten. Diese in das Erbe der Menschheit eingeschriebenen Beispiele in der eigenen prosaischen Zeit nachahmen zu wollen, bedeutete ein grundlegendes Missverständnis des Menschen hinsichtlich seiner Gebundenheit an eine bestimmte Stelle in der Zeit. Um einen Begriff menschlicher Unsterblichkeit bilden zu können, der als Begriff dem entspricht, was durch ihn gedacht wird – nicht dem Wandel der Zeiten zu unterliegen –, ist auf die zeitenthobene Idee der Humanität zu rekurrieren, um seinen Inhalt zu bestimmen: Unsterblich nämlich und allein unsterblich ist, was in der Natur und Bestimmung des Menschengeschlechts, in seiner fortgehenden Tätigkeit, im unverrückten Gange desselben zu seinem Ziel, der möglichstbesten Ausarbeitung seiner Form wesentlich liegt; was also seiner Natur nach fortdauren, auch unterdrückt immer wiederkommen, und durch die fortgesetzte, vermehrte Tätigkeit des Menschen immer mehr Umfang, Haltung und Würksamkeit erlangen muß: das rein-Wahre, Gute und Schöne.89
In dieser Exposition der Bestimmung des Menschengeschlechts sind der Prozess (der Gang, die fortgehende Tätigkeit) und das Ziel (die Idee oder Form) miteinander verknüpft, um dem Prinzip der Gebundenheit alles Idealen an seine zeitliche oder räumliche Erscheinung Rechnung zu tragen. Dass über den Gattungscharakter der Menschheit durch das geschichtliche Handeln entschieden wird und in einem auf Vervollkommnung der Gattung gerichteten Tätigsein die Bestimmung des Menschen liegt, ist jener Grundgedanke Herders, der den existenzialistischen Humanismus präludiert – vorausgesetzt freilich, man abstrahiert von seinen theologischen Prämissen.90 An die Stelle der ins Vollkommene gesteigerten Einzelwesen treten Repräsentationen der allgemein gefassten Idee: dasjenige in dieser „fortgehenden Tätigkeit“, was den Normen des Wahren, Guten und Schönen Vgl. z. B. ebd., 218 f.; FA 7, 123–129. Vgl. Platon, Symposion 208d f. 87 Vgl. FA 8, 203. Diese Herabstufung einer dem großen Künstler zuteilwerdenden Form von Unsterblichkeit ist wohl auch als Selbstkritik am früheren Genie-Kult zu lesen. Vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985, hier Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, 141–149. 88 FA 8, 203. 89 Ebd., 207. 90 Vgl. FA 7, 153 f., wo es heißt: „Er [der Mensch] konstituieret sich selbst; er konstituiert mit anderen […] eine menschliche Gesellschaft“. Siehe auch FA 8, 207. 85
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als den universalen Prinzipien der Schöpfung entspricht, ist wahrhaft unsterblich.91 Richtet sich der Mensch im Denken und im Handeln an jenen Ideen aus, vergöttlicht er sich auf andere Weise als der griechische Held. Er „legt die sterbliche Hülle der Persönlichkeit ab“, entfernt die „Privatleidenschaft“,92 um sich durch die reinen Formen des Wahren, Guten und Schönen zu bestimmen und sich damit zum Ebenbild Gottes zu machen.93 So bringt der Mensch das Ewige im Zeitlichen zur Geltung und macht sich selbst unsterblich in seinen die Humanisierung der Menschheit94 befördernden Werken. Als Darstellungen einer an göttlichen Prinzipien orientierten menschlichen Vernunft in der zeitlichen Welt der Erscheinungen zeichnen sich die Werke, Taten und Gedanken von Menschen aus, indem sie fortdauern, sich allgemein mitteilen und in anderen Vernunftwesen weiterwirken.95 In Hinsicht auf Zeit, Umfang und Wirksamkeit spiegeln sie das Göttliche, entfalten als Geistiges im Vernunftleben die stärkste Kraft zur Wiederverkörperung und ermöglichen damit dem Menschen selbst eine Art ewiges Leben: Menschen leben „in ihren Anstalten“ und werden so „selbst unsterblich“.96 Die Idee der Humanität ist der Grund zur Unterscheidung von Ewigem und Vergänglichem in logischer und ontologischer Hinsicht: Nur die zum „Ertrage der Menschheit“ gesäten Früchte sind „von unsterblicher Art, von immer neuer Kraft, von immer wuchernden Zweigen. Dagegen, was sich in und mit der sterblichen Gestalt verzehrt, das geht hinab in den Orkus.“97 Umgekehrt wird das an der Menschheit orientierte Denken und Handeln zum Motor der Verwirklichung dieser Idee in der Geschichte. Wird das Vernünftige als das Dauerhafte, Wirkungsvolle, „Allgemeingeltende“98 auf diese Weise in den geschichtlichen Wirkungszusammenhang eingebracht, stiftet es eine innige Vereinigung99 zwischen den Menschen, denn die durch Vernunft bestimmten Äußerungen wirken zufolge ihrer Allgemeinheit verbindend und homogenisierend auf den menschlichen Geist zurück.100
Vgl. FA 4, 723. Die entwickelte menschliche Vernunft, die die in der Natur zum Ausdruck gebrachten göttlichen Vernunftprinzipien in vielerlei Manifestationen erkannt hat, gelangt schließlich dazu, die den endlichen Dingen zugrundeliegenden Ideen Gottes, die „Gesetze […] des Gegenstandes“ und das Maximum perfectionis der Arten zu ersehen. Vgl. FA 8, 211. 92 Ebd., 211. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd., 210. 95 Vgl. ebd., 208–212. 96 Ebd., 210. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Vgl. ebd., 208. 100 Herder kann das auch so darstellen, dass die Form oder das Gesetz der Natur, das in uns liegt, entwickelt wird (vgl. ebd.). 91
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Herder kann den auch normativ gebrauchten Gedanken der Menschheit nur als Zweck, und d. h. als Einheitsgrund eines Ganzen von gleichartigen Teilen denken; vermittelst der Idee der Menschheit kann das Allgemeine im Sinne des Kollektivs aller Menschen als geeint begriffen werden, und diese Einheit im doppelten Sinne des Prinzips und des durch es begründeten Ganzen wird als Werk und fortgehender Bau der Menschheit vorstellbar. Daher hat Herder die Menschheit analog zur Alleinheit von Gott und Natur101 auch als Baum veranschaulicht und das durch den Menschen zur Geltung gebrachte Ewige und Geistige durch Kennzeichen seiner Erscheinung in Raum und Zeit bestimmt. Grundzüge seines Zeit und Ewigkeit, Geist und Körper vermittelnden Humanismus fasst Herder in seiner metaphernreichen Sprache zusammen: Teilnehmen müssen wir; wir stehn im Strom der Zeit, wo eine Welle die andre treibet; nützlich oder schädlich müssen wir also auf die Zukunft wirken, wie die Vergangenheit auf uns wirkte; der Kampfpreis des Lebens ist, daß wir auch in Nacht und Nebel das Ziel treffen, wo der Kranz hängt, daß wir die Saite treffen, wo wohlklingende Konsonanzen ins Unendliche hinauf- und hinuntertönen. […] Dadurch drücken wir unser Bild lebendig ab; diese nehmens an und pflanzen es weiter. So erhob sich der Baum der Humanität über die Völker.102 Herders Metakritik von Kants Moraltheologie und Unsterblichkeitslehre in der Kritik der reinen Vernunft bietet nicht nur einige triftige Argumente gegen diese frühe Version, sondern gestattet auch Einblick in Herders Kritik von Kants Vernunft-Konzeption. Auf der Grundlage von Herders eigener Vernunft-Auffassung wird plausibel, warum diese Philosophie wesentlich eine Geschichts- und Humanitätsphilosophie ist, die ihrerseits einen neuen Begriff von menschlicher Unsterblichkeit zu bilden ermöglicht. Herder!s metacritique of Kant!s moral theology and doctrine of immortality in the Critique of Pure Reason offers not only some compelling arguments against this early version; it also permits a view into Herder!s critique of Kant!s conception of reason. On the basis of Herder!s own conception of reason, it becomes clear why this philosophy
Ebd., 213; in den Humanitätsbriefen wird die „vielgestaltige Menschheit“ als eine der Organisationen der Natur genannt, und in diesem Zusammenhang ist von dem Genius der Menschheit die Rede, der der höheren Kraft in einem wirklichen Lebendigen entspricht. Vgl. FA 7, 700. Entsprechend wird der Geist der Humanität als Einheitsprinzip der Menschheit eingeführt. Vgl. auch FA 8, 271. Zur Applikation der Organismus-Metapher auf Volks- und Humanitätsbegriff bei Herder vgl. Marion Heinz, Herders Volksbegriff zwischen Lebensmetaphysik und Humanitätsidee, in: Rudolf Burger, Hans-Dieter Klein, Wolfgang H. Schrader (Hg.), Gesellschaft, Staat, Nation, Wien 1996, 141 – 158. Die Metapher des Baus ist geeignet sowohl den Prozess des Herstellens als auch das Resultat zu bezeichnen. Vgl. dazu FA 7, 33,131,141,148. 102 FA 8, 212. 101
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is essentially a philosophy of history and of humanity that, for its part, renders possible a new notion of human immortality. Prof. Dr. Marion Heinz, Universität Siegen, Philosophisches Seminar, Adolf-Reichwein-Straße 2, D-57068 Siegen, E-Mail: [email protected]
Friedrich Vollhardt Unsterblichkeit bei Friedrich Heinrich Jacobi1
Im Vorbericht zum vierten Band der Ausgabe seiner Werke, der posthum 1819 erschienen ist, führt Jacobi aus, wie sehr er eine „chronologische Ordnung“ der Schriften gewünscht habe, die jedoch – aus mehreren Gründen – nicht einzuhalten war. So ist sein wohl bedeutendstes Werk erst an dieser späten Stelle in die Ausgabe aufgenommen worden; für den Autor ein Anlass, Rückschau zu halten: Ich zähle mit Kant zu den wesentlichen Gegenständen der Philosophie: Gott, Freyheit, Unsterblichkeit. Einst – als diese Briefe über Spinoza zum erstenmal erschienen – war diese Meynung in Deutschland herrschend und hatte entschiedenes Gewicht […]. Hat seitdem die Philosophie als wahre Wissenschaft eine durchaus andre Absicht gefunden?2
Eine rhetorische Frage, da sich in den dreißig Jahren, die seither vergangen sind, für Jacobi scheinbar wenig an dieser Ausgangslage verändert hat, weshalb er die kantische Trias in den Schriften nach 1800 oft und gerne anführt. Das lässt auf Konstanten in seinem Werk schließen, die eine systematische Rekonstruktion der Grundgedanken nahelegen. Diesen Versuch hat die Jacobi-Forschung mit guten Resultaten unternommen (ich erinnere an die Studie von Günther Baum3) und mit ebenso guten Gründen kritisiert (zu wenig beachtet ist hier eine Abhandlung von Eilert Herms4): Denn zwischen den Lehrjahren in Genf und der Verabschiedung als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften liegen Jahrzehnte, in denen das Denken Jacobis vielleicht keine grundlegende Wandlung, aber doch eine Entwicklung durchläuft, beeinflusst durch wechselnde persönliche Kontakte und befördert durch einen intensiven Austausch mit den führenden Intellektuellen der Zeit. Der umfangreiche Briefwechsel Jacobis bildet ein einzigartiges kulturhistorisches Dokument – und Quelle, auch was die Frage Die Vortragsform wurde beibehalten. Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, hg. von Klaus Hammacher u. a., Bd. 1.1, Hamburg, Stuttgart 1998, 340. 3 Günther Baum, Vernunft und Erkenntnis. Die Philosophie F. H. Jacobis, Bonn 1969. 4 Vgl. Eilert Herms, Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 58 (1976), 121–163, hier 149, Anm. 166. 1
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Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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nach der Unsterblichkeit der Seele betrifft, die Jacobi in seiner Korrespondenz vielfach berührt. Das Problem wird hier – wie zu erwarten – eher kolloquial erörtert, eine dem Thema explizit gewidmete Schrift hat Jacobi nicht verfasst.5 Sein Beitrag zu dieser das Jahrhundert prägenden Diskussion ist gleichwohl von großer Bedeutung, da er an Konstellationen partizipiert und Gesprächslagen bestimmt hat, in denen sich die in der Zeit maßgeblichen Konzeptionen herausgebildet haben. Wie genau er die Systembildungen kannte, aus denen er bestimmte Grundsätze in seine Religionsphilosophie übernommen hat, soll im Folgenden anhand von Theorieformen beschrieben werden, für welche die Namen von Charles Bonnet, Moses Mendelssohn, Johann Caspar Lavater und Johann Georg Schlosser stehen, mit denen Jacobi persönliche Beziehungen unterhielt. Wer zeigen möchte, was der in der neueren Historiographie gebrauchte Begriff des ,Netzwerkes" beinhaltet oder als heuristische Kategorie leistet, der findet bei Jacobi reiches Anschauungsmaterial. Doch bevor ich mich dieser Konstellation zuwende, werfe ich noch einen Blick auf den eben zitierten Vorbericht aus dem Jahr 1815, den die Zeitgenossen als „philosophische[s] Testament“6 Jacobis betrachtet haben. Hier äußert er sich auch zu dem Streit, den die Veröffentlichung der Spinozabriefe ausgelöst hat und zu der damit verbundenen Kritik an seiner Philosophie, die als „blinder Köhlerglaube“ geschmäht wurde. Noch einmal verteidigt er die von ihm gewählte Metapher des Sprunges, den berühmten „Salto mortale“, mit dem er sich den Konsequenzen einer rein rationalistischen Argumentation zu entziehen versuchte: „Der Geist widerspricht allmächtig dem Urtheil, daß die geistlose Substanz Alles und daß außer ihr Nichts sey.“7 Ein Wissen vom göttlichen Wesen ist nicht auf spekulative Weise, sondern nur über „Gefühl und Anschauung“ zu erhalten.8 Ich rufe die Grundzüge der jacobischen Glaubensphilosophie (Stichwort: das „Unbedingte“) und Vernunftkritik hier deshalb in Erinnerung, weil in der zitierten Vorrede auch von der Seele des Menschen die Rede ist und das bekannte terminologische Feld dabei um einen Begriff erweitert wird, der – wie ich im Anschluss zu zeigen versuche – von zentraler Bedeutung für den Unsterblichkeitsdiskurs gewesen ist. „,Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das Gewissenhafteste vor Augen zu stellen"“, sei der „Zweck“ seiner Philosophie, schreibt Jacobi, und fährt fort: Karl Homann, F. H. Jacobis Philosophie der Freiheit, Freiburg, München 1973, 167. Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Düsseldorf als Zentrum von Wirtschaftsreform, Literatur und Philosophie im 18. Jahrhundert. Eine Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts, zusammengestellt von Klaus Hammacher, erläutert von Klaus Hammacher und Kurt Christ, Düsseldorf 1985, 104. 7 Jacobi, Werke (wie Anm. 2), Bd. 1.1, 348. 8 Ebd. 5 6
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Sie mußte beginnen mit den ursprünglichsten Offenbarungen der Seele, welche mehr sind und höher als die gesammte Natur der Dinge, welche den Menschen annehmen lassen, daß er sich in einem Zustande der Gesunkenheit befinde, und ein im Verstande verlorenes Licht wiederzuerwerben habe.9
Offenbarung: dieser Begriff wird hier nicht in einem übertragenen, vielmehr in einem erkenntnistheoretischen Sinn gebraucht; dazu gleich mehr. Ich erlaube mir noch eine letzte Vorbemerkung, für die ich ein letztes Mal den ausgiebig zitierten Vorbericht heranziehe, wo Jacobi auf einen bereits gegen Petrus Ramus erhobenen Vorwurf reagiert, dass er nämlich „gegen die Observanz mit der Philosophie Beredtsamkeit verbinde“,10 also eine in der Fachdiskussion ungewohnte Rhetorizität pflege, um für seine „Gedanken und Empfindungen“ einen angemessenen Ausdruck zu finden; von früh an sei er „darstellend zu Werke“ gegangen, wofür er als Beleg in einer Fußnote auf den Vorbericht zu seinem 1776 erschienenen Roman Eduard Allwills Papiere verweist.11 In der Tat: der Philosoph lässt sich nur schwer vom Romancier trennen, wie ein Brief an Hamann vom Juni 1783 eindrucksvoll zeigt, in dem Jacobi ausführt, dass der „Hauptgegenstand“ seiner Romane darin bestehe, „Beyträge zur Naturgeschichte des Menschen zu liefern“.12 Zu erklären ist das dualistische Verhältnis zwischen unseren sinnlichen Vorstellungen und einem geistigen, mit Selbstwahrnehmung verbundenen Sein. In seinen belletristischen Versuchen habe er das Problem dargestellt, ohne es einer Lösung zuführen zu können. Jacobi verwendet hier Formulierungen, die wir aus dem eben zitierten Text des Spätwerkes kennen: Mir deucht unsre Philosophie ist auf einem schlimmen Abwege, da sie über dem Erklären der Dinge, die Dinge selbst zurück läßt; wodurch die Wißenschaften freylich sehr deutlich, u die Köpfe sehr hell, aber auch in demselben Maße leer u seicht werden. Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers: Daseyn zu enthüllen. Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt; das Einfache, das Unauflösliche. – Hievon Ein u Andres darzustellen, ins Auge zu bringen: überhaupt, Sinn zu regen, u durch Anschauung zu überzeugen, war meine Absicht: ich wollte, was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat, so gut ich könnte, ans Licht bringen, u damit der Koth-Philosophie unserer Tage, die mir, von Kindesbeinen an ein Gräuel war – wenigstens meine Irreverenz bezeigen. […] Ich glaubte, und ich glaube noch, daß ein Gedicht nicht moralischer zu seyn braucht, als die Geschichte im eigentlichen Verstande; nicht erbaulicher, als die würkliche Natur. Woldemars Philosophie [sc. der zweite Briefroman Jacobis] ist eine Thür, u sie ist auch eine Mauer: wie mans nehmen will. Daß sie nicht auslangt, erfährt man schon am Ende Ebd. Ebd., 352; Hvhg. F.V. 11 Ebd. 12 Friedrich Heinrich Jacobi, Briefwechsel. Gesamtausgabe, hg. von Michael Brüggen u. a., Bd. 1.3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 163. 9
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des ersten Theils seiner Geschichte […], wie hülflos u elend steht er nicht, mit dem Besten was er noch gefunden hatte, da? So wollt" ich ihn verfolgen bis ans Grab, und in der edelsten Philosophie die mir bekannt ist, das große Loch das ich selbst darin gefunden habe, zeigen.13
Jacobi hat seinen Roman kurz nach dem Erscheinen umgearbeitet, wobei er das pessimistische Ende abschwächte. Das Philosophische Gespräch ist 1781 unter dem Titel Der Kunstgarten veröffentlicht worden. Der Autor hat sich hier noch deutlicher als in der zuvor erschienenen Buchfassung des Romans auf das Werk Rousseaus bezogen. Bereits der Titel bringt dies zum Ausdruck: Der nur scheinbar wilde, in Wirklichkeit durch menschliche Arbeit angelegte Garten – Julies künstliches Paradies, wie es Rousseau in der Nouvelle H)lo*se schilderte – bildet eine „Ersatznatur“,14 ein Sinnbild, das Jacobi Anlass zu der Frage gibt, ob diese Illusion, die einen eingeschränkten, aber kalkulierbaren Genuss gewährt, nicht eher der Verwirklichung wert ist als die Rekonstruktion der vermeintlich wahren Natur. Es ist der Rousseau der Zivilreligion, auf den Jacobi sich hier berufen kann. Ihr Dogma ist die Pflege der gewachsenen sittlichen Gemeinschaftsgefühle, die umso wertvoller sind, je näher sie dem Naturzustand kommen – der freilich eine fiktive Setzung bleibt. Was garantiert dann aber die Beständigkeit eines Sittengesetzes oder die Geltung einer ethischen Norm? Zieht man sich auf die Konvention zurück, bleibt der Gegensatz zwischen humaner Natur und entfremdeter Gesellschaft notwendig bestehen. Kann, noch einmal anders gefragt, an den Idealen der intersubjektiven Transparenz, der sanften Leidenschaften und einer untrüglichen Selbstwahrnehmung festgehalten werden? Jacobi hat weder den Evidenzgründen Rousseaus zugestimmt noch an dem Konzept der ästhetischen Bildung mitgewirkt, das wenig später in Weimar entwickelt worden ist. Seine Lösung der genannten Fragen hat er in der von Hume und Hamann vorbereiteten Analyse der sinnlichen Erkenntnis und in dem Faktum gefunden, dass wir an die Wahrheit dieser Erkenntnis glauben müssen. Das Glaubensprinzip löst die Frage nach der Struktur unseres Urteilsvermögens und bildet die Basis für die Unterscheidung zweier im Bewusstsein des Menschen sich teilender Vorstellungen. Zum einen des durch die äußere Sinneserfahrung vermittelten Wissens vom Dasein endlicher Dinge; und zum anderen desjenigen Gefühls, das uns von der Realität subjektiver Freiheit, moralischer Selbstbestimmung und, nicht zuletzt, der Unsterblichkeit überzeugt. Dieses „UnEbd. Vgl. Wolfgang Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektgestaltung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen 1990, 78 ff.; vgl. auch Friedrich Vollhardt, Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau, in: Herbert Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin 1995, 79–100. 13 14
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bedingte“ lässt sich nicht theoretisch konstruieren, nicht einmal im Modell des Romans. Mit der an Hamann gerichteten Frage, „was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat“,15 ist sehr genau die Problemlast bezeichnet, mit der sich Jacobi seit seinem Studium in Genf und als Romanautor abmühte. Eine Lösung findet er am Beginn der 1780er Jahre in der erneuten Auseinandersetzung mit Bonnet und im Briefwechsel mit Lavater, in dem das „Offenbarungsthema als Gesprächsgegenstand“ erstmals auftaucht. Offenbarung wird als eine besondere, der äußeren Sinneswahrnehmung komplementäre Form der Erkenntnis betrachtet, kurz als ein „Rezeptionsorgan“16 für das Übersinnliche. Dieser Annahme kam eine „epistemologische Entlastungsfunktion“17 zu, die den Geltungsanspruch unseres in der Selbsterkenntnis gegebenen Wissens um Freiheit, Gott und Unsterblichkeit sichern sollte – als eine auf Erleben gegründete Einsicht. Wie ließ sich eine solche Erfahrungstatsache darstellen? Wenige Monate nach dem Schreiben an Hamann starb Betty, die Ehefrau Jacobis. Die Nachricht von ihrem Tod hat er in Worte gefasst, die sein neues Offenbarungsverständnis zum Ausdruck bringen: Ich habe nun was ich vom Himmel forderte: ein Zeichen der Unsterblichkeit […]; und sie deren ganzes Wesen Aufopferung war, die unsträfliche, die Heilige, sie starb, um dieses Zeichen mir zu geben, um dieß Zeuchniß mir zu laßen, damit ich ewig bey ihr bliebe. Gewiß und wahrhaftig was sie belebte, war ein Geist aus der Höhe; nicht ein Werk des Staubes der anjetzt zerfällt; der ihn erschaffen hat, ist Gott; ist ein Gott, der die Menschen liebt ! denn wie liebte sie nicht die Menschen?18
Die Wahrnehmung des geistigen Seins bedurfte wohl dieser hochgradig literarischen Stilisierung, die zudem an den Schluss von Rousseaus Nouvelle H)lo*se erinnern konnte, wo ähnlich empfindungsreich der Glaube an das Fortleben Julies zelebriert wird. Wie anders klingen die Briefe, die Lessing in einer existentiell ähnlich berührenden Situation nach dem Tod seiner Frau verfasst hat. Doch ein solcher aus der Erfahrung geführter Beweis für die Unsterblichkeit musste sich auch von der persönlichen Situation ablösen und diskursiv fassen lassen, um zu überzeugen. Am Ende seines 1787 publizierten David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus hat Jacobi seinen Grundgedanken deutlicher expliziert, wobei er ähnliche begriffliche Ressourcen aufbietet und erneut eine literarische Form verwendet: Das Titelblatt kündigt Ein Gespräch an, das dialogische Moment sollte der leichteren Verständigung mit dem Leser dienen. Der mit Ich bezeichnete Gesprächspartner – das Alter ego Jacobis – fasst den Ertrag wie folgt zusammen: 15 16 17 18
Jacobi, Briefwechsel (wie Anm. 12), 163. Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt (wie Anm. 4), 146 und 148, Anm. 158. Ebd., 152. Jacobi, Briefwechsel (wie Anm. 12), 285.
