Arbeiten aus dem Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hansischen Universität gesammelt aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens [Reprint 2020 ed.] 9783112341605, 9783112341599

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German Pages 318 [320] Year 1936

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Arbeiten aus dem Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hansischen Universität gesammelt aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens [Reprint 2020 ed.]
 9783112341605, 9783112341599

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Britannica Herausgegeben yom Seminar f ü r englische Sprache nnd Knltnr an der Hansischen U n l r e r s i t ä t H e f t 18

Arbeiten aus dem

Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hansischen Universität gesammelt aus Anlaß seines

25jährigen Bestehens

I

F r i e d e r i c h s e n , de G r u y t e r & Co. m. b. H. / H a m b u r g

1936

INHALTSVERZEICHNIS. S c h ü t t , Marie: Die germanische Besiedlung Britanniens in der englischen Geschichtsschreibung besonders des 16. und 17. Jahrhunderts

7

G r e 11 o n , George: John Donne: The Spiritual Background

53

M a u , Hedwig: Das ,Junge Mädchen". Ein Beitrag zu dem Thema: Die Frau in der Komödie der Restauration

67

Kohlsaat,

Käthe:

Die vorromantischen Züge in den Dichtungen von John

Dyer (Prüfungsarbeit, Höheres Lehramt)

91

S t u d t , Annelise: Fieldings Charakterromane (Prüfungsarbeit, Höheres Lehramt)

101

H a a g e , Richard: Charakterzeichnung und Komposition in Fieldings „Tom Jones" in ihrer Beziehung zum Drama (Prüfungsarbeit, Höheres Lehramt) . .

119

U r b a h n , Therese: Di« Geste Aufnahme in das Seminar)

171

in Sternes Tristram Shandy (Prüfungsarbeit,

B l e i c k e n , Marianne: Byron, Shelley und die Antike (Prüfungsarbeit, Höheres Lehramt) 189 P e t e r s , Barthold: Gefühl und Reflexion bei Keats (Prüfungsarbeit, Höheres Lehramt) 209 B u c k , Gerhard: Scotts

In Fortsetzung Bagehots: Die Waverley-Romane Sir Walter 221

B a c h m a n n , Anna: Die Bedeutung der Natur in Emily Brontes Roman „Wuthering Heights" (Prüfungsarbeit, Lehramt an den Volksschulen) . . . .

245

W o l f f , Emil: England und die Antike

253

(Die Prüfungsarbeiten stammen aus den Jahren 1930 bis 1935. Einige sind für den Druck gekürzt.)

D i e g e r m a n i s c h e Besiedlung- B r i t a n n i e n s in der e n g l i s c h e n Geschichtsschreibung b e s o n d e r s d e s 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s . Von

Marie Schütt. Der gegenwärtige Stand der Forschung in bezug auf die germanische Besiedlung Britanniens ist vor kurzein klar und übersichtlich dargelegt worden in R. H. Hodgkins „History of the Anglo-Saxons 1 ". Wenn man diese Darstellung vergleicht mit der dreißig Jahre früher erschienenen des älteren Hodgkin 2 , so ist man überrascht zu sehen, wieviel voller und farbreicher das Bild geworden ist, wie manche Einzelzüge, die bisher starr oder isoliert erschienen, sich jetzt in einen lebendigen Zusammenhang einordnen. Das kommt vor allem dalier, daß in den letzten Jahrzehnten Ergebnisse, die auf neu erschlossenen Forschungsgebieten gewonnen waren, für dieses Gebiet verwertet werden konnten, vor allem der Archäologie und der Ortsnamenforschung 3 . Gewiß haben wir auch jetzt noch kein lückenloses und einheitliches Bild der Geschehnisse, werden es vermutlich nie haben können. Aber die Möglichkeiten sind noch nicht ausgeschöpft. Gerade der Fortschritt, der in der letzten Generation gemacht worden ist, bringt uns zum Bewußtsein, daß wir uns gegenüber einem Prozeß der Forschung befinden, dem einmal von seinen Anfängen her nachzugehen interessant und lohnend erscheint. Unter „germanischer" Besiedlung soll dabei nur die angelsächsische des 5. und 6. Jahrhunderts begriffen werden. Die Hauptprobleme, die die dänische und besonders die normannische Eroberung stellen, sind so verschieden von denen der angelsächsischen, daß sie unter eine gemeinsame Fragestellung kaum gebracht werden können. Trotzdem erscheint es gerechtfertigt, die Bezeichnung „germanisch" beizubehalten, weil durch die erste angelsächsische Einwanderung das Land aus einem romano-keltisehen zu einem überwiegend germanischen geworden ist. 1

R. H. Hodgkin: A History of the Anglo-Saxons, Oxford 1935. Thomas Hodgkin: The History of England from the Garliest Times to the Norman Conquest, London 1906. Bd. 1 der „Political History of England". 8 Veröffentlicht hauptsächlich in den Publikationen der „English Place Name Society", Cambridge, seit 1924. Bis jetzt 12 Bände. 8

7

In der so bestimmten Begrenzung tritt da6 Problem im Grunde bereits zum ersten Male auf, als Beda nach den Traditionen über die Herkunft seiner „patria gens" zu fragen beginnt. Aber es stellt sich für ihn natürlich noch nicht so wie für uns. Heute ist das Cesamtproblem — sofern „Besiedlung" nicht nur als „Landnahme" verstanden wird — aufgespalten in eine ganze Reihe von Unterproblemen. Da sind zunächst die Fragen nach den Geschehnissen: wann, woher, auf welchem Wege kamen die Germanen? Wann und wo siedeln sie sich an? Dann die Fragen nach dem Zuständlichen: in welchen wirtschaftlichen, politischen, sozialen Einrichtungen, in welchen ethischen und religiösen Anschauungen leben die Germanen vor und nach der Überwanderung? Und schließlich die letzte Frage nach dem Sinn: welche Bedeutung hat die Einwanderung gehabt für die Geschichte Britanniens, Europas und schließlich für das, was wir „Weltgeschichte" nennen? Selbstverständlich wird das Problem nicht von Anfang an in dieser Vielseitigkeit gesehen. Wie die verschiedenen Seiten nacheinander heraustreten, in welchem Zusammenhang dieser Prozeß in sich, mit dem Gang der Forschung überhaupt und schließlich mit der allgemeinen, geistigen, vielfach auch der politischen Entwicklung steht, das eben in kurzem Überblick zu zeigen, soll hier versucht werden. Dabei soll der Blick nicht hauptsächlich darauf gerichtet sein, wann das, was sich späterhin als richtige Erkenntnis erwiesen hat, zum erstenmal aufgetreten ist, sondern mehr darauf, wie die entscheidende Tatsache seiner Frühgeschichte, die Überwanderung nach Britannien, sich im Laufe der Zeit im Bewußtsein des englischen Volkes gespiegelt hat, gleichgültig ob diese Spiegelung die Vorgänge richtig oder verzerrt wiedergibt. Dieses historische Bewußtsein offenbart sich in erster Linie in der Geschichtsschreibung. Darunter fallen Werke sehr verschiedener Art, von Abhandlungen, in denen das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen einer kleinen Gruppe von Fachleuten vorgelegt wird, bis zu Darstellungen, in denen der historische Stoff in gefälliger Form einem großen Leserkreis von gebildeten Laien zugänglich gemacht werden soll. Bei solch weiter Fassung des Begriffs Geschichtsschreibung ist selbstverständlich eine scharfe Auswahl zu treffen. Die verschiedenen Perioden können und müssen dabei verschieden behandelt werden. Ausführlich ist zu zeigen, wie die Eroberung Britanniens in der Historiographie der angelsächsischen Zeit selbst erscheint, weil sie zugleich die Quelle bildet, aus der alle späteren Darstellungen schöpfen. Verhältnismäßig kurz können die späteren Jahrhunderte des Mittelalters übergangen werden, weil die an ihrem Eingang einmal geprägte Form der Geschichte im wesentlichen unverändert bleibt. A m breitesten aber werden die ersten Jahrhunderte der Neuzeit zu behandeln sein, weil hier zuerst die Probleme im Sinne moderner Wissenschaft auftreten, wenn auch zur Lösung die Mittel noch nicht ausreichen. Auch hier ist jedoch nicht beabsichtigt — und ohne Benutzung englischer Bibliotheken auch gar nicht mög8

lieh —, alle einschlägigen Werke heranzuziehen. Wenn man sich an die Arbeiten hält, mit denen nachfolgende in Ablelinung oder Zustimmung sich wieder auseinandersetzen, kann man einigermaßen sicher sein, wirklich der lebendigen Tradition der Geschichtsschreibung nachzugehen. Gewiß findet das historische Bewußtsein nicht nur in ihr seinen Ausdruck. Dichtung, bildende Kunst, „Pageants" und anderes mehr lassen oft ebenso deutlich erkennen, wie ein Volk sich seine Geschichte vorstellt. Aber der Versuch, diese Äußerungen zu erfassen, wäre wohl sehr interessant, aber auch sehr schwierig und gleichfalls nur mit den Hilfsmitteln, die im Lande selbst verfügbar sind, zu lösen 4 . Wir beschränken unsere Untersuchung weiter auf Geschichtsschreiber englischer Herkunft. Britische Berichte müssen natürlich herangezogen werden, insoweit sie Tatsachenmaterial liefern oder von wesentlichem Ginfluß auf die englische Auffassung sind; aber nur diese ist Gegenstand unserer Betrachtung. Selbstverständlich sind auch die andern auf der Insel lebenden Völker an dem Problem der germanischen Einwanderung intensiv interessiert. Au6 dem Umstand, daß in dem verhältnismäßig kleinen, als Insel scharf abgegrenzten Lande mehrere, nach Herkunft und Kultur sehr verschiedene Völker wohnen, die nach bitteren Kämpfen allmählich zu einer Einheit zusammengewachsen sind, ergibt sich das einzigartige Verhältnis der Elemente Land, Volk, Staat, Reich, das die geschichtliche Gesamtheit charakterisiert, die sich als solche wieder mit dem alten Teilnamen „britisch" nennt. Wie es zum Bewußtsein dieser Einheit gekommen ist, das ist ein weiteres Problem, von dem unsere Frage, wie der Hauptteil dieser Gesamtheit seine eigene Geschichte gesehen hat, nur eine Seite bildet. Der erste, der nach der Vergangenheit seines Volkes fragt, ist, wie wir sahen, Beda. Es ist zweifellos für die ganze Entwicklung des Problems von Bedeutung gewesen, daß an ihrem Anfang ein Mann von seiner wissenschaftlichen Qualität gestanden hat 5 . Es ist aber auch bezeichnend, daß er bereits fragen und forschen muß, mit einem betrübend geringen Ergebnis. Auf der einen Seite findet er eine magere Tradition von Namen, auf der Seite des britischen Gegners nur den beredten, aber vagen Bericht des Gildas in seinem „Liber querulus de Excidio Britanniae 6 ". Hier ist die Eroberung allerdings noch nicht in die Sphäre wissenschaftlicher Betrachtung eingegangen. Gildas schreibt aus unmittelbarer Leidenschaft heraus, aus dem Zorn über die Sünden seiner Landsleute und dem Haß gegen die Feinde, der darum nicht geringer ist, weil er in ihrem Kommen eine gerechte Strafe Gottes sieht. Woher sie gekommen sein mögen, fragt er nicht, sie sind ihm „Saxones" schlechthin, „ferissi 4 Gute Beispiele solcher Untersuchungen sind: Rud. K a p p : Heilige und Heiligenlegenden in England. 1934. — Ch. B. Millican: Spenser and the Table Round. 1932. 3 Vgl. Wilhelm Lewison: Beda as Historian. In „Bede", his Life, Time and Writings. Oxf. 1935, S. 111—151. fl ed. Mommsen: Mon. Germ. Hist. Auct. Antiq. XIII, Berlin 1898.

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mi illi nefandi nominis Saxones Deo hominibusque invisi 7 ". E r kann nicht die rahige Distanz des Tacitus aufbringen, f ü r den die Germanen die Feinde der Zukunft waren, und der gerade in ihren sittlichen Qualitäten die größte Gefahr f ü r das entartende Rom sah. F ü r Gildas sind die Sachsen nichts als „lupi", „grex catulorum de cubili leaenae barbarae", „crudelissimi predones". Wir haben bei Gildas bereits den Kern der Erzählung, die sich später zu einem ganzen Roman ausgewachsen h a t : d a ß die Sachsen zuerst auf die Aufforderung eines britischen Königs hingekommen seien, der sie als Hilfstruppen gegen die Picten und Scoten brauchte. Der Name des Königs u n d des Führers der Sachsen wird noch nicht genannt. Die Schuld an dem ausbrechenden Streit wird durchaus den Sachsen zugeschoben. Was den Verlauf der Eroberung bis zur Zeit der Abfassung der Schrift (um die Mitte des 6. Jahrhunderts) betrifft, so wird deutlich, daß ververschiedene Abschnitte zu unterscheiden 6ind, daß das Vordringen der Sachsen zeitweise zum Stillstand gekommen ist, wobei ein britischer Führer römischer Herkunft, Aurelius Ambrosianus, eine Rolle gespielt hat. Aber Genaueres ist nicht zu erkennen, zeitliche und örtliche Bestimmtheiten verschwimmen im rhetorischen Wortschwall dieser Haßpredigt. Und diesen, dem eigenen Volk so feindlichen Bericht findet Beda, der erste Historiker aus dem Eroberervolk selbst, als einzige schriftliche Quelle vor, als er sich daran macht, die Geschichte dieser Zeit zu schreiben. I h m ist die Eroberung durch die Angelsachsen nun bereits ein echt wissenschaftliches Problem. Beda hat langjährige chronologische und hagiographische Studien hinter sich und geht an die neue große Aufgabe, die „Historia Ecclesiastica gentis Anglorum 8 " zu schreiben, wohlvorbereitet und in einem Geist heran, dem es auf die Erkenntnis der Wahrheit ankommt. Wie das Problem gestaltet und gelöst wird, ist natürlich hier wie überall abhängig von dem Material, das zur Verfügung steht, von den Vorstellungen der Zeit u n d dem Denken des Verfassers selbst. Bedas eigentliches Thema ist ja die große Bewegung, die bis in 6eine eigene Lebenszeit hinein sich erstreckt hatte, die Christianisierimg seines Volkes. Aber er greift darüber hinaus und fragt, woher dieses Volk ursprünglich gekommen ist. Es saß damals 200—300 Jahre in der neuen Heimat; manches aus der Besiedlungszeit, was wir heute gerne wissen möchten, war sicher auch damals schon vergessen, manches aber auch wiederum noch zu selbstverständlich, als daß man darüber gesprochen hätte. Was Beda an Tatsachen bringt, entnimmt er fast ausschließlich Gildas. Nur die Namen der führenden Männer auf beiden Seiten, Vortigern und Hengist, bringt er hinzu. E r übernimmt die Darstellung zum größten 7 8

10

ed. Mommsen, Auct. Ant. XIII, S. 38. Venerabiiis Bedae Opera Historica ed. C. Plummer Oxf. 1896,

Teil wörtlich in ihrer ganzen Sachsenfeindlichkeit. Das gilt für die allgemeine Charakterisierung der Sachsen in ihrer Grausamkeit und Wildheit (die eigentlichen Schimpfnamen, wie „Hunde" und „Wölfe" fehlen begreiflicherweise) ebenso wie für die Schilderung der Vorgänge. Bei ihm wie bei Gildas sind es die Ankömmlinge, die Streit vom Zaune brechen, um Vorwand zur Eroberung des Landes zu haben. Die britische, sachsenfeindliche Tradition ist später, in Geoffrey of Monmouth' Darstellung noch einmal in die englische Geschichtsauffassung eingebrochen. Daß bei Beda, auf den kritische Geister doch immer wieder zurückgingen, sich keine andere Auffassung fand, hat die britische Version zweifellos stark gefestigt. Man hat sich gewundert, daß die Angelsachsen keine eigene Einwanderungssage entwickelt haben, die sie der britischen entgegengestellt hätten 9 . Die einfachste Erklärung ist vielleicht die, daß die Überlieferung in ihrem Kern, d. h. dem Herbeirufen einer germanischen Söldnerschar und deren späteren Empörung, richtig und daher auch bei den Kentern so vorhanden war 10 . Die britischen Erzählungen von der Wildheit und Grausamkeit der Gegner dürften deren Nachkommen wenig gekränkt haben, da ja ihre Tapferkeit und ihr kriegerischer Erfolg bei Gildas noch nicht in Frage gestellt wird 11 . Bei Beda kommt zweifellos hinzu, daß er im historischen Geschehen ebenso wie Gildas das unmittelbare Walten Gottes sieht, Glück und Unglück im Kriege ihm göttliche Strafe und Belohnung sind. Diese Auffassung kommt wiederholt deutlich zum Ausdruck. Jedenfalls finden wir bei ihm noch nicht die eigentümliche Vermischung der Stammesunterschiede zwischen Briten und Germanen, die für die Historiographie, besonders die populäre, des späteren Mittelalters charakteristisch ist. Beda ist sich seines Volktums durchaus bewußt. Die Germanen sind ihm „nostra gens 12 ". Er allein überliefert Traditionen über die Sitze der Angelsachsen auf dem Kontinent, Traditionen, die die neueste archäologische Forschung weitgehend bestätigt hat. Über die Feststellung der Sitze allerdings geht sein Interesse — oder sein Material — noch nicht hinaus. Überlegungen über die Zugehörigkeit der Angeln, Sachsen und Jüten zu weiteren Völkergruppen, wie sie später eine so große Rolle spielen, stellt er noch nicht an. Der Begriff der Germanen ist ihm nicht unbekannt, aber er ist undeutlich, selten gebraucht und hat jedenfalls noch nicht die Bedeutung einer den Angelsachsen übergeordneten Gesamtheit. Beda reflektiert auch noch nicht über die Sitten, Gebräuche und Anschauungen der Vorfahren. Soweit es sich um weltliche Dinge dabei handelt, ist das selbstverständlich. Er lebt ja noch in derselben Welt 9 Siehe Matter, Hans: Englische Gründungssagen von Geoffrey of Monmouth bis zur Renaissance. 1922, S. 329. 1 0 Siehe R. H. Hodgkin, Bd. I. S. 95 ff. 1 1 Später geschah auch das. S. u. S. 16. 1 2 Z. B. in der Widmung an König Ceolwulf. Bd. I, S. S.

11

oder, was auf dasselbe hinauskommt, ist sich nicht bewußt, in einer anderen zu leben. In religiösen Dingen aber war es wohl ebenso selbstverständlich, daß er über das, was ihm nur als ein verderblicher Unglaube erscheinen konnte, aus dem 6ein Volk erst vor kurzem durch die Güte Gottes errettet war, nicht ausführlich berichtete. Der Gegensatz seines Volkes zum britischen ist, wie wir sehen, bei ihm nicht verwischt. Wie konnte er das sein, da erbitterte Kämpfe noch in seine eigene Jugendzeit gefallen waren? Und wenn auch seine Mannesjahre eine Zeit des Friedens waren — es ist bekannt, mit welcher Sorge Beda im Alter gewisse Verfallserscheinungen im Hinblick auf eine mögliche neue Gefährdung durch die „barbari" betrachtet 13 . Doch ist ihm dieser Gegensatz kein letzter. Er hat keinen Haß gegenüber den Briten, wenn er ihnen auch zum Vorwurf macht, daß sie selbst aus Haß es versäumt hätten, den Feinden das Evangelium zu predigen. Er sieht in ihnen die christlichen Brüder, die, jetzt zwar noch durch einige kirchliche Unterschiede getrennt, bald eine Einheit mit den Angelsachsen bilden werden. Die äußere Einheit, die er dabei im Auge hat, ist die der Insel Britannien 14 . Das ist sicher z. T. durch literarische Tradition bedingt. Seit alters her setzte man historischen Werken die Beschreibung des Landes voraus, das Schauplatz der zu schildernden Ereignisse war, und das war hier naturgemäß die ganze Insel. Z. T. ergab sich ihm die Einheit aus dem kirchen-historischen Thema: der' päpstliche Bekehrungs- und Organisationsplan umfaßte ja das ganze ehemals römische Britannien. Letztlich liegt darin aber auch die Vorausnahme einer naturgeforderten, aber historisch nur sehr langsam verwirklichten Einheit, die nicht mehr in der gemeinsamen Abstammung, sondern im gemeinsamen Schicksal liegt. Bedas Werk ist auf Jahrhunderte hinaus die wichtigste Grundlage für die Darstellung der germanischen Besiedlung geblieben. Was hinzugekommen ist, sind die Angaben der angelsächsischen Chronik über den V e r l a u f der Eroberung 15 . Gildas und Beda hatten nur über das Kommen von Hengist und Horsa, also — nach Beda — der Jüten und die Gründung des Königreiches Kent, berichtet. Hier erfahren wir nun über das Kommen weiterer Scharen unter Aelle, Cerdic usw., unter ganz bestimmten Daten, die aber so nicht alt-überliefert sein können, sondern zu einem nicht sicher zu bestimmenden Zeitpunkt, wahrscheinlich im 8. Jahrhundert, errechnet worden sind. Diese Annalen, in denen fast ausschließlich von Siegen der Angelsachsen berichtet wird, waren mit den vagen Angaben des Gildas über den Verlauf der Kämpfe schwer in 1 3 Siehe den Brief an Erzbischof Egbert von York, a. a. O. I, S. 415, und den Schluß der Hist. Eccl. „quae res quem sit habitura finem, posterior aetas videbit". ] 4 Irland wird da, wo eine geographische Einheit zugruude gelegt wird, bald einbezogen, bald fortgelassen. Bei Beda z. B. wird es in der geographischen Beschreibung im 1. Kapitel mit behandelt, fehlt aber in der Schlußübersicht der Zeit. 1 8 ed. Plummer Oxford, Bd. I, 1892, Bd. II, 1899.

12

Einklang zu bringen, und eine einheitlich erzählende Darstellung dieser Periode war deshalb sehr schwierig. Die mittelalterlichen Schriftsteller lassen die Widersprüche entweder getrost nebeneinander stehen oder sie helfen sich durch Fortlassung der einen Version. Wo das kritische Gewissen späterhin ein solches Verfahren nicht mehr gestattet, bleibt den Historikern nichts anderes übrig, als beide Berichte nacheinander zu geben und auf die Widersprüche aufmerksam zu machen. Eine Möglichkeit, die Angaben der literarischen Quellen zu kontrollieren und gegeneinander abzuwägen, hat eigentlich erst die archäologische Forschung der neuesten Zeit gebracht. Da bis dahin grundsätzlich Neues in der Behandlung dieser Seite des Besiedlungsproblems nicht auftritt, brauchen wir uns mit ihr wenig mehr zu befassen. Für die andern Seiten bietet die Chronik so gut wie nichts. Über die Besiedlung selbst greifen die eigentlichen Annalen nicht zurück. Die Stammtafeln 16 , an deren Spitze Wotan oder noch ältere mythische Persönlichkeiten stehen, halten wohl eine Tradition fest, die in germanische oder vielleicht vorgermanische Zusammenhänge zurückführt, aber eine Tradition, die unverständlich und unfruchtbar geworden war, und in die erst die vergleichende Sagen- und Religionsforachung wieder einiges Licht gebracht hat. Die Weiterführung bis auf Adam 1 7 stammt aus einer Zeit, wo eine feste Einordnung in die christliche Weltgeschichte gesucht wird. Das einzige weitere Geschichtswerk der altenglischen Zeit ist die Chronik des Ethelweard 18 aus dem 10. Jahrhundert. Ethelweard, selbst aus dem Geschlecht des Cerdic stammend, schreibt für eine Prinzessin des königlichen Hauses, eine Tochter Ottos I. und der Edith, eine angelsächsische Geschichte, die, wenn auch nur sehr äußerlich, einer Weltgeschichte von der Schöpfung an eingeordnet ist. Sein Werk zeigt Einfluß der karolingischen Renaissance; er hat literarischen Ehrgeiz, zitiert sogar Virgil 19 . Inhaltlich ist es ein magerer Auszug aus früheren Werken mit einer dürftigen Fortsetzung. Neue Tatsachen zur Eroberungsgeschichte wird man bei ihm nach einem halben Jahrtausend nicht mehr erwarten dürfen 2 0 ; es ist aber interessant, zu sehen, wie sich die Einstellung zu den historischen Ereignissen verschoben hat. Sie ist durchaus säkularisiert, die Eroberung ist nicht mehr eine Strafe Gottes, das Verhältnis zwischen Vortigern und Hengist erscheint als Vertrag zwischen zwei Ebenbürtigen, der von den B r i t e n gebrochen wird. So ist hier die Besitznahme des Landes auch sittlich gerechtfertigt. „Hactenus de societate ac promissione Britanniae sat dictum est: nunc de discordia et infoelicitate dicatur. Videntes namque In der Einleitung der Chronik und zu den Jahren 547, 552, 597, 855. Zum Jahre 855. M In „Kerum Anglicanum Scriptores", ed. H. Savile, Frankfurt 1601, S. 831—850. 1 8 a. a. O. S. 833, 10 = Aen. III, 277. 2 0 Tatsächlich erscheint noch ein neuer Name: „Ipswines Fleot" als Ort der ersten Landung der Germanen. 16

1T

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astutiam novi populi, partim timuerunt, partimque despectui eos habuere: frangunt pactum, nec ultra societatis addunt honorem sed potius ab oris expellere conantur 21 ." Aber die normannische Eroberung unterbricht die angelsächsische Tradition auch auf diesem Gebiet. Der erste Schriftsteller, der nach 1066 eine Gesamtgeschichte des Landes schreibt 22 , William von Malmesbury, ist bereits sächsischer und normannischer Abstammung. Er sucht d i e s e n Gegensatz zu überbrücken, für den früheren zwischen Sachsen und Briten hat er keinen Sinn mehr. Seine Schreibweise steht stark unter klassischem Einfluß. Er kennt und zitiert „de oratore" und den „auctor ad Herennium 23 ". Er kennt die antiken Historiker, ordnet z. B. von Wilhelm dem Eroberer an sein Material nach suetonischen Kategorien. Er interessiert sich daher auch wesentlich für die literarischen Qualitäten des Stoffes, arbeitet die psychologischen Vorgänge mit freier Ausschmückung heraus. So heißt es z. B. beim Herüberkommen der Germanen: „Germani audientes rem votis mille petitam a se ultro expostulari vicino pede paruere, celeritatem negotii laetitae stimulis maturantes: valedicentes igitur arvis genitalitus renuntiantes parentum affectibus fortunae vela committunt — 2 4 ". Die Vorliebe für das menschlich Interessante war es wohl auch, was ihn veranlaßte, bei der Darstellung des weiteren Verlaufs nicht dem kargen Bericht Bedas, sondern dem umständlicheren einer britischen Quelle zu folgen. Die vielen Fragen, die sich an die Entstehung der Schrift oder besser der Sammlung knüpfen, die unter dem Namen de« „N e n n i u s " überliefert ist, können hier beiseite bleiben. So wie sie uns vorliegt, und auch schon William von Malmesbury vorlag, stellt sie eine Phase der Entwicklung dar, die die Eroberungsgeschichte in der Phantasie des unterlegenen Volkes durchgemacht hat, eine Stufe auf dem Wege zwischen Gildas und Geoffrey of Monmouth 25 . Das Kommen der Angelsachsen ist hier bereits zu einem Roman umgestaltet: durch die Liebe zu der schönen Rowena, der Tochter des Hengist, läßt Vortigern sich dazu bestimmen, dem Söldnerführer britisches Land zu eigen zu geben. Sein Sohn Vortimer empört sich gegen die Landfremden, fällt aber im Kampf. Das Glück wendet sich noch einmal durch die Taten Arthurs — den William von Malmesbury mit dem Ambrosius des Gildas identifiziert —, aber die endgültige Entscheidung fällt doch für die Eroberer, „Deo non adversante consilio in cujus manu est omnium imperiorum mutatio 2 6 ", sagt William von Malmesbury dazu. Wir haben a. a. O. S. 833. „de gestis regum Anglorum", ed. W. Stubbs, Rolls Series 1887 u. 1889. 2 3 a. a. O. I, S. 144. „eo dicendi genere quod suffultum rex facundiae Romanae Tullius in Rhetoricis appelat" = Auctor ad Herennium 1. IV c. 10. 2 4 a. a. O. I. S. 8. 2 5 Die neueste Ausgabe mit gründlicher Besprechung der Probleme ist: Ferdinand Lot: Nennius et l'Historia Britonum, Paris 1934. 2 « a. a. O. I. S. 12. 21 22

14

bei ihm wieder ein Eindringen britischen Stoffes, aber noch nicht wiedei der britischen Auffassung in ihrer einseitigen Sachsenfeindlichkeit, Gewiß ist Hengist kein Idealheld, er ist voller Arglist und Habsucht. Aber die Schuld des Bruches liegt doch bei den Briten, besonders bei Vortimer. „Hoc igitur auctore — foedus foedatum." Daß William von Malmesbury von der zu seiner Zeit schon weit über Nennius hinausgegangenen Entwicklung der britischen Sage weiß, ergibt sich aus seiner Bemerkung zu Arthur: „Hic (d. h. Ambrosius) est Artur de quo Britonum nugae hodieque delirant; dignus plane quem non fallaces somniarent fabulae sed veraces praedicant historiae, quippe qui labantem patriam diu sustinuerit 27 ". Diese „fabulae" hält er noch fern. Im weiteren folgt er Beda, und zwar so, daß er aus der „Kirchengeschichte" das herauszieht und zusammenstellt, was für die Geschichte der Königreiche dort zu finden ist; eine Anordnung, die sich die meisten späteren Darsteller der Zeit zum Vorbild genommen haben, sofern sie sich überhaupt an die englische Tradition anschlössen. Denn die britische, von William von Malmesbury noch eben abgewehrte, bricht wenig später mit unwiderstehlicher Gewalt in die englische Geschichtsschreibung ein mit Geoffrey von Monmouth' „Historia Regum Britanniae". Geoffrey 28 hat sich bekanntlich gegen die Behauptung, daß seine Geschichte „nugae" und „fabulae" seien, gewehrt und sich auf eine alte walisische Quelle berufen in seinem Epilog: „Reges uero saxonum Willelmo malmes beriensi et henrico huntendonensi (permitto) quos de regibus britonum tacere jubeo, cum non habeant librum istum britannici sermonis quem Gvalterus oxenefordensis archidiaconus ex britannia aduexit 2 9 ". Der radikale Zweifel an der Existenz nicht nur dieses Buches, sondern an der historischen Realität so gut wie a l l e r Angaben Geoffreys, der lange Zeit in Reaktion gegen die mittelalterliche Gläubig-keit geherrscht hat, ist jetzt überwunden. Archäologische Funde haben die historische Existenz von ihm genannter Persönlichkeiten erwiesen 30 . Das betrifft aber nur Einzelheiten der späteren Periode. Im ganzen handelt es sich um Sage und Dichtung. Ansätze zur poetischen Ausgestaltung der britischen Vorgeschichte finden wir schon bei Nennius. Für die weitere Entwicklung der Sage ist es gleichgültig, wieviel Geoffrey schon vorfand, wieviel er selbst hinzugedichtet haben mag. In seiner Version geht sie in die englische Geschichtsschreibung ein. Das Wesentliche ist: wir haben hier eine einheitliche b r i t i s c h e Geschichte, beginnend mit der ersten Besiedlung des Landes und fortgeführt bis auf die Zeit Cadwaladrs, d. h. bis ins 7. Jahrhundert nach Christus. Die Vorgeschichte ist, ähnlich wie bei den Franken und Dänen, an die TrojaSage angeschlossen: Brutus, der Enkel des Aeneas, kommt mit einer a. a. O. I. S. 11. The Historie Regum Britanniae of Geoffrey of Monmouth, ed. A. Griscom, London 1929, S. 536. 2 9 Siehe daselbst S. 100. 3 0 Daselbst S. IX. 15 27

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Schar aus Griechenland geflüchteter Trojaner nach Britannien, vertreibt die dort hausenden Giganten und benennt die Insel nach seinem Namen 3 0 1 . Ähnliches findet sich auch 6chon bei Nennius 3 1 . Bei Geoffrey folgt dann die Geschichte der sämtlichen Nachfolger des Brutus. Den Höhepunkt bildet Artus, der nicht mehr wie bei William von Malmesbury der römische Offizier ist, der den letzten Widerstand der Briten organisiert, auch noch nicht der vollendete Ritter der späteren Dichtung, sondern ein großer Imperator des Nordens, Herrscher über ¡Norwegen, Dänemark, Gallien, Gegenbild und Besieger des römischen Kaisers. Solcher Lesestoff mußte einem Heinrich II. mit seiner ausgedehnten Herrschaft über verschiedene Länder zusagen, ebenso den) normannischen Adel, der sich den Briten, so wie sie Geoffrey darstellt, verwandter fühlen mochte als den Sachsen. Als literarisches, nicht als historisches Werk war die „Historia Britannia" doch wohl von Anfang an gedacht. Die Rolle, die sie als Grundlage f ü r sämtliche Artus-Dichtungen gespielt hat, ist bekannt, und innerhalb der Literaturgeschichte ist sie auch nach allen Richtungen hin behandelt worden 31 ®. Hier ist sie n u r in ihrem Einfluß auf die Auffassung der angelsächsischen Einwanderung zu betrachten. Aus der Tatsache, daß der ganze historische Verlauf von Standpunkt der britischen Fürsten aus gesehen ist, und d a ß ihre höchste Machtentfaltung bei Arthur liegt, der ja lange nach der Einwanderung regiert, ergibt sich schon, daß das Kommen der Angelsachsen zu einer Art peripheren Episode geworden ist. Die Ereignisse sind hier folgendermaßen dargestellt: Vortigern, ein Usurpator, der den rechtmäßigen König Konstans entthront und ermordet hat, nimmt Hengist mit seinen Leuten, die als Auswanderer zu ihm kommen, in Dienst, heiratet Hengists Tochter Rowena und begabt Hengist mit Land. Gegen den wachsenden Einfluß der Einwanderer empören sich erst Vortigerns Sohn Vortimer, später die aus dem Exil zurückgekehrten Brüder des Konstans, Ambrosius Aurelianus und Uther Pendragon. Sie und besonders Uthers Sohn Arthur schlagen die Sachsen in vielen Schlachten so gründlich, d a ß sie zwar nicht vollständig wieder vertrieben werden, aber doch unter Oberhoheit der britischen Fürsten leben. Erst unter dem unfähigen Careticus gelingt es den Sachsen, die Briten zu besiegen, aber auch nur dadurch, d a ß sie Gormund, König der A f r i k a n e r , aus Irland zu Hilfe rufen, der ihnen dann nach dem Siege Loegria, d. h. England überläßt. Die Sachsen haben also nach Geoffrey nicht einmal aus eigener K r a f t das Land gewonnen. Tapferkeit wird ihnen im allgemeinen nicht abgesprochen, sonst aber auch kein gutes Haar an ihnen gelassen. Und das Erstaunlichste ist, d a ß diese Darstellung in ihrer schroffen Einseitigkeit und bitteren Feindseligkeit gegenüber den germanischen E r o b e r e m von deren Nachkommen 仫 a. a. 0 . S. 249. 31 Ed. Lot. S. 153 ff. 31 ® Eine ausführliche Bibliographie bis zum Jahre 1922 findet sich in Matter, Hans: Englische Gründungssagen von Geoffrey von Monmouth bis zur Renaissance. Heidelberg 1922.

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nicht nur als historische Wirklichkeit aufgefaßt, sondern als eigene Urund Frühgeschichte aufgenommen wird — des eigenen Landes, nicht geradezu des eigenen Volkes. Die Frage nach dem Volk wird nicht gestellt. Allerdings ging dieser Aufnahmeprozeß nicht ganz ohne Widerspruch vor sich. Wir haben gesehen, wie William von Malmesbury, Geoffreys Zeitgenosse, seine Geschichten als „nugae" und „fabulae" bezeichnet. Schroffer noch und ausdrücklicher werden sie zurückgewiesen von William of Newburgh, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts eine Geschichte von William dem Eroberer an schreibt 32 . Im Prooemium sagt er, daß man als Gewährsmänner für die Geschichte „gentis nostrae, id est Anglorum" den Beda habe und für die der Briten den Gildas. Die Zuverlässigkeit des letzteren werde vor allem dadurch erwiesen, daß er die eigenen Landsleute mit seinem Tadel nicht verschone. „At contra quidem nostris temporibus pro expiandi6 his Britonum maculis scriptor emersit, ridicula de eisdem figmenta contexens, eosque longe supra virtutem Macedonum et Romanorum impudenti vanitate attolens 33 ." Es scheint mir nicht nötig, hinter diesem Angriff „Rassenhaß" gegenüber den Briten zu sehen 34 . Der hätte wohl noch schärferen Ausdruck gefunden. Seine Empörung ist eher die des Historikers, dem man zumutet, „figmenta", die sich echten Geschichtswerken gegenüber sofort als solche erweisen, für Geschichte zu nehmen. Er weist einzelne Unmöglichkeiten, besonders der Arthursage im Vergleich mit Beda nach. Sein Angriff richtet sich gegen die „unverschämten Lügen" des Geoffrey, nicht eigentlich gegen die Briten. Er nennt sie „bruti", Toren, die noch heute auf die Wiederkehr Arthurs hoffen. Viel weniger Haß spricht aus ihm, als das sichere Selbstbewußtsein des Angehörigen desjenigen Volkes, das in der Wirklichkeit, nicht nur in der Phantasie, die Oberhand behalten hat. Denn er ist sich allerdings, wie die einleitende Unterscheidung zwischen der Geschichte des eigenen Volkes, die Beda, und der Geschichte der Briten, die Gildas geschrieben hat, deutlich zeigt, seines Volkstums durchaus bewußt und scheint damit in der Historiographie für Jahrhunderte allein zu stehen. Daß deswegen die Unterschiede in der Wirklichkeit nicht aufgehoben waren, ist selbstverständlich, und daß dies gelegentlich in den breiten Chroniken des Mittelalters zum Ausdruck kommt, ist sehr wohl möglich 35 , aber zu der Erkenntnis, daß die britische Vorgeschichte nicht die englische ist, führt das nicht. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß die „wissenschaftliche" Historiographie in diesen Jahrhunderten Zeitgeschichte ist, und daß die Werke, die die ganze Ge3 2 Historia Regum Anglicorum Wihelmi Parvi de Newburgh, ed. H. C. Hamilton, London 1856. 3 3 Daselbst S. 4. 3 4 So z. B. Matter, a. a. 0 . S. 542. 3 6 Die ganze mittelalterliche Historiographie auf solche Äußerungen durchzusehen, ginge über den Rahmen der vorliegenden Aufgabe hinaus. Von der Seite der b r i t i s c h e n Tradition her ist das Problem bei Matter ausführlich behandelt.

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schichte des Landes, oft eingeordnet in eine Weltchronik, bringen, für weitere Kreise bestimmt sind, für das adlige, später auch das bürgerliche Lesepublikum, und mehr Wert auf interessanten Stoff als auf historische Wahrheit legen. Die Brutussage spielt neben der Artussage die Hauptrolle. „Brut" wird der Name für die umfassende Landeschronik schlechthin 36 . Den Höhepunkt, ja nahezu die Alleinherrschaft dieser populären Historiographie haben wir im 15. Jahrhundert, vorhanden ist sie aber auch noch im 16. Kritik an einzelnen, besonders kraß unwahrscheinlichen Episoden der Britengeschichte ist auch im Mittelalter geübt worden. Wie fest man aber doch an ihre historische Wirklichkeit im ganzen geglaubt hatte, zeigt die Leidenschaftlichkeit, mit der man sich gegen die Lösung der eigenen Geschichte aus der Verstrickung in das Netz einer fremden Sage wehrte. In ihrer echt mittelalterlichen Gestalt erscheint die Landesgeschichte zum letzten Male im Jahre 1543, als Richard Grafton die in siebenzeiligen Strophen abgefaßte Chronik des John Hardyng, aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, mit einer Fortsetzung bis auf seine Zeit herausgibt. Grafton sagt allerdings in seiner Vorrede an die Leser, Hardyng sei für die Ereignisse vor seiner eigenen Zeit seinen Autoren „at auenture" gefolgt, ohne Unterscheidung „whether fabulous or menne of verite 37 ". Daß damit aber kein grundsätzlicher Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Vorgeschichte ausgedrückt werden soll, ergibt sich einige Strophen später, wo Grafton Hardyng nachrühmt, daß er den englischen Herrschaftsanspruch über Schottland „even from Brutus" nachgewiesen habe 3 8 . Jedenfalls wird hier noch nicht deutlich, wie umkämpft und erschüttert der stolze Bau der mittelalterlichen Sagenbildung schon ist. Von allen Seiten her wird er von der humanistischen Wissenschaft angegriffen. Der Kampf ist zäh und langdauernd. Denn der „neue Geist" setzt sich aus sehr verschiedenartigen Kraftströmen zusammen, die durchaus nicht auf allen Gebieten in gleicher Richtung wirken. Der Zusammenbruch der universalen Mächte des Mittelalters öffnet wohl der Wissenschaft den Weg für eine unbefangenere Betrachtung der Geschichte, macht aber zugleich auch das Selbstbewußtsein der einzelnen Teile Europas frei. „Patria" ist der Ausdruck, den die ja zunächst noch immer lateinische Historiographie gebraucht, und „Vaterland" ist auch der einzig entsprechende deutsche Ausdruck für die gemeinte Einheit. Denn noch ist es weder die gemeinsame Organisation im Staat, noch die Zusammengehörigkeit nach Kultur oder Herkunft in Nation oder Volk, was als das Einigende angesehen wird, sondern es ist das Land mit seinen 36

1935.

Vgl. Fritz-Joachim Starke:

Populäre englische Chroniken des 15. Jahrh. Berlin

Neudruck ed. H. Ellis 1812, S. 10. Daselbst S. 11. — Über die Verwertung der Brutussage gegenüber Schottland vgl. Matter S. 474 ff. 37

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Bewohnern. Für diese Einheit erstrebt man die größtmögliche „gloria", wozu auch die weit zurückreichende ruhmvolle Vergangenheit gehört, und um so zäher hält man an der Sage fest, die den Zusammenhang mit den großen Völkern der Antike verbürgt. In England kommt noch ein besonderer Faktor dazu: die neue Dynastie der Tudors ist aus b r i t i s c h e m Mannesstamm. Diese Tatsache verstärkt, besonders in den Anfängen, naturgemäß das Gewicht, das auf die b r i t i s c h e Tradition gelegt wird. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist die britische Sage, besonders die Artussage, dann ein willkommenes Symbol für das wachsende Selbstgefühl auch des englischen Volkes, das einen Widerspruch in dieser Zueignung eines stammfremden Helden noch immer nicht empfindet. Die Artusverehrung dringt jetzt in weite Kreise und findet vielfachen Ausdruck 39 . Die Wissenschaft hat dagegen einen schweren Stand. Um so mehr, als sie zunächst nur einreißt, nicht aufbaut, an die Stelle der falschen Tradition, die sie entwertet, nicht sofort einen echten Wert einsetzen kann. Für diesen Aufbau kann erst allmählich, in mühevoller Einzelarbeit das Material und die Methoden, es zu bearbeiten, gewonnen werden, im Zusammenarbeiten aller Kreise, die an den „Altertümern", den „Antiquities" interessiert sind, der Ceographen, Historiker, Philologen und Juristen, und im Ineinandergreifen der Forschungsarbeit aller großen europäischen Völker. Große Erkenntnisse und grobe Mißgriffe liegen in dieser Pionierzeit der Wissenschaft nahe beieinander. Für die Behandlung des Angelsachsenproblems werden zwei Ereignisse von großer, sehr verschiedener Bedeutung. Das erste ist ein echter, das zweite ein fingierter Fund. Bereits im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts wird Tacitus „Germania" wiederentdeckt. 1470 erscheint in Venedig die erste gedruckte Ausgabe. Die schnelle Folge weiterer Drucke zeigt das allgemeine Interesse an dem Werk. Für die Engländer hat der Fund noch eine besondere Bedeutung: über die alten Briten war man — ganz abgesehen von der Sage — durch Cäsars „bellum Gallicum" gut unterrichtet gewesen, jetzt gewann man eine noch viel eingehendere Kenntnis über die germanischen Vorfahren. Auch zur Stammesgeschichte trug die „Germania" einiges bei. Hier findet man zum erstenmal die Angeln genannt, wenn auch in einer aufreizenden Unbestimmtheit, die der Forschung bis auf den heutigen Tag zu schaffen macht. Hier findet man dagegen die Sachsen n i c h t genannt, was — wenn auch in anderer Weise — nicht weniger anreizend gewirkt hat. Die Kenntnis der Länder nördlich der Alpen wird durch diese und andere Funde um Jahrhunderte nach rückwärts erweitert; aber für das Verlangen nach dem Wissen um die Vorgeschichte noch lange nicht weit 3 9 Sie 6pielt z. B. eine große Rolle in den Pageants bei dem berühmten Fest von Kenilworth. — Vgl. die schon genannte ausgezeichnete Darstellung in Ch. B. Milligans „Spenser and the Table Round", mit dem Untertitel „A Study of the Contemporaneous Background for Spenser'g Use of the Arthurian Legend".