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Denn noch einmal, wir erfahren und werden gewahr nur mit dem Verstande und mit der Vernunft, nie aber durch den Verstand und durch die Vernunft, als wären sie besondere aus sich offenbarende Kräfte. Abgesondert von dem offenbarenden Vermögen, dem Sinne, als dem Vermögen der Wahrnehmung überhaupt, sind sie ohne Inhalt und Geschäft, bloße Gedankendinge, Wesen der Einbildung. […] Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen außer uns intensiv und extensiv zu unterscheiden, ist der Grad unserer Persönlichkeit, das ist, unserer Geisteshöhe. Mit dieser köstlichsten Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottesahndung; Ahndung dessen, Der Da Ist: eines Wesens, das sein Leben in ihm selbst hat. – Von da her weht Freyheit die Seele an, und die Gefilde der Unsterblichkeit thun sich auf.19
Die höhere Vernunftform, von der hier gesprochen wird, lässt sich nur aus jenem ,offenbarenden Vermögen", eben aus dem Begriff der Offenbarung verstehen, den Jacobi in Auseinandersetzung mit Bonnet und Lavater entwickelt hat, auf die nun etwas ausführlicher einzugehen ist. Jacobi hat, wie bemerkt, in den Jahren 1759 bis 1761 in Genf philosophische Studien betrieben. Von Wilhelm Jacob !s Gravesande, dem Verfasser einer Introductio ad Philosophiam (1720), erhielt er Privatunterricht; gleichzeitig pflegte er mit Charles Bonnet einen engen Umgang, dessen naturwissenschaftlich fundierte und an Descartes orientierte Seelenlehre ihn tief beeindruckte. Der Jurist und Privatgelehrte Bonnet war ein in europäischen Gelehrtenkreisen angesehener Naturforscher und das jüngste korrespondierende Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften. War Bonnet in Fragen der Zeugungslehre ! die Zellteilung war noch unbekannt – anfänglich noch unentschieden zwischen den beiden zur Debatte stehenden Modellen ! der Epigenese und der Präformation !, wurde er durch seinen eigenen empirischen Nachweis der Parthenogenese der Blattläuse zum Vertreter der Präformationslehre, der zufolge alle Organismen (leibseelische Einheiten, „Keime“) gleichzeitig entstanden sind und im Laufe der Erdgeschichte und zu vorherbestimmter Zeit durch Wachstum in Erscheinung treten – das ließ sich durchaus konform mit der biblischen Schöpfungsgeschichte behaupten.20 1760 erschien in Kopenhagen Bonnets psychologische Erkenntnistheorie Essai sur les facultes de l!Ame, 1762 in Amsterdam die Considerations sur les corps organises, worin er die Präexistenz der ganzen Pflanze im Keim annimmt. Diese Vorstellung hat in Lavaters Theologie und Philosophie im Zusammenhang seiner Unsterblichkeitshypothesen einen gleich großen Stellenwert wie der ebenfalls von Bonnet übernommene Begriff der ,Höchsten Vollkommenheit des Zusammengesetzten" aus der Contemplation de la Nature (Amsterdam 1764), die im Gespräch zwischen Jacobi und Lessing erwähnt wird. Jacobi, Werke (wie Anm. 2), Bd. 2.1, 284 f. Gisela Luginbühl-Weber, Einleitung, in: dies. (Hg.): Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Jacob Benelle. Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung der Schweiz, Bd. 1: Briefe, Bern 1997, S. xxi–lxxvii, hier liv f. 19
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Bonnet war damit ein auch in Deutschland bekannter Autor, doch erst seine Paling)n)sie Philosophique wurde zum Bestseller, und das nicht aufgrund der berüchtigten, von Lavater als Übersetzer hinzugefügten Widmung an Moses Mendelsohn; der Skandal ist vom Werk zu trennen. Bonnets in der Paling)n)sie ausgeführte Glückseligkeitslehre21 basiert auf einer ontologischen und einer moralischen Lehre, die beide darauf hinauslaufen, die Auferstehung und das ewige Leben nach dem Tod zu beweisen. Bonnet geht, wie bemerkt, davon aus, dass jeder Mensch sich aus einem von Gott gegebenen und daher aus göttlicher Substanz bestehendem Keim heraus zu unterschiedlichen Vollkommenheitsstufen entwickelt. Die göttliche Substanz sei zwar unveränderlich, in Form des Körpers habe aber Gott den Menschen die Möglichkeit gegeben, einmalig und daher veränderlich zu sein. Der Mensch nimmt eine Sonderstellung ein, da er sich aus zwei untrennbar miteinander verbundenen Substanzen zusammensetzt: Indem er sich nur durch seine körperliche Ausdehnung individualisieren kann, ist er auch nach seinem Tod auf eine Art von Körperlichkeit angewiesen.22 An diesem Punkt unterscheidet sich Bonnets Unsterblichkeitslehre etwa von derjenigen Mendelssohns, die eine Seele als immaterielle Substanz annimmt. Bonnets Theorie des „etre-mixte“ sollte die Auferweckung zu einem überirdischen Körpers gemäß 1 Kor. 15,44 widerspruchsfrei erklären.23 Da die zur Glückseligkeit nötige moralische Vollkommenheit nur angestrebt werden kann, wenn sie durch den Glauben an ein jenseitiges, als Belohnung gedachtes Leben motiviert ist, bedarf es einer über die bloße Wahrscheinlichkeit hinausgehenden Gewissheit von der postmortalen Weiterexistenz, kurz es braucht von der Vernunft unabhängige Beweise, die nur in der göttlichen Offenbarung gefunden werden können, vor allem bei den in der Bibel berichteten Wundern. Bonnet bezeichnet diese als „modifications“ der Naturgesetze, die allein dem göttlichen Willen unterliegen und über die Grenzen des dem menschlichen Verstand Einsichtigen hinausgehen.24 Dieser Teil der Paling)n)sie war für Lavater von höchstem Interesse. Die Gründe sind unschwer auszumachen: Die theologische Apologetik erhielt nun in einem ihrer Kernbereiche Unterstützung durch eine Autorität der Naturforschung. Lavaters erste Übersetzung des bonnetschen Werkes umfasste denn auch nur den apologetischen Teil, den Lavater unter dem Titel Herrn Carl Bonnets verschiedener Akademien Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des MenZum Folgenden vgl. Daniela Kohler, Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Göttingen 2016, 18 ff. 22 Vgl. ebd., 18. 23 Vgl. ebd., 18 f. 24 Vgl. ebd., 20. 21
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schen 1769 veröffentlichte (im selben Jahr noch zweites Mal gedruckt, allerdings unter Weglassung der Widmung und der Vorrede; der erste Teil – Kapitel 1–15 – folgte 1770). Die vorab publizierten Schlusskapitel der Paling)n)sie, aus denen ich gleich eine Probe zitieren werde, sind in der Zeit eines engen Briefkontaktes zwischen Bonnet und Lavater entstanden. Der Korrespondenz lässt sich entnehmen, dass sich nicht nur Lavater von Bonnet hat anregen lassen, sondern auch der Genfer Naturforscher von Lavater profitieren konnte. In der Vorrede seiner Übersetzung schreibt der Züricher Theologe: Von meinen Anmerkungen will ich nicht viel sagen: Die wenigen, die eine Beziehung auf die Aussichten in die Ewigkeit haben, und die ich leicht noch hätte häufen können, wenn ich alle die frappanten Ähnlichkeiten zwischen dieses Verfassers Vermuthungen und den meinigen hätte nachzeigen wollen, wird man einer unschuldigen Eigenliebe zu gut halten.25
Aber es gab auch Differenzen. Unsterblichkeit26 – darin waren sich Lavater und Bonnet mit den meisten Denkern ihres Jahrhunderts seit Leibniz einig – bedeutet mehr als Unverweslichkeit, nämlich die Fortdauer des Gedächtnisses, Kennzeichen des Individuums als des jeweils einmaligen, unverwechselbaren, mit der ganz individuellen, im Prozess des Erinnerns gegenwärtigen Erfahrung. Ob der Ort dieser Erinnerung körperlicher oder geistiger Natur sei, hat der Cartesianer Bonnet elegant mit seinem Begriff des „etre-mixte“, der (untrennbaren) Doppelnatur alles Geschaffenen, beantwortet. Sein Züricher Schüler hat es von ihm übernommen, aber mit älterem Gedankengut verbunden, das ihm wohl (wie die Herausgeberin des Briefwechsels vermutet27) von seiner Felgenhauer-Lektüre her vertraut war. Bonnets unausgedehntes „etre-mixte“, ist für Lavater ein Geistleib, der, obwohl ausgedehnt, dennoch unverweslich ist, eine Art plastisches Gewebe: unendlich dehnbar und wiederum auf einen Punkt reduzierbar. Die Grenze zwischen den verschiedenen philosophischen Positionen verläuft, so Gisela Luginbühl-Weber, „oft zum Verwischen dünn, und wird, so der Eindruck, vor allem an dem ersichtlich, was ein Autor zu sagen wagt, und was noch nicht.“28 Damit zurück zu Jacobi und zum Text der bonnetschen Palingenesie, die auch in dem berühmten Wolfenbütteler Gespräch mit Lessing Erwähnung findet, ergänzt durch eine Bemerkung Jacobis, wonach er Bonnets „sämtliche Schriften
Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweis für das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseeligkeit des Menschen, Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Kaspar Lavater, Zürich 1769, X. 26 Vgl. zum Folgenden Luginbühl-Weber, Einleitung (wie Anm. 20), lxviii. 27 Ebd., lxviii f. 28 Ebd., lxix. 25
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[…] ehedem beinah auswendig gelernt hatte“.29 Im Folgenden wird dann noch eine Stelle aus der französischen Originalausgabe zitiert, doch kann sicher davon ausgegangen werden, dass Jacobi später die lavatersche Übertragung kannte und benutzt hat, vor allem auch den apologetischen Teil; hier heißt es in Kapitel 22, das den Beschluß der Ideen über den künftigen Zustand des Menschen enthält: Wenn ein Wesen, welches wesentlich aus der Vereinigung zwoer Substanzen gebildet ist, bestimmt wäre fortzudauern, so würde es als ein vermischtes Wesen fortdauern; oder es wäre, wie ich dargethan habe, nicht mehr dasselbe Wesen. Die Lehre von der Auferstehung ist also eine unmittelbare Folge der Natur des Menschen. Sie ist also eine sehr philosophische Lehre. Die, welche alles auf die Seele zurückführen wollen, vergessen den Menschen. […] Der Mensch ist mit einem Gedächtniß versehen; und dies Gedächtnis steht in Verbindung mit dem Gehirn: Es ist das Fundament der Persönlichkeit des Menschen, und die Schatzkammer seiner Kenntnisse. Wenn dieselbe Person fortzudauern bestimmt ist, so wird sie das Andenken der vergangenen Dinge bewahren, und einen gewissen Fond erworbener Ideen behalten müssen. Es muß also in dem Menschen einen physischen Sitz der Persönlichkeit geben, welcher denen Ursachen, wodurch das gegenwärtige (animalische) Leben zerstört wird, nicht unterworfen ist. Die Offenbarung verheißt uns einen geistlichen Leib, der auf den animalischen folgen soll. […] Dieser geistliche Leib, der auf den animalischen zu folgen bestimmt ist, wird sonder Zweifel durch seine Organisation nicht minder, als durch die Materie, aus welcher er gebildet seyn wird, von demselben verschieden seyn. […] Schon die Vernunft leitet uns auf diese Vermuthung; und die Offenbarung kömmt hier, wie anderswo, den Anstrengungen der Vernunft zu Hülfe.30
Welche Bedeutung der Offenbarungsbegriff für Jacobi seit seinem Briefkontakt mit Lavater gewonnen hat, ist bereits gezeigt worden; daneben finden sich in den Schriften der 1780er Jahre vielfach Denkfiguren, die sich dem Werk Bonnets zuordnen lassen, wobei die Fortdauer des Menschen, seine Unsterblichkeit, an dessen Natur gebunden wird: „Wie die Triebe, so der Sinn; und wie der Sinn, so die Triebe. Nicht weise, nicht tugendhaft, nicht gottselig kann sich der Mensch vernünfteln: er muß da hinauf bewegt werden, und sich bewegen: organisirt seyn, und sich organisiren.“ Die Natur „unterrichtet den Menschen, wie er Beschaffenheiten annehmen könne, wodurch er Fortschritt in seinem Daseyn gewinne; zu einem höheren Leben, ! mit demselben zu einem höheren Bewußtseyn, und in ihm zu einer höheren Erkenntniß sich hinaufschwinge.“31 Allerdings werden – und das ist verblüffend – trotz aller Berufung auf die Natur jene für Bonnet so wichtigen empirischen Details (Keimlehre, Fiberntheorie etc.) Vgl. Johann Kaspar Lavater, Fortsetzung der Ideen über den künftigen Zustand des Menschen. Fortsetzung der philosophischen Untersuchung über die Offenbarung. Die Authentie und die Wahrheit der schriftlichen Aussage. Die Weissagungen, s.l. s.d., 360–364. 30 Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademieen Mitglieds, philosophische Untersuchung (wie Anm. 25), 360–364. 31 Jacobi, Werke (wie Anm. 2), Bd. 1.1, 130 und 116 f. 29
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von Jacobi nicht erwähnt. Er abstrahiert gleichsam von der empirisch-naturwissenschaftlichen Basis, auch der Ätherleib spielt bei der Beschreibung jenes SichHinauf-Organisierens keine Rolle. Jacobi bewegt sich, was die Frage der Unsterblichkeit des vermischten Wesens bzw. der Seele betrifft, zwischen den Genfer und Berliner Konzeptionen. Auch wenn keine direkte Bezugnahme auf Moses Mendelssohns Immortalitätslehre stattfindet, so ist doch daran zu erinnern, dass Jacobi zu den frühen, höchst begeisterten Lesern des Phaedon gehörte, den er sogleich seinem Amsterdamer Verleger zur Übersetzung vorgeschlagen und eine erste französische Fassung kritisch kommentiert hat. Übrigens war auch Bonnet gut über Mendelssohns Werk informiert, dessen Erscheinen er ungeduldig erwartete. Jacobis Engagement zeigt, wie hoch er das Werk geschätzt hat;32 auf sein später so belastetes Verhältnis zu Mendelssohns kann in diesem Zusammenhang nur anhand eines Zeugnisses eingegangen werden, durch das sich die beschriebene Konstellation noch um einen Namen erweitert. Nach dem Tod Mendelssohns verfasste Johann Georg Schlosser ein Schreiben an Herrn Geheimenrath Jacobi in Düsseldorf, über dessen David Hume, das 1787 im Deutschen Museum gedruckt wurde. Es handelt sich um eine hymnische Besprechung der Abhandlung von Jacobi, in der noch einmal an den Spinoza-Streit erinnert wird. „Ich glaube“, schreibt Schlosser, „wenn Mendelsohn noch lebte, so sehr er in einem Augenblick der Schwäche über dich entrüstet worden ist, dein David Hume würde dich ihm, und ihn dir gewiss wieder versöhnt haben.“33 Das Schreiben zeigt musterhaft, wie sich im öffentlichen Meinungsstreit Allianzen schmieden und Parteien stabilisieren ließen (Jacobi hat Schlosser dann seinerseits die Neuauflage des Allwill gewidmet). Der Text Schlossers enthält zahlreiche Anspielungen, auch auf Lavaters Aussichten in die Ewigkeit und damit auch auf den Unsterblichkeitsdiskurs. Schlosser hatte sich bereits einige Jahre zuvor mit einem in zwei Teilen erschienenen Dialog Über die Seelenwanderung an der Diskussion beteiligt. Gleich zu Beginn der 1782 gedruckten Schrift macht Schlosser deutlich, durch wen er zu seinem – zunächst in der ,Helvetischen Gesellschaft" diskutierten – Beitrag herausgefordert worden ist:
Kurt Christ, Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988, 29. Johann Georg Schlosser, Schreiben an Herrn Geheimenrath Jacobi in Düsseldorf, über dessen David Hume, in: Deutsches Museum 10 (1787), 338–344, hier 339; zu Schlosser vgl. auch Friedrich Vollhardt, Selbstreflexive Aufklärung. Johann Georg Schlosser in den literarischen Kontroversen der Spätaufklärung, in: Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann (Hg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800, Freiburg im Breisgau 2002, 367–394. 32
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Ein gewisser poetischer Philosoph hat die Epochen des Menschen Geschlechts, mit den Epochen des menschlichen Alters verglichen, und ist das, so fürcht ich fast, wir sind gerad auf der Stuffe, wo unsere Buben stehen, wenn sie der Schule entlassen werden.34
Die beiden Gesprächspartner – Befürworter und Gegner der Metempsychose – tauschen ihre Argumente aus, wobei Schlosser dem Skeptiker zunächst harte polemische Spitzen zugesteht. Dass sich die Waage dann doch Eugenius, dem Vertreter des Pro, zuneigt, hat nicht zuletzt mit den Anleihen bei Bonnet/Lavater zu tun, wie ich am Schluss nur mit einem kurzen Zitat andeuten kann: Denn darin sind wir hoffentlich einig, daß die Seele des Menschen immer ein körperliches Organ braucht, und daß der reine Geist, der ohne ein solches Organ existiren kan, […] sich nie so ganz mittheilen kann, ohne selbst sich in einen [feinen] Körper zu hüllen […]; so wie im Saamenkorn auch der Geist der Vegetation, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit vielem groben Saft verbunden ist.35
Und so fort – breiten Raum nimmt dann die Frage nach der Personalität und dem Gedächtnis des Menschen ein, die ebenfalls im bonnetschen Sinne gelöst wird. Ich breche hier ab, obwohl es reizvoll wäre, den Denkraum noch genauer auszumessen, in dem Jacobi seine Vorstellungen von der Unsterblichkeit entwickelt hat. Wie dieses Beziehungsnetz geknüpft war, konnte ich im Rahmen dieses Vortrags nur ansatzweise skizzieren. Durch die öffentliche Zueignung ihrer Schriften gaben die Autoren zu verstehen, wen sie als Gesprächspartner akzeptierten, vor allem aber, welcher Partei sie sich selbst zugehörig fühlten. Es sind die Vertreter einer dogmenkritischen und zugleich christlichen, einer empirisch-sensualistisch denkenden und zugleich anti-rationalistischen, einer auf Politik und Praxis bezogenen und zugleich Gefühl und Empfindung als Instanz der Erkenntnis aufwertenden Philosophie. Ähnlich wie Iselin, Lavater, Stolberg, Pfeffel und Schlosser sah Jacobi hierin keine Gegensätze, sondern die Aufgabe einer Aufklärung, die sich im Dienst am Staat und der Erziehung selbst Grenzen setzen sollte. Der Beitrag zeigt, wie sich Friedrich Heinrich Jacobis Denken in Bezug auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele durch Jacobis Partizipation an religionsphilosophischen Konstellationen und Gesprächslagen verändert hat. Von entscheidender Bedeutung sind dabei seine persönlichen Beziehungen zu Charles Bonnet, Moses Mendelssohn, Johann Caspar Lavater und Johann Georg Schlosser. Jacobis Konzeption nimmt in dieser Gruppe eine Zwischenstellung ein. The paper shows the change in Friedrich Heinrich Jacobis concept of the immortality of the soul caused by Jacobis participation in religio-philosophical constellations. Thereby his connexions to Charles Bonnet, Moses Mendelssohn, Johann Caspar Lavater and Jo-
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Johann Georg Schlosser, Über die Seelenwanderung. Zwey Gespräche, Basel 1782, 6. Ebd., 14.
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hann Georg Schlosser are of vital importance. Jacobis ideas can be located between the different conceptions of this group. Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected]
Giuseppe Motta Phantasmen Kant und die – schon kritische? – Objektivation des Geistes in den Träumen eines Geistersehers
Stellt man sich die Fragen, die im Laufe der Geschichte die Ängste und Befürchtungen der Menschen ebenso wie die Inhalte der Metaphysik am nachhaltigsten prägten, und zwar: Ist die Seele des Menschen unsterblich? Kann man überhaupt die Seele vom Körper trennen? Gibt es überhaupt eine Seele? und versucht man Antworten mit Hilfe des Buches Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik1 von Immanuel Kant zu finden, dann gerät man schnell in eine gewisse Verzweiflung.2 Zu mannigfaltig und zu unterschiedlich scheinen die Ansichten zu sein, die Kant in diesem Text vertritt. Nicht selten werden einzelne Argumente im Laufe ihrer Entwicklung dermaßen geschwächt (wenn nicht sogar sarkastisch zerstört oder selbstironisch verlacht), dass die Leser häufig den Versuch aufgegeben haben, eine spezifische bzw. kohärente Position des Autors aus seinen Aussagen zu rekonstruieren. „Der scherzende Tiefsinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist, läßt den Leser zuweilen in Zweifel, ob Hr. Kant die Metaphysik hat lächerlich oder die Geistseherei glaubhaft machen wollen“, so bekanntlich Moses Mendelssohn in einer extrem kurzen wie auch subtilen und treffenden Rezension des Buches.3 Trotz der zahlreichen literarischen, hermeneutischen und philosophischen Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit diesem Text lohnt es sich durchaus,
Kants Werke werden mit Angabe der Band- und Seitenzahlen zitiert nach: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seite). Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Ausgabe Hamburg 1998 (A für die erste, B für die zweite Auflage) zitiert. 2 Kants Träume eines Geistersehers erschienen Anfang des Jahres 1766 anonym bei Kanter in Königsberg, öffentlich präsentiert wurde das Buch am 31. Januar. Für den Verleger folgte sofort eine lange Reihe von Problemen mit der Zensur. 3 Vgl. Moses Mendelssohns Besprechung der Schrift Kants in: Allgemeine deutsche Bibliothek 4, 2. St., 1767, 281. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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die verschiedenen Argumente zum Thema ,Seele" möglichst sorgfältig zu trennen und nacheinander quasi systematisch zu beschreiben. Ich konnte in diesem Sinne mindestens sieben unterschiedlich wichtige Behauptungen zu den oben genannten Fragen isolieren. Vier dieser Antworten sind – dem skeptischen Ton der Schrift entsprechend – eher negative, eine sarkastische, welche im Grunde in der Empfehlung besteht, uns, da wir alle, die dieses Interesse pflegen, nicht mehr die jüngsten sind, noch wenige Jahre zu gedulden, um dann selbst zu erfahren, ob es eine vom Körper abgetrennte Seele tatsächlich gibt oder nicht, und zwei positive, welche eine philosophische Argumentation enthalten, die vielleicht für uns interessanter ist. Im ersten der drei Teile der nachfolgenden Untersuchung werde ich versuchen, diese unterschiedlichen Positionen bzw. Positionierungen Kants zu unterscheiden und separat zu beschreiben. Hauptresultat dieser Trennung wird in der Beschreibung einer zwar vagen, jedoch interessanten, da gleichsam schon kritischen Auffassung der Unsterblichkeit der Seele im Rahmen eines rein moralischen Glaubens bestehen. Der zweite Teil enthält einige Reflexionen über die Bedeutung der Träume innerhalb der Entwicklung der Philosophie Kants im Allgemeinen. Im dritten Teil werde ich das spezifischere Thema des Raumes und der Zeit der vom Körper abgetrennten Seelen des Menschen in Auseinandersetzung mit Klaus Reich in Betracht nehmen. Das Resultat dieser Auseinandersetzung wird in der m. E. ebenfalls interessanten, da erneut proto-kritischen Festlegung bestehen, dass Erscheinungen, egal welche, auch die der Phantasmen, als Erscheinungen einen konstitutiv räumlichen und zeitlichen Charakter haben müssen.
I. Kant über die Immaterialität der Seele In einem ersten Schritt werden – wie erwähnt – jene verschiedenen Positionen differenziert und klassifiziert, die Kant in ein und demselben Buch in Bezug auf das Thema der Existenz immaterieller seelischer Substanzen abwechselnd vertritt oder wenigstens zu vertreten scheint. Ich habe in diesem Sinne sieben unterschiedliche Behauptungen Kants isoliert.
1. Die klinische Behandlung des Geistersehers Ich beginne mit der so genannten „Antikabbala“, die zwar erst im 3. Hauptstück des 1. Teils entwickelt wird, als solche aber in unmittelbarer Kontinuität zu den Inhalten des schon im Jahr 1764 erschienenen Versuchs über die Krankheiten des Kopfes steht. Dieser Text, der anlässlich des Aufenthaltes eines so genannten
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„Ziegenpropheten“ in Königsberg-Kalthof verfasst wurde,4 enthält eine historisch bemerkens- und noch heute systematisch beachtenswerte psychologische Darstellung aller möglichen Krankheiten des Kopfes: von der bloßen Dummköpfigkeit bis zur Narrheit, von der Blödsinnigkeit bis zur Tobsucht.5 In der „Antikabbala“ versucht Kant dementsprechend die Phantasterei aller Geisterseher im Kontext anderen Krankheiten des Kopfes zu bestimmen. Sie wird zunächst von allen Formen des Träumens minutiös getrennt; die Träume eines Geistersehers sind also im technischen bzw. klinischen Sinne des Wortes weder Träume während des Schlafes noch wache oder halbwache Träume.6 Dann werden diese ,Träume" vom Wahnsinn bzw. Wahnwitz7 und von der Verrückung getrennt, deren Ursachen eher die Fähigkeiten des Begriffs tangieren, während „die Krankheit des Phantasten nicht eigentlich den Verstand, sondern die Täuschung der Sinne betrifft“ (2: 347).8 Physiologisch kann man nach Kant versuchen, sich diese Täuschung durch eine Versetzung des so genannten focus imaginarius unserer Empfindungen zu erklären, die dafür sorgt, dass Vorstellungen der Sinne und Vorstellungen der Einbildungskraft in gewissen Fällen – nämlich eines kranken Menschen – nicht unterscheidbar sind. Dieser Betrug kann einen jeden äußeren Sinn betreffen, denn von jeglichem haben wir copirte Bilder in der Einbildung, und die Verrückung des Nervengewebes kann die Ursache werden, den focum imaginarium dahin zu versetzen, von wo der sinnliche Eindruck eines wirklich vorhandenen körperlichen Gegenstandes kommen würde“ (2: 347).9 Siehe dazu z. B. Karl Vorländer, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk [1924], Hamburg 1977, S. 163. 5 Dazu vor allem Kapitel 10 des Buches von Konstantin Rauer, Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen, Berlin 2007, 132–148. Vgl. dazu meine Rezension in: Kant-Studien 100 (2009), 115–117. 6 Zum Wort „Traum“ vgl. vor allem im Text 2:342 ff. Der Grund dafür, dass Kant an dem Wort „Traum“ festhält, und zwar sowohl in Bezug auf die Beschreibung der Visionen der Geisterseher als auch und vor allem derjenigen der Metaphysiker, kann darin bestehen, dass das Wort unmittelbar mit einem möglichen „Erwachen“ aus dem Traum assoziiert werden kann. Carlo Sini äußert sich darüber in dieser Weise: „Uscire dal sogno significa riferirsi alle comuni esperienze cos4 come esse sono immediatamente date ovvero risalire a quelle ,prime verit) fondamentali" della metafisica indicate nella Deutlichkeit; verit) intuitive e indimostrabili in quanto date prima di ogni definizione. Il che significa anche ritornare al senso comune per intraprendere pazientemente l!analisi“ (I ,Sogni di un visionario" e l!idea di filosofia nel Kant precritico, in: Il pensiero 11 [1966], 58–76, hier 74). 7 Vgl. 2: 361. 8 Im Versuch über die Krankheiten des Kopfes von 1764 verstand dagegen Kant die Verrückung als eine eher ästhetische (nicht bloß begriffliche) Täuschung. Dazu Rauer, Wahn und Wahrheit (wie Anm. 5), 141 f. 9 Man beachte in dem Sinne vor allem, dass Johann Heinrich Lambert in seinem Neuen Organon, das nur zwei Jahre vor den Träumen im Jahr 1764 erschien, eine „Phänomenologie oder Lehre vom Schein“ (Teil 4 des Organon) von der Lehre der Wahrheit unterschieden hatte, somit also eine breite analytische Untersuchung der Fehler und der Täuschungen der Sinnlichkeit dargestellt hatte. 4
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Kant setzt zwar in den Seiten der „Antikabbala“ seine eigenen Behauptungen unter eine kontinuierliche, manchmal auch sehr scharfe Ironie; dies gilt vor allem in Bezug auf die organische und physiologische Erklärung der Geisterseherei. Dass die Geisterseher wie alle Visionäre aber schließlich gute „Candidaten des Hospitals“ sind bzw. dass sie durchaus purgiert oder wenigstens ärztlich behandelt werden sollten, diese Ansichten können problemlos als authentische, wenn auch etwas schroffe Positionen Kants betrachtet werden.
2. Die Methode der Metaphysik In verschiedenen Hinsichten problematischer als die Träume der Empfindung sind nach Kant die so genannten Träume der Vernunft. Mit diesen Träumen beschäftigt er sich vor allem im ersten Hauptstück der Schrift, in dem er auf die Methode der scholastischen – und das heißt hier wolffschen – Metaphysik sarkastisch und spöttisch zu sprechen kommt, und zwar im Hinblick auf die Bestimmung des Wesens der Seele und deren Unsterblichkeit.10 Sowohl methodisch als auch inhaltlich stützte sich die rationale Psychologie der Zeit auf die fundamentale Identität des Wesens (also des Objekts) mit dessen innerer Möglichkeit. Diese Gleichsetzung wird in § 51 der Metaphysik Georg Friedrich Meiers mit den folgenden Worten erläutert: Allein wir verstehen durch das Wesen einer möglichen Sache, den Inbegrif ihrer wesentlichen Stücke, oder welches einerley ist, die innerliche Möglichkeit derselben. Denn eine Sache hat eine innerliche Möglichkeit, in so ferne das Mannigfaltige in derselben vor sich betrachtet, das ist, innerliche Bestimmungen derselben einander nicht widersprechen. Nun sind die wesentlichen Stücke innerliche Bestimmungen, die bey einander möglich sind. Es ist demnach eine Sache innerlich möglich, wenn ihre wesentlichen Stücke beysammen sind.11
Da nun „keine erweisliche Unmöglichkeit entgegen [steht], obschon die Sache selbst unbegreiflich bleibt“ (2: 323), können wir eine geistige Substanz annehSo zum Beispiel Herman J. De Vleeschauwer: „Le th-me principal des Träume est donc que l!erreur de la m1taphysique est une erreur de m1thode. L!erreur para3t Þtre toujours la mÞme que dans la Deutlichkeit: le proc1d1 synth1tique imit1 des math1matiques. Donc ) ce point de vue, aucun progr-s ne se fait jour. L!essentiel pour nous c!est que la m1taphysique n!est pas reni1e“ (La D1duction transcendentale dans l!œuvre de Kant, 3 Bde., Anvers, Paris, S!Gravenhage 1934–1937, ND New York, London 1976, Bd. 1, 103). Diese Zäsur mit der alten Metaphysik auf dem Plan der Methode wurde nicht nur von De Vleeschauwer, sondern von mehreren Interpreten betont. Ich erinnere in dem Sinne vor allem an einen Text von Reinhard Brandt aus dem Jahr 2008 (Überlegungen zur Umbruchsituation 1765–1766 in Kants philosophischer Biographie, in: Kant-Studien 99 [2008], 46 f.) und eine neue Studie von J. Colin McQuillan (Reading and Misreading Kant!s ,Dreams of a Spirit-Seer", in: Kant Studies Online 2015, 178–203). 11 Georg Friedrich Meier, Metaphysik, 4 Bde., Halle 1765, Bd. 1, 91 (§ 51). 10
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men, welche (1.) „einfach“ ist, wie alles was denkt (2: 322), (2.) im Raume gegenwärtig, ohne ihn aber zu erfüllen (2: 323) und (3.) im Raume wirksam gegenüber anderen Substanzen ist. Man kann darüber hinaus spekulieren, ob diese Substanz bzw. die Seele „ganz im ganzen Körper“ ist oder „ihren Sitz im Gehirne“ hat (2: 325). Darüber hinaus kann man auch versuchen, ihr dynamisches Verhältnis zum Körper zu bestimmen. Da die Sache selbst auf mehreren Ebenen – wie Kant schreibt – „unbegreiflich“ bleibt, gerät der Diskurs über das Verhältnis einer geistigen Substanz zum Raum in eine Reihe von ,Antinomien"12 und in offenbar bewusst entwickelte zunehmend ,dunkle" Schlüsse und Argumente, welche jedoch nicht verhindern, dass man die Existenz und die Hauptmerkmale der Seele zu demonstrieren versucht.13 In ihren gewagten Syllogismen sind die Metaphysiker der Seele nach Kant daher weniger Betrüger als normale Menschen. Eine durchaus natürliche Neigung macht es gleichsam unvermeidlich, dass sie gewisse Schlüsse in Bezug auf bestimmte Themen, wie Gott oder die Unsterblichkeit der Seele, ziehen und ziehen müssen. Kant schreibt vor diesem Hintergrund im 4. Hauptstück der Träume: [D]ie Verstandeswaage ist [hier] nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, dass auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Speculationen von an sich größerem Gewichte auf der andern Seite in die Höhe ziehen. (2: 349)
Einige Jahre später, in der „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft von 1781, wird Kant diese Neigung des Menschen in Form eines „transzendentalen Scheins“ darstellen, welcher unvermeidlich, da konstitutiv für die menschliche Vernunft selbst ist: Die transzendentale Dialektik wird also sich damit begnügen, den Schein transzendenter Urteile aufzudecken, und zugleich zu verhüten, daß er nicht betrüge; daß er aber auch (wie der logische Schein) sogar verschwinde, und ein Schein zu sein aufhöre, Dieser Terminus wird allerdings in den Träumen nicht verwendet, wenngleich der Begriff gegenwärtig ist. 13 Nicht alle Interpreten teilen die Überzeugung, dass Kants Auseinandersetzung mit der Metaphysik hier zunächst und vor allem auf der Grundlage einer Methode stattfindet, und dass sie in diesem Sinne eine radikale und allgemeine Ablehnung aller Spekulationen der alten Pneumatologie enthält. Stefan Heßbrüggen-Walter versucht zum Beispiel in seinem 2014 erschienenen Aufsatz Putting Our Soul in Place die Position Kants zum Thema des Verhältnisses Seele-Körper in dieser Phase seiner philosophischen Entwicklung eher in Kontinuität mit der metaphysischen Tradition zu definieren. Er relativiert den ironischen und selbst-verlachenden Ton gewisser Argumente und kommt zum folgenden Resultat: „Kant!s position in Dreams of a Spirit-Seer oscillates between a ,virtual" localism that regards the whole human body as the sphere of activity of the soul and a weak ,epistemic localism" that assumes that the soul must coexist with a material substance in space, even though we lack the data to determine the place of the soul with any degree of certainty“ (Kant Yearbook 6 [2014], 24–42, hier 36). 12
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das kann sie niemals bewerkstelligen. Denn wir haben es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt. (A 297 f./B 354)
3. Die Unsterblichkeit als Grundlage der Moral Wir haben es also hier mit falschen Spekulationen zu tun, die durch eine durchaus natürliche Neigung hervorgebracht werden. Schlimmer noch sei – und ich komme somit zu einer weiteren philosophisch relevanten Behauptung Kants zu diesem Thema – die Meinung derjenigen, die behaupten, man könne und solle sogar auf alle empirischen oder rationalen Argumente für eine Definition der übersinnlichen und unverweslichen Natur der Seele rekurrieren, weil die daraus entstehende Überzeugung der Existenz derselben nach dem Tode „zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr nöthig sei“ (2: 372). Auf ein einfaches Urteil reduziert, lautet dieses Argument: Ohne Seele gibt es keine Moral!
4. Kants private Überzeugung Man kann nach Kant die Seele des Menschen also grundsätzlich weder empirisch erfahren, noch aus den Syllogismen des Verstandes ableiten, noch gar als Bedingung der Moral annehmen. Desto interessanter scheint Kants eigene – offenbar bewusst naive – Antwort auf die Frage nach der Existenz einer vom Körper abgetrennten Seele. Liest man zum Beispiel am Anfang des letzten Absatzes des ersten Hauptstücks die besondere These, die aber als Einstellung die ganze Schrift begleitet: „Ich gestehe, dass ich sehr geneigt sei das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen“ (2: 327), so scheint es, als habe man paradoxerweise den Kern der kantischen Auffassung zum Thema gefunden.
5. Die Grenzen der Metaphysik In deutlichem Widerspruch zu dieser und ähnlichen Behauptungen bleibt jedoch Kants Grundeinstellung zum Thema „Seele“, welche unmittelbar aus der oben kurz dargelegten Kritik jeder Möglichkeit einer sinnlichen oder intellektuellen Erfahrung der Seele entstammt. Diese kritische Grundeinstellung Kants besteht in nichts weniger als in der Definition der „Pneumatologie“ als „ein[em] Lehrbegriff ihrer nothwendigen Unwissenheit in Absicht auf eine vermuthete Art We-
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sen“ (2: 352) und damit einer Definition der Metaphysik als „Wissenschaft der Grenzen der menschlichen Vernunft“ (2: 368).
6. Eine Empfehlung Da wir die Seele und ihre Eigenschaften – wenn überhaupt – nur empirisch, also aufgrund von Erfahrungen erkennen können, gibt Kant – wie schon anfänglich erwähnt – den vielen, zumeist schon älteren Wissbegierigen „den einfältigen, aber sehr natürlichen Bescheid“, „dass es wohl am rathsamsten sei, wenn sie sich zu gedulden beliebten, bis sie werden dahin [in die andere Welt] kommen“ (2: 373).
7. Der moralische Glaube Kants ausnehmend ironischer Ratschlag ist aber viel komplexer und schließlich viel wichtiger, als man vermuten kann. Denn diese lautet in der vollständigen Form folgendermaßen: „Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt vermutlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten zum Beschlusse sagen läßt: Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten!“ (2: 373). Es scheint in dem Sinne gemäßer zu sein, „die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele [also auf die Moral], als umgekehrt ihr Wohlverhalten [also die Moral] auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen“ (2: 373). Eine Vorstellung der Geisterwelt, die aber keine theoretische oder empirische, also schließlich gar keine Vorstellung sein kann, können wir also nur aus der Perspektive der Moral entwickeln. Kant definiert somit – durch eine durchaus erstaunliche Interpretation der letzten Sätze des Candide – die vielleicht noch groben Grundzüge der Idee seines rein moralischen Glaubens an die übersinnliche Welt. Er öffnet dadurch zugleich die einzig mögliche Spekulation – die aber keine Spekulation im strikten Sinne des Wortes ist – über die Form dieser anderen Welt, was später unter der Frage „Was darf ich hoffen?“ zusammengefasst wird. Diese neue philosophische Ansicht über die Unsterblichkeit der Seele aus der ausschließlichen Perspektive der Moral wird im Laufe der Träume regelmäßig und bewusst mit einem eher naiv ausgesprochenen Glauben an die Existenz von Geistern verknüpft.