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genug. Man hatte ja den festen Ausgangspunkt für die Völkergeschichte in der Sintflut und der Sprachverwirrung am Turm zu Babel. Es blieben aber nach den Berechnungen, die die christlichen Ethnographen angestellt hatten, für die nördlichen Länder noch weite, unausgefüllte Zeiträume. Die Hoffnung, hierüber auch noch etwas zu erfahren, konnte nicht so unberechtigt erscheinen in einer Zeit, wo so viel verloren geglaubte Werke wieder ans Tageslicht kamen. Warum nicht etwas nachhelfen, wenn sie nicht freiwillig erscheinen wollten? Die Gelegenheit für Fälschungen war einzigartig. In großartigster Weise wurde sie benutzt von Annius von Viterbo. Er produzierte unter dem Titel „Antiquitatum varium libri X V I I " im Jahre 1512 gleich eine ganze Reihe von Werken, von denen bisher nur ein Teil oder Fragmente bekannt waren, genauer einen angeblichen Auszug der Werke, den er dann auch gleich mit einem umfangreichen Kommentar versah. Man kann sich nach Gefallen ein mehr oder weniger grimmiges Lächeln oder Schmunzeln vorstellen, mit dem er den traditionsgeheiligten „locus" des Prooemiums schrieb: „omatum vero, et elegantiam non profiteor: sed solam et nudam veritatem 40 ." Für die germanische Vorgeschichte kommt die Fälschung des Berosus in Frage, des babylonischen Historikers aus der Zeit Alexander des Großen, und hier besonders der Bericht über die Nachkommen des Japhet. Annius' Verfahren ist sehr einfach: er kombiniert die heue Kenntnis, die man aus Tacitus von der eigenen Ursprungssage der Germanen hat, mit der auf der Genesis beruhenden, schon bei Josephus 41 ausgeführten Überlieferung von der Teilung der Erde unter die drei Söhne des Noah, allerdings mit einer gewissen Abänderung: er macht den Tuisto des Tacitus zu einem Riesen, den Noah nach der Sintflut erzeugt hat, und zum Stammvater der Germanen und Sarmaten. Der Name „Berosus" erscheint von da an bis in» 17. Jahrhundert hinein in so gut wie allen Werken, die sich überhaupt mit der Urgeschichte befassen. Nur selten allerdings wird der Inhalt unbesehen angenommen — in England z. B. in Holinshedfi Chronik —, oft wird er, und zwar dann meist mit Berufung auf eine historische Autorität —, abgelehnt, öfter wohl noch mit leisem Zweifel zitiert. Die Unsicherheit wird begreiflich, wenn man bedenkt, daß die Grundlage, von der Annius in seinen Phantasien ausging, ja allgemein anerkannt war. Wenn nicht die sämtlichen Gestalten des „Berosus", 60 erscheinen doch Japhet und sein Sohn Gomer vom 16. Jahrhundert an regelmäßig als Ahnherren der europäischen Völker. Es tritt also an die Stelle der antiken Abstammungstradition zunächst die biblische. Ansätze zur Kritik der Brutussage finden sich bereits im 15. Jahrhundert. Schon damals hatte eine Reihe von Engländern aus Italien Abschriften von Büchern, Kenntnis der klassischen Sprachen und vor allem 40 41

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a. a. 0 . Fol. I. Antiq. Jud. 1. I c. V/VI.

den Geist der Forschung mitgebracht. Unter ihnen war Whethamstede, Abt von St. Albans, der in seinem „Grannarium" das Wissen dieser frühhumanistischen Zeit in Lexikonform niederlegte. Hier wird unter dem Stichwort „Bmtus" gesagt, nach den „historias Britonum" stamme dieser Brutus von Ascanias ab, nach anderen glaubwürdigen Historien aber sei „totus processus de Bruto isto poeticus potius quam historicus 42 ". Whethamstede stirbt 1465. Der Humanismus kommt zur Blüte in England erst um 1500, in dem Kreis von Thomas More. Seine Geschichte Richards des Dritten ist das erste und für lange Zeit an Qualität nicht wieder erreichte Erzeugnis der modernen Geschichtsschreibung in England. Aber die umfassende Landesgeschichte aus dem neuen historischen Geist schrieb hier wie in Frankreich ein Ausländer, ein Italiener: Polydore Vergil aus Urbino, der als Collector des Peterspfennigs viele Jahre in England gelebt hatte und bereits von Heinrich VII. mit der Abfassung der Landesgeschichte beauftragt worden war. Nach sorgfältiger Vorarbeit erschienen die ersten 26 Bücher der „Anglicae historiae" in Basel 1536 43 . Daß er als Ausländer an seinem Stoff gefühlsmäßig nicht beteiligt sei, wird ihm von den zeitgenössischen Gegnern vorgeworfen, von ihm selbst aber als Vorteil empfunden. Er spricht das ganz offen aus: „amorem patriae suos interdum autores spoliasse iudicio—; id quod in nos cadere non potuit." Schon diese gleich zu Anfang in der Widmung an Heinrich VIII. stehende Stelle hätte ihn vor dem Vorwurf späterer Kritiker bewahren sollen, daß er aus Respekt vor den Tudorkönigen und ihrer walisischen Herkunft die britische Vorgeschichte nicht restlos beseitigt hätte 44 . Er bringt sie noch, denn sie gilt ja allgemein noch als echte Historie, aber er bringt sie in einer Form, die diese Geltung eben doch aufhebt. Er arbeitet mit der quellenkritischen Methode, die in der Schule des Bruni und des Blondus entwickelt worden war. Der Hauptgrundsatz ist das Zurückgehen auf die ältesten Quellen. So knüpft Polydore Vergil an Beda und Gildas, den er selbst neu entdeckt und ediert hat, und für die Zeit des römischen Britanniens an Cäsar und Tacitus an. Von hier aus erscheint die ganze Britengeschichte, die zum erstenmal Jahrhunderte später bei Geoffrey von Monmouth auftritt, als „nova historia", an deren geschichtliche Wirklichkeit nur das „vulgus" glauben kann. Ihr will er die entsprechenden Angaben aus den echten alten Historien entgegenhalten, „idcirco percurremus vilas regum, quos ista nova historia repenti 4 2 Die Kritik ist abgedruckt in Camdens „Britannia", Ed. 1590, S. 7, aber ohne genaue Stellenangabe. Sie steht Ms. Cotton Nero C 6 p. 33. Ich verdanke diese Feststellung der freundlichen Hilfe von Miss Doris Hall. Whethamstedes Ruf als Kritiker der Sage war Matter bekannt, doch hatte er dessen nur im Ms. vorhandenen Schriften nicht ausfindig machen können. (S. 546, Anm. 25.) — Vgl. jetzt über Whethamstede die Forschungsergebnisse Schirmers in seinem Buch „Der englische Frühhumanismus". Leipzig 1931. 4 3 Hier zitiert nach der Ausgabe Basel 1570. 4 4 Über Polydore Vergils Verhältnis zur historischen Sage siehe Matter S. 552 ff.

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et uno quasi partu genuit, in lucemque edidit 4B ". Die Darstellungsform, die sich dabei ergibt, ist ein Mittleres, zwischen der Erzählung der populären Chroniken und der wissenschaftlichen Untersuchung der späteren antiquarischen Werke. Der Wandel liegt aber tiefer als nur in der Form. Das Interesse ruht nicht mehr vorwiegend auf der Erzählung im Sinne der Unterhaltungslektüre, nicht auf den interessanten Vorgängen als solchen, sondern auf ihrer historisch-politischen Bedeutung. Das wird besonders klar gerade bei der Darstellung des Kommens der Angelsachsen. Seit Geoffrey von Monmouth haben wir hier die Hengist-Vortigern-Rowena-Erzählung, vor deren romanhaften Einzelheiten der historische Kern verschwindet. Der Übergang der Herrschaft an ein anderes Volk wird verwischt. Bei Polydore Virgil ist dieser Wechsel der „Regna" stark betont, nicht so sehr in der Erzählung selbst als in geschichtsphilosophischen Bemerkungen, die er den einzelnen Büchern voran- oder nachsetzt. Trotzdem ist ihm die Geschichte, die er schreibt, eine Einheit. Es ist die Geschichte „Britanniae, quae nunc Anglia est 4 6 ", d. h. die Geschichte der Menschen, ihrer staatlichen Ordnung, ihres Wirkens, in einem bestimmten Land. Das „imperium", die geordnete Herrschaft, die zugleich die Freiheit verbürgt, bleibt — die Träger des Imperiums, die „regna", wechseln, denn sie sind dem Naturgesetz des Wachsens und Vergehens unterworfen. Am deutlichsten kommt diese Auffassung zum Ausdruck im Prooemium zum 4. Buch, wo der Übergang vom britischen zum angelsächsischen „regnum" geschildert wird 47 . „Perveni ad occasum regni Britannorum, quod ab exiguis inchoatum prineipiis, postquam ad rerum fastigium evectum, ac armis, legibus, religione, consilio stabilitum fuerat, ad ultimum pariter cecidit, atque Assyriorum, Medorum, Persarum, Macedonum, et Romanorum olim ingentia regna interiere. Adeo iuxta homines et quae hominum sunt morti debentur. Verumtamen rerum naturae vis, ut ne infesta nimis videatur, talis est quae quantum mortalibus uno loco adimit, tantum iis alibi soleat nonnunquam referre, pariaque paribus respondere, ac saepe amplius accumulare. Excidit enim Troja, postea Trojani perfugi condidere Albam: ex Alba Roma est. Sic victis Britannis, ne insula libertate et imperio carcret, Anglorum prineipatus quasi recentior naturae partus in ea esse coepit, crevitque summis opibus." Unter dem Gesichtspunkt des allmählichen Emporwachsens zu einem einheitlichen Imperium wird dann auch die ganze angelsächsische Geschichte gesehen. Im Rückblick auf sie wird, im Prooemium des 6. Buches, direkt der Vergleich mit dem Leben der einzelnen Menschen gezogen, „nam ut homo primum vitam vivere ineipit, deinde adolescit, deinde iuventutis florem se induit et postremo senescit, ita regna ineipiunt, a. a. O. S. 19, Z. 13. In der Widmung an Heinrich VIII. Ähnliche Ausdrücke noch wiederholt. 4 7 a. a. O. S. 62, Z. 11 ff. — Ähnlich im Rückblick auf das ags. „Regnum" itn Prooem. d. 6. Buches. 40

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crescunt, florent et ultimum cadunt 48 ". Die Infantia der angelsächsischen Herrschaft rechnet er bis Hengist, die adolescentia bis Egbert, die aetas virilis bis zu Eduard dem Märtyrer. Dann kommt das Alter und, wider alle Hoffnung, eine nochmalige Verjüngung durch die Normannen 49 . So wird die angelsächsische Zeit deutlich als eine besondere Periode in der Gesamtgeschichte herausgehoben, aber ein Interesse für das Volk, das der physische Träger dieses „regnum" ist, als solches zeigt sich noch nicht. Vergil greift nicht zurück auf dessen Vorgeschichte auf dem Kontinent, obgleich er die Germania kennt und zitiert 50 . Dies Schweigen fällt um so mehr auf, als er die Sitten und Institutionen der Briten ausführlich beschreibt 51 und lange Betrachtungen über die Herkunft der Dänen anstellt, die er mit den Dacem gleichsetzt 52 . Des Saxo Grammaticus Dänengeschichte, die unter dem Titel „Danorum regum heroumque historia" 1514 in Paris erschienen war, kennt er nur von Hörensagen, wie sich aus der Bemerkung ergibt: „Quare scriptores illi dubio procul errant, qui in suis historiis eiusmodi Oceani accolas Danos pro Dacis ponunt. In hac haeresi cum primis est Saxo Grammaticus eius gentis recens rerum gestarum scriptor, si codex formis excusus non est mendosus." Zum Vordringen in die germanische Vorgeschichte fehlen eben noch die Hilfsmittel. Polydore Vergil hatte Angriffe auf sein Geschichtswerk vorausgesehen. Sein Hinweis auf die Überzeugungskraft seiner Argumente und sein Appell an die Einsicht seiner Leser hatte nicht sofort Erfolg. Am heftigsten wehrten sich begreiflicherweise die Waliser um ihre ruhmreiche Vorgeschichte. John Price, eigentlich ap Rice, schrieb z. B. eine „Historiae Britanniae Defensio". Aber auch die Engländer wollten sich die Helden der Vorzeit, besonders Arthur, nicht nehmen lassen. John Leland, Heinrichs VIII. Bibliothekar und Antiquar, veröffentlichte neben anderen Schriften zur Britengeschichte eine regelrechte Biographie Arthurs. Aber die Wirkung des wissenschaftlichen Angriffs auf die Sage blieb doch auf die Dauer nicht aus. Auch an den populären Chroniken der 2. Hälfte des Jahrhunderts macht sie sich bemerkbar. Die Verfasser können schon ihres Zweckes halber die bekannten und interessanten Erzählungen nicht in Bausch und Bogen aufgeben, aber sie kennen die Einwände der Gelehrten und werden, je weiter sie gegen das Ende des Jahrhunderts kommen, um so unsicherer. Sie stehen den Schwierigkeiten, die die a. a. 0 . S. 108, Z. 15 ff. Von dieser Auffassung aus ist vielleicht der ganze Aufbau des Werkes zu sehen und die Gliederung nach den „regna" der einzelnen Könige von Wilhelm dem Eroberer an nicht als äußerlich zu verurteilen, wie z. B. in Fueters „Gesch. d. neueren Historiographie". 6 0 S. 56, Z. 3. Merkwürdigerweise nur mit der Bemerkung, daß Tacitus den Namen der Angeln nenne, ihn aber dreisilbig behandele: Anglios. 6 1 S. 26. Z. 23 ff. w S. 96, Z. 17. 48

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wissenschaftliche Forschung aufgedeckt hat, hilflos und resigniert gegenüber. Am Schluß der Vorrede bei Holinshed heißt es: „It is not a work for every common capacity, nay it is a toil without head or tail even for extraordinary wits, to correct the account of former ages so many hundred years received, out of uncertainties to raise certainties, and to reconcile writers dissenting in opinion and report. But as thi6 is impossible so is no more to be looked for than may be performed: and further to inquire against reason, so to undertake more than may cominendably be achieved, were foul folly 53 ." Die „extraordinary wits" blieben aber trotz dieser trüben Beurteilung ihrer Bemühungen eifrig bei der Arbeit. Das 16. Jahrhundert bringt für England einen großen Aufschwung der Altertumsforschung. Dies Interesse für „antiquities", wie der Ausdruck der Zeit lautet, hat verschiedene Wurzeln. Einmal kommt Anregung von außen, durch die Werke der italienischen Antiquare, wie Blondus, und anderer kontinentaler Gelehrter. Aber auch die Verhältnisse in England selbst lenken die Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit. Gerade der tiefgehende Wandel auf den verschiedensten Gebieten weckt — eben weil er so viel Geschaffenes zerstört oder gefährdet —, den Sinn für den Wert der „Denkmäler" im weitesten Sinne. Man interessiert sich lebhafter als früher für alte Bauwerke, deren Entstehung man kennen möchte, für alte Handschriften, deren Sprache man zu verstehen sucht, für althergebrachte Institutionen schließlich, deren Anfänge im Dunkel liegen. Zuerst sind es Bemühungen Einzelner; als aber das Interesse in weitere Kreise dringt, wird ein Sammelpunkt für die Arbeit geschaffen in der „Society of Antiquaries", die 1572 unter dem Protektorat von Erzbischof Parker gegründet wird und besteht bis 1604, wo 6ie, geschwächt durch den Tod mehrerer bedeutender Mitglieder und gehemmt durch das Mißtrauen Jacobs I., ihre Sitzungen einstellt. Derjenige aus diesem Kreise, der umfassendes Wissen auf allen Gebieten der Altertumsforschung, dem topographischen, historischen, sprachlichen, juristischen verbindet mit der Fähigkeit, die Einzelkenntnisse zu verarbeiten und darstellend zu Verwerten, ist William Camden. Auf ihn beziehen sich die späteren immer wieder, meist in Anerkennung, selten in Ablehnung seiner Ansichten, die daher, soweit sie für das Germanen-Problem wichtig geworden sind, hier besprochen werden müssen. Camden, geboren 1551 in London, war von 1575 bis 1593 Lehrer — erst „Usher", zuletzt Headmaster — der Westminster Schule, dann bis zu seinem Tode 1623 Clarenceux King of Arms. Als „learned Clarenceux" wird er des öfteren zitiert. Er hatte sich von früher Jugend an für die „Antiquitates" seines Vaterlandes interessiert, und so war ihm sicher die Anregung seines älteren Zeitgenossen Ortelius — des bekannten Geographen und Herausgeber des ersten modernen Atlas •— sehr will63

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Schluß der Vorrede des historischen Teils, von Abraham Fleming.

kommen, der ihn aufforderte, eine Beschreibung Britanniens zu liefern, ähnlich der, die Flavius Blondus in seiner „Italia Illustrata" gegeben hatte 5 4 . Nach zehnjähriger Vorarbeit, die ausgedehnte eigene Wanderungen durchs Land, Erlernung der alten Sprachen und Durcharbeiten der alten Schriftsteller umfaßte 5 5 , konnte er 1586 das fertige Werk unter dem Titel „Britannia sive Florentissimorum Regnorum Angliae, Scotiae, Hiberniae et insularum adjacentium ex intima antiquitate chorographica descriptio" herausgeben 56 . Seiner Anlage nach hat es eine gewisse Ähnlichkeit mit einem modernen Reisehandbuch. Den Haupteil bildet die geographische Beschreibung des Landes, geordnet nach Grafschaften, mit zahlreichen eingestreuten historischen Notizen. Voran geht eine ausführliche Einleitung; hier wird zuerst eine kurze Übersicht über Größe, Lage, Klima gegeben, dann werden die Fragen der Ureinwohner und der Bedeutung des Namens „Britannia" behandelt, darauf die einzelnen Volksstämme nach der Reihenfolge ihrer Einwanderung: Briten, Römer, Picten, Scoten, Angelsachsen, Dänen, Normannen. Den Schluß bildet ein Überblick über die ständische Gliederung, die kirchliche und weltliche Verwaltung des derzeitigen England. Die Liebe zum Vaterland hat Camden, wie er in der Widmung an die Leser sagt, die Scheu vor der übergroßen Aufgabe überwinden lassen. „Patriae gloriae, quantum in me sit, deesse nolui." Die Basis dieses Vaterlandsbegriffes bildet — wie eingangs bei Beda — die geographische Einheit der britischen Inseln. Aber stärker al6 bei Beda verbindet sich damit die Vorstellung einer Einheit auch der Bewohner, nicht mehr einer nur kirchlichen, sondern auch einer politischen, in der Zukunft liegend auch jetzt noch, aber anscheinend in einer nicht allzu fernen. Die Vereinigung mit Schottland spielt in der damaligen Diskussion, bekämpft wie befürwortet hüben wie drüben, eine große Rolle, und Irland scheint nach schweren Kämpfen der englischen Herrschaft endgültig unterworfen: Daß die Volksunterschiede innerhalb dieser Einheit sich für Camden nicht verwischen können, ist der ganzen Art'seiner Forschungsarbeit nach selbstverständlich. Die Angelsachsen sind ihm „gens nostra 5 7 ", aber er will keines der Völker, die das gemeinsame Vaterland bewohnen, zurücksetzen oder kränken. „Gentem nullam in calumniam rapui, nullius fidem imminui." Im völkerkundlichen Abschnitt der Einleitung nehmen aber die Briten noch immer den breitesten Raum ein. Die Frage des trojanischen Ursprungs wird noch sehr vorsichtig behandelt, dem Leser formell noch die Entscheidung überlassen. Allerdings läßt er keinen Zweifel, daß er selbst an die Brutussage nicht mehr glaubt. Dafür betont er, hier und an anderen Stellen 5 8 , ihre h i s t o r i s c h e n Heldentaten : daß sie 64 55 66 87 58

Flavius Blondus: Italia Illustrata. Verona 1482. Vgl. Widmung an Lord Burghleigh. Hier zitiert nach der Ausgabe Frankfurt 1590. S. 66. Besonders in „Remains concerning Britain", 1605; benutzte Ausgabe 1634.

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als einziges europäisches Volk sich tapfer gegen die Dänen und später nach dem Zusammenbruch des Römerreiches gegen die Barbaren gewehrt hätten. Eine ausführliche Schilderung der britischen Sitten und Einrichtungen war vorgesehen. In der ersten Ausgabe fehlt sie, da Camden damals noch auf die Mitarbeit eines Spezialforschers, seines Freundes Daniel Rogers, hierfür hoffen konnte; in späteren Auflagen, nach Rogers Tode, füllte er selbst die Lücke aus. All diesem gegenüber wirkt das, was Camden über die „Anglo-Saxones" zu sagen hat, recht dürftig. Namen und Herkunft leitet er, mit den „gelehrtesten „Deutschen", von den „Sacae" ab, einem asiatischen Volk, das schon Herodot erwähnt. Damit ist zugleich die Stellung zu den Briten gegeben: Nach Camden ist Britannien zuerst von den Nachkommen Gomers besiedelt worden. Dafür beruft er sich natürlich nicht auf Berosus, dessen Anhänger er „tenebriones et impostores" nennt, sondern auf die Bibel, Josephus und unter den Neueren auf das „lumen eruditionis", Scaliger. Ein unabhängiger Beweis ist ihm außerdem die Sprachähnlichkeit zwischen „Corner" und „Cymri", dem Namen, mit dem die Briten sich selbst bezeichnet haben. Von diesem Gomer stammen ja letzten Endes alle europäischen Völker, also auch die Sachsen ab; dadurch aber, daß er die Sachsen von den Sacae abstammen läßt, die noch länger in Asien gesessen haben, wird die Verwandtschaft zwischen ihnen und den Briten auf den Urvater zurückgeschoben. In bezug auf die Sitze der verschiedenen Stämme vor der Überwanderung folgt Camden Beda. Außerdem bringt er die ganze noch ungedruckte, einschlägige Stelle au6 Procop über die Beteiligung der Friesen. Für die Sitten6childerung zieht er außer Tacitus mehrere Schriftsteller heran, wobei er zwischen den Sachsen und anderen germanischen Stämmen und zwischen Berichten, die jahrhundertelang auseinander liegen, keinen Unterschied macht. Diese methodischen Mängel machen sich noch störender bemerkbar bei späteren Schriftstellern, die sich wirklich bemühen, ein Bild von der Lebensweise der Vorfahren zu gewinnen. Bei Camden handelt es sich nur um kurze Belege für einzelne Eigenschaften, besonders Tapferkeit und Wildheit, und einige Angaben über „superstitiones". Diesem nur wenige Seiten umfassenden Abschnitt folgen einige Bemerkungen zur Geschichte der angelsächsischen Zeit. Camden schließt aus der Erwähnung eines „imperium" bei Beda 5 9 , daß es über der Heptarchie immer eine Art Monarchie gegeben habe, schon vor der Vereinigung der Teilreiche durch Egbert. Außerdem erwähnt er die schnelle und inbrünstige Bekehrung der Angelsachsen zum Christentum und ihre Missionstätigkeit in Deutschland. Daß die Angelsachsen gegenüber den Briten in der Betrachtung noch 6 9 1. II. c. V. Wenn Ethelbert hier „tertius in regibus gentis Anglorum" ist, der das „imperium" inne gehabt habe, so heißt da;, als dritter unter den Königen aus angelsächsischem Geschlecht. — Camden faßt es als Titel: „rex gentis Anglorum" auf. S. 73.

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so zurückstehen, liegt zum Teil am Stand der Forschung. Besonders deutlich ist das auf dem Gebiet der Sprachforschung. Unter den Sprachen, die er als Hilfswissenschaft, als „subsidium" betrieben hat, nennt Camden in der ersten Auflage der „Britannia" n u r das Britische, nicht das Angelsächsische. F ü r das Britische gab es bereits seit 1547 das walisische Wörterbuch von William Salisbury, auf Grund dessen Camden seitenlange Gegenüberstellungen britischer und „gallischer" Wörter (d. h. von antiken Autoren überlieferter gallischer Namen) bringt. Lexikalische Arbeiten f ü r das Angelsächsische waren allerdings auch bereits im Gange, aber es war noch nichts im Druck erschienen. Der Fortgang der Forschung läßt sich an den weiteren Ausgaben der „Britannia" verfolgen. Seit 1607 wird unter der „subsidia" auch das Angelsächsische genannt, und die neue Kenntnis tritt an zahlreichen Stellen des Textes hervor. So wird etwa jetzt als gemeinsamer Name des Volkes außer „ Angli" und „Saxones" nun auch „Englatheod" genannt 6 0 . Zum Teil liegt die geringere Beschäftigung mit dem Germanischen zweifellos auch an einem noch mangelnden Interesse. Die „Germania" stand als Quelle f ü r die germanische Sittengeschichte immerhin so gut zur Verfügung wie Cäsar, und der „Agricola" f ü r die britische. Erst durch den stärkeren Kontakt mit der kontinentalen Sprach- und Vorgeschichtsforschung wird auch das Interesse der Engländer auf diese Seite ihrer Gesamtgeschichte gelenkt. Die Bedeutung von Camdens „Britannia" f ü r die Entwicklung des Angel-Sachsen-Problems liegt weniger in dem, was er an Neuem dazu bringt, als darin, wie er den Stoff anfaßt. In seiner Vorrede an den Leser spricht er die Befürchtung aus, daß man seinem Buch „horridulam et incomptam orationem" vorwerfen werde. Es ist dies mehr als die traditionelle rhetorische Bescheidenheitsphrase. Camden erkennt richtig, daß .,hoc argumenti genus" sich für rhetorische Behandlung nicht eignet. Mit der Herausnahme des Stoffes aber nicht n u r aus den Stilforderungen, sondern aus der ganzen rhetorischen Zielsetzung fällt der Zwang zur wirksamen u n d damit zur einheitlichen Darstellung fort. Der Verfasser darf sich darauf besinnen, „unitatem veritati consecratam esse"; die Probleme treten in ihrer Vielseitigkeit und Schwierigkeit hervor und können jedes f ü r sich mit allen wissenschaftlichen Mitteln angefaßt werden. Damit ist die Geschichte der germanischen Besiedlung Britanniens aus ihrer Verstrickung in das Netz der britischen Sagenbildung endgültig gelöst. Natürlich blieb das Bedürfnis nach einer gut lesbaren, f ü r weite Kreise bestimmten Gesamtdarstellung der englischen Geschichte bestehen, die nur eben auf Grund der neu erarbeiteten Tatsachen und neuen Auffassungen neu zu schreiben war. Sowohl Camden wie dem gelehrtesten aus dem Kreis der Antiquare neben ihm, Seiden, wird die Absicht zuge60

Vgl. ed. 1590, S. 69 und ed. 1607, S. 94.

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schrieben, sich dieser Aufgabe zu unterziehen. Daß sie es beide nicht taten, liegt wohl daran, daß sie zu gut um die Schwierigkeiten einer solchen Aufgabe wußten. Seiden gab zwar tatsächlich einen Abriß der ältesten Geschichte heraus unter dem Titel „Analecton Anglobritannicon 61 "; in seinem gewundenen Latein und schwerfälligen scholastischen Humor konnte das kleine Buch aber nur für Gelehrte verständlich sein. Die Aufgabe übernahm schließlich ein anderer aus dem Kreis der Antiquare, der nicht so stark mit Gelehrsamkeit beschwert war: John Speed 62 . Er war Mitglied der Schneiderzunft gewesen und hatte das Handwerk wohl auch wirklich ausgeübt, denn er spricht einmal Fulke Greville, einem der adligen Gönner der zur Hauptsache bürgerlichen Gelehrten seinen Dank aus, daß er ihn von der Notwendigkeit der „manual labour" befreit und ihm Muße für wissenschaftliche Arbeit verschafft habe. In seinen Interessen war Speed, wie Camden, von der Topographie ausgegangen. Er hatte die Karten für Camdens „Britannia" gezeichnet, und auch sein eigenes großes Werk besteht aus einem „chorographischen" und einem „historischen" Teil. Diese „History of Great Britain 63 " beruht nicht auf Originalforschungen Speeds. Für die alte Zeit schließt er sich Camden an, soweit dieser den Stoff behandelt hatte. „Learned Clarenceux, that brightest lamps to all Antiquities" ist das Licht, dem er für die britische Seite folgt. Für die germanische lag ihm bereits neues Material aus kontinentalen Veröffentlichungen vor, das in seiner ersten englischen Fassung im Buch von Yerstegen zu besprechen sein wird. An Speeds Werk interessiert hauptsächlich, in welcher Anordnung und Auffassung der Stoff nunmehr breiteren Schichten des Volkes dargeboten wird. Inzwischen ist durch die Personalunion die Einheit von England und Schottland zum mindesten in der Person des Königs hergestellt, und der großbritannische Gedanke, bei Camden noch im Hintergrund, wird hier nun zum Prinzip der ganzen Darstellung. Dies zeigt schon der Titel „History of G r e a t B r i t a i n", das zeigt noch deutlicher die Widmung an Jacob I.: „Iniarger and Uniter of the British Empire: Restorer of the British Name." Seine Absicht ist, „historically to,lay down the Originals of these N a t i o n « , and Successions of these M o n a r c h s , which either by birth -or by conquest have acquired to the Imperiall Crowne." Die Geschichte des Landes wird hier also gesehen als die eines „Imperiums" von Anfang an, wobei das Wort nicht, wie bei Polydore Vergil, im Sinne staatlicher Ordnung, sondern im Sinne der Oberherrschaft eines Monarchen über untergeordnete Herrscher gesehen wird. Auch für die angelsächsische Zeit wird eine fortlaufende Reihe solcher „Monarchen" angenommen und der historische Stoff unter ihre Regierungszeit aufgeteilt, eine irreführende Vereinfachung, an der offenbar Bedas Gebrauch 61 82 83

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London 1615. Vgl. Dict Nat. Biogr. 1. Ausgabe London 1611. Hier zitiert nach Ausgabe 1650.

des Wortes „imperium" und Camdens Hinweis auf die „Monarchia" Schuld war, und von der die englische Geschichtsschreibung erst im 18. Jahrhundert wieder loskam. Speed läßt sich außerdem durch die bestechende Vorstellung einer von ältesten Zeiten her ununterbrochenen „Succession of Monarchs" dazu verführen, nicht nur die britischen Fürsten des Geoffrey sämtlich erscheinen zu lassen, — wenn auch unter dem Vorbehalt, daß hier Wahrheit mit Falechheit gemischt sei — sondern für die Provinzialzeit auch die römischen Kaiser, gleichgültig, ob sie etwas mit Britannien zu tun gehabt haben oder nicht. Dadurch kommt unendlich viel Stoff in die Darstellung, der dem Thema ganz fremd ist. Außerdem schreibt Speed in dem gekünstelten Stil, der der elisabethanischen Prosa auch da eigen ist, wo sie nicht „euphuistisch" im engeren Sinne ist. Ein Satz aus der Einleitung des 7. Buches, das von der Herkunft der Sachsen, handelt, mag das zeigen. „As times decayed Ruine» have stopped the passages of these small Springs, issued from the first Fountain of Nation« beginnings and have diverted their streames farre from any sure course or certain known Heads; so the originall parent, place and name of our English Saxons have been written with a penne of slight upon the leaves of oblivion 64 ." Speed war seiner schwierigen Aufgabe nicht völlig gewachsen. Er verfügte wohl über das historische Wissen der Zeit, hatte aber nicht Gestaltungskraft genug, um es in angemessene Form zu bringen. Es war kein geringerer als Milton, der eine Generation später die Aufgabe von neuem angriff. Um die Stellung seiner „History of Britain", die Ende der vierziger Jahre geschrieben, wenn auch erst 1670 veröffentlicht wurde, zu verstehen, müssen wir zunächst den Verlauf der Altertumsforschung in der Zwischenzeit verfolgen. Die Hauptanregung kam, wie schon erwähnt, vom Kontinent. Hier hatte im Anschluß an die humanistische Bewegung das Studium der klassischen, aber auch schon der modernen Sprachen und im Zusammenhang damit der Völkerbewegungen einen lebhaften Fortgang genommen. Namentlich die Niederlande waren zu einem Zentrum des philologischen Studiums geworden. Bei den Schwierigkeiten im wissenschaftlichen Verkehr, der noch immer wie zur Humanistenzeit zum größten Teil rein persönlicher Art war, dem Mangel an öffentlichen Bibliotheken, selbst in London, war es von großer Bedeutung für den Fortgang der englischen Wissenschaft, daß ein persönlicher Kontakt mit den Gelehrten des Kontinents hergestellt wurde. Das geschieht — und zwar nicht nur einmal — auf unerwartete Weise, nämlich durch Emigration. Zur selben Zeit, wo Camden im Magdalen College, Oxford, seinem Studium nachgeht, befindet sich in Christ Church ein Student, der sich Rowlands nennt, eigentlich aber Verstegan oder Verstegen heißt, Enkel eines um 1500 eingewanderten Niederländers. Interessiert für die Frühgeschichte seines Adoptivvaterlandes, beschäftigt er sich als einer der ersten mit der altenglischen Sprache, angeregt vermutlich durch die 64

S. 286. 29

Publikation eines Aelfric-Bruchstückes durch Erzbischof Parker 1566 oder 1567. Rowlands kann jedoch als Katholik keinen Grad erwerben, geht auf den Kontinent nach Antwerpen und wird dort Buchdrucker und Kupferstecher. E r bleibt aber in Kontakt mit England, d. h. hauptsächlich mit den katholischen Emigranten. Wegen des Druckes einer Schrift über die Katholiken-Verfolgungen wird er sogar eine Zeitlang in Paris auf Veranlassung des englischen Gesandten eingekerkert. Dabei scheint er von einer unausrottbaren Liebe zu seinem zweiten Vaterland beseelt gewesen zu sein. Das erweist das Buch, das Verstegen Jacob I., von dem sich die Katholiken viel versprachen, gleich nach dessen Thronbesteigung 1605 widmet, unter dem Titel „Restitution of Decayed Intelligence in Antiquities concerning the most noble and renowned English Nation 6 5 ." Schon die Widmung deutet auf eine neue Auffassung der englischen Geschichte h i n : die Tudorkönige waren auf ihre b r i t i s c h e Abstammung stolz gewesen, Speed nennt Jacob I. „Uniter of the British Empire and Restorer of the British Name", Verstegen dagegen spricht ihn an als „descended of the chiefest blood-Royal of our ancient E n g l i s h S a x o n K i n g s " . In der Vorrede, gerichtet an „the most Noble and Renowned English Nation", verteidigt er sich gegen den möglichen Vorwurf, daß sein Buch nach soviel Veröffentlichungen gelehrter Antiquare unnötig sei. Was er bringe, sei aber „extraordinary and unrecorded". Die Menschen hörten von Natur gern von der Würdigkeit ihrer Vorfahren und die Nationen bemühten sich, ihre „beginnings" aufzuhellen. Nun sei es aber sehr merkwürdig, „how divers of our English Writers have been as laborious and serious in their discourses of the Antiquities of the Britains, as if they properly appertained unto English-men, which in no wise they do, or can do, for that their off-springs and descents are wholly different". Es liegt ihm fern, die Briten herabzusetzen, aber die Nichtunterscheidung f ü h r t zur Vernachlässigung der e n g l i s c h e n Vorgeschichte. „Through the lack of distinction between the two nations (an oversight, which the Britains in their account of us will never commit) our true original, and honourable antiquity lieth involved and obscured, and we remaining ignorant of our true Ancestors, understand our descent otherwise than it is." Den Nachkommen der B r i t e n m u ß es lächerlich erscheinen, d a ß die Engländer von ihnen eine Ehre borgen, die sie doch von niemanden in der Welt zu borgen nötig haben, denn „the Germans" — die Bedeutung des Begriffs schwankt, wie wir sehen werden, zwischen „Deutschen" und „Germanen" — sind „an highly renowned and most honourable nation 6 6 ", hauptsächlich aus drei Gründen: sie haben von Anfang an in ihrem Lande gesessen — sie sind nie besiegt worden, selbst von den Römern nicht — sie haben sich nie mit anderen Völkern gemischt, auch nicht in ihrer Sprache. Die Engländer über diesen ihren wahren Wert und ehrenvollen Ursprung aufzuklären, ist der Zweck seines 06

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London 1605, zitiert nach Ausgabe London 1673. S. 47/48.

Buches. Er spricht im 1. Kapitel „of the Original of Nations and consequently of that Nation, from which English Men are undoubtedly descended", im 2. davon, „how the ancient Noble Saxons the true Ancestors of English-Men were Originally a people of Germany: and how honourable it is for English-men to be descended from the Germans". Das 3. Kapitel gibt eine Beschreibung Britanniens und eine Übersicht über die angelsächsische Periode von der Überwanderung bis zur normannischen Eroberung. In den letzten 4 Kapiteln, die fast die Hälfte des ganzen Buches ausmachen, behandelt Yerstegen die englische Sprache. In seinen Anschauungen über den letzten Ursprung der Völker kommt er über seine Vorgänger nicht wesentlich hinaus. Der Turmbau zu Babel ist selbstverständlich auch ihm der Ausgangspunkt. Sehr lebendig schildert er die Verwirrung, die geherrscht haben muß, bis die Menschen gleicher Sprache zueinander gefunden hatten. Der bei Tacitus genannte Tuisto — den Verstegen nicht wie Berosus, den er mit leisem Zweifel nennt, für den Sohn, sondern den Urenkel des Noah hält — ist nach ihm das Haupt der Gruppe, deren gemeinsame Sprache nach ihm „deutsch" genannt worden ist, er hat sie nach Norden geführt. Dies wahre Verhältnis ist später vergessen worden und Tuisto zu einem Gott und Sohn der Erde gemacht. Die Sachsen gehören zu den Nachkommen dieser Ureinwanderer. Andere Meinungen werden von Verstegen weitläufig widerlegt; der wichtigste positive Beweis ist ihm die Sprach- und Sittenverwandtschaft mit den übrigen Deutschen. Auf diesen Gebieten bringt er am meisten neues Material bei, und hier kommt ihm eben sein Aufenthalt in den Niederlanden zu statten. Da war, um die letzte wichtige Publikation zu nennen, 1597 in Leyden des Vulcanius Brugensis „De literis et Lingua Getarum" erschienen, in dem nach einer einleitenden Besprechung der gotischen Schrift, Abschnitte aus dem Codex Argenteus, Bruchstücke des Althochdeutschen, die Straßburger Eide, Alfreds Vorrede zu Gregors Cura Pastoralis, baskische, friesische, wallisische, isländische Bruchstücke zu finden waren. Verstegen nennt denn auch als Sprachen, mit denen er sich beschäftigt hat, Altenglisch, Altsächsisch, Altfränkisch, Niederdeutsch, Dänisch und Schwedisch. Diese Sprachkenntnis wird überall verwertet, besonders natürlich im zweiten Teil, wo er hauptsächlich an Eigennamen, Familiennamen und Titeln darzulegen sich bemüht, wie die sächsisch-englische Sprachtradition fortbesteht, auch durch die dänische und normannische Invasion nicht unterbrochen. Natürlich wimmelt es noch von groben Irrtümern. Z. B. sagt er zum Namen Ethelulf 6 7 : „I have sometimes corruptly found it written Ethelwulf. Whereby it must consequently yield so absurd a sense as noble wolf", andererseits wird ein so stark gekürztes Wort wie „lord" richtig als Zusammensetzung mit hlaf = Brot erkannt. Prinzipiell ist jedenfalls der Fortschritt gegenüber den bisherigen etymologischen Deutungen, bei denen aus zufälligem Gleichklang weniger Namen weitgehende historische Schlüsse gezogen werden, «T S. 283/84. 31

doch sehr groß. Die Einheit dessen, was die moderne Sprachwissenschaft als „westgermanisch" bezeichnet, und die Stellung der Sachsen und Engländer darin, beginnt sich herauszuheben. Auch in bezug auf Sitten und Gebräuche der „Saxon Ancestors" zieht Verstegen ein weit größeres Material heran als Camden. Er bezeichnet als seine Quellen „sundry leamed German Authors" — „books and records in the Teutonic tongue" and „things preserved by tradition". Am häufigsten zitiert wird Albert Krantz, der die Grundsätze der italienischen Humanisten auf den norddeutschen Geschichtsstoff anzuwenden versucht hatte, — hier kommt vor allem die 1548 erschienene „Saxonia" in Betracht — und Johannes Pomarius, der Mitte des 16. Jahrhunderts eine hochdeutsche Übersetzung von Bothos „Chronechen der Sassen" herausgegeben hatte. Erwähnt wird auch Olaus Magnus, dessen „Historia de gentibus septentrionalibus", erschienen in Rom 1555, eine umfassende Sittenschilderung der nördlichen Völker bringt, während Verstegen das Werk seines Bruders Johannes Magnus (die beiden Brüder waren die letzten katholischen Erzbischöfe von Upsala) „Gothorum Sweonumque Historia 68 ", das die eigentliche G e s c h i c h t e dieser Völker enthält, offenbar nicht kennt, jedenfalls nicht verwertet. Auf Grund solchen Materials, wozu natürlich auch noch die antiken Quellenschriften, besonders Tacitus' „Germania" kommen, beschreibt Verstegen ausführlich die alten Sachsen: ihre äußere Erscheinung, Kleidung, Lebensweise, Beschäftigung, ihre politischen, sozialen, rechtlichen, religiösen Einrichtungen. Deutlicher als bei Camdens wenigen Zitaten zur Sittenschilderung macht sich hier bemerkbar, daß feste quellenkritische Grundsätze noch fehlen. Auf die Sachsen wird tinbedenklich alles bezogen, was irgend über Deutsche und Germanen gesagt worden ist. Auch zwischen Germanen und Kelten wird noch nicht unterschieden. Betreffs ihrer körperlichen Abhärtung z. B. wird eine Bemerkung des Aristoteles über die Kelten herangezogen 69 . Die Belegstellen stammen also aus weit auseinanderliegenden Zeiten. Wie bei so heterogenem Material nicht anders möglich ist, wirkt das Bild, das dabei herauskommt, nicht gerade historisch getreu, ebensowenig wie die Kupferstiche, die Verstegen beigibt — etwa der von der Ankunft des Hengist und Horsa (S. 128) oder das Bildnis des Thor und Wotan (S. 79 und 81). Es ist also bei Verstegen wie bei Camden nicht so sehr die Lösung im einzelnen wie die Stellung des Problems und die Wege, die zur Bearbeitung gewiesen werden, die den Fortschritt ausmachen, bei Verstegen die energische Betonung des Stammesunterschiedes zwischen Briten und Germanen und der Versuch, die kontinentale Vorgeschichte der Engländer aufzuhellen und die Stellung, die sie ihrer Herkunft nach unter den europäischen Völkern haben, zu bestimmen. Die neue übergeordnete Einheit, in die die ausgewanderten Sachsen in ihrer neuen Heimat treten, die teils 68 69

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Rom, 1555 benutzte Ausgabe Basel 1558. S. 50. Arist. 1336 a 15.

schon vorhandene, teils noch zu verwirklichende Schicksalsgemeinschaft des Insellandes, interessiert ihn nicht. Er versucht nachzuweisen, daß die dänische und normannische Eroberung an dem wesentlich sächsischen Charakter des Volkes nichts geändert habe; von einer Gemeinsamkeit mit den Briten, gegen die er die Engländer als stammfremd ja gerade erst absetzen will, spricht er begreiflicherweise nicht. Er schreibt ja auch keine englische Geschichte, sondern „Antiquities". Die Tradition der gesamt-britischen Geschichtsschreibung wird, wie wir gesehen haben, wieder aufgegriffen von Milton. Damit kommt der Stoff, den bisher Gelehrte bearbeitet haben, in die Hände eines Mannes, der zugleich Dichter und Politiker ist 70 . Milton fühlte sich heilig verpflichtet, mit seiner dichterischen Begabung Gott und den Menschen zu dienen. Bei der Suche nach einem würdigen Stoff mußte ihn schon das Vorbild der Aeneis zu den Anfängen der nationalen Geschichte führen. So schreibt er, etwa 23jährig, im Epithaphium Damonis (Z. 162): „Ipse ego Dardanias Rutupina per aequora puppes Dicam." Auch an ein Epos über Arthur denkt er um diese Zeit 71 . 1642, in dem autobiographischen Kapitel des Pamphlets „The Reason of Church Government" spricht er ausführlich über seine Absicht, seinem Vaterlande durch eine Dichtung in der Landessprache Ruhm zu verschaffen 72 , und in dem Cambridge-Manuskript, das seine Jugendgedichte enthält, findet sich eine Liste von fast hundert möglichen Themen für diese, jetzt als Tragödie gedachte Dichtung 73 . Er las in dieser Zeit, wie die Einträge in seinem Common-Place Book erweisen74, eingehend die englischen Historiker: die zusammenfassenden Darstellungen der neueren Zeit, Holinshed, Stow, Speed, aber auch ihre Quellen, Beda, William von Malmesbury, und vor allem die altenglische Chronik, die in der von Abraham Wheloc 1643 besorgten Ausgabe eben von neuem zugänglich geworden war. Der Kreis der möglichen Themen erweiterte sich zunächst durch diese Studien, aber mit ihnen wuchs offenbar auch die Kritik. Von britischen Namen taucht auf der Liste einzig noch Vortigern auf, die übrigen profangeschichtlichen Themen sind der angelsächsischen Zeit entnommen; die meisten sind auch hier schon biblisch. Aber schließlich genügte der menschliche und poetische Gehalt dieser historischen Stoffe Miltons gewaltiger dichterischer Spannkraft doch wohl nicht, die in die Weite kosmischen Geschehens drängte. Aber die Vorarbeit war einmal geleistet und Milton verwertete sie dadurch, daß er der englischen Geschichte in ihrer eigenen Sphäre die würdige Gestalt zu geben suchte, an der es ihr 7 0 Über Milton als Historiker s. C. H. Firth: Milton as an Historian, in Proceedings of the Brit. Acad. 1907/8, S. 227—257. — Die „History of Britain" ist zitiert nach der Ausgabe der „Prose Works" von Sumner. 7 1 S. Epistle to Mansus 11. 80—84. 7 2 a. a. O. Bd. II. S. 478. 7 3 Abgedruckt in Masson: Life of Milton. Bd. II, S. 106—115. 7 4 ed. Horwood. Camden Soc. PubL NS. 16. 1876.

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bisher, wie er sagte, noch gefehlt habe. E r erstrebt das „which hitherto has been needed most, with plain and lightsome brevity to relate well and orderly things worth the noting, so as may best instruct and benefit them that read, which, imploring divine assistance, that it may redound to his glory, and the good of the British nation I now begin 7 5 ". Es ist ihm also auch dies eine heilige Aufgabe, wie die Dichtung. Von dieser Übersteigerung abgesehen, hat er dieselbe Zielsetzung wie die antike, der Rhetorik zugerechnete Historiographie, und wie er ja auch sonst die ganze große Tradition von Humanismus und Renaissance in sich trägt und in gewissem Sinne erst vollendet, so bildet auch seine „History of Britain" den Abschluß und zugleich die Aufhebung einer Entwicklungsreihe. E r folgt im ganzen Holinshed, und wir haben hier noch einmal die alte volle „britische" Geschichte, vom Kommen des Brutus an, aber aus einem neuen Geist heraus dargestellt. Es ist nicht möglich, seine Stellungnahme im einzelnen mit der seiner Vorgänger zu vergleichen, er sieht die Dinge nicht anders, sondern von einer höheren Warte aus. So bringt er die alten britischen Erzählungen wieder, aber jetzt ganz vorbehaltlos als Sage, und als Stoff für „poets and rhetoricians", was sie für ihn selbst ja auch ursprünglich gewesen waren. Andererseits formuliert er zum erstenmal deutlich und in einer Art, die der neuesten Auffassung von Geoffreys Historia sehr nahe kommt, was denn eigentlich mit dem „Gemisch von Fabeln und Wahrheit", von dem seine Vorgänger immer sprechen, gemeint sein k a n n 7 6 : „For what though Brutus and the whole Trojan pretence were yielded up yet these old and inborne names of successive king6 never any to have been real persons, or done in their lives at least some part of what so long hath been remembered, cannot be thought without too strict an incredulity* 77 ". So berichtet er kurz über diese Könige, vergleicht aber zum Schluß die Darstellung dieser Periode mit einer Reise durch die Nacht, die mit Anbruch der römischen Zeit und ihren ausgezeichneten Geschichtsquellen dem klaren Morgenlicht weicht. Wieder anders steht es mit der angelsächsischen Zeit 7 8 . „Henceforth we are to steer by another sort of authors, near enough to the things they write, as in their own country, if that would serve; in time not much belated, some of equal age, in expression barren, and to say how judicious, I suspend a while: this we mu6t expect; in civil matters to find them dubious relaters, and still to the best advantage of what they term the Holy Church, meaning indeed themselves: in most other matter of religion, blind, astonished, and struck with superstition as with a planet, in one word, Monks." So scharf war bisher die

Bd. V, S. 165. « Bd. V. S. 167. T T Diese Auffassung Miltons ist genau die der neuesten Forschung über Geoffreys Historia; vgl. Hist. Britonum, ed. Griscom, Preface. 7 8 a. a. 0 . Bd. V. S. 235. 75 7

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extrem protestantische Auffassung, die sämtliche Geschichtsquellen bis zur Reformation als „papistisch" oder „mönchisch" beargwöhnt und verachtet, in der Darstellung der englischen Geschichte noch nicht zum Ausdruck gekommen, mit Ausnahme natürlich der Kirchengeschichte selbst. Sie ist aber immerhin eins der Momente, die zur Schärfung des kritischen Blickes führen 7 9 . Wie Milton das Kommen der Angelsachsen darstellt, entspricht im Ganzen der Tradition. Exkurse in das Gebiet der germanischen Vorgeschichte und Sittengeschichte macht er nicht. Er erwähnt, daß die Sachsen nach Ansicht guter Schriftsteller von den Sacae abstammten, und charakterisiert sie in einem einzigen Satz als „a barbarous and heathen nation, famous for nothing else but robberies and cruelties done to all their neighbours 8 0 ". Auch das ist ein althergebrachtes Urteil. Der klare scharfe Ausdruck setzt Miltons Darstellung überall gegen die seiner Gewährsmänner ab, so genau er ihnen inhaltlich folgen mag. Außerdem springt aber auch hier und da plötzlich eine ureigene Auffassung der Geschehnisse, die des Politikers aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, heraus. Eine englische Geschichte aus dieser Zeit kann nicht mehr aussehen wie eine des 16. Jahrhunderts. Die starke innerpolitische Bewegtheit in England in den dazwischen liegenden Jahrzehnten, die immer aktivere Beteiligung immer weiterer Kreise des Volkes, die erschütternden Ereignisse des Bürgerkrieges schließlich bringen eine Erfahrung mit sich, in deren Licht auch die bekannten Tatsachen der Frühgeschichte ganz neue Färbung annehmen. Als Dichter interessiert Milton sich für das menschlich Bedeutsame im überlieferten Stoff; am ausführlichsten behandelt sind die Ereignisse, die er sich zunächst für mögliche dichterische Behandlung vorgemerkt. hatte. Aber als Politiker interessiert ihn ebenso sehr das Verhalten der Menschen in bestimmten Lagen des Staatslebens. Am deutlichsten wird das gerade bei seiner Darstellung des Abzugs der Römer und des Einbruches der Germanen. Seit Geoffrey von Monmouth steht im Mittelpunkt der Schilderung dieser Zeit die Liebesgeschichle von Rowena mit Vortigern. Milton erzählt das auch, aber nicht darum verdient ihm gerade diese Periode „more attention than common", sondern weil eine unmittelbare Lehre für die Gegenwart daraus zu ziehen ist. „This third book having to tell of accidents as various and exemplary as the intermission and change of government hath any where brought forth, may deserve attention more than common, and repay it with like benefit to them who can judiciously read: considering especially that the ¡ale civil broils had cast us into a condition not much unlike to what the Britons then were in when the imperial jurisdiction departing hence ¡eft them to the sway of their own councils; which times by comparing 7 9 Vgl. über die parallele Erscheinung Heilige und Heiligenlegenden. 8 0 Bd. V, S. 248.

auf dem Gebiete

der Legende

R. K a p p :

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seriously with these latter, and that confused anarchy with this interreign, we may be able from two such remarkable turns of state, producing like events among us, to raise a knowledge of ourselves both great and weighty by judging hence what kind of men the Britons generally are in matters of so high enterprise; how by nature, industry, or custom, fitted to attempt or undergo matters of so main consequence: for if it be a high point of wisdom in every private man, much more is it in a nation, to know itself; rather than puffed up with vulgar flatteries and encomiums for want of self-knowledge, to enterprise rashly and to come off miserably in great undertakings 81 ." Diese Stelle zeigt nicht nur Miltons Interesse am politischen Geschehen und die Art dieses Interesses, sondern auch, was für ihn der Träger politischer Wirksamkeit ist. Er steht weder auf dem neuen „großbritannischen" Standpunkt Speeds, noch kennt er die scharfe Trennung der Inselbewohner nach Stammesherkunft, wie sie inzwischen von Verstegen vertreten worden war. Er geht wieder wie die mittelalterliche Historiographie von der Einheit des Landes aus. Auch ohne den Glauben an' Brutus bleibt ihm die britische Geschichte „unsere" Frühgeschichte. „Ours received them", sagt er von den Briten im Kampf gegen die Römer. Oder „of the Romans we have cause not to say much worse than that they beat us into some civility 82 ". Man braucht deswegen nicht anzunehmen, daß Milton nach alter Weise die Stammesunterschiede ganz übersehen hätte, es liegt vielmehr so, daß das L a n d ihm wirklich den wichtigeren und entscheidenden Einfluß auf Verhalten und Schicksal der Einwohner auszuüben écheint. Und zwar in diesem Fall keinen sehr günstigen. „For Britain, to speak a truth not often spoken, as it is a land fruitful enough of men stout and courageous in war, so it is naturally not over fertile of men able to governe justly and prudently in peace, trusting only in their mother-wit. — For the sun, which we want, ripens wits a? well as fruits; and as wine and oil are imported to us from abroad, so must ripe understanding and many civil virtues be imported into our minds from foreign writings 83 ." Die humanistische Historiographie, deren Haupterzeugnis die Landesgeschichte gewesen war, findet für England in Miltons „History of Britain" ihren Höhepunkt und Abschluß. Aus den Ereignissen der Zeit, in der er sie schreibt, wächst die neue große englische Historiographie, die Parteigeschichte, hervor: Burnets „History of his own Time" and Clarendons „History of the Rebellion" — wächst aber im weiteren Verlauf auch eine neue Landesgeschichte heraus, in der das Interesse an den Verfassungsfragen, das die Zeit erzeugt hatte, und die Erkenntnisse, die dadurch gewonnen worden waren, stark zum Ausdruck kommen. In81 82 83

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Bd. V, S. 235. Bd. V. S. 198. Bd. V, S. 240.

zwischen hatte die Sprach- und Vorgcschichtsforschung ihren mühevollen, aber stetigen Fortgang genommen. Milton gab seine „History of Britain" erst 1670 heraus. Zufällig im selben Jahr erschien in Cambridge ein Buch, das die Forschung über die Abstammung der Angelsachsen wieder aufnahm, unter dem Titel: „De Anglorum Gentis origine Disceptatio. Qua eorum migrationes, variae sedes et ex parte res gestae, a confusione linguarum et dispersione Gentium usque ad adventum eorum in Britanniam investigantur." Der Verfasser Robert S h e r i n g h a m , hatte in mancher Hinsicht ein ähnliches Schicksal wie sein Vorgänger Verstegen. Auch er hatte England aus Gründen der Gesinnung — seiner royalistisclien Haltung wegen — verlassen müssen, auch er war in die Niederlande gegangen und hatte die Anregung des dort betriebenen philologischen Studiums genossen. Er hatte sich bereits vorher, als Fellow von Caius College, einen Namen als Linguist gemacht; im Exil in Rotterdam lehrte er Arabisch und Hebräisch. Ebenso stolz auf sein Heimatland wie Verstegen, nahm er sich die Angriffe zu Herzen, die ausländische Grammatiker, besonders der Franzose Claudius Duretus, auf seine Muttersprache machten: daß sie eine Mischsprache sei und ihre ursprünglichen Formen nicht bewahrt habe — und beschloß die Abfassung einer Verteidigungsschrift. „Presens institutuni quod attinet, opus hoc a me susceptum est, ut linguae nostrae origines, progressus, variasque mutationes investigarem, quae gentis origine ignota investigari nequeunt 8 4 ." E r wollte also eigentlich eine Sprachgeschichte seines Volkes schreiben, der eine politische Geschichte, „res gestae", folgen sollte. Fertig geworden ist aber nur die vorbereitende Untersuchung über den Ursprung des Volkes. Über die Quellen sagt e r 8 5 : „Origines vero et cognationes gentium tribus potissimum modis eruuntur, ex cognatione linguarum, ex antiquis historiis, et ex cognatis moribus." Aus Sittenähnlichkeit auf Stammeszugehörigkeit zu schließen, scheint ihm am unsichersten, aber auch Sprachverwandtschaft gibt ihm keine volle Sicherheit. Dagegen ist er den historischen Quellen gegenüber weniger zweifelsüchtig als manche Vorgänger. „Origines porro gentium ab antiquis historiis petuntur, quibus sine solido fundamento nemo fidem abrogare debet." Daher verteidigt er auch noch jetzt — 100 Jahre nach Camden — die trojanische Herkunft der Briten und versucht er eine Vorgeschichte der Angelsachsen aufzubauen, in der möglichst viel von der alten Überlieferung verwertet wird. Denn gegenüber Verstegen, an den er — zur Hauptsache polemisierend — anknüpft, hat er den Vorteil, daß ihm nun schon mehr, und zwar hauptsächlich nordische Quellen zur Verfügung stehen. 1643 waren Olaus Wormius' Runenstudien erschienen, 1644 die Ausgabe des Saxo Grammaticus von Stephanius, 1665 die Editio princeps der Edda, von Resenius in Kopenhagen veranstaltet, mit lateinischer Übersetzung. Diese Publikationen regten auch zum Studium der 84 86

6. Seite der „Praefatio ad lectorem". Daselbst anschließend.

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skandinavischen Werke des 16. Jahrhunderts an, wie des Johannes Magnus „Gothorum Sweonumque historia" (1554) und des Olaus Magnus „Historia de gentibus septentrionalibus". Wir brauchen Sheringham in das Dickicht antiquarischer Wissenschaft des 17. Jahrhunderts mit seinen hundertfach verschlungenen Pfaden nicht zu folgen: die Richtung der Hauptwege ist wechselvoll genug. Die Wirrnis entsteht dadurch, daß nicht weniger als vier Völkersagen miteinander verbunden worden sind. Die Überlieferung der Goten über ihre Herkunft aus dem Norden und die einzelnen Phasen ihrer Wanderungen waren bereits in der Spätantike in die griechisch-römische Geschichtstradition eingegliedert worden dadurch, daß man die Goten mit den Geten identifizierte, einem Volk, das schon im 6. Jahrhundert vor Christus im Südosten Europas auftaucht. Diese in der Fassung des Jordanes überlieferten Erzählungen hatten sich die Schweden, als sie sich im 16. Jahrhundert wie die anderen Völker Europas um ihre „origines" bemühten, als Frühgeschichte zu eigen gemacht und sie außerdem einerseits mit den nordischen Mythen — in der bereits rationalisierten Form, wie sie in der jüngeren Edda auftreten —-, andererseits mit der biblischen Urgeschichte verbunden. Dieses sonderbare Erzeugnis wird nun durch Sheringham in die Forschung nach den „origines" der Angelsachsen einbezogen. Was sie selbst an volkseigenen Überlieferungen besaßen, war ja verschwindend wenig. Eigentlich nichts anderes als die Stammtafeln der Königsgeschlechter mit Wotan als gemeinsamem Stammvater. Das hatte schon Beda erwähnt, und es war immer bekannt gewesen, war aber zweifellos durch die Veröffentlichung der Chronik von neuem ins Licht gerückt worden. Und hier bietet sich nun die Verbindung mit den „Goten". Die Vorgeschichte der Angelsachsen ist bei Sheringham in großen Zügen die folgende: Die Sachsen, die auf dem Kontinent die Angeln besiegt und ihren Namen verdrängt haben, und die jetzt nach Angabe von Krantz und auch nach Ausweis der Sprache von Belgien bis nach Rußland hinein sitzen, sind ein Teil der Cimbern und diese ein Teil der Goten. Die Goten gehören zur Nachkommenschaft Sems (nicht Japhets oder Tuistos) und sind von Babylon durch Rußland nach Skandinavien gekommen. Von dort ist ein Teil des Volkes unter König Filimer nach dem Süden gezogen, und später von diesem wieder ein Teil unter der Führung Wotan6 zurück nach Norddeutschland. Die Taten der englischen Könige als Nachkommen Wotans sollten vermutlich den geplanten Band der „res gestae" füllen. Die Weiterführung über Verstegen hinaus liegt darin, daß nicht mehr nur die Gleichwertigkeit der Sachsen mit den Briten behauptet, sondern ihnen auch eine „Geschichte" gegeben wird, die den Vergleich mit der britischen nicht zu scheuen braucht. Das meiste davon hat gewiß nicht mehr geschichtlichen Wert als Geoffreys Erzählungen, aber ein Schritt weiter auf die Erkenntnis der wirklichen Verwandtschaftsverhältnisse hin wird doch getan. Es tritt als engere Gruppe, der die Einwanderer in Britannien angehören, die niederdeutsche klarer hervor, und als weitere 38

flie, die mit dem Sammelnamen „gotisch" bezeichnet wird. Wie diese „Goten" des Sheringham sich zu der scharf abgegrenzten Sprachgemeinschaft der Germanen verhalten, ist nicht genau zu bestimmen, da ja seine versprochene Sprachgeschichte nie erschienen ist. Möglicherweise, weil er über der Arbeit einsah, daß die Zeit dafür noch nicht gekommen war. Seine „disceptatio" wird aber sofort weiter verwertet. Wenn man bedenkt, daß fünf Jahrhunderte hindurch die Geschichte des Landes als eine Einheit gesehen worden war, deren Fundament die britische Vorgeschichte bildete, erscheint es nicht verwunderlich, daß man nunmehr, wo dieses Fundament zerstört war, die angelsächsische Geschichte aber um so breiter und fester unterbaut schien, danach strebte, die verlorene Einheit von dieser anderen Basis aus neu zu errichten. Solcher Versuch wird gemacht in der 1674 erschienenen „Britannia Illustrata" des Aylett Sammes. Das Verfahren war sehr einfach: Nach Camden 8 6 waren die Cymrer ein Teil der Cimbern; nach Sheringham waren die Sachsen auch ein Teil der Cimbern. Folglich waren beide Völker Angehörige desselben Stammes. Der Schluß lag nahe. Daß die Einwanderer mindestens zum Teil von der „cimbrischen" Halbinsel gekommen waren, hatte man immer gewußt, und schon Speed hatte auf den Zusammenhang zwischen Sachsen und Briten hingewiesen, aber ohne ein besonderes Gewicht darauf zu legen 8 7 . Sammes hebt nun diese Verwandtschaft mit Nachdruck hervor: „ I have been more particular in treating of the Cimbri, because from a branch of the very same nation, in after ages, our E n g l i s h Ancestors preceeded, Providence so ordering it, that although the ancient Cumbri of Britain were grievously molested by the Gauls, and afterwards afflicted by and kept under by the Romans, yet may they be said to have recovered these seats again, although not by themselves, being but a small relick, yet bysuccession of a People descended of the same original 8 8 ". Die Besiedlung stellt sich nun so dar: Die ältesten Einwohner sind Cimbern, britisch Cymri, vom Kontinent herübergekommen. Diese sind identisch mit den „Aborigines" des britischen Binnenlandes, die Cäsar von den gallischen Einwanderern des Südostens unterscheidet. Ein Beweis für die „eimbrische" und gegen die griechisch-trojanische Abstammung der Briten ist ihm die Sprache, die er für im Grunde „teutonic" hält. Die oft angeführte scheinbare Ähnlichkeit zwischen dem Britischen und dem Gallischen beruhe nur auf gleicher Einführung griechischer und phönizischer Worte durch Handelsbeziehungen. Auf die Bedeutung der Phönizier für den Handelsverkehr im Mittelmeer und darüber hinaus, hatte bereits einige Jahrzehnte früher — in starker Überschätzung — Samuel Bochart in seiner „geographica Sacra" hingewiesen (1646). Sammes Buch ist letzten Endes nur eine Übertragung der Hypothese Bocharts auf Britannien, wie der Gesamttitel „Britannia 88 87 88

S. 9 ff. a.a.O. S. 161. S. 15. 39

Antiqua Illustrata, or the Antiquities of Ancient Britain derived from the Phoenicians" deutlich zeigt. Nicht die A b s t a m m u n g , aber die ganze Kultur der Ureinwohner Britanniens, ihre Regierungsform, ihre Religion, ihre Sitten und ihre Sprache sind nach Sammes phönizisch. Diese Theorie ist der neue Beitrag, den er zu den „Antiquities" Britanniens hinzubringt. Im übrigen ist die ganze „Britannia Illustrata" überhaupt eine ungeheure Sammlung aller Völkertraditionen und aller über ihre 'Antiquities aufzustellenden wissenschaftlichen Theorien, die nur irgendeine Beziehung zu Britannien haben. Der Faden, an dem dies alles aufgereiht ist, ist eine „Chronological History of the Kingdom f r o m the first Traditional Beginning", geordnet nach den Königen, die in Britannien geherrscht haben. Darin folgt er Speed; n u r d a ß bei ihm auch die „keltischen" Könige von der Sintflut bis zu Brutus — nach Berosus — erscheinen und daß seine Theorie des phönizisch-griechischen Einflusses ihm Gelegenheit gibt, die ,,Antiquities" der großen Mittelmeervölker auch noch hineinzubringen. D a ß diese Völkergeschichten, die sich ja zeitlich zum Teil weit überschneiden, oft in krassem Widerspruch zu einander stehen, daß unendlich viel Unmögliches und grob Unwahrscheinliches in all diesen Traditionen steckt, weiß Sammes, und er bemüht sich auch in endlosen Diskussionen um Stellungnahme zu den Problemen, aber eines als abgetan zu betrachten, kann er sich offenbar nicht entschließen. „In the progress of the History", sagt er beim Beginn der eigentlichen Chronik 8 9 , „ I shall make some reflections upon the most observable Circumstances, as they carry either the appearance of Truth, or the marks of Falsehood and Forgery, contenting myself that the Chronicle be divided into F a b u l o u s and H i s t o r i c a l , following rather the ancient custom in yielding something to the Zeale of Antiquity, whereby the Original of Nations is more venerable, than by erring in the other hand, to bring the Antiquity of a Nation lower than its just proportions." Gewiß liegt all diesen verworrenen Spekulationen eine richtige, wenn auch noch undeutliche Vorstellung von der engen Verflochtenheit der europäischen Völker und Kulturen zugrunde, gewiß stecken in diesem Chaos von Meinungen fruchtbare Keime wissenschaftlicher Erkenntnis, aber man begreift doch angesichts solcher Werke, wie der von Sheringham und Sammes, die ja noch keineswegs die gewichtigsten ihrer Art waren, daß manche Historiker, die nicht von demselben „Zeal of antiquities" besessen waren, diese Bemühungen f ü r sinnlose Kraftverschwendung ansahen, es ablehnten, sich überhaupt mit der Vorgeschichte zu befassen, und ihre Darstellungen der englischen Geschichte mit Ereignissen begannen, f ü r die sie aus klareren Quellen schöpfen konnten. Der Einfluß des politischen Lebens trägt stark dazu bei, die antiquarische Forschung auf ein anderes Gebiet zu lenken. Der Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Einzelforschung und Hypothesenbildung, politischem Handeln und politischer Theorie ist hier leichter zu verfolgen 89

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S. 148.

als zur Zeit des Humanismus, weil es sich im Wesentlichen um eine innerenglische Auseinandersetzung handelt. Das 17. Jahrhundert ist erfüllt vom Ringen zwischen Königtum und Parlament. Die Rechtsaltertümer, die die antiquarische Forschung der vorangehenden Jahrzehnte ans Licht gebracht hatte, werden dabei zunächst zu Waffen im politischen Kampf. Aber die Kontroverse zwingt zu immer klarerer Formulierung der verfassungsrechtlichen Argumente, also zu immer gründlicherer Durcharbeitung des Gegenstandes; und als nach Beruhigung der Lage gegen Ende des Jahrhunderts das Interesse sich wieder der allgemeinen Geschichte zuwendet, scheint diese Seite der nationalen Vergangenheit, wenn auch verschieden gesehen je nach der Parteidoktrin der Verfasser, so doch im ganzen vertieft, geklärt und bereichert. Man sieht vor allem deutlich, wie sich in dieser Auseinandersetzung die Anfänge verfassungsg e s c h i c h t l i c h e n Denkens allmählich herausbilden. Das allgemeine Interesse an juristischen „antiquities" geht weit zurück. In der Society of Antiquaries, die sich zum großen Teil aus Mitgliedern der Inns of Court zusammensetzte, hatte man sich gerade um die Vorgeschichte der rechtlichen Institutionen lebhaft bemüht. Ein Teil der „papers" der Gesellschaft ist erhalten geblieben und von Thomas Hearne 1720 unter dem Titel „A Collection of Curious Discourses" veröffentlicht worden. Da finden wir Abhandlungen über das Amt des Herold, des Lord Chancellor, auch bereits über „The Antiquity, Power, Order, State, Manner, Persons, and Proceedings of the High Court of Parliament". Diese „Discourses" zeigen deutlich die eigentümlich a-historische Betrachtungsweise, mit der man an die Überlieferung heranging. Die Vergangenheit war wie ein ungeheures Schatzhaus, aus dem man sich 6eine Beispiele nach Belieben holte. Die Zeit bildete nur eine äußere Ordnung, stellte keine innere Beziehung im Sinne der Entwicklung, des Wandels oder Wechsels her. Die Rechtseinrichtungen des Landes sind demnach auch eine Einheit von den ältesten Zeiten an. „Origo et processus" ist der Ausdruck für das, was wir jetzt „Geschichte" nennen würden 9 0 . Die „origo" sucht man in den Satzungen der Druiden, und irgendeines Bruches im „processus" ist man sich nicht bewußt. „And during all this Time, wherein these several nations and their Kings prevailed (d. h. Briten, Römer, Sachsen, Dänen, Normannen) England has nevertheless been constantly governed by the same customs as it is at present", hatte schon John Fortescue in seinem „de laudibus legum Angliae 9 1 " im 15. Jahrhundert gesagt. Ganz ähnlich noch in den Debatten der Society of Antiquaries: „The ancient laws of the Britains, which (to the honour of our common law) have their use to this day were composed in their common councils 9 2 ". 9 0 Seidens „Jani Anglorum Facies altera" (1610) ist eine Recht6geschichte in diesem Sinne. Es stellt die Rechts- und Verfassungssatzungen von der britischen Zeit an zusammen. 9 1 Ausg. London 1741. S. 30. 9 2 Coll. of Curious Discourses I, S. 283.

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Wir haben hier also eine ähnliche Erscheinung wie auf dem Gebiet des historischen Geschehens: wie dort die Anfänge der angelsächsischen Geschichte in die britische Heldensage verstrickt erscheinen, so hier die Anfänge des angelsächsischen Rechtswesen in die Druiden-Tradition. Einige zweifelnde Stimmen werden auch hier laut, aber im allgemeinen herrscht doch die Auffassung vom Rechtswesen des Landes Britannien als einer Einheit noch zu der Zeit, wo die Rechtsaltertümer im innerpolitischen Kampf verwertet werden. Iin weitesten Umfang geschieht das in William Prynnes 1643 erschienenem „The Sovereign Power of Parliaments and Kingdoms". E r stellt darin die Beschränkung der Königsgewalt durch eine Volksvertretung nicht nur als die althergebrachte britische, sondern als die natürliche, ursprüngliche und allgemeine Regierungsform dar. In einem umfangreichen Appendix zu seinem Traktat bringt er Nachweise über die Regierung durch „Senates" und „Parliaments" für fast sämtliche Länder der Erde. Die Anhänger des Königs behaupten dagegen, daß die Königsgewalt sich aus der unumschränkten patriarchalischen Gewalt herleite, und alle sogenannten Rechte des Volkes nur auf freier Gnadenverleihung des Herrschers beruhen. Wir brauchen die Kontroverse im einzelnen nicht weiter zu verfolgen. Sie führt allmählich zur klareren Herausarbeitung der Staats- und Geschichtsdoktrin der Whigs und der Tones. Für das Angelsachsen-Problem wird wichtig, daß die Diskussion mehr und mehr auf die eigene Geschichte beschränkt wird, und zwar konzentriert auf die Frage, ob schon in der altenglischen Zeit die Gommons im Parlament gewesen seien, d. h. ob am Witena-gemot die Gemein-Freien teilgenommen haben. Die Whigs behaupten: ja, und sehen eine ununterbrochene Rechtsfolge, nun nicht mehr von den Druiden her, sondern von den kontinentalen Germanen bis zurück in die Zeit des Tacitus. Die Tories behaupten: nein, und begründen das, indem sie nachzuweisen versuchen, wie niedrig die soziale Stellung des gemeinen Mannes in angelsächsischer Zeit gewesen sei. Sie sehen die einheitliche Entwicklung erst von den normannischen Königen, meist erst Heinrich III. an. Die — gegenüber der wissenschaftlich-humanistischen •— neue Betrachtung der „Antiquities" unter Gesichtspunkten der Parteipolitik findet sich zunächst in Pamphleten und staatstheoretischen Schriften; es konnte aber nicht ausbleiben, daß sie auch in der Geschichtsschreibung zum Ausdruck kam. Tatsächlich ist von den nächsten großen Gesamtdarstellungen englischer Geschichte die eine, Bradys „Complete History of England", 1685 erschienen, ausgesprochen, wenn auch nicht extrem, toryistisch, die andere, Tyrrells „History of England" (1. Band 1696), whiggistisch. Robert Brady war, mit der damals noch möglichen Vielseitigkeit, zugleich Leibarzt Karls I. und Jacobs I. und eine Zeitlang Keeper of the Records im Tower. Sein Werk ist Jacob II. gewidmet. Über seine Stellung zu den staatstheoretischen Problemen der Zeit läßt er von Anfang an keinen Zweifel. Aus den Werken der „ordinary historians", sagt er, 42

könne man nicht erkennen, „what the ancient government of this Famous Kingdom was". Man werde irregeführt durch mißverstandene Worte; durch deren richtiges Verstehen könne man aber bekommen: „a right Notion of the Government and the State of the Kingdom then, which at this date are much changed from what they were, to the great Ease and Repose of the King as well as the Benefit and Advantage to the people." Noch deutlicher wird er in der Anrede an den Leser: Die Vorrede möge etwas lang sein, aber er habe es eben mit Vorurteilen zu tun. Wenn man sie aber mit Aufmerksamkeit läse, und wirklich verstände, „it will appear an Impregnable Rock against the pretended Soveraignty and Power of the People in the Nation, which the Republicans can never climb over". Die Vorrede und die Geschichte selbst werden deutlich zeigen, „that all the Liberties and Priviledges the People can pretend to, were the Grants and Concessions of the Kings of this Nation and were Derived from the Crown". Es sei auch gar nicht das Volk gewesen, sondern die Barone, und zwar die normannischen, die die Privilegien vom König erlangt hätten. In der Vorrede gibt er erst eine Übersicht über die römische Provinzialverwaltung. Über die Gesetze und Sitten der Sachsen, fährt er fort, sei nicht mehr bekannt, als was er in seinem 2. Buch gebracht habe, aber da alle Männer „of the long robe (an anderer Stelle nennt er Coke, Seiden und Prynne) do magnifie and cry up the Liberties and Freedom of the ordinary People under the Saxon Kings to such a degree as makes them all petty Princes or at least Sharers in the Government, and that the Common Historians do report the same things of them; I shall from authentic and undeniable proof out of Doomsday Book, shew them, what really their condition was, before and after the conquest". Es folgen dann Auszüge aus dem Doomsday Book mit Untersuchungen über die Stände. Die eigentliche Erzählung setzt ein mit Cäsar; alles Vorhergehende läßt Brady als unsicher fort. Die „Saxon History" zerfällt in zwei annähernd gleich lange Abschnitte, deren erster von den Sitten und Gebräuchen handelt, der zweite die historischen Ereignisse bis zur normannischen Eroberung berichtet. Für die Einwanderung6geschichte bleibt dabei nicht viel Raum. Brady bringt ganz kurz zusammengefaßt die Berichte von Gildas, Beda, der Chronik, Malmesbury und Monmouth und setzt hinzu: „These different and almost contrary Relations are left to every mans Judgment either to believe or to reject them." Sicher sei nur das Resultat, daß die Sachsen sich zu Herren des Landes gemacht hätten. Wir haben also hier eine breite Untersuchung, mit Parteipolemik durchsetzt, und daneben eine kurze Erzählung bekannten Inhalts. Es ist kein Wunder, d a ß die6 nicht als befriedigende Darstellung englischer Geschichte anerkannt wurde. So klagt Sir William Temple in der Vorrede zu seiner „Introduction to the History of England 66 , 1695, daß England eine gute und anerkannte allgemeine Geschichte, wie sie die kontinentalen Länder längst besäßen, noch fehle. Vergeblich habe er seine Freunde zu dem Werk zu ermuntern gesucht. So wolle er nun 43

wenigstens durch seine „Einleitung" die Haupt6chwierigkeiten aus dem Wege räumen, „the rough and dark way" zurücklegen, bis dahin, wo offenes Land beginne, d. h. bis zur normannischen Eroberung. Temple ist als Historiker Dilettant, sein kleines Buch wimmelt von groben Irrtümern. Es ist aber interessant zu sehen, wie sich einem Mann von hoher Allgemeinbildung und reicher praktischer Erfahrung im Staatsdienst die Anfänge der Landesgeschichte darstellten. Die angelsächsische Zeit wird nicht mehr der britischen Vorzeit entgegengesetzt. Die britischen Überlieferungen sind „forged at pleasure, by the wit or folly of the first Authors, and not to be regarded 9 3 ". Der Bruch liegt jetzt zwischen der angelsächsischen und der normannischen Zeit; erst mit Wilhelm dem Eroberer beginnt die eigentliche „History"; was davor liegt, ist bestenfalls „Story 9 4 ", nach Inhalt und Qualität der Überlieferung eines Historikers eigentlich nicht würdig. „The account of them is very poorly given us —, by the few and mean authors of these barbarous and illiterate Ages, and perhaps the rough course of these lawless times and Actions, would have been too ignoble a subject for a good Historian". Sir William Temples Forderung an die Historiographie war verfrüht, sie ist, in bezug auf Auffassung und Darstellungsform, erst drei Menschenalter später durch Hume erfüllt worden. Denn es ist nicht anzunehmen, daß Temple Tyrrells „History of England", deren erster Druck 1696 erschien, als solche Erfüllung angesehen haben würde. James Tyrrell, ein country-gentleman, und ein Freund von Locke, wollte das Whig-Gegenstück zur Geschichte Bradys liefern. Schon dadurch war er gezwungen, nun gleichfalls lange, verfassungsgeschichtlichc Auseinandersetzungen zu bringen, in denen er die Tory-Argumente zu widerlegen sucht. Seine Angriffe richten sich direkt gegen Brady6 Behauptungen. E r sucht nachzuweisen, daß die „ceorlas", die Gemeinfreien, sämtlich wehrpflichtig gewesen seien, nicht nur die „military tenants". Dem fügt er hinzu, „This I have taken notice of, because Dr. Brady — has laboured all he can to make the Condition of the common People of this Kingdom (before the Conquest as well a6 after) to have been little better than that of Slavery, and seems to repine very often that it is not so still, as I could easily shew, if I would go about i t 9 5 " . Tyrrells historische Erzählung der angelsächsischen Geschichte ist etwas ausführlicher als die Bradys, dafür aber auch wieder mehr mit Argumentationen durchsetzt. Die vom Publikum geforderte glatte, gut lesbare historische Erzählung wurde schließlich von einem Ausländer geliefert, dem Franzosen RapinThoyras 9 6 . E r hatte als Hugenott nach Aufhebung des Edikts von Nantes 1686 Frankreich verlassen müssen, hatte aber auch im England 93 94 95 96

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S. 19. S. 317. S. 78. Hifctoire d'Angleterre 1. Bd. La Haye 1724.

des katholikenfreundlichen Jacob II. kein Fortkommen gefunden. Daher war er zunächst nach Holland gegangen und später im Heere Wilhelms von Oranien nach England zurückgekommen, wo er als Offizier und später als Hofmeister 20 Jahre lang blieb. Diese Lebensschicksale machen es begreiflich, daß er für die englische Regierungsform, wie sie durch die „glorious Revolution" von 1688 endgültig gefestigt war, ein lebhaftes Interesse hatte und sich auch getrieben fühlte, ihren Ursprüngen nachzugehen. „Je crus qu'il falloit lire avec soin l'histoire des Anglo-Saxons, qui ont porté cette forme de gouvernement dans la Grande Bretagne." Rapin vertritt also die Whig-Theorie von der Kontinuität der Volksvertretung seit alter Zeit. Der Zusammenhang mit den altgermanischen Einrichtungen wird von ihm besonders scharf betont. Die englische Regierungsform (le gouvernement) „est le seul qui se soit conservé en son entier, entre ceux que les Nations septentrionales ont établis en Europe". In anderen Staaten hat es Wandlungen gegeben, „on a changé les choses, et on a gardé les mêmes noms. Mais en Angleterre, il n'y a rien de changé. C'est encore aujourd'hui le même gouvernement qui y fut établi dès la fondation de la Monarchie, et le même, à peu près que les Saxons avaient dans la Germanie avant qu'il passassent dans la Grande Bretagne." An den Schluß des 1. Bandes setzt er eine „Dissertation sur le Gouvernement, les Lois, les Moeurs, les Coûtumes et la Langue des Anglo-Saxons". Der Abschnitt über „le gouvernement" nimmt bei weitem den breitesten Raum ein, und die verschiedenen Ansichten über die Bedeutung des „Witena-gemot" werden ausführlich referiert. Das ist also nicht viel anders als bei Brady und Tyrrell auch. Wenn Rapins „Histoire d'Angleterre", die 1726—31 auch in englischer Übersetzung erschien, bis zu Humes Zeit die meist gelesene englische Geschichte blieb, so verdankt sie das ihrer Erzählungsart. Die Ereignisse und Zustände der Vergangenheit werden durchaus in den bekannten Formen der Gegenwart gesehen. Man fühlt sich lebhaft an die Art erinnert, wie die griechischen und trojanischen Helden bei Pope behandelt werden, dessen Ilias-Übersetzung ja ungefähr um dieselbe Zeit wie Rapins 1. Band erschien 9 8 . Die Geschichte von Vortigern und Hengist z. B . wird hier zu einem Intrigenspiel ersten Ranges. Gewiß stammen die Elemente alle aus der Überlieferung, sind zum Teil schon bei Geoffrey von Monmouth vorhanden, aber durch die besondere Zusammensetzung und Farbgebung entsteht doch ein ganz eigenartiges Bild. Ein oder zwei Zitate können das am besten veranschaulichen. „Les Embassadeurs Bretons étant arrivez au delà de la Mer et Witigisl Général des Saxons ayant convoqué une Assemblée pour entendre leurs propositions, le Chef de l'Embassade parla en ces termes 9 9 ." Die Erfolge der Sachsen nach außen festigen Vortigerns Stellung nach innen: 97 98 99

Préface p. IV. 1 715—1720. T. I. S. 92.

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„Dès que le Monarque des Bretons et le Chef des Saxons se virent ainsi fortifiez, ils n'eurent plus pour les Bretons les mêmes égards qu'ils avaient eus auparavant. Vortigern devenu plus puissant, se rendit plus absolu 100 ." Rapins Histoire d'Angleterre war ausdrücklich zu dem Zweck geschrieben, die Ausländer mit der englischen Regierungsform bekannt zu machen. Außerdem hatte er seine Berechtigung zu der Arbeit daraus hergeleitet, daß er als erster Gelegenheit gehabt habe, die große Quellensammlung „Rymer's Foedera 101 " zu benutzen. Strengen wissenschaftlichen Anforderungen genügte sein Werk aber natürlich doch nicht. Zur Zeit, als es erschien, lebte in Frankreich ein englischer Gelehrter, der 1722 als Jacobit hatte ins Exil gehen müssen, und der nun in Paris historischen Studien oblag, Thomas Carte. Er machte es sich zur Aufgabe, das zu geben, was bei Rapin noch fehlte. Nach seiner Rückkehr nach England erhielt er von vielen Seiten Unterstützung für seine Arbeiten, besonders auch von den Oxforder Colleges, und 1744 bis 1755 erschien seine vierbändige „History of England". Trotz des Titels ist es wieder eine „britische" Geschichte in dem Sinne, daß Carte wieder von den britischen „Antiquities" ausgeht. Die Erzählungen Geoffreys bringt er nun allerdings nicht mehr, dafür versucht er, stärker als das bisher geschehen war, die Kämpfe zwischen Germanen und Briten nicht nur von der einen oder anderen Seite, sondern als eine Auseinandersetzung zwischen zwei ebenbürtigen Gegnern von einer höheren Warte aus zu sehen. In Cartes Werk steckt viel eigene Forschung, auch Archivforschung. Aber im Ganzen repräsentiert es, wie ehedem Speeds, doch die Arbeit und die Interessen des vorangegangenen Jahrhunderts. Die Historiographie des 18. Jahrhunderts hat charakteristische Züge für sich. Im Vergleich zum 17. Jahrhundert ist der Einfluß vom politischen Leben her gering. Es ist eine Periode innerpolitischer Stabilität. Die Historiker, nicht mehr so stark in Anspruch genommen von den Problemen der Gegenwart, wenden sich anderen Gebieten zu, oder, anders gesehen, werden wieder mehr in die gesamteuropäische allgemeine Geistesentwicklung hineingezogen. Das Interesse geht von den Fragen der staatlichen Macht und Organisation hinüber zu anderen Gebieten de6 öffentlichen Lebens: Wirtschaft, Kunst. Programmatisch für diese neue Art der Geschichtsbetrachtung sind Voltaires „Siècle de Louis XIV." (1751) und „Essai sur les Moeurs" (1754). Es sind nur Programme in dem Sinn, daß bei der Durchführung am historischen Stoff sich der Mangel an Einzelforschung auf den neuen Gebieten noch sehr bemerkbar macht. Das zeigt sich auch deutlich an dem Werk, das in England diese Richtung der Historiographie repräsentiert: Robert Henrys sechsbändige „History of England", erschienen 1771 bis 1793. Er teilt den ganzen Stoff, vom Kommen der Römer bis zum Tode Heinrich VIII. in sechs 100 101

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S. 96. 20 Bände 1704—1735.

Perioden und behandelt jede in sieben Unterabteilungen: Politische Geschichte, Kirchengeschichte, Verfassungsgeschichte, Geschichte der Wissenschaft, der Kunst, der Wirtschaft, der Sitten. Auf den meisten Gebieten hatte die antiquarische Forschung der letzten beiden Jahrhunderte vorgearbeitet, die verfassungsgeschichtlichen Untersuchungen hatten .z. B. allerlei Nebenertrag auch für Kenntnis der Sitten und der Wirtschaft gebracht. Verhältnismäßig unberührt war das Gebiet der „arts" geblieben. Henry unterscheidet hier die „necessary arts", d. h. die Gewerbe, von den eigentlichen Künsten: Baukunst, Malerei, Poesie, Musik. Die Poesie wird ausführlich behandelt, aber was Henry bringt ist nicht viel mehr als das, was Olaus Wormius im 17. Jahrhundert über die nordische Dichtung gesagt hatte. AU Beispiel für den Stabreim führt er Piers Plowman an! Er weiß zwar von der Existenz altenglischer Dichtung, denn er verweist den Leser auf Wanleys Katalog zu Hickes" Thesaurus (1705), in dem u. a. auf das Beowulflied aufmerksam gemacht wird. Er behauptet auch, ein ganzes Jahr auf Erlernen der altenglischen Sprache verwandt zu haben, aber er geht mit dem verdächtigen Satz über die Gedichte selbst hinweg: „It would swell this article beyond all proportion to enumerate and give examples of all the different kinds of poems composed by the British, Saxon and Danish poets of this Island in this Period." Ein wirkliches Studium der Denkmäler in altenglischer Sprache und damit natürlich eine jähe, große Erweiterung des Verständnisses für die angelsächsische Zeit findet sich erst bei Sharon Turner, dessen „History of the Anglo-Saxons" 1799 bis 1805 erschien. Im dritten Band liefert Turner eine ausführliche Beschreibung der angelsächsischen Kultur, auf Grund eingehender Kenntnis der Literatur in der Landessprache, vor allem der Dichtung, aus der er zahlreiche Stellen in Übersetzung anführt. Turners Kenntnis der Sprache selbst ist für die Zeit erstaunlich, aber in der Auffassung der Sprachgeschichte und -Verwandtschaft ist er nicht weiter als seine Vorgänger, und wir treffen hier noch sehr sonderbare Vorstellungen an. Im Appendix zum 2. Band wird Ähnlichkeit des Altenglischen mit allen Sprachen der Welt, u. a. Chinesisch und Lappländisch, nachgewiesen. Solchen Phantasien hat, was die Sprachverwandtschaft angeht, erst die deutsche Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts ein Ende gemacht. Die mit ihnen verbundenen pseudo-historischen Vorstellungen zu beseitigen, hatte allerdings die Aufklärung stark vorgearbeitet. Die allgemeine geistige Haltung, die als „Aufklärung" bezeichnet wird, bildet zusammen mit dem Interesse für das Kulturgeschichtliche das Charakteristische der Historiographie des 18. Jahrhunderts. England ist hier mit den drei großen Namen: Robertson, Hume, Gibbon hervorragend vertreten. Hume und Gibbon haben, so verschiedenartig auch das Thema ihrer Hauptwerke war, das Angelsachsenproblem behandelt: 47

Hume in dem entsprechenden Abschnitt seiner „History of England 1 0 2 ", und Gibbon im 38. Kapitel seines „Decline and Fall of the Roman Empire 1 0 3 ". Außerdem bringt er an früherer Stelle 1 0 4 eine ausführliche Sittenschilderung der alten Germanen. In dieser tritt besonders scharf die Geringschätzung zutage, die er f ü r diese frühen Vorfahren empfindet, trotzdem, wie er sich ausdrückt, „they possess a domestic claim to our attention and regard 1 0 5 ". Es ist bekannt, daß er damit in der Historiographie der Aufklärung nicht allein steht. Diese Abneigung hat sehr verzweigte Wurzeln, und wir können hier n u r kurz auf die hinweisen, die durch die vorangehenden Untersuchungen ohnehin bloßgelegt sind. Sie kommen zum Teil aus politischem Boden, aus dem Parteikampf des 17. Jahrhunderts. Bis zu dieser Zeit hinein war von einer absprechenden Beurteilung der nationalen Vergangenheit nicht die Rede. Wir haben gesehen, daß die Antiquare Unterschiede, also auch Wertunterschiede zwischen der Gegenwart und Vergangenheit nicht machen. Miltons Aburteilung der mittelalterlichen Quellen entspringt der Verachtung des extremen Protestanten f ü r das Mönchstum. Religiöse Wertunterschiede werden auch sonst hier und da gemacht. Die Vorstellung, d a ß die wilden, grausamen, heidnischen Sachsen durch die Christianisierung sofort zu guten, edlen Menschen geworden seien, tritt wohl auf, aber sie hat keine Bedeutung f ü r die Gesamtbeurteilung des Kulturzustandes der angelsächsischen Zeit. Eine Verachtung der alten Zeit macht sich erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bemerkbar, und zwar bei den Tories. Wir haben gesehen, daß ihre Tendenz darauf ging, das Kulturniveau des Volkes in der angelsächsischen Zeit als möglichst niedrig erscheinen zu lassen, um damit die Doktrin der Whigs, d a ß die Masse deß Volkes bereits damals als gemeinfreie Bauern an der Regierung beteiligt gewesen sei, zu widerlegen. Mit dieser Theorie verband sich bei den Cavaliers eine sehr praktische Abneigung gegen die ungebildeten, religiösen Fanatiker, als die die Vertreter der Parlamentspartei ihnen in Bausch und Bogen galten. Die Aufklärungshistoriker sind in weitem Maß Erben dieser Auffassung. Gibbon 6aß selbst jahrelang als Mitglied der Tory —, oder genauer, der Königspartei im Parlament; Hume ärgerte durch seine Darstellung zwar Whigs und Tories gleicherweise, aber seine Tory Sympathien waren doch unverkennbar. Auch kannte und verabscheute er die Engstirnigkeit religiöser Eiferer aus eigener Erfahrung. Humes und Gibbons Haltung ist die des „gentleman-scholar", einer Erscheinung,. die sich seit dem 17. Jahrhundert zeigt, und die entstanden ist aus dem Bestreben, die wissenschaftliche Bildung des Gelehrten mit der guten Erziehung und dem weiten Blick des Weltmannes zu vereinigen. 102 1761. 103 1776—1788. 104 108

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Chap. EL Chap. Et.