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II. Auf dem Weg zur kritischen Philosophie Man kann aus dem Gesagten einige Schlussfolgerungen über die Bedeutung der Träume für die Entwicklung der kantischen Philosophie ziehen. Es scheint vor allem evident zu sein, dass die Auseinandersetzung Kants mit einer in mehreren Hinsichten extravaganten Figur wie Swedenborg ihm in doppeltem Sinne nützlich und günstig gewesen ist. ,In doppeltem Sinne" – denn Kant benötigt Swedenborg zugleich, um eine alte Philosophie auf dem Gebiet der Methode radikal zu verwerfen und um seine neue Philosophie anzukündigen, wenn auch zunächst nur in kryptischer und schließlich quasi-privater Weise. Argumentierte man weiterhin wie die alten und neuen Scholastiker des 18. Jahrhunderts, dann – so zeigt uns Kant – kann man weitgehend unproblematisch jede philosophische Reflexion in alle beliebigen Richtungen steuern und somit zum Beispiel auch tragende theoretische Grundlagen für die exaltiertesten Visionen aller Mystiker hervorbringen. Man darf also nach Kant in dieser Form nicht weiter philosophieren!14 Andererseits entwickelt Kant ausgerechnet aus den Beschreibungen der Visionen Swedenborgs eine metaphorische Darstellung ernsthafter Themen seiner eigenen (wenn auch künftigen) Philosophie. Diesen Zusammenhang behauptet er selbst explizit im 2. Absatz des 2. Hauptstücks des 2. Teils, wo er über das große Werk seines „Helden“, welches von jedem Tropfen der Vernunft „völlig entleert ist“ (denn die Vernunft des Autors, also Swedenborgs, befinde sich – wie Kant mit Hilfe von Ariosto behauptet – in einer sehr großen hermetisch abgeschlossenen Flasche auf dem Mond) Folgendes schreibt: Nichtsdestoweniger herrscht darin [d. i. in diesem Werk] eine so wundersame Übereinkunft mit demjenigen, was die feinste Ergrübelung der Vernunft über den ähnlichen Gegenstand herausbringen kann, daß der Leser mir es verzeihen wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen der Einbildung finde, die so viel andere Sammler in den Spielen der Natur angetroffen haben, als wenn sie etwa in fleckichten Marmor die heilige Familie, oder in Bildungen von Tropfstein Mönche, Taufstein und Orgeln […] entdecken; lauter Dinge, die niemand sonst sieht, als dessen Kopf schon vorher damit angefüllt ist. (2: 359 f.)
Swedenborgs Visionen enthalten also – wenngleich metaphorisch miniaturisiert und auch nur für Kant im Hinblick auf sein eigenes System sichtbar – gewichtige Theoreme, wie beispielsweise die zentrale Annahme der Freiheit und der Autonomie des Menschen (vgl. 2: 327 Anm., 2: 330), seine Grundauffassung einer Regel des allgemeinen Willens (2: 335), d. h. eines praktischen Gesetzes (2: 336), die Grundvorstellung eines sittlichen Gefühls (2: 335), die Verbindung aller vernünftigen Wesen in einer Gemeinschaft (2: 330–333), in einer sittlichen 14
Siehe dazu oben I.2 und I.5.
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Einheit (2: 335) bzw. in das Reich der Zwecke (2: 341), und darüber hinaus die exemplarische Funktion von Jesus als Morallehrer, das höchste Gut, das Verhältnis zu Gott (2: 337) und nicht zuletzt: das Postulat selbst der Unsterblichkeit der Seele (2: 336).15 Im Kontext einer möglichen Aktualisierung des kritischen Gehaltes der Träume ist vor allem das allgemeine Paradigma einer grundlegenden Entgegensetzung von Natur und Freiheit von essentieller Bedeutung, das sich bekanntlich bei Kant im Laufe der 1760er Jahre durchsetzt, und zwar aufgrund der immer deutlicheren Vorstellung eines radikalen Kontrastes zwischen dem „Sinnlichen“ und dem „Übersinnlichen“. Von der Preisschrift von 1763, die gleichsam eine Einladung in einem vergleichbaren Sinne enthielt,16 bis zur Entdeckung und Auflösung der Antinomien am Ende der 1760er Jahre, und darüber hinaus von der Korrespondenz mit Lambert um 1765 und der darin enthaltenen Teilung der Metaphysik auf der Basis von 1. „metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit“ und 2. „metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Philosophie“17 bis zur Verfassung der Dissertatio de mundi sensibilis atque intelligibilis im Jahr 1770, in der Kant dasselbe Muster leicht modifiziert verwendet, prägt diese Zweiteilung die ganze weitere Entwicklung der kantischen Philosophie. „Alles, was da ist, ist entweder durch physische Ursache oder nach Gesetzen der Freiheit da“, so Kant zum Beispiel in einer Reflexion vermutlich aus dem Jahr 1769 (R. 4129). Ausgerechnet dieses Muster findet in den Träumen eines Geistersehers seine stärkste und auffälligste Darstellung. Ohne dieses Bild in unserem Text oder anderswo tiefer zu untersuchen, ist es wichtig zu betonen, dass manche fundamentalen Charakteristika der späteren kritischen Philosophie – wie zum Beispiel der „transzendentale Idealismus“ selbst oder die „Kopernikanische Wende“ – am besten von diesem, in den 1760er Jahren erstmals entwickelten Paradigma der Entgegensetzung einer Notwendigkeit der Natur und einer Notwendigkeit der Freiheit begriffen werden können. Erstes Beispiel: Der transzendentale Idealismus. Die Überzeugung, dass die sinnliche Erkenntnis eine nicht nur zuverlässige, sondern sogar notwendige, weil apriorische Erkenntnis sei und daher Wissenschaft begründen kann, bleibt Vgl. hierzu u. a. Friedmann Stengel, Kant – „Zwillingsbruder“ Swedenborgs?, in: ders. (Hg.), Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis, Tübingen 2008. Vgl. dazu meine Rezension in: Kant-Studien 102 (2011), 407–411; Stengel hat den oben entwickelten Sachverhalt akribisch, wenn auch nicht immer überzeugend in seiner Untersuchung erörtert. 16 On demande si […] les premiers principes de la th)ologie naturelle et de la morale sont susceptibles de la mÞme )vidence que les v)rit)s math)matiques et […] quelle est la nature de leur certitude. Die Preisfrage wurde von der Philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Berlin in der Sitzung vom 28. Mai 1761 vorgestellt und offiziell am 14. Juni veröffentlicht – Kant verfasste seine Antwort Ende des Jahres 1762. 17 Siehe vor allem den Brief an Lambert vom 31. Dezember 1756 (10: 56). 15
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bei Kant – wie in anderer Weise bei anderen Philosophen des 18. Jahrhunderts18 – mit der Annahme kompatibel, dass wir die Grundbeschaffenheit der Dinge und die einfachen Kräfte der Natur an sich nicht kennen. Die sinnliche Welt könne schließlich von der intelligiblen dermaßen auch innerlich geprägt sein, dass wir die Sicherheit einer zuverlässigen Erkenntnis der ersten in letzter Instanz immer wieder (am Rande) in Frage stellen müssen. Diese konstitutive Unsicherheit, die keinen Platz für einen Skeptizismus (und noch weniger für einen dogmatischen Idealismus) offenlässt, ergibt sich aus der Gegenüberstellung der zwei Welten und wird dann in der so genannten kritischen Phase durch die Unterscheidung von „Erscheinung“ und „Ding an sich“ – also in der wesentlichen Bestimmung des „transzendentalen Idealismus“ – treffend ausgedrückt. Zweites Beispiel: Die Kopernikanische Wende. Die so genannte „Gesetzgebungsthese“ in § 36 der Prolegomena von 1783 drückt wohl am deutlichsten die philosophische Revolution der kantischen Philosophie aus, die man unter dem Titel „Kopernikanische Wende“ begreift. Kurz zusammengefasst lautet sie: „Die oberste Gesetzgebung der Natur [liegt nicht in der Natur, sondern] in uns selbst, d. i. [in unserer Sinnlichkeit und] in unserm Verstande“ (4: 319). Erst der aus den 1760er Jahren stammende Begriff einer sinnlichen Welt (im Gegensatz zu einer übersinnlichen) hatte Kant überhaupt die Möglichkeit gegeben, zugleich die Formen der Subjektivität, d. h. die Form der sensibilitas des Subjekts, als Gesetz der Natur in ihrer Objektivität (den mundus selbst) zu bestimmen. Psychologie und Ontologie konnten sich somit in einem einzigen philosophischen Diskurs vereinigen, der zugleich die Formen des Subjekts und die Natur der Objekte in ihrer strikten (wenn auch immer formalen) Objektivität betrifft. Ich bin aus den genannten Gründen nicht nur überzeugt, dass die Träume als solche schon zu dem Anfang einer zweiten, neuen Phase der kantischen Philosophie gehören, sondern auch, dass diese Schrift im Kontext der Philosophie Kants in diesen Jahren unentbehrlich ist, um die wesentlichen Aspekte der späteren kritischen Philosophie zu verstehen. Anders formuliert: Die kritische Philosophie sollte zugleich und vor allem aus der Perspektive der komplexen Umbruchphase der 1760er Jahre betrachtet werden. Das heißt andererseits natürlich nicht, dass alle oder auch nur die meisten Aspekte des kritischen Denkens schon in der Umbruchphase der kantischen Philosophie zu finden sind. Wahr ist eher das Gegenteil. Betrachten wir zum Beispiel das zentrale Thema des Geistes aus der Perspektive des Selbstbewusstseins und der Reflexion des Subjekts über sich selbst, dann können wir lediglich eine radiVgl. zum Beispiel meine Untersuchung über das Verhältnis zwischen Feder und Kant: Elemente des Kritizismus in J. G. H. Feders ,Logik und Metaphysik", in: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.), Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant, Berlin, Boston 2017 (i. E.). 18
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kale Inkompatibilität zwischen den Behauptungen des jungen Kants in den Träumen und denjenigen der späteren kritischen Philosophie festlegen. Im 2. Hauptstück des ersten Teils der Schrift unterscheidet Kant zwar zwei Formen des Selbstbewusstseins, als Subjekt der unsichtbaren Welt und als Subjekt der sichtbaren Welt: Denn die Vorstellung, die die Seele des Menschen von sich selbst als einem Geiste durch ein immaterielles Anschauen hat, indem sie sich in Verhältniß gegen Wesen von ähnlicher Natur betrachtet, ist vom derjenigen ganz verschieden, da ihr Bewußtsein sich selbst als einem M e n s c h e n vorstellt durch ein Bild, das seinen Ursprung aus dem Eindrucke körperlicher Organen hat, und welches in Verhältnis gegen andere als materielle Dinge vorgestellt wird. (2: 337)
Man sollte an dieser Stelle aber keine Andeutung von weiteren Unterscheidungen der Reflexion des Subjekts über sich selbst aus der kritischen Phase erwarten, denn weder das Selbstbewusstsein als Erscheinung im inneren Sinn, also als empirisches Ich im Zusammenhang der Vorgänge in der Zeit, noch die Unerkennbarkeit des Ich als Ding an sich, noch gar die Apperzeption als höchste Bedingung der Konstitution der Objektivität der Gegenstände der äußeren und inneren Erfahrung sind hier auch nur in Ansätzen vorhanden. Bloß die leere Unterscheidung von zwei Arten und Formen der Selbstwahrnehmung könnte aus dieser Perspektive als schon „kritisch“ bezeichnet werden. Das ist aber für eine kritische Perspektive zu wenig; vor allem wenn man bedenkt, dass Kant in den Träumen von einer „immateriellen Anschauung“ des Selbst im Gegensatz zum Bild, das man sich aus den Eindrücken der körperlichen Organe macht, redet, was offensichtlich mit allen so genannten kritischen Behauptungen Kants zu diesen Themen auf den unterschiedlichsten Niveaus seiner späteren Entwicklung kollidiert.19
In dieser Hinsicht aufschlussreicher sind eher manche Reflexionen aus den frühen 1770er Jahren: Refl. 4234 (17: 470 f.): „Eigentlich läuft aller Beweis von der einfachen Natur der Seele darauf hinaus, daß sie eine unmittelbare Anschauung seiner selbst durch die absolute Einheit Ich sey, welcher der singularis der Handlungen des Denkens ist! Denn der beweis, der daher genommen worden, daß viel denkende subjekte nur einen Gedanken ausmachen können, bedeutet eben so viel als: das ich werde dazu erfordert und des Denken sey iederzeit eine handlung im singulari“; Refl. 4718 (17: 685 f.): „Die Aussere sinne geben mir nichts als Eindrücke; nur durch die innere Anschauung (die aber nur auf mich selbst geht) kan ich das Objekt, was den Eindrücken zum Grunde liegt, erkennen“; Refl. 4675 (Duisburg, 17: 651): „Die Anschauung ist entweder des Gegenstandes (apprehensio) oder unserer selbst; die letzte (apperceptio) geht auf alle Erkenntnisse, auch die des Verstandes und Vernunft“. 19
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III. Erscheinungen Die Behauptung des unmissverständlich nicht-kritischen Charakters der kantischen Auffassung des inneren Sinnes im Jahr 1766 ist nicht in eine ähnliche Feststellung bezüglich der Begriffe von Raum und Zeit übertragbar. In diesem Sinne erweisen sich die Argumente Klaus Reichs als nicht überzeugend, wenn er in seiner Einleitung zu der Ausgabe von Kants Träumen eines Geistersehers. Der Unterschied der Gegenden im Raume20 zu zeigen sucht, dass Kants Auffassung des Raumes in den Träumen den leibnizianisch-wolffschen Vorgaben entspricht, also eine durchaus nicht kritische Position entwickelt. Damit stünden aber die Träume wesentlich konträr zu denjenigen Auffassungen der durchaus schon kritischen Schrift von 1768 über die inkongruenten Gegenstücke. Die Träume eines Geistersehers sind nach Reich zwar ein metaphysikkritisches Werk; sie basieren ihre Kritik jedoch selbst auf der im 18. Jahrhundert durchaus verbreiteten Auffassung des Raumes als Feld der Wechselwirkung der Substanzen: „Spatium […] resultat ex possiblitate coexistendi“, so Christian Wolff im § 591 seiner Ontologia.21 Diese coexistentia, die – nach Reich – die der materiellen Gegenstände, wohl aber auch der Geister mit der Materie oder der Geister untereinander sein kann, sei schließlich als ein unentbehrliches Mittel der Träume eines Geistersehers anzunehmen: Denn mit Hilfe dieser Raumtheorie wird einerseits das Hellsehen (von dem Swedenborg Kunde gibt) wenigstens ein theoretisch möglicher (wenngleich nicht in concreto denkbarer) Begriff, und andererseits hängt die metaphysische Rationale Psychologie Wolffs (kosmischer Charakter des Verhältnisses von Leib und Seele, Unsterblichkeit der Menschenseele) auch an seinem Raum- (und Zeit-)Begriff.22
Reich betont somit den bloß instrumentellen, zugleich aber konstitutiven Charakter der kantischen Verwendung des wolffschen Raumbegriffs in diesem Kontext. Er stellt aber zugleich deutlich fest, dass Kant „ihn für sich nicht akzeptiert“.23 Die Qualität der historischen Untersuchung Reichs mag durchaus beeindrucken, vor allem aufgrund der zahlreichen Hinweise auf andere vorkritische Schriften und auf die unterschiedlichsten Raumtheorien und Theorien der Seele des 18. Jahrhunderts. Ebenso beeindruckend ist aber auch die Tatsache, dass man in Reichs Aufsatz kein einziges Zitat aus den Träumen selbst und auch keinen diDiese Ausgabe erschien 1975 bei Meiner in Hamburg; vgl. Klaus Reich, Gesammelte Schriften, Hamburg 2001, 348–359. 21 Philosophia prima sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur, Frankfurt am Main, Leipzig 21736 (Gesammelte Werke, hg. von Jean Ecole u. a., Hildesheim 1962 f., 2. Abt., Bd. 3), 456. 22 Reich, Gesammelte Schriften, 351. 23 Ebd., 352. 20
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rekten oder indirekten Hinweis auf die Absätze des 2. Hauptstückes des 2. Teils findet, in denen Kant explizit und ausführlich Swedenborgs Vorstellung vom Raum und Zeit der Geisterwelt thematisiert. Was aber schreibt Kant in dieser Passage über die Raumvorstellungen seines literarischen Helden? In seinen Worten: [J]ede menschliche Seele [hat] schon in diesem Leben ihre Stelle in der Geisterwelt und gehört zu einer gewissen Societät, die jederzeit ihrem innern Zustande des Wahren und Guten, d. i. des Verstandes und Willens, gemäß ist. Es haben aber die Stellen der Geister untereinander nichts mit dem Raume der körperlichen Welt gemein; daher die Seele eines Menschen in Indien mit der eines andern in Europa, was die geistige Lage betrifft, oft die nächste Nachbaren sein, und dagegen die, so dem Körper nach in einem Hause wohnen, nach jenen Verhältnissen weit gnug von einander entfernet sein können. Stirbt der Mensch, so verändert die Seele nicht ihre Stelle, sondern empfindet sich nur in derselben, darin sie in Ansehung anderer Geister schon in diesem Leben war. (2: 363; Hvhg. G.M.)
Die Gegenwart der Geister trifft nach Swedenborg alle Menschen in ihrem inneren Sinn, vor allem aber diejenigen, deren innerer Sinn besonders aufgetan ist – wie eben Swedenborgs selbst. Der Mensch befindet sich somit in einem kontinuierlichen Verhältnis mit einem immateriellen Ganzen, nicht aber – so präzisiert Kant – „den Entfernungen oder Naheiten gegen körperliche Dinge [gemäß], sondern in geistigen Verknüpfungen seiner Teile untereinander“ (2: 332 f., Anm.). Die menschliche Seele wird in diesem Sinne als eine Entität gefasst, die mit zwei radikal getrennten Welten verbunden ist: mit der räumlichen und zeitlichen Welt der Materie und mit der explizit nicht räumlichen und nicht zeitlichen Welt des Geistes. Nichtsdestoweniger – oder besser: ausgerechnet deswegen – behauptet Kant von Swedenborgs Weltauffassung, dass – sobald wir uns einen Geist oder die Geisterwelt überhaupt vorstellen wollen bzw. sobald sich Geister uns vorstellen wollen, beispielsweise als Gespenster, die uns besuchen, oder auch miteinander in Kontakt treten – dies nur durch die „Apparenz“ von materiellen Dingen in Raum und Zeit geschehen kann. Denn unsere Vorstellungen sind per Definition immer räumlich und zeitlich. Raum und Zeit sind also die Formen der Vorstellungen, die an sich nur sinnlich sein können: Übrigens, obgleich das Verhältniß der Geister untereinander kein wahrer Raum ist, so hat dasselbe doch bei ihnen die Apparenz desselben, und ihre Verknüpfungen werden unter der begleitenden Bedingung der Naheiten, ihre Verschiedenheiten aber als Weiten vorgestellt, so wie die Geister selber wirklich nicht ausgedehnt sind, einander aber doch die Apparenz einer menschlichen Figur geben. In diesem eingebildeten Raume ist eine durchgängige Gemeinschaft der geistigen Naturen. (2: 363)24 Vgl. die sehr ähnlichen Behauptungen Kants in 2: 362.13–15, 2: 364.21–28, 2: 365.4–8 und 14–19. In diesem Sinne hat Gregory R. Johnson vollkommen recht, wenn er in seiner Einleitung zu den Dreams of a Spirit-Seer and Other Writings schreibt: „Finally, Swedenborg claims that his 24
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Reinhard Brandt ist Recht zu geben, wenn er einen Fehler in der Interpretation Klaus Reichs erkennt: Reich versuche nämlich durch das Studium der Träume „auch über Absicht und Ursprung des Wolffschen Raumbegriff belehrt zu werden“.25 Genau wie Kant in den Träumen sei Wolff in seiner Raumlehre am Problem des Verhältnisses Leib-Seele interessiert. Nichts belegt aber – so Brandt – dieses zusätzliche Interesse in Wolffs Texten selbst, wo der Raum explizit nur die coexistentia von körperlichen Teilen, nicht aber von Materie und Geist, ausdrückt. Brandt macht aber seinerseits einen Fehler, wenn er behauptet, Swedenborg beantworte die locksche Frage „Wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her?“ ganz anders als Kant es beabsichtige, da sein Geisterbegriff aus der Erfahrung kommt. Kant wolle dementsprechend a priori zeigen, „dass Geister aus den Gegenständen möglicher Erfahrung ausgeschlossen sind“.26 Kant könne aber dies und weitere Annahmen a priori gar nicht zeigen. Denn die Tatsache bzw. die Behauptung Swedenborgs, er habe Umgang mit Geistern in Raum und Zeit, steht vollständig auf dem Boden seiner späteren kritischen Philosophie, für die alles, was erfahren wird, in Raum und Zeit erfahren werden muss. Erscheinungen, egal welche, sind für Swedenborg genauso wie für Kant raum-zeitliche Erscheinungen bzw. Erscheinungen in Raum und Zeit. Die kantische Auffassung des Raumes in den Träumen ist daher eher in den Kontext der radikalen Unterscheidung zwischen einer konstitutiv raum-zeitlichen und einer konstitutiv nicht räumlich und nicht zeitlichen Welt zu lokalisieren, welche also gar keine leibnizianische, sondern eine – wenn auch nur in Ansätzen – kritische ist.
IV. Fazit Man kann sagen, dass diese in unterschiedlichsten Hinsichten wunderbare und fantastische Schrift Kants keine Entschlüsselung der Geheimnisse der Seele enthält. Ganz im Gegenteil behauptet Kant hier die Unmöglichkeit einer jeden Entschlüsselung dieser Art und definiert dementsprechend – wie oben gesehen – die Pneumatologie selbst als den „Lehrbegriff [der] nothwendigen Unwissenheit [der Menschen] in Absicht auf eine vermuthete Art Wesen“: die Seelen (2: 352). Was vision of the spiritual world do not show the spirit world as it is in itself. Instead, his visions are spatio-temporal representations of a non-spatio-temporal reality. Spiritual realities take on this spatio-temporal garb to accomodate themselves to the requirements of a finite intellect. These teachings presage such central tenets of Kant!s Critique of Pure Reason (1781, 1787) as transcendental idealism and the ideality of space and time“ (Dreams of a Spirit-Seer and Other Writings, hg. von Gregory R. Johnson, West Chester 2002, xviii). 25 Brandt, Überlegungen zur Umbruchsituation 1765–1766 (wie Anm. 10), 57. 26 Ebd., 52.
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aber mit Hilfe dieser Seiten zum Teil enträtselt werden kann, sind manche bedeutende Geheimnisse des kantischen Systems selbst, da der philosophische Umbruch dieser Jahre nicht nur Sinn und Ton, sondern auch Form und Inhalt der späteren kritischen Philosophie zu prägen scheint. Unbestreitbar enthalten die Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik, die Kant im Jahr 1766 anonym veröffentlichte, keine Aufklärung über die Geheimnisse der Seele und deren Unsterblichkeit bzw. Sterblichkeit. Will man trotzdem das Thema „Unsterblichkeit der Seele“ in dieser ebenso fantastischen wie enigmatischen Schrift systematisch untersuchen, dann kann man viel über Grade, Formen und Zeiten der Entwicklung des kritischen Denkens lernen. In Sektion I des Aufsatzes wird versucht, die unterschiedlichen Positionen, die Kant in den Träumen zum Thema „Seele / Unsterblichkeit der Seele“ entwickelt, aufzulisten und zu resümieren. Sektion II enthält eine Reflexion über manche entscheidenden Annahmen Kants, die offensichtlich von großer Bedeutung für das spätere kritische System sind. In Sektion III werde ich mich schließlich mit einigen Grundzügen der kritischen Theorie von „Raum und Zeit“ in Kants Zusammenfassung von Swedenborgs Weltbild auseinandersetzen. It is almost impossible (and perhaps even absurd) to investigate the nature of the soul or its presumed immortality on the basis of Immanuel Kant!s Dreams of a Spirit Seer illustrated by Dreams of Metaphysics from 1766. Such an (impossible) investigation is on the other side worthy then it permits – in my opinion – to better estimate the level of evolution of Kant!s critical thinking at this stage of his philosophical development. In section I of this article, I will try to resume and even to systemize the different positions assumed (or seemingly assumed) by Kant in the Dreams on the topic „existence of the soul“ / „immortality of the soul“. In section II, I reflect on the whole evolution of Kant!s critical thinking on the basis of the main philosophical assumptions which are at the basis of this (not only) polemical book. Section III concerns finally Kant!s critical doctrine of „space and time“ as it can be assumed to be already present in Kant’s resume of Swedenborg!s vision of the spirit world. Dr. Giuseppe Motta, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Philosophie, Heinrichstraße 33, A-8010 Graz, E-Mail: [email protected]
Carsten Olk Ist die Seele sterblich? Eine Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele bei Kant
I. Problemstellung Die im transzendentalen Paralogismus behandelte Frage nach der möglichen Unsterblichkeit der Seele kann bekanntlich nicht positiv aufgelöst werden. Wie bei allen drei Ideen, die die Metaphysik „zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung“1 haben kann, hat das Erkenntnissubjekt vom Objekt, das der Idee der unsterblichen Seele korrespondiert, „keine Kenntnis, obzwar einen problematischen Begriff“, dem allerdings keine „objektive Realität“2 zukommt. Versucht Vernunft die Frage nach der unsterblichen Seelensubstanz positiv zu beantworten, begeht sie einen Fehler dergestalt, dass sie aus der bloßen Idee einer Sache einen gegenstandskonstituierenden Begriff macht und davon ausgehend falsch schließt. Wie genau der elementare Fehlschluss der Vernunft aussieht, wird im Folgenden genauer zu beleuchten sein. Im Anschluss daran wird zu zeigen sein, in welcher Hinsicht die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele aufgelöst werden kann, und zwar mit einem Plädoyer für die Sterblichkeit der Seele – freilich wird dieses Plädoyer nicht dogmatisch ausfallen, sondern auf der Unterscheidung einer absoluten Seelensubstanz (anima) von der Seele als Gegenstand des inneren Sinns, d. i. das menschliche Gemüt (animus), basieren. In einer bestimmten Hinsicht wird es also möglich sein, die Seele als sterblich zu bezeichnen.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, A 337/ B 395, Anm. Kantzitate werden im Folgenden im Falle der 1. (A) und 2. (B) Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Originalpaginierungen gemäß zitiert. In allen anderen Fällen wird unter Hinzufügung von Kurztitel, Band und Seitenzahl nach der Akademieausgabe (Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin u. a. 1900 ff.) zitiert, bspw. Opus Postumum, 21: 325. 2 Kritik der reinen Vernunft, A 339/B 397. 1
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II. Die Unerkennbarkeit einer einfachen Seelensubstanz Das denkende Ich hat – aus Sicht der Transzendentalphilosophie – jederzeit die Möglichkeit, sich selbst als Denkendes zu thematisieren. Aus der Möglichkeit der Selbstthematisierung resultieren Einsichten in die Beschaffenheiten handelnder, selbstreflexiver Subjektivität, die allerdings keine Erkenntnisse über das Ich als Objekt liefern, mithin keine Einsichten über ein Ich, wie es an sich selbst, ohne Beziehung auf Mannigfaltiges und unabhängig von seiner Zeitlichkeit existieren würde.3 So verstanden, d. h. als hypostasiertes Objekt, käme es einer an sich selbst existierenden, beharrlichen (fortdauernden) Substanz gleich, mithin müsste das Ich seinem Dasein nach als Seelensubstanz – und nicht bloß akzidentell, seinen Zuständen nach – bestimmbar sein. Als ein solches bestimmbares Objekt – und nicht als Subjekt der Vorstellung – betrachtet es freilich die rationale Psychologie, wenn sie synthetische Aussagen über das Ich statuiert. Zunächst einmal sitzt die rationale Psychologie dabei einem ganz grundsätzlichen Missverständnis auf: In der Transzendentalphilosophie kann das Ich, insofern eine Prädikation von ihm möglich sein soll, keinesfalls von seiner Funktion der selbstreflexiven Einheitsstiftung abgesondert werden.4 Unabhängig davon, Über die Möglichkeit zur Selbstthematisierung sowie die Möglichkeit zu weiteren Einsichten in das Wesen des handelnden Ich ohne gleichzeitige Beanspruchung einer Erkenntnis des eigentlichen Wesenskern des Subjekts der Handlung habe ich an anderer Stelle gesprochen. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kants Theorie der Synthesis, Berlin, Boston 2016, 77 f. Mario Caimi (Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis in Kants transzendentaler Deduktion, in: Dietmar Heidemann (Hg.), Probleme der Subjektivität, Stuttgart 2002, 94 ff.) macht ebenfalls deutlich, weshalb über das bloß denkende Ich „unter Ausschluß von allen sonstigen möglichen Bestimmungen“ (95) keine synthetischen Erkenntnisurteile möglich sind. Allenfalls vor dem Hintergrund der durch die Selbstaffektion ausgelösten Selbstbeziehung, kraft deren „eine Erscheinung in der Sinnlichkeit“ hervorgebracht wird und zugleich „das rein intellektuelle Ich als Erscheinung“ auftritt, nämlich „als die räumlichzeitliche Verwirklichung an einem Gegenstande, von jener Funktion der Synthesis, in der das reine intellektuelle Ich besteht“, könne eine „Erkenntnis des Ichs“ (99) behauptet werden. Wie Bernd Dörflinger (Das Leben theoretischer Vernunft, Berlin, New York 2000, 72) treffend erklärt, beinhaltet die Tatsache, dass überhaupt etwas ist, was durch das Ich bekannt ist, „noch kein Erkennen im Sinn einer Prädikation von Beschaffenheiten“, ebenso wenig wie die Erkenntnis eines anderen Objekts, „speziell auch der Erkenntnis seiner selbst als eines Objekts“. 4 Allenfalls kann hier das Ich als Quasi-Objekt angesprochen sein, auf das sich ein jedes reflektierendes Ich bei der Thematisierung seiner selbst intentional bezieht. Diese Bezeichnung geht auf Dieter Sturma (Kant über Selbstbewußtsein, Hildesheim, Zürich, New York 1985, 90) zurück. So verstanden, sind über das Ich, das sich auf sich selbst intentional beziehen kann, sowohl analytische Erkenntnisse als auch synthetische Einsichten möglich. Zum Zwecke der Erfahrung muss das denkende Ich einfach, numerisch-identisch, Subjekt der Vorstellungen sein usw., weil ohne diese Bestimmungen keine Vereinigung mannigfaltiger Vorstellungen zusammen in einem Selbstbewußtsein möglich wären (vgl. B 131 ff.). Auch Rolf-Peter Horstmann (Kants Paralogismen, in: Kant-Studien 84/4 [1993], 408–425, hier 416 und 421) spricht in seiner Abhandlung vom Ich als einem Quasi-Objekt. Wird das Ich also von vorneherein als in Einheit mit seinem Vermögen der 3
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als bloßes Subjekt x, das ohne weitere funktionale Bestimmung auskommen muss, kann das Ich weder als beharrliche Substanz bestimmt noch können irgendwelche analytische Prädikationen von ihm vorgenommen werden. Während das Ich der Apperzeption durch alle Prädikamente hindurch deklinierbar ist,5 wird mit dem bloßen Ausdruck Ich schlechterdings gar nichts bestimmt. Von dem Substantiale als dem eigentlichen Subjekt, das „übrig bleibt, nachdem alle Accidenzen (als Prädikate) abgesondert worden“,6 kann nicht einmal gesagt werden, dass es einfach, numerisch-identisch etc. sei, denn dazu müsste es ein veritabler Gedanke von Etwas sein, das dem Satz des Widerspruches gemäß gedacht und demnach in Form analytischer Urteile expliziert werden können müsste. Nun ist es aber nicht einmal ein veritabler Gedanke, bezeichnet es doch „als ein bloßes Vor[Für-]wort ein Ding von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subject aller Prädicate, ohne irgend eine Bedingung, die diese Vorstellung des Subjects von dem eines etwas überhaupt unterschiede, also Substanz, von der man, was sie sei, durch diesen Ausdruck keinen Begriff hat“.7Das zugrundeliegende einfache x bedeutet also letztlich in der Tat nichts, wenn man es nicht im Zusammenhang mit seinem Korrelat, dem (Selbst-)Bewusstsein, betrachtet. Es ist hier der Ausdruck eines veritablen Nichts, ein ens rationis, von dem man nach Abzug aller seiner Prädikate nichts weiter einsehen kann (vgl. dazu Anm. 3). Die rationale Psychologie freilich will mit der Verobjektivierung des Ich – von dem es also auch in transzendentalphilosophischer Hinsicht nur in ganz bestimmter Weise etwas zu prädizieren gibt – eine über alle Zeit dauernde (geistige) Seelensubstanz beweisen. In dem zum Paralogismus führenden Syllogismus8 nimmt die rationale Psychologie jedoch das „Denken […] in ganz verschiedener Bedeutung“9 und begeht eine klassische sophisma figurae dictionis. Der Trugschluss besteht darin, dass im Obersatz alles als Subjekt Gedachte schon als beharrliche Substanz bestimmt, im Untersatz ein denkendes Ich als ein solches Subjekt gedacht und dementsprechend auf seine Existenz als beharrliche Substanz geschlossen wird. Kant entlarvt hier die ambivalente Verwendung des terminus medius, selbstreflexiven Apperzeption stehend begriffen, kann es von seiner erkenntniseröffnenden Funktion bloß in abstracto getrennt werden. 5 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 406 ff. 6 Prolegomena, 04: 333. 7 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 04: 542 f. 8 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 410 f.: „Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz. Nun kann ein denkend Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. Also existiert es auch nur als ein solches, d.i. als Substanz.“ Der angedeutete Syllogismus schließt vom Obersatz, in dem die gedachte Subjekthaftigkeit mit der existierenden beharrlichen Substanz gleichgesetzt wird, über den Mittelsatz, in dem Ich, als denkend Wesen, diese gedachte Subjekthaftigkeit besitze, fälschlich auf die Existenz meiner selbst als beharrliche (Seelen-)Substanz. 9 Kritik der reinen Vernunft, B 411, Anm.