Diese ideale Verbindung ließ sich aber natürlich nur selten verwirklichen, und nur zu leicht wurde mit der „Pedanterie" und dem „Enthusiasmus" des Schulgelehrten auch die Hingebung an die wissenschaftliche Kleinarbeit verworfen. Diese eben erfordert aber die frühmittelalterliche Zeit in hohem Maße, und andererseits widersetzt der Stoff sich der glatten, erzählenden Darstellung, wie die Historiker der Aufklärung sie liebten. Haben sie daher auch auf diesem Gebiet die Forschung nicht unmittelbar gefördert, 60 doch mittelbar dadurch, daß sie ihr Hindernisse aus dem Wege räumten, denn frei von Respekt vor jeglicher Tradition, wie sie waren, scheuten 6ie auch vor Kritik der biblischen nicht zurück. Über die babylonischen Ursprungssagen z. B. sagt Gibbon: „Among the nations who have adopted the Mosaic history of the world, the ark of Noah has been of the same use, as was formerly to the Greeks and Romans the siege of Troy. On a narrow basis of acknowledged truth, an immense but rude superstructure of fable has been erected; and the wild Irishman, as well as the wild Tartar could point out the individual son of Japhet, from whose loins his ancestors were lineally descended 1 0 6 ." Solche Sätze haben vielleicht mehr getan, der Forschung den Weg zur Erkenntnis der richtigen Zusammenhänge zu öffnen, als ausführliche Diskussionen. Neue eigene Wege zu suchen, war nicht so 6ehr die Sache der Aufklärungshistoriker. Ihre Skepsis gegenüber den Möglichkeiten tieferen Eindringens in die Vergangenheit wurde aber glänzend widerlegt durch die Entfaltung der historischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Der Einfluß vom politischen Leben fehlt in dieser Zeit nicht ganz. Das Zweiparteiensystem bleibt erhalten. Die Namen und Programme wandeln sich zwar, aber die alte Whig- und Toryeinstellung zu den Fragen der Gegenwart bleibt, und dementsprechend eine verschiedene Beurteilung und Bewertung auch der Vergangenheit. In der Außenpolitik kommt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein neues Moment in die englische Geschichte durch die Ausdehnung der kolonialen Besitzungen, durch die Entstehung des Empire, das ein b r i t i s c h e s Reich ist, nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach. Dieses Reich wird getragen von allen Völkern, die auf der Heimatinsel Großbritannien leben, und in der gemeinsamen großen Aufgabe finden sie sich zusammen in lebendiger Einheit. So gewinnt eigentlich er6t hier im Empire d a s politische Realität, was sich die ganze englische Geschichte hindurch zu verwirklichen gestrebt hatte, und was in der Historiographie, zum Teil unbewußt, unter Verfälschung der Vergangenheit und Vorwegnahme der Zukunft seit Bedas Zeiten zum Ausdruck gekommen war. Sie hatte immer wieder, wenn auch oft genug im Zerrspiegel, die Tatsache aufgezeigt, daß die Angelsachsen in Britannien nur ein Teil, wenn auch der bedeutendste Teil, eines größeren politischen Ganzen sind. 108

Chap. IX. 49

Ihre Eigenart innerhalb des Ganzen, und die Zusammenhänge, in denen sie durch ihre Herkunft stehen, werden auch weiterhin durch die Wissenschaft geklärt und betont. Starke Anregungen kommen auch in diesem Jahrhundert wieder vom Kontinent, jetzt besonders von Deutschland. So hat z. B. der Philologe und Historiker John Kemble (1807—1857) in Deutschland studiert, u. a. unter Jacob Grimm, und die Wirkung dieser Studien zeigt sich in seinem 1849 erschienenen „The Saxons in England". Am wenigsten tiefgreifend ist vielleicht im Ganzen gesehen der Einfluß der Geschichtswissenschaft selbst. Strengere quellenkritische Methoden ermöglichen die bessere Beurteilung und Verwertung von literarischen und dokumentarischen Quellen. Es kommen bessere Ausgaben heraus von den wichtigsten Quellen: Gildas 107 , Nennius 108 , Beda 1 0 9 , der Chronik 1 1 0 , in deren Kommentaren ein unschätzbarer Reichtum von Einzelkenntnissen steckt. Aber der Fortschritt liegt eben hauptsächlich in diesen Einzelkenntnissen. Grundsätzlich Neues dagegen bringt Anfang de6 Jahrhunderts die Erhebung der Sprachbetrachtung zur eigentlichen Wissenschaft durch das Erkennen der Gesetzlichkeit sprachlicher Vorgänge. Hiermit werden nun die wirren Vermutungen, die wir vom 16. Jahrhundert an verfolgt haben, teils als richtig fest begründet, teils ab falsch abgetan. So wird auf der einen Seite Sicherheit über die sprachliche Zusammengehörigkeit der europäischen Völker gewonnen, die Angelsachsen nahe zu den Friesen und danach den Niederdeutschen gestellt, und entfernter von den Briten. Auf der andern Seite wird aber auch erkannt, daß Sprachverwandtschaft noch kein Beweis für Blutsverwandtschaft ist, was ja bis dahin immer als sicherer Grundsatz gegolten hatte, und daß physische Zusammengehörigkeit nur mit den Methoden der Anthropologie erforscht werden kann. Diese an sich junge Wissenschaft hat aber für die sichere Beurteilung der englischen Verhältnisse bis heute noch keine genügenden Vorarbeiten geliefert. Die bisherigen Ergebnisse scheinen aber dahin zu deuten, daß die Trennungslinie physischer Verschiedenheit ursprünglich nicht zwischen Briten und Angelsachsen gelegen hat, sondern zwischen Angelsachsen und keltischen Briten einerseits, vorkeltischen Briten andererseits 111 . Die historische Anthropologie arbeitet mit den Methoden der Archaeologie. Diese zwar alte, aber doch erst im letzten halben Jahrhundert in ihren Methoden gefestigte Wissenschaft hat durch erfolgreiche Arbeit in England wie auf dem Kontinent ganz neues Licht auf das angelsächsische Siedlungsproblem geworfen. Erst dadurch ist es möglich geworden, von ed. Mommsen 1898 Auct. Ant. XIII. Daselbst 1 0 8 ed. Plummer 1896. 1 1 0 ed. Plummer 1892. m Vg] Eichstedt, E. v.: Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit. 1934. S. 430 u. a. 107

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dem V e r l a u f der Siedlung, d. h. der eigentlichen Landnahme eine deutlichere Vorstellung zu bekommen. Die Grabungsfunde lassen erkennen, auf welchem Wege, wann, unter welchen Umständen die Ansiedler gekommen sind, und mit Zuhilfenahme der Ortsnamenforschung, die die ältesten Formen der Ortsnamen feststellt, lassen sich, zum ersten Mal in der langen Geschichte des Problems, die Angaben der literarischen Überlieferung: Gildas, der Chronik, durch außer-literarische Kriterien kontrollieren. R. H. Hodgkin, der zuerst die neuen Forschungsmöglichkeiten und Ergebnisse in einer zusammenhängenden Darstellung der Zeit verwertet hat, kommt dabei zu dem Schluß, daß diese literarische Überlieferung natürlich nicht in allen Einzelheiten, aber doch im Ganzen die historischen Vorgänge einigermaßen richtig wiedergibt 112 . Wir sind damit an den Ausgangspunkt unserer Untersuchung zurückgekehrt. Auf unserem Weg durch zwölf Jahrhunderte haben wir beobachten können, wie die Bearbeitung des Problems in Stufen fortschreitet. In der angelsächsischen Zeit wird die Überlieferung literarisch fixiert, von Anfang an mit einem starken Element britischer Tradition. Im Mittelalter wird dies Element herrschend; zugleich wird die Gesamtgeschichte der Insel verbunden mit der antiken Geschichte; die Form ist die populäre Erzählung. Die antiquarische Forschung des 16. und 17. Jahrhunderts zerstört die mittelalterliche Version. Anstatt in das antike wird die englische Geschichte nunmehr in das biblische Weltbild eingeordnet, innerhalb dieses Rahmens aber werden schon erhebliche Fortschritte in der Erkenntnis des Völker- und Sprachzusammenhangs in Europa gemacht. Das Bewußtsein germanischer Abkunft wird von der politischen Seite sehr gestärkt durch die wliiggistische Theorie von einer ununterbrochenen Forterbung der freiheitlichen germanischen Verfassung bis in die neueste Zeit; von der wissenschaftlichen Seite her durch die Aufdeckung der Sprachverwandtschaft. Die historischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts tragen überhaupt unendlich viel zur Aufhellung des Problems bei, lassen aber auch die Grenzen des Erreichbaren deutlich werden. Sie zeigen u. a., daß die altenglische Zeit nie wieder in der einheitlich erzählenden Form des Mittelalters wird dargestellt werden können, die seit dem 16. Jahrhundert durch die untersuchende Abhandlung verdrängt worden ist. Es sei denn, daß man wie Hodgkin, der seinem Gegenstand in der überlegenen Freiheit des gentleman-scholar gegenübersteht, ihn in der Form der Erzählung wiedergibt, deren Wesen die Untersuchung ist, — der Detective Story. Er faßt das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit dahin zusammen: „The critical methods of the nineteenth Century shattered m'ost of this picturesque narrative. In the present Century experts have been trying to produce from the study of antiquities and of placenames the material out of which a new story may perhaps some day be built up. How far 112

Vgl. z. B. Bd. I. S. 95.

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these new materials can be fitted together so as to form a safe groundwork for a revised history is the chief theme of this and the following chapters. One thing is certain — that for the time being the Germanic conquest of Britain cannot be told as a narrative. How then are we to treat it? There is no choice. It is a great enigma and we must treat it as such. The problems which it presents may interest us in much the same way as a detective story. Using the jargon of that form of fiction we may call it ,a mystery', the first and greatest in the history of England. There is no doubt about the crime itself. But the questions to which we have to seek an answer are the following. Was the general appropriation of the land of the Britons aggravated by wholesale murder? Who exactly were the invaders? What were their numbers? Where exactly did they come from? How did they make their way into the country?" Dies Buch voll wissenschaftlicher Fragen und Hypothesen liest sich tatsächlich mit gleich starker, wenn auch anderer Spannung wie die romantische Erzählung des Mittelalters.

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John Donne: The Spiritual Background. By

George G r e t t o n . The Revival of Letters in England had a slow and peculiar growth. Its development was slower because it was less a sudden revolutionary discovery of a new external culture than a steady adaptation of this culture to forces already long at work inside; and because it was overlaid and complicated by a highly formative peroid of political growth. Just as its climax coincided with that of the most intense period of English nationalism, so its origin was less exotic than elsewhere. Scratch the romantic Greek names of the Midsummer Night's Dream, and you find a solid English Bottom underneath. When William of Selling took the young Linacre to the Italy of Politian and Pico and Chalcondyles, there was already some tradition of classical learning in England. The steady growth of Oxford throughout the thirteenth and fourteenth centuries had done much to bring philosophy into contact with real life. Duns Scotus and Occam had developed Scholastic authority to a point where it had begun to criticise its own assumptions, and Wyclif, in an Oxford both critical and nationalist in temper, had anticipated the Reformation by his attack on the very sanctuary of Church doctrine, and by his appeal to the practical test of Christianity. On the philological side, Bishop Grossteste had translated Greek manuscripts into Latin and English, Richard de Bury had founded a great collection of books, and had not poor Bacon, under the dark age of the Friars, written a Greek grammar? The new humanism which Grocyn, Selling, Linacre and other enthusiastic travellers brought Back from Italy to Oxford at the end of the 15th century was, therefore, planted in a soil prepared. It is true that the movement somehow seemed to have hung fire, that the reign of Henry V l l l never became the new golden age which had seemed to Colet, More and Erasmus to be in prospect. But the vicissitudes of English humanism in the 16th century were conditioned mainly by the political fortunes of the English people. When the interlude of Mary's counterreformation was past, and Elizabeth was established on the throne, there 53

came the climax of that great wave of complex enthusiasm; Tamberlaine, the Faerie Queene, the Midsummer Night's Dream. The height of the Gloriana cult was also the height of the Renaissance enthusiasm. Then, somehow, things became more complex and less enthusiastic. Sidney, the complete English Renaissance gentleman, took his departure at the climax: „Thy rising day saw never woeful night But passed with praise from off this wordly stage." Already whispers had been heard. „It is reported thou didst eat strange flesh": Marlowe had been accused of atheism, and it seems that a serious action was pending at the time of his death 1 . The Puritan movement had begun to cast the shadow of its more baleful aspect. While Oxford harboured Jesuits in the eighties, Cambridge was already „tainted" with puritanism. Satirical poetry, not merely formal or imitative, but with a note of sharp discontent, was being written; by Raleigh, for instance. The change was stirring, so that only ten years later, when Hamlet said, „What a piece of work is man! How noble in reason? How infinite in faculty?", he was already troubled with dreams, and could think only of „the Harlots Cheeke beautied with plaist'ring Art", instead of the „lark, the herald of the morn". Where does the change pass into English literature? Marlowe was not merely a bright star of the new enthusiasm, dazzling the public and the wits alike with the vehemence and sheer beauty of his verse and intelligence. Kyd, who knew him perhaps better than any other of the poets of bis time, could write of him as „one so irreligious . . . ,causa cur diligentia' which neither was in him, for person, quallities, or honestie, besides he was intemperate and of a cruel hart 2 ." The truth of his strange case is still hidden, but we have at least a strong impression of a figure of complex genius, restless, violent, critical, disillusioned,. dangerous. „Atheism" was, of course, not what it means today, but was applied to anyone suspected of questioning any part of the currently accepted dogma on the nature of the universe or God. Atheism was also the charge levelled against Ralegh, on account of his scientific experiments. „Of Sir Walter Ralegh's schoole of Atheism, by the waye, and of the Conjurer 3 that is Master thereof", wrote the Jesuit Parsons, „and of the diligence used to get young gentlemen of this school, wherein both Moses and our Saviour, the old and the new Testament are jested at, and the scholars taught among other things to spell God backward". Much was gossipped about this circle of scientific enquirers, who may have included some disreputable characters among their number; and a less eminent man would certainly have been made to rue the 6us1 2 3

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Boas: Marlowe and his Circle, ch. 3. Letter to the Lord Keeper, 1593: Harl. M.S.S. 6843. Harriot, v. D. N. B.

picions of the orthodox. As it was, Ralegh was called upon to answer charges in connection with his speculations on the nature of life. Although this „atheism" existed largely in the suspicious minds of the orthodox, Ralegh's spirit was a new and disturbing one. This superb failure, this brilliant man whose luck was always wrong, partook of the spite of his destiny. No Englishman has had more varied gifts, or profited so little from them. Poet, statesman, scientist, courtier, explorer, soldier and patriot, endowed with every quality man desires, he finally found only a block, and even on this his head rested at the wrong angle. His voice comes down to us with a strangely moving challenge, „you shall find me at Punto Gallo, dead or alive : and if you find not my ships there, yet you shall find their ashes"; but his road led him to the Old Palace Yard, to die for a shifty gesture of appeasement from his country'6 monarch to his country's enemy. Yet not his unlucky destiny alone, but his spirit, a new spirit in English poetry, is in the poem „The Lie, or the Soul's Errand", which must have been written very soon after 1590. It is a personal, passionate satire of the whole structure of society as it existed in his time, and is far too intense to be confused with the fashionable superficial cynicism of the Elizabethan courtier. Catullus was scarcely more bitter. It reviews Elizabethan society and finds „au fond du tout le vide et le néant". „Say to the Court, it glows, And shines like rotten wood, Say to the Church it shows What's good, and does no good: If Church and Court reply, Then give them both the lie." And so on, through the whole category of society. But it was the third figure in which this new spirit appeared, John Donne, who expressed it most fully, and invested it with the deepest consequences. Mainly through Donne, Elizabethan lyric, that pure, feckless song-poetry, died out of English literature, and satire became the main poetical medium for nearly two hundred years. Donne's history is also that of a disturbing, unrestful personality; highly attractive, intensely energetic to unusual ends. This energy, denied a practical outlet, issued in a spate of subtle, sometimes tortured intellect. His life, thanks to Walton, is far better known than most of the period. He descended on the mother's side from the family of Sir Thomas More. Judge Rastall, who married the sister of Sir Thomas More, and was Donne's grandfather, died in exile on account of his adherence to the Catholic faith, and two uncles of the poet became Jesuits and died abroad. The tradition of adherence to the Roman faith was, therefore, deep in Donne's mother. She duly abominated protestantism, and the home influence was thus uncompromisingly Catholic. Donne, who showed 55

a general precocity which gave rise to „this censure of him, that this age had brought forth another 'Picus Mirandula 4 ", entered Oxford in 1583 at the age of eleven, „having at that time a good command both of the French and Latin tongue 4 ". Since 1581, when Campion and Parsons came to England to make converts to the Church of Rome, there had been much Jesuit activity. Oxford, „home of lost causes and forsaken loyalties", sheltered a circle of Roman Catholics, including Henry Fitzsimon, whom Antony a Wood called „the most renowned Jesuit of his time". Donne certainly moved in this circle. It seems that he was entered at the University at such an early age partly in order to avoid the oath of conformity, which was compulsory only after the age of 16. Neither at Oxford nor when, according to Walton, he migrated to Cambridge, did he take a degree: again, no doubt, for religious reasons. In 1592 he entered Lincoln's Inn in order to study law, with „tuition both in the mathematics and all the other libera] sciences 5 ". It was during this period that William Harrington, the seminary priest, was hunted down and captured in the rooms of Henry Donne, the poet's brother. He was executed at Tyburn, and Henry Donne, taken to the Clink on the criminal charge of harbouring a seminary priest, caught fever and died. The Roman influence was, therefore, very strong on Donne's education, although he eventually, after much deliberation, broke with the Catholic Church. The mark of this influence is to be found everywhere on his poetic style. The period from 1592 to 1600 must have been a very productive one. Donne came into contact with the wits of the Town, and established rapidly for himself a reputation as poet and conversationalist. If, as Ben Jonson asserted, he wrote all his best pieces ere he was 25 years old 6 , i. e., by 1598, and if he ran through his estate, as Walton tells us, „on chargeable travels, books and dear-bought experience", to say nothing of the interlude when he accompanied Essex on the expedition to Cadiz, his time must have been full. The later life, hinging on the sudden passionate episode of his marriage in 1600 to the niece of his employer, the Lord Keeper, is not relevant to the discussion of his poetry; for even if Ben Jonson was exaggerating, Donne's style must have been developed before he sacrificed his career to his love; and although the 1633 edition of his poems was the first of the profane ones, they were familiar long before 1600 to all who cared for these things, through the circulation of the manuscripts. What are the characteristics of this style, which won such universal admiration, from Ben Jonson's „first poet in the world for some things", on through the seventeenth century? In considering both form and 4 6 8

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Walton's „Life". Walton's „Life". Conversations recorded by William Drummond of Hawthornden.

content, it is important to bear in mind the Roman Catholic tradition in which Donne was educated. Donne's reading was wide and voracious, both in contemporary and classical literature, but his style was formed on books such as the authorities cited at the end of the L X X X Sermons; Augustine, Jerome, Ambrose, Chrysostom, Gregory, Origen, Tertullian; and, of course, the medieval commentators on these authorities. In him, the Elizabethan fancy took on an intenser extravagance from his grounding in the intellectual methods of the Schools. „Much of his wit", writes E. M. Simpson 7 „was the application of philosophical terms and images to the emotions of love and religion". The theological content of his thought is less important than the birth of the style with which he dazzled his contemporaries. To our prosaic fancy it is not vitally absorbing to know whether Donne believed with Augustine that the soul sins and thus defiles the body, or with Plotinus that the contact with matter defiles the spiritual principle 8 ; how far he accepted the neoPlatonic doctrine of forms, the mystical consciousness of the one behind the many; that he quoted Augustine's dogmatic assertion that the soul is ,,non veritate certior, 6ed consuetudine securior" and, „non electione sed fatigatione", returns to her own darkness 9 . What is interesting, however, is how far this study modified and formed his style. Examples are not far to seek. In the famous group of „Songs and Sonets" which form the first section of Professor Grierson's discouragingly perfect edition of the poems, and which were mainly in the manuscript copies circulated among the polite world before 1600, we can find the whole of Donne's manner. St. Thomas Aquinas, in the „Summa Theologia", I. li. 2, discusses the nature of the bodies assumed by angels when they appear to men. These bodies must obviously consist of one of the four elements, but the problem is that earth and water are ineligible „quia non subito disparerent", and fire, „quia comburerent ea quae contingerent". Only air remains, with the objection that it is „infigurabilis et incolorabilis". St. Thomas, however, decides that it may be condensed and thus given form and colour, by analogy with clouds. ,,Et sic Angeli assumunt corpora ex aere, condensando ipsum virtute divina, quantum necesse est ad corporis assumendi formationem 1 0 ." Turning to the poem „Aire and Angels", we can study what Donne has made of this interesting conclusion, which was then still vital to serious theological thought. The poem is addressed to his lover, and is an attempt to give expression to the intensity and purity of his passion. „Twice or thrice had I loved thee, Before I knew thy face or name; E. M. Simpson: A Study of the Prose Works of John Donne. L X X X Sermons, No. X X , p.p. 194—197; No. XXVII, p. 274. Cf. Augustine, De Civitate Dei, XIV, 3. Donne was, in fact, Augustinian. ® L X X X Sermons, No. XIX, p. 19. 1 0 Cf. Grierson's Commentary to the poems, Donne's Poetical Works, vol. 2, p. 21. T

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So in voice, so in a shapeless flame, Angells affect us oft, and worshiped bee!" But love cannot exist without taking corporeal form, „And therefore what thou wert, and who, I bid Love aske, and now That it assume thy body, I allow, And fixe itselfe in thy lip, eye, and brow." In seeking thus to ballast love, however, he had „love's pinnace overfraught", for „ev'ry thy hair" is much too much for love to work upon, since , , . . . nor in nothing, nor in things Extreme and 6catt'ring bright, can love inhere;" Then, as an angel wears face and wings „Of aire, not pure as it, yet pure," „So thy love may be my loves spheare; Just such disparity As is twixt Aire and Angells puritie, Twixt womens love, and mens will ever bee." Thus, he uses this theological distinction between the pure air and the still purer nature of the angels to express pointedly the subtle refinement of his passion. It is interesting that Milton 11 , who used his own version of this doctrine in writing a literal description of angels, left no echo behind among his contemporaries and immediate posterity, whereas Donne, by perverting such theological subtlety to the service of passion, founded a whole new poetic style which none could disregard. Again, in the famous poem, The Anniversarie, he celebrates the first anniversary of his love. Everything else is elder by a year, only their love has no decay, since it has no tomorrow or yesterday, but , , . . . truly keepes his first, last everlasting day." Death is the only divorce, and even then they shall prove „This, or a love increased there above." Then comes a familiar scholastic idea, based on the text, „In domo Patris mei mansiones multae sunt", that all in heaven are equally content; but with what superb rhetorical effect is it used! „And then wee shall be throughly blest, But wee no more, then all the rest; Here upon earth, we'are Kings, and none but wee 11

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P. L. VI, 348: „Nor in thir liquid texture mortal wound Receive, no more then can the fluid Aire: All Heart they live, all Head all Eye, all Eare, All Intellect, all Sense, and as they please, They limb themselves, and colour, shape or size Assume, as likes them best, condense or rare."

Can be such Kings, nor of such subjects bee. Who is so safe as wee? where none can doe Treason to us, except one of us two." But these individual examples, although they could be endlessly multiplied, are not the most important aspect of the effect of Scholasticism through Donne upon English poetic style. What seems to me most essential in Donne's manner is the intensity of emphasis given to hyperbole by the subtlety of his thought. What in others seemed mere academic exaggeration, becomes in Donne convincing because it is treated with circumstantial concreteness. And this quality owes much to his training among the School books. Just as the medieval theologians accepted certain authorities and attempted confidently to derive all knowledge and belief from them by means of the syllogism, Donne begins with statements outside the realm of literal belief, and by arguing from them so closely and with such intense logical consistency, forces what Coleridge called the „willing suspension of disbelief" upon his hearers. I n The Message 12 , he begins with an apparently stock Elizabethan conceit: „Send home my long strayd eyes to mee, Which (Oh) too long have dwelt on thee." But we are soon aware that here is no stock conceit, but something infinitely personal and fraught with subtle passion. Where the Elizabethan court poet pursued his conceit euphoniously to its appointed end, Donne has sat, like Milton's Heavenly Muse, „ . . . brooding on the vast Abyss", and has made it pregnant: „Send home my harmless hearte againe, Which no unworthy thought could staine; But if it be taught by thine To make jestings Of pretestings, And crosse both Word and oath, Keepe it, for then 'tis none of mine. Yet send me back my heart and eyes, That I may know, and see thy lyes, And may laugh and joy, when thou Art in anguish And dost languish For some one That will none, Or prove as false as thou art now." 12

Grierson's Ed. p. 43.

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In this, one of the simplest of all Donne's poems, he succeeds, by the seriousness with which he pursues his thought to its logical conclusion, in persuading us that this lover suffers intensely. So with The Apparition 1 3 : „When by thy scorne, O murdresse, I am dead, And that thou thinkst thee free From all solicitation from mee, Then shall my ghost come to thy bed, And thee, fain'd ve6tall, in worse armes shall see;" The painting of the atmosphere to this baleful thought is amazingly vivid. The reader trembles with the unyielding mistress: „And then poore Aspen wretch, neglected thou Bath'd in a cold quicksilver sweat wilt lye A veryer ghost then I ; " It is the logical conclusion. Or, „He is starke mad, who ever sayes, That he bath beene in love an houre, Yet not that love so soone decayes, But that it can tenne in lesse space devour." Donne had discovered something which Defoe discovered nearly a century later, that the human mind is easily convinced by circumstantial evidence; and he owed this discovery to the method he had studied in the Schools books. From the nature of this style followed inevitably another consequence. Up to Donne's time, poetry was, broadly speaking, written to be heard. The Elizabethan lyric was either for singing or speaking, as was the dramatic poetry of the strictly Elizabethan age, i. e., up to about 1600. After Donne, poetry gradually came to be written for reading. This was inherent in the intellectual complexity of the new style. You can sing „ 0 ! Mistress mine, where are you roaming", and recite „Thou art not conquered; beauty's ensign yet Is crimson in thy lips and in thy cheeks, And death's pale flag is not advanced there 1 4 ," without the slightest loss, but „Thy sin's not accidental but a trade. Mercy to thee would prove itself a bawd 1 5 :", although it is written merely for speaking, gains flavour if one sees the printed word, taking the swift bitterness of the thought into the brain 13 14 15

60

Grierson's Ed. p. 47. Romeo and Juliet, V. I l l , 94. Measure for Measure, III, 1, 147.

through the medium of the eye as well; and when we come to verse such as „Here Loves Divines, (since all Divinity Is love or wonder) may fxnde all they seeke, Whether abstract spirituall love they like, Their Soules exhal'd with what they do not see, Or, loth so to amuze Faiths infirmitie, they chuse Something which they may see and u s e 1 6 ; " it becomes completely impossible even to understand the sense by simply hearing it read. It would be idle to saddle Donne with the entire responsibility for this, but there is no doubt that his influence on his contemporaries and successors was all in this direction; nor is there any doubt that this influence was very considerable. Few escaped the fascination of his style; and the work of such men as Herbert, Vaughan and Crashaw, who formed the so-called metaphysical school, was profoundly influenced by him. Thus we may say that Donne, by exploiting the intellectual methods of the Schools theologians, forged a style which was subtle, complex, self-conscious, passionately intellectual. It remains to be considered what went to the making of his matter, as opposed to manner. While the style of Donne was dominated and moulded by the Catholic tradition, other influences went to the development of his spiritual temperament. It is true that he grew up amid the surviving, and, indeed, reviving technique of medieval Christianity. He was surrounded by the Counter-Reformation: what Campion and Parsons attempted by stealth in England, Alva was pursuing with rack and fire in the Netherlands. Nevertheless, there were other forces afoot, which we have seen in Marlowe and Ralegh. Donne came at the moment when the Renaissance in England—much later than in Italy—was taking a gloomy and sinister turn; and he is a remarkable fusion of the reviving medieval Catholicism and the dying, or diverted, enthusiasm of the later Renaissance: the double reaction. Burckhardt shows how the Renaissance everywhere lapsed from its early enthusiasm into a spirit of disillusion and cynicism. In Italy, a sinister turn was soon given to „Fay ce que vouldras"; „In der Tat war Italien eine Lasterschule geworden, wie die Welt seitdem keine zweite mehr aufzuweisen gehabt hat, selbst in dem Frankreich Voltaires nicht 1 7 ." In England libertinism and cynical vice never caught on, in spite of certain individual embodiments of „Italianate" cruelty, such as John Tiptoft, Earl of Worcester, popularly called the Butcher, who introduced the practice of impaling prisoners into England, and whose execution was the most popular of the century 18 . The reaction took the form rather of 16 11

18

Grierson, p. 30. Burckhardt, Renaissance, Absch. 2 Kap. 4.

V. D.N.B.

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scepticism and introspective disillusionment than cynicism. Hamlet is thus the supreme type of the later Renaissance, the period of disillusionment. Men had suddenly felt the loss of the soothing authority of the Church, Holy, Catholic, Apostolic and One. We are often told that the Renaissance rediscovered the human body: a slightly disapproving school of English historians believes that it was very largely an excuse for painting men and women in the nude. But the difference is less that physical life was rediscovered than that it was made self-conscious. No one who has read, say, the Nonnes Preestes Tale (C. T. 4055, ff.) or that great hymn to fleshly and spiritual love, Troilus and Criseyde, to say nothing of the Wife of Bath, can doubt that medieval physical life, at least in Chaucer's England, was something infinitely more a natural, accepted part of the existence of man than any nudist colony dreams of. Nor was it even confined to life within the marriage sacrament. To realize that, we need only think of the private lives of many people in high places, including many Church dignitaries. The whole difference lay in the attitude of the human intellect to authority. As long as man could believe, or feel, with Dante, „in His will is our peace", and as long as the Church provided a machinery, brilliantly adapted to the weakness of the flesh, for translating this attitude into actuality by means of confession, penance and absolution, it was possible to live the life of the „moyen h o m m e sensuel" without any undue searchings of heart. Indulgence of t h e senses was a sin, but then „humanum est errare", and if one carried out the required formalities, the responsibility could be transferred to the Church, and the sensualist keep his peace of mind. Such a bald statement neglects, of course, much of the subtlety of theological argument; but, „for the luf of simple men That strange Inglis can not ken", it may be more essentially true than even the refined exposition of the Friar in the Somnours Tale. When the abuses of the Church and the stirrings of new intellectual discoveries had together destroyed the efficacy of this method of vicarious responsibility, the individual soul came sharply u p against the disintegrating problem of individual responsibility. In sex most of all, the most complex and pervasive of all human functions, the weight of responsibility was terrible. Mere glorification of the body will not long satisfy the self-conscious animal whose reproductive instinct has been subjected by centuries of a more and more complex social organisation to infinite and often conflicting psychological refinements. Basically, m a n has continued to believe that the end of sex is reproduction, and not simply pleasure. The economic pressure of a monogamous marriage system has made the exclusive recognition of this end more and more difficult. Within the framework of the Church, it was possible to cater for lapses from this ideal standard, without the destruction of the principle and without too much weight of remorse on the individual 62

conscience. The Church burned good men who believed differently, and absolved criminals who acted differently, because it recognised the need of maintaining a structure, a form within which man's soul could be at peace: not the peace that pa6seth understanding, but a passive peace which eliminates disintegrating conflicts. Certainly, it did not act consciously and consistently from this motive: often it acted merely because political artifice is a deep ditch, and he who has once sacrificed means to end cannot regain the integrity of his soul's citadel: but that is the logical conclusion of its process. When the gates of this form had been broken down by the flood of the Renaissance and Reformation, and after the first enthusiasm of the new freedom had passed, there began the reaction, which in England took mainly three shapes, all different, yet identical in origin. There were two absolute possibilities: Calvinistic puritanism, a natural and simple solution for those who saw life as a grey monotone; frank libertinism, for scarlet monotonists. The third shape was born of the union between these two; to it belonged all who resorted to some kind of eclecticism: those who tried to reconcile intellectual libertinism with emotional puritanism, like Jonson; those who tried to reconcile emotional libertinism with intellectual puritanism, like Bacon and the author of „Venus and Adonis"; those who tried to express the beauty of the translunar in terms of the sublunary, like the Arminians, who tried to forge themselves a weapon which should have the toughness of the puritan cold steel, and the flexibility and shimmer of the Catholic silver and gold. They set a standard of personal purity which should out-Herod the Puritans, while retaining the tradition which had helped the Church to imprison the imaginations of men for so long. No psalm-singing weaver ever lived more cleanly than Jeremy Taylor, or than Laud himself, for that matter. Laud did more than any other man within the Anglican Church has done to purify it, and when he was gone the ikonoklasts began to put forth such blossoms as Adamism. There has never been a higher spiritual and moral standard in the Church of England than in the period of Herbert, Vaughan, Taylor and Donne, even if it was the period of sweet pagan Herrick. But it did not do: the Puritans hated its emotional richness worse than the most abandoned libertinism. The conflict of temperament released by the Reformation went too deep. Donne can only be understood within this stormy background. Apart from his technical influence upon the great school of religious poets who adorned the ranks of the Arminians, it is only the knowledge of this conflict which explains the utter consistency of his transition from the libertine court poet to the writer of the Divine Poems, by way of the Progresse of the Soule. There was no reform: he was occupying himself as deeply with religious matters at nineteen as he did at forty. He had sucked in theology with his mother's milk; but in him the conflict was more passionate than in any other because he had to choose literally 63

between the Catholic and Protestant Churches. It drove his subtle temperament through a maze of intellectual and moral disintegration, and the essential note of his thought is always the same: dissatisfaction with the simple straightforward life of the flesh, whether this took the form of cynical contempt of womankind, as in the song, „Goe and catche a falling 8tarre 19 ." or of over-refinement of passion, as in „The Curse20", „Whoever guesses, thinks, or dreames he knowes Who is my mistris, wither by this curse;4' and in „Farewell to Love21", and in a hundred others; or whether it took the form of passionate longing for grace in the religious poems, such as „Batter my heart, three person'd God 22 ;" or even the savage denunciation of the flesh which we find constantly in the sermons. „Wee are all conceived in close prison; in our Mothers wombes, we are close Prisoners all; when we are borne, we are borne but to the liberty of the house; Prisoners still, though within larger walls; and then all our life is but a going out to the place of Execution, to death 23 ." Or, again, „Thy flesh is thy clothes; and to this mischievous purpose of fouling thy hands with thine own clothes, thou hast most clothes on when thou art naked 24 ." There is not so much difference between this mood and the straight-forward cynicism of the early Paradox, „A Defence of Womens Constancy", „Women are like flies, which feed among us at our Table, or Fleas sucking our very blood, who leave not our most retired places free from their familiarity . . . " Over and over again come references to the weakness and corruption of the body, which so haunted him that at last he had his portrait painted in his winding-sheet. Whether or not he ever really found peace, as Walton assures us with almost too much protestation, and as a poem like A Hymne to God the Father only partly suggests, we do not know: Certainly what remained behind, to be transferred to his successors—and few of his younger contemporaries or immediate successors escaped his spell entirely—was a sense of unrest, of passionate query. He had got the spite of the later Renaissance into his bones, and man could not delight him, no, nor woman either, in a simple, natural way. He was always being driven by his spiritual conflicts into revulsion or over-refinement. If we bear two influences in mind, the Catholic and the Renaissance, we can see his development as a coherent whole. The same spirit which made his love poems passionate and complicated, made his religious poems stormy and restless. „Batter my heart, three person'd God . . . " 19 20 21 22 23 24

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Grierson's Ed. p. 8. Grierson's Ed. p. 41. Grierson's Ed. p. 70. Grierson's Ed. p. 328. LXXX Sermons, p. 267. — Cf. Hamlet, II, 11, 244 ff. LXXX Sermons, p. 129.

„ 0 might those sighes and teares returne againe Into my breast and eyes, which I have spent," and, best known of all, the Hymne to God the Father already referred to: „1 have a sinne of feare, that when I have spunne My last thred, I shall perish on the shore: But sweare by thy selfe, that at my death thy sonne Shall shine as he shines now, and heretofore; And, having done that, Thou hast done, I feare no more 2 5 ." Although he claimed, according to Walton, that he always returned from hearing this hymn sung „with an unexpressible tranquillity of mind, and a willingness to leave the world", we cannot but feel that the spirit which thus expressed its devotion was by nature far from tranquil. It was a spirit formed by conflicting elements. F o r all its preoccupation with medieval forms, it was troubled with dreams that were playing then about the minds of men: and those dreams were the first stirrings of the modem world.

25

Grierson, p. 369. V. annotation.

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Das „ j u n g e Mädchen".

E i n B e i t r a g zu d e m T h e m a : D i e F r a u in d e r der Restauration.

Komödie

Von

H e d w i g Mau. Da das puritanische Lebensideal im Prinzip zu eng und daher in seinen Möglichkeiten zu begrenzt war, mußte es — trotz der starken Impulse, die es seinen Anhängern vermittelte, und der bewundernswerten Leistungen, zu denen es anspornte — auf die Dauer als entwicklungshemmend, ja sogar von den sich allmählich regenden unterdrückten Kräften als Verzerrung der Wahrheit empfunden werden. Diese neuen Mächte konstituierten sich durch die Restauration der Stuarts im Jahre 1660. Sie verkörpern das Streben nach der Mobilisierung a l l e r Kräfte, nach dem Ausgleich, und deuten auf die tiefen Zusammenhänge hin zwischen scheinbar polaren Gegensätzen, wie den großen Manifestationen des Puritanismu8 (Paradise Lost — Pilgrim's Progress) und der Restaurationskomödie als Abbild der sich so leichtfertig und frivol gebärdenden vornehmen Gesellschaftskreise jener Zeit. Im Rahmen der Gesamtentwicklung sind diese Erscheinungen von gleich großer Wichtigkeit. Wenn daher auch das Blickfeld der Restaurationskomödie eng erscheint, die — ohne bedeutende Hintergründe — mit wenig tiefgreifenden Unterschieden immer dieselben Themen abwandelt, wenn auch ihre Moralauffassung in jener extremen Form mit ihren Vertretern untergegangen ist, so bedeutet sie doch mehr als ein mechanisches Zurückschlagen des Pendels, mehr als die durch den Druck asketisch-puritanischer Lebensauffassung erzeugte Reaktion: sie ist seit langem vorbereitet durch heimische (Hobbes) und fremde Einflüsse (namentlich Frankreichs) und hat gestaltend und befruchtend in die Zukunft gewirkt. Wie positiv und lebensnotwendig sich diese Bewegung selbst empfand, dafür legen die Skrupellosigkeit und das gute Gewissen, mit denen sie ihr sinnenfreudiges Lebensideal verkündigte und lebte, ein beredtes Zeugnis ab. Ihre Glieder — der Hof und die vornehmen Gesellschaftskreise Londons — fühlten sich als Bannerträger einer neuen Wahrheit, einer neuen Tugend, deren Prinzip „pleasure" 1 , „sheer enjoyment" 2 hieß — die ungehemmte Lusterfüllung 1 Rochester: Satire ag. Man. Works, vol. 1 p. 5: Our Sphere of Action is Life's Happiness: And he who thinks Beyond, thinks like an Ass, (Zit. b. A. Beljame: Le Public et les Hommes de Lettres. Paris 1897, p. 8.) 2 Mrs. Aphra Behn, The Plays, Histories, And Novels With Life And Memoirs, London 1871: Town-Fop, p. 40.

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gebot, und der man mit Ernst und Eifer nachstrebte. Daß diese gesellschaftliche Revolution außerdem eng verknüpft war mit der politischen3, verlieh ihr noch eine besondere Schwungkraft. Die Partei des Königs betrachtete es geradezu als Ehrensache, durch offenes Bekenntnis zu allen bisher verbotenen und verdächtigten Lebensgenüssen, gegen die vielfach zur Maske herabgesunkene Heiligkeit der Puritaner 4 , gegen die Heimlichkeit ihrer Ausschweifungen zu protestieren und der Zerrissenheit und Zwiespältigkeit des puritanischen Gewissens eine neue Einheit, eine vollkommene Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis entgegenzustellen. Diese Verflechtung der Motive erklärt auch die souveräne und rücksichtslose Durchführung der neuen Moralauffassung, ihre äußerste Radikalisierung und damit zugleich die ganze Komplexität ihres Lustbegriffs. Denn seine Erfüllung wird keineswegs allein in der einfachen Befriedigung aller Sinne gesucht, die im Liebesgenuß gipfelt 5 , sondern auch in der Realisierung tollster Einfälle. Ein traditionelles, in jener Form durchaus nicht harmloses und ungefährliches Vergnügen des „fine gentleman" ist das sogenannte „scowring", das schon dem Altertum bekannt war und sich in einer sehr zahmen Fortsetzung, den „Studentenstreichen" späterer Zeit, erhalten hat 6 . Neben diesen primitiveren Instinkten finden sich auch Neigungen höherer Art, die zu diesem rauhen und groben Gebaren in striktem Gegensatz stehen. Im gesellschaftlichen Verkehr wird die größte Sorgfalt auf feine und elegante Umgangsformen gelegt. Fast die gesamte Kritik hebt anerkennend „the ease of manner and freedom of movement" 7 , „the refinement of manners" hervor, sowie als ein weiteres Plus „the ease and refinement of dialogue" 8 . Die Rückeroberung einer durch die puritanische Weltanschauung abgeriegelten Gefühls- und Vorstellungswelt, die skeptische Haltung in Dingen der Religion, die ungebundene in denen der Moral, kurz: die unumschränkte geistige Bewegungsfreiheit zusammen mit den Anregungen, die mancher führende Royalist aus seiner Berührung mit der hoch entwickelten französischen Gesellschaftskultur geschöpft hatte, geben dem gesellschaftlichen Verkehr Vgl. George Meredith: An Essay on Comedy, Third Ed., Westminster 1903, p. 11. Mrs. Behn: a . a . O . S. 67: Roundheads, p. 327: For all degrees of Vices, you must grant, there is no rogue like your Geneva Saint. 6 Thomas Shadwell, Complete Works, Ed. by M. Summers, London 1927: The Amorous Bigotte, p. 23: . . . of all our Art and Industry, our toyl and hazard, Woman's the sweet end. 6 Vgl. A. Beljame — a.a.O. S. 67 —: Le Public et les Hommes de L., p. 4 ft.; p. 36 f. — Th. Shadwell — a . a . O . S. 68 —: The Scowrers, p. 99 ff. — Mrs. Behn — a.a.O. S. 67 —: Younger Brother, p. 353. At Houses of Pleasure breaks Windows and Doors; Kicks Bullies and Cullies, then lies with their Whores. Rare work for the Surgeon and Midwife he makes . . . 7 William Ward: Hist, of Engl. Dram. Lit., London 1899, vol. I l l , p. 300. 8 Allardyce Nicoll: A History of Rest. Drama, 1660—1700, Cambridge 1923, p. 25. 3

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eine neue pikante Note, regen zu überraschenden Verknüpfungen an und wecken die Lust an bewegter, leichter, flüssiger Konversation. „Wit" zu besitzen, ein „wit" zu sein, die Situation durch schlagfertige, scharf pointierte Rede zu beherrschen, ist der Ehrgeiz des gentleman der guten Gesellschaft 9 . Aus der Art dieses Lustbegriffes lassen 6ich nun leicht bestimmte Formen und Geschmacksrichtungen der Gesellschaft ableiten.- Die jetzt zu einem allgemeinen „horror" gesteigerte Abneigung gegen das Landleben wird verständlich. Die Weite und Stille der Natur, die Einsamkeit der Wälder und riesiger Parks müssen den Gesellschaftsmenschen der Restauration beengen und bedrücken und ihn auf sich selbst zurückwerfen. E r aber genießt sich nur in seinen vielseitigen Beziehungen zu Menschen. Die Schönheiten der Natur berühren ihn nicht: „ — — — half a score young men and fine Ladies well drest, are a greater Ornament to a Garden, than a Wilderness of Sycamores, Orange and Lemmon Trees; and the rustling of rich Vests and Silk Pettycoats, better Musick than the purling of Streams, Chirping of Birds, or any of our Country Entertainments" 1 0 . „I contemplate the chief Works of Nature: fine Women; and the Juice of the Grape, well concocted by the Sun 1 1 . E r fühlt sich abgestoßen durch die groben Manieren und die plumpen, einförmigen Vergnügungen der country squires, deren Hauptzerstreuung die Jagd ist, denn „for want of Friendship with Men they divert themselves with their Enmity to Beasts". — Your true Country Squire lives in Boots all the Winter and if an ill Day comes, saunters about his House, lolls upon Couches, sighs and groan6, as if he were a Prisoner in the Fleet; the best thing he can find to do, is to Smoke, Drink and play at BackGammon with the Parson" 1 2 . Die Unterhaltung, die sich gemäß der beschränkten Interessensphäre der squires nur um Jagd, Hunde, Pferde und Falken drehen kann, bietet 9 A. Beljame — a. a. 0 . S. 67 — Le Public et les Hommes de L., p. 4: La conversation polie et l'urbanité des rapports remplaçaient le jargon biblique et la glace puritaine. 1 0 Charles Sedley — Poet, and Dram. Works, Ed. by V. De Sola Pinto, London 1928: Mulberry-Garden, p. 119. 1 1 Th. Shadwell — a. a. 0 . S. 68 — : Bury-Fair, p. 337. V 2 Th. Shadwell — a. a. 0 . S. 68 — : Epsom-Wells, p. 170. — Bevil: We never meet like Country-Sots to drink only, but to enjoy one another, and then Wine steals upon us unawares, as late hours do sometimes upon yourselves at Cards. — Rains: And it makes your dull Fools sit hickupping, sneezing, drivelling, and belching with their eyes set in their heads, while it raises men of heat and vigour to mirth and sometimes to extravagance. — Bevil: And which ¡6 most scandalous, witty extravagance, or drivelling, snivelling sneaking dulness?

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Ihm keinen Anreiz und keine Gelegenheit, seinen „wit" spielen zu lassen und zu „brillieren". Ein Leben in dieser Monotonie der Umgebung und Beschäftigung würde für ihn daher völlige Selbstaufgabe bedeuten. Für ihn kann ländlicher Besitz nur das Mittel sein, um seinem pleasure-Ideal dort zu leben, wo es allein realisierbar ist: in der Stadt, in London, „this most blessed Town", „this Paradice of the world!" 1 3 , wo die Gegensätze aller Art härter und tiefer — die Spannungen intensiver sind 14 . Denn nur, wenn sich ihm tausend Möglichkeiten bieten, wenn er den Gegenstand seines Begehrens ständig wechseln kann, erlebt der wit „Lust" in seinem Sinn. Er kennt deshalb kein Verweilen, kein Verharren. Unauflöslich mit seinem pleasure-Prinzip ist daher das Prinzip der „variety" verbunden. „As he varies his Sports, his whole Life is a Feast" 1 5 , und ganz scharf wird die innige Zusammengehörigkeit beider Prinzipien formuliert in dem Satz: „Variety is the Soul of Pleasure"1®. Mit dieser Anschauung macht auch der gentleman nicht Halt vor dem begehrtesten Objekt seiner Lu6t: der Frau. „Constancy, that current Coin with Fools 1 7 ." „No, my Passion, like great Victors hates the lazy stay, but having vanquish!, prepares for new Conquests 18 ." Diese unproblematische Auffassung 19 von „Liebe" hebt theoretisch alle Bindungen zwischen den Geschlechtem auf. Eine äußere Bindung wird sogar als der einem Ideellen feindliche materielle Gegensatz empfunden: „Marriage is rather a sign of interest than love" 2 0 , „ . . . is a scandalous way of L i f e " 2 1 . . . „ i s the Way of all F l e s h 2 2 ! ! "

Kinder, die erzeugt werden „in the hot Sunshine of Delight", müssen deshalb hochwertiger sein als diejenigen „brooded in the cold Nest of Wedlock" 23 . „Great wits and great braves have always a punk to their mother 24 ." Es wird daher nicht überraschen, den gentleman in derselben AbwehrTh. Shadwell — a.a.O. S. 68 — : The Scowrers, p. 98. Vergl. A. Hamilton: Mémoires du Chevalier de Grammont, Paris 1861, und Mrs. Behn — a . a . O . S. 67 —: Rover II, p. 118. 1 6 Mrs. Behn — a. a. O. S. 67 —: Younger Brother, p. 353. 1 6 Mrs. Behn — a . a . O . S. 67 — : Rover I I ; p. 100. 1 7 Mrs. Behn — a . a . O . S. 67 — : Rover I I ; p. 115. 1 8 Mrs. Behn — a . a . O . S. 67 — : Feign'd Curtezans, p. 268. 1 9 Th. Shadwell — a.a.O. S. 68 — : The Amorous Bigotte, p. 23: — what is Love? why nothing but great Lust. 2 0 William Wycherley, Mermaid Series; Ed. by W. C. Ward: Country Wife, p. 272. 2 1 Mrs. Behn — a . a . O . S.67 — : Dutch Lover, p. 188. 2 2 Th. Shadwell — a.a.O. S. 68 —: The Mister, p. 91. 2 2 Th. Shadwell — a. a. 0 . S. 68 — : The Miser, p. 91. 2 3 Mrs. Behn — a . a . O . S. 67 — : Dutch Lover; p. 195. 2 4 William Wycherley — a . a . O . S. 70: Love in a Wood; p. 31. 13

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Stellung gegen „marriage", „matrimony " 2 5 zu sehen wie gegen „country life", da sie notwendig den Untergang seiner wit-Existenz in sich schließen und ihn dem Mitleid und Bedauern seiner intimeren Freunde und dem Gelächter und Gespött aller zünftigen wits der Stadt ausliefern 2 6 . Die im Hinblick auf das Thema wichtigste und interessanteste Frage ist nun die: wie gestaltet sich das Leben und der Charakter der Frau unter der Herrschaft dieser Moralauffassung? Vergegenwärtigt man sich jenen Lustbegriff mit seinen Konsequenzen, so versteht es sich, daß die neue Moral auf ihre Lebensumstände und auf ihr Verhalten geradezu revolutionierend wirken mußte. Die festen Formen, in denen sich bisher ihr Leben vollzog, sind zertrümmert, haben zum mindesten ihren ethischen Wert eingebüßt. Indem nun der Mann alle äußeren Bindungen meidet und seine Rolle als verantwortlicher Beschützer der Frau aufgibt, d. h. sich in jeder Hinsicht unumschränkte Bewegungsfreiheit sichert, gesteht er auch der Frau Freiheit und Selbstbestimmungsrecht zu. Durch seine Freude am Ungewöhnlichen, Neuen, Extravaganten stürzt er die Begriffe von dem, was man bisher als schicklich und anständig f ü r die Frau empfand, also die Begriffe von „modesty" und „honour". Er genießt sie jetzt als Darstellerin weiblicher Rollen auf der Bühne, einer bis dahin in England streng verpönten französischen Sitte. E r liebt es, sie in allerhand Verkleidungen — sie übernimmt jetzt sogar auch männliche Rollen — in den außergewöhnlichsten und pikantesten Situationen zu erleben 2 7 . E r läßt sie teilnehmen an seinen Vergnügungen: am Spiel und an seinen Weingelagen 28 . Er schätzt in der Konversation den freien, ungezwungenen Ton und den raschen, gewandten Gegner, so d a ß die Beispiele in der Komödie nicht selten sind, wo die maskierte Dame den gentleman allein durch ihren Geist entzückt 2 9 . Diesen Tendenzen des Mannes kommen nun Neigungen und Anlagen der Frau weitgehend entgegen. Unbedenklich ergreift sie daher die neuen Möglichkeiten, die ihr durch die veränderte Haltung des Mannes geboten werden. Und wo sie zögert, wird sie durch das Beispiel ihrer wagemutigeren Geschlechtsgenossinnen oder durch die allgemeine Stimmung 25 Th. Shadwell — a.a.O. S. 68 —: True Widow; p. 350: But if I should marry, what will the World say of my Wit? I had rather lose my Honour and 6tarve than lose the name of a Wit. 26 Th. Shadwell — a.a.O. S. 68 —: Volunteers; p. 198: What shall I do? If I Marry, the Beaus will all make Horns at me. — W. Wycherley — a. a. O. S. 70 —: Country Wife, p. 271: We men of wit condole for our deceased brother in marriage, as much as for one dead in earnest. 27 A. Beljame — a. a. 0 . S. 67 —: Le Public et les Hommes de L., p. 32 ff. 28 Mrs. Behn — a.a.O. S. 67 —: Younger Brother, p. 402. — W. Wycherley — a.a.O. S. 70 —: Country Wife, p. 320. 29 George Etherege, Dram. Works, Percy Reprints No. 6, Oxf. 1927: She wou'd if she cou'd, p. 108. — Th. Shadwell — a.a.O. S. 68 —: Epsom-Wells, p. 115.

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mitgerissen. Denn auch die Frau kann sich dem Einfluß dieser Stimmung nicht entziehen und ist von demselben Hunger nach „pleasure" 3 0 , von derselben Neugier auf das Leben erfüllt wie der Mann; und aus dem Zusammenwirken innerer Momente und den günstigen äußeren Bedingungen bildet sich ein Frauentyp heraus von ganz bestimmten Eigenschaften. Das freie Spiel der Kräfte, das nun an die Stelle der in der Auflösung begriffenen Bindungen getreten ist, fördert die geistige Beweglichkeit, verlangt Mut und Entschlußkraft. Die dauernde Anstrengung, sich im Wirbel der Meinungen, Intrigen und Ansprüche zu behaupten, erhöhen Umsicht und Scharfsinn, ja stärken noch jene als speziell „weiblich" bekannten Charaktereigenschaften: Verstellungskunst, Raffiniertheit, Koketterie. Die intime Berührung mit allen Realitäten des Daseins, die ungehemmte Bewegungsfreiheit 3 1 , steigern die Bewußtheit und erzeugen damit zugleich jene nüchterne, kritische, illusionslose Betrachtungsweise ihrer Lage und der sie umgebenden Menschen, die von den Kritikern so oft als „gefühllos" empfunden wird 3 2 . Die Erweiterung ihrer Aktionssphäre und endlich die Erkenntnis, im Brennpunkt des männlichen Lustbegehrens zu stehen, stärken das Selbstbewußtsein, erhöhen das Selbstgefühl. Ist es da zu verwundern, d a ß diese hier in erster Linie als Folge dargestellten Eigenschaften nun zur Ursache werden und daß die Frau, die sich in einer ganz neuen Weise erlebt, nun ihrerseits — von einem starken Individualitätsbewußtsein erfüllt — Ansprüche erhebt auf Selbstbestimmung und Respektierung dieser ihrer Individualität? Im Salon der Lady Townley unterhält man sich über die neue Zeit. „Well! this is not the Womens Age, let 'em think what they will; Lewdness is the business now, Love was the bus'ness in my Time", r u f t die alte Lady Woodvil aus 3 3 ! Sie wurzelt mit ihren Anschauungen in einer vergangenen Periode und sieht nur die negative Seite des Problems. I h r bedeutsamer Ausspruch beweist aber jedenfalls, daß sie sich mit ihrer Meinung im Gegensatz zu der herrschenden Ansicht befand. Und in der Tat, wenn man jene Steigerung des Selbstgefühls, die Verbreiterung der Macht- und Einflußsphäre und das damit zusammenhängende Geltungsbedürfnis als einen Gewinn f ü r die Frau bucht, so wird man die Berechtigung, von einem „Zeitalter der F r a u " zu sprechen, nicht leugnen können. Diese Auffassung wird auch bestätigt durch eine typische Schöpfung der Restaurationsperiode, das „heroic play", die heroische Tragödie. 30

She (Mrs. Behn) was a Woman of Sense and by consequence a Lover of Pleasure. (Life and Memoirs — a. a. O. S. 67 —.) 31 W. C. Sydney: Social Life in Engl. 1660—1690, London 1892, p. 351 ft. women went everywhere with perfect freedom. 32 A. Nicoll •— a.a.O. S. 68 —: Hist, of Rest. Drama, p. 185: a total lack of any emotion. 33 G. Etherege — a.a.O. S. 71 —: Man of Mode, p. 245. 72

Hier lebt ein Stück Ritterromantik wieder auf in dem galanten Verhältnis des Helden zu seiner Dame. Diese Gattung verdankt ihr Entstehen — nach B e l j a m e 3 4 — der Vorliebe des Königs für das französische klassische Theater und derjenigen der Frauen für die romaneske Literatur. „Les femmes, si recherchées et si adulées, devaient 6e plaire au spectacle de ces superbes vainqueurs s'humiliant devant la beauté 3 5 ." Die Hauptwesenszüge jener Frau der Restaurationsperiode offenbaren sich nun auch in den verschiedenen Frauentypen der Restaurationskomödie und gestalten dort, wo die Frau als Gegenspielerin des Mannes auftritt, das Verhältnis der Geschlechter in einem ganz neuen Sinne problematisch 3 6 .

Der am häufigsten vorkommende und reizvollste Typ ist der des „jungen Mädchens", der „young lady of quality". Um seine wichtigsten Eigenschaften aufzuzeigen, werde ich eine seiner bedeutendsten Vertreterinnen analysieren: die Harriet aus „The Man of Mode", von Georg Etherege (a. a. 0 . S. 10), einer Komödie, die noch die ganze Frische und Unmittelbarkeit jener ersten Zeit der Restauration atmet. Gerade von Harriet besitzen wir eine besonders eingehende allgemeine Charakteristik, die — abgesehen von unbedeutenden Abweichungen — auf alle young ladies paßt (p. 193). Danach ist sie sehr reich (she's an Heiress vastly Rich), von guter Herkunft (sie ist die Tochter der vornehmen Lady Woodvil), geistvoll (sie hat „Wit" — more than is usual in her Sex — ) mit einer würzenden Dosis von „Bosheit" (and as much malice), äußerst temperamentvoll (she's as wild as you wou'd wish her), und schön: a fine, easie, clean shape, light brown Hair in abundance, her Features regular, her Complexion clear and lively, large wanton Eyes, Teeth white and even, pretty pouting Lips, with a little moisture ever hanging on them that look like the Province Rose fresh on the Bush, 'ere the Morning Sun has quite drawn up the dew. — Was aber ihr Aussehen, das Vitalität, Genußfähigkeit und Genußfreudigkeit ausstrahlt, so anziehend macht, ist eine gewisse Ernsthaftigkeit (and has a demureness in her looks that makes it so surprising). Sieht man neben dieser lebhaften „extravaganten" Tochter deren Mutter Lady Woodvil, eine freundliche Matrone und „great admirer of the Forms and Civility of the last Age" (p. 193), so erkennt man, daß sich in Mutter und Tochter zwei Welten verkörpern — zwei Epochen — a. a. O. S. 67: Le Public et les Hommes de L., p. 40 f. A. Beljame — a . a . O . S. 67 — : Le Public et les Hommes de L., p. 47. 3 8 Vgl. zu diesen Ausführungen die interessante Bemerkung in „The Cambridge History of Engl. Lit.", vol. VIII, p. 140: „It is assuredly a matter for comment that the first woman to write professionally for the English stage should have begun her career at a moment when the morality of English drama was at its lowest ebb." 34

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zwei Weltanschauungen, und daß die Gegensätze zwischen ihnen weit größer sein müssen, als sie gewöhnlich zwischen Jugend und Alter zu sein pflegen. Lady Woodvil vertritt in der Erziehung das Prinzip unbedingter Unterwerfung unter die elterliche Autorität, und um Harriet vor den Gefahren und den verderblichen modernen Einflüssen der Stadt zu bewahren, läßt sie sie in völliger Einsamkeit auf ihrem Landgut in Hampshire aufwachsen und bewacht sie dort so eifersüchtig wie „an old doating Keeper his Mistress" (p. 194). Mit Recht wundert sich der wit Mr. Medley, daß Lady Woodvil plötzlich mit ihrer Tochter in der Londoner Gesellschaft auftaucht, und wir erfahren bald durch Harriet selbst, daß es ihr „auf diplomatischem Wege" gelungen ist, sich aus der strengen Abgeschlossenheit zu befreien. Um die alte Dame ganz in Sicherheit zu wiegen und sich völlige Bewegungsfreiheit zu verschaffen, hat sie ein kühnes Komplott mit dem in London lebenden jungen Bellair geschmiedet, der ihr von Lady Woodvil zum Gatten bestimmt worden ist. Zum Schein sind beide auf cfön Heiratsplan eingegangen, der auch von dem Vater Bellairs begünstigt wird. Begeistert stimmt Harriet dem Vorschlag Bellairs zu, die Verliebten zu markieren, und mit viel Anmut und Geschick setzt sie vor den entzückten Alten — Old Bellair und Lady Woodvil — ein kleines Liebesspiel in Szene! (p. 223 f.) „If it be but for the dear pleasure of dissembling" (p. 222), hatte Harriet übermütig ausgerufen! Sie ist leicht — beweglich — liebt es zu schauspielern, ihre Umgebung zu necken, zu überraschen — durch ihre Einfälle zu frappieren. Sie ist, wie alle young ladies, voll prickelnder Lebenslust, voller Sehnsucht nach Vergnügen, der großen Welt, dem Unbekannten, der Liebe. — Aber die Skrupellosigkeit, mit der sie die Sorglosigkeit und Vertrauensseligkeit ihrer Mutter ausnutzt, die Selbstverständlichkeit und das gute Gewissen, mit denen sie alle diese kleinen Täuschungsmanöver ausführt, haben tiefere Ursachen. Daß ein fremder Wille über sie verfügt wie über eine Sache und ihr einen Gatten bestimmt, erfüllt sie mit Trotz und tiefster Empörung. Sie vergleicht sich der hochfahrenden Merab, der ältesten Tochter Sauls (p. 220) und ruft entrüstet aus: „Shall I be paid down by a cpvetous Parent for a purchase? — No, I'le lay my seif out all in love" (p. 220). Deshalb hat sie den Entschluß gefaßt: „to be disobedient" (p. 221). Dieser Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung verrät, daß sie schon von dem modernen Geist infiziert ist. Er zeugt von einem starken Persönlichkeitsbewußtsein und einem Gefühl für die Unantastbarkeit gewisser Rechte dieser Persönlichkeit. Die Aussprüche mancher young ladies in ähnlicher Lage bringen das noch schärfer und überraschender zum Ausdruck: — „when Parents grow arbitrary, 'tis time, we look into our 74

Rights and Privileges" 3 7 — oder: „We were born free, and we'll preserve that freedom; we have learn'd more Wit than to call Selfdefence Rebellion'^. Zu dieser Verteidigung ihres Selbst und seiner „Rechte" und „Privilegien" ist auch Harriet übergegangen. Sie will von nun an ihr Schicksal 6elbst in die Hand nehmen und nach einem passenden Liebhaber Umschau halten. Der modernen Frau bietet sich eine Fülle von Gelegenheiten. Die eleganten Promenaden und Plätze der Stadt: Gray's Inn Walks; Moorfield; the New Exchange; die öffentlichen Gärten: the New Spring-Garden; the Mail in St. James's Park; Hyde Park und der berühmte Mulberry-Garden — die Salons und Theater und sogar auch die Kirche sind die Treffpunkte der vornehmen Welt, die „love-markets", wo man sein Glück versuchen kann. Dabei gestattet der Zeitgeschmack den Damen, ihre Gesichter hinter den sogenannten „vizor-masks" zu verbergen, die ihnen den Übergang zu freieren Gesellschaftsformen wesentlich erleichtern, ihren Witz und ihre Keckheit beflügeln. Als eine sozusagen eingeschaltete Hemmung im Liebesspiel erhöhen sie die Spannung und wirken auf die gallants geradezu „provocative" 3 9 , geben ihnen „curiosity and appetite" 4 0 , so daß der erfahrene Pinchwife seiner jungen Frau ängstlich entgegenhält: „Masks have made more cuckolds than the best faces that ever were known". Ein letztes Mittel, zwanglos die Bekanntschaft eines gentleman zu machen, ist die Verkleidung als Jüngling: auf jeden Fall eine raffinierte Maske, die stets sensationelle, pikante Erlebnisse verspricht. Wir sehen Harriet maskiert die Stadt durchstreifen. „At the 'Change" erspäht sie zum erstenmal den berühmten wit Dorimant und beobachtet, wie er mit einer Verkäuferin scherzt. Seit dieser Stunde ist sie zur Verzweiflung ihrer Zofe eigenwilliger, mokanter, übermütiger denn je und läßt sich häufig ein Lied vortragen, das vor der Liebe warnt! Von dem heimlichen Wunsch getrieben, die Bekanntschaft Dorimants zu machen, gelingt es ihr, Bellair zu einem Spaziergang in „the M a i l " 4 1 zu überreden. Schon die Unterhaltung mit ihm ist voll feiner, charakteristischer Züge (p. 233). Wie unabsichtlich lenkt sie sofort das Gespräch auf Dorimant, an den sie unausgesetzt denkt. B . : By this time your Mother is in a fine taking. R . : If your friend Mr. Dorimant were but here now, that she might find me talking with him! Welch eine Verschleierungstaktik! Als ob sie seine Gegenwart nur herbeiwünschte, um der alten Dame, die von der dämonischen Wirkung 37 38 38 40 41

Mrs. Behn — a . a . O . S. 67 — : Younger Brother, p. 345. Th. Shadwell — a . a . O . S. 68 — : Scowrers, p. 110. (Die Whig-Doktrin!) Th. Shadwell — a . a . O . S. 68 — : Epsom-Wells, p. 112. W. Wycherley — a. a. O. S. 70 — : Country Wife, p. 287. „a gravel walk in St. James's Park".

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Dorimants auf Frauen fest überzeugt ist, einen lustigen Strich zu spielen! Und als Bellair lachend forscht: You do not apprehend him so much as she does? antwortet sie möglichst unbefangen und leichthin: I never saw anything in him that was frightful. Diese neutrale Erklärung genügt anscheinend dem Bewunderer Dorimants nicht. Aber durch seine herausfordernde Frage: On the contrary, have you not observed something extream delightful in his Wit and Person? fühlt Harriet sich zu einer kritischen Stellungnahme gezwungen: He's agreeable and pleasant, I must own, but he does so much affect being so, he displeases me. B.: Lord, Madam, all he does and says is so easie and so natural. H.: Some Mens Verses seem so to the unskilful, but labour i' the one and affectation in the other to the Judicious plainly appear. Bellair, dem der eigentliche Sinn von Harriets Reden verborgen bleibt, stammelt erstaunt: I never heard him accus'd of affectation before! und gibt schließlich dem Gespräch eine andere Wendung: Most people prefer High Park to this place. Gewiß, Harriet gibt zu, Hyde Park steht in besserem Ruf. Aber sie, die frische, lebensvolle, abenteuerlustige, erlebnishungrige young lady, die geschworene Feindin aller öden Steifheit und Gleichförmigkeit, verabscheut the dull diversions there, the formal bows, the Affected smiles, the silly by-Words, and amorous Tweers in passing; here one meets with a little conversation now and then! Warnend meint Bellair: These conversations have been fatal to some of your Sex, Madam. Die Erwiderung Harriets ist höchst bedeutsam: It may be so; because some who want temper have been undone by gaming, must others who have it wholly deny themselves the pleasure of Play? Von Selbstsicherheit und Selbstvertrauen erfüllt, nimmt Harriet hier für sich eine Sonderstellung in Anspruch. Zugleich aber wirft sie dem Manne den Fehdehandschuh hin. Sie verzichtet nicht — sie will den Kampf aufnehmen und fordert den Gegner heraus! Und wie aus dem Boden gewachsen steht er schon vor ihr: Trust me, it were unreasonable, Madam. Es ist Mr. Dorimant, der diese Worte spricht und sich tief verbeugt. Er 76

ist ihr heimlich gefolgt — er sucht ein neues Liebesabenteuer und neuen Triumph. Siegesgewiß hebt er den Fehdehandschuh auf! — Man könnte hier die Frage aufwerfen: Wie kommt es, daß Harriets Wahl gerade auf Dorimant fällt, daß — allgemein gesprochen — die young lady sich dem wit zuwendet, dem typischen Anhänger des Lustprinzips, der die Frauen genießen will, wie man „meat", „drink", „air" 4 2 genießt, der in ihr nur das Objekt seiner Lusterfüllung sieht, der sie mehr oder minder als Gattungswesen liebt zur Erhöhung seines eignen Selbst und dem sie als Individuum, als Persönlichkeit, als die sie sich fühlt, durchaus kein Problem ist? Gerade Dorimant ist einer der skrupellosesten und glänzendsten Vertreter jener Gattung. Er ist der Libertin par excellence, der die Lust bis in ihre intimsten Winkel ausgekostet hat, der die Frauen zu kennen glaubt und bis zu einem gewissen Grade auch kennt. Im Gegensatz zu manchen seiner „Zunftgenossen", bei denen das wit-Ideal weniger soigniert erscheint je nach der größeren Enge und Unkompliziertheit der Charaktere überhaupt und einer gewissen Beimischung von Gutmütigkeit oder sorgloser Heiterkeit und Einfalt, steht er weniger i n als vielmehr ü b e r den Situationen, die er kühl überlegend abwägt und — sich selbst beherrschend — meistert. Er ist ein Stück Mephisto, ein Don Juan, der jene elegante Lässigkeit und Undurchdringlichkeit zur Schau trägt, die ihn zum Abgott der Frauen machen; der Leidenschaften zu erregen weiß, ohne sich dabei selbst ganz aus der Hand zu geben und auch wohl, ohne je selbst ganz ergriffen zu sein. Neben dem wit-Typ kommen noch zwei andere Männertypen als Liebhaber in Betracht. Es ist verständlich, daß die young lady sich von dem in manchen Komödien auftretenden alten, aber reichen Lüstling abwendet und mit aller Realistik jener Zeit das Unmoralische und Unästhetische einer etwaigen Verbindung schildert. Ebenso begreiflich ist ihre Stellung zum would-be-wit. Wo nämlich der wit auftaucht, da segelt in seinem Kielwasser der would-be-wit oder half-wit. Neben dem Verkörperer des pleasure-Ideals dem Wesen, dem Sein nach, tritt sein Imitator auf. Er ist gewöhnlich ein gutmütiger Bursche, dem alle inneren Voraussetzungen für das wit-Sein fehlen, und der nun ein rein äußerliches wit-Schema nachzuleben sucht und im eifrigen Bemühen um den Schein zur Karikatur des echten wit werden muß. Er ist immer und von vornherein komisch durch den Gegensatz zwischen seiner harmlosen, ungefährlichen Natur und den Anstrengungen, etwas dieser Natur ganz Zuwiderlaufendes darzustellen. Wie der Narr folgt er ganz seinen Eingebungen ohne rechten Kontakt mit seiner Umgebung. Er sieht und bewundert nur eich selbst. „Is there any creature so happy as your affected Lady or conceited 4 2 Mrs. Behn — a.a.O. S. 67 —: Feign'd Curtezans, p. 269. Mrs. Behn ist wesentlich gröber als Etherege!

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Coxcomb? — They have a happy error, that serves their turn better than truth 4 3 !" Man sehe nur, wie der köstliche Sir Fopling Flutter (Man of Mode, p. 231), für den der Sitz einer Krawatte ein schwerwiegendes Problem bedeutet, in seiner neuen französischen Gewandung vor den Damen sich gleich einem eitlen Backfisch dreht und wendet und gar nicht merkt, welche Heiterkeit sein Gebaren erregt! Wie ahnungslos er Harriet in die Falle geht, die ihn zur Zielscheibe ihres boshaften Spottes macht! (p. 251 ff.) Denn — die young lady duldet ihn wohl in ihrem „Hofstaat", treibt zuweilen ihre Spaße mit ihm — Narren sind ein gutes Mittel gegen Grillen, meint Millamant 44 — spielt ihn auch gelegentlich gegen ihren Liebhaber aus, um diesen ein wenig zu reizen, nimmt im übrigen aber keinerlei tiefes Interesse an ihm. Mit dem Ausscheiden dieser beiden Bewerber ist allerdings das Problem noch nicht gelöst, warum die young lady dem wit ihre volle Zuneigung schenkt, und warum die stolzesten und klügsten Frauen den tollsten und ausschweifendsten unter ihnen den Vorzug geben! Sehr geringschätzend äußern sich gerade diese Frauen über die „fine gentlemen" von ruhigerer, zahmerer Gemütsart. So urteilt Harriet über den liebenswürdigen, aber harmlosen Bellair: „The man indeed wears his Cloaths fashionably, and has a pretty negligent way with him, very Courtly, and much affected; he bows, and talks, and smiles so agreeably, as he thinks. Varnish'd over with good breeding, many a blockhead makes a tolerable show." (p. 220.) Ihre Neigung geht in eine andere Richtung. „Women love the careless, insolent, and loud" 4 5 . — Dieser vielleicht auf den ersten Blick erstaunliche Geschmack der young lady wird ganz grotesk in der Komödie „The City Heiress" v. Mrs. Behn betont. Ein gentleman, der gutherzige, wohlgesittete Charles, wirbt ehrerbietig und rücksichtsvoll ohne Erfolg um seine Dame — und wird nun von seinem Vater mit Hilfe eines Weinrausches in ein Draufgängertum hineingehetzt, daß er schließlich unter Anwendung von brutaler Gewalt Lady G. zu erobern sucht. Der Vater ahnt, daß von seinem Sohn Eigenschaften gefordert werden, die er von Natur aus nicht besitzt. Er irrt zwar, wenn er glaubt, diesen Mangel durch äußerliches Gebaren wettmachen zu können. Denn — und das ist der springende Punkt! — nicht das wilde Draufgängertum, das tolle Leben ist es, was die young lady anzieht, sondern die Bemerkung Mr. Courtalls trifft das Richtige, daß sie diese Äußerungen schätzt als Symptom, als Zeichen „of youth and high mettal" 4 6 , daß es ihr also in WirkTh. Shadwell — a. a. O. S. 68 —: Lancashire Witches, p. 112. W. Congreve: The Complete Works. Ed. by M. Summers, London 1923. The Way of the World, p. 34. 4 5 Th. Shadwell — a. a. O. S. 6g —: True Widow, p. 329. 4 6 G. Etherege — a. a. O. S. 71 —: She wou'd if she cou'd, p. 121. 43 44

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lichkeit auf das starke Temperament, den beweglichen Geist, die Kühnheit, kurz: auf die M ö g l i c h k e i t e n des Charakters ankommt. Sie liebt das Abenteuer, die Gefahr — sie möchte ihre Kräfte mit einem e b e n b ü r t i g e n Gegner messen. Deshalb ruft Eugenia, Wild? never trouble thy self for that, my dear! I warrant thee, I'll tame him, the wilder the better 4 7 . Sie fühlt in sich die Kraft, ihn zu fesseln, die noch schweifenden Leidenschaften deB unruhigen wit auf sich zu konzentrieren! — why this lewd Cozen of ours, wirft Clara ein, they say, has had all the women in Town that are to be had for Love or Money. Eugenia: — then will my conquest be the greater and I shall triumph over all them he has had, and he will be the more likely to be constant to me whom he never h a d 4 7 . Wir sehen, daß es nicht zuletzt ein Macht- und Geltungsbedürfnis ist, das sie antreibt, ihn zu erobern und dort zu siegen, wo andere scheiterten. Millamant, die in gewisser Weise eine Ergänzung zu Harriet bildet, nennt die Liebe, die nicht mit Ehrgeiz gepaart ist, geradezu eine Schwäche — „eine schwache Flamme" — „which, if not fed, expires, and feeding, wastes in Self-consuming Fires." 'Tis not to wound a wanton Boy, Or am'rous Youth, that gives the Joy; But 'tis the Glory to have pierc'd a Swain 4 8 For whom inferior Beauties sigh'd in vain. Jene „inferior Beauties", jene „easy Women" (p. 249), denen Harriet sich so überlegen fühlt, treten häufig in den Komödien als Rivalinnen der young lady auf. Dorimant unterhält noch Beziehungen zu zwei anderen Frauen. Seine Geliebte, die hemmungslos leidenschaftliche Mrs. Loveit, durchschaut das frivole Spiel, das er mit ihr treibt. Sie weiß, d a ß sie seine Zuneigung verloren hat und nur noch Gegenstand seiner Eitelkeit ist. Aber sie vermag ihrem hitzigen Temperament, ihrer heftigen Liebe zu ihm, keine Zügel anzulegen. Es fehlt ihr an jener Kraft, Spannungen zu ertragen. Ihre innere Abhängigkeit von ihm, und vor allen Dingen ihr mangelndes Gefühl f ü r Würde u n d Stolz treibt sie stets wieder in seine Arme. E r spielt sie geschickt wie ein vertrautes Instrument. Es gibt in diesem Verhältnis keine Überraschungen mehr, u n d er kann schon im voraus den ganzen Verlauf ihrer Gefühlskurve berechnen, die sich bis zum höchsten Affekt steigern läßt. Als sie in ohnmächtiger Wut ihren Fächer zerbricht, antwortet er gelassen: Spare your Fan, Madam, you are growing hot and will want it to cool you (p. 215). Trotz aller Vorwürfe — sie nennt ihn faithless, inhumane, barbarous (p. 214), 41 48

Th. ShadweU — a . a . O . S. 68 —: Scowrers, p. 98f. W. Congreve — a. a. 0 . S. 78 —: The Way of the World, p. 45.

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base, scurrilous (p. 217) —, trotz aller stürmischen Szenen, die sie ihm macht, fühlt er seine unbegrenzte Macht über sie, und ihr nach einer erregten Auseinandersetzung in vollster Empörung hervorgestoßenes False Man! quittiert er lächelnd mit einem: l'rue Woman! (p. 216). In diesem vielsagenden Wort liegt letzten Endes ihre ganze Schuld beschlossen, und sie wird mit unerbittlicher Konsequenz vernichtet. Bellinda bildet gewissermaßen einen Übergang zu Harriet, zum young lady-Typ. Sie ist die Vertraute Mrs. Loveits und das Ziel der Begierde des Dorimant. An dem Schicksal der Loveit ermißt sie klar ihr eigenes Los und schwankt zwischen nüchterner Einsicht und höriger Leidenschaft hin und her — läßt sich wider besseres Wissen durch Worte und Liebesbeweise, die Dorimant nichts kosten, betören und wird in diesem Zustand innerer Unsicherheit schließlich eine Beute seines herrischen Begehrens. Wir kehren an den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück, nachdem kurz die Ursachen des Mißerfolges der Mitbewerberinnen Harriets angedeutet und die Stellungnahme der young lady zu dem in seinem Lustbegehren befangenen wit dargelegt wurde. Wir sind eingeweiht in Harriets geheime Pläne und sehen sie zuversichtlich und kampfbereit ihren Gegner erwarten. Sein unverhofftes Auftreten scheint ihre Angriffslust zu lähmen. Sie ist plötzlich ernst geworden, so daß Dorimant interessiert bemerkt: (III, 3, p. 235) Overcast with seriousness o'the sudden! — A thousand smiles were shining in that Face but now; I never saw so quick a change of Weather. Harriet (aside): I feel as great a change within; but he shall never know it (p. 235). Eine große Wandlung hat sich in ihr vollzogen! Sie ist von Liebe zu diesem wit ergriffen! Dunkel ahnt sie, daß diese Leidenschaft eine Gefahr für ihre innere Sicherheit und Überlegenheit bedeutet, daß sie den schwachen Punkt in ihrer Kampfstellung bildet, und sie reagiert spontan mit einem: Aber er soll es niemals wissen!! Instinktiv sucht sie sich zu schützen. Allmählich wird diese zuerst nur unwillkürliche Reaktion zugleich auch eine bewußte taktische Maßnahme, die mancher young lady manchen Stoßseufzer über das Sich-verstellen-müssen entlockt 4 9 ! Harriet hat sich schnell gefaßt, und unter dem Deckmantel leichter Konversation suchen beide Gegner, die feindliche Stellung auszukundschaften und die Möglichkeiten für den Sieg der eignen Sache zu erforschen. 4 9 Th. Shadwell — a . a . O . S. 68 — : Th. Shadwell: Squire of Alsatia, p. 258.

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Scowrers,

p. 119, Volunteers,

p. 185 f. —

D.: You were talking of Play, Madam; Pray what may be your stint? H.: A little harmless discourse in publick walks, or at most an appointment in a Box bare-fac'd at the Play-House; you are for Masks, and private meetings, where Women engage for all they are worth, I hear. Wer sich nicht die verborgenen Absichten und Wünsche der beiden vergegenwärtigt, der könnte meinen, es handle sich um einen gleichgültigen Austausch von Meinungen. Man tut so, als ob man ganz allgemein seinen Geschmack und sein Verhalten in einer bestimmten Situation fixiere, und dennoch ist jeder Satz, jedes Wort nur gesprochen im Hinblick auf eine mögliche engere Beziehung zum andern. — Harriet verfehlt nicht, ihn von vornherein auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die seiner harren. Sie scheut sich nicht, auf die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze anzuspielen. Aber durch die Worte „wie ich höre" dringt sie weiter in ihn — verät sie die Hoffnung, etwas Gegenteiliges, ihren Wünschen Entsprechendes zu hören. In der Tat erweist sich Dorimant feinfühlig und beweglich genug, auf sie einzugehen: I have been us'd to deep Play, but I can make one at small Game, when I like my Gamester well; worauf Harriet ihn durch Zweifel und kritische Bemerkungen stachelt, sich noch weiter vorzuwagen:

an-

And be so unconcern'd you'l ha' no pleasure in't. D.: Where there is a considerable sum to be won, the hope of drawing people in, makes every trifle considerable. H.: The sordidness of mens natures, I know, makes 'em willing to flatter and comply with the the Rich, though they are sure never to be the better for 'em. D.: 'Tis in their power to do us good, and we despair not but at some time or other they may be willing. Wirklich? Sollte ein wit, der bedingungslose, sofortige Übergabe — herrisches Besitzergreifen — gewohnt ist — ohne sichere Aussicht auf Erfolg um eine Frau werben, sich um sie bemühen, also nach seiner Auffassung den „schmachtenden Liebhaber" spielen? Das würde doch seinen Prinzipien widersprechen! H.: To men who have far'd in this Town like you, 'twould be a great Mortification to live on hope. Oder sollte es doch möglich sein? Could you keep a Lent for a Mistriss? Da wagt Dorimant einen Vorstoß: er zerstört mit einem Schlage alle Heimlichkeit und wechselt unerwartet aus der Sphäre des scheinbar Neutralen ins Persönliche hinüber: 81

In expectation of a happy Easter, and though time be very precious, think forty daies well lost, to gain your favour. Doch: geistesgegenwärtig und instinktsicher weicht Harriet ihm aus: Mr. Bellair! let us walk, 'tis time to leave him, men grow dull when they begin to be particular . . . so daß sein Hieb ins Leere trifft. Dennoch: die Verbindung ist hergestellt, das gegenseitige Interesse geweckt, und dies Vorgeplänkel endet in einer freundschaftlichen Neckerei; — Lady Woodvils Erscheinen macht diesem ersten Beisammensein ein Ende. Der zurückbleibende Dorimant ist von den widersprechendsten Empfindungen bewegt. Er ahnt, daß Harriet einen Wendepunkt in seinem Leben bedeutet, und unwillkürlich wehrt er sich gegen das unbekannte Neue. she has left a pleasing Image of her self behind that wanders in my Soul — it must not settle there. Aber ach! Snatcht from my self how far behind Already I behold the shore 60 . Daß Harriet nicht untätig zusieht, wie sich die Dinge weiter entwickeln, sondern „hinter den Kulissen" tatkräftig ihre Sache fördert und ihm eine neue Chance gibt, beweist ihr lustiger Einfall, den ihrer Mutter so verhaßten Dorimant bei einer Festlichkeit im Hause der Lady Townley als Mr. Courtage einzuführen. Dorimant errät den Urheber des Plans und ruft entzückt: This is Harriets contrivance — Wild, witty, lovesome, beautiful and young — (p. 244). An dem betreffenden Ballabend weiß er die Rolle des ,,foppish admirer of Quality, who flatters the very meat at honourable Tables, and never offers Love to a Woman below a Lady-Grandmother!" (p. 244), so geschickt zu spielen, daß er sich zum größten Ergötzen der übrigen Gesellschaft das völlige Vertrauen der Lady Woodvil erwirbt! (IV, 1.) — Nach diesem glänzenden Erfolg versucht er sein Glück bei der Tochter. Der folgende Dialog ist eine einzige, hartnäckige Attacke Dorimant» und eine ebenso sichere und zielbewußte Verteidigung Harriets. Der Gegenstand ihrer Unterhaltung ist scheinbar ganz oberflächlich — nichtssagend: Dorimant möchte ein Lächeln auf Harriets Antlitz hervorzaubern! In Wirklichkeit aber handelt es sich um etwas Gewichtigeres und Tieferes. Er, der Sieger, dem bisher noch keine Frau ernstlich widerstanden hat, und der gewohnt ist, seine Gunstbezeugungen stets von einer lebhaften Gefühlsreaktion beantwortet zu sehen, sieht sich einer stolzen Unnahbarkeit gegenüber. Sein ganzes Bestreben ist nun darauf gerichtet, diesen Widerstand zu brechen, Harriet schmiegsam — willfährig zu machen, um in seinem alten Triumphgefühl schwelgen zu können. — 60

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E. Waller: Of Loving at first Sight.

Etwas selbstgefällig und gravitätisch — m u ß man sich vorstellen — kommt er ihr entgegen. Wenn er jedoch glaubt, nach jener heimlichen Auszeichnung auf eine gewisse Vertraulichkeit und Liebenswürdigkeit rechnen zu können, so sieht er sich getäuscht. Harriet begegnet ihm mit ebenso undurchdringlicher Miene und gemessener Höflichkeit! Diese Art reizt ihn, und mit einem erprobten Mittel sucht er sie aus ihrer Reserve herauszulocken: er packt sie bei ihrer Eitelkeit: That demure curt'sy is not amiss in jest, but do not think in earnest it becomes you. Harriet ist in diesem Punkt unangreifbar! Sie durchschaut ihn, und etwas belustigt und ironisch bemerkt sie: Affectation is catching, I find; und fügt halb neckisch, halb spöttisch hinzu: from your grave bow I got it! Deutet sie damit nicht leise auf das Versteckspiel hin, das hier gespielt wird? Er scheint es zu überhören und fährt eifrig fort: Where had you all that scorn, and coldness in your look? H. : From nature, Sir Das ist nun zweifellos bewußte Verstellung und doch liegt hierin zugleich eine Wahrheit. Denn diese Koketterie entspringt letzten Endes nicht einer Affektiertheit, sondern dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb einer Persönlichkeit, die 6ich bewußt in ihrer wahren Gestalt zur Geltung bringen will, wenn sie dann weiter behauptet: I have not learnt those softnesses and languishings Which now in faces are so much in fashion. Dorimant m u ß bekennen: You need 'em not, you have a sweetness of your own Der Routine setzt sie ihre natürliche Schönheit und Anziehungskraft entgegen. Gewiß, auch sie liebt den lebhaften, wechselnden Gesichtsausdruck, das Raffinement, aber ein Raffinement, das die Widerspiegelung eines reichen und komplizierten Tempéraments ist: My Eyes are wild and wandring like my passions Sie h a ß t die wohleinstudierte, schmachtende, wie eine Maske wirkende Miene so mancher Gesellschaftsdame, die immer einlädt: Come love m e ! S i e denkt nicht daran, einem Manne zu Gefallen so verbindlich zu sein ! I am sorry my face does not please you as it is — Dorimant spielt einen letzten Trumpf aus. Wenn er sie nun bei Hofe einführt, wird sie sich sicher bemühen, so strahlend schön wie möglich zu erscheinen, u m vor den kritischen Augen der gentlemen des Hofzirkels zu bestehen. Wieder hat er sich verrechnet ! E r prallt mit seinen Vorschlägen ab an ihrem stolzen Selbstgefühl. Denn niemals wird sie den 83

Beschluß einer aus den verschiedensten Elementen zusammengewürfelten Gesellschaft anerkennen. I h r aristokratisches Empfinden sagt ihr, daß das richtige Urteil nie von der Menge gefällt werden kann: Beauty runs as great a risque expos'd at Court a6 wit does on the Stage, where the ugly and the foolish, all are free to censure. Sie pariert seine Angriffe aus ihrem ungebrochenen, klugen Instinkt — aus der natürlichen Selbstsicherheit ihres Wesens heraus. Er bewundert sie und gesteht sich heimlich: Ich liebe sie! Aber er wagt nicht, ihr zu verraten, daß sie Macht über ihn gewonnen h a t ! Sie könnte sonst alles Unrecht rächen, das er ihrem Geschlecht angetan h a t ! Trotzdem — fast im selben Augenblick — spricht er ihr, alle Vorsicht außer acht lassend, von einem plötzlichen Impuls getrieben, doch von dieser Liebe!! Harriet, die sicher schon gefühlt hat, daß er ihr ins Garn gegangen ist, zeigt diesmal nicht die geringste Spur von Verwirrung. Von ihrer überlegenen Position aus, die er durch sein Geständnis anerkennt, weidet sie sich an ihrem Opfer, das sich hinreißen läßt, die bisher so klug beobachteten Grenzen zu überschreiten. You make me start! I did not think to have heard of Love f r o m you. Ihre scheinbare Ruhe und Unempfindlichkeit verführen ihn, immer weiter vorzugehen und zu bekennen, d a ß er bisher n u r „irregulär fitts", aber noch kein „settled Ague" gekannt habe. Wie eine Unbeteiligte warnt Harriet ihn schalkhaft, sich doch ja in acht zu nehmen, denn „sickness after long health is commonly more violent and dangerous", so daß er sie erstaunt fragt, ob sie das Wort „Liebe" so fürchte, daß sie es nicht ertragen zu können glaube? — Aus dieser Frage, wie aus dem folgenden etwas plumpen, aber f ü r Dorimant so charakteristischen Hinweis, daß doch jenes Wort so mancher Frau zum Verhängnis geworden sei, spricht noch seine ganze fine-gentleman-Eitelkeit; und man m u ß sich vorstellen, wie Harriet sich noch einmal hoch aufreckt und noch einmal scharf ihre Auffassung kennzeichnet: Das Wort „Liebe", von Eurem Munde gesprochen, kann n u r wenig Eindruck auf mich machen. Ich gehöre nicht zu jenen törichten, leichtgläubigen Frauen, die durch W o r t e berauscht und erobert werden. we are not all born to one destiny", bedeutet sie ihn selbstbewußt. Aber — da sie ihn liebt, kann es nicht in ihrer Absicht liegen, ihn schroff zurückzustoßen, und deshalb baut sie ihm eine Brücke — gibt sie ihm seine Bewegungsfreiheit — alle Möglichkeiten zurück. „Man hat mir gesagt", heißt es wieder, „you use to laugh at Love and not make it". Damit streckt sie zugleich einen Fühler aus, ob er sich jetzt, wo er ihre Grundlage kennen muß, abschrecken läßt. Er reagiert in der ersehnten Weise! The time has been, but now I must speak — Das genügt i h r ! Und kokett zieht sie sich hinter Lachen u n d Scherzen zurück. — Es gelüstet sie nach größeren Siegen, und er erfährt nun den Preis, um den sie ge84

wonnen werden kann. Nur der Eingeweihte kann die ganze Schwere der Bedingungen ahnen: When your Love's grown strong enough to make you bear being laugh'd at, I'll give you leave to trouble me with it. Till when pray forbear, Sir. Die für jeden wit furchtbarste Forderung ist in diesen Worten enthalten! Denn nichts fürchtete er ja so sehr, wie zum Gespött seiner Freunde zu werden, und lächerlich machte er sich — wie eingangs ausgeführt — durch „marriage" und „country L i f e " ! Harriet verlangt also nichts Geringeres als Selbstaufgabe — völlige Umkehr — eine ganz neue Bewußtheit — ein ganz neues Selbstbewußtsein! Ihre hohe Selbstbewertung duldet nicht, der Befriedigung einer Laune, eines flüchtigen Begehrens zu dienen, und die young lady scheut sich deshalb nicht, den wit in jenen wirklich tief-komischen Konflikt zu stürzen! — Dieser Konflikt wird schließlich zu ihren Gunsten entschieden, und hier könnte das Duell seinen Abschluß finden. Dennoch setzt es sich fort! Jetzt, nämlich, wo der Liebhaber ihrer Zustimmung harrt, wo die Blicke aller auf sie gerichtet sind und ihre Erklärung erwarten, verhält sie sich höchst merkwürdig. She's never well but when she's talking of you, but then she finds all the faults in you she can. She laughs at all who commend you, but then she speaks ill of all who do not, sagt Bellair zu Dorimant (p. 263). Man erinnert sich an Harriets Vorsatz: but he shall never know it. Nur er? Nein, niemand soll es j e erfahren, daß sie liebt! Die Preisgabe ihrer Gefühle, jede Nachgiebigkeit empfindet sie als Schwäche. Innerlich wehrt sie sich nach Art aller selbständigen, herrischen Naturen gegen das Überwältigtwerden durch die Leidenschaft — schwankt sie hin und her zwischen Liebe und Stolz. Und — hierin liegt nun die feine Komik dieser Gestalt! — in dem krampfhaften Bemühen, alle Welt über sich zu täuschen, sich den Anschein der alten Festigkeit und Sicherheit zu geben, jeden Einbruch in ihr allerpersönlichstes Gefühlsleben zu verhüten, übertreibt sie ihre Rolle, verwickelt sie sich in die lustigsten Widersprüche und verrät sich gerade dadurch dem scharfsichtigen Beobachter! „Sie liebt dich!" schließt Bellair und klug fügt Dorimant hinzu: Women of their temper betray themselves by their over cunning (p. 263). Auch von ihrer vertrautesten Umgebung läßt sie sich kein Geständnis abringen, sondern versteift sich wie ein eigensinniges Kind auf hartnäckiges Leugnen. Dabei naht der Termin ihrer Rückreise nach Hampshire! Ihre Freundin Emilia und Busy, die Zofe, dringen verzweifelt in sie: E.: what think you of Mr. Dorimant? H.: I do not think of him at all. E . : Mr. Dorimant has a great deal of wit. H.: And takes a great deal of pains to shew it. E . : He's is extremely well fashion'd. 86

H.: Affectedly grave, or ridiculously wild and apish etc. (p. 276). Sie gerät sogar in eine ganz gereizte Stimmung, und Busy meint etwas boshaft, n u r das Lied des Dorimant, das sie so sehr liebe, könne sie besänftigen! Trotz Harriets naivem Protest: She has a voice will grate your Ears worse than a Cat-call singt Busy das Lied, dessen letzte Strophe bezeichnenderweise lautet: Fly, fly betimes, for fear you give Occasion for your Fate. In vain, said she, in vain I strive, Alas! 'tis now too late. (p. 277.) Da tritt Dorimant plötzlich ein und zitiert aufgeräumt: Musick so softens and disarms the mind — und selbstvergessen fällt Harriet ein: That not one Arrow does resistance find51. I h r Inneres liegt entschleiert vor ihm, und schnell möchte er die glückliche Stunde zu seinen Gunsten nutzen: „Let us make use of t h e lucky Minute, then". — Harriet fühlt, wie ihr das Blut in die Wangen steigt und m u ß sich abwenden: My love springs with my blood into my Face, I dare not look upon him yet. Aber anstatt sich jetzt zu entscheiden, nimmt sie den Kampf gegen ihren Geliebten von neuem auf!! Seinen Antrag weist sie ironisch ab: You are the common sanctuary for all young Women who run from their Relations. Als er davon spricht, d a ß er ihr nicht n u r seine Arme, sondern sein Herz öffnen wolle, „where none yet did ever enter" — das sie mit einem Geheimnis erfüllt habe, das, wenn er's sie nur wissen lassen dürfe — — unterbricht 6ie ihn schroff: Do not speak it, if you would have me believe it; your tongue is so fam'd for falshood 'twill do the truth an injury. Ihre Skepsis, ihr Mißtrauen scheinen unüberwindlich. Trotzdem Dorimant sieht, wie sie mit sich k ä m p f t — sie m u ß sich wieder! abwenden! — ist er doch machtlos ihr gegenüber. — Endlich bietet er ihr einen untrüglichen Beweis seiner völligen Umkehr an: er will auf alle Freuden, die er bisher in der Freundschaft, im Wein, im Verkehr mit andern Frauen fand, verzichten! Muß nicht Harriet, deren sehnlichster Wunsch es war, ihn so sprechen zu hören, seinen Werbungen nachgeben? Im Gegenteil! Es scheint, als ob sie sich immer mehr zurückzöge, je weiter er ihr entgegenkommt. Denn schnell verschanzt sie sich hinter eine neue Forderung! (Recht boshaft klingt es): 6:1

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E. Waller: On my Lady Isabella playing on the Lute.