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d. i. das „Als-Subjekt-Gedachte“, was im Obersatz schon den schematisierten und auf bestimmbare Objekt bezogenen Substanzbegriff meint, während im Untersatz „an gar kein Objekt gedacht wird“, sondern nur das Subjekt und „die Form des Denkens“10 angesprochen ist. Im letzteren Fall wird vermittelst des gänzlich unschematisierten Substanzbegriffs nur das Ich, welches „immer zum Subjekt des Bewußtseins dient“,11 gedacht. Dem Gesagten zufolge übersieht die rationale Psychologie, dass das „Subjekt der Gedanken“12 nicht gleichzusetzen ist mit der beharrlichen Substanz, wie sie in der Anschauung als zu bestimmendes Objekt gegeben wird. Nun sind im inneren Sinn, d. h. in der Zeit, lediglich wandelbare Zustände meiner selbst anzutreffen, jedoch findet sich keine Erscheinung, die als Seelensubstanz bestimmbar wäre; folglich ist meine Existenz nur als wandelbare Erscheinung bestimmbar. Anders gesagt: Die Existenz meiner selbst kann nur an den wandelbaren, als bloße Akzidenzien zu bestimmenden Zuständen meiner selbst in der Zeit festgemacht werden; einen substantiellen Träger Ich dieser Zustände kann man hingegen nicht bestimmen. Also kann Ich meinem Dasein nach auch nicht als Substanz in der Erscheinung bestimmt werden. Da wir ferner „in der inneren Anschauung gar nichts Beharrliches“13 haben, ist auch kein Ich als beharrlicher „Gegenstand der innern Anschauung (in der Zeit)“14 bestimmbar. Doch selbst unter der Voraussetzung, dass ein letztes Subjekt in der Zeit ausgemacht werden könnte, wäre das Problem der unsterblichen Seelensubstanz nicht gelöst. Denn zum einen wäre auch dann nicht zu klären, ob dieses beharrliche Ich-Objekt außer der Zeit weiter existieren würde, also unabhängig von transzendentalen Strukturbedingungen der Erfahrung. Wenn Ich aber in einem Fall nur innerhalb der Vorstellungswelt ein gleichsam akzidentelles Dasein (als Daseinsbewusstsein) besitze und im anderen Fall keinesfalls „außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit“15 existieren kann, fällt auch eine für sich bestehende, sowohl innerzeitliche als auch – speziell – außerzeitliche existierende und damit ontologisch auszudeutende einfache Seelensubstanz in den Bereich bloßer Spekulation, was im nächsten Abschnitt noch eingehender zu betrachten sein wird. Zum anderen kann das als formales „Subject des Bewußtseins“16 gedachte Ich nicht zugleich auch als Objekt im inneren Sinn zur Bestimmung gegeben werden. Um das selbstreflexive Ich als „transzendentales Subjekt der Gedanken“, das „nicht sowohl Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern 10 11 12 13 14 15 16
Kritik der reinen Vernunft, B 411. Ebd. Ebd., B 429. Ebd., B 413. Prolegomena, 04: 337. Ebd. Ebd.
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eine Form derselben überhaupt, so fern sie Erkenntnis genannt werden soll“, drehen wir uns immer „in einem beständigen Zirkel herum“.17 Als Träger der Vorstellung und Form, d. i. hier als Subjekt der Reflexionsformen, ist es – vermittelst dieser Reflexionsformen – zwar thematisierbar, insofern qua Vorstellung „ein besonderes Objekt“18 unterschieden werden kann; allerdings wird das denkende Ich hier – wie gesehen –nur quasi-objektiv, vermittelst der unschematisierten Substanzkategorie als Substanz in der Idee gedacht, ohne dass dadurch ein Objekt der Erfahrung bestimmt würde.19 Im selbstbezüglichen Denken, „in welchem das Ich immer zum Subjekt des Bewußtseins dient“, wird „also an gar kein Objekt gedacht […], sondern nur die Beziehung auf Sich, als Subjekt, (als die Form des Denkens) vorgestellt“.20 Während „wir beim Denken überhaupt von aller Beziehung des Gedanken auf ein Objekt abstrahieren“, hält die rationale Psychologie die einen Selbstbezug ausdrückende Vorstellung Ich also „fälschlich vor eine synthetische Vorstellung eines Objekts“;21 sie gibt also „das beständige logische Subjekt des Denkens, vor die Erkenntnis des realen Subjekts der Inhärenz aus“,22 d. i. als eine beharrliche Seelensubstanz23 (es wird das Subjekt also als veritables Objekt bestimmt, so, als existiere es für sich als Gegenstand in Raum und Zeit bzw. unabhängig von diesen Kritik der reinen Vernunft, A 346/B 404. Ebd. 19 Horstmann, Kants Paralogismen (wie Anm. 4), 421, Anm. stellt passend dazu fest, dass für Kant auch „die Ich-Vorstellung ein Objekt in dem Sinne [hat], daß sie irgendeinen Sachverhalt bezeichnet“, damit jedoch kein als (beharrliche) „Substanz zu denkendes Objekt aufgefasst werden kann“. Insofern das selbstreflexive Ich als ein Tätiges in seinem Handeln und Denken tatsächlich real wirksam ist, darf es (analog zur äußeren Substantialität und Kausalität) sogar als real beharrlich-wirkende Substanz, gemäß der schematisierten Substanz- und Kausalitätskategorie, gedacht werden – obgleich hiermit keine Bestimmung einer beharrlichen Substanz als eines Objekts der Erfahrung vorgenommen wird. Denn jede Art der Handlung des Subjekts ist eine reale Tätigkeit, die als reale Kausalität auf einen realen Träger der Handlung bezogen werden muss. 20 Kritik der reinen Vernunft, B 411 f. Horstmann, Kants Paralogismen (wie Anm. 4), 415 ff. erklärt treffend, das Ich denke müsse auf ein diesem zugrundeliegendes „unerkennbares Substrat“ zurückgeführt werden, um es überhaupt zu einer „,gegenstandsbezogenen" Vorstellung“ zu machen (418). 21 Kritik der reinen Vernunft, A 397. 22 Ebd., A 350. 23 Marc Zobrist (Subjekt und Subjektivität in Kants theoretischer Philosophie, Berlin 2011, 86 f.) stellt korrekt fest, die rationale Psychologie ziele „nicht primär auf ein gänzlich in seiner subjektivreflexiven Grundstruktur aufgehendes ,Ich", sondern auf die ontologische Ausdeutung desjenigen Dinges (res), dessen vielleicht auffälligstes Merkmal (neben anderen Bestimmungen) darin besteht, daß es denkt (d. h. eine res cogitans ist).“ Der Fehler der fälschlichen Hypostasierung des Bewusstseins entspringt dabei, wie Heiner F. Klemme (Kants Philosophie des Subjekts, Hamburg 1996, 310) zu Recht geltend macht, durch eine falsch subsumierende Urteilskraft, die „einen speziellen Fall unter die allgemeine Regel des Syllogismus subsumiert, der unter ihr nicht enthalten ist, und zudem die Bedingungen des Denkens für die Erkenntnis des denkenden Vermögens nimmt.“ 17 18
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Anschauungsformen): „Die Beharrlichkeit kann aber niemals aus dem Begriffe einer Substanz als eines Dinges an sich, sondern nur zum Behuf der Erfahrung bewiesen werden.“24 III. Das Subsumtionsproblem Die Diskussion über die mögliche Unsterblichkeit der Seele lässt sich genau genommen auf folgende Punkte beschränken: 1. Die unsterbliche Seelensubstanz muss einfach sein. Wenn sie einfach wäre, dann würde daraus ihre Unzerstörbarkeit folgen, da sie nicht „durch Zerteilung […] in Nichts verwandelt werden könn[t]e“.25 2. Nun könnte, wie Kant gegen Mendelssohns Beweis der Unsterblichkeit der Seele vorführt, die einfache Seele (sofern man ihr die Einfachheit zugesteht) als Reales (Gegenstand der Empfindung) verstanden, noch „durch allmählige Nachlassung (remissio) ihrer Kräfte,26 (mithin durch Elangueszenz) […] in Nichts verwandelt werden“. Sie besäße also Grade der Realität, die soweit abnehmen können, daß selbst die einfache Substanz ins Nichts verwandelt werden könnte. Folglich könnte also durch das bloße Abnehmen ihrer intensiven Größe die Substanz selbst aufhören zu sein. 3. Aus der Einfachheit einer Sache kann analytisch deren numerische Identität gefolgert werden. Eine einfache wäre daher auch immer als ein- und dieselbe Seelensubstanz zu denken. Wird die einfache Substanz also in Nichts verwandelt, so kann sie selbstredend auch nicht mehr als dieselbe Seelensubstanz gelten. 4. Die einfache Seelensubstanz, die qua Substanz den Charakter des Subsistierenden hat, muss jederzeit die Eigenschaft der Beharrlichkeit aufweisen, d. h. zeitliche numerische Identität (ein- und dieselbe Substanz zu aller Zeit) besitzen. Nur eine beharrliche Substanz ist prinzipiell unzerstörbar und unauflösbar, weshalb das Kriterium der Beharrlichkeit sich für das Problem der Unsterblichkeit der Seele als das entscheidende erweist. Weil die Beharrlichkeit als eine (d. h. notwendige) synthetische Eigenschaft27 der Substanz in der Erscheinung keiner an sich existierenden Seelensubstanz zugeschrieben werden kann, scheitern damit von vorneherein alle Versuche, durch qualitative und quantitative Bestimmungs-
Prolegomena, 04: 335. Kritik der reinen Vernunft, B 414. 26 Das Nachlassen der Kräfte wäre zu denken als ein Nachlassen von Handlungen einer Substanz. 27 Wie ich an anderer Stelle (vgl. Kants Theorie der Synthesis [wie Anm. 3], 151 f., Anm. 182) gezeigt habe, ist der Gedanke der Beharrlichkeit des Realen in der Zeit nichts anderes als der Gedanke zeitlich numerischer Identität, d. h. der klare Begriff der Eins als zeitlich sich erstreckende Identität („immer wieder und immer noch dasselbe“). Nicht umsonst spricht Kant mit Blick auf die Beharrlichkeit des Realen von der Erzeugung einer Größe, „die man Dauer nennt“ (A 183/B 226). 24
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versuche die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen,28 was bereits im vorangegangenen Kapitel skizziert wurde. Weshalb in der Anschauung kein beharrliches, selbständiges Ich bestimmt werden kann, verdient freilich weiterer Aufmerksamkeit. Zunächst sei der Hinweis erlaubt, dass von der jederzeit komparativ innerlichen Substanz in der Erscheinung, d. i. die Substanz samt ihren realen Akzidenzien wie Ausdehnung usw., niemals ihre Einfachheit behauptet werden kann. Dies sei aber nun ausgeblendet, wenn es darum geht, die Beharrlichkeit der an sich existierenden Seele nachzuweisen: Um die Beharrlichkeit der substantiellen Seele festmachen zu können, müsste im inneren Sinn etwas gegeben sein, das sich – gemäß der Analogien der Erfahrung – als Beharrliches bestimmen ließe. Da aber, wie gesehen, in der Zeit nichts weiter anzutreffen ist als die wandelbaren Zustände meiner selbst, kann eben nichts Beharrliches bestimmt werden, nicht einmal beharrliche Akzidenzien (des Ich). Nun muss man aber noch einen Schritt weiter gehen: Denn im Gegensatz zu anderen Subsumtionen, bei denen sich der Fall der Regel unter das Schema der Kategorie respektive unter den bereits schematisierten Verstandesbegriff selbst subsumieren läßt,29 ist es im Falle der möglichen Bestimmung eines Gegenstandes als beharrliche Substanz so, dass das Beharrliche sich überhaupt nicht beobachten lässt. Zudem ergäbe sich im Falle, dass die Beharrlichkeit ein Subsumtionskriterium darstellte, ein Induktionsproblem dergestalt, dass man im Einzelfall eine beobachtete Beharrlichkeit auch schon für alles Zukünftige feststellen können müsste, was unmöglich ist und, wie Hume schon konstatiert, zum ungültigen Schluss vom Vergangenen auf Zukünftiges führt. Aus diesem Grunde ist es erforderlich, zunächst eine selbständige Substanz ausfindig zu machen: Vermittelst der bloßen Nominaldefinition des Substanzbegriffes wird dieses Ding als etwas Selbstständiges, d. h. als letztes Subjekt und Träger von Akzidenzien, bestimmt. Durch die Applikation des Substanzbegriffes auf den Gegenstand, folglich durch die nun inhaltlich erfüllt zu denkende Nominaldefinition – wodurch diese zur synEine nur partiell beharrliche Seelensubstanz, die bloß eine Zeit hinweg beharren würde, wäre dabei ebenso wenig ein zureichender Grund für die Behauptung einer über alle Zeit hinweg beharrenden Seele. Während die Beharrlichkeit dasjenige ist, was von Ewigkeit zu Ewigkeit dauernd als ein „Dasein zu aller Zeit“ (Kritik der reinen Vernunft, A 185/B 228, A 242/B 300) gedacht wird und gleichsam die Idee einer permanenten Synthesis durch alle Zeit hindurch vorstellt, beschreibt der beharrliche Zustand einer Substanz im Gegensatz dazu etwas, „was eine Zeit hindurch existirt, d. i. dauret“ (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 04: 485), d. i. die konkrete Substanz und seine spezifischen, wandelbaren Akzidenzien zu einer bestimmten Zeit. 29 Im Falle der Kausalitätskategorie wäre dies etwas die Subsumtion einer besonderen Veränderung unter die verzeitlicht, d. h. mit ihrem Schema der gesetzmäßigen Sukzession gedachte Kategorie der Ursache- und Wirkung. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kants Theorie der Synthesis (wie Anm. 3), 227–235. 28
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thetisch-konkretisierten Realdefinition erhoben würde – kann der konkrete Gegenstand seiner Materie nach als letztes Subjekt der Gedanken bestimmt werden. Eine weitere zweite Subsumtion unter den vollständigen Grundsatz – in dem die beharrliche Substanz von Ewigkeit zu Ewigkeit dauernd gedacht und wodurch folglich das materiale Ding als Fall des Substanzbegriffes überhaupt ausgemacht würde – ermöglichte dann die Bestimmung der konkreten Substanz also auch als beharrlich. Das gesuchte selbstständige Beharrliche ist aber niemals etwas anderes als der materielle Körper im Raum. Anders gesagt, es braucht ein materiales, für sich selbst bestehendes – obzwar noch unbestimmtes – äußeres Ding, damit Etwas unter den Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz subsumiert werden kann. In der Zeit ist dieses selbständige und für sich bestehende Ding aber gerade nicht gegeben. Dass offenbar nur ein „Körper in physischer Bedeutung“ als „eine Ma te ri e z wi s c hen be s t im mt en Gr en ze n (die also eine Figur hat [und damit mathematisch konstruierbar sein muss, C.O.])“30 substantiell und objektiv bestimmbar ist, erklärt auch, warum Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft allein die reine Körperlehre und nicht die reine Seelenlehre als Wissenschaft im eigentlichen Sinne versteht. Denn zur Wissenschaftlichkeit ist erfordert, „daß die dem Begriffe correspondierende Anschauung a priori gegeben […], d. i. daß der Begriff construirt werde“,31 mithin Mathematik ihre Anwendung findet. Nun ist die Mathematik als Wissenschaft „auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar“,32 mithin lässt sich in der bloßen Zeit überhaupt nichts konstruieren, weshalb die reine Seelenlehre keine wissenschaftlichen, folglich synthetischen Erkenntnisse über eine Sache ermöglicht. Da auch im Raum kein Ich – gleichsam die res cogitans als res extensa im Gegensatz zur bloßen res cogitans, wie sie nur in der Vorstellung der Zeit als mögliches Gegebenes gedacht würde – als zu bestimmender Gegenstand in der Erscheinung gegeben ist, ist auch auf diese Weise keine synthetische Einsicht in das Wesen des – von der rationalen Seelenlehre ontologisch ausgedeuteten – Ich-Objekts, „dadurch ein Ding an sich selbst vorgestellet wird“,33 möglich. Bloß das von vorneherein leiblich aufgefasste Ich, insofern zu ihm mein eigener Leib als „Fundamentalerscheinung“34 und veritables Objekt im Raum gehört, das ich freilich von „meine[r] eigene[n] Existenz […] von anderen Dingen außer 30 31 32 33 34
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 04: 525. Ebd., 04: 470. Ebd. Kritik der reinen Vernunft, A 344/B 402. Ebd., A 778/B 806.
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mir“35 unterscheide, ist substantiell bestimmbar. Es ist dieses leibliche „Ich“ jedoch schon Körper im Raum und damit wesentlich vom Ich als vorausliegender Form allen Anschauens und Denkens verschieden – denn ich habe einen Leib und bin nicht dieser Leib –, obschon sich auf diesen Leib „als Bedingung […] in dem jetzigen Zustande (im Leben) das ganze Vermögen der Sinnlichkeit und hiemit alles Denken bezieht“.36 IV. Die Seele ist sterblich Zwar ist, wie Kant betont und wie gezeigt wurde, die Seele „wirklich in der Zeit“;37 doch ist mit Seele hier nur das bloße Gemüt (animus) thematisch, d. h. das empirische Bewusstsein als Gegenstand des inneren Sinnes allein, mithin die (unbeharrliche) Erscheinung meiner selbst und keine bleibende, immaterielle und geistige Seelensubstanz (anima). Das ganze Wesen dieser Erscheinung liegt im empirischen Bewusstsein der eigenen zeitlichen Zustände, wodurch das Ich sich selbst in der Zeit anschaut und damit selbst zum Gegenstand macht: „Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschaut, gibt noch keine Anschauung von der Seele selbst als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist.“38 Es sei nochmals betont, dass weder im inneren noch im äußeren Sinn eine „beharrliche Anschauung39 angetroffen wird“,40 mithin kann keine „unentbehrliche Bedingung der objektiven Realität [jenes, C.O.] Begriffes, […] zum Grunde gelegt werden“,41 so dass der Begriff eines Wesens an sich dieser Seele vollkommen unbestimmt bleiben muss. Als „Erscheinung des innern Sinnes (Seele nach der empirischen Psychologie)“ kann ich, wie gesehen, niemals „außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existiere[n]“.42 Die Beharrlichkeit des Leibes nun ist als Grund dafür anzusehen, dass die Seele bzw. das Gemüt (animus) im Leben beharrt, „da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist“. Damit ist freilich nichts Ebd., B 409. Ebd., A 778/B 806. 37 Prolegomena, 04: 337. 38 Kritik der reinen Vernunft, A 21 f./B 37. 39 Natürlich handelt es sich bei der hier etwas uneigentlichen Formulierung um etwas Beharrliches in der Anschauung (das noch nicht als Substanz bestimmt gedacht wird), denn ansonsten würde die Widerlegung des Idealismus keinen Sinn machen, da hier ja gerade die Unabhängigkeit des beharrlichen Gegenstandes auch außerhalb der Vorstellung bewiesen werden soll, eine (unmögliche) beharrliche Anschauung aber eine Vorstellung wäre. 40 Kritik der reinen Vernunft, B 292. 41 Ebd., B 412. 42 Prolegomena, 04: 337. 35 36
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über die „absolute Beharrlichkeit [der immateriellen Seele als anima, C.O.] derselben selbst über das Leben hinaus aus bloßen Begriffen“43 bewiesen; doch wird deutlich, dass Kant das empirische Bewusstsein seiner selbst offenbar nicht allein als zeitliches Zustandsbewusstsein zu verstehen scheint, sondern dieses zeitliche Bewusstsein als eines auf einen Leib hin bezogenes Daseinsbewusstsein erachtet. So gilt vom „empirisch bestimmte[n] Bewußtsein meines eigenen Daseins“,44 dass es nur durch etwas Beharrliches außer mir möglich ist.45 Die Fundamentalerscheinung des Leibes als das Beharrliche außer mir ist – wie jeder andere äußere Gegenstand – also ein Kriterium dafür, daß ich meine eigenen Zustände, mithin mein eigenes Dasein in der Zeit bestimmen kann, wie in dem Satz: „Ich, Carsten Olk [als empirisch leibliches und bestimmtes Objekt verstanden], befinde mich am heutigen Donnerstag gerade in meinem Büro und schreibe diesen Aufsatz“. Dass ich „mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt“46 bin, hängt von der „[durch die Kategorie der Relation von Substanz und Akzidenz ermöglichten, C.O.] Bestimmung meines Daseins in der Zeit“ ab, die eben „nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme“47 möglich ist.48 Die Beharrlichkeit der Seele im Leben steht dem Gesagten zufolge fest; sie ist über den Leib als beharrliche Substanz gesichert. Da der Leib sterblich ist, d. i. die empirische Erscheinung des Menschen, ist folglich auch die Seele (animus) bzw. das menschliche Gemüt sterblich. Denn mit Ende der leiblichen Existenz enden notwendigerweise auch alle Gehirnfunktionen, die gleichsam als materielle Bedingungen der möglichen Erfahrung ursächlich für unser Bewusstsein sind. Weil mit dem leiblichen Tod folglich auch die Vorstellungen im inneren Sinn aufhören zu sein, mithin mein Dasein(sbewusstsein) in der Zeit aufgehoben wird, muss gesagt werden: Stirbt der Leib, stirbt damit auch die Seele des Menschen. Der Tod des Menschen als das Ende des Lebens ist daher zugleich „das Ende aller Erfahrung, was die Seele als einen Gegenstand derselben betrifft“.49 Dies ist, in einem eingeschränkten Sinne, die einzig positive Aussage, die sich über die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele machen lässt.
Kritik der reinen Vernunft, B 415. Ebd., B 275. 45 Ebd., B 275 f. 46 Ebd., B 275. 47 Ebd., B 275 f. 48 Freilich braucht es neben dem erforderlichen Beharrlichen im Raum auch die Intellektion des inneren Sinnes den Kategorien gemäß, d. h. das Ich muss als substantieller Träger gedacht werden, dem etwas – akzidentell – zugeschrieben wird. 49 Prolegomena, 04: 335. 43
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Inwiefern aber der beharrliche Leib als materieller Körper tatsächlich ein Kriterium für die „Identität der Person“50 liefert, die laut Kant gerade nicht einsehbar sein soll, wird nicht recht deutlich. Zwar würde der Leib, selbst wenn er eine Veränderung erlitte (z. B. der Verlust eines Beines) seine Identität nicht verlieren, da die Substanz beharrt (und der Leib – cum grano salis – auch als eine Substanz betrachtet werden kann). Dem steht jedoch entgegen, dass hinsichtlich der „numerische[n] Identität meines Subjekts“ durchaus ein „Wechsel [durch den Wechsel der (leiblichen) Personen als Substanzen51] vorgegangen sein kann, der es nicht erlaubt, die Identität desselben [Subjekts] beizubehalten“.52 Dies besagt zweierlei mit Blick auf die Begriffe der personalen und numerischen Identität, die von Kant nicht präzise getrennt werden: Zum einen, dass die numerische Identität des Ich (als bloßes Subjekt x verstanden) auch dann nicht behauptet werden kann, wenn man annimmt, bei allem Wechsel der Personen halte sich die (numerisch identische) Einheit des Bewusstseins durch. Zum anderen, dass die personale Identität, hier bezogen auf die konkrete empirische Subjekthaftigkeit, nicht allein an der Körperlichkeit des Menschen festgemacht werden kann, da dieser offenbar austauschbar ist, obschon die Einheit des Bewusstseins dabei gewahrt bleibt (was freilich auch keine Aussage über die mögliche Unsterblichkeit der Seelensubstanz zulässt). Entgegen Kants Annahme wäre im letzteren Fall die Seele (hier im Sinne von animus, nicht anima als Seele an sich) dann auch im Leben nicht beharrlich. Folglich müssten nicht nur numerische und personale, sondern sogar leibliche und personale Identität getrennt werden, mithin wäre die Seele, d. i. der Mensch als denkendes Wesen, ein bloßer Gegenstand des inneren und nicht zugleich auch des äußeren Sinns.
V. Schlussbetrachtung Selbst wenn also die Einheit des Bewusstseins beim Wechsel der Personen gewahrt bliebe – gerade so, als ob ein- und dasselbe Bewusstsein auf verschiedene unterschiedliche körperliche Substanzen überginge –, kann über die Sterblichkeit der Seele (anima) keine positive Aussage statuiert werden. Denn die Einheit des Selbstbewusstseins macht nicht die Einheit der Substanz aus – die Substanz selbst kann einfach oder vielfach sein; freilich ist sie niemals als beharrliche Substanz bestimmbar. Das „Subject der Apperception“ bzw. das logische Ich aller Vermögen und Vorstellungen wird immer gedacht „wie das Substantiale, was übrig bleibt, wenn ich alle Accidenzen, die ihm inhärieren, weggelassen habe“. Lasse 50 51 52
Kritik der reinen Vernunft, B 408. Vgl. ebd. Ebd., A 363.
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ich diese seine Akzidenzien weg (in dem Falle alle Eigenschaften und Vorstellungen des Subjekts), kann vom Ich „schlechterdings gar nicht[s] weiter erkannt werden, […], weil die Accidenzen gerade das waren, woran ich seine Natur erkennen konnte“.53 Weil keine (beharrliche) Substanz nachweisbar ist, kann eben von dieser auch nicht gesagt werden, sie sei numerisch-identisch, einfach oder existiere „ohne Dinge außer mir“54 – letzteres funktioniert, wie gesehen, schon deshalb nicht, weil „innere Erfahrung überhaupt nur durch äußere Erfahrung“55 möglich ist. Vom Daseinsbewusstsein meiner selbst in der Zeit, das von Kant auch als das „psychologische Ich“ bezeichnet wird, gilt, dass es „mannigfacher Erkenntnis“56 seiner selbst, in Form der Vorstellung der Zeit, fähig ist.57 Hingegen gilt vom reinen denkenden Ich, dass es nur in einem eingeschränkten Sinne existiert, insofern es sich „lediglich [seines] Verbindungsvermögens bewußt ist“.58 Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, 20: 270. Kritik der reinen Vernunft, B 409. 55 Ebd., B 278 f. 56 Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, 20: 270. 57 Freilich ist es für die Fragestellung der rationalen Seelenlehre als einer rationalen Psychologie aus reiner Vernunft erforderlich, dass sich keine empirischen Prinzipien darunter mischen, das bestimmbare Selbst also unabhängig von allem Empirischen, etwa von Lust-Unlust-Empfindungen, betrachtet wird, wie sie im sensus interior als dem inwendigen Sinn (vgl. Anthropologie, 07: 153) nach Prinzipien der empirischen Psychologie auszumachen wären. Wenn für die rationale Psychologie gilt, dass sie keine Erkenntnisse über das Ich der Apperzeption gewinnen kann, dann natürlich auch nicht die empirische Psychologie, die ja gerade nur den empirischen Teil der Seele im Leben berührt (vgl. dazu Horstmann, Kants Paralogismen [wie Anm. 4], 415). 58 Kritik der reinen Vernunft, B 158. Dieses Bewusstsein des eigenen Verbindungsvermögens gehört zu den anfangs aufgeführten analytischen Bestimmungen meiner selbst und unterliegt keiner weiteren Bedingung. Der Satz „Ich bin mir meiner selbst bewußt“ hingegen ist „ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subject, und das Ich als Object“ (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, 20: 270). Dabei bin Ich, „der ich denke und anschaue“, allein die Person, während „das Ich aber des Objects, was von mir angeschaut wird, […] gleich andern Gegenständen außer mir, die Sache“ (ebd.) genannt werden muss. Diese vielleicht recht missverständliche Stelle besagt freilich nicht, dass in der bloßen Selbstthematisierung durch das Denken meiner selbst („Ich denke den Begriff von mir“) das denkende reine Ich sich selbst Objekt werden könne. Dieses Bewusstsein seiner selbst ist das bloße Bewusstsein des Verbindungsvermögens; hingegen zielt Kant mit dem angeführten Zitat vielmehr auf das – weiter oben thematisierte – (empirische) Zustandsbewusstseins in der Zeit ab. Allein die zeitlichen Zustandsvorstellungen des Ich sind bestimmbar und können ihm – als Quasi-Objekt immer noch Subjekt und Form aller Vorstellung – beigelegt werden (wie übrigens jede Vorstellung mir akzidentell zugeschrieben werden kann: Ich (als Subjekt der Apperzeption) habe bestimmte Vorstellungen, was zugleich eine innere Erfahrung ausdrückt, z. B.: Ich habe erfahren, was dazu gehört, den Begriff des schematisierten Kausalbegriffs zu denken etc.). Vgl. zur Unterscheidung von aktivem und passivem Selbstbewusstsein Alberto Rosales, Sein und Subjektivität bei Kant, Berlin, New York 2000, 157 f. Rosales erklärt, dass nur in einem reinen Selbstbewusstsein das Denken zu sich Ich oder Ich denke sagen kann. 53
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Ist keine epistemische Aussage über ein möglicherweise unsterbliches Ich möglich, da keine unsterbliche Seelensubstanz bestimmt werden kann, so lässt sich dennoch eine positive Aussage mit Blick auf das behandelte Problem statuieren: Weil der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit zum Sterben verurteilt ist, hat dies auch die Sterblichkeit der Seele des Menschen zur Folge, insofern unter der Seele das Gemüt bzw. das empirische Bewusstsein, d. h. das Bewusstsein meiner zeitlichen Zustände verstanden wird. Obschon die transzendentalen Strukturbedingungen möglicher Erfahrung samt transzendentalem Subjekt unabhängig von ihrer empirischen Bezogenheit betrachtet werden können, ist der Mensch nie bloß transzendentales, anorganisches Subjekt, sondern an den Leib – als materieller Bedingung möglicher Erfahrung – gebunden. Da der Mensch nun im Leben von seiner leiblich-organischen Verfasstheit nicht abstrahieren kann (wozu er in der Transzendentalphilosophie freilich fähig ist) und also von seinem empirisch-sinnlichen Vermögensteil nicht abzutrennen ist, endet mit dem leiblichen Tod auch die innere Vorstellungswelt, d. h. die Welt als Vorstellung, so wie sie dem Menschen mit Entwicklung seiner Gehirnfunktionen entsteht. Der irdische Tod bedeutet vor diesem Hintergrund also sehr wohl das Ende der Seele. Der Aufsatz befasst sich mit dem Problem der Unsterblichkeit der Seele in der Philosophie Kants. Obwohl es keinen theoretischen Beweis für die Unsterblichkeit einer einfachen, beharrlichen Seelensubstanz (anima) gibt, kann zumindest gezeigt werden, dass die Seele, insofern darunter bloß das Gemüt (animus) bzw. das an den Leib rückgebundene empirische Bewusstsein meiner selbst verstanden wird, sterblich ist. Somit endet mit dem Tod des Menschen, als dem Ende seiner Vorstellungswelt, auch seine Seele. This article addresses the problem of the immortality of the soul. Although it doesn!t provide a theoretical prove of the immortality of a single, persistent substance of the soul (anima), it shows at least, that the soul is mortal in a certain respect: The soul is mortal, if soul means the incorporation of the empirical consciousness into the human body (animus). Therefore the death of a human being, as the end of his world of representation, will end its soul. Dr. Carsten Olk, Universität Trier, Fachbereich I – Philosophie, Universitätsring 15, D-54286 Trier, E-Mail: [email protected]
Andree Hahmann Kants kritischer Weg zur Unsterblichkeit
In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft spitzt Kant das kritische Projekt auf die Auflösung der drei „unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst zu […] Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ (B 2).1 Mehr Bedeutung konnte er der Frage der Unsterblichkeit der Seele kaum verleihen. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass die eigentliche Antwort hierauf nicht nur recht spät im Buch, sondern geradezu beiläufig im zweiten Abschnitt des sogenannten Kanonkapitels gegeben wird. Die dort von Kant gebotene Erklärung der Unsterblichkeit wird zudem von den meisten modernen Interpreten ignoriert. Ein Grund hierfür besteht wohl darin, dass die kantischen Überlegungen an sich betrachtet nicht nur schwer verständlich sind,2 sondern zudem auf vorkritischen Annahmen zu beruhen scheinen, weshalb das Argument teilweise geradezu leibnizisch anmutet. Hinzu kommt, dass Kant zentrale Punkte nur kurze Zeit später ab der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dezidiert zurückweist und schließlich in der Kritik der praktischen Vernunft sogar einen zweiten, auf den ersten Blick völlig ummodellierten Beweis präsentiert. Das besiegelt in den Augen zahlreicher Interpreten nur das Urteil, dass Kant sich später von den in der früheren Kritik der reinen Vernunft ausgeführten Überlegungen distanziert haben muss. Dass dem jedoch nicht oder zumindest nicht in vollem Umfang zugestimmt werden darf, möchte ich im Folgenden zeigen. Denn entgegen der Einschätzung seiner Interpreten hat Kant auch nach der Publikation der Kritik der praktischen Vernunft die-
Siehe auch 5: 473 sowie 20: 263; 28: 301, 541. Kants Schriften werden zitiert mit Bandnummer und Seitenzahl nach: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert mit den Seitenzahlen der ersten (A) und zweiten (B) Auflage. 2 Nach Heidemann liegt das daran, dass die Gedankenführung ein „fortwährendes Vorgreifen und Zurückgreifen zu verlangen“ scheint. Siehe Ingeborg Heidemann, Das Ideal des höchsten Guts. Eine Interpretation des Zweiten Abschnittes im „Kanon der reinen Vernunft“, in: Ingeborg Heidemann, Wolfgang Ritzel (Hg.), Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781–1981, Berlin, New York 1981, 233–305, hier 247 f. 1
Aufkl'rung 29 · % Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128
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Andree Hahmann
sen ersten Beweis3 zur Unsterblichkeit der Seele nicht verworfen. Ganz im Gegenteil wird dieser in späteren Schriften erneut von ihm aufgegriffen. Dieser Beitrag ist der Entwicklung der kantischen Position zur Unsterblichkeit der Seele gewidmet, und zwar ausgehend von der Kritik der reinen Vernunft (also ab 1781).4 In Ansehung der Fragestellung dieses Bandes zeichnet sich die kantische Position dadurch aus, dass sie subjektive und objektive Interessen mit rationalen Systemzwängen vermittelt. Die Systemzwänge ergeben sich für die kantische Position aus der übergeordneten Systematik der kritischen Philosophie. Die drei Aspekte werden von Kant in den einzelnen Schriften unterschiedlich betont und, wie sich zeigen wird, anders verbunden. Das macht es fragwürdig, ob es Kant überhaupt gelungen ist, zu einer kohärenten Position bezüglich der Frage der Unsterblichkeit der Seele zu kommen. Zu dieser Frage wird der vorliegende Aufsatz kritisch Stellung beziehen. Der Aufsatz gliedert sich in fünf Abschnitte. Zuerst werde ich das kantische Argument aus der Kritik der reinen Vernunft behandeln. Der zweite Abschnitt thematisiert die Neufassung des Arguments in der Kritik der praktischen Vernunft. Dieses Argument wird von den meisten modernen Interpreten als die reife kantische Position bezüglich der Unsterblichkeit der Seele erachtet und daher fast ausschließlich in Betracht gezogen.5 Ich werde deshalb etwas detaillierter auf die Schwierigkeiten eingehen, die in der Sekundärliteratur mit dem Beweis gesehen werden. Im dritten Abschnitt werden einige Neuerungen besprochen, die von Kant in der Religionsschrift und dem Traktat Das Ende aller Dinge vorgestellt werden. An vierter Stelle soll gezeigt werden, dass Kant auch nach der Publikation Ob man tatsächlich von einem Beweis im strengen Sinn sprechen kann, ist fragwürdig. Kant selbst hebt in einem losen Blatt zur Preisschrift hervor (20: 350): „Ein gründlicher Beweis gilt nur für das theoretisch dogmatische Urtheil ein Argument kann aber auch für practisch-dogmatisch gelten. Es begründet alsdann einen freyen nicht durch Demonstration abzudringenden aber nichtsdestoweniger so fern gesicherten Beyfall, daß der so es überlegt sicher ist von ihm in practischer Absicht nicht abtrünnig zu werden. Ein solches findet in Ansehung jener drey Arten des Übersinnlichen statt.“ Mit den „drey Arten des Übersinnlichen“ meint Kant hier Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Zur Beschränkung der Gültigkeit des ,Beweises" siehe auch § 88 der Kritik der Urteilskraft, 5: 455. Dessen ungeachtet spricht Kant vor allem in den Reflexionen und Vorlesungen häufig von Beweis. Siehe etwa Refl. 6428 (18: 713). Den erkenntnistheoretischen Status der kantischen Überlegungen thematisiert ausführlich Rudolf Langthaler, Die Kennzeichnung des „dritten Stadiums“ der neueren Metaphysik als „Theologie“ in Kants später Preisschrift und damit verbundene systematische Perspektiven, in: Andree Hahmann, Bernd Ludwig (Hg.), Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, 119–170, zur kantischen Entwicklung in dieser Frage siehe insbesondere 131 ff. 4 Nicht ausführlich eingehen möchte ich hingegen auf Kants vorkritische Überlegungen. Siehe hierzu die Darstellung von Karl Ameriks, Kant!s Theory of the Mind [1982], Oxford 2000, 177–182. 5 Das betont beispielsweise Ameriks, Kant!s Theory of the Mind (wie Anm. 4), 185: „All other discussions of immortality in the critical period are dominated by the moral argument that Kant sets out in the second Critique.“ 3
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der Kritik der praktischen Vernunft das Argument zur Unsterblichkeit der Seele aus der Kritik der reinen Vernunft (wenn auch in einer angepassten Form) angeführt hat. Eine mögliche Erklärung hierfür soll im fünften Abschnitt anhand der kantischen Vorlesungen entwickelt werden.
I. Unsterblichkeit in der Kritik der reinen Vernunft Kant liefert seine konstruktiven Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele erst im zweiten Teil der Kritik der reinen Vernunft, und zwar im Kontext der Behandlung des höchsten Guts im „Kanon der reinen Vernunft“ (A 795/B 823). Zuvor hat er bereits gezeigt, dass sich die Unsterblichkeit nicht spekulativ (etwa aufgrund der vermeintlichen Einfachheit der Seele) beweisen lässt. Die von Kant im Paralogismuskapitel vorgetragenen Überlegungen bilden in dieser Hinsicht den Kern seiner Kritik an der rationalistischen Seelenlehre. Diese Kritik wird hier jedoch ausgeklammert.6 Stattdessen konzentriere ich mich auf Kants positiven Ansatz, der selbst wiederum deutliche Anleihen bei seinen vermeintlich dogmatischen Vorgängern nimmt, allen voran bei Leibniz. Im Fokus liegt das „Ideal des höchsten Guts“ (A 804/B 832). In Ansehung der übergeordneten Fragestellung dieses Bandes ist beachtlich, dass der Konstruktion des höchsten Guts ein subjektives Interesse an einem Objekt zugrunde liegt, welches selbst wiederum durch die systematische Ordnung der reinen Vernunft gefordert wird. Sehen wir im Nachfolgenden, wie genau Kant sich den Zusammenhang zwischen der Konzeption des höchsten Guts und der Unsterblichkeit der Seele in der Kritik der reinen Vernunft denkt: Den Ausgangspunkt bildet die Fragestellung: „wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?“ (A 805/B 833). Besonders an dieser Frage ist, dass sie in gewisser Hinsicht sowohl theoretische als auch praktische Implikationen hat. Denn gefordert ist zwar eine theoretische Erkenntnis, doch stellt sich die Frage aufgrund eines subjektiven Interesses und auch ihre Beantwortung kann nur mit Hinblick auf das Praktische erfolgen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Frage einerseits auf eine Erweiterung der Erkenntnis über die Grenzen der Erfahrung hinaus abzielt (was ihre Beantwortung zu einer metaphysischen Erkenntnis macht), das Urteil andererseits nur in praktischer Hinsicht gültig sein soll Siehe dazu Bernd Ludwig, Was weiß ich vom Ich? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 1786, in: Mario Brandhorst, Andree Hahmann, Bernd Ludwig (Hg.), Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus, Hamburg 2012, 155–222; Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, Hamburg 1996; Ameriks, Kant!s Theory of the Mind (wie Anm. 4). 6
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(A 818/B 846).7 An dieser Stelle setzt Kant als (praktisch) gewiss voraus, dass es moralische Gesetze gibt (A 807/B 835). Fragwürdig ist jedoch, wie sich deren Erfüllung zum Gegenstand der menschlichen Hoffnung, d. h. der Glückseligkeit, verhält. Aus der Existenz der moralischen Gesetze, die als solche die menschlichen Handlungen bestimmen,8 folgt für Kant die Möglichkeit eben solcher Handlungen, die den Gesetzen gemäß geschehen. Diese sollen sich nun auch in der Geschichte der menschlichen Handlungen wiederfinden lassen. Damit rückt für Kant zum ersten Mal die Geschichte im Kontext des höchsten Guts in den Vordergrund. Das Verhältnis wird an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausbuchstabiert.9 Relevant ist hier für ihn etwas anderes. Denn die Möglichkeit eben solcher Handlungen bedingt eine spezielle systematische Einheit, die als moralische eingeführt und der „Natureinheit nach spekulativen Prinzipien der Vernunft“ (A 807/B 835) gegenübergestellt wird. Ich werde gleich mehr zu dieser moralischen Einheit und deren Notwendigkeit sagen. Zunächst möchte ich jedoch das Augenmerk darauf richten, dass laut Kant die Begründung einer solchen systematischen Einheit allein durch spekulative Prinzipien unmöglich sei,10 womit die später dem praktischen Ideal ferner zugewiesene theoretische Funktion bereits angedeutet wird. Schon in der Kritik der reinen Vernunft ist Kant davon überzeugt, dass die nur mit Hinblick auf eine übergeordnete Zweckmäßigkeit zu gewinnende Festsetzung der natürlichen Einheit zwar durch die Vernunft gefordert, zugleich aber erkenntnistranszendent ist. Der wesentliche Unterschied zur späteren Kritik der Urteilskraft besteht darin, dass Kant noch nicht auf eine regulative Funktion der Urteilskraft zurückgreift, um die Einheit durch die Unterstellung einer äußeren Zweck-
Seine vollendete Gestalt erhält dieses Vorgehen als praktisch-dogmatische Erkenntnis in der späten Preisschrift. Zur Entwicklung der praktisch-dogmatischen Metaphysik siehe Mario Caimi, Der Begriff der praktisch-dogmatischen Metaphysik, in: Andree Hahmann, Bernd Ludwig (Hg.), Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, 157–170. 8 Kant spricht an dieser Stelle nicht von zugrunde liegenden Maximen. Das Gesetz soll stattdessen unmittelbar das „Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen“ (A 807/B 835). 9 Das geschieht ab 1784 in den geschichtsphilosophischen Abhandlungen Kants. Zum Zusammenhang zwischen Geschichte und höchstem Gut siehe Andree Hahmann, Pflichtgemäß aber töricht! Kant über Spinozas Leugnung der Vorsehung, in: Dieter Hüning, Stefan Klingner, Carsten Olk (Hg.), Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants, Berlin, Boston 2013, 477–505. 10 Anders ausgedrückt: Die systematische Einheit der Welt ihrer Substanz nach lässt sich theoretisch nicht erkennen. Siehe ausführlich dazu Andree Hahmann, Ein Blick auf Kants vorkritische Ontologie aus der Perspektive der kritischen Philosophie, in: ders., Bernd Ludwig (Hg.), Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, 17–35. 7
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setzung herzustellen, sondern lediglich auf die ideale Stellung der praktisch geforderten Einheit der Welt hinweist.11 Doch kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage: Denkt man sich die Welt den sittlichen Gesetzen gemäß (und damit zugleich als systematische Einheit),12 so handelt es sich um eine moralische Welt. Entscheidend ist an dieser Stelle für Kant, dass von all jenen sinnlichen Gegebenheiten abstrahiert wird, die ein Hindernis dafür darstellen, gemäß dem sittlich Gebotenen zu handeln. Das macht die moralische Welt zu einer praktischen Idee, die in der sinnlich erfahrbaren Welt offenkundig nicht realisiert wird (nämlich aufgrund der dort anzunehmenden sinnlichen Bestimmungen der Handlungen). Dessen ungeachtet hat diese aber als Vernunftidee einen gewissen Einfluss auf die von Kant jetzt sogenannte „Sinnenwelt“ (A 808/B 836).13 Schauen wir uns die Beschaffenheit der moralischen Welt etwas genauer an. Diese zeichnet sich für Kant dadurch aus, dass sie eine durchgängige systematische Einheit der freien Willkür eines jeden Einzelnen mit sich selbst und mit allen anderen aufweist. Letzteres folgt wie gesagt aus dem Sittengesetz, d. h. aus der notwendig vorausgesetzten Einheit der moralischen Prinzipien der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch. Dieser vorausgesetzten Einheit im praktischen Gebrauch entspricht nun laut Kant die (zwar theoretisch) transzendente (aber praktisch geforderte) Annahme der Zuteilung der Glückseligkeit proportioniert zur Würdigkeit.14 Damit ist die oben schon zur Sprache gekommene erkenntniserweiternde Hoffnung gemeint, deren Gegenstand jetzt spezifiziert wird als verdiente Folge solcher Handlungen, die der sittlichen Forderung gemäß geschehen. Aus dieser theoretischen Annahme zusammen mit den praktisch notwendigen Prinzipien ergeben sich nun zwei Systeme: das der Glückseligkeit und das der Sittlichkeit. Beide Systeme sollen „in der Idee der reinen Vernunft“ (A 809/B 837) verbunden sein. Dabei sieht die Verbindung so aus, dass in einer intelligiblen Welt die Glückseligkeit tatsächlich proportioniert zur Glückswürdigkeit ausgeteilt wird. Eben dies kann ausschließlich (!) in einer intelligiblen Welt geschehen, „weil Das muss freilich nicht im Widerspruch zur späteren Position stehen, stellt man auch da die übergeordnete Stellung der praktischen Zwecksetzung in Rechnung. Zum Verhältnis von natürlicher und praktischer Zwecksetzung in der Kritik der Urteilskraft siehe Hahmann, Pflichtgemäß aber töricht! (wie Anm. 9). 12 Das Sittengesetz gebietet ja gerade die Übereinstimmung der einzelnen Maximen zur allgemeinen Gesetzmäßigkeit, was von Kant an dieser Stelle noch nicht ausgeführt wird. 13 Die Trennung zwischen einer Sinnenwelt als mundus sensibilis und einer intelligiblen Welt, dem mundus intelligiblis, wird von Kant 1770 in der Inauguraldissertation eingeführt. Siehe Hahmann, Kants vorkritische Ontologie (wie Anm. 10). 14 Da Kant später davon spricht, dass das höchste Gut zugleich eine vollkommene Angemessenheit auf der Seite der Sittlichkeit, d. h. der Glückswürdigkeit, voraussetzt, wurde in der Sekundärliteratur die Frage aufgeworfen, wie sich diese Forderung zur angeblich proportionierten Zuteilung verhält. Siehe auch unten Anm. 22. 11
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die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafte Wohlfahrt sein würden“ (A 809/B 837). Kant geht 1781 offenbar davon aus, dass jeder Einzelne unter dieser Bedingung seine Glückseligkeit durch sein Handeln gemäß den moralischen Gesetzen selbst herbeiführen könnte.15 Zugleich schärft er ein: Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann tue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. (A 809 f./B 837 f.)
Die geforderte systematische Einheit in der Verbindung der einzelnen Willen kann also nur unter der Voraussetzung eines einheitlichen obersten Willens geleistet werden.16 Denn problematisch ist wie gesagt, dass die notwendige Hoffnung auf die Verbindung der Glückswürdigkeit mit der Glückseligkeit dem tatsächlichen Lauf der Natur widerspricht. Legt man mithin nur die Gesetze der Natur für die Erfüllung dieser Hoffnung zugrunde, so wäre sie vergeblich. Stattdessen soll jedoch gelten, dass die Belohnung der Sittlichkeit möglich wird, sobald eine „höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“ (A 810/B 838). Die Idee dieser höchsten Vernunft oder „Intelligenz“, wie Kant sich hier ausdrückt, stellt das „Ideal des höchsten Guts“ (A 810/B 838) dar. Ergänzend fügt er hinzu, dass es sich um das höchste ursprüngliche Gut handelt, von dem etwas später das abgeleitete höchste Gut unterschieden wird, nämlich die intelligible oder moralische Welt.17 Halten wir somit fest: Das Ideal des höchsten Guts setzt sich aus zwei Elementen zusammen: der Sittlichkeit und der proportioniert hierzu zugeteilten Glückseligkeit. Die Möglichkeit der Realisierung dieses Ideals bedingt einen weisen Urheber und Regenten, der allein die systematische Einheit stiften kann. Für unsere Fragestellung ist allerdings eine weitere Folgerung relevant. Weil diese Welt nämlich offenkundig nicht besteht, ihre Existenz aber gefordert wird, muss es sich laut Kant um eine „künftige Welt“ (A 811/B 839) handeln. Aus dieser FeststelKant erwägt nicht, dass die Glückseligkeit auch von anderen Faktoren als menschlichen Handlungen abhängen könnte, vielmehr soll der Mensch selbst für sein Leid und Übel verantwortlich sein. Paul Guyer (Kant on Freedom, Law and Happiness, Cambridge 2000, 342) versucht, den kantischen Gedanken dadurch zu entschärfen, dass er hinzufügt, dass dies nur unter idealen Bedingungen der Fall sein wird. 16 Ich habe an anderer Stelle auf die Parallelen zu einer vorkritischen Argumentation Kants hingewiesen. Siehe Hahmann, Kants vorkritische Ontologie (wie Anm. 10). 17 Zur Entwicklung der kantischen Konzeption des höchsten Guts siehe Klaus Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62/1 (1971), 5–42. 15
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lung folgt unmittelbar die Notwendigkeit eines künftigen Lebens des Handelnden: Da wir uns nun notwendigerweise durch die Vernunft, als zu einer solchen Welt gehörig, vorstellen müssen, obgleich die Sinne uns nichts als eine Welt der Erscheinungen darstellen, so werden wir jene als eine Folge unseres Verhaltens in der Sinnenwelt, da uns diese eine solche Verknüpfung nicht darbietet, als eine für uns künftige Welt annehmen müssen. Gott also und ein künftiges Leben [!], sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien der Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen. (A 811/B 839)
Und nur wenig später heißt es: Einen solchen [gemeint ist Gott als weiser Urheber und Regierer; A.H.], samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten. (A 811/B 839)
Kurzum: Die Unsterblichkeit der Seele folgt für Kant 1781 aus der Notwendigkeit eines künftigen Lebens, da nur dort die Folgen der Handlungen, die den moralischen Gesetzen gemäß geschehen, zur verdienten Glückseligkeit führen. Die weitergehende Einschränkung, dass nur unter dieser Voraussetzung die moralischen Gesetze ihre Verbindlichkeit haben können, wird von Kant bekanntlich spätestens mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aufgegeben.18 Denn dort wird die Verbindlichkeit des Gesetzes explizit von den zu erwartenden Folgen getrennt. Hat Kant aus diesem Grund vielleicht auch die Begründung für die Unsterblichkeit der Seele im Rahmen der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft geändert, wie Lewis White Beck vermutet?19 Oder sind ihm (erneut) die Schwierigkeiten bewusst geworden, die er selbst bereits in früheren Jahren in diesem Argument gesehen hat?20 Das würde allerdings die Frage aufwerfen, weshalb Kant den Beweis überhaupt an dieser Stelle anführt.
Zur Entwicklung der kantischen Position siehe Bernd Ludwig, Kants Fortschritte auf dem langen Weg zur konsequent-kritischen Metaphysik, in: Andree Hahmann, Bernd Ludwig (Hg.), Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie, Hamburg 2017, 79–118. 19 Lewis White Beck, A Commentary on Kant!s Critique of Practical Reason, Chicago, London 1960, 267 hebt sogar hervor, dass das Argument „disappear[ed] in deserved oblivion“. Zur Untermauerung seiner These verweist er auf die Metaphysik der Sitten (6: 490), wo Kant allerdings entgegen Becks Unterstellung denselben Beweis erneut anführt. Siehe dazu unten Abschnitt IV. 20 Siehe dazu ausführlich unten Abschnitt V. 18
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Wir werden später auf diese Fragen zurückkommen. Schauen wir uns zuvor das Postulat der Unsterblichkeit sowie das Argument, welches Kant 1788 liefert (und somit nur ein Jahr nach der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft), etwas genauer an. II. Das Postulat der Unsterblichkeit Die neuen und erstmals in der Kritik der praktischen Vernunft vorgelegten Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele werden im zweiten Hauptstück der Dialektik der praktischen Vernunft vorgestellt.21 Analog zur Kritik der reinen Vernunft versteht Kant das höchste Gut auch hier als Zusammensetzung von Glückswürdigkeit (d. h. Sittlichkeit) und Glückseligkeit.22 Trotz dieser ersten Übereinstimmung bestehen jedoch grundsätzliche Differenzen in der formalen und funktionalen Bestimmung des höchsten Guts und den Konsequenzen, die sich hieraus Auf der Suche nach Vorläufern zu dem in den Postulaten vorgelegten Argument hat Frederica Basaglia, La dimostrazione dell!immortalit) dell! anima di David Fordyce nella Kritik der reinen Vernunft, in: Philosophical Readings 3 (2011), 61–72 auf Fordyces Überlegungen zur Ausbildung der natürlichen Anlagen hingewiesen. Kant erwähnt Fordyce in diesem Kontext bereits in seinen vorkritischen Vorlesungen. Ich möchte jedoch auf eine andere mögliche Quelle hinweisen. So ist 1783 Christian Garves Übersetzung von Ciceros Abhandlung über die menschlichen Pflichten erschienen. Im ersten Buch der Philosophischen Anmerkungen und Abhandlungen heißt es: „Stelle ich mir den Menschen als ein immer dauerndes, immer höhersteigendes Wesen vor: so ist dieses System [das stoische; A.H.] vollkommen und ohne alle Ausnahme wahr. Stelle ich mir ihn als ein sterbliches Geschöpf vor, das nur für die Periode bestimmt ist, in welcher wir es hier sehen, so leidet es viele Einschränkungen.“ Worauf Garve sich bezieht, ist die stoische Forderung der Selbstvervollkommnung, die sich in erster Linie auf die Ausbildung der Tugend bezieht. Mit Hinblick darauf, dass Garve den äußeren Anlass für Kants Abfassung der Grundlungen zur Metaphysik der Sitten geliefert hat und Kant auch in der Kritik der praktischen Vernunft im Kontext des höchsten Guts erneut auf das stoische und epikureische System eingeht, ist nicht unwahrscheinlich, dass auch die neuartigen Überlegungen zur Unsterblichkeit letztlich durch Garve inspiriert worden sind. 22 Oben wurde bereits angemerkt, dass die Verbindung beider Teile in der Sekundärliteratur als problematisch erachtet wird. Wichtig für den Beweis der Unsterblichkeit ist die Charakterisierung als vollkommenes (und deshalb nicht steigerungsfähiges) Gut (siehe dazu Frederick C. Beiser, Moral faith and the highest good, in: Paul Guyer [Hg.], The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy, Cambridge 2006, 588–629, hier 595 mit weiteren Belegen). Zugleich betont Kant aber, dass die Glückseligkeit proportioniert zur Sittlichkeit zugeteilt wird (siehe Eoin O!Connell, Happiness Proportioned to Virtue: Kant and the Highest Good, in: Kantian Review 17/2 [2012], 257–279). Manche Interpreten (so etwa John Rawls, Lectures on the History of Moral Philosophy, Cambridge 2000) vermuten deshalb, Kant habe seine Position geändert. Kant scheint jedoch der Ansicht zu sein, dass die proportionierte Austeilung nicht unverträglich ist mit der geforderten Vollständigkeit. Proportioniert wird seiner Ansicht nach in der moralischen Welt immer das Maß an moralischer Glückseligkeit, welches der Würdigkeit entspricht (20.2: 1087), was bei einer guten Gesinnung die Hoffnung auf ewiges Fortschreiten zum Guten mit der Erwartung ewiger Belohnung notwendig verknüpft. So gilt, „daß vernünftige Wesen glücklich sind nach dem Maße ihrer Würdigkeit. Das ist das absolut vollständige Gute, das man sich denken kann“ (20.2: 1303 f.). 21
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ergeben. Was das im Einzelnen bedeutet, ist im Nachfolgenden zu erörtern. Am wichtigsten ist der oben bereits zur Sprache gekommene Umstand, dass das höchste Gut nicht mehr als unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens angesehen werden darf. Kant unterstreicht, dass „das moralische Gesetz […] der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens“ (5: 109) ist. In Ansehung der Glückseligkeit hält er hingegen fest, dass sie unter keinen Umständen als Bestimmungsgrund des Willens gelten darf (insofern es sich nämlich um einen reinen Willen handelt, 5: 109 f.). Gleichwohl wird sie zur Vollendung des letzten Zwecks eines vernünftigen Willens erfordert.23 Ursache hierfür ist die Natur des menschlichen Begehrens. Da der Mensch nämlich jederzeit der Glückseligkeit bedürftig ist, wäre es mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen und zugleich allmächtigen Wesens unverträglich, die Glückseligkeit nicht zu erlangen, wenn man sich ihrer als würdig erwiesen hat (5: 110; 25; 450).24 Mit Blick auf die Diskussion des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft ist überdies bemerkenswert, dass die in der früheren Schrift im Vordergrund stehenden Überlegungen zur systematischen Einheit der Zwecke in der Kritik der praktischen Vernunft zunächst keine besondere Rolle mehr zu spielen scheinen. Stattdessen stellt Kant das höchste Gut in einen historischen, genauer antiken Kontext, nämlich die Diskussion zwischen Epikureern und Stoikern. Der gemeinsame Fehler beider Parteien besteht laut Kant darin, dass sie den synthetischen Charakter des höchsten Guts nicht erkannt haben, sondern das Verhältnis als eines der Identität begreifen. Demnach gehen die Stoiker davon aus, dass die Glückseligkeit analytisch aus der Sittlichkeit folgt und die Epikureer ordnen entsprechend die Sittlichkeit der Glückseligkeit unter. Beides wird von Kant jedoch verworfen, da sich das eine nicht aus dem anderen nach dem Satz der Identität herleiten lässt.25 Handelt es sich aber um eine synthetische Verbindung, so muss es sich Zu den letzten Zwecken bei Kant siehe Andree Hahmann, Warum Moral Recht werden muss, in: Bernd Dörflinger, Dieter Hüning, Günter Kruck (Hg.), Das Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie – in der Reihe: Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Hildesheim 2017, 153–169. 24 In einer Vorlesung illustriert Kant dies mit einem Gedankenexperiment (V-Mo/Mron, 27: 1400): Man nehme zwei Welten an. In der ersten sind alle vollkommen glücklich, aber nicht tugendhaft; in der zweiten hingegen vollkommen tugendhaft, aber niemand glücklich. Keine der beiden Welten könne laut Kant als höchstes Gut im Sinne einer vollkommenen Welt gelten. Zum höchsten Gut als einer intellektuellen Welt siehe auch: 19: 6828; 5: 226; 230; 231 f.; 235 sowie (VMet/Pölitz) 28: 335. Zum höchsten Gut als ethischen Weltbegriff siehe Düsing, Das Problem des höchsten Gutes (wie Anm. 17), 17. 25 Das wird von Kant anhand der Diskussion der stoischen und epikureischen Position herausgestellt. Das epikureische Streben nach Lust macht die tugendhafte Gesinnung zunichte und die stoische Position scheitert daran, dass Tugend nicht unbedingt glücklich macht. Deshalb soll die epikureische Behauptung ohne Einschränkung falsch sein; die stoische hingegen ist nicht schlechterdings, sondern nur insofern die Betrachtung auf die Sinnenwelt eingeschränkt wird, falsch. Siehe 23
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für Kant um eine Kausalbeziehung handeln.26 Das ist der Punkt, an dem sich auch die Antinomie der praktischen Vernunft ergibt, weil nämlich weder die Sittlichkeit die Glückseligkeit noch die Glückseligkeit die Sittlichkeit bewirkt, die Verbindung aber als unbedingter letzter Zweck der praktischen Vernunft erfordert wird.27 Die Auflösung dieser Antinomie beruht wie die der Kritik der reinen Vernunft auf der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung. So kann die für die Erscheinung geltende Entzweiung von Tugend und Glückseligkeit letztlich überwunden werden, sobald die tugendhafte Gesinnung mittels eines weisen und gerechten Welturhebers notwendig mit der „Glückseligkeit als Wirkung eben dieser Gesinnung in der Sinnenwelt“ (5: 115; 124 f.) zusammengebracht wird. Im Gegensatz zur Kritik der reinen Vernunft folgt für Kant an dieser Stelle jedoch mit dem Verweis auf die in der Sinnenwelt unmöglich zu erreichende Vereinigung beider Seiten nicht automatisch die Unsterblichkeit der Seele. Stattdessen rückt nun eine andere Bestimmung des höchsten Guts in den Vordergrund. So wird dieses ausdrücklich als das vollendete Gut verstanden (5: 110), was wiederum „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen [!] zum moralischen Gesetze [… als; A.H.] oberste Bedingung des höchsten Guts“ (5: 122) erforderlich macht. Diese völlige Angemessenheit wird sodann als „Heiligkeit“ (5: 122) gekennzeichnet. Das macht deutlich, dass Kant der Ansicht ist, dass eine solche Angemessenheit von keinem sinnlichen Wesen jemals, also zu irgendeinem Zeitpunkt seines Daseins erreicht werden kann. Setzt man nun voraus, dass das höchste Gut ein praktisch notwendiges Objekt des Willens ist, so muss das Defizit zwischen dem, was für ein vernünftiges Wesen als Teil der Sinnenwelt erreichbar ist und dem Geforderten, behoben werden. Kant zufolge wird das nur durch einen unendlichen Fortschritt („Progressus“ ebd.) zu leisten sein. Das macht den unendlichen Fortschritt zur notwendige Annahme, die aus den Prinzipien der praktischen Vernunft selbst folgt. Hierauf beruht wiederum der Beweis für die Unsterblichkeit der Seele: Denn ein unendlicher Fortschritt erfordert die unendliche Fortdauer der menschlichen Existenz, was wiederum eine unsterbliche Seele als Prinzip des Lebens bedingt: Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welches man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich. Also ist das höchste Gut praktisch dazu Bernhard Milz, Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants ,Kritik der praktischen Vernunft", Berlin, New York 2002, hier 110 f. 26 Sie muss eine „Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung“ sein, „weil sie ein praktisches Gut, d. i. was durch Handlung möglich ist, betrifft“ (5: 113). 27 Metaphysik Pölitz, 28: 1072: „[W]enn […] auf Wohlverhalten kein Wohlbefinden folgen sollte; so wäre ein Widerspruch zwischen dem Laufe der Natur und der Moralität.“ Siehe auch 05: 450.