Hold — though I wish you devout — I would not have you turn Fanatick — Could you neglect these a while and make a journey into the Country? Ihm soll nichts geschenkt werden — er soll den Kelch bis zur Neige trinken — er soll nach jeder Richtung hin den Beweis für seine kühnen Liebesbeteuerungen antreten. Und hört man recht? To be with you I could live (!) there; and never send one thought to London. Auch Harriet ist erstaunt: What e're you say, I know all beyond High-Park's a desart to you, and that no gallantry can draw you farther worauf Dorimant sich zu der Erklärung hinreißen läßt, daß seine Liebe keine Grenzen mehr kenne. Die Vergangenheit ist ausgelöscht! There's no measure to be taken of what I'll do for you from any thing I ever did before. Müssen nicht diese Versicherungen Harriet überzeugen, ihre letzten Skrupel beseitigen, ihren Widerstand brechen? Muß sie nicht eine so bedingungslose Unterwerfung durch freudige Zustimmung lohnen? When I hear you talk thus in Hampshire, I shall begin (!) to think there may be some little truth (!) inlarg'd upon. Mit diesen kühlen, wohlgesetzten, vorsichtigen Worten gießt sie Wasser in seinen brausenden Wein, dämpft sie seine Zuversicht. Ganz enttäuscht murmelt er: Is this all — will you not promise me Die Antwort auf diese zögernde Frage ist höchst beachtenswert und bedeutungsvoll: Nein, sie wird nichts versprechen! I hate to promise! what we do then is expected from us, and wants much of the welcom it finds, when it surprizes. Sie mag sich nichts abzwingen lassen! Sie will nicht festgelegt werden, sondern aus dem Augenblick heraus entscheiden. Möge er ausziehen wie ein fahrender Ritter, wie ein Abenteurer ins Ungewisse — möge er alles wagen, ohne schon im voraus zu wissen, ob sich der Einsatz auch lohnt!! D.: May I not hope? Gewiß, wenn er sich ihr in jener respektvollen inneren Haltung naht, die ihm Grund gibt zu hoffen: That depends on you, and not on me, and 'tis to no purpose to forbid it. Als zum Schluß Dorimant der Lady Woodvil seinen Besuch in Aussicht stellt und sie ihn willkommen heißt, malt Harriet dem heiteren, an rauschende Feste und geselliges Treiben gewöhnten wit in düsteren Farben 87

warnend das Bild von Hampshire, und es klingt fast ein wenig der eigene Schauder vor der heimatlichen Öde hindurch (p. 287): To a great rambling lone house, that looks as it were not inhabited, the family's so small; there you'l find my Mother, an old lame Aunt, and my 6elf, Sir, perch'd up on Chairs at a distance in a large parlour; sitting moping like three Melancholy Birds in a spacious vollary Does not this stagger your Resolutions? So entflieht sie ihm und läßt ihn in Unsicherheit und Zweifel zurück. Man ahnt nur den Ausgang, man kennt ihn nicht. Prüft man das Verhalten der young lady im Liebesduell, so kommt man zu der Feststellung, daß ein rationales Element dominiert. Sie tritt dem wit mit der ganz bestimmten Absicht entgegen — wie wir sahen — ihn zu „zähmen" und für sich zu gewinnen. Dennoch haben wir es nicht mit dem kalten, berechnenden Spiel einer herzlosen Koketten zu tun. Denn: Dieses Bewußte, Rationale ist bedingt durch ein Emotionales, Geistiges, das aus dem Unbewußten ihrer besonders gearteten Persönlichkeit fließt und immer den Untergrund jenes Liebesspiels bildet, ihm seinen eigentümlichen Reiz und 6eine tiefsinnige Komik verleiht. Die letzte tiefste Ursache nämlich für ihr ehrgeiziges Streben ist ihr Selbstbehauptungsdrang, der wiederum ihrem ausgeprägten Individualitätsbewußtsein und ihrer hohen Selbsteinschätzung entspringt. Dieser Kampf um die Selbstbehauptung wird nach zwei Seiten hin geführt. Ihr Gegner ist einmal der genußsüchtige, begehrliche wit — der zweite Feind ersteht ihr in ihr selbst. Denn die Liebe, die die Triebfeder ihrer ganzen Aktivität um den gentleman bildet, also im Dienst ihrer Persönlichkeit steht, wird — da sie ihrer Natur nach zur Hingabe drängt — der Selbstherrlichkeit eben dieser Persönlichkeit zur Gefahr und muß in ihr einen Konflikt mit ihrer ureigensten Wesensart hervorrufen. Dieser Widerstreit von Liebe und Stolz — Hingabegeneigtheit und Selbstbehauptungsdrang und die daraus resultierende willkürliche-unwillkürliche Maskierung ihrer Kämpfe und Stimmungen — bestimmen ihr Verhalten, spiegeln sich wider in dem Wechsel von Entgegenkommen und kühler Reserve, dem Vordringen und dem für den Liebhaber oft so rätselhaften Zurückweichen. Aber — und das ist wichtig! — der Wille zur Selbstbehauptung triumphiert! Das bewußte Hinlenken auf dies Ziel beherrscht das Liebesspiel der young lady. Hier liegt der fundamentale Unterschied zwischen ihr und den „women who want temper", die sich treiben lassen und ein Spielball ihrer Leidenschaften sind. In der young lady begegnet dem wit eine Frau, die ihm Widerstand entgegensetzt und zwar nicht nur jenen Scheinwiderstand, der nur der ohnmächtige Ausdruck unbefriedigter Leidenschaft ist oder dem Rachebedürfnis verschmähter Liebe entspringt, sondern einen Widerstand, der tief im Wesen begründet und deshalb in gewissem Sinne unüberwindlich ist. 88

Das „junge Mädchen", eine starke, eigenwillige Persönlichkeit, ist Träger des neuen Gesellschaftsideals, das ihre Entwicklung begünstigt und sie mit einer neuen Bewußtheit durchdringt. Diese Bewußtheit erhöht ihr Selbstgefühl und ihre Selbstliebe. Hieraus erwächst alle Problematik. Immer, wenn sich Kräfte zeigen, die ihrer Entwicklung widerstreben, sehen wir sie in Kampfstellung. Sie lehnt sich auf gegen die elterliche Autorität, die ihrem Unabhängigkeits- und Freiheitsdrang entgegenwirkt und entzieht sich ihr schließlich. Folgerichtig muß sie auch mit dem wit in Widerspruch geraten, von dem die Auflockerung aller Verhältnisse ausgeht. Als sein Geschöpf, das sie in gewissem Sinne ist, muß sie sich gegen ihn, den Schöpfer, wenden. Dies ist der ironische Grundcharakter des Liebesspiels. Denn das nivellierende Lustprinzip ist der natürliche Feind ihres Persönlichkeitsideals. Die Träger dieser beiden einander widersprechenden Prinzipien können sich nicht ohne weiteres aus dem Wege gehen. Sie sind durch die Liebe schicksalhaft aneinandergekettet. Der Konflikt ist deshalb unvermeidlich. Er liegt auf der Grenze von komisch und tragisch. In der Restaurationskomödie — im Liebesduell des wit und der young lady — werden alle Gegensätze überwunden in einem leichten, heiteren, vielfarbigen Spiel, denn es gelingt der Frau, ihren Anspruch durchzusetzen und eine Einigungsbasis zu schaffen.

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Die v o r r o m a n t i s c h e n Züge in den D i c h t u n g e n von J o h n Dyer. Von

Käthe Kohlsaat. Dyer ist in den englischen Literaturgeschichten selten und dann meist im Hinblick auf das sogenannte Romantische genannt, das man in seinen Jugenddichtungen zu finden glaubte und in seinen späteren Werken vermißte. Ich möchte nun versuchen, die gemeinsame Grundhaltung, die bei aller Verschiedenheit doch da sein muß, herauszuarbeiten, und damit zugleich die Zeit der Yorromantik nicht als Übergangsperiode, sondern als selbständiges Phänomen in ihrem einheitlichen Kern zu erfassen. Die Zeit um 1726, in der Thomsons Seasons und Dyers berühmtestes Grongar Hill erscheinen, ist die Zeit Popes, des reinsten Vertreters des Klassizismus. Sie sind deshalb bemerkenswert, weil sie sich ernsthäft mit der Natur beschäftigen in einer Zeit, deren Hauptinteresse dem Menschen, und zwar nicht als Individuum, sondern als Mitglied der menschlichen Gesellschaft gilt. Der Blick ist auf die möglichst günstige Gestaltung des irdischen Lebens gerichtet. Popes: „Know then thyself, presume not God to scan" bedeutet eine Absage an alle metaphysische Spekulation. Daher die Betonung des „common sense" als desjenigen, da6 alle Menschen bindet. Mit diesem Begriff scheint die klassizistische Auffassung der Natur eng verbunden (s. Pope: „Take nature's path and.mad opinions leave, all states can reach it and all heads conceive. Obvious her goods, in no extreme they dwell; then needs but thinking right and meaning well"). Daraus wieder folgt das Streben nach Maß und Ordnung, was man in der Antike am reinsten zu finden glaubte. Träger dieser neuen Geisteshaltung ist der höfische Adel der Restaurationszeit, der dem Schrifttum seinen Stempel völliger Sittenfreiheit und gesellschaftlicher Exklusivität aufprägte. Nach 1688 jedoch verändert sich die tragende Schicht durch Verschmelzung mit größeren Teilen des kaufmännischen reichen Bürgertums, dessen Geist sich durch das Jahrhundert immer mehr bemerkbar macht (s. Legouis-Cazamian: Histoire de la littérature anglaise, Paris 1925, Livre VII). Das auffallend frühe Hervortreten abweichender Tendenzen unter Popes Zeitgenossen, zum Beispiel Thomson, Dyer u. a. erklärt sich aus der Kleinheit der französisierten, aristokratisch verfeinerten Oberschicht im Vergleich zu der 91

breiten bürgerlichen Schicht. Und zwar zeigen sich diese Tendenzen weniger in einer neuen Formgebung — der klassizistische Formalismus wird nur schwer und langsam abgestreift — als in einer gewissen einfachen, oft unter deistischer Oberfläche verborgenen Frömmigkeit, einer Neigung zum Bescheidenen, Niedrigen. Damit zugleich taucht wieder das dem englischen Volke von jeher eigene Naturgefühl auf, wohl zusammenhängend mit seinem ausgeprägten Wirklichkeitssinn, aber doch nicht ohne weiteres aus ihm zu erklären. Und in diesem Auftreten eines echten Interesses für die Natur, aus der plötzlichen Wendung des Schrifttums vom vernünftigen, klaren Räsonnieren zum Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen, die übrigens, wie ich noch zu zeigen habe, gar nicht so plötzlich war und in der klassizistischen Literatur selbst schon zu finden ist, hat nun die Forschung in zu geringer Beachtung des Eigenwertes dieser Periode, romantische Elemente sehen wollen, und die Aufgabe dieser Arbeit soll es sein zu zeigen, wie wenig diese Erscheinungen mit der eigentlichen Romantik zu tun haben. Dieser Geist, der sich psychologisch als Bewußtsein der Hohlheit der städtischen Überkultur, als Suchen und Sehnen nach etwas Anderem charakterisiert, der aber doch zu wirklich eigenen Gefühlsinhalten unfähig ist, läßt sich wohl am besten mit „sentimental" bezeichnen. Vor dem Bewußtsein der Überlegenheit des Menschen als verstandesbegabtes Wesen ist die Natur etwas Untergeordnetes, das man mitleidig betrachtet. Zwischen Mensch und Tier besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Gott und Mensch (s. Pope: „The lamb, thy riot dooms to bleed to-day, had he thy reason, would he skip and play? Pleased to the last, he crops the flowery food and licks the hand just raised to shed Iiis blood"). Ganz ähnliche Freude an der Rührung zeigt sich bei Thomsons Schilderung des Fischfangs, der Schafschur und in Dyers Schafschur. Genau so steht diese Zeit dem unzivilisierten Menschen gegenüber: s. im Essay on Man, Epistel I die Stelle über den Indianer, der in seiner Einfalt an ein Weiterleben mit seinem Hunde glaubt. Wie das Zitat über das Lamm zeigt, müssen solche Gefühlstöne, in die Enge des heroic couplet gepreßt, das eine Tendenz zur Überspitzung in sich trägt, unecht und übertrieben wirken (s. auch Popes Elegy to an unfortunate Lady). Später tritt die Überlegenheit des moralisierenden, bürgerlichen Menschen hinzu, der sich gegen den Libertinismus (Luxury and Pride) der aristokratischen Gesellschaft auflehnt. Bei Dyer z. B. sieht man das 6ehr deutlich, während später das Moralische und dazu das humanitäre Element stärker in den Vordergrund rücken. Mehr und mehr arbeitet im Innern des Klassizismus, der bis in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts noch herrscht, die Reaktion des Gefühls (s. Shaftesbury, Berkeley und William Law). So treffen in diesem Zeitalter klassizistische Formtendenzen und weltanschaulicher Rationalismus mit bürgerlichen Gefühlselementen und kaufmännischer Nüchternheit zu enger Verbindung zusammen.

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Nach der vorangegangenen Charakterisierung der verschiedenen sozialen Schichten als Träger der Literatur ist es wichtig festzustellen, in welchem Milieu Dyer sich bewegt hat. Johnson erzählt in seinem „Lives of thePoets", daß Dyer 1700 oder 1701 in Aberglasney (Caermarthenshire) geboren wurde. Er und Thomson kommen also aus Gegenden, in denen sich das Naturgefühl besonders ausprägte. Sein Beruf als Maler erzog ihn noch mehr zum Schauen von Farben und Formen auf seinen Wanderungen durch Süditalien und England. Aus dieser Zeit stammen wohl die beiden als Vorläufer der Romantik bekannten Dichtungen „Country Walk" und „Grongar Hill". Aus seinem Italienaufenthalt haben wir auch die „Ruins of Rome". Gleich nach seiner Rückkehr wird er Geistlicher in Calthorp, heiratet eine Ensor aus dem Geschlecht der Shakespeare und lebt in ländlicher Zurückgezogenheit mit viel Muße für seine Künste. Da entsteht sein langes, fleißiges Gedicht „The Fleece", das er als sein größtes ansah, und in das er alles Wissen und Gelehrsamkeit hineinsteckte. 1758 starb er dann. Von Bedeutung ist, daß er, wie Thomson, nicht in London, dem geistigen Brennpunkt des Klassizismus, lebte. Von dem „Country Walk" besitzen wir zwei Fassungen, die beide aus dem Jahre 1726 stammen, wie Garland Greever in dem Artikel: „The two Versions of Grongar Hill" in: The Journal of English and Germanic Philology, 1917, Band 16, betont, der einzigen Spezialuntersuchung, die ich neben der nicht sehr eingehenden Arbeit von De Haas: „Nature and the Country in English Poetry of the fir6t half of the 18th Century", Amsterdam 1928, gefunden habe. Die frühere Version in der Form einer irregulär ode erschien in Richard Savage's Miscellanious Poems and Translations by several hands. Über das Erscheinungsjahr der zweiten Version herrscht Unklarheit: Cornelius Engelbertus De Haas behauptet, daß sie 1727 neu geschrieben und gedruckt wurde; Garland Greever dagegen stützt sich auf einen Dr. Hävens, der in seinen Forschungen in der Havard Library entdeckte, daß die zweite Version in achtsilbigen gereimten couplets in einer anderen Sammlung: Miscellanious Poems by several hands, published by D. Lewis, London 1726, erschien. Die Tatsache scheint jedenfalls festzustehen, daß der Abstand zwischen den beiden Fassungen sehr kurz ist. Allerdings scheint die erste Version schon sehr viel früher konzipiert zu sein. Es wird behauptet, schon im 16. Lebensjahre. Es handelt sich im Grongar Hill wie im Country Walk um beschreibende Poesie, deren Elemente zur Hauptsache aus Miltons Jugendgedichten: „L'Allegro" und „II Penseroso" genommen sind. Ihren Einfluß erkennt man am besten an einem Vergleich mit der typisch rationalistischen Poesie des 18. Jahrhunderts. Für Pope ist das Ideal seiner Pastoralen, wie er im Discourse on Pastoral Poetry klarlegt, die Schilderung einer einfachen antiken, oft auch phantastischen Landschaft — ohne zuviel realistische Einzelheiten (er tadelt Theokrits „Rusticity") als Hintergrund für ideale Menschen, die als Schäfer träumen und singen — und als Anknüpfungspunkt für gelehrte Betrachtungen. Es wird kein An93

sprach darauf erhoben, eine Landschaft in ihren besonderen Zügen zu gestalten. Hierzu bildet nun Crongar Hill einen großen Gegensatz. Das Gedicht ist die Schilderung einer Folge von Natureindrücken, wie sie sich dem Dichter bei einer Wanderung auf den Grongar Hill in SüdWales darbieten. Es zeigt wirkliche Hingabe an die wechselnden Bilder und ein echt persönliches Gefühl der Ruhe in der Natur, der Freude an ihrer Mannigfaltigkeit, des Losgelöstseins von allem menschlichen Treiben, das sich in den folgenden Zeilen ausdrückt: „Grass and flowers Quiet treads—on the meads and mountains' heads—along with pleasure, close allied—ever by each other's side—and often by the murmuring rill— hears the thrush, while all is still—within the groves of Grongar Hill." Es scheint, als ob die jugendliche Frische und Empfänglichkeit des Dichters, die Abgeschlossenheit in einer besonders schönen Natur, fern der klassizistischen Mode, etwas Neues geschaffen haben. Aber noch ist nichts da von dem wesentlich Romantischen, von der hohen poetischen Versunkenheit in inniger Verbindung mit bewußter Reflexion, wie wir sie z. B. bei Wordsworth finden, s. Prelude I : „For I, methought, while the sweet breath of heaven—was blowing on my body, felt within—a correspondent breeze, that gently moved—with quickening virtue, but is now become— a tempest, a redundant energy,—vexing its own creature." Während die Reflexionen bei Dyer mehr oder weniger äußerlich angeknüpft neben der Schilderung der sinnlichen Eindrücke stehen: z. B. bei der Schilderung der Ruine: „There fall huge heaps of hoary mouldered walls—yet time has seen that lifts the low—and level lays the lofty brow—has 6een this broken pile complete—big with the vanity of state—but transient is the smile of fate.-—A little rule, a little sway,—a sunbeam in a winter's day—is all the proud and mighty have—between the cradle and the grave." Wohl ist hier ein träumerischer Ton, aber er ist doch noch so allgemein, die Betrachtung so wenig in des Dichters persönlichste Sphäre eingedrungen, daß der Unterschied zu dem Geist der Wordsworthschen Zeilen, in denen sich die romantische Grundanschauung von der Alleinheit von Natur und Geist, von Bewußtem und Unbewußtem spiegelt, wohl absolut klar ist. Es ist hauptsächlich die liebliche, sanfte Natur, die diese frühen Naturdichter besingen (s. Myra Reynolds: „The treatment of Nature between Pope and Wordsworth", Chicago 1909 und Erna Anwander: „Pseudoklassizistisches und Romantisches in Thomson's Seasons"). Bei Dyer wie bei Thomson finden wir eine Vorliebe für den Blick von einem Hügel in eine sanfte Landschaft: ein ruhiger Abend, die Quelle eines Baches, der Blick von Grongar Hill über Towy zu seinen Füßen, Wiesen und Wälder. Er sieht das Farbige und Leuchtende besonders stark und hat dafür auch sehr mannigfache Ausdrücke: „Beautyful in various dyes:—the gloomy pine, the yellow beech, the sable yew" oder: „half his beams Apollo sheds—on the yellow mountains' heads!—gilds the fleeces of the flocks— and glitters on the broken rocks!" Aber es ist doch ein Haften an äußeren Eindrücken, die lose nebeneinanderstehen, und von der beseelten Stim94

mungskunst der Romantik kann man trotz des Naturgefühls und der getreuen Beobachtung der Einzelheiten noch nichts spüren. Bei Thomson findet sich dasselbe (s. E. Anwander). Romantisch hat man auch gerne das Aufgreifen des Ruinenmotivs nennen wollen, z. B. in den folgenden Zeilen von Dyer: „'Tis now the raven's bleak abode—'tis now the apartment of the toad;—and there the fox securely feeds—and there the poisenous adder breeds,—concealed in ruins, moss and weeds,— while, ever and anon, there falls—huge heaps of hoary mouldered walls." Schon Pope hat dies Motiv gewählt (s. Windsor Forest). Und wir erkennen darin eine gewisse Freude am Unheimlichen. Getreulich werden die einzelnen Elemente zusammengestellt, aber von Romantik kann man nicht reden. Wenn wir die beiden Versionen des Grongar Hill miteinander vergleichen, so fällt im Gedanklichen wie in der Beschreibung wenig Unterschied auf. Garland Greever freilich sagt, daß die zweite „shows a considerable advance in the precise delineation of natural objects". Nach meiner Meinung allerdings hat die Frische und Ursprünglichkeit der Schilderungen durch das Hineinzwängen in eine sehr viel starrere Form oft gelitten. Wenn es in der ersten Fassung zum Beispiel heißt: „the quickening sun a showery radiance sheds—and lights up the russet mountains' heads", so ist das durch die starke Zusammenziehung: „Half his beams Apollo sheds—on the yellow mountains' heads" unanschaulich und fast unverständlich geworden. Aber die ganzen Änderungen ergeben sich nicht so sehr, wie schon gesagt, aus einem inneren Wandel der Substanz als aus einem Formstreben, das augenscheinlich aus dem klassizistischen Geist herrührt. Das heroic couplet von Pope ist die reinste Verkörperung dieses klassizistischen Strebens nach Glätte, Gefeiltheit und Ausgewogenheit. Wenn Dyer auch nicht diesen Vers wählte, sondern das achtsilbige gereimte couplet, so macht sich diese Einwirkung doch stark bemerkbar. Die erste Fassung ist in der Freiheit von Metrum und Reim der gefühlsgeladenen Anfangsverse von Miltons L'Allegro und II Penseroso geschrieben, die aber dann im Gegensatz zu Dyer in dem beruhigten Fluß der gereimten achtsilbigen couplets übergehen. Die erste Version besteht aus 8 Stanzas von ganz verschiedener Länge, die einzelne Stanza wieder aus Zeilen von wechselnder Länge und Reim. Wir bemerken schon eine Tendenz zum couplet. Doch oft sind noch Reime in der Form a, a, a. Ende der vierten Stanza: „The village and the town, the palace and the farm—each does, on each, reflect a double charm—as pearls look brighter on an aethiop's arm." Dazwischen finden wir Fernreime wie bei Milton, die den durchgehenden Schwung und die Spannung der Stanza erhöhen, dann wieder lyrische Achtsilber mit kreuzweisem Reim. Die großen künstlerischen Möglichkeiten dieser dehnbaren Form hat Dyer nicht voll auszunutzen verstanden. Oft wirkt die erste Fassung sehr ungeschliffen und unvollkommen. Für unsere Untersuchung allerdings ist sie besonders aufschlußreich, weil sie den einzelnen sinnlichen Eindrücken mehr nachgeben kann. Aber Garland Greever hat wohl recht mit dem, was 95

er von der zweiten Version behauptet: „From a cumbersome heaviness we are carried into a quiet and lilting charm." Es ist wirklich ein ganz anderer Fluß und eine viel größere Leichtigkeit darin. In diesem stärkeren rhythmischen Fließen ist auch der Aufbau gewandelt. Während in der ersten Fassung die einzelnen Blicke, Gefühle und Betrachtungen einfach in sich abgeschlossen hingestellt werden, macht 6ich in der zweiten Fassung das logische Streben nach dem Zusammenhang bemerkbar. Das Moment des Ersteigens eines Berges und dessen, der ihn ersteigt, tritt mehr hervor. Die einebnende, glättende Kraft spürt man am stärksten in der Sprache, in der Abwandlung der Bilder und Vergleiche, der Diktion, der Syntax. Wir bemerken einmal die Tendenz zur Präzision und zweitens zur Umschreibung des Ausdrucks. Die Bilder der zweiten Version haben oft die klassizistische Formelhaftigkeit. Das kühne, sicher von Milton beeinflußte Bild: „Now, while the sun's hot coursers bounding high—shake lustre on the earth and burn along the sky" ist abgeschwächt zu: „Now, while Phoebus riding high gives lustre to the land and sky", woran man ferner die Tendenz zur Abkürzung erkennt. Mit der zunehmenden Präzision des Ausdruckes ist oft das fein Schwebende der ersten Fassung, besonders in den Vergleichen geschwunden: „Light as the lustre of the rising dawn —spreads a gay carpet of yon level lawn"—heißt später: „Gaudy as the opening dawn—Lies a long and level lawn." Das schlichte, poetische Bild als Abschluß einer etwas sentimentalen Betrachtung der irdischen Vergänglichkeit: „The prince's tenure in his roofs of gold—ends like the peasant's homelier hold—life's but a road, and he who travels right—treats fortune as an inn and rests his night" wird zu dem schärferen, aber auch flacheren „A little rule, a little sway" etc., das ich schon auf Seite 94 zitiert habe. In der Sprache ist die Unmittelbarkeit auch abgeschwächt. In dem Gebrauch der charakterisierenden Beiwörter wird Dyer sehr viel maßvoller: „Solid, my joys and my free thoughts run high. For me this softening wind in Zephir's sings—and in yon flowery vale perfumes his wings,—to soothe my ear those waters murmur deep,—to soothe my eye those bowery wood-bines creep,—wanton to yield me sport these birds fly low—and a sweet chase of harmony bestow" verändert sich zu: „Now, even now, my joys run high—as on the mountain turf I lie;—while the wanton Zephir sings—and in the vale perfumes his wings,—while the waters murmur deep;—while the shepherd charms his sheep,—while the birds unbounded fly,—and with music fill the sky,—now, even now, my joys run high." Hier ruft die Verminderung der schmückenden Elemente cine stärkere künstlerische Wirkung hervor. Die vorangestellten Adjektive sind in den Satz hineingenommen, die Zahl der Verben ist stark verringert, die Verszeilen sind symmetrisch gebaut, eine Vorliebe für Wiederholung der Satzanfänge zeigt sich, was eine rhetorische Wirkung hervorbringt. Zusammenfassend kann man sagen, daß die zweite Fassung ein schärferes Profil, Klarheit der Gedanken, größere Leichtigkeit und dadurch oft höheren poetischen Wert hat; aber oft, ebenso oft, ist auch 96

die Poesie des Zarten und Verschleierten, das die Phantasie des Lesers zu weiterem Ausspinnen anregt, durch die nüchterne Schärfe der zweiten Version zerstört. An dem Vergleich der Diktion kann man besonders gut erkennen, wie weit echte Hingabe an die Natur die Starrheit der Ausdrücke sprengt. Die zweite Fassung hat mehr Requisiten des Klassizismus, besonders die durch Dryden schon in Mode gekommenen Adjektive auf „y", z. B. „the grassy bed", „the watry face" für Wasserspiegel, oder „the mountain's woody brow", außerdem viele durch die Nachahmung Virgils entstandene Formeln wie „pale ivy", „the nodding fabrick" oder „the rosy bower". Auch hat die antike Umkleidung zugenommen: die Sonne ist „Phoebus riding high", der Wind ist der wanton Zephir, die Musen treten auf, die im Schatten von Grongar weilen und die antike Schäferin Phyllis Queen of Love beyond the purple groves. Das zweite Jugendgedicht „A Country Walk" zeigt sehr ähnliche Züge. Hier ist Miltons Einfluß noch greifbarer. Ein einfacher Landspaziergang in Süd Wales ist das Thema. Auch hier Freude und Interesse an der Natur in all ihren kleinen Erscheinungen wie im L'Allegro und im II Penseroso. Es ist fast dieselbe Folge der Bilder: der schöne, sonnige Morgen, früher Vogelgesang, vor der Scheune Hühner und Gänse, die weite Landschaft mit blühenden Wiesen und Hecken, Landleute bei der Arbeit, die Hütte unter den alten Eichen und wieder der Blick vom Grongar Hill. Nur, im Vergleich mit Milton, der die Schönheiten der Natur ganz selbstverständlich neben den Freuden des prächtigen Stadtlebens und des geistigen Lebens behandelt, fällt bei Dyer das sentimentale Verhältnis zur Natur auf, z. B. in dem pathetischen Ausruf: „What a fair face does nature show!—Augusta, wipe thy dusty brow!" und am Schluß: in der antikisierenden Liebesklage: „But oh, how blessed would be the day— Did I with Clio pace my way—And not alone and solitary stray." Wenn wir hier die innere Beziehung zur Natur betrachten, so finden wir, daß der Mensch stärker hervortritt als im Grongar Hill, der Mensch, der zur Natur gehört: z. B. der Schäfer, der Fischer, der grabende, alte Mann, und der außer ihr stehende mit seinen schweifenden Gedanken; aber die starke, gefühlsmäßige Beziehung der ersten Fassung vom Grongar Hill verliert sich vor der Fülle der äußeren Eindrücke und der ganz von der Natur abgelösten Reflexionen. Der Form nach könnte man, wenn man überhaupt bei diesen so stark literarischen Vorbildern unterliegenden Dichtern von einer Entwicklung reden darf, mit Garland Greever annehmen, daß der „Country Walk" zeitlich zwischen den beiden Fassungen vom Grongar Hill liegt; er ist stärker geformt als die erste: das Metrum ist das achtsilbige, gereimte couplet, die Schwerfälligkeit der Verse scheint nicht mehr so groß, aber der Wille zur logischen Präzision und zur Symmetrie der zweiten Fassung findet sich hier noch nicht so durchgehend. Die Diktion zeigt schon mehr klassizistische Umschreibungen der konkreten Dinge: „The Sun now showa his noontide blaze"—„The birds that warble in the sprays" oder „Early birds that wing the 6kies". Vom Grongar 97

Hill heißt es: „its bushy brow, the verdant forest, an old green tower, whose battered brow frowns upon the vale below". Ich habe durch diese Beispiele zeigen wollen, wie sich langsam und immer noch stark an klassizistischen Geist und Form gebunden, ein anderes, echteres Verhältnis zur Natur in dieser Dichtung zeigt mit typisch bürgerlich-realistischen Zügen und moralisierend-sentimentaler Betrachtungsweise, wo von dem romantischen Naturgefühl, das in jedem Stein, in jeder Blume, in jedem Windhauch den lebendigen Atem Gottes spürt, der auch durch den Menschen hindurchgeht, noch nichts zu fühlen ist. Zwischen der Veröffentlichung dieser beiden Gedichte und den späte ren Werken Dyers liegt ein Zeitraum von sechzehn Jahren. Als er 1740 mit seinem „Ruins of Rome" wieder hervortritt, finden wir ihn sehr verändert. Jetzt sucht er sich ein größeres Thema: die Kunst, wieder unter Miltons Einfluß, und zwar jetzt des Paradise Lost. Aber das Pathos des blank verse, das bei Milton notwendigerweise aus der ungeheuren inneren Spannung erwächst, bleibt hier meist hohl und unecht: „Fallen, fallen, a silent leap: her heroes all—Stink in their urns; behold the pride of pomp,—The throne of nations fallen; obscured in dust." Wir hatten schon in der Jugendpoesie diese Neigung zum Pathos gefunden; hier redet sie aus jeder Zeile. Aber dieses Gedicht hat so wenig Eigenes, daß es uns nicht weiter interessieren soll. Wichtiger für die Charakteristik der Vorromantik ist das lange didaktische Poem „The Fleece". Es ist weniger von poetischem Interesse als von literarhistorischem, weil es so klar die Neigungen, den Geist dieser vom Kaufmannsstand bestimmten bürgerlichen Schicht zeigt. Vor allem lag mir daran zu zeigen, wie Dyer, genau wie Thomson, keine bewußte Entwicklung in der einmal eingeschlagenen Richtung der Naturdichtung nimmt, wie sie beide mit dem klassizistischen Geist übereinstimmen und ihn in ihre bürgerliche Atmosphäre zu übertragen bestrebt sind. Und das Produkt solcher Verbindung ist in der Tat ein literarisches Kuriosum geworden: eine poetische Darstellung der für England so bedeutenden Schafzucht (Buch I) und der Verarbeitung der Wolle, je nach Art der Tiere und des Landes, sowie des Färbens (Buch I I ) , des Spinnens, des Webens (Buch I I I ) , des Handels und der Fabrikation (Buch IV). Ein merkwürdiger Versuch, sachliche Belehrung in poetisches Gewand zu kleiden. Darin lehnt sich Dyer, allerdings mit größerer Gründlichkeit, eng an Virgils Feldbaugedicht. An seinen langen Digressionen, die das nüchterne Thema in eine poetische Atmosphäre heben sollen, sehen wir, wie vorwiegend das Interesse des englischen Bürgertums auf den Handel gerichtet ist. England hat sich gerade als Handelsmacht gegen Frankreich Weltgeltung errungen. Damit wächst der Nationalstolz, moralisch gefärbt, ungeheuer. Dyer drückt ihn an vielen Stellen hymnisch aus: „Hail noble Albion! where no golden mines,—No soft perfumes, nor oils, nor myrtle boywers,—The vigorous frame and lofty heart of man enervates" (s. Thomsons „Rule Brittannia"). In die allgemeine Freude über die „wealth", die eng mit dem Begriff des „Public weal" 98

zusammenhängt, fällt ein Wermuttropfen bei dem Gedanken, daß für manche Menschen das nur Elend bedeutet, eine leichte Vordeutung auf das soziale Problem. Dyers Weltbetrachtung ist im Grunde doch rein rationalistisch, wenn er sagt: „Nature's vast machine the work of perfect reason", der Leibnizsche Harmoniebegriff in utilitaristischer Verflachung. So sind ihm die Schafe auch meist nur als Objekte des englischen Wollhandels wichtig. Wenn wir überhaupt Gefühlstöne finden, dann die der Rührung über die Hilflosigkeit der Tiere: „In flowery springtime, when the newdropt lamb—Tottering with weakness by his mother's side—Feels the fresh world about him and each thorn—Millock of furrow trips his feeble feet." Einige sehr feine Zierbilder zeichnen Dyer und auch Thomson. Aber im übrigen erstreckt sich seine Tierschilderung auf das Aufzählen von den Unterschieden der Schafarten und der Wollarten in möglichster Genauigkeit. Genau so betrachtet er Boden, Klima, Pflanzen einer Landschaft mit der ganzen Pedanterie seines Realismus; aber stellenweise überrascht er durch großangelegte, prächtige Landschaftsbilder. Myra Reynolds stellt das auch fest. Mir scheint, das hängt mit seiner Neigung zum Rhetorischen, zur pomphaften Auftürmung zusammen, s. die Gewitterschilderung: „Then thunder oft with ponderous wheels rolls round— and breaks the cristal urns of heaven." Wenn wir hier Thomsons Gewitterschilderung heranziehen, so fällt auf, daß er die einzelnen Eindrücke genauer und feiner zeichnet, besonders das langsame Herankommen. Eine für die Zeit ungewöhnliche Schilderung des Meeres finden wir noch, angeknüpft an eine begeisterte Darstellung des Seefahrers: „Yet steady o'er the waves they steer and now—the fluctuating world of waters wide—In boundless magnitude around them swells—O'er whose imaginary brim nor towns,—Nor woods nor mountain tops, nor aught appears—." Dyer und Thomson haben beide den Zug zu schweren, wuchtigen Schilderungen; aber Thomson setzt alles in Bewegung um (s. Anwander, diese sieht in seinem Streben nach dem Unbegrenzten und zugleich nach unerschöpflicher Bewegung die Grundtendenzen des Romantischen), während Dyers Schwere statisch, langatmig und schwerfällig wird. Das zeigt auch die Gestalt. Das Ganze macht den Eindruck einer einzigen großen Inkoherenz zwischen der nüchternen Sachlichkeit des Gegenstandes und dem Willen zu künstlicher Erhöhung in eine ihm nicht gemäße poetische Atmosphäre. Eigentümlich herbeigezogene Vergleiche zeigen das, z. B. der über das Schafhorn: His front is fenced—with horns Ammonian circulating twice—Around each open ear, like those fair scrolls—That grace the columns of the Ionic dome. Das Romantische erkennt in allem Unscheinbaren Poesie und will eine möglichst schlichte, einfache Sprache. Im Versmaß derselbe Widerspruch: nüchternste Beschreibungen im wuchtigen Miltonschen blank verse, unerträglich schwerfälliger Rhythmus, weil ohne innere Spannimg, in der Wortwahl ein Neben- und Durcheinander von nüchtern charakterisierenden Adjektiven, zu konkreten Substantiven gehörig, und gehobenen Ausdrücken und 99

Formeln. Ein Beispiel: die Lämmer müssen vor der Nässe des Winters auf warmen Boden gebracht werden: „There let them sojourn, till gay Procne skims—The sickening verdure and the rising flowers." Dyer liebt pomphafte, klangvolle Aufzählung von Namen, wieder ein Ausdruck seiner rhetorischen Neigung. Sie beeinflußt auch die Syntax stark: Der durch eingeschobene Ausrufe, Relativsätze, Adjektive und Adverben gebrochene Stil täuscht nur eine innere Bewegung vor, ebenso die häufige Wiederaufnahme einer Satzgruppe, z. B. Buch IV: Z. 671: „A day will come, if not too deep we drink—The cup which luxury on careless wealth,—Pernicious gift, bestows; A day will come, when, through new channels sailing, we shall close—The Californian coast." Zusammenfassend möchte ich sagen, daß diese frühe Periode der Vorromantik in einigen, aber doch mehr äußeren Zügen zur Wegbereiterin der Romantik geworden ist, besonders durch das Einströmen irrationaler Kräfte in die Literatur, daß sie aber noch stark mit dem verfallenden Klassizismus verbunden ist. Besonders möchte ich bestreiten, daß man diese neuen Elemente, die rein äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Romantik aufweisen, schon romantisch zu nennen berechtigt sei.

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Fieldings Charakterromane. Von

Annelise Studt. Was Fieldings Romane auf den ersten Blick von der früheren englischen Prosadichtung unterscheidet, sind die einleitenden Kapitel zu den einzelnen Büchern, wo er die Leser in jenes ganz neue Gebiet seines dichterischen Schaffens einführen will, das er „the comic epic in prose" nennt. In seiner sehr reizvollen und unterhaltsamen Art wendet er sich hier persönlich an den Leser, um ihn mit seinen Gedanken über das Leben und die Menschen, mit allerhand psychologischen und ethischen Problemen und vor allem mit den Grundsätzen seines künstlerischen Schaffens, seiner Theorie des Romans bekannt zu machen. Der Hauptgegenstand dieses neuen komischen Romans wird von vornherein vom Dichter festgelegt. „The provision, then, which we have here made, is no other than Human Nature", erklärt er dem Leser und bringt damit eindeutig zum Ausdruck, welcher bedeutungsvolle Wandel sich in der Romandichtung des 18. Jahrhunderts vollzogen hat: der bloße Ereignisroman ist zum Charakterroman geworden. Die Persönlichkeit des Helden, die früher hauptsächlich dazu diente, der Folge von Abenteuern und Situationen einen losen und oberflächlichen Zusammenhang zu geben, ist nun in den Mittelpunkt des Interesses gerückt; die „prodigious variety" des menschlichen Charakters wird erkannt als unerschöpfliche Quelle künstlerischer Gestaltung. Fieldings Romane sind an Ereignissen kaum ärmer als der typische Abenteuerroman — und doch ist hier etwas grundlegend Neues: die Ereignisse werden nicht um ihrer selbst willen geschildert, nicht nur aus einer kindlichen Freude an der wunderbaren Buntheit des Lebens, sondern damit sich an ihnen der Charakter entfalte und offenbare. Im Ereignisroman wird der Charakter bestenfalls nachträglich geschildert, so wie er sich aus der Handlungsweise des Helden ergibt; im neuen Roman dagegen wird die Handlung mehr oder weniger vom Charakter getragen oder erhält zum mindesten ihre Färbung durch ihn; sie ist nicht interessant an sich, sondern um der Motive willen, die zu ihr führen. Fieldings Philosophie von der menschlichen Natur und seine Charaktergestaltung sollen deshalb hier behandelt werden, denn in ihnen liegt 101

tatsächlich seine Bedeutung für die Romandichtung und zugleich das Wesen seiner Kunst beschlossen. Richardsons Romane hatten schon gezeigt, welche neuen Möglichkeiten der Roman hat, der ein Spiegelbild des wirklichen Lebens und seiner Menschen sein will. Aber Fielding beginnt sein künstlerisches Schaffen auf diesem Gebiet als Richardsons Gegner, denn er hat eine durchaus andere Auffassung vom Leben, von der Welt und der menschlichen Natur. Richardsons Hauptzwecke sind Belehrung und Erbauung. Er ist der Ansicht, daß es absolute Lasterhaftigkeit wie auch absolute Tugend in der Welt gibt, aber daß das Laster überwiegt. Der calvinistische Glaube von der Verdorbenheit der Welt, der auch den Werken Defoes und Mandevilles zugrunde liegt, ist in ihm noch lebendig, allerdings gemildert durch die Überzeugung, daß Erziehung und guter Einfluß eine Wendung zum Besseren herbeiführen können. Richardson stellt auf moralischem Gebiet absolute Forderungen an die Menschen und verlangt, daß sie bestimmten, starren Maßstäben entsprechen. Eine umfassende und tiefe psychologische Kenntnis kann ihm nicht abgesprochen werden; aber es fehlt ihm das, was Fiel ding besitzt: jenes weite und offene Herz für die Menschen, die man verstehen und lieben kann trotz all ihrer Schwächen und Torheiten. Fielding ist weit davon entfernt, sich irgendwelche Illusionen über die menschliche Natur zu machen: Selbstsucht, Geiz, Eitelkeit und Heuchelei hat er als ihre Haupteigenschaften erkannt, — und doch i6t er kein moralischer Pessimist, sondern glaubt fest an das Gute und Liebenswerte im Menschen; es ist zwar selten, aber man muß es nur zu finden wissen. Viele von Fieldings Charakteren legen von diesem Glauben Zeugnis ab. Da ist z. B. der Pfarrer Adams in Joseph Andrews, dieser unendlich gütige und selbstlose Mann, oder die Gestalten der liebenden Frauen, — allen voran Amelia, die alles opfert und durch die Kraft ihrer Liebe sogar die Untreue des Gatten überwindet. Typisch ist auch eine Szene in Joseph Andrews, in der sich ein gewisser sozialer Zug bemerkbar macht: Joseph liegt, von Straßenräubern ausgeplündert, nackt, blutend und zitternd vor Kälte am Wegesrand. Eine Postkutsche kommt vorbei, und der Postillon, ein armer Teufel, zieht seine Jacke aus — es ist die einzige, die er besitzt — und schenkt sie Tom, während noch die Reisenden in der Kutsche heftig darüber streiten, ob sie verpflichtet sind, dem Manne eine ihrer Decken abzutreten und ihn mit in den nächsten Ort zu nehmen. Die Szene ist eine bittere Satire auf die menschliche Natur im allgemeinen und ist doch voll des unerschütterlichen Glaubens an die Güte des schlichten Herzens. Fieldings Optimismus gibt auch seiner Lehre von den Leidenschaften das Gepräge. Er ist der Auffassung, daß Leidenschaft das Grundelement, die treibende Kraft in der menschlichen Natur ist, und die treibende 102

Kraft auch auf dem großen Theater des Lebens. „We reason from our heads, but act from our hearts" heißt es in „Amelia" (V. 7.), und Fielding ist ebenso wie Captain Booth überzeugt davon, „that every man acted entirely from that passion what was uppermost in his mind and could do no otherwise." (A. II. 4) Wie Fieldings Personen immer wieder Beweise dafür erbringen, kann hier leider nicht näher ausgeführt werden. Auch Mandeville in seiner Bienenfabel ist der Ansicht, daß die Leidenschaften die Hauptmotive der menschlichen Handlungen sind. Aber es ist da ein wesentlicher und charakteristischer Unterschied, den ein Gespräch in der „Amelia" (VIII. 10) zwischen Captain Booth und Miss Matthews sehr fein zum Ausdruck bringt. Fielding wirft darin Mandeville vor, daß er alle Handlungen des Menschen auf gemeine und niedrige Triebe zurückführen will, daß in seinem System die Liebe fehle, „the best passion which the mind can possess", oder daß er sie zum mindesten als bloße Selbstsucht ansehe. Fielding selbst glaubt mit ganzem Herzen an jene höhere, geistigere und selbstlosere Art der Liebe, die ihre Befriedigung darin findet, zum Glück anderer beizutragen, und die nichts zu tun hat mit dem Wunsch, das sinnliche Verlangen zu befriedigen. Nichtsdestoweniger liegt es ihm durchaus fern, ein gesundes, sinnliches Element in der Liebe der Geschlechter zu verdammen; aber es muß immer mit jener höheren Neigung verbunden sein, die auf Dankbarkeit und Achtung gegründet ist und Schönheit und Jugend überdauert. Diese Idee der Liebe ist Gestalt geworden in den drei liebenden Paaren, die Fielding in seinen Romanen darstellt. Immer gesellt sich hier die gesunde Sinnlichkeit, reizvoll in ihrer natürlichen und harmlosen Frische, einer echten und aufrichtigen Neigung. Starke Leidenschaften können durch noch so vernünftige Überlegungen nicht unterdrückt werden. Das ist Fieldings Überzeugung, und mit dieser seiner Ansicht über die menschliche Natur ist seine Idee von der Tugend eng verknüpft. Sie unterscheidet sich grundlegend von derjenigen Richardsons, der der Meinung ist, daß Tugend eine Form der Klugheit, ein Gebot der Vorsicht sei, und daß ihre Motive aus der Vernunft und dem Verstand kommen. Bei Fielding dagegen ist die Tugend eine Sache des Gefühls: sie hat nichts zu tun mit Klugheit und Vernunft, mit moralischen oder religiösen Grundsätzen. Wenn wir von Natur schlecht sind, können Grundsätze keinen Wandel in unserem Innern herbeiführen, — und wenn wir gut sind, haben wir ihre Hilfe nicht nötig. Tugend ist eine Eigenschaft des Gemüts, ist Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Güte des Herzens. Fielding hat eine ausgesprochene Abneigung gegen jede Art von Dogmatismus. Er zeigt, wie gerade Leute, die strenge moralische Forderungen stellen, sehr oft von minderwertigem Charakter sind und elend scheitern, wenn es gilt, diese Forderungen in die Tat umzusetzen. Square und Thwackum im „Tom Jones" sind solche Menschen. Jeder von ihnen ist die lebendige Verkörperung eines moralischen Grundsatzes — 103

so scheint es wenigstens, nach den Redensarten zu urteilen, die sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vom Stapel lassen. Aber ihre Handlungsweise stimmt schließlich sehr wenig mit ihren noblen Grundsätzen überein, und der Philosoph Square zeigt, wie man im Leben völlig versagen kann, wenn man sich noch so oft und eifrig f ü r die „Schönheit der Tugend" begeistert hat. Die Guten in Fieldings Romanen handeln immer aus Gefühl und Neigung, und sie beweisen, daß natürliche Herzensgüte ein besserer Führer durch das Leben ist als jedes moralische und religiöse Prinzip. Fielding unterscheidet sich auch darin von Richardson, d a ß er einen Menschen nicht nach seinen Taten allein beurteilt, nach seiner ehrbaren u n d wohlanständigen Außenseite, sondern daß ihm die Beweggründe, die Absichten, die seelischen Qualitäten wichtiger sind. Tom Jones und Captain Booth sind beide Menschen, die aus Unüberlegtheit, aus Leichtsinn und aus Leidenschaft Fehler über Fehler begehen und überall anrennen, aber sie haben diese kindliche und ungebrochene Güte des Herzens, die sie trotz allem so liebenswert macht. Solche Menschen sind Fieldings ausgesprochene Lieblinge, weil ein Stück seines eigenen Selbst in ihnen lebendig ist. Ihnen gegenüber stehen die anderen, die Bliiilnaturen (T. J.), die sich vor der Welt einen untadeligen Anstrich zu verleihen wissen, sich in jeder Lage vorbildlich benehmen, niemals die Grenzen der Wohlanständigkeit überschreiten — und im Grunde ihrer Seele gemein und niedrig sind. Der Wert des Menschen wird nicht an seinen Handlungen allein gemessen, nicht der äußere Anstrich ist entscheidend. Mit dieser Behauptung greift Fielding Richardsons moralischen Formalismus an. Richardson ist der Ansicht, daß ein tugendhafter und untadeliger Lebenswandel verdienstvoll ist und angemessen belohnt werden m u ß : durch Gedeihen u n d Wohlstand in dieser, durch ewige Glückseligkeit in jener Welt. Fielding m u ß von seinem Standpunkt aus die Dinge ganz anders sehen. Reinheit und Güte des Herzens, die Eigenschaften, die seiner Ansicht nach die Tugend ausmachen, sind angeboren und folglich nicht als Verdienst zu betrachten; warum sollten sie also von der Vorsehung belohnt werden? Und was die Vergeltung in dieser Welt betrifft, so sind die genannten Eigenschaften wenig dazu angetan, ihrem Träger Vorteil und Wohlstand zu verschaffen. Fielding glaubt deshalb auch nicht an die Lehre jener Moralisten, die da behaupten, daß Tugend der sichere Weg zum Glück sei. Er schlägt ihnen vor, diese Art von Tugend lieber „Weisheit" („wisdom") zu nennen, und spielt damit auf den Egoismus und das Berechnende an, die f ü r Richardsons Tugendbegriff so charakteristisch sind. Seine Pamela ist umgeben von einer Atmosphäre absoluter Unfehlbarkeit, in der jedoch ein gut Teil Selbstsucht enthalten ist. Sie ist tugendhaft, weil Tugend sich schließlich am besten bezahlt macht. Was Fielding dagegen unter Tugend versteht, hat sehr wenig mit dieser „Weisheit" zu tun, die immer 104

schon den eigenen Vorteil vorausberechnet. Aber wenn sie auch nicht Erfolg und äußeres Wohlergehen bringt, so belohnt sie doch auf andere Weise: das Bewußtsein, sie zu besitzen, erfüllt den Menschen mit einem inneren Glücksgefühl, das mehr wert ist als alle Güter der Welt. „The greatest and truest happiness which the world affords, is to be found only in the possession of goodness and virtue", sagt Fielding in „A Journey from this World to the Next", — und die Menschen seiner Romane legen davon Zeugnis ab. In dieser Idee einer Glückseligkeit, die auf Harmonie und Schönheit des inneren Menschen beruht, ist Fielding offensichtlich von Shaftesbury beeinflußt. Aber trotz seines Idealismus in mancher Hinsicht hat Fielding doch zu viel Wirklichkeitssinn, um aus seinem moralischen Codex eine gewisse Weltklugheit ganz zu verbannen. Im täglichen Leben genügt es eben nicht, daß die gute Absicht vorhanden ist, oder daß eine Handlung aus edlen Motiven erwachsen ist, sondern man muß auch dafür sorgen, daß das Gute nach außen hin in Erscheinung tritt. Fielding nennt das die „fair outside" der Tugend und er zeigt an dem Beispiel von Tom Jones, daß Edelmut und Güte des Herzens allein nicht genügen, um sich in dieser Welt durchzusetzen und dem guten Prinzip zum Sieg zu verhelfen. Fielding hat in den einleitenden Kapiteln und gelegentlichen Bemerkungen nicht nur sein ethisches System niedergelegt, (wenn wir seine Gedanken über die menschliche Natur, die Leidenschaften, über Tugend und Glückseligkeit wirklich so nennen dürfen). Es werden hier noch andere Dinge eingehend erörtert, die ihm am Herzen liegen und von denen er hofft, daß sie den Leser interessieren: das sind die Forderungen, die er an den schaffenden Künstler, den Dichter, stellt, die Grundsätze, nach denen er seine Charakterdarstellung aufbaut und gestaltet. Fieldings erste und höchste Forderung ist die der Wirklichkeitstreue: Alles soll lebenswahr sein- Er will die menschliche Natur nicht so darstellen, wie wir sie gerne haben möchten, sondern so, wie sie wirklich ist und wie die eigene reiche Erfahrung sie ihm gezeigt hat: mit all ihren Leidenschaften, all ihren Schwächen und all ihren liebenswerten Zügen. „Everything is copied from the book of nature and scarce a character produced which I have not taken from my own experience and observation", betont er ausdrücklich in der Vorrede zu „Joseph Andrews". Muster von Vollkommenheit sind Fielding im I.eben nicht begegnet, ebensowenig allerdings hoffnungslos schlechte Menschen; in jedem vereinigen sich widerstrebende Neigungen und Kräfte, Häßliches und Schönes, Gutes und Böses. Darum will er in seinen Romanen auch nur „mixed characters", gemischte Charaktere, darstellen. „If thou dost delight in models of perfection, there are books enough written to gratify thy taste", bemerkt er (T. J. X. 1) und denkt dabei an Richardson, dessen 105

moralische Schwarz-Weiß-Technik ihn zu seinem ersten Roman herausgefordert hat. Fielding nimmt andererseits auch ausdrücklich Abstand von den Verfassern der heroischen Romane, „those persons of &urprising genius, who, without any assistance from nature or history, record persons who never were, or will be, whose heroes are of their own creation and their brains the chaos whence all the materials are selected." ( J. A. III. 1.) Er selbst legt keinen Wert darauf, den Genius dieser Schriftsteller zu besitzen, die aus dem „Chaos ihres Gehirns'4 ihre Helden erzeugen, anstatt sie der Natur nachzubilden. Die meisten von Fieldings Charakteren lassen in der Tat deutlich erkennen, daß sie lebenden Vorbildern ihre Entstehung verdanken. Und obgleich Fielding versichert, er habe sich die größte Mühe gegeben, durch Abänderung der Umstände die Möglichkeit einer Entdeckung zu verhindern, weist Wilbur Cross doch in seiner „History of H. Fielding" mehrere von den historischen Persönlichkeiten nach, die als Vorbild gedient haben. Da Fielding so energisch die Forderung der Naturwahrheit erhebt, muß er sich auch mit den Dichtern auseinandersetzen, die das Wunderbare und Übernatürliche zum Gegenstand der Darstellung erwählt haben (T. J. VIII. 1). Es ist klar, daß er ihnen, von seinem Standpunkt aus, wenn er sie auch nicht von vornherein ablehnt, zum mindesten bestimmte Grenzen setzen muß. Zu diesem Zweck stellt er drei allgemeine Regeln auf, die er von der oben erwähnten Forderung ableitet. Zum ersten muß von jedem Dichter, der die menschliche Natur darstellen will, gefordert werden, daß er sich in den Grenzen des Möglichen halte. Dem Leser darf nicht zugemutet werden, etwas für wahr zu halten, was er selber nicht zu tun vermag, und was über menschliche Fähigkeiten hinausgeht. Der moderne, christliche Schriftsteller ist an andere Gesetze gebunden als der antike, heidnische Dichter. Er kann unmöglich einen Deus ex Machina einführen, und noch weniger kann er die himmlische Heerschar bemühen, die er in seinen eigenen Glaubensartikeln vorfindet. Es genügt jedoch nicht, wenn der Dichter sich an das Mögliche hält, er muß auch die Grenzen des Wahrscheinlichen streng im Auge behalten. Der Historiker ist verpflichtet, die Dinge so zu berichten, wie sie sich tatsächlich ereignet haben, mögen sie noch so unglaublich klingen. Öffentliche Zeugnisse und übereinstimmende Angaben vieler Schriftsteller begründen ihre Glaubwürdigkeit. Aber der Dichter ist in einer ganz anderen und viel gefährlicheren Lage. „He searches into the most retired recesses, and draws forth examples of virtue and vice from holes and corners of the world", sagt Fielding und empfiehlt deshalb allen Romanschriftstellern, sehr vorsichtig zu sein, wenn sie erstaunliche und unglaubliche Handlungen oder ungewöhnliche Charaktere darstellen, „for 106

they have no public notoriety, no concurrent testimony, no records to support what they deliver". Als Letztes fordert Fielding von jedem Romandichter, daß Handlung und Charakter unbedingt übereinstimmen. „The actions should be such as may not only be within the compass of human agency, but they should be likely for the very actors and characters themselves to have performed; for what may be only wonderful and surprising in one man, may become impropable, or indeed impossible, when related of another." Fielding nennt dies „conservation of charakter" und er ist eifrig bemüht, diese Forderung der inneren Einheit des Charakters zu erfüllen, zu der, wie er sagt, ein hoher Grad von Kritik ebenso wie eine gründliche Kenntnis der menschlichen Natur gehört. So unterbricht er denn auch oft den Bericht eines etwas unwahrscheinlich anmutendenEreignisses, um dem Leser zu versichern, daß dies alles mit dem Charakter vereinbar sei, und daß er durchaus imstande wäre, eine genügende Erklärung dafür zu geben. Obgleich Fielding ausdrücklich betont, daß alles „aus dem Buch der Natur abgeschrieben" sei, so hat er doch eher die Absicht, Typen als Individuen vor die Leser hinzustellen. In Joseph Andrews (Buch III) steht die Bemerkung: „ I declare here once for all, I describe not men, but manners, not an individual, but a species." Aber die Gefahr, die in einer solchen Absicht liegt, hat Fielding völlig vermieden. Seine Charaktere sind nicht Typen im Sinne von starren, blutlosen Verkörperungen eines Lasters, einer Tugend oder eines moralischen Lehrsatzes. Sein Wissen um das menschliche Herz, seine leidenschaftliche Liebe zu der Farbigkeit und Überfülle der menschlichen Natur haben ihn davor bewahrt. Einige unter den vielen Romanfiguren haben allerdings etwas Konventionelles an sich und stammen allem Anschein nach aus dem Lustspiel, wie z. B. der Stutzer Didapper, die verschiedenen Wirte und Wirtinnen, Mrs. Partridge usw. Aber es sind alles Personen von untergeordneter Bedeutung. Fielding selbst gibt uns einen Wink, was er darunter versteht, wenn er Typen und nicht Individuen in seinen Romanen darstellen will. Typen in seinem Sinne sind keine blutlosen Schemen, sondern sie sind mitten aus dem Leben herausgegriffen; sie verkörpern Ureigenschaften des Menschen, die es immer gab und immer geben wird, solange Menschen leben. Sie sind von allgemeiner und ewiger Wichtigkeit und Bedeutung, — das aber können sie wiederum nur sein, weil sie eben lebendige Kräfte in sich tragen, und Fielding will zeigen, daß die Menschen trotz aller persönlichen Züge, die ihre Individualität ausmachen, doch überall und zu allen Zeiten von denselben Leidenschaften beherrscht werden, wie die Menschen seiner Romane (J. A. III. 1). Diese Absicht tritt ganz deutlich hervor in seiner Methode der Darstellung. So beginnt er oft damit, erst ein psychologisches Problem ganz 107

allgemein zu erörtern, und berichtet dann erst über den betreffenden Fall. Oder er zitiert irgendeinen Philosophen und führt anschließend ein Beispiel an, das die Wahrheit dieser allgemeinen Maxime bezeugen soll. Manchmal geht er auch den umgekehrten Weg und benutzt den vorliegenden Fall als Ausgangspunkt für eine psychologische Betrachtung. Fielding ist stark beeinflußt von den philosophischen Ideen seines Jahrhunderts, und so fehlt seinen Romanen auch nicht eine gewisse moralische Tendenz. Er bekennt selber, daß es seine Absicht ist, „to hold the glass to thousands in their closets, that they may contemplate their deformity and endeavour to reduce it" (J. A. III. 1). Dann und wann unterbricht er auch den Fluß der Erzählung, um eine moralische Schlußfolgerung zu ziehen. Aber trotz dieser ganz offensichtlich lehrhaften Absicht hat Fielding nichts von der puritanischen Engherzigkeit Richardsons an sich. Sein Moralismus hat eine andere Färbung. Richardson paßt die Charaktere seinen Zwecken an und macht sie zu Vertretern seiner moralischen Grundsätze, um auf diese Weise auf den Verstand des Lesers zu wirken. Fielding schildert den Menschen so, wie er ihn findet, gut und böse zugleich, häßlich und liebenswert, voll Leidenschaft und Lebensfülle. Er findet sich ab mit der Wirklichkeit und grübelt nicht darüber nach, wie es wäre, wenn Tugend und Vortrefflichkeit die Welt regierten. Durch sein Bild von der menschlichen Natur will er Herz und Gefühl des Lesers packen, nicht den Verstand, der hier unwichtig ist. Und er meint auch, daß der Gegensatz von Gut und Böse in demselben Charakter vereint eine stärkere Wirkung auf das Gemüt ausübt, als engelgleiche Vollkommenheit oder teuflisches Laster. Der Mensch kann doch nie ein Engel werden, er verzweifelt dann höchstens an sich selber — aber wenn er sieht, wie sein Lieblingsheld an allerhand Charakterschwächen leidet, beginnt er diese zu hassen, schon um des Unglücks willen, das sie über ihn bringen, und er wird sich bemühen, selber ähnliche Schwächen abzulegen. Es ist jedoch noch ein anderer Unterschied zwischen Fieldings und Richardsons Stellung der Welt und den Menschen gegenüber vorhanden, der tiefer und wesentlicher ist. Richardson mit seinem ausgeprägten Selbstbewußtsein ist über alles, was menschlich ist, erhaben. Er fühlt sich dazu berufen, von hoher, moralischer Warte aus nach strengen Grundsätzen über die Schwächen und Laster der Menschen abzuurteilen. Fielding aber weiß, wie sinnlos es ist, absolute Ansprüche an das Leben zu stellen. Er fühlt sich selbst nicht frei von menschlichen Leidenschaften: sie sind alle durch sein Herz hindurchgegangen und haben an seinem Wesen mitgestaltet. Und deshalb ist nur er — und nicht Richardson — berufen und berechtigt, der Überlegene zu sein, und er ist in der Tat überlegen! Sein Blick durchdringt den äußeren Überzug von Tugend und Ehrbarkeit und sieht darunter die Unzulänglichkeit alles Menschlichen. Er ist sich bewußt, 108

daß es nirgends Vollkommenheit in der Welt gibt, und Richardsons pathetischer Ernst erregt deshalb nur seine Heiterkeit. „Some others may, perhaps, think, I have not treated the subject with decent solemnity", meint er und fährt dann fort: „but surely a man may speak truth with a smiling countenance". Fielding weiß, daß die Menschen durch Predigten und weise Ratschläge nicht besser werden. Es ist viel nützlicher, ihnen zu zeigen, wie lächerlich sie wirken in ihrer unbeherrschten Triebhaftigkeit, die 6ie hinter einer Miene moralischer Unantastbarkeit verbergen. Zu diesem Zweck will er, wie er sagt, allen Witz und Humor aufbieten, der ihm zur Verfügung steht. So nennt er auch den „Joseph Andrews" seinen ersten Roman, der den pathetischen Roman ironisiert, einen komischen Roman, ein „comic epic poem in prose", und gibt damit seine Absicht kund, die Menschen von vornherein unter dem Gesichtspunkt des Komischen zu betrachten. Er nimmt eine Haltung ironischer Überlegenheit an, und diese Ironie ist der geistige Ausgangspunkt seiner Charaktergestaltung. Das bedeutet keineswegs ein Sich-Lossagen vom Ernst! I m Gegenteil! Fielding hat sich die Aufgabe gestellt, den echten Ernst von Scheinheiligkeit und falscher Wichtigkeit zu sondern und diese unserer Spottlust preiszugeben. Die einzige Quelle des Lächerlichen ist daher f ü r Fielding die Verstellung (affectation). „And it proceeds f r o m one of these two causes", fährt er fort, „vanity or hypocrasy". Nicht die großen Laster und Verbrechen sind also lächerlich, sondern die kleinen Fehler und Schwächen der menschlichen Natur, der Widerspruch zwischen Sein und Schein, zwischen Denken und Tun. Dabei ist die Verstellung, die auf Heuchelei, also auf einer ganz großen Unehrlichkeit beruht, noch ungleich komischer in der Wirkung als jene andere, die aus der Eitelkeit erwächst. Fielding begründet das im folgenden: „To discover any one to be the exact reverse of what he affects, is more surprising and consequently more ridiculous than to find him a little deficient in the quality he desires the reputation of." (Vorrede zu T. J.) Lächerlich in ihrer Eitelkeit ist z. B. Slipslop (J. A.), die sich, unglücklicherweise mit wenig Erfolg, bemüht, ein vollkommenes Abbild ihrer gnädigen Frau zu werden — oder Lady Booby selber, die Slipslop bezeichnet als „a reptile of a lower order", u. a. Ihnen allen fehlt die Fähigkeit, zwischem Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können, weil sie immer n u r ihre eigene, ausgezeichnete Persönlichkeit im Auge haben. Nicht einmal der gute Pfarrer Adams ist frei von dieser Schwäche: „he thought a schoolmaster the greatest character in the world and himself the greatest of all schoolmasters" (J. A. IV. 4). Die widerwärtigste und unsympathischste aller menschlichen Schwächen aber ist in Fieldings Augen die Heuchelei. Und es wäre unmöglich, all die Opfer dieses Lasters anzuführen, die Fielding zum Gegenstand seiner Ironie gemacht hat, und die in dem Mißverhältnis von Sein u n d Schein 109

so unendlich lächerlich wirken. Das Lieblingsobjckt Fieldingscher Ironie ist erheuchelte Tugendhaftigkeit, wie Miss Bridget Allworthy sie in wirklich unvergleichlicher Weise verkörpert. Sie ist ängstlich besorgt um ihren guten Ruf, hat Bruder und Freunde von ihrer moralischen Unfehlbarkeit überzeugt und ist im Grunde ein Opfer all der Triebe, die 6ie zu verabscheuen vorgibt. Bei solchen Gelegenheiten ist Fieldings Ironie von einer Schärfe und Bissigkeit, die ihresgleichen sucht. Mit unerschütterlichem Ernst berichtet er die widersprechendsten und unglaublichsten Dinge, ohne scheinbar etwas Auffallendes daran zu entdecken. Höchstens läßt er dann etwa eine Bemerkung wie die folgende fallen: „He regarded all virtue as matter of theory only. This, it is true, he never affirmed . . . to any one; and yet I cannot help thinking it was his real opinion, as it will perfectly reconcile some contradictions which might otherwise appear in his character." (T. J. III. 3.) Fieldings Charaktergestaltung ist zum großen Teil auf dieser Theorie der komischen Wirkung aufgebaut. Sie besteht darin, alle Arten von Verstellung zu entdecken und bloßzustellen, wie später noch ausgeführt werden soll. Fielding hat jedoch f ü r den komischen Geist seiner Romane keine ausreichende u n d erschöpfende Erklärung gegeben. Das wird z. B. deutlich, wenn wir die wundervolle Figur des Pfarrers Adams näher betrachten. Die komische Wirkung liegt hier nicht in dem Mißverhältnis von Sein und Schein; es ist ein anderer Widerspruch vorhanden, der tiefer und wesentlicher ist und dem wir auf den Grund gehen müssen. Fielding bekennt, er habe den „Joseph Andrews" „nach der Manier des Cervantes" geschrieben. Der auffallendste Zug, den Fieldings Roman mit dem Don Quixote gemeinsam hat, ist die parodistische Absicht. Darüber hinaus aber verbindet eine tiefere geistige Verwandtschaft die beiden Hauptcharaktere. Fielding gibt uns einen Wink, worin wir die Verwandtschaft seines Pfarrers Adams mit dem spanischen Ritter zu suchen haben. E r nennt ihn, sein Meisterstück, einen Menschen von vollendeter Einfalt und Herzensgüte. Und tatsächlich ist es die Verknüpfung dieser beiden Züge, die ihn zu einer komischen Figur macht. Die Überlegenheit seines Herzens und seiner Seele wird beeinträchtigt durch eine Schwäche seines Charakters, eine rührende Hilflosigkeit und Unerfahrenheit. Sein grenzenloses Vertrauen in die Güte der Menschen einerseits, und seine völlige Unkenntnis der Welt andererseits ergeben den komischen Widerspruch. Das Mißverhältnis zwischen dem absoluten Anspruch an die Welt und der lächerlichen Wirkung auf die Welt, zwischen Idee und Wirklichkeit, ist es, was die Charaktere des englischen Pfarrers u n d des spanischen Ritters im Innersten verwandt erscheinen läßt. Beide kennen die Wirklichkeit nur aus Büchern und beide können 6ie mit ihren Forderungen nicht in Einklang bringen. Wenn Fielding in „The Coffee-House Politician" (Works T. I, p. 392) 110

einmal sagt: „Good nature ig Quixotism", 60 hat er dabei eicher an seinen Pfarrer Adams gedacht. Adams ist besessen von der Idee, in jeder kleinsten seiner Handlungen christliche Barmherzigkeit in die Tat umzusetzen. Und er wirkt immer gerade in den Augenblicken am komischsten, wo er in seiner Güte und Selbstlosigkeit besonders liebenswert ist. Immer wieder gerät er bei dem Bestreben, einem oft wildfremden Menschen zu helfen, in die lächerlichsten Situationen. Und doch verliert er niemals seine Würde, und wir lieben und achten ihn trotz allem. Seine kleinen Schwächen, seine Zerstreutheit, seine Eitelkeit, seine Dickköpfigkeit bringen ihn uns menschlich nur um so näher. Die Geisteehaltung, die Fielding seinem Lieblingshelden gegenüber einnimmt, ist etwas anderes als bloße Ironie. Das Eigenartige ist nämlich, daß die komisch wirkende Schwäche hier kein einfacher Charakterfehler ist, sondern die Begleiterscheinung, ja die Folge einer gesteigerten Fähigkeit des Fühlens und Mitempfindens. Stärke des Gefühls gefährdet immer die geistige Unabhängigkeit, sie ist von dieser aus gesehen Schwäche und wirkt darum komisch und lächerlich. Dies seltsame Ineinander von Lachen und innerem Bewegtsein ist nicht mehr der Geist der Ironie, sondern der des Humors. Für diesen Geist ist eine Szene im „Joseph Andrews" besonders typisch: Als Joseph seine geliebte Fanny verloren hat, hält Adams eine lange Rede über die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung: „You are too much inclined to passion, child, and have 6et your affections so absolutely on this young woman, that if G — required her at your hands, I fear you would reluctantly part with her." Er selbst ist scheinbar völlig erhaben über jede stärkere, innere Erregung. Plötzlich stürmt jemand herein und erzählt ihm, daß sein kleiner Sohn ertrunken ist. I m selben Augenblick ist von Selbstbeherrschung keine Rede mehr, Adams bricht in laute Schmerzensrufe und bittere Anklagen gegen das Schicksal aus. Die geistige Überlegenheit, die er zu besitzen glaubte, — eine Schutzwehr gegen das eigene Herz — vergeht wie nichts vor der Heftigkeit eeinee Gefühls. In diesem Augenblick ist Adams schwach, komisch in seiner Schwäche und doch liebenswerter denn je. Wir selbst sind bewegt und können uns zugleich eines Lächelns nicht erwehren. Es ist eine naive Art von Humor um die Gestalt des Pfarrers Adams, denn er selbst ist sich seiner Komik nicht bewußt. Dieser Geist eines gütigen Humors oder auch einer leichten u n d geistvollen Ironie herrscht jedoch nicht überall. Manchmal ergreifen Fielding auch Abscheu und Entrüstung über die Selbstsucht der menschlichen Natur, über die geradezu groteske Ungerechtigkeit mancher staatlichen und sozialen Einrichtung. Hier weichen Humor und Ironie der Satire, der scharfen und bitteren Anklage. Die Zustände in den Gerichtshöfen und Gefängnissen werden schonungslos enthüllt, die Unwieeenheit und verbrecherische Gesinnung der Richter, Advokaten und Gerichtsdiener erbarmungslos ans Tageslicht gefördert. Immer auf der Grenze von scharfer Ironie und bitterer Satire hält sich 111

der Jonathan Wilde, auf diesem Gebiet wohl Fieldings Meisterstück. Völlig beherrscht und scheinbar innerlich ganz unbeteiligt schildert er hier den Charakter Jonathan Wildes des „Großen", der ein Verbrecher ungewöhnlichen Stiles ist und dessen „Größe" auf einer, vom Dichter eingeführten, Umkehrung aller moralischen Werte beruht. In Fieldings letztem Roman, der „Amelia", dagegen haben Ironie und Satire viel von ihrer Schärfe verloren. Es liegt hier ein größerer Ernst, manchmal fast etwas Düsteres über der Art, wie Fielding das Leben sieht. Komische Figuren und allerhand satirische Lichter fehlen zwar nicht, aber die meisten Charaktere sind von einer anderen Atmosphäre umgeben, in der das Gefühl stärker betont wird und das Pathos an die Stelle der Ironie tritt. Aber es ist ein echtes Pathos, zu dem Fielding kommt, nachdem er Richardsons gravitätische Feierlichkeit als unaufrichtig abgelehnt und der Lächerlichkeit preisgegeben hat.

Als Fielding anfing, Romane zu schreiben, hatte er seine Kunst der Charaktergestaltung schon in zahlreichen Komödien erprobt. In seiner Prosadichtung verleugnet er daher auch nie den Dramatiker, der er einmal gewesen ist, und gibt der indirekten Charakterisierung durch Handlung und Dialog den Vorrang vor der direkten, d. h. beschreibenden Art der Darstellung. Wenn diese trotzdem von Fielding in viel stärkerem Maße angewandt wird als von Richardson, so ist das nicht, wie Dibelius in seiner „Englischen Romankunst" erklärt, der Überrest einer älteren und reichlich primitiven Technik, die wir z. B. auch in Defoes Romanen finden, wo der Autor ein vollständiges Verzeichnis aller Eigenschaften des Helden vorausschickt, bevor er ein Ereignis berichtet. Vielmehr ergibt sich das stärkere Hervortreten der direkten Darstellung aus dem ironischen Charakter des Romans, aus der betont überlegenen Haltung des Dichters, die besonders in den einleitenden Kapiteln so deutlich ist. Die beschreibende Charakterisierung i6t jedoch nicht die einzige und auch nicht die auffallendste Äußerung der ironischen Haltung. Wesentlicher und charakteristischer für Fieldings Kunst ist sein persönliches Hervortreten bei jeder Gelegenheit. Er beansprucht das Recht, selbst auf der Bühne zu erscheinen, „in the way of chorus", wie er sagt (T. J. IH. 7), die Handlungen der Personen zu beurteilen, mit dem Leser über die Motive zu beratschlagen, ihm allerhand Winke und Ermahnungen zu erteilen, kurz, jede Erläuterung zu geben, die er f ü r nötig hält. Er beschränkt sich dabei keineswegs auf die einleitenden Kapitel: oft genug unterbricht er die Erzählung, um seine Meinung zu äußern. Auf diese Weise bekommen wir einen fortlaufenden Kommentar in die Hand, mit dessen Hilfe wir uns unser Urteil über die Charaktere bilden können. Diese Methode macht es überflüssig, d a ß die Personen des Romans selbst über sich und ihre psychologischen Probleme reflektieren, — oder daß der Dichter sie als Sprachrohr benutzt, durch das er allerhand moralische 112

Grundsätze und Weisheiten verkündet. Die lehrhafte Absicht hält sich in gewisser Entfernung von den Charakteren, die nun ausschließlich und unbedingt ihrem Temperament gehorchen können und in ihrer inneren Einheit nicht gefährdet sind. Fielding ist sich dessen durchaus bewußt, wenn er sagt: „Great care is to be taken, that we do not exceed the capacity of the agent we describe", oder wenn er, sein Erscheinen auf der Bühne entschuldigend, selber erklärt, „what he cannot prevail on any of his actors to speak." (T. J. III. 7.) Mit viel Liebe und Hingebung widmet Fielding sich der Aufgabe, die Motive aufzudecken, die den einzelnen Handlungen zugrunde liegen. Dabei spielt er gern den Außenstehenden, dem die Personen des Romans als selbständige, für ihn nicht durchschaubare Wesen gegenüberstehen. Er mutmaßt, beratschlagt mit dem Leser, erwägt das Für und Wider. Oder er heuchelt völlige Ahnungslosigkeit und überläßt es stillschweigend dem Leser, sich mit allerhand rätselhaften Widersprüchen herumzuschlagen. Manchmal fordert er ihn auch ausdrücklich auf, seine Geisteskräfte zu betätigen, indem er ihm folgende Eröffnung macht: „Though we will always lend thee proper assistance in difficult places, yet we shall not indulge thy laziness where nothing but thy own attention is required; for thou art highly mistaken if thou dost imagine that we intended, when we began this great work, to leave thy sagacity nothing to do." Dadurch, daß Fielding mit uns in persönliche Verbindung tritt, uns an allem teilnehmen läßt, uns Einblick in die inneren Zusammenhänge gewährt, bringt er uns in ein besonders enges Verhältnis zu den Menschen seines Romans. Dieses Gefühl haben wir z. B. auch dann, wenn Fielding die Gelegenheit ergreift, uns seine besonderen Lieblinge persönlich vorzustellen. Sophia widmet er zu diesem Zweck ein ganzes Kapitel. Er kündigt sie an als „the lady with whom we ourselves are greatly in love, and with whom many of our readers will probably be in love too before we part". (T. J. III. 10.) Seitenlang werden nun Sophias Vorzüge gerühmt, nachdem Fielding vorher den männlichen Lesern, soweit sie Herz haben, den Rat gegeben hat, das Folgende lieber zu überschlagen. In seiner reizvollen und amüsanten Art weiß der Dichter so unsere Spannung und Erwartung zu erregen. Wenn Baker in seiner „History of the English Novel" sagt: „It is Fielding's reading in the book of life, not the book of life itself, which we are invited to peruse", so charakterisiert er damit treffend diesen einen, wesentlichen Zug Fielding6cher Romankunst: die ironisch-überlegene Haltung des Dichters. Jeden Augenblick sind wir uns seiner Gegenwart, seiner Autorität, seiner führenden Hand bewußt. In einer Dissertation über Fieldings Romantechnik (K. Düber: „Beiträge zu Fieldings Romantechnik") wird dem Dichter der Vorwurf gemacht, seine persönlichen Bemerkungen zerstörten die Illusion; sie könnten aus ästhetischen Gründen nicht geduldet werden und seien außerdem praktisch unnötig. Gröber und voll113

kommener kann man Fielding wohl k a u m mißverstehen. Die ironische Überlegenheit ist ja das Wesen seiner Kunst, ist das, was wir lieben und bewundern, was den ganzen Zauber seiner Romane ausmacht. Wer das nicht merkt oder d a f ü r nicht empfänglich ist, dem kann man nur den guten Rat geben, den „Tom Jones" u n d den „Joseph Andrews" lieber beiseite zu legen und sich anderen Dingen zu widmen. Der „Tom Jones" stellt wohl den Höhepunkt dieser ironischen Kunst dar. In der „Amelia" lebt, wie wir schon erwähnt haben, ein anderer Geist. Fielding gibt die ironische Einstellung zum Teil auf, hält sich mehr zurück und überläßt es dem Leser, in die Charaktere einzudringen. Die Hauptpersonen werden nicht feierlich eingeführt, sondern erscheinen im Lauf der Erzählung, einer Szene, eines Gesprächs, wie im Leben selbst. Der Realismus nimmt zu, Objektivität tritt an die Stelle der Ironie. Wir haben schon angedeutet, daß Fieldings direkte Charakterisierung aus seiner ironischen Haltung erwächst. Man findet vielfach die Meinung vertreten, daß die Technik des Romans um so vollkommener ist, je mehr sie sich der des Dramas nähert; der beste Romandichter ist der, welcher seine Personen n u r durch Handlung und Gespräch charakterisiert. Die Vertreter dieser Meinung lassen außer acht, daß jede Dichtungsgattung ihren eigenen Gesetzen zu folgen hat und daß es sinnlos ist, den Maßstab des Dramas auf den Roman zu übertragen. Und Fieldings beschreibende Skizzen sind tatsächlich ein schlechthin unentbehrlicher Bestandteil seiner Romane. Sie sind so treffend und amüsant, so eigenartig und wesentlich, d a ß wir sie nicht missen möchten. Meistens verwendet Fielding sie beim ersten Auftreten einer Person. Er gibt durchaus kein vollständiges Porträt, sondern hebt nur mit einigen scharfen Strichen die auffallendsten Züge hervor. Meisterhaft in ihrer Kürze ist z. B. die Beschreibung von Lady Booby (J. A. I. 3 ) : „My lady was a woman of gaiety, who had been blessed with a town education, and never spoke of any of her country neighbours by any other appellation than that of the brutes." Oder von Mrs. Partridge: „This woman was not very amiable in her person. She was, besides, a professed follower of that noble sect, founded by Xantippe of old; by means of which she became more formidable in the school t h a n her husband." Auch die Nebenfiguren, Wirte, Wirtinnen, Kammermädchen usw. bekommen durch wenige stark hervortretende Züge Farbe u n d Leben. Nie aber sind diese Beschreibungen ausgeführt. Fielding unterbricht sich, r u f t Scharfsinn und Phantasie des Lesers auf den Plan u n d fordert ihn auf, sich das Bild aus allem, was im Laufe der Erzählung an ihm vorbeizieht, zu vervollständigen. E r sagt selbst einmal ausdrücklich, daß er dem Leser diese besondere Freude des Entdeckens nicht nehmen wolle (T. J. IV. 2). Zug f ü r Zug wird so der Charakter aufgedeckt, wobei im weiteren Verlauf der Erzählung direkte Charakterisierung n u r dann und wann in eingestreuten kurzen Bemerkungen begegnet, die jedoch meistens ausge114

zeichnete Winke geben. Im allgemeinen leiten sie eine bedeutungsvolle Szene ein oder sie schließen, als eine Art Zusammenfassung, den Bericht eines Ereignisses ab, oft um die Handlungsweise einer Person zu erklären, oft aber auch, um das Urteil, das der Leser sich auf Grund von Handlung und Dialog gebildet hat, zu bestätigen. Wenn man Fieldings Romane miteinander vergleicht, bemerkt man zweifellos eine Abnahme der direkten Charakterisierung. In der „Amelia" fehlt sie fast völlig. Es ist dies eine Erscheinung, die Hand in Hand geht mit der Aufgabe der ironisch überlegenen Haltung. Fielding macht sich nicht allzu viel Mühe damit, die äußere Erscheinung seiner Romanfiguren zu beschreiben. Nur die wichtigeren Personen werden geschildert, und diese noch nicht einmal alle. Vor allem reizen den Dichter die komischen Figuren, und hier liegt auch ganz offensichtlich seine Stärke. Selten schildert er Einzelheiten, sondern begnügt sich damit, dem Leser einen Gesamteindruck zu vermitteln. So beschreibt er etwa eine ältere Dame lediglich mit der Bemerkung: „She was out of that order of females whose faces are taken as a kind of security for their virtue" (T. J. II. 3). Und von Miss Bridget Allworthy sagt er: „The lady no more than her lover was remarkable for beauty." Er verweist dann (wie er es öfter tut) auf einen Kupferstich des Malers Hogarth, betitelt: „A Winter's Morning". Eine weitere Beschreibung erübrige sich, fügt er hinzu, denn hier sei die Dame schon von geschickterer Hand verewigt als ein nicht übles Sinnbild der sie umgebenden Natur. Einzelheiten erfahren wir nicht — der eigene Reiz dieser Schilderung liegt auch wieder in der unnachahmlichen Ironie des Dichters. Bei einigen Figuren wird die komische Wirkimg bis zur Karikatur gesteigert. Ich denke da an die Beschreibung der Slipslop oder auch des Parson Trulliber in Joseph Andrews (I. 6. und II. 14.) „who could have acted the part of Sir John FalstafI without stuffing" . . . „and who had a stateliness in his gait when he walked, not unlike that of a goose, only he stalked slower." Sobald Fielding auf komische Wirkung verzichtet, verlieren seine Beschreibungen an Farbe und Lebendigkeit. Auffallend ist das z. B. bei Tom Jones. Er wird geschildert als „one of the handsomest young fellows in the world", und Fielding greift dann — vielleicht nicht ohne ironische Absicht — zu recht konventionellen Vergleichen mit griechischen Göttern und versieht ihn mit dem Körper eines Herkules und dem Gesicht eines Adonis. In ähnlicher Weise werden die Reize Sophias an der Venus von Medici gemessen und an den Schönheiten der Galerie von Hampton Court. Hier geht die Schilderung sehr ins einzelne, und doch können wir uns keine wirkliche Vorstellung machen, weil all die Züge zu stark idealisiert sind, — bis auf die eine kleine Unvollkommenheit mitten in der Liste der Vollkommenheiten, die dem Bild etwas Persönliches und Charakteristi115

sches gibt: „her forhead might have been higher without prejudice to her" (T. J. IV. 2). Die Beschreibung der Amelia, Fieldings dritter und letzter Heldin, trägt deutliche Zeichen eines wachsenden Realismus. Fielding führt sie auch nicht persönlich ein. Er begnügt sich zunächst damit, den Eindruck zu schildern, den ihre eigenartige Schönheit auf ihre Umgebung macht. Dann und wann läßt er eine kleine Bemerkung fallen. Aber ihr vollständiges Porträt wird erst im letzten Teil des Romans gegeben. Und zwar sehen wir sie mit den neidischen und eifersüchtigen Augen der Mrs. James, deren Mann in Amelia verliebt ist. „In the first place her eyes are too large; and she hath a look with them that I don't know how to describe, but I don't like it. Then her eyebrows are too large; . . . her nose, as well proportioned as it is, hath a visible scar on one side. Her neck likewise is too protuberant for her genteel size, especially as she laces herself; for no woman . . . can be genteel who is not entirely flat before." Es ist ein Meisterstück indirekter Beschreibung! Zurückgespiegelt durch Neid und Eifersucht werden Amelias Reize nur um so interessanter und anziehender. Sie ist tatsächlich eine interessante, nicht eine vollkommene Schönheit — ein bemerkenswerter Schritt zum Realismus hin, denn eine Romanheldin mit einer deutlichen Narbe an der Nase wäre bis dahin eine unerhörte Kühnheit gewesen. Die beschreibende Charakterisierung, die so stark den persönlichen Stempel Fieldingscher Eigenart trägt, ist jedoch nicht das Hauptmittel seiner Darstellungskunst; wichtiger sind Handlung und Gespräche, die Mittel des Komödiendichters, der Fielding einmal war. An die Phantasie und den Scharfsinn des Lesers werden dabei größere Anforderungen gestellt. Der Charakter steht nicht von vornherein klar umrissen vor uns, sondern wir dringen nur ganz allmählich weiter vor und sind gespannt auf jede kommende Enthüllung. Auch auf die vorbereitende Skizze verzichtet Fielding häufig. Tom Jones z. B. wird vom Dichter lediglich mit der Bemerkung eingeführt, er müsse ehrlich bekennen, „that it was the universal opinion of all Mr. Allworthy's family, that he was certainly born to be hanged" (T. J. III. 2 ) ; über Fieldings eigene Meinung sind wir zunächst völlig im Ungewissen. Er fügt nur dem obenerwähnten Urteil die Bemerkung hinzu: „Indeed, I am sorry to say, there was too much reason for this conjecture; the lad having, from his earliest years, discovered a propensity to many vices." Gleich darauf tritt uns Tom dann in einer Szene selbst entgegen, und wir lernen ihn kennen, so wie er wirklich ist: gutherzig, selbstlos, ritterlich auf der einen Seite — unklug, leidenschaftlich, leichtsinnig auf der andern. Gleichzeitig wird der Charakter Blifils enthüllt, über den Fielding anfangs bemerkt hat: „he was a lad of remarkable disposition, 6ober, discreet and pious beyond his age." (T. J. III.) So jedenfalls lebt er in den Augen seiner Familie, die den äußeren Schein für das Wesen nimmt und der deshalb auch die bittere Ironie des Dichters gilt. 116

Noch wichtiger als die Handlung ist für die Charaktergestaltung der Dialog. Auf die Kunst des Dialogs hat Fielding bewußt seine ganze Mülie verwandt und hat sie tatsächlich zu bewundernswerter Vollendung geführt. Square und Thwackum im Tom Jones z. B. können ihr innerstes Ich nur im Dialog enthüllen. Erst ihre Diskussionen über Tugend und Religion zeigen ihre lächerliche geistige Enge und Beschränktheit. Ähnlich wird Squire Western, über dessen seltsame Launen und Gewohnheiten wir schon allerhand gehört haben, erst wenn er im Dialog vor uns erscheint, zu jenem Bild kraftstrotzender Derbheit und Lebensfülle. Dazu spricht er Somerset-Dialekt, seine kurzen, abgebrochenen Sätze mit allerhand Flüchen und Grobheiten würzend (T. J. XVI. 4). Auch die Gespräche zwischen Lady Booby und Slipslop in „Joseph Andrews" sind Glanzstücke indirekter Charakterisierung. Sie decken die Spitzfindigkeit, die verborgene Sinnlichkeit, die Unaufrichtigkeit der Lady auf und zeigen, daß Slipslop ihr in den beiden letzten Eigenschaften keineswegs nachsteht. — Figuren, wie der Pfarrer Trulliber, dem wir nur einmal im Lauf des Romans begegnen, enthüllen ihr innerstes Wesen in einem einzigen, kurzen Gespräch, und sind von da an unserem Gedächtnis eingeprägt. „Men are not what they seem", das ist der Gesichtspunkt, von dem aus Fielding die menschliche Natur betrachtet und darstellt. Er stellt Schein und Wirklichkeit einander gegenüber, damit wir das wahre Sein des Charakters erkennen. Auch bei dieser Methode des Enthüllens und Bloßstellens ist der Dialog unentbehrlich. Eitelkeit, Heuchelei und alle Arten der Verstellung durchziehen die Gespräche und täuschen den Leser über das, was diese Menschen wirklich denken und empfinden. Ihre wahre Natur, die schließlich in irgendeiner Handlung zum Vorschein kommt, steht dann in absolutem Widerspruch zu den Vorstellungen, die der Leser sich auf Grund des voraufgehenden Dialogs gemacht hatte. Fielding hält sich in solchen Fällen oft ganz zurück und macht höchstens, einige feine, ironische Andeutungen. Er handelt nach dem Grundsatz: „the more he can surprise the reader, the more he can engage his attention and the more he will charm him" (T. J. Vl.ll. 1). Und außerdem will er es dem Leser ja auch überlassen, den Charakteren auf den Grund zu kommen. Die Wirkung ist tatsächlich oft verblüffend. Ein schönes Beispiel gibt. Miss Bridget Allworthy. Sie scheint der Inbegriff jungfräulicher Keuschheit zu sein, aus ihren Worten spricht größte Verachtung für diejenigen ihrer Mitmenschen, denen die Reize ihres Körpers zu Fallstricken geworden sind. Den Findling behandelt sie, „as if it had been a child of her own." Und Fielding fügt sofort hinzu: „But lest the virtuous reader may condemn her for showing too great regard to a base-born infant, . . . we think proper to observe that she concluded the whole with sayng: ,since it was her brother's whim to adopt the little brat, she supposed little master must be treated with great tenderness. For her part, she could not 117

help thinking it was an encouragement to vice'" (T. J. I. 5). Der Leser wird über ihren wahren Charakter völlig irregeleitet, bis sich schließlich am Ende herausstellt, daß der Findling ihr eigener Sohn ist. Der Dialog hat oft eine doppelte Aufgabe: er charakterisiert nicht allein die sprechenden Personen, es werden auch Abwesende im Laufe der Unterhaltung beurteilt und seelisch zergliedert. Es ist bewundernswert, wie Fielding durch diese Methode die Charaktere in wechselnde Beleuchtung rückt, uns einmal irreführt, dann aber auch wieder Andeutungen gibt, die uns auf den richtigen Weg bringen. Der Charakter des Tom Jones z. B. erscheint anfangs in einem eigenartig schillernden Licht, dadurch, daß jeder Handlung Toms die Urteile Squares und Thwackums, Allworthys, seiner Schwester usw. beigefügt werden, ohne daß Fielding selbst seine Meinung äußert. Diese Methode des Irreleitens ist zur Vollendung geführt in der „Amelia". Hier ist Fielding mehr losgelöster Beobachter, er mischt sich nicht mehr so häufig ein und bespricht nur selten mit dem Leser das Motiv einer Handlung. Szene, Gespräch, Brief, Selbstbiographie lassen Linie um Linie das Bild vor unseren Augen entstehen. Und von besonderem Reiz für den Leser ist es hier, wenn plötzlich die leise Ahnung über ihn kommt, daß er auf falscher Fährte wandelt. Noch eine Zeitlang genießt er die Spannung des Ungewissen, bis der Dichter ihm den Schlüssel gibt oder selbst das Rätsel löst. Je mehr wir Fieldings große Kunst der Menschengestaltung schätzen und bewundern lernen, um so weniger scheint es uns möglich, ein vollständiges und abgeschlossenes Bild davon zu geben. Der Reichtum und die Fülle sind so unermeßlich, daß wir immer nur einzelne Züge herauszugreifen vermögen. Es ist die Fülle des Lebens selbst, die niemals ganz erfaßt werden kann und der wir nur in den wenigen ganz großen Werken epischer Dichtung begegnen. Fieldings klarer Geist, seine scharfe Beobachtungsgabe, seine Lebensauffassung, die keinerlei Illusionen kennt und doch voll Glaubens an das Gute ist, befähigen ihn, jenes vollkommene Abbild menschlichen Lebens zu schaffen, daß wir tatsächlich in seinen Romanen finden. Der Eindruck des Vollkommenen ist nicht zuletzt darin begründet, daß die philosophischen Anschauungen, die Forderungen des schaffenden Künstlers und die technischen Mittel der Darstellung eine letzte organische Einheit bilden. Alles aber ist durchdrungen und getragen von dem Geist der Ironie, die Fieldings Romanen ihren besonderen und einzigartigen Reiz verleiht und in der Wesen und Geheimnis seiner Menschengestaltung beschlossen liegen.