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nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich, mithin diese, als unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt). (5: 122)
Bevor wir uns den Problemen stellen, die mit dem Postulat verbunden sind, ist zu bemerken, was Kant an dieser Stelle unter einem Postulat versteht. Analog zu der in der Kritik der reinen Vernunft mit dem praktischen Ideal verknüpften theoretischen Annahme, die – praktisch fundiert – die Grenzen der theoretischen Vernunft überschreitet, soll auch das Postulat einen theoretischen Satz betreffen, der mit einem praktischen Gesetz verbunden wird. Entscheidend für die richtige Einschätzung der Probleme, die in dem Postulat der Unsterblichkeit gesehen werden, ist das Verständnis der damit erhobenen Erkenntnisansprüche und deren Verhältnis zu den Restriktionen, die der Vernunft als theoretisches Erkenntnisvermögen auferlegt sind. Prinzipiell denkbar sind nämlich zwei Möglichkeiten: Zum einen kann argumentiert werden, dass die praktischen Postulate unabhängig von der theoretischen Vernunft und deren Erkenntnisbegrenzungen sind. In diesem Fall wäre auch nicht ausgeschlossen, dass das Postulat die theoretische Erkenntnis und deren Grenzen nicht nur übersteigt, sondern den von Kant diesbezüglich herausgestellten Bedingungen geradezu widerspricht. Im Ergebnis würde das bedeuten, dass man auch solches glauben dürfe, was theoretisch ausgeschlossen wird. Diese Annahme ist aber nicht nur unplausibel, sondern wäre auch unvereinbar mit dem erklärten kantischen Vorhaben, mit der Kritik der reinen Vernunft Platz zum Glauben zu schaffen (B XXX).28 Denn diese Aufgabe wäre obsolet unter der Voraussetzung, dass der Glaube unberührt durch Beschränkungen der theoretischen Erkenntnis bleibt. Das spricht wiederum für die zweite Alternative. Demzufolge übersteigt das Postulat zwar die Grenzen der theoretischen Erkenntnis, gleichwohl wird der mögliche Inhalt durch diese Grenzen festgelegt. Ausgeschlossen wäre somit, dass der Gehalt des Postulats in einem klaren Widerspruch zur theoretischen Vernunft und deren Erkenntnissen steht. Was daraus im Einzelnen folgt, wird deutlich, sobald man die Probleme in Betracht zieht, die in dem kantischen Argument gesehen werden: Die Kritik an den kantischen Annahmen konzentriert sich in erster Linie auf drei Punkte. Zunächst wird die kantische Forderung der Heiligkeit als problematisch erachtet. Als fragwürdig wird etwa eingeschätzt, dass Kant überhaupt Heiligkeit fordert29 oder dass diese zwar als Bedingung der Realisierung des höchsten Siehe auch die von Kant an anderen Stellen mit den Postulaten versehene Einschränkung, dass die zugrunde liegenden Ideen „ohne Widerspruch gedacht werden können“ müssen (5: 471; 20: 299). 29 Guyer, Kant on Freedom (wie Anm. 15), 352. 28
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Guts erforderlich ist, doch lediglich eine unendliche Annäherung hieran möglich sein soll. Denn Fortschritt zum Besseren kann nicht gleichbedeutend mit der Heiligkeit sein. Der Übergang vom Streben zur tatsächlich geforderten Verwirklichung kann somit durch eine unendliche Fortdauer der Existenz überhaupt nicht geleistet werden.30 Hinzu kommt, dass Kant vielerorts betont, dass der Mensch aus eigener Kraft die geforderte Heiligkeit prinzipiell nicht erreichen kann, weshalb er auch eines außerordentlichen göttlichen Beistands bedürftig ist.31 Das würde aber bedeuten, dass man zu Unmöglichem verpflichtet wäre (was wiederum dem ultra posse nemo obligatus widerspräche: 27: 563; 28: 774). Zweitens wäre unter der Voraussetzung, dass Kant notwendig die fehlenden Mittel ergänzt, nicht der Mensch, sondern Gott Urheber der Gesinnung und drittens ist nicht ersichtlich, warum eine ewige Existenz benötigt wird, wenn die göttliche Beihilfe jederzeit erfolgen könnte. Mithin wäre die unsterbliche Seele keine Bedingung der Realisierung des höchsten Guts, das Postulat folglich überflüssig.32 Die zweite Gruppe von Schwierigkeiten betrifft die Vereinbarkeit des kantischen Arguments mit den Voraussetzungen des transzendentalen Idealismus. So ist fragwürdig, was Kant mit einer unendlichen Fortdauer meint, wenn Raum und Zeit als subjektive Formen der Anschauung dezidiert nicht für übersinnliche Dinge gelten können.33 Überdies muss man sich doch wundern, warum das Postulat der Unsterblichkeit der Seele überhaupt notwendig ist? Steht die nichtzeitliche Existenz des Menschen oder dessen übersinnliches Substrat, wie Kant sich in der Kritik der Urteilskraft ausdrückt (5: 341; 343 ff.), doch bereits dadurch fest, dass er Adressat der unmittelbaren Ansprache des Sittengesetzes ist. Drittens kreisen die Probleme um die Natur der geforderten moralischen Verbesserung. Geht man davon aus, dass die Widerstände in der Bestimmung der Maxime dem Gebot des Sittengesetzes Folge zu leisten, darin bestehen, dass man stattdessen Maximen der Sinnlichkeit vorschiebt, weshalb sich der Abfall vom Guten durch die sinnliche Versuchung erklären lässt, so ist fragwürdig, wie nach der Trennung vom sinnlichen Körper, die sinnlichen Bedürfnisse fortbestehen können, sodass auch weiterhin die Stärke der Tugend zu ihrer Unterdrückung Henry E. Allison, Kant!s Theory of Freedom, Cambridge 1990, 172 f.; Allen Wood, Kant!s Moral Religion, Ithaca, London 1970, 121. 31 Siehe etwa 8: 362; 397 sowie 6: 6; 44 f.; 52: „[…] was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden.“ Siehe dazu Wood, Kant!s Moral Religion (wie Anm. 30), 236–248. 32 Die von Wood vorgeschlagene Lösung, die Heiligkeit selbst in diesem unendlichen Fortschritt zu verorten, wird durch das Beispiel Jesu widerlegt, der nicht wegen einer unendlichen Verbesserung der Gesinnung heilig ist. 33 Beck, A Commentary on Kant (wie Anm. 19), 270 f.; Allison, Kant!s Theory of Freedom (wie Anm. 30), 172; Ameriks, Kant!s Theory of the Mind (wie Anm. 4), 185 f. 30
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nötig sein wird.34 Gilt nicht vielmehr, dass der Wille – getrennt von den Bedingungen der Sinnlichkeit – zu seiner reinen geistigen Existenz zurückgekehrt ist und sich mithin seiner eigenen Natur gemäß in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz befindet?35 Wir werden im Folgenden sehen, dass Kant zumindest einige dieser Einwände selbst gesehen bzw. antizipiert hat. Folgen wir daher der Entwicklung der kantischen Position noch etwas weiter bis in 1790er Jahre. III. Eine moralische Glückseligkeit? Der nächste größere Einschnitt in der Bestimmung der Unsterblichkeit der Seele begegnet uns kurze Zeit später in der Religionsschrift, die zwischen 1793 und 1794 erschienen ist.36 Erwartungsgemäß hebt die Diskussion mit dem höchsten Gut als dem letzten Zweck, der aus der Moral selbst hervorgeht, an. Hieran hängt, wie wir bereits wissen, die Annahme der Existenz eines „höhere[n], moralische[n], heiligste[n] und allvermögende[n] Wesen[s]“ (6: 5), da dieses als Bedingung der möglichen Realisierung des höchsten Guts vorausgesetzt werden muss. Das macht für Kant die Verbindung der praktischen Philosophie zur Religion aus, weshalb er nun versichert, dass die Moral „unumgänglich zur Religion“ (6: 6) führt. Bemerkenswert ist allerdings, dass Kant etwas später auch den aus der Kritik der reinen Vernunft bekannten Beweis des höchsten Guts auf der Basis der systematischen Einheit in der Zwecksetzung der Individuen aufgreift (6: 98). Daraus ließe sich schließen, dass Kant beide Überlegungen letztlich als gleichwertig begreift.
Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1980, 113. Eine erstaunliche Überlegung bietet Yovel, Kant and the Philosophy of History (wie Anm. 34). Seiner Ansicht nach hat Kant in seinem Postulat der Unsterblichkeit der Seele zugleich auch die Unsterblichkeit des Körpers mitgedacht, was Chris W. Surprenant (Kant!s Postulate of the Immortality of the Soul, in: International Philosophical Quarterly 48.1 / Issue 189 [2008], 85–98) als plausible Lösung annimmt, sobald man in Rechnung stellt, dass Kant als Pietist an die Wiederauferstehung des Leibes geglaubt haben könnte. Surprenant erinnert an Manfred Kühns These, dass es höchst unwahrscheinlich sei, dass der Pietismus keinen bleibenden Einfluss auf die kantische Auffassung ausgeübt hätte. Ich möchte dieser These mit Kant selbst begegnen: „Es frägt sich: ob der Mensch nach dem Tode ein neues corpusculum als vehiculum der Seele annehmen werde? Wahrscheinlicher weise nein!“ (28: 592). 36 In der Kritik der Urteilskraft, die im Jahr 1790 veröffentlicht wird, thematisiert Kant zwar ebenfalls die Seelenunsterblichkeit, bestätigt aber, was den Beweis selbst betrifft, die vorhergehenden Ausführungen. Im Fokus liegen für ihn hingegen der erkenntnistheoretische Status der Postulate oder die „Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“ (5: 467). Er unterstreicht, dass es ihm nicht um die Möglichkeit der Dinge selbst, sondern deren Erkenntnis geht. 34 35
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Trotz dieser ersten Übereinstimmung im Vorgehen werden auch signifikante Differenzen zur Postulatenlehre deutlich. Dem ersten Anschein nach hat Kant zentrale Momente entweder aufgeben oder aber durch wichtige Punkte ergänzt, die die vorausgegangene Theorie in ein anderes Licht stellen. Ich möchte vor allem drei Punkte hervorheben, die für unsere Aufgabenstellung relevant sind: Die erste wesentliche Neuerung betrifft die kantische Feststellung, dass es neben dem guten auch ein böses Prinzip geben müsse.37 Das geht einher mit der Annahme, dass sich eine böse Gesinnung nicht bloß durch die Unterlassung auszeichnet, die Maxime der Sittlichkeit gemäß auszurichten. Darüber hinaus soll es auch zu einer absichtlichen Unterordnung der Maxime unter sinnliche Bedingungen kommen. Die Sinnlichkeit gibt zwar noch immer den Anlass, doch die Ursache der Unterordnung wird von Kant ausschließlich in der „freien Willkür“ (6: 25) verortet.38 Diese kann als solche durch keine weiteren Ursachen erklärt werden. Es handelt sich Kant zufolge um eine „intelligible That“ (6: 31), d. h. einen Akt der Freiheit, weshalb diese auch dem Menschen zugerechnet werden kann.39 Zweitens, und das ist in Anbetracht des Postulats der Unsterblichkeit von besonderer Bedeutung, versichert Kant nun, dass die Annahme des guten Prinzips keinen quantitativen Prozess der Besserung voraussetzt, sondern einen qualitativen Umschwung bedingt. Es kann mithin keinen sukzessiven Fortschritt hin zur Heiligkeit der Gesinnung geben. Die Annahme vollzieht sich vielmehr instantan, was Kant auch mit dem Hinweis auf eine Revolution der Gesinnungsart verdeutlicht (6: 47 f.).40 Von der Unsterblichkeit als Voraussetzung für „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“ (5: 122) ist in der Re-
Siehe das erste Stück der Religionsschrift: „Von der Einwohnung des bösen Princips neben dem guten: oder das radicale Böse in der menschlichen Natur“ (6: 19–53). 38 6: 25: „Die Gesinnung, d. i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden.“ Das Verhältnis zur Sinnlichkeit verdeutlicht sehr gut eine Anmerkung zur Preisschrift (20: 347): „Die Sinnlichkeit (des Fleisches) ist eigentlich nicht das was vom guten Princip zu bekämpfen ist denn die ist unschuldig sondern der Hang seine Maxime nach dieser ihren Antrieben zu nehmen welche frey ist, ist das böse Princip in uns. Doch wird das Fleisch als der Feind genannt der wieder den Geist streitet weil es doch mittelbar wenn und dadurch daß der Mensch es in seine Maxime aufnimmt gesetzwiedrige Handlungen hervorbringt. Die Möglichkeit solcher Maxime aber zu erklären gehört so wie überhaupt wie Handlungen aus freyer Willkühr entspringen zu den Aufgaben welche die menschliche Einsicht gänzlich übersteigen“. 39 6: 31: „Nun ist aber nichts sittlich- (d. i. zurechnungsfähig-) böse, als was unsere eigene That ist.“ 40 Siehe dazu Woods, Kant!s Moral Religion (wie Anm. 30), 228 f. 37
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ligionsschrift in diesem Zusammenhang hingegen nicht mehr die Rede.41 Das bedeutet aber nicht, dass Kant überhaupt keinen Fortschritt mehr sieht; nur vollzieht sich dieser explizit nicht in der moralischen Gesinnung, die jetzt mit dem intelligiblen Charakter in Verbindung gebracht wird.42 Stattdessen soll es einen Fortschritt hinsichtlich des phänomenalen Charakters geben, der bestenfalls als ein Zeichen des intelligiblen gelten dürfe. Also nicht die Gesinnung (wie noch in der Kritik der praktischen Vernunft), sondern die „That“, d. h. „die Angemessenheit des Lebenswandels zur Heiligkeit des Gesetzes“ (6: 66) untersteht fortan der Forderung einer unendlichen Angleichung, die selbst wieder „in keiner Zeit erreichbar“ (6: 66) sein soll. Die Beurteilung der Gesinnung durch Gott (als einem „Herzenskündiger“ 6: 67; 99) wird stattdessen dezidiert von den zeitlichen Bestimmungen getrennt, weshalb es auch keinen Unterschied hinsichtlich der moralischen Beurteilung macht, zu „welchem Zeitpunkte […] sein Dasein abgebrochen werden möge“ (6: 67). Das lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die dritte Neuerung, die sich auf das Verhältnis von Gesinnung bzw. ,That" zum zweiten im höchsten Gut geforderten Teil, der Glückseligkeit, erstreckt. Analog zur Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Charakter ergänzt Kant die empirische oder physische Glückseligkeit durch eine moralische Glückseligkeit. Erstere wird in Übereinstimmung mit den vorausgehenden Bestimmungen als eine „Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen“ (6: 67) charakterisiert.43 Dass diese Form von Glückseligkeit genauso wie der Kampf gegen die Versuchung der Sinnlichkeit einen Körper voraussetzt, ist Kant, wie sich nun herausstellt, offensichtlich ebenso wenig wie seinen Interpreten entgangen. Unter der moralischen Glückseligkeit versteht er hingegen die „Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden […] Gesinnung […]; denn das beständige ,Trachten nach dem Reiche Gottes", wenn man nur von der Unveränderlichkeit einer solchen Gesinnung fest versichert wäre, würde eben so viel sein, als sich schon im Besitz dieses Reichs zu wissen“ (6: 67 f.). Flankiert werden diese drei Neuerungen durch eine Erläuterung Kants aus einem ebenfalls 1794 erschienen kurzen Aufsatz: Das Ende aller Dinge. In der Gleichwohl werden die Überlegungen des Postulats etwas später noch einmal wiederholt. Siehe 6: 157: „Die natürliche Religion als Moral […], verbunden mit dem Begriffe desjenigen, was ihrem letzten Zwecke Effect verschaffen kann, (dem Begriffe von Gott als moralischem Welturheber) und bezogen auf eine Dauer des Menschen, die diesem ganzen Zwecke angemessen ist (auf Unsterblichkeit), ist ein reiner praktischer Vernunftbegriff“. 42 Die Unterscheidung zwischen einem intelligiblen und einem phänomenalen Charakter kennt Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft, vgl. A 551/B 579. 43 Analog heißt es etwa in der Kritik der reinen Vernunft: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit der selben, als intensive, dem Grade und auch protensive, der Dauer nach)“ (A 806/B 834). 41
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Schrift wird das Verhältnis von zeitlicher Dauer und Ewigkeit thematisiert. Die Abhandlung hebt an mit der Feststellung, dass der Mensch mit seinem Tod aus der Zeit in die Ewigkeit übertritt (8: 327), was auf die Gattung übertragen bedeuten soll, dass das Ende der Menschen als Zeitwesen zugleich den Anfang als übersinnliche Wesen markiert, die als solche auch keinen Zeitbedingungen mehr unterstellt sind.44 Man beachte, dass Kant nicht, wie einige Interpreten vermutet haben, übersehen hat, dass mit dem Tod auch die sinnlichen Bedingungen der Existenz obsolet werden, mithin räumliche, aber vor allem auch zeitliche Bestimmungen in Ansehung der Fortdauer der menschlichen Existenz an Bedeutung verlieren. Wichtig für uns ist aber vor allem, dass jegliche Veränderung an zeitliche Bedingungen geknüpft ist, weshalb man nach dem Tod auch keine Änderung des Lebenswandels mehr erwarten dürfe (8: 328 f.). D. h. also in der Terminologie der Religionsschrift, dass es hinsichtlich der „That“ oder „Angemessenheit des Lebenswandels“ keinen Umschlag mehr von der zuvor eingeschlagenen Richtung geben könne. IV. Noch einmal zur himmlischen Belohnung Nur zwei Jahre später, also 1796, erscheint die kleine Schrift Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie. In diesem Text führt Kant erneut im Ausgang vom höchsten Gut einen Beweis zur Unsterblichkeit der Seele an. Aber im Gegensatz zur Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft und in Übereinstimmung zum Kanon der Kritik der reinen Vernunft schließt Kant nicht von der vollkommenen Angemessenheit des Willens, d. h. dessen Heiligkeit, auf die als notwendige Bedingung hierfür vorausgesetzte unendliche Existenz, sondern ausgehend von der Zuteilung der göttlichen Belohnung, also der Glückseligkeit, auf ein Leben nach dem Tod: [I]ndem er [gemeint ist der Kategorische Imperativ; A.H.], das oberste Princip der Weisheit, folglich auch den Endzweck des vollkommensten Willens (die höchste mit der Moralität zusammenstimmende Glückseligkeit) voraussetzend, bloß die Bedingungen enthält, unter welchen allein diesem Genüge geschehen kann. Denn das Wesen, welches diese proportionirte Austheilung allein zu vollziehen vermag, ist Gott; und der Zustand, in welchem diese Vollziehung an vernünftigen Weltwesen allein jenem Endzweck völlig angemessen verrichtet werden kann, die Annahme einer schon in ihrer Natur begründeten Fortdauer des Lebens, d. i. die Unsterblichkeit. Denn wäre die Fort8: 327: „Indem wir nun den Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit […], so wie ihn [gemeint ist der Begriff der Ewigkeit; A.H.] sich die Vernunft in moralischer Rücksicht selbst macht, verfolgen, stoßen wir auf das Ende aller Dinge als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung: welches Ende aber in der moralischen Ordnung der Zwecke zugleich der Anfang einer Fortdauer eben dieser als übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender Wesen ist [!], die also und deren Zustand keiner andern als moralischer Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig sein wird.“ 44
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dauer des Lebens darin nicht begründet, so würde sie nur Hoffnung eines künftigen, nicht aber ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) nothwendig vorauszusetzendes künftiges Leben bedeuten. (8: 418 f.)45
Auffallend ist nun, dass Kant zufolge die Unsterblichkeit der Seele bereits in ihrer Natur begründet liegen soll. Was er damit meint, wird etwas deutlicher, wenn man das unmittelbar Vorausgehende hinzuzieht. Kant ist nämlich um die „hyperphysische Grundlage des Lebens des Menschen“ (8: 417) besorgt, die er dezidiert von der physischen abgrenzt.46 So sieht er im Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen noch ein besonderes „Lebensprincip“ (8: 417) als wirksam an, welches sich dadurch auszeichnet, dass es sich dem Menschen ausgehend von der Freiheit erschließt. Was Kant hier also im Sinn hat, ist, dass sich allein der Mensch aufgrund der Ansprache durch das Sittengesetz seines übersinnlichen Substrats bewusst werden kann. Letzteres wird von ihm an dieser Stelle als Geist oder Lebensprinzip benannt, was daher auch von Natur aus die Unsterblichkeit begründet, wie Kant dann unterstreicht. Man beachte nun, dass die erneute Verwendung des Schlusses von der berechtigten göttlichen Belohnung auf die Unsterblichkeit nicht auf den kurzen Traktat beschränkt ist. Denn dasselbe Argument findet sich erneut in der späten Metaphysik der Sitten von 1797 (6: 490) sowie in der aus dem Nachlass von Rink 1804 herausgegebenen Preisschrift (20: 295). Bemerkenswert ist, dass Kant in beiden Schriften,47 den in der Postulatenlehre ausgeführten Beweis zur Unsterblichkeit neben den Beweis aus der göttlichen Belohnung stellt. So heißt es etwa in der Preisschrift, dass die „Unsterblichkeit, d. i. die Fortdauer unsrer Existenz nach uns […] mit denen ins Unendliche fortgehenden moralischen und physischen Folgen, die dem moralischen Verhalten derselben angemessen sind“ verknüpft (20: 295) wird. Und nur wenig später führt Kant aus, dass ein „künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut“ (20: 298; siehe auch 300 f.; 309) folgt. Das lässt wiederum den Schluss zu, dass Kant zu diesem Zeitpunkt beide Überlegungen in gewisser Weise als gleichwertig aufgefasst haben muss. Damit steht nun fest, dass Kant den früheren Schluss von der göttlichen Belohnung auf die Unsterblichkeit der Seele, den er in der Kritik der reinen Vernunft verwendet, nicht (!) durch das in der Kritik der praktischen Vernunft ausgeführte Argument ausgehend von der im höchsten Gut geforderten völligen Angemessenheit der Gesinnung ersetzt hat. Eine eindeutige Entwicklung von einer noch größtenteils vorkritischen Position hin zur reifen Postulatenlehre kann es also nicht Siehe auch 8: 418: „Unsterblichkeit, als ein Zustand, in welchem dem Menschen sein Wohl oder Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Werth zu Theil werden soll.“ 46 Dieser Gedanke datiert, wie wir unten in Abschnitt V sehen, bis in die vorkritische Zeit zurück. 47 Für die Metaphysik der Sitten, siehe 6: 157 und 490. 45
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geben. Wer folglich am Entwicklungsgedanken festhalten will, muss nicht nur annehmen, dass Kant sich angesichts der mit dem Postulat verbundenen Probleme erneut die frühere Position zu eigen gemacht hätte, sondern auch, dass er in der Preisschrift bzw. der Metaphysik der Sitten die Übersicht völlig verloren hätte, weshalb er dort auch alles durcheinander gebracht hätte. Setzt man aber voraus, dass es keine Entwicklung der kantischen Position in dieser Hinsicht gegeben hat, wie lässt sich das Schwanken dann erklären? Gibt es vielleicht einen tieferen Grund, der es Kant erlaubt, die Beweise nebeneinanderzustellen? Oder ist es ihm schlichtweg nicht gelungen, eine kohärente Position in dieser Frage zu entwickeln, was nun aber in Anbetracht der zu Beginn herausgestellten Bedeutung dieser Frage für das kritische Projekt insgesamt einem Zugeständnis des Scheiterns gleichkäme.
V. Die kantischen Vorlesungen In diesem Abschnitt soll in Anbetracht der kantischen Vorlesungen der Versuch unternommen werden, zu einer kohärenten Deutung der kantischen Position zu kommen. Die überlieferten Vorlesungsmitschriften bieten, wie sich zeigen wird, hilfreiche Hinweise, die die publizierten Aussagen teils in einem anderem Licht erscheinen lassen. In seinen Vorlesungen geht Kant detailliert auf die Unsterblichkeit der Seele sowie deren Zustand nach dem Tod ein. In der Betrachtung dieser Mitschriften ist jedoch Vorsicht geboten: Unklar ist einerseits die Zuverlässigkeit der Texte und andererseits, ob es sich tatsächlich um Kants eigene Position handelt, da er üblicherweise seine Vorlesungen anhand von zugrunde liegenden Lehrbüchern gehalten hat. Trotzdem können gewisse Entwicklungen aus den Mitschriften abgelesen werden und sicher lässt sich aus ihnen schließen, mit welchen Positionen bzw. Schwierigkeiten Kant sich beschäftigt hat. Wir konzentrieren uns auch hier vor allem auf die späteren Texte, d. h. die Mitschriften ab der Mitte der 1770er Jahre. Aus diesen wird ersichtlich, dass Kant viele der publizierten Überlegungen schon früh in Betracht gezogen hat, so auch die in der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie ausgesprochene Annahme, dass es sich bei der Seele um die hyperphysische Grundlage des Lebens handelt (weshalb sie schon aufgrund ihrer Natur unsterblich sein müsse). Kant hebt dort beispielsweise hervor, dass dies der einzige apriorische Beweis für die Unsterblichkeit der Seele ist.48 Das Argument wird Metaphysik L1 Pölitz (Mitte 1770er), 28: 285: „Der Grund des Lebens muß vielmehr in einer andern Substanz liegen, nämlich in der Seele […].“ Wenig später betont Kant, dass es sich um den „einzige[n] Beweis [handelt], der a priori kann gegeben werden, der aus der Erkenntniß und der Natur der Seele […] hergenommen ist“ (ebd., 287); siehe auch 28: 234. 48
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von ihm auch als metaphysischer Beweis der Unsterblichkeit bezeichnet. Kant weist jedoch dasselbe Argument nur kurze Zeit später, nämlich ab den 1780er Jahren als unbrauchbar zurück. Bemerkenswert ist nun, dass Kant sogar zur Zeit der Abfassung des kurzen Traktats auf die Unzulänglichkeit der Überlegung hinweist.49 Ebenfalls bis in die vorkritische Zeit zurück reicht die Begründung der Unsterblichkeit der Seele ausgehend von der göttlichen Gerechtigkeit.50 Kant zufolge handelt es sich hierbei um einen moralischen Beweis und er betont schon in den 1770er Jahren, dass dieser „practisch hinreichend genug [sei; A.H.], einen künftigen Zustand zu glauben“ (28: 289). Dessen ungeachtet verbindet Kant hiermit jedoch schwerwiegende Probleme. Denn erstens erstreckt sich der Beweis nur auf diejenigen, deren Tugend und Laster tatsächlich im Leben nicht vergolten worden sind. Zweitens werden Kinder bzw. Neugeborene, die noch keine Gelegenheit zur Bewährung ihrer Grundsätze hatten, ausgeschlossen. Drittens, und hierauf legt Kant besonderen Wert, folgt daraus nicht die Notwendigkeit der Unsterblichkeit der Seele. Denn sobald der Delinquent bestraft bzw. der Wohltäter belohnt worden ist, gibt es keinen weiteren Grund mehr, diesen am Leben zu erhalten.51 Kant betont daher, dass es nicht ausreichend ist, „daß man beweise, die Seele werde nach dem Tode leben; sondern es muß auch bewiesen werden, daß sie ihrer Natur nach nothwendig leben müsse“ (28: 290).52 Er hebt deshalb hervor, dass zur UnsterbMs. Anonym. Königsberg (1790/91), 28: 764. Siehe auch Metaphysik (1794/95), 29: 1038; 1039. Ebenso 28: 592. Dort hebt Kant noch einmal hervor, dass der Beweis zwar sehr schön sei, aber letztlich zur „Schwärmerey“ verleite. 50 Metaphysik L Pölitz (Mitte 1770er), 28: 289: „Ich sehe ein absolut nothwendiges Wesen ein, 1 welches im Stande ist, mir diejenige Glückseligkeit zu ertheilen, der ich mich durch Beobachtung des moralischen Gesetzes würdig gemacht habe. Da ich nun aber sehe, daß ich dieser Glückseligkeit, der ich mich würdig gemacht habe, in dieser Welt gar nicht theilhaftig werden kann, sondern sehr oft durch mein moralisches Verhalten und durch meine Rechtschaffenheit Vieles meiner zeitlichen Glückseligkeit habe aufopfern müssen; so muß eine andere Welt seyn, oder ein Zustand, wo das Wohlbefinden des Geschöpfs dem Wohlverhalten desselben adäquat seyn wird.“ 51 Metaphysik L Pölitz (Mitte 1770er), 28: 289 f. Dasselbe wiederholt Kant auch nach der 1 Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft: Metaphysik Mrongovius (1782/83), 29: 911 sowie Metaphysik Volckmann (1784/85), 28: 443; Ms. Anonym. Königsberg (1790/91), 28: 767. Kant unterstreicht aber noch einmal: „Der moralische Beweis dient dazu, um unsern Vernunftglauben an ein künftiges Leben zu rechtfertigen“ (28: 768). 52 Kant führt noch weitere Beweise in seinen Vorlesungen an. Besonderes Gewicht legt er auf einen „empirisch-psychologisch, aber aus kosmologischen Gründen“ (28: 291) angenommenen Beweis. Dieser beruht darauf, dass die menschlichen Anlagen im kurzen Leben des Menschen nicht vollkommen entwickelt werden können, weshalb eine unendliche Fortdauer der Existenz nötig ist, um diese vollständig zu entwickeln, was wiederum die teleologische Ordnung der Natur fordert (28: 292; 28: 442; 29: 915 f.). Laut Kant geht der Beweis auf Fordyce zurück (29: 916). Ich habe oben bereits angemerkt, dass Basaglia, La dimostrazione dell!immortalit) (wie Anm. 21) hierin den Ursprung des Postulats der Kritik der praktischen Vernunft sieht. Bemerkenswert ist jedoch, dass 49
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lichkeit auch eine „natürliche Unmöglichkeit zu sterben“ (29: 911) erfordert wird.53 Dass er trotzdem daran festhält, hat zumindest zu Beginn der 1780er Jahre damit zu tun, dass Kant noch immer der Überzeugung ist, dass die Unsterblichkeit als Triebfeder der Moralität gefordert wird.54 Das ändert sich jedoch, wie wir gesehen haben, ab der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, also 1785. Wenn aber der Schluss von der notwendig durch die göttliche Gerechtigkeit zugeteilten Glückseligkeit auf die Unsterblichkeit problematisch ist, warum wird dieser dann von Kant auch in den späteren Schriften der 1790er Jahre erneut aufgegriffen? Den entscheidenden Hinweis zur Beantwortung dieser Frage gibt uns eine kantische Überlegung, die sich in den Vorlesungsmitschriften zur Rationaltheologie aus den Jahren 1783/84 findet. In leichten Variationen taucht der Gedanke in den unterschiedlichen Mitschriften immer wieder auf. Demzufolge wird die der Moralität proportionierte Zuteilung von Wohlbefinden bereits 1783 mit dem Zuwachs an Moralität notwendig verbunden. Bei der Vorstellung einer moralischen Glückseligkeit handelt sich somit also nicht um eine entscheidende Neuerung der Religionsschrift: Mit Wohlverhalten wird einst Wohlbefinden, so wie mit moralischem Verderben Strafe unzertrennlich verbunden [!] seyn. Auf moralische Vervollkommnung in diesem Leben wird Zuwachs von Moralität, so wie auf moralische Verschlimmerung in diesem Leben noch größerer Verfall der Sittlichkeit in jedem Leben folgen. Der Mensch wird die Entwicklung und Anlage seiner Fähigkeiten nach dem Tode fortsetzen, und kann demnach, wenn er sich schon hier bestrebet hat, moralisch gut zu handeln, und darin allmählig bis zu einer Festigkeit gelangt ist, auch hoffen, seine moralische Ausbildung dort fortzusetzen, so wie auf der andern Seite, wenn er schon hier wider die ewig nothwendigen Gesetze der Sittlichkeit gehandelt und durch öftere Vergehungen sich allmählig verschlimmert hat, er fürchten muß, daß sein moralisches Verderben auch dort noch immer zunehmen werde. Vielmehr giebt ihm die Erfahrung von seinem Zustande in der Welt und der Ordnung der Natur überhaupt deutliche Beweise, daß seine moralische Verschlimmerung, und mit ihr wesentlich nothwendige Strafen, so wie seine moralische Vervollkommnung, und mit ihr unzertrennlich Wohlbefinden, unabsehlich, d. h. ewig fortdauern werde.55 Kant erst ab 1790/91 (Ms.: Anonym. Königsberg) die für das Postulat notwendige moralische Verbesserung in seine Überlegung einbezieht. Siehe 28: 766: „Die moralischen Anlagen, nach denen der Mensch selbst das Leben für nichts achtet, wenn er!s nicht ohne Verbrechen erhalten kann, beweisen am meisten eine künftige Existenz, denn der Mensch sieht dadurch, dass er bestimmt ist, diese Anlagen auch weiter zu entwickeln und zu vergrössern.“ 53 Metaphysik Mrongovius (1782/83), 29: 911. 54 Metaphysik Mrongovius (1782/83): „Die Moralitaet würde ohne Triebfedern sein, wenn keine Unsterblichkeit der Seele wäre. […] Demnach können die Menschen ohne sie keine Entschließung zu guten Handlungen fassen, und die Hoffnung und der Glaube an eine Unsterblichkeit ist ein practisches postulat [!] der Vernunft“ (29: 918). 55 Religionslehre Pölitz, 28.2: 1084 f. Siehe auch 28: 446 f.: „In der künftigen Welt können wir uns also nur einen Fortschritt zur Seeligkeit oder zum Elende denken […]. Das moralisch gute und
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Kant sieht demnach eine notwendige Verbindung zwischen der zu erwartenden Glückseligkeit und dem Fortschreiten hin zur vollkommenen Moralität. Versteht man diese Überlegungen als kantische Erläuterungen, dann geben sie uns einen wertvollen Hinweis darauf, warum Kant glaubt, dass er zwischen den beiden Argumenten zur Unsterblichkeit der Seele ohne größere Probleme wechseln könne und diese letztlich sogar wie in der Preisschrift und der Metaphysik der Sitten nebeneinander anführt. Der Schlüssel liegt nämlich in der göttlichen Gerechtigkeit oder besser Güte. Der Mensch beabsichtigt folglich nicht, physische Glückseligkeit in einer anderen Welt zu erwerben, sondern eine Glückseligkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie unzertrennlich mit Moralität verknüpft ist. Das wäre in der Terminologie der Religionsschrift eine moralische Glückseligkeit oder eben Seligkeit. Diese ist nun aber nicht identisch mit dem moralischen Fortschritt (denn dann würde das eine aus dem anderen nach dem Satz der Identität folgen, was wiederum den synthetischen Charakter der höchsten Guts aufheben würde), sondern lediglich unzertrennlich hiermit verbunden, und zwar durch Gottes Güte bzw. Gerechtigkeit.56
Böse ist daher auch nie beym Menschen vollkommen, sondern besteht nur im Fortschritt. In Ansehung der moralischen und physischen Vollkommenheit werden wir uns also die andre Welt auch nur im progreßus denken können, welche beyde zulezt mit Wohlbefinden müßen verbunden seyn [!]. […] Der Zustand zum Fortschritt des moralischen und physischen Guten heißt Seeligkeit, und der Fortschritt des moralischen und physischen Bösen heißt Verdammung […] Der Mensch kann hier nie Seligkeit haben. Seine Seligkeit besteht in einem ununterbrochenen Fortschritt zu derselben, und dieser Fortschritt wird unendlich sein. – Es ist daher immer unverständig, wenn wir hören, daß das ewige Leben in dem größten Genuß des Glücks bestehen soll. Nicht physischen Genuß, sondern Erwerbung der Glückseligkeit durch Moralität und durch immer weiteren Fortschritt darin hoffen wir dort.“ Siehe auch Danziger Rationaltheologie, 28.2: 1297; Metaphysik Volckmann (1784/85): 28: 446. Zum Zustand der Seele im Himmel bzw. der Hölle siehe 28: 445: „Die erste Frage hiebey ist: wenn die Seele nach dem Tode lebt, wo ist sie denn? ist die körperliche Welt nur Erscheinung, so können wir darin gar nicht die Seele setzen, sondern in einer andern Welt, Himmel, welches das Ganze der intellectuellen Wesen bedeut, wenn die Seelen dieselbe Dinge erkennen werden wie sie sind, so ist dies eine andre Welt. Nun können wir sagen: der Tugendhafte ist schon hier im Himmel nur er ist sich deßen nicht bewußt, denn er erkennt die Dinge an sich selbst, und das vernünftige Reich unter moralischen Gesezzen betrachtet ist: das Reich Gottes und das Reich der Zweke, und er ist ein wahres Glied im Reich der Zweke, der Uebergang in die andre Welt würde blos die Anschauung seyn, das heißt in eine andre Welt kommen diese ist nur der Form nach eine andre, dem Inhalt nach aber immer dieselbe Welt, weiter können wir hierin nicht gehen.“ Ebenso 28: 298; 592 f.; 689; 770; 29: 919. 56 Das unterstreicht letztlich auch den engen Zusammenhang der einzelnen Postulate, die somit wechselseitig aufeinander bezogen sind bzw. aufeinander aufbauen.
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VI. Ergebnis Damit komme ich zum Schluss und resümiere den Verlauf der Untersuchung, die der vermeintlichen Entwicklung der kantischen Position zur Unsterblichkeit der Seele gewidmet war. Ausgangspunkt bildete die Darlegung des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft. Zwei Punkte waren uns wichtig: So zeichnet sich das höchste Gut zum einen dadurch aus, dass die Glückseligkeit proportioniert zur Moralität ausgeteilt wird und zum anderen soll es sich um eine künftige Welt handeln, da dies offensichtlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall ist. Die Auffassung, dass das höchste Gut zugleich auch ein Bestimmungsgrund des Willens ist, gibt Kant mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auf, weshalb dieser Gedanke auch in der Kritik der praktischen Vernunft keine Rolle mehr spielt. Das kann aber, wie wir jetzt wissen, nicht der Grund dafür sein, dass Kant 1788 ein anderes Argument zur Unsterblichkeit der Seele anführt, die nun als Postulat auftritt. Das Argument legt den Fokus auf den Fortschritt in der Gesinnung, der wegen der im höchsten Gut vorausgesetzten Vollständigkeit erforderlich wird. Als nächstes haben wir uns der Religionsschrift zugewandt, in der Kant die Vorstellung der empirischen Glückseligkeit durch die Konzeption der moralischen Glückseligkeit (oder Seligkeit) ergänzt. Kant betont dort ebenfalls, dass es Fortschritt nicht hinsichtlich der Gesinnung, sondern nur mit Blick auf die Ausführung der Maxime geben kann. Dann wurde gezeigt, dass Kant nur kurze Zeit später, nämlich in der Abhandlung Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, erneut den aus der Kritik der reinen Vernunft bekannten Beweis aus der göttlichen Gerechtigkeit aufgreift, was wiederum die Vorstellung einer Entwicklung der kantischen Position fragwürdig gemacht hat. Vor diesem Hintergrund hat sich dann anhand der Vorlesungsmitschriften der 1770er bis 1790er Jahre gezeigt, dass die aufgrund der göttlichen Güte (bzw. Gerechtigkeit) proportioniert zur Glückswürdigkeit zugeteilte Glückseligkeit tatsächlich die in der Religionsschrift beschriebene Seligkeit sein muss, die zwar nicht identisch mit dem moralischen Fortschritt des Menschen aber doch notwendig hiermit verbunden ist. Wird nun in Rechnung gestellt, dass es aufgrund der im Jenseits vorauszusetzenden Zeitlosigkeit keinen Wandel der Gesinnung nach der Trennung der Seele vom Körper mehr geben kann, so ergibt sich für Kant, dass die Fortdauer der Existenz des Menschen tatsächlich nur als Fortschritt in der bereits im Diesseits gefassten Einstellung denkbar wird, weshalb der gute Mensch schon zu Lebzeiten im Himmel und der böse entsprechend in der Hölle weilt, was ihnen aber aufgrund ihrer eingeschränkten Selbsterkenntnis noch nicht bewusst geworden ist. „Der Übergang also aus der sinnlichen Welt in eine andere ist blos die Anschauung seiner selbst“ (28: 592).
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Mein Beitrag ist der Entwicklung von Kants Position zur Unsterblichkeit der Seele in seiner kritischen Philosophie gewidmet. Auch wenn Kant die Frage der Unsterblichkeit zu den natürlichen Endzwecken der Vernunft rechnet, wirft sein vermeintlich maßgebliches Argument aus der Kritik der praktischen Vernunft zahlreiche Probleme auf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass seine Konzeption der Unsterblichkeit in der Forschung extrem kritisch beurteilt worden ist. So wird infrage gestellt, ob es Kant überhaupt gelungen sei, zu einer kohärenten Position zu kommen. Der Aufsatz ist in fünf Abschnitte unterteilt. Zuerst werde ich das von Kant in der Kritik der reinen Vernunft angeführte Argument diskutieren. Der zweite Abschnitt behandelt das Postulat der Unsterblichkeit aus der Kritik der praktischen Vernunft. Der dritte Abschnitt thematisiert einige Neuerungen, die Kant in Schriften der 1790er Jahren vorgestellt hat. Im vierten Abschnitt werden wir sehen, dass das ursprüngliche Argument der ersten Kritik in späteren Schriften erneut verwendet wird (wenn auch in modifizierter Form). Der fünfte Abschnitt gibt eine mögliche Erklärung dafür auf der Grundlage der kantischen Vorlesungen. This paper is devoted to the development of Kant!s conception of immortality of the soul within his so-called critical period. Even though Kant counts the question of immortality among the natural ends of reason, the brief and elliptical discussion of immortality that he provides in the second Critique gives rise to numerous problems. It is therefore not surprising that his conception of immortality has been very critically assessed by Kant scholars and it is questionable whether Kant succeeded to give a coherent account. The paper is divided into five sections. First, I will consider Kant!s argument from the Critique of Pure Reason. The second section deals with the postulate of immortality from the second Critique. The third section discusses some innovations introduced in two texts from the 1790!s. In the fourth section we shall see that the original argument from the first Critique reappears in later writings (albeit in an advanced form). The fifth section furnishes a possible explanation for this on the basis of Kant!s lectures. Andree Hahmann, DAAD Visiting Professor of Philosophy and of Germanic Languages and Literatures, University of Pennsylvania, Department of Germanic Languages and Literatures, 745 Williams Hall, 255 South 36th Street, Philadelphia, PA 19104 – 6305, USA, E-Mail: [email protected]
KU RZB IO G R A P H IE
Johann Gustav Reinbeck (1683–1741)
Der streitbare Theologe wurde am 15. Januar 1683 in Celle bei Hannover in eine lutherische Theologenfamilie hineingeboren. Von seinem Vater, Andreas Reinbeck (1641–1705), der selbst als Probst und Prediger in Lüchow eine kirchliche Karriere machte, erhielt er ersten Unterricht in theologischen Grundfragen sowie insbesondere in orientalischen Sprachen. Schon mit 17 Jahren konnte er daher die Universität Halle beziehen – eine der wichtigsten Reformuniversitäten der Aufklärung. Hier besuchte er Vorlesungen und Seminare bei Johann Franz Buddeus (1667–1729), zum damaligen Zeitpunkt Professor der Moralphilosophie und also solcher einflussreicher Gelehrter an der neuen Universität. Zudem hörte Reinbeck alte Sprachen bei Johann Heinrich Michaelis (1668–1738); vor allem aber beeinflusste ihn die pietistische Theologie August Herrmann Franckes (1663–1727) und Joachim Justus Breidhaupts (1658–1732). In diesem Kontext entstand die Absicht einer Apologie des Pietismus gegen die Philosophie Christian Wolffs, der seit
1706 in Halle mit zunehmendem Einfluss Mathematik und Philosophie lehrte. Reinbeck wurde über diese intensive Auseinandersetzung mit dem wolffschen und leibnizschen Rationalismus aber zu dessen Anhänger und entwickelte sich zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Theologen der Wolff-Schule. 1709 beendete er sein theologisches Studium ohne Abschluss, nachdem er allerdings schon 1703 öffentlich unter dem Vorsitz von Breidhaupt disputiert hatte und 1706 zum Adjunkt der theologischen Fakultät erhoben worden war – Ausweis eines nicht unerheblichen Erfolges. Anschließend ging er auf Empfehlung der Hallenser Theologen zunächst als Adjunkt des Propstes Johann Porst (1668–1728) und einige Jahre später als Prediger an der Friedrichswerderschen und Dorotheenstädtischen Gemeinde nach Berlin. Hier entwickelte Reinbeck eine rege Publikationstätigkeit, die insbesondere in theologischen Streitschriften ihren Schwerpunkt ausbildete. So griff er in den für Preußen seit Beginn des Jahrhunderts drängenden Konflikt über
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eine mögliche oder unmögliche Vereinigung der reformierten und lutheranischen Konfessionen ein, zu deren Zweck Friedrich I. schon 1703 das Collegium charitativum einberufen hatte. Nachdem die Konfliktlage schon abzuebben schien, konnte Reinbeck durch sein 1712 publiziertes ,Traktätlein" Aufrichtige Untersuchung ob die Reformirten mit den Lutheraner in der Lehre derartig einstimmig seyn die Kontroverse erneut anfachen. Reinbeck war nämlich der Auffassung, dass eine solche Union aus theologischen Gründen unmöglich sei und begründete dies vor allem mit den fundamentalen Differenzen bei den Themen der Gnadenwahl, der Vereinigung der beiden Naturen in Christo und den beiden Sakramenten des Neuen Testaments. Reinbeck suchte aber auch die Kontroverse mit Christian Thomasius und dessen historisierender Auffassung vom Konkubinat, das der Hallenser Jurist aufgrund der mittelalterlichen Institution des „Kebsweibes“, einer legitimen Form der Polygamie, als – relativ – legitim vorstellte, womit er bevölkerungspolitische Debatten, die im England des 18. Jahrhunderts leidenschaftlich geführt wurden, vorwegnahm. Reinbeck hielt in seiner mit Francke abgestimmten Schrift Die Natur des Ehestandes und die Verwerfflichkeit des dawieder streitenden Concubinats dagegen, dass es neben der Ehe nur illegitime Verbindungen geben könne, wie Vielweiberei, Konkubinat und Ehebruch sowie Blutschade, Vermischung mit dem Vieh und Unzucht,
die allesamt – wenngleich differenziert – als „Greuel“ und Sünden verurteilt werden. Schon 1715 gründet Reinbeck mit dem Freiwilligen Hebopfer eine theologische Zeitschrift, die er bis 1728 führte und die im Selbstverständnis möglichst umfassend über den Stand und die Kontroversen der lutherischen Theologie berichtete. 1731 begann er eine mehrbändige, populartheologische Schrift zu Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten, die 1741 mit dem vierten Band beschlossen, anschließend aber von dem schon damals berühmten Wolff-Schüler Israel Gottlieb Canz (1690–1753) fortgeführt wurde. Diese Betrachtungen dürfen als ein zentrales Werk der wolffianischen Theologie gelten. Kurz: Reinbeck drängt nach seiner Wende vom Pietismus zu Wolff auf eine umfassende systematische und kritische Theologie, die den An- und Aufforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden sucht. Neben dieser publizistischen Tätigkeit gelingt es Reinbeck aber auch, durch seine theologische Praxis als Prediger und späterer Beichtvater am preußischen Hofe seinen religionspolitischen Einfluss zu mehren und Karriere in Berlin zu machen; 1717 wird er Propst der Petrikirche zu Cölln, 1729 auch Konsistorialrat. Er nutzte seinen zunehmenden Einfluss nicht nur zur Reform der Homiletik, sondern auch zur Rehabilitierung Christian Wolffs, der 1724 aus Halle vertrieben worden war. 1736 wird Reinbeck Mitglied ei-
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ner auf königlichen Befehl eingesetzten Prüfungskommission, die eine Rückkehr Wolffs nach Halle befördern sollte. Doch erst Friedrich II. setze die maßgeblich von Reinbeck in Gang gesetzte Rückholung des europaweit geehrten Philosophen durch. Zugleich war der Berliner Aufklärungstheologe gewichtiges Mitglied in der von Ernst von Manteuffel gegründeten Gesellschaft der Aletophilen, einer von Wolff-Schülern beherrschten Gelehrten Gesellschaft zur politisch-praktischen Umsetzung der leibniz-wolffschen Philosophie. Diese Gesellschaft war es auch, wie Johannes Bronisch anschaulich dokumentiert (vgl. Der Mäzen der Aufklärung, 155–169), die sich der Abwehr des drohenden Verlustes der Unsterblichkeitsüberzeugung bei Friedrich II. widmete. Im Rahmen dieser Kampagne schrieb Reinbeck sein bedeutendstes und einflussreichstes philosophisches Buch, die Philosophischen Gedanken über die vernüfftige Seele und deren Unsterblichkeit, die den ausführlichsten und anschaulichsten Beweis der Zeit von der immortalitas animae entwickelte. Manteuffel hatte – natürlich anonym – diesen soliden rationalistischen Beweisgang mit einer fulminanten Vorrede versehen, die die gesellschaftlichen, ja zivilisatorischen Gefahren heraufbeschwor, welche durch eine öffentliche Bekanntgabe der Sterblichkeitsüberzeugung eines Herrschers entstünden. Manteuffel wie Reinbeck waren davon überzeugt, dass bei einem Verlust der Unsterblichkeitsüberzeugung alle Formen von
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Normativität verunmöglicht würden und Anarchie ausbrechen müsse. In der Ansicht, diese Gefahr wenigstens gebändigt zu haben – Friedrich hat seine wohl unveränderte Überzeugung von der Sterblichkeit der Seele nie öffentlich gemacht –, starb Reinbeck am 21. August 1741 in Schönwalde bei Berlin. Literatur in Auswahl: Die verwerffliche und unverwerffliche Vorsorge aufs künfftige hat bey Gelegenheit einer von einigen Bürgers-Kindern in Neu-Cölln auffgerichteten Heurathsund Sterbe-Casse, Berlin 1712; Auffrichtige Untersuchung ob die Reformirte mit den Lutheranern in der Lehre dermassen einstimmig, Und die vom Herrn Strimesio vormahls vorgeschlagene Methode zur Vereinigung so bewand sey, daß die Lutheraner mit den Reformirten sich in eine äußerliche Vereinigung einlassen könten. Frankfurt am Main, Leipzig 1712; Die Natur des Ehestandes und Verwerfflichkeit des dawieder streitenden Concubinats, aus der Heil. Schrifft, und anderen vernünfftigen Gründen gezeiget, und Wider des Herrn Geheimten Raths Thomasii Dissertation (De Concubinatu) vom Concubinen-halten behauptet, Berlin 1714; Gedoppelter Anhang vom Concubinen-Halten, in welchem 1. Petri Encratitae Epistola ad Abb. Bergens., 2. M. P. Antonini Confutatio dubiorum quae contra Schediasma Hallense de Concubinatu mota sund, kürtzlich erwogen wird, Berlin 1714; Nochmaliger Beweiss, daß der vom Herrn Geheimten Rath Thomasio vertheidigte Concubinat ein sündlicher
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und verwerflicher Stand sey ; wider den Anhang, welcher unter dem Nahmen Antonini ohnlängst wider meine Schrifft von der Natur des Ehestandes herausgegeben worden, Berlin 1715; Unterricht von nöthiger Prüfung der Geister, in diesen letzten und gefährlichen Zeiten zur Warnung kürtzlich und gründlich mitgeteilet, Halle 1715; Schrifftmäßiger Beweiß daß die Reformirten mit den Lutheranern im Grunde des Glaubens nicht einig auch die von denen Reformirten zur Union gethane Vorschläge unzulänglich seyn. Nebst einer Untersuchung welcher Theil von beyderseits Religions-Verwandten sonderlich in der Lehre von der Gnaden-Wahl recht oder unrecht habe?, Wittenberg 1717; Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten, welche theils aus vernünftigen Gründen, allesammt aber aus Heiliger Göttlicher Schrifft hergeleitet, und zur Übung in der wahren Gottseligkeit angewendet werden, 9 Bde., Berlin, Leipzig 1731–1747 (ab Bd. 5 fortgeführt von Israel Gottlieb Canz); Nachricht von Gichtels Lebens-Lauf und Lehren, da jener aus seinen eigenen Brieffen zusammen gezogen ist, diese aber nach der Heiligen Schrifft geprüfet worden, vormahls in denen so genanndten Berlinischen Heb-Opfern heraus gegeben, nun aber aus bewegenden Ursachen besonders wieder abgedrucket, Berlin 1732; Beantwortung der Einwürffe, welche ihm in einer ohnlängst heraus gekommenen Schrifft: Abhandlung von der Unschuld Gottes bey der Zulaßung
des Bösen genannt, sind gemacht worden. Worinn zugleich diese wichtige Lehre nebst der Frage: Ob diese Welt die beste sey in ihr gehöriges Licht gesetzet wird, Berlin 1736; Bedencken über die der Wolffischen Philosophie von Joachim Langen in seinem kutzen Abrisse beygemessene Irrthümer, commißionswegen aufgesetzet, in: Karl Günther Ludovici (Hg.), Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Streitschrifften wegen der Wolffischen Philosophie, zur Erläuterung der bestrittenen Leibnitzischen und Wolffischen Lehrsätze, Bd. 1, Leipzig 1737, 178–185; Des Regierungs-Raths Wolffens vermuthliche Antwort auf D. Langens kurtzen Abriß, in: Acht neue merckwürdige Schrifften, die in der Wolffischen Philosophie von neuem erregte Streittigkeiten betreffend nebst einer ausführlichen Historischen Nachricht von diesen neuen Streittigkeiten, Genf 1737, 17–28; Erörterung der philosophischen Meynung von der sogenandten Harmonia praestabilita, worinnen gezeiget wird, 1. Was diese Hypotheses eigentlich sagen wolle, und warum sie der menschlichen Freyheit nicht nachtheilig sey. 2. Was dieselbe vor dem Systemate influxus für einen Vorzug habe, und 3. Warum der Autor nichts destoweniger derselben nicht beypflichte. aus Liebe zur Wahrheit und zur Verhütung fernerer verworrenen Streitigkeiten, nebst einem nöthigen Vorbericht heraus gegeben, Berlin 1737; Abfertigung eines Anonymi, welcher in seinen sogenandten zufälligen Gedancken den ersten Theil der Betrachtungen über die
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Augspurgische Confeßion mit einer anzüglichen Feder verschiedener Grund-Irrthümer beschuldiget hat, Berlin 1737; Fortgesetzte Abfertigung eines Anonymi, welcher in seinen sogenandten zufälligen Gedancken ihn verschiedener Grund-Irrthümer beschuldiget hat. Darinn insonderheit desselben IV. V. und VI. Probe beleuchtet wird, Berlin 1737; Philosophische Gedancken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit, nebst einigen Anmerckungen über ein französisches Schreiben, darin behauptet werden will, dass die Materie dencke, Berlin 1739; Sammlung kurtzer Predigten über ein jegliches sonnund festtägliches Evangelium nebst angehängten vier Buß-Predigten aus den vollständigsten hinterlaßenen Manuscripten herausgegeben von Georg Kaspar Francken, Berlin 1748; Auserlesene Predigten, die bey besondern Gelegenheiten von ihm gehalten worden. Gesamlet, durchgesehen und herausgegeben von Friedrich Eberhard Rambach, Berlin 1750. Christian Gottlieb Kluge, Anmerckungen über den Vorbericht und die Vorrede zu den Reinbeckischen Gedancken von der vernünfftigen Seele und der Unsterblichkeit derselben, in welchen wider die Verfasser, wie auch überhaupt wider die neuere Weltweißheit, Verschiedenes offenhertzig erinnert wird, Wittenberg, Leipzig 1740; Anton Friedrich Büsching, Zum Gedächtniss des Herrn Johann Gustav Reinbeck, ersten Predigers an der cölnischen Vorstadtskirche zu Berlin: mit einem Anhang von Nachrichten zur Geschichte
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dieser Kirche, Berlin 1782; Anton Friedrich Büsching, Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, in: ders., Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer, Bd. 1, Halle 1783, 139–236; Georg Reinbeck, Leben und Wirken des Dr. Th. Johann Gustav Reinbeck, weil. Königlich Preußischer Consistorialrath, Probst zu Köln an der Spree, Beichtvater der beiden Königinnen Sophia Dorothea und Elisabeth Christine von Preußen etc. Ein Beitrag zur Lebens- und Charakter-Geschichte der Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preußen. Nach Urkunden und Familien-Nachrichten hundert Jahre nach seinem Tode mitgetheilt von seinem Enkel, Stuttgart 1842; Detlef Döring, Beiträge zur Geschichte der Alethophilen in Leipzig, in: ders., Kurt Nowak (Hg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Bd. 1, Stuttgart, Leipzig 2000, 95–150; Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin, New York 2010; Stefan Lorenz, Theologischer Wolffianismus. Das Beispiel Johann Gustav Reinbeck, in: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.), Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-WolffKongresses, Halle (Saale), 4.– 8. April 2004, Bd. 5, Hildesheim u. a. 2010, S. 103–121; Stefan Lorenz, Schwierigkeiten mit dem Optimismus. Einige Hinweise zur Rezeption des
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Theodizeegedankens im deutschen 18. Jahrhundert. Mit einem Anhang zu heterodoxen Konsequenzen des metaphysischen Optimismus: Anonymi Dubia circa existentiam Dei orta, in: Wenchao Li, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), 300 Jahre ,Essais de th1odic1e" – Rezeption und Transformati-
on, Stuttgart 2013, 37–70; Harald Kunowski, Friedrich Wilhelm I., Friedrich der Große und der Aufklärungstheologe Johann Gustav Reinbeck, Baden-Baden 2016. Udo Roth, Gideon Stiening
DIS K U S S IO N
Rainer Enskat Die Freiheit der Urteilskraft Die ursprüngliche Paradoxie der Politischen Philosophie Rousseaus
I. Die Paradoxien, an denen das Werk Jean-Jacques Rousseaus so reich ist, bereiten auch dem Verständnis und der Beurteilung seiner Politischen Philosophie immer wieder ernste Schwierigkeiten. Zwar sind Paradoxien nichts, was durch seine Inhalte von besonders gravierender Bedeutsamkeit sein müsste. Sieht man einmal von den extrem schwierigen formalen Paradoxien ab, die vor allem von Logikern bis in die Gegenwart immer wieder einmal auf ihren ureigensten Forschungsfeldern entdeckt und analysiert worden sind, dann handelt es sich bei Paradoxien ihrer traditionellen Wortbedeutung nach um Auffassungen, die lediglich mit allgemein akzeptierten Meinungen des öffentlichen Lebens einer Gesellschaft oder eines gesellschaftlichen Milieus unverträglich sind. Indessen gehört nicht viel dazu, widersprüchlichen Momenten in solchen konventionellen Meinungen auf die Spur zu kommen. An den Wegen, auf denen sie gebildet werden, sind in der Regel zu viele heterogene informationelle Faktoren aus zweiter, dritter und noch weitläufigerer Hand – vulgo: Gerüchte – beteiligt. Sie können von den individuellen Trägern solcher Meinungen gar nicht ernsthaft auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Erst mit Hilfe authentisch erworbenen Sachverstands gelingt es in der Regel, sie mit guten Gründen zu durchschauen und zu überwinden. Paradoxien, wie sie in philosophischen Werken auftauchen, haben in der Regel ein ganz anderes Format. Beispielsweise die Kultur- und speziell die Wissenschaftskritik in Rousseaus Discours sur les sciences et les arts lässt ihn inmitten eines verbreiteten Enthusiasmus für die Aufklärungspotentiale der Wissenschaft als eine Kassandra erscheinen, die blind für jegliche Nutzenpotentiale wissenschaftlicher, vor allem naturwissenschaftlicher Forschung sei. Die Auflösung solcher Paradoxien kann, wenn überhaupt, dann nur mit den komplexen reflexiven, analytischen und argumentativen Mitteln gelingen, wie sie vom selben Autor oder von einem kongenialen Autor erarbeitet worden sind.1 Ähnlich liegen die Dinge bei seinem Discours sur l!origine et les fondements de l!in)galit) parmi les hommes. Entgegen einem verbreiteten Fortschrittsoptimismus analysiert Rousseau hier die sozial-psychologische und die sozial-ökonomische condition humaine der Ungleichheit unter den Menschen mit dem Ergebnis einer nüchternen Prognose: Angesichts der von ihm Vgl. hierzu die Rousseau-Studie des Verf., Rainer Enskat, Bedingungen der Aufklärung. Untersuchungen zu einer praktischen Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, bes. 213–523. 1
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diagnostizierten unverändert aktuellen anthropologischen Grundsituation dieser Ungleichheit wird sie sich auch in den zukünftigen Jahrhunderten ebenso zeigen können wie in den Revolutionen, zu denen die Zeit notwendigerweise führen wird.2 Wohl hat Rousseau seine beiden Diskurse mit dem wohldurchdachten politischen Signal versehen, sie als Bürger (citoyen) eines republikanischen Gemeinwesens (Gen(ve) – „d!un Etat libre“3 – zu publizieren. Dennoch haben seine über viele Jahre gehegten Pläne, ein umfassendes Werk – „un ouvrage […] 1tendu“4 – über die politischen Institutionen zu verfassen,5 lange zurückstehen müssen, um schließlich in jener kleinen Abhandlung – „Ce petit trait1“6 – Gestalt anzunehmen, die unter dem Titel Du contrat social kaum eine Generation nach ihrer Publikation angefangen hat, weltberühmt zu werden. Gewiss hat zu diesem Sturmlauf seiner Berühmtheit auch ein vom Autor alles andere als intendierter Umstand beigetragen: Ein ehemaliger junger Schwarmgeist hatte sich durch seine Lesefrüchte aus Rousseaus Werken legitimiert gefunden, im Schutz seines AbgeordnetenMandats und eines verfassungsrechtlich legitimierten Ausschusses der französischen Nationalversammlung eine Clique von Gesinnungsgenossen zum Zentrum einer terroristischen revolutionären Nebenregierung umzufunktionieren.7 Rousseaus authentische Erklärung und Mahnung „Ich habe das Geheimnis der Regierungen durchdrungen, ich habe es den Völkern offenbart, aber nicht mit dem Ziel, daß sie das Joch abschütteln mögen, denn das ist ihnen unmöglich“,8 bleibt in solchen Kreisen ungehört. Man wird sie hier im günstigsten Fall als konservativen, wenn nicht sogar als reaktionären Quietismus zu delegitimieren suchen. Rousseaus Traktat enthält daher auch keinerlei Andeutungen über Mittel und Wege, mit deren Hilfe es in der geschichtlichen Wirklichkeit gelingen sollte oder könnte, ein politisches Gemeinwesen zu etablieren, das die in diesem Traktat formulierten Bedingungen auch nur einigermaßen erfüllen würde. Gegen die im Vergleich mit seinem Traktat moderate Regierungslehre, die der Abb1 de Saint-Pierre in seinem Discours sur la Polysynodie o' l!on d)montre que la Polysynodie, ou pluralit) des Conseils, est la forme de mi„[L]! in1galit1 s!est montr1e jusqu!) ce jour […], et pouvra se montrer dans puis1es dans les Si1cles futurs […], et les r1volutions que le tems y am1nera n1cessairement“ (Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l!in1galit1, in: ders., Œuvres Compl-tes, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, 5 Bde., Paris 1959–1995, Bd. 3, 189). Rousseaus Texte werden im Folgenden zitiert nach dem Schema: Titel, O. C. röm. Band, Seite bzw. bei Wiederholung nach dem Schema: Kurztitel, Seite. 3 Rousseau, Du contrat social, O. C. III, 351. 4 Ebd. 5 Vgl. seinen Bericht in: Les Confessions, O. C. I, 404–406. 6 Du contrat, 351. 7 Robespierre erwähnt den Namen Rousseaus in den Reden, die er in der Nationalversammlung, in Ausschüssen und in Clubs gehalten hat, nur am Anfang, vgl. Œuvres de Maximilien Robespierre, Discours 1789–1793, Bde. 6–10, Paris 1912–1967, bes. Bd. 6. In seiner ganz persönlichen D)dicace & Jean-Jacques Rousseau schreibt er 1789: „Ton exemple est l) […] je veux suivre ta trace v1n1r1e […] heureux si, dans la p1rilleuse carri-re qu!une r1volution vient d!ouvrir devant nous, je reste constamment fid-le aux inspirations que j!ai puiss1es dans tes 1crits“ (zitiert nach: Maximilien Robespierre, Textes Choisis, Vorwort und Anmerkungen von Jean Properen, Bd. 1, Paris 1974, 16). 8 „J!ai p1n1tr1 le secret des gouvernemens, je l!ai revel1 aux peuples […] non pas ) fin qu!ils secouassent le joug, ce qui ne leur est possible“ (Brief an Christophe de Beaumont [Fragment], O. C. IV, 1019; Übers. R.E.). 2
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nist(re la plus avantageuse pour un Roy et pour son Royaume (1718) entworfen hat, gibt er daher im Ton einer dramatischen Warnung zu bedenken: Man müsse anfangen, alles zu zerstören, was existiert, um der Regierung eine Form zu geben, wie sie sich der Abb1 de Saint-Pierre imaginiert hat.9 Eine andere Einstellung Rousseaus wäre angesichts des im Untertitel formulierten Ziels, Prinzipien des politischen Rechts (Principes du droit politique) zu erörtern, auch im höchsten Maß inkonsequent. Diese Inkonsequenz ist indessen nur dann einsichtig, wenn man nicht in dem Reflexionsniveau einiger naturphilosophischer Vorsokratiker befangen ist, denen Bertrand Russell sarkastisch bescheinigt, dass sie von den Prinzipien, die sie behaupten, „make very little use of it“.10 Rousseaus Leitfrage, ob es in der bürgerlichen Ordnung irgendeine legitime und sichere Regel für die Regierung geben könne,11 fasst den gesamten Komplex dieser Prinzipien des politischen Rechts unter dem einfacheren Namen einer Regierungs-Regel zusammen. Erst die jüngste Rousseau-Forschung hat durch mikrologische Untersuchungen des gesamten Texts die wichtige Einsicht gewonnen, dass „les principes de la constitution des gouvernements […] sont […] les crit(res qui permettent de juger“,12 und zwar, wie Rousseau es in einem in den Schlussteil des $mile integrierten Abriss des Traktats formuliert, Regierungen gesund zu beurteilen13 bzw. die relative ,Gutheit" von Regierungen zu beurteilen.14 Mit der Theorie, die im Traktat präsentiert wird, arbeitet Rousseau ein komplexes Geflecht von Kriterien zur Beurteilung der Formate aus, durch die Regierungen den konkreten Lebensverhältnissen angemessen sind, in denen ihnen die Menschen ihrer jeweiligen Herrschaftsbezirke anvertraut sind. Denn unterschiedliche Regierungsformen können für dasselbe Volk zu verschiedenen Zeiten gut sein.15 Man hat zwar zu allen Seiten viel über die beste Regierungsform diskutiert, aber ohne zu berücksichtigen, dass jede in bestimmten Situationen die beste ist und in anderen Situationen die schlimmste.16 Man muss daher jedem Volk ein besonderes Institutionengefüge zuweisen, das das Beste ist, vielleicht nicht an sich, aber für den Staat, dem es bestimmt ist.17