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Charakterzeichnung und Komposition in Fieldings „Tom Jones" in ihrer Beziehungzum Drama. (Gekürzt)

Von

Bichard Haage. KOMÖDIE

UND

KOMISCHER

ROMAN.

Zwischen dramatischer und erzählender Dichtung haben von Anbeginn her enge Wechselbeziehungen bestanden. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Beziehungen im einzelnen nachzuweisen, aber soviel steht fest, daß, wie schon die griechischen Tragiker ihre Stoffe, Begebenheiten, Verwicklungen und Lösungen aus der mündlich-episch überlieferten Volkssage nahmen, so auch umgekehrt dramatische Konstruktionsmotive aus dem — ernsten oder komischen — Drama in die erzählende Dichtung übergehen1. Je größer durch die Überlieferung der Jahrhunderte das Stoffgebiet der Literatur wird, desto enger und inniger werden die Wechselbeziehungen zwischen erzählender und dramatischer Dichtung. In der RenaissanceZeit und dem darauf folgenden 17. Jahrhundert sind sie zu einem fast unentwirrbaren Knäuel von Stoff-, Konstruktions-, Handlungs- und Charaktermotiven verwickelt. Man kann in allen Literaturwerken unschwer die einzelnen Fäden dieses Gewirrs von Motiven erkennen, ohne sie immer klar von einander scheiden zu können. Die klassische antike dramatische und epische Dichtung und Mythologie, der spätantike Roman mit seinen wunderbaren Verwicklungen und Auflösungen, die lateinische Komödie mit ihren Typen, die nachher in der commedia dell'arte wiederkehren, die Fabliaux und Novellen des Mittelalters, die germanisch-keltischen Märchen- und Elfenmotive, der ganze ritterliche und pastorale Motivkreis, alle diese Elemente liefern die Fäden des Gewebes der europäischen Literatur der Renaissancezeit und des 17. Jahrhunderts. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich in England als Ideal dramatischer Dichtung die „klassische" oder besser klassizistische „regelmäßige" Tragödie nach französischem Muster durchgesetzt. Daneben gab es die gleichfalls stark französisch beeinflußte höfische Komödie, die ebenfalls nach den drei Einheiten strebte. Parallel zu dieser dramatischen 1

Vgl. F. Lindner H. F.s dramatische Werke. Leipzig u. Dresden 1895, S. 156 f. 119

Dichtung lief die erzählende Literatur: der heroisch-pathetische Roman im schäferlichen oder höfisch-antiken Gewände nach der Art der D'Urfé und Mme. de Scudéry, und der ironisch-derbe picareske Roman, der allerdings von der höfischen Komödie weiter entfernt war als der heroischpathetische Roman von der Tragödie. Der erste, der bewußt versuchte, der höfischen Komödie eine erzählende Dichtung parallel zu setzen, die sich zu ihr verhalten sollte wie der klassizistische Roman zur hohen Tragödie, war Congreve mit seiner „Novelle" Incognita (1691). Im Vorwort zu dieser Geschichte, die er im bewußten Gegensatz zu den „Romances" seiner Zeit „A Novel" nennt, spricht eich Congreve über seine Absicht aus: „Romances are generally composed of the Constant Loves and Invincible Courages of Hero's, Heroines, Kings and Queens . . . where lofty Language, and impossible Performances elevate and surprize the Reader into a giddy Delight, which leaves him flat upon the Ground . . . and vexes him to think how he has suffer'd himself to be pleased and transported, concern'd and afflicted at the several passages which he has Read . . . when he is forced to be . . . convinced that 'tis all a lye. Novels are of a more familiar nature; Come near us, and represent to us Intrigues in practice, delight us with Accidents and odd Events, but not such as are wholly' unusual or unprecedented, such which not being so distant from our belief bring also the pleasure nearer us. Romances give more of Wonder, Novels more Delight . . . the Parallel kept at due distance, there is something of equality in the Proportion which they bear in reference to one another with that between Comedy and Tragedy ; but the Drama is the long extracted from Romance and History; 'tis the midwife to Industry and brings forth alive the Conceptions of the Brain . . . Since there is no possibility of giving that life to the Writing or Repetition of a Story, which it has in the Action, I resolved . . . to imitate Dramatick Writing . . . in the Design, Contexture and Result of the Plot . . Dies soll versucht werden durch Einheit der Zeit (die Geschichte spielt innerhalb zweier Tage), Einheit des Ortes, wenigstens vom Beginn der Liebesentwicklung ab, und Einheit der „contrivance", des Planes, der Erfindung, der im Drama Einheit der Handlung entsprechen würde. (Jedes Ereignis im Verlauf der Geschichte soll dem Endzweck dienen, auch wenn es ihm zuerst zu widersprechen scheint.) Mit dieser Vorrede hat Congreve einen für die Gestaltung des englischen Romans sehr wichtigen theoretischen Versuch gemacht, wenn auch das, was er für „dramatic writing" als wesentlich ansah, nämlich die Innehaltung der drei Einheiten, diesen einen Versuch nicht überlebt hat. Wichtiger als die drei Einheiten ist die Übernahme des dramatischen Schemas des Dénouements in die Novelle, des Schemas der durch Verkleidungen, Verwechslungen und Intrigen hervorgerufenen Verwicklung, die mit einer durch das Schlußtableau einer glücklich vereinten Familie 120

oder einer bzw. mehrerer Hochzeiten gekrönten glücklichen Lösung zum guten Ende gebracht werden. Dies Schema, bekannt aus dem griechischen Roman und aus der spätmittelalterlichen Novellenliteratur, beherrscht die meisten Shakespeareschen und anderen Komödien der Renais6ancezeit, das ganze Restaurationslustspiel und einen Teil der weiteren dramatischen Literatur bis zur modernen Posse und Operette einerseits, aber andererseits auch bis zu Höhepunkten unserer klassischen Dichtung, wie Lessings Nathan und Goethes Iphiginie. Obgleich dies Schema also wahrscheinlich aus dem Gebiet der epischen Erzählung stammt 2 , ist es im Laufe der Jahrhunderte ein ausgesprochen dramatisches, und gerade lustspielhaftes Mittel zur Erregung der Spannung geworden. Der Roman des 18. Jahrhunderts, vor allem der Roman Ficldings, steht stark unter dem Einfluß dieses Schemas, das eine spätere, unter RichardsonRousseauschem Einfluß mehr von der Empfindungspsychologie des Einzelnen ausgehende Zeit mehr und mehr als mechanisch äußerlich verdrängt hat. Fieldings drei Hauptwerke 6tehen ganz in dieser Tradition, und es ist kein Zufall, daß Fielding, der als Komödiendichter Congreve nacheiferte, auch hier, wenn auch mit viel höherer Vollendung, von dieser bedeutsamen Gelegenheitsarbeit Congreves ausging. Während nun Congreves Incognita in ihrer ganzen Komposition sich sehr eng, ja sklavisch an die des Lustspiels hält und sich daher fast liest wie das Szenarium einer Renaissancekomödie, hat Fielding in seinen Romanen, obwohl (wie die Ausführung zeigen soll) er viel vom Lustspiel übernommen hat, das Skelett der Handlung mit lebendigem, dem Leben selbst abgesehenen echt epischen Fleisch und Blut umkleidet. Dieser Unterschied, der erst die künstlerische Größe Fieldings, gemessen an Congreve, ausmacht, darf bei der gesamten Betrachtung nie aus den Augen gelassen werden. Fielding hat dadurch, daß er als junger Mann in seinen Komödien die Lustspieltechnik beherrschen lernte, wichtige Vorstudien zu seinen späteren Meisterwerken machen können. In der Charakterzeichnung wie in der Komposition sind die Vorstufen seiner Romangestalten und Handlungen zu finden. (Vgl. Felix Lindner: II. F.s dramatische Werke, S. 156 ff.) Aber weit über seine eigenen dramatischen Versuche hinaus hat Fielding, der über eine ungeheure Belesenheit in der antiken Literatur wie in der seines und des vorangehenden Jahrhunderts verfügte — die Bemerkungen in den Einleitungskapiteln und in den verschiedenen in die Erzählung eingestreuten Digressionen verraten das sehr eindrucksvoll —, sich seine gründliche Vertrautheit mit Problemen und Motiven der Komödie seiner Zeit für seine großen Erzählungswcrke, insbesondere den Tom Jones, zunutze gemacht. 2 Wie weit der griechische Roman und die Novelle des Mittelalters in dieser Hinsicht vom antiken und spätantiken Lustspiel beeinflußt ist, kann ich nicht entscheiden, jedoch finden sich bei Rohde („Der griechische Roman") Hinweise darauf.

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Fielding ist sich selbst der Beziehungen zwischen der Komödie und dem komischen Roman durchaus bewußt gewesen. In seinen Romanen, besonders im T. J., wimmelt es von Anspielungen auf das Drama bzw. dessen Technik; immer wieder wendet er Theaterausdrücke auf seine Geschichte an. So spricht er zuweilen davon, d a ß er seine Figuren „on the stage" erscheinen lasse, er nennt selbst die Ereignisse „Szenen", seine Leser bezeichnet er als seine „audience" (I., 11). Es würde zu weit führen, wollte man alle diese zum Teil brillant witzigen Anspielungen auf Theater und Drama im allgemeinen und auf zu seiner Zeit bekannte Stücke im besonderen einzeln anführen. Aus allen spricht in jedem Wort der erfahrene Theatermann, und es ist kein Wunder, wenn Fielding, der in dieser Welt der Kulissen und Lampen zu Hause war wie kein zweiter Romanschriftsteller, wichtige Elemente der dramatischen Technik in seinen Romanen übernommen hat. Theoretisch läßt Fielding sich über dieses Verhältnis der komischen Romane zur Komödie in der Vorrede zu seinem „Joseph Andrews" aus. Nach denselben Richtlinien, die er dort aufstellt, ist er konsequenter noch als im J. A. im Tom Jones verfahren. In der Vorrede zum J. A. geht er, in auffallender Übereinstimmung mit Congreve wieder von der Parallele Tragödie: ernster Roman—Komödie: komischer Roman aus, unter Berufung auf Aristoteles, nach dessen Zeugnis Homer „gave us a pattern of both these, though that of the latter kind is entirely lost, which . . . bore the same relation to comedy which his Iliad bears to tragedy". Von einem Epos, das durchaus nicht, wie frühere Kritiker es verlangten, in Versen geschrieben sein muß, verlangt er, d a ß es — der rationalistischen Ästhetik seiner Zeit entsprechend — „instruction and entertainment" enthält. Der dickleibigste Roman hat mit dem wahren Epos nichts zu tun, wenn ihm dieses fehlt, so könne man sog. „Romane" wie Clelia, Astraea, Cassandra, le grand Cyrus füglich nicht Epen nennen, dagegen will er den Telemaque Fenelons durchaus als Epos anerkennen. Der komische Roman unterscheidet sich nun nach Fielding von der Komödie wie der ernste Roman von der Tragödie: „its action being more extended and comprehensive, containing a much larger circle of accidents and introducing a much larger circle of characters". Für die Anlage des Romans, auf die es hier besonders ankommt, ist dies das Wesentliche; die weiteren Äußerungen über den Unterschied des komischen Romans vom ernsten, über die Bedeutung des Lächerlichen und des Burlesken, die Theorie des Komischen und seiner Quelle, der „affectation", sind nur wichtig für die Ausführung. Der komische Roman ist also f ü r Fielding gewissermaßen eine erweiterte Komödie. Congreves Ansicht von der Notwendigkeit der drei Einheiten ist fallen gelassen 3 , es soll ja eine History sein, im J. A. wie im T. J., nicht eine „Novelle". Und doch befleißigt sich Fielding im J. A. wie besonders im T. J. im großen und ganzen doch 3

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Vgl. T. J. II. 1.

des „dramatic writing", sowohl in der Anlage des „Plot" im Ganzen und in der Verwicklung und Lösung einzelner Nebenintrigen, wie auch in der Charakterzeichnung der einzelnen Figuren seiner Romane, in gleich kunstvoller Weise, wie es Congreve in der „Incognita" getan hatte, nur stark verfeinert und abgerundet durch seine Beobachtungen über das Leben und Treiben der Menschen seiner Zeit und einen scharfen satirischen Blick für ihre Lächerlichkeiten, wozu jene persönliche Haltung der Sympathie mit den Figuren seiner Geschichte kommt, selbst wenn sie lächerlich, ja verächtlich erscheinen, die den wahren Humor ausmacht. Wie nun im T. J., als dem Hauptwerk des Dichters, dies „dramatic writing" durchgeführt wird, zu untersuchen und dadurch zum Verständnis der Schaffensweise des Dichters beizutragen, ist die Aufgabe dieser Arbeit. Es ist unmöglich, jede einzelne Beziehung zwischen dem Roman T. J. und der Komödie hier aufzudecken. Die Untersuchung muß sich darauf beschränken, herauszustellen, wie weit Fielding bei der Charakterzeichnung und Komposition des T. J. einmal auf die zu seiner Zeit lebendige Komödientradition zurückgeht, und vor allem auch, wie weit er aus seiner praktischen, nicht an einzelne Vorbilder gebundenen Beherrschung dieser Tradition als früherer Dichter von Komödien herau3 dramatisch verfährt. Unter „dramatischem Verfahren" verstehe ich, im Gegensatz zu dem zeitlich nacheinander berichtenden „epischen", dasjenige Verfahren, das die Konflikte zeitlich nebeneinander, von den am Geschehen beteiligten Energien aus gesehen, aber ineinander und gegeneinander vor unseren Augen sich abspielen läßt. Beides, Komödientradition und dramatisches Verfahren, wird bei der Betrachtung nicht immer von einander geschieden werden, da es zu innig ineinander greift, um eine solche Scheidung methodisch möglich zu machen. Es ist auch nebensächlich, ob es gelingt, z. B. für einen durchaus dramatisch geführten Dialog eine Parallele oder gar ein Vorbild in der Komödienliteratur zu finden; es ist nicht die Aufgabe, Fielding Plagiarismus nachzuweisen oder Abhängigkeiten festzustellen. Es wird nur behauptet und soll bewiesen werden, daß in Fieldings Erzählweise, sowohl in der Charakterzeichnung wie in der Komposition, eine starke,. von der Komödie herkommende dramatische Komponente vorhanden ist. Wenn also im folgenden Parallelen aus Komödien oder Entwicklungslinien aus Komödienfiguren oder -Situationen angeführt werden, so soll damit nicht eine eindeutig bestimmte Abhängigkeitsbeziehung hergestellt, sondern ein allgemeines Verhältnis an Beispielen illustriert werden. Trotz dieser Vorbehalte läßt es sich nicht vermeiden, im einzelnen die Parallelen zu ziehen und an ihnen die Beziehungen zwischen dem Tom Jones und dem Drama, besonders der Komödie aufzuzeigen. Methodisch ergibt sich au6 dieser Problemstellung eine Schwierigkeit; denn die Untersuchung hat also zwei Ziele: in erster Linie ein allgemein-literaturwissenschaftliches: nämlich durch eine Analyse der Form einzudringen in die Schaffensweise des Dichters, und er6t in zweiter Linie, 123

eigentlich mehr, um die Ergebnisse der Hauptarbeit zu unterstreichen, zu belegen und aus dem Begrifflichen ins Anschaulich-Faßbare zu übertragen, ein literatur- und geistesgeschichtliches: nämlich „Beziehungen" und Verbindungen zur dramatischen Literatur, soweit sie auf unseren Autor wirken konnte, herzustellen. Dies zweite Ziel ist dem ersten durchaus untergeordnet; darum kommt es auch auf nur annähernde Vollständigkeit der „Beziehungen" durchaus nicht an. Analyse des Dichtwerkes (vgl. R. Petsch: Analyse des Dichtwerkes) bedeutet nicht „disjicere membra poetae", sondern bei aller angestrebten Rationalität des Analysierens immer das Ganze, Einmalige des Kunstwerkes im Auge zu haben, das schließlich doch nicht rational, sondern ästhetisch-einfühlend erfaßt werden muß. Unter diesem Vorbehalt kann daher gesagt werden, daß die Methode der Arbeit „analytisch" ist. Es wird besonders die Aufgabe des Schlußkapitels sein, die Analyse wieder in eine Ganzheitsbetrachtung münden zu lässciif die der dichterischen n Idee" Fieldings gerecht werden muß. Im ersten Teil soll nun die Charakterzeichnung betrachtet werden, ausgehend von den überlieferten Typen der Komödie, wobei besonders festgestellt werden soll, was Fielding aus den ihm überkommenen Typen gemacht hat. Der zweite Teil wird sich mit der Komposition im weitesten Sinne befassen, worunter hier die Anlage des Gesamtplanes, die Handlungsführung im Ganzen wie im Einzelnen, aber auch die einzelnen Züge der Technik und der Stilisierung zu verstehen sind. Ein Blick auf das Verhältnis dieser komödienhaften Strukturelemente des Romans zu den Formprinzipien und der Grundhaltung des ganzen Werkes soll den Abschluß bilden. CHARAKTERZEICHNUNG. Bei der Betrachtung der Charakterzeichnung im T. J. in ihrer Beziehung zur Komödie kommt es weniger auf die genaue Registrierung der Übereinstimmung in einzelnen Zügen an als auf die Zurückführung auf den literarischen Typus der Komödieniiguren. Der literarische Typus ist nach Dibelius 4 deshalb ein so wichtiger Faktor, weil er „ . . . mit einer gewissen Hartnäckigkeit wiederkehrt und weil ihm eine unbegrenzte Wandlungsfähigkeit eigen ist. E r ist eine feste Ideenassoziation, bestehend aus einer bestimmten Zahl von Einzelelementen ( . . . bestimmten Eigenschaften und Schicksalen, bestimmter Art der Handlungsführung, des Grundplanes . . .); und die Macht des Typus besteht nun darin, daß jedes Glied dieser Assoziationskette wieder lebendig werden kann, wenn nur ein einziges anderes Glied in der Erinnerung wachgerufen wird . . . Kein einziges Element der Ideenassoziation ist ganz unentbehrlich; jedes einzelne kann verändert oder durch ein anderes Element ersetzt werden. Auf diese Weise erhält der Typus seine Rolle in der Literaturgeschichte. Auch dem originellsten Geist drängt er sich auf." Diese Sätze, die bei 4

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Engl. Romankunst, Palaestra 92. 98. Berlin 1910. II. Bd., S. 373 f.

Dibelius vom Roman abgezogen sind, gelten mit der gleichen Berechtigung von der Komödie, ja der ganzen Literatur überhaupt. Angewendet auf unseren Roman bedeutet das, daß es möglich ist, die meisten Charaktere auf derartige Komödientypen zurückzuführen. Fieldings Meisterschaft erleidet durch diese Erkenntnis nicht die geringste Einbuße, denn seine Kunst liegt nur in dem, was er aus diesen Typen gemacht hat, wie er sie mit Leben erfüllt hat. Fielding war aufgewachsen im Lebenskreise des Theaters. Er kannte aus eigener Theaterdichterpraxis und aus seiner ausgedehnten Lektüre gute und schlechte Schauspiele in größter Zahl. So ist es kern Wunder, daß er — ob bewußt oder unbewußt, spielt keine Rolle — die typische Gesetzmäßigkeit der Charaktere der Komödie erkannt hat und diese Typen der Charakterzeichnung seiner Romane in den meisten Fällen zugrunde gelegt hat. Selbst bei den Figuren, die ganz offensichtlich mit anderen Einflüssen als denen der Komödie in Verbindung zu bringen sind (z. B. Don Quichote: siehe Dibelius a. a. O. Bd. I, S. 107 ff.) ist immer durch mindestens ein Assoziationsglied der Anschluß an diesen oder jenen Komödientyp hergestellt. Die Auswahl der Typen ist in erster Linie von einer bestimmten Absicht Fieldings geleitet, nämlich „komisch" zu wirken im Sinne der Definition, die er in der Vorrede zu seinem J. A. gibt. Er unterscheidet da das Komische vom Burlesken: „the latter is ever the exhibition of what is monstrous and unnatural, and . . . our delight . . . arises from the surprising absurdity, — in the former we should ever confine ourselves strictly to nature, from just imitation of which will flow all the pleasure. Life everywhere furnishes an accurate observer with the r i d i c u l o u s . " Dieses ist es, was er in seinen comic romances schildern will. Er fährt dann fort: „The only source of the true ridiculous . . . is a f f e c t a t i o n . . . Now affectation proceeds from one of these two causes, v a n i t y or h y p o c r i s y . " Diese beiden Eigenschaften lächerlich zu machen bzw. ihre Lächerlichkeit aufzuzeigen, ist also hiernach die Hauptabsicht Fieldings, woraus aber nicht geschlossen werden darf, wie es Bobertag (Zur Charakterisierung H. F.s, Engl. Stud. 1, 1877, S. 329) tut, daß Fielding moralische Absichten hatte. Es kommt Fielding, das zeigt jede Zeile seines T. J wie auch des J. A. deutlich, nur darauf an, den Leser durch das Komische, das Lächerliche zu unterhalten und zu erfreuen. Die Belehrung, von der er spricht, ist für ihn nur ein Nebenzweck. (Es scheint überhaupt, daß Fielding den didaktisch-moralischen Finger nur darum manchmal erhebt, damit man ihm von puritanischer Seite nicht gar zu sehr über die Immoralität seines im Ganzen doch recht fragwürdigen Helden, der zum Schluß — ganz im Sinne des Restaurationslustspiels — unverdient belohnt wird, herziehen sollte 5 . 6 Für diese Bemerkungen gelten in bezug auf die Charaktere des Heldenpaares Tom und Sophia gewisse Einschränkungen, auf die an den entsprechenden Stellen im Text eingegangen werden wird.

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Wenn man die Rolle, die die Hauptperson Tom im Roman spielt, auf einen Rollentypus der Komödie zurückführen will, 60 kann man nicht umhin, ihn zu jenen leichtsinnigen und liebenswürdigen jungen Liebhabern der Restaurationskomödie zu zählen, die es mit der Treue nicht allzu genau nehmen, im Ganzen aber doch ihr Mädchen mit einer gewissen treuherzigen Anhänglichkeit lieben (z. B. in Congreves „Love for Love"; von derselben Art sind auch die Valeres und Horaces Molieres, die Rakely, Lovewell, Wildair, Wilding usw. der Restaurationskomödie und in F.s eigenen Lustspielen). Diese Art Lustspielhelden pflegen allerhand mehr oder weniger fragwürdige Situationen und Abenteuer zu erleben, um nachher am Schluß durch ihre Frechheit oder durch irgendeinen glücklichen Zufall unter Beifall und Gelächter trotz aller Gegenintrigen und Hemmnisse ihre Angelica oder Cynthia heimzuführen. Fielding läßt nun seinen Tom — nach dem Grundsatze, daß der komische Roman eine erweiterte Komödie ist, deren Handlung „contains a much larger circle of accidents" 6 — eine besonders große Zahl bedenklicher Abenteuer bestehen, die das glückliche Ende und den Besitz der wirklich fleckenlosen Heldin Sophia doch etwas unverdient erscheinen lassen. Darum mußte Fielding seinem Helden Charaktereigenschaften geben, die über die der genannten Komödienhelden hinausgehen, ja, die in vieler Beziehung ihnen durchaus nicht mehr entsprechen, sondern im Gegenteil mit ihnen unvereinbar sind. So weichen auch Toms Charakterzüge im Guten wie im Schlechten stark von der Mittellinie des Typus ab. Einmal wird seine innerliche Unverdorbenheit und sein Edelmut 6tark betont und immer wieder im Gegensatz zu der heuchlerischen Schurkerei Blifils oder der beschränkten Niedrigkeit Partridges oder der perfiden Lüsternheit der Lady Bellaston herausgearbeitet. Durch Hypertrophierung solcher Eigenschaften pflegen sich die Helden der Restaurationskomödie im allgemeinen nicht auszuzeichnen, und Fielding macht in der Überschrift zu IV, 6 „An apology for the insensibility of Mr. Jones to all the charms of the lovcly Sophia; in which possibly we may . . . lower his character in the estimation of those men of wit and gallantry, who approve the heroes in most of our modern comedies." Der Grund dieser „insensibility" ist nämlich, daß er den Reizen der robusten Dirne Molly Seagrim zum Opfer gefallen ist und, da er sein Gefühl für sie für die wahre Liebe hält, sich ihr so sehr zur Treue verpflichtet fühlt, daß er gar nicht auf den Gedanken kommt, Sophia überhaupt schön zu finden. Dies sei nur ein Beispiel für viele, um zu zeigen, wie Fielding seinen Helden zu idealisieren sucht. Tom ist ein Idealist bei allen seinen fleischlichen Schwächen; diesen Charakterzug hat der Dichter ganz besonders herausgearbeitet. Das war aber auch nötig, denn auf der anderen Seite hat er mehr und schwerer wiegende Fehler und Schwächen als der Typ des Komödien8

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Vorwort zu Jos. Andrews. Vgl. Seite 7.

beiden. Nicht nur, daß alle guten Vorsätze immer n u r gehalten werden bis sich die Gelegenheit zu neuem Fall ergibt, er sinkt im Verlaufe seiner Abenteuer sogar so tief, daß er sich von Lady Bellaston aushalten läßt u n d sich von dem Schandgeld dieser „Dame" fein kleidet und in der Sänfte tragen läßt. Dieses Verhalten ist der dunkelste P u n k t im Charakter unseres Helden, und spätere Kritiker haben es Fielding schwer zum Vorwurf gemacht. (Thackeray: English Humourists of the 18th century. Centenary edition Lond. 1911, Bd. 11.) Fielding selbst ist nicht ganz wohl bei der Erwähnung dieser Sache: XIII, 8, sagt er entschuldigend: „Though there are gentlemen who very well reconcile it to their consciences to possess themselves of the whole fortune of a woman, (viz. by way of marriage) without making her any kind of return, yet to a mind, the proprietor of which doth not deserve to be hanged, nothing is . . . more irksome than to support love with gratitude only; especially where inclination pulls the heart a contrary way. Such was the unhappy case of Jones." Eine rechte Entschuldigung ist das nicht, aber gerade unter dem Gesichtspunkt der Einreihung Toms unter die komischen Figuren eines komischen Romans hat Tom keine solche Entschuldigung nötig. Diese Figur ist vom Dichter, der, wie wir noch sehen werden, eine große Vorliebe f ü r „oddities" hat, aus zwei völlig disparaten Typenelementen komponiert worden, nämlich dem Don-Quichote-haften Idealisten und dem Rake, wie Dibelius a. a. 0 . S. 98 ff. angenommen hat. Insoweit als es zu untersuchen gilt, wie die Gestalt des Tom in der Tradition des literarischen Typus der Komödie steht, könnte diesen Ausführungen kaum Wesentliches hinzugefügt werden. Wenn wir uns aber die Frage vorlegen: Was hat Fielding aus dem Typus gemacht?, so gilt es doch noch, einmal kurz einen Blick auf Fieldings Absicht mit diesem Charakter zu werfen. Wenn wir auch oben ausdrücklich eine moralische (besser moralisierende) Absicht im Sinne Richardsons und der Puritaner abgelehnt haben, so kann man natürlich nicht bestreiten, daß hier, wie bei jedem dichterischen Kunstwerk, sich die sittliche und allgemein philosophische „Idee" des Dichters ausdrückt. Und es ist n u r natürlich, wenn er das junge Heldenpaar zu Vertretern dieser Idee macht. Was ist es nun, was Fielding vorschwebt, als er diesen Roman schreibt, und besonders als er die Figur des Tom schafft? Seine sittliche Anschauung läßt sich so zusammenfassen, daß er Gegner jedes falschen Scheines im Charakter des Menschen ist, mag dieser nun ercheinen in der harmlosen Form der „affection" oder in der bösen der „hypocrisy". Jene macht er lächerlich — das ist die Aufgabe, die er sich in der Vorrede zu J. A. stellt —, diese haßt er (Beispiel: Bliiil, s. unten!). Gegenüber diesem Grundsatz seiner sittlichen Weltanschauung ist f ü r ihn „Tugend" im Sinne Richardsons von geringem Wert. Digeon (The Novels of Fielding, S. 88 f.) stellt ihn als Vertreter des Merry Old England dem muffigen Puri127

tanismus Richardsons gegenüber: „The sole punishment which the vice of incontinence brings, is an occasional visit to a doctor for the man, and for the woman a bastard. He constantly amuses himself with somewhat indecent scenes, which he takes as a joke . . . Robust and insolent health, the John Bullism of men who are not afraid of their three bottles . . . this was the Merry Old England of Fielding." Dem männlichen Geist Fieldings entspricht dieser „Rake" mehr als die blassen und z. T. doch gerade von F.s Kardinalstandpunkt aus durchaus nicht einwandfreien, aber von allen rührseligen Damen der Zeit schwärmerisch verehrten Grandisons und Pamelas. Fielding selbst zeigt sich uns im Leben wie in seinem Werk als ein impulsiver und restlos ehrlicher Charakter. Er hat großes Verständnis für „passions". Wer aus Leidenschaft irrt, ist ihm lieber als der leidenschaftslose, kalt berechnende, nach außen hin fromme Bösewicht. Fieldings Moralbegriff steht hier in einer anderen Tradition als der des Tugendpredigers Richardson. Sir Richard Steele, ein Gentleman wie Fielding selbst, sagt im Tatler, Nr. 27: „A Rake is a man always to be pitied, and, if he lives, one day is certainly reclaimed; for his faults proceed not from choice or inclination, but from strong passions 7 and appetites, which are in youth too violent for the curb of reason, good sense, good manners and good nature, all which he must have by nature and education, before he can be allowed to have been of this order . . . His desires run away with him through the strength and force of a lively imagination which hurries him on to unlawful pleasures, before reason has power to come to his rescue . . . of all characters, the Rake has the best quarter in the world; for when he is himself, and unruffled with intemperance, you see his natural faculties exert themselves and attract an eye of favour towards his infirmities." Dies liest sich wie ein Portrait Toms und wurde doch 1709, 30 Jahre vor Fieldings Roman geschrieben. Einen anderen Zug von Toms Bild finden wir im Tatler, Nr. 76 (Errors of Good-Nature): He (the man of good nature) is no man's enemy but his own . . .", einen Satz, den Fielding wörtlich auf Tom anwendet. Es ist also ein anderes sittliches Ideal, das sich hier herausschält aus der Verderbtheit der höfischen Kreise der Restaurationszeit wie aus der unwahrhaftigen „sham"-Tugend der puritanischen City-people, ein viel männlicheres als dieses und ein naiveres, menschlicheres als jenes. Dieses Ideal der Natürlichkeit — Digeon spricht einmal davon, daß Fielding in 7 Vgl. hierzu T. J . VII, 1: „The passions, like the managers of a playhouse, often force men upon parts without consulting their judgment, and sometimes without any regard to their talents. Thus the man, as well as the player, may condemn what he himself acts; nay, it is common to see vice sit as awkwardly on some men as the character of Jago would on the honest face of Mr. William Mills." — Ausführlich verbreitet sich F. über die „passions" auch in „Amelia" III, 4 . . . usw.

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gewisser Weise Rousseau vorausnehme — gibt dem Heldenpaar im T. J. die seelische Form, wie es schon in Joseph, Fanny und Parson Adams geschehen war und in gewisser Weise auch in Amelia noch geschehen sollte. Wir sehen also, wie Fielding dieser seiner Hauptfigur deutlich über den nur komisch-unterhaltenden Zweck hinaus ein persönliches Leben einhaucht, das für 6eine, des Dichters eigene sittliche Idee zeugen und werben soll. Bezüglich der Heldin, Sophia, können wir uns kürzer fassen. Sie ist natürlich die zärtliche, kluge, entschlossene Heldin der zeitlosen heiteren Komödie, die sich nicht scheut, ihrem tyrannischen Vater davonzulaufen, die diesen tyrannischen Vater aber kindlich-zärtlich liebt und schließlich, nicht zum wenigsten infolge ihres überlegten und weiblich-klugen Verhaltens den Mann bekommt, den sie trotz aller seiner Schwächen haben will. Sie vereinigt alle schönen Eigenschaften einer Viola, Julia, Porzia, und ragt weit über die Mariannen und Angéliques Molières und gar über die Heldinnen der Restaurationskoinödie und ihrer Nachfahren hinaus. Fielding hat in ihr sein weibliches Ideal verkörpert im Gegensatz zu den affektierten Tugendpuppen Richardsons. Er bekennt selbst, daß 6eine geliebte erste Frau Modell zu diesem Bilde gestanden habe. Sophia ist die einzige Figur, die Fielding ganz ohne sein ironisches Lächeln geschildert hat, das man sonst bei jeder einzelnen Figur im Hintergrunde zu sehen meint; höchstens bei der Erwähnung kleiner weiblicher Schwächen, z. B. der allzu großen Bereitschaft, Tom zu verzeihen, glaubt man dies mehr humorvolle als ironische Lächeln zu bemerken. Eine der Figuren, die dem theaterhaften Typus am nächsten stehen, ist der Hauptgegenspieler, der intrigante Bösewicht Blifil 8 . Wenn eben festgestellt wurde, daß Sophia die einzige Figur ist, die ohne ironisches Lächeln gezeichnet ist, so kann man sagen, daß Blifil die einzige ist, die ohne verzeihendes Lächeln geschildert ist. Er ist nur „villain", allerdings wird seine Entwicklung zum „villain" äußerst geschickt und überlegt vorgeführt. Zuerst erscheint er nur als Kontrastfigur zu dem wilden, unartigen, aber edelmütigen Tom, der „nobody's enemy, but his own" ist, als „a lad of a remarkable disposition: sober, discreet und pious, beyond his age" (III, 2), aber dabei immer bestrebt, sich selbst bei Onkel und Lehrern ins beste Licht zu setzen. Mit kleinen Knabenbosheiten fängt seine Entwicklung zum Schurken an: er läßt Sophias Vogel, ein Geschenk Toms, fliegen, mit der Begründung, daß es unrecht sei, dem Tiere seine Freiheit vorzuenthalten, was ihm das hohe Lob seiner verdrehten Pädagogen Thwackum und Square einträgt. Stets redet er seinen Lehrern nach dem Munde, besonders trägt er ein sehr frommes Wesen zur Schau. Die erste große Gemeinheit begeht er, als er das Geheimnis der Geburt Toms, das ihm durch den Rechtsanwalt Dowling mitgeteilt wird, für sich behält, damit er das Erbe Allworthys nicht mit Tom teilen muß. 8

Vgl. W. Cross: The History of Henry Fielding. New Haven 1918. vol. II. p. 206. 129

Dann folgt eine hinterlistige Handlung gegen Tom auf die andere, bis zur Bestechung der Zeugen der Rauferei Toms mit Fitzpatrick. Es gelingt ihm durch seine Heuchelei, auf Allworthy, der jedem Menschen gegenüber gutgläubig ist und nur dann straft, wenn er sich von der Schuld des Übeltäters überzeugt zu haben glaubt, großen Eindruck zu machen, Einfluß auszuüben und seine Rolle geschickt und rücksichtslos bis zur allerletzten Entlarvung durchzuführen. Noch kurz vor dem Schluß zieht er durch sein dreistes Verdrehen der Tatsachen den Kopf aus der schon zugezogenen Schlinge (XVIH, 5). Der Dichter hat ihn so schwarz und widerlich gezeichnet, daß er fast aufhört, eine komische Figur zu sein, und daß wir erst ganz am Schluß über ihn lachen können, wenn wir hören, er sei Methodist geworden, um eine reiche Witwe dieser Sekte freien zu können 9 . Wenn wir die Beziehung dieser Figur zur Komödie suchen, so brauchen wir nicht weit zu gehen. Molieres Tartuffe, der Prototyp und das unerreichte Vorbild der Bösewichte der Restaurationskomödie (Maskwell in Congreves „Double Dealer", Vizard in Farquhars „Constant Couple") drängt sich sofort auf. Die Erbschleicherei, die zur Schau getragene Frömmigkeit, das scheinheilige Reden über Personen, denen er schaden will (vgl. VI, 10: „How, did he [Tom] dare to strike you?" „I am sure 1 have forgiven him that long ago . . . I wish I could so easily forget his ingratitude to the best of benefactors . . mit Tartuffe, IV, 1, im Gespräch mit Cleanthe über den jungen Damis), und vor allem die Art, wie er sich XVHI, 5, noch einmal aus der Affäre zieht, erinnern lebhaft an den Tartuffe. Genau wie im Tartuffe mißlingt auch hier der erste Versuch, den Sünder zur Strecke zu bringen. Allerdings hat sich Fielding den komischen Zug Molieres entgehen lassen, daß sich der Bösewicht in seiner eigenen Schlinge fängt. Fielding überträgt seinen Haß gegen das Laster der Heuchelei auf diese Figur; in diesem Haß macht er den Fehler, diese bühnenmäßigste und dem wirklichen Leben fernste seiner Gestalten ernst zu nehmen, nicht komisch, wie es Moliere mit seinem Tartuffe getan 10 . Fielding verpaßt dadurch nicht nur eine unvergleichliche komische Gelegenheit, er widerspricht dadurch auch seiner im Vorwort zu J. A. ausgesprochenen Theorie des Lächerlichen. Hier haben wir Heuchelei im reinsten Zustand, und doch wirkt sie nicht lächerlich. Der Leser fühlt nur etwas von dem Haß mit, den Fielding gegen dies übelste aller Laster in sich hat. Und wenn wir zum Schluß von Blifils methodistischer Bekehrung hören, so ist das Lachen, das den Leser ankommt, ein bitteres Lachen, gemischt aus Verachtung und Hohn, aber nicht das befreiende Lachen, das nur echte Komik erzeugt. Als eine der besten Leistungen in der Charakterzeichnung wird mit Recht die Gestalt des Squire Western gelobt 11 . Auch er hat seine Vor9 10 u

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Cross a. a. O. vol. II. p. 206. Vgl. W. Küchler: Moliere. Leipzig 1929. S. 68—95. Vgl. Dibelius a. a. O. Bd. I, S. 107 f., Cross a. a. O. Bd. II, S. 209 f.

läufer in der Komödie. Er ist der alte Typus des genarrten Frauenwächters (Sganarelle in der Ecole des Maris etc.). Ihm läuft die Tochter davon und gewinnt ihren Geliebten, was dadurch, daß er zum Schluß Toms Partei gegen die Tochter nimmt und sie zu der Heirat zwingen will, die er eben noch mit allen Mitteln zu verhindern trachtete, nur noch komödienhafter wird. Diese Rolle des polternden tyrannischen Komödienvaters ist, wie in vielen Lustspielen der Zeit 12 , dem Typus des unwissenden, brutalen, nur für Pferde und Hunde interessierten country squire gegeben worden, ferner vereinigt Western in sich die Komödientradition des ungerechten und unwissenden Friedensrichters und die des politischen Narren, wenigstens im Streit mit seiner Schwester. Hier spielt noch politische Zeitsatire mit, Western ist Jacobit und schimpft auf die „Hanoverian Rats", die Hofpartei, die Old Englands Reichtum ins Ausland verschachern will. Doch damit nicht genug: Western ist nicht allein lächerliche Figur, man spürt beim Lesen, wie Fielding bei der Herausarbeitung dieses Charakters langsam warm wurde, und schließlich selbst eine herzliche Liebe zu diesem brutalen, cholerischen, aber ehrlichen und innerlich echten Manne hat. So stattet er ihn mit zärtlicher, tolpatschiger Liebe zu seiner Tochter Sophia aus. Wenn er sie eben noch eingesperrt, ja mißhandelt hat — ohne Absicht und nur in der Raschheit seiner Bewegung stößt er sie einmal von sich, so daß sie sich die Lippe blutig schlägt —, überschüttet er sie gleich darauf mit Liebe und Geschenken, wenn sie scheinbar auf seine Forderungen eingeht, um ihn hintanzuhalten. Auch dies Verhalten hat seine Parallelen im Lustspiel; ich erinnere nur an den „Malade Imaginaire", wo Argan ähnlich untröstlich ist, als seine kleine Tochter eine Ohnmacht markiert, nachdem er sie eben noch auf das brutalste bedrängt hat. Ebenso berührt sein gesunder Menschenverstand, der sich in seiner Sympathie für den ehrlichen Draufgänger und in seiner Antipathie gegen den heuchlerischen Blifil äußert, durchaus angenehm, und das Schlußbild, das Western als Großvater darstellt, dem „the tattling of his little grand-daughter" schönere Musik ist „than the finest cry of dogs in England", läßt uns einigermaßen versöhnt von ihm scheiden. Diese Tatsache, daß der Leser am Schluß nicht nur mit diesem polternden, rauhbeinigen Alten versöhnt ist, sondern daß in ihm geradezu eine Sympathie erwachen muß, erklärt sich durch die wahrhaft humoristische Art der Schilderung dieses Charakters in unserem Roman. Die persönliche Einstellung des Autors zu seinem Geschöpf macht ja erst den wahren Humor aus. Fielding liebt an Western trotz aller bösen, ja hassenswerten Eigenschaften, gegen die er auch mit schonungsloser Ironie und Satire zu Felde zieht, den männlichen, urgesunden „John-Bullism", den wir oben (S. 128) schon bei Tom feststellten. 12

Aufzählung solcher Beziehungen b. Dibelius a . a . O . S. 108.

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Weit weniger lebendig ist die Gestalt Allworthys. Fielding zeichnet hier mit Liebe und Ehrfurcht das Musterbeispiel eines in jeder Beziehung vornehmen, klugen, anständigen und gerechten, vor allem aber unendlich hilfsbereiten Ehrenmannes, und zwar eingestandenermaßen13 nach dem Vorbilde seines Gönners Lord Lyttleton und eines anderen Freundes, den er nicht nennt, der aber nach Gross u. a. 'zweifellos F.s Gönner und Freund Ralph Allen ist. Trotzdem kommt dieser untadelhafte Mann über eine gewisse Steifheit und Leblosigkeit nicht hinaus. Wenn er spricht, 60 hält er wohldisponierte Predigten (die Rede über weibliche Tugend an Jenny Jones [I., 7] und die über den Tod, als er auf dem vermeintlichen Sterbebette liegt usw.). Er ist mild gegen reuige, streng gegen verstockte Sünder, freigiebig, doch er hält seine Freigiebigkeit geheim oder läßt sie nicht fühlen, er ist fromm, ohne bigott zu sein, denkt von jedem Menschen das Beste, bis ihm der Augenschein das Gegenteil beweist. In seiner Güte und Gutgläubigkeit liegt aber auch seine Schwäche; so wird er ausgenutzt von seinen Parasiten, so fällt er Blifils Intrigen zum Opfer und wird gegen Tom ungerecht, als der Augenschein gegen ihn ist. Ja, er ist geradezu so in dem optimistischen Wahn befangen, daß alle Menschen so gut seien wie er selbst, daß Gustav Becker 14 ihn auf Don Quichote zurückführt. Fielding gibt ihm einen deutlichen Farbton von Ironie bei, z. B. sagt er in der Überschrift zu dem Kapitel, in dem Allworthy die erwähnte Tugendpredigt an Jenny hält (I. 7): „Containing such grave matters, that the reader cannot laugh once, unless peradventure he should laugh at the author." Obgleich Fielding einzelne Lebenszüge den äußeren Umständen Ralph Allens entnommen haben mag (vgl. Cross a. a. 0 . vol. II, p. 162 ff.), besteht kein Zweifel darüber, daß Allworthy als „der edle Mann" ein literarischer Typus ist. Dibelius (a. a. O. S. 104) bringt ihn in Verbindung mit den Typen des „romance of roguery", mit Defoe'schen Gestalten und dem Mr. Heartfree aus F.s eigener Geschichte des Jonathan Wild, und gibt einen Hinweis auf das Bild des edlen Kaufmanns, das in Lillos „London Merchant" zu sehen war. Die Ähnlichkeit zwischen Mr. Allworthy und Mr. Thorowgood (man beachte die Namen!) ist in der Tat auffällig. Wie Allworthy ist Thorowgood von größter Rechtlichkeit (Ermahnungen an seinen clerk Trueman, I, 2, u. öfter), er ist gastlich (I, 2: „Let there be plenty and of the best"), er will seine Tochter nicht zur Ehe mit einem ungeliebten Mann zwingen (II, 1: „I had rather my approbation should confirm your choice than direct it", vgl. dazu Allw.s Stellung zu Sophia), er ist immer geneigt, das Beste zu glauben (II, 4), wie Allworthy macht er seinem Schützling im Gefängnis einen Besuch (V, 1), er hält dieselben langen Tugendpredigten (II, 4). Das Eigene an Allworthy ist der Blick durch die Brille einer leichten liebenswürdigen 13 14

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Vgl. Dedikation des Tom Jone» an Lord Lyttleton. Die Aufnahme d. Don Quichote i. d. engl. Lit. Palaestra XIII. Berlin 1906. S. 145.

Ironie, mit dem der Autor den Leser ihn ansehen läßt. Er vermeidet damit die peinliche Tugendatmosphäre Lillos, die ihm auch bei Richardson so unsympathisch war und macht dadurch die Gestalt Allworthys wieder etwas lebensnäher 15 . Unter den Nebenfiguren des Romans nehmen die beiden Dienstbotentypen Mrs. Honour und Mr. Partridge durch die kunst- und liebevolle Charakterzeichnung, die ihnen Fielding gegeben hat, eine Sonderstellung ein. Mrs. Honour spielt die Rolle der Dienerin und der confidante des französischen und englischen Lustspiels. Sie spielt die Liebesbotin zwischen Sophia und Tom, sie begleitet Sophia auf ihrer Flucht, sie ist schwatzhaft, frech, bestechlich, hängt aber doch treu an ihrer Herrin — bis sie, von Mr. Western auf die Straße gesetzt, in Lady Bellaston eine neue Herrin findet, die zu ihrem Charakter besser paßt und in deren Diensten sie dann die frühere Herrin verrät. Sie ist ungebildet, spricht falsch und schreibt noch falscher, dabei ist sie