„[I]l faudrait commencer par d1truire tout ce qui existe pour donner au Gouvernement la forme imagin1e par l!Abb1 de St. Pierre“ (Jugement sur la Polysynodie, O. C. III, 638). 10 Bertrand Russell, History of western Philosophy, and its Connection with political and social circumstances from the earliest times to the present day, London 61961, 80. 11 „[S]i dans l"ordre civil, il peut y avoir quelque r-gle d"administration l1gitime et s*re“ (Du contrat, 351). 12 Bruno Bernardi, Rousseau lecteure du ,Contrat Social", in: ders., Florent Gu1nard, Gabriella Silvestrini (Hg.), La religion, la libert1, la justice. Un commentaire des Lettres 1crites de la montagne de Jean-Jacques Rousseau, Paris 2005, 107–126, hier 108 (Hvhg. R.E.); vgl. auch ebd., 109 sowie Enskat, Bedingungen (wie Anm. 1), bes. 425–557. 13 „[J]uger sainement des gouvernemens“ (&mile ou de l!1ducation, O. C. IV, 836). 14 „[D]e bont1 r1lative des gouvernemens“ (ebd., 851). 15 „[D]iff1rens Gouvernemens peuvent Þtre bons […] au mÞme peuple en diff1rens tems!“ (Du contrat, 397). 16 „On a de tout tems beaucoup disput1 sur la meilleure forme de Gouvernement, sans consid1rer que chacune est la meilleure en certains cas et la pire en d!autres“ (&mile, 847). 17 „[I]l faut assigner ) chaque peuple un sistÞme particulier d!institution, qui soit le meilleure, non peut-Þtre en lui mÞme, mais pour l!Etat, auquel il est destin1“ (Du contrat, 392). 9
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II. Die Haupt-Paradoxie von Rousseaus Politischer Philosophie findet sich in jenem Kapitel VI des Traktats, das denselben Titel trägt wie der Traktat selbst: „Vom Gesellschaftsvertrag“.18 Das Kapitel thematisiert den Naturzustand19 bzw. jenen primitiven Zustand20 der Menschen, in dem die Kraft und die Freiheit jedes Menschen die primären Werkzeuge seiner Selbsterhaltung bilden.21 Angesichts der beständig wachsenden Hindernisse, die in diesem Zustand irgendwann ihrer Selbsterhaltung Unheil stiften,22 müssen die Menschen – zumindest stillschweigend – einen Vertrag schließen,23 weil das menschliche Geschlecht zugrunde gehen würde, wenn es seine Seinsweise nicht ändern würde.24 Das von Rousseau angesichts dieses menschheitsgeschichtlichen Gedankenexperiments exponierte Problem besteht für den Politischen Philosophen darin, durch reines Nachdenken eine Form der Vergesellschaftung zu finden, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und die Güter jedes einzelnen Assoziierten verteidigt und schützt, so dass jeder vermöge dieser (ganzen gemeinsamen Kraft), indem er sich mit allen anderen vereinigt, gleichwohl niemand anders gehorcht als sich selbst und genauso frei bleibt wie vorher.25 Im Unterschied zur natürlichen Freiheit26 des Individuums im Naturzustand handelt es sich bei seiner Freiheit im vergesellschafteten Zustand um den Typ der bürgerlichen Freiheit,27 also um eine auf Übereinkunft beruhende Freiheit. Eine solche Form der Vergesellschaftung zu finden, bildet das fundamentale Problem, dessen Lösung der Traktat bietet.28 Doch das fundamentale Problem, dessen Klärung dem Leser darüber hinaus überhaupt erst durch diese Form der Problemstellung aufgegeben wird, ergibt sich aus der hier exponierten Freiheits-Paradoxie: In welchem Sinne kann das Individuum, das durch die beschriebene Vergesellschaftung seine für den Naturzustand charakteristische Freiheit verliert, unter den Bedingungen der ganzen gemeinsamen Schutz- und Verteidigungskraft dieser Vergesellschaftung gleichwohl genauso frei sein wie vorher?29 Der Schlüssel zur Lösung dieses paradoxen Problems findet sich in einer unscheinbaren und in der Regel vernachlässigten Anspielung Rousseaus auf eines der Vorgänger-Modelle zur Behandlung des vielerörterten Naturzustands. Mit der Bemerkung, dass jeder im Naturzustand in gewisser Hinsicht sein eigener Richter sei,30 spielt er auf die Auffassung an, die John Locke im § 13 des Zweiten Treatise on Government entwickelt, indem er die Chap. VI. – Du contrat social, 360–362. „[L]!1tat de nature“ (ebd., 364). 20 „[C]et 1tat primitif“ (ebd.). 21 „[L]a force et la libert1 de chaque homme 1tant les premiers instruments de sa concervation“ (ebd.). 22 „[L]es obstacles qui nuisent ) leurs conservation“ (ebd.). 23 „[U]n contrat, au moins tacite“ (&mile, 839); vgl. auch Du contrat, 360. 24 „[L]e genre humain p1riroit s!il ne changeoit de mani-re d!Þtre“ (ebd.). 25 „Trouver une forme d!association qui d1fend et prot-ge de toute la force commune la personne et les biens de chaque associ1, et par laquelle chacun, s!unissant ) tous, ne ob1isse qu!) lui-mÞme, et reste aussi libre qu!auparavant“ (ebd.). 26 „[L]ibert1 naturelle“ (ebd., 364 f.). 27 „[L]a libert1 civile“ (ebd.). 28 „Tel est le probl-me dont le Contrat social donne la solution“ (ebd., 360). 29 „[R]este aussi libre qu!auparavant“ (ebd.). 30 „[&]tant en quelque point son propre juge“ (ebd., 361). 18 19
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Freiheit als die Fähigkeit und die Befugnis jedes Individuums im Naturzustand thematisiert, in eigener Sache sein Richter zu sein,31 also in allen ihn individuell betreffenden Angelegenheiten das entsprechende praktische Urteil selbst und unabhängig von allen anderen treffen und durchsetzen zu können. Locke konzipiert hier also eine Freiheit des praktischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskraft im doppelten Sinne der Freiheit-von und der Freiheit-zu – der Freiheit bzw. Unabhängigkeit des individuellen Urteils von den Urteilen aller anderen und der Freiheit eines solchen individuellen Urteils zugunsten des in praktischer Hinsicht von ihm jeweils als richtig und wichtig Beurteilten. Im selben Atemzug schreibt Locke den Formen, in denen die Menschen von dieser Fähigkeit und Befugnis (im Naturzustand) Gebrauch machen, allerdings auch die Übel zu, die sich als Folge daraus notwendigerweise ergeben.32 Er scheint daher diese Form der radikalen individuellen Urteilsfreiheit mit der unvermeidbaren Tendenz verflochten zu sehen, dass der im Naturzustand gänzliche Mangel an einer wie auch immer kollektiven und koordinierten Abstimmung dieser praktischen Urteilsbildung in der Praxis zu einer stetig wachsenden, immer unheilvoller werdenden Wildwüchsigkeit konfligierender praktischer Konsequenzen aus solchen radikal individuellen praktischen Urteilsbildungs-Formen führt. Deswegen schreibt er der Regierung, die er in der Zweiten Abhandlung zu entwerfen unternimmt, nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Fähigkeit zu, das Heilmittel gegen diese Übel zu sein.33 Außerdem liegt es auf der Hand, dass die äußere Freiheit des praktischen Urteils des individuellen Menschen von den entsprechenden Urteilen jedes anderen individuellen Menschen nicht im geringsten gegen die innere Unfreiheit abschirmt, also gegen die Abhängigkeit dieser Urteile von Fehlleistungen der Urteilskraft wegen mangelhafter Informationen über die Umstände aktueller Situationen, wegen affektbedingter Desorientierungen oder wegen anderer ,blinder Flecken" im kognitiven Haushalt der individuellen Person. Der Erkenntnistheoretiker John Locke kann diese anthropologisch verankerten kognitiven Insuffizienzen mit Hilfe einer unmissverständlichen Metapher durch einen außerordentlich wichtigen skeptischen Kommentar verdeutlichen: „God […], in the greatest part of our concernment, […] has offered only the twighlight, as I may so say, of probability, suitable, I presume, to that state of medocrity and probationership he has placed us in here“.34
III. Die betonten Elemente aus Lockes Konzeption des Naturzustands genügt es, in Erinnerung zu rufen, um der Fruchtbarkeit auf die Spur zu kommen, die Rousseau mit seiner unscheinbaren Anspielung auf diese Elemente verbindet. Denn indem er auf den Richter (juge) rekurriert, in dessen Rolle jeder Mensch im Naturzustand seine natürliche Freiheit in den eigenen Angelegenheiten ausübt, rekurriert er auf die quasi-institutionelle, quasirichterliche Verkörperung der Urteilskraft (puissance de juger,35 jugement,36 37). Vermöge „[T]he liberty to be judge in his own case“ (John Locke, Two Treatises on Government, mit Einführung und Anmerkungen hg. von Peter Laslett, Cambridge 2002, II.ii.13, 276). 32 „[T]hose evils which necessarily follow from men being judges in their own cases“ (ebd.). 33 „[G]overnment is to be the remedy of those evils“ (ebd.). 34 John Locke, An Essay concerning Human Understanding, mit einer Einleitung hg. von John W. Yolton, 2 Bde., London, New York 1968, IV.xiv: Of Judgement (Bd. 2, 247 f.); Hvhg. R.E. 35 &mile, 586. 31
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ihrer – und nur vermöge ihrer – übt jeder diese Rolle in radikaler Individualität im Naturzustand aus. Eine zentrale theoretische Vermittlungsrolle zwischen Lockes Konzeption der Rolle der Urteilskraft im Naturzustand und Rousseaus Politischer Philosophie kommt daher in diesem Zusammenhang dem pädagogischen und didaktischen Programm zu, das Rousseau in seinem fast gleichzeitig mit dem Traktat publizierten $mile ou de l!)ducation entwirft: Es handelt sich darum, ein Muster zu entwerfen,38 und zwar ein Muster, das eine Form des Lernens entwirft, das dem Fortschritt der Aufklärung angemessener ist.39 Diese Konzeption sieht für den Mentor und den Adepten der in diesem Werk konzipierten Pädagogik und Didaktik eine soziale Exklave vor, in der diese Dyade gegen alle möglichen Interferenzen mit einem wie auch immer entwickelten Naturzustand ebenso wie gegen alle möglichen Interferenzen mit einem wie auch immer gestalteten zivilen Zustand hermetisch abgeschirmt ist. Für die Kommunikationen und die Interaktionen dieser Dyade innerhalb dieser Exklave lässt Rousseau den Regisseur dieser Pädagogik und Didaktik eine zentrale Intention zugunsten seines Adepten verfolgen: Lassen wir ihn lernen, gut zu urteilen.40 Mit Blick auf diese Aufgabe gibt Rousseau zu bedenken, dass ihr Adept am besten durch einen urteilskräftigen Vater aufgezogen sein wird.41 Ihr wichtigstes Ziel sucht diese Erziehung und Ausbildung in der Reife der Urteilskraft,42 konkreter in der Scharfsichtigkeit der Urteilskraft43 ihres Adepten zu erreichen. Sie weiß indessen, dass die Urteilskraft nur langsam kommt.44 Gleichwohl muss sich der Mentor mit Blick auf seinen Adepten stets vor Augen halten, dass ich darauf achten werde, seine Urteilskraft zum Glänzen zu bringen,45 um einen jungen Menschen urteilskräftig werden zulassen.46 Doch die beste Weise, das Urteilen zu lernen,47 besteht weniger in der Befolgung von Rezepten als in Übungen48 – und zwar in jener kontinuierlichen Übung,49 bei der man darauf achtet, dass unser Adept gerade als Mensch allen Situationen des menschlichen Lebens ausgesetzt wird.50 Dabei kommt es in diesen Situationen wenig darauf an, ob er dies oder jenes Vgl. ebd., passim. Vgl. ebd., 548. 38 „[I]l s!agit d!un mod-le ) proposer“ (ebd., 266). 39 „[U]n ordre plus didactique et plus conforme au progr-s […] des lumi1res“ (ebd., 542). 40 „[A]pprenons-lui ) bien juger“ (ebd., 484); vgl. auch ebd., 285, 324, 361, 380, 392, 396, 397, 421, 458, 483, 486, 654. 41 „Il sera mieux 1lev1 par un p-re judicieux“ (ebd., 264). 42 „[L]a maturit1 de jugement“ (Les RÞveries du Promeneur Solitaire, O. C. IV, 1018). 43 „[N]ettet1 de judiciaire“ (&mile, 548). 44 „[L]e jugement vient lentement“ (ebd., 435). 45 „Je me garderai de polir le jugement d!&mile“ (ebd., 674). 46 „[P]our rendre un jeune homme judicieux“ (ebd., 458). 47 „[L]a meilleure mani1re d!apprendre ) bien juger“ (ebd., 483). 48 „[L]a v1ritable 1ducation consiste moins en preceptes qu!en exercices“ (ebd., 252). Vgl. hierzu eine der wichtigsten Lektionen, die Kant durch seine geradezu leidenschaftliche Lektüre des $mile erworben hat: „Urteilskraft aber [ist] ein besonderes Talent […], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1976, A 133/B 172). 49 „[C]et 1xercice continüel“ (&mile, 486). 50 „Il faut donc […] consid1rer dans n.tre 1lÞve […] l!homme expos1 ) tous les accidens de la vie humaine“ (ebd., 252). 36 37
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lernt, vorausgesetzt, er weiß von dem, was er lernt, einen guten Gebrauch zu machen.51 Doch einen guten Gebrauch von dem zu machen, was er lernt, lernt er wiederum nur, indem er eine höhere Stufe der Reife seiner Urteilskraft erlangt: Er muss sogar auch noch zu beurteilen lernen, was nützlich ist, gewusst zu werden,52 alles, was wichtig ist, gewusst zu werden,53 und schließlich muss er sogar noch lernen, die Erkenntnis zu beurteilen, die würdig sind erforscht zu werden.54 Unter den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags gewinnt zwar jeder Mensch den politischen Status eines Bürgers (citoyen55), des republikanischen Bürgers. Dieser Status hat mit Blick auf die konkreten politischen Anforderungen, denen ein solcher Bürger durch die Anforderungen eines republikanischen Gemeinwesens ausgesetzt ist, buchstäblich nichts mit den Anforderungen des Naturzustands und mit den Möglichkeiten und Aufgaben in der von Rousseau entworfenen pädagogischen und didaktischen Idylle gemeinsam. Doch es ist dieselbe kognitive Instanz namens Urteilskraft und deren Freiheit, was in ihrer Verkörperung durch den individuellen republikanischen Bürger in dem von Rousseau konzipierten republikanischen Gemeinwesen ebenso das kognitive und praktische Zentrum bildet wie im Naturzustand und in der exklusiven sozialen Enklave, in der die Ertüchtigung der Urteilskraft das beständige Ziel aller pädagogischen und didaktischen Bemühungen bildet. Deswegen – und nur deswegen – kann Rousseau widerspruchsfrei und kohärent die Paradoxie behaupten, dass der Mensch unter den Bedingungen des Sozialpakts genauso frei bleibe wie zuvor (reste aussi libre qu!auparavent, vgl. oben S. 412), frei nämlich im Gebrauch seiner praktisch-politischen Urteilskraft, um insbesondere Regierungen gesund zu beurteilen bzw. die relative ,Gutheit" von Regierungen zu beurteilen (vgl. oben S. 412). Wegen dieser Schlüsselrolle, die der praktisch-politischen Urteilskraft des republikanischen Bürgers zukommt, hebt Rousseau als die erste charakteristische Tätigkeit des politischen Bürgers die öffentliche Beratschlagung56 hervor. Sie kann jeden Bürger als Glied des Souveräns57 – des durch den Gesellschaftsvertrag gestifteten politischen Körpers58 – gegen eben diesen Souverän verpflichten.59 Denn die wichtigste rechtspolitische Pflicht jedes Bürgers dieses Typs besteht darin, sich an diesen gemeinsamen Beratschlagungen, die den konkreten jeweils aktuellen Gesetzgebungsagenden gewidmet sind, zu beteiligen und schließlich für oder gegen einen Gesetzesvorschlag zu votieren.60 Die Urteile, die die Bürger im Zuge ihrer Abstimmungen über Gesetzesvorlagen kundtun, in der Gesamtheit „[I]l importe peu qu!il aprenne ceci ou cela, pourvu qu!il concoive bien […] l!usage de ce qu!il apprend“ (ebd., 447). 52 „[U]tile ) savoir“ (ebd.). 53 „[T]out ce qu!il importe […] de savoir“ (ebd., 445). 54 „Des connaissances qui sont […] digne[s] des recherches“ (ebd., 428). 55 Vgl. Du contrat, passim. Vom politischen Bürger als citoyen unterscheidet Rousseau mit aller Schärfe die Missgestalt des unpolitischen Bürgers als bourgeois, „qui dans l!ordre civil veut conserver la primaut1 des sentiments de la nature, ne sait ce qu!il veut. Toujours en contradiction avec lui-mÞme, toujours flotant entre ses penchans et les devoirs il ne sera jamais ni homme ni citoyen; […] un Bourgeois“ (&mile, 249 f.); vgl. auch Du contrat, 361*. 56 „[L]a d1liberation publique“ (ebd., 362). 57 „[C]omme membre du Souverain“ (ebd.). 58 „[C]orps politique“ (ebd.). 59 „[Q]ui peut obliger tous les sujets envers le Souverains“ (ebd.). 60 „[D]es loix […] sont des actes de la volont1 g1n1rale“ (ebd., 379). 51
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der abgegebenen Stimmen und der jeweils vorangegangenen Beratschlagungen abschließen, sind stets auch Urteile über die Qualität der Regierung, die sie ausgearbeitet bzw. in der Vergangenheit verwaltet hat. Rousseau fasst für diese Beratschlagungen sogar eine Analogie zu der von den Urteilen aller anderen Menschen unabhängigen Urteilsbildung im Naturzustand ins Auge: Wenn, sobald das Volk beratschlagt, die Bürger keinerlei Kommunikation untereinander haben, wird die Beratschlagung immer gut sein.61 Mit Hilfe seiner rhetorischen Identifikation mit einem solchen Bürger argumentiert Rousseau, dass, wie schwach auch immer der Einfluss meiner Stimme in diesen öffentlichen Angelegenheit sein mag, so genügt das Recht, in diesen Angelegenheiten abzustimmen, mir die Pflicht aufzuerlegen, mich zu instruieren62 – zu instruieren nämlich einerseits über die zur Beratung und Abstimmung präsentierten Gesetzesvorlagen.63 Diese muss von den zuständigen Regierungsstellen mit ganz großer Umsicht64 ausgearbeitet werden – also mit Umsicht für die konkreten Umstände der Situation des Gemeinwesens, mit Blick auf die die Gesetzesvorlage konzipiert wird. Doch diese Umsicht allein ist gerade für die Beurteilung der Situationsangemessenheit einer Gesetzesvorlage nicht ausreichend. Wirklich gründen muss man sein Urteil nicht auf das, was man sieht, sondern auf das, was man vorhersieht65 – vorhersieht nämlich mit Blick auf die Konsequenzen, die ein einmal in Kraft gesetztes Gesetz für die dadurch betroffenen Bürger und für das Gemeinwesen als Ganzes mit sich bringt, wenn es von der Exekutive mit Hilfe eines solchen Gesetzes verwaltet wird. Deswegen muss das Volk, also die Gesamtheit der zu den Abstimmungen berechtigten Bürger, als Ganzes hinreichend informiert sein, sobald es darüber beratschlagt,66 wie diese Zusammenhänge zwischen den sich stets wandelnden kollektiven situativen Lebensumständen seines Gemeinwesens und den diese Umstände und das Verhalten der Bürger normativ steuernden Gesetzen und gesetzlich legitimierten Verwaltungsmaßnahmen zu berücksichtigen sind. Daher muss man mit Blick auf diese legislatorischen Agenden z. B. die Attraktivität der gegenwärtigen und spürbaren Vorteile gegen die Gefahr abwägen, die aus entfernten und noch verborgenen Übeln erwächst.67 Entgegen einem verbreiteten Vorurteil über Rousseaus Konzeption der politischen Gesetzgebung ist es jedoch nicht immer nötig, dass ein Wille im Rahmen der Abstimmung über eine Gesetzesvorlage einmütig ist, damit er allgemein ist.68 Nötig ist lediglich, dass jede Stimme gezählt wird, „Si, quand le peuple […] d1lib1re, les citoyens n!avoient aucune communication entre eux […] la d1lib1ration serait toujours bonne“ (ebd., 371). 62 „[Q]uelque faible influence que puisse avoir ma voix dans les affaires publiques, le droit d!y voter suffit pour m!imposer le devoir de m!instruire“ (ebd., 351). 63 Dass das Recht zur Gesetzesinitiative sowie zur Vorlage von Gesetzen bei den Ministerien – also bei den sognannten Magistraten – liegt, hingegen das Recht zu ihrer Verabschiedung – und selbstverständlich zu ihrer abschließenden Beratung – ausschließlich beim Souverän, also bei den zu diesem Zweck versammelten Bürgern, hat Rousseau schon früher zu bedenken gegeben, vgl. Discours sur l!in1galit1, O. C. III, 114 f. 64 „[A]vec tant de circonspection“ (ebd.). 65 „[I]l ne doit pas fonder son jugement sur ce qu!il voit, mais sur ce qu!il pr1voit“ (Du contrat, 389). 66 „Quand […] le peuple suffisamment inform1 d1lib1re“ (ebd., 371). 67 „Il faut […] balancer l!attrait des avantages pr1sents et sensibles, par le danger des maux 1loign1s et cach1s“ (ebd., 380). 68 „Pour qu!une volont1 soit g1n1rale il n!est pas toujours n1cessaire qu!elle soit unanime“ (ebd., 369*). 61
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weil jeder formale Ausschluss einer Stimme die Allgemeinheit zerstört.69 Wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, dann sind die Gesetze nicht nur Akte des Allgemeinwillens,70 dann ist jeder (gesetzgebende) Akt der Souveränität auch ein authentischer Akt des Allgemeinwillens.71 Denn die Authentizität dieses gesetzgebenden Akts verdankt sich ausschließlich dem Umstand, dass es die authentischen Akte der Urteilskraft der individuellen beratschlagenden und abstimmenden Bürgers sind, was den im jeweiligen Gesetz zum Ausdruck kommenden Allgemeinwillen lenkt.72 Rousseaus unscheinbarer Rekurs auf die kognitive Schlüsselrolle, die Locke der Freiheit der Urteilskraft im Naturzustand zuschreibt, könnte innerhalb der Politischen Philosophie keine gewichtigere und weiterreichende Tragweite mit sich bringen als durch die Rolle, die Rousseau ihr im institutionellen und prozeduralen Gefüge eines republikanischen Gemeinwesens zuschreibt. Lockes zentrale methodologische Maxime „To understand political power aright, and derive it from its original, we must consider what estate all men are naturally in“73 könnte gar nicht konsequenter befolgt werden – wenngleich anders als durch Locke selbst – als dadurch, dass man dieses original mit der praktischen und insbesondere der politischen Urteilskraft der aktiven Mitglieder, also der politischen Amtsinhaber und der Bürger eines solchen Gemeinwesens identifiziert. Die vermeintliche Paradoxie – wenn nicht gar Inkonsistenz – seiner Politischen Philosophie, dass der Mensch unter den Bedingungen des politischen Rechts (droit politique74) einer Republik genauso frei sei wie im Naturzustand, erweist sich bei genauerem Hinsehen, also bei hinreichend sorgfältigem Lesen als schlichte Konsequenz einer kohärenten Theorie der praktischen und der politischen – wenn man will republikanischen – Urteilskraft.
IV. Rousseau hätte die Schlüsselaufgabe der Aufklärung – die Aufklärung der Urteilskraft, vor allem die der praktischen und der politischen Urteilskraft – nicht vollständig und nicht in vollständig ernstzunehmender Form durchdacht, wenn er das Nachdenken über diese Aufgabe nicht von Anfang an mit der mentalen Reserve verbunden hätte, die zur genuinen Freiheit einer aufgeklärten Urteilskraft gehört – mit der selbstkritischen Skepsis, die auch die Grenzen der Möglichkeit bedenkt, die Urteilskraft aufzuklären. Provoziert durch den von jeder selbstkritischen Skepsis unberührten Fortschrittsoptimismus des szientistischen Aufklärungsprogramms der Gründer der Encyclop)die, verfasst er seinen Discours sur les sciences et les arts sogleich in scharfer Abgrenzung gegen die Zuversicht, mit Mitteln der Wissenschaft dafür zu sorgen, dass viel mehr Menschen aufgeklärt sein
„[I]l est n1cessaire que toutes les voix soient compt1es; toute exclusion formelle corrompt la g1n1ralit1“ (ebd.). 70 „[L]es loix sont des actes de la volont1 g1n1rale“ (ebd., 372). 71 „[T]out acte de souverainet1, c!est ) dire tout acte authentique de la volont1 g1n1rale“ (ebd., 374). 72 „[L]e jugement, qui la [i. e. la volont1 g1n1rale] guide“ (ebd., 380). 73 Locke, Two Treatises (wie Anm. 30), II.ii.4, 269. 74 Der Untertitel des Contrat Social lautet bekanntlich Principes du Droit Politique. 69
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möchten.75 Im Handumdrehen sieht er, was die authentischen Träger dieser Art von Aufklärung mangels der wichtigsten Portion selbstkritischer Skepsis nicht sehen – dass die wichtigsten Adressaten dieser Art von Aufklärung, die Menschen, denen der Himmel keine so großen – für die Wissenschaft geeigneten – Talente verliehen hat,76 also wir einfachen Menschen aus dem Volk, in unserer Dunkelheit befangen bleiben werden,77 und zwar in dem Maß, in dem unsere Wissenschaft und Technik der Vervollkommnung entgegengehen.78 Rousseaus selbstkritische Skepsis zeigt sich also zunächst in der Form eines nicht nur rhetorischen Kunstgriffs: Indem er den klassischen neuzeitlichen Trägern des szientistischen Aufklärungsprogramms das Fehlen der nötigen Portion selbstkritischer Skepsis attestiert, gibt er zu verstehen, dass ihrer Urteilskraft eben deswegen die Freiheit fehlt, die wichtigste Prämisse dieses Programms mit selbstkritischer Skepsis zu hinterfragen und zu überwinden – zu hinterfragen durch die Frage, welches wird unser Kriterium sein, um darüber gut zu urteilen,79 nämlich worüber Aufklärung wichtig ist, und zu überwinden durch die Schlüsselfrage, wer von uns von einer einmal glücklich gefundenen wissenschaftlichen Wahrheit einen guten praktischen Gebrauch zu machen wissen wird.80 Ihre Freiheit gewinnt und bewahrt die Urteilskraft erst durch die selbstkritische Skepsis, mit der sie sich für die Fragen öffnet und offenhält, mit deren Hilfe sie sogar das jeweils schon erreichte – oder vermeintlich erreichte – Niveau ihrer Reife81 in Frage stellt. Zwar muss man das Instrument, das urteilt, vervollkommnen;82 und man braucht genügend Aufklärung, um gesund zu urteilen.83 Doch man muss das Instrument auch kennen, dessen ich mich bediene, und vor allem wissen, bis zu welchem Punkt ich mich auf seinen Gebrauch verlassen kann.84 An dieser Grenzbetrachtung – also an einer kritischen Untersuchung der Urteilskraft – hat Rousseau sich nicht mehr versucht. Stattdessen hat er wie kein anderer Denker vor ihm und kein anderer Denker nach ihm die Aufgabe der Aufklärung durchdacht, die Urteilskraft aufzuklären, also die kognitive Fähigkeit, von deren Reifeniveau buchstäblich alles abhängt, was Menschen wie in den praktisch wichtigen Situationen ihres privaten und ihres öffentlichen Lebens tun bzw. unterlassen.85 Wie bedeutsam diese Form auch schon des vor-Nachdenkens über die Aufgaben der Aufklärung der Urteilskraft sein kann, lässt sich schwerlich besser ermessen als an der Tragweite, die es für das Freiheitspotential mit sich bringt, das die selbstkritische Skepsis Rousseaus fruchtbar gemacht „[A] fin que beaucoup plus d!hommes soient 1clair1s“ (Denis Diderot, Encyclop1die, in: Encyclop1die ou Dictionaire Raisonn1 des Sciences, des Arts et des M1tiers, Paris 1751 ff., Bd. 1, 637. 76 „[$] qui le Ciel n!a point d1parti de si grands talens“(Discours sur les sciences, O. C. III, 30). 77 „[N]ous, hommes vulgaires, restons dans notre obscurit1“ (ebd.). 78 „[$] m1sure que nos Sciences et nos Arts se sont avanc1s ) la perfection“ (ebd., 9). 79 „[Q]uel sera notre Criterium pour en bien juger?“ (ebd., 18; Hvhg. im Original). 80 „Si, par bonheur, nous la [sc. la v1rit1] trouvons ) la fin, qui de nous en saura faire unbon usage?“ (ebd.). 81 „[L]a maturit1 de jugement“ (Les RÞveries du Promeneur Solitaire, 1018). 82 „Il faut perfectioner […] l!instrument qui juge“ (&mile, 674). 83 „[A]ss1s lumi1res pour juger sainement“ (Discours sur l!in1galit1, 372). 84 „Il faut […] conna3tre l!instrument dont je veux me servir et jusqu!) quel point je puis me fier ) son usage“ (ebd., 586). 85 Zum Nachweis, dass und wie Kant durch sein Rousseau-Studium auf seinen langen Weg zu einer entsprechenden kritischen Erörterung der Urteilskraft gebracht worden ist, vgl. Rainer Enskat, Krise und Kritik der Urteilskraft, in: ders., Bedingungen (wie Anm. 1), 515–557. 75
Die Freiheit der Urteilskraft
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hat. Sein skeptisches Vermächtnis an die Bemühungen um die Aufklärung lautet: Die Urteilskraft ist nicht immer aufgeklärt.86 Nur wer sich diese Form der Skepsis selbstkritisch zu eigen gemacht hat, ist frei genug, weder sich selbst noch sein Zeitalter für so aufgeklärt zu halten, dass nicht noch unbestimmt viele Schritte nötig und möglich sind, um das Zwielicht immer wieder von neuem zu überwinden, von dem in der Sprache John Lockes87 auch die vermeintlich letzte Frucht der Bemühungen um Aufklärung immer wieder von neuem umgeben sein kann.
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„Le jugement […] n!est pas toujours 1clair1“ (Du contrat, 380). Vgl. oben S. 413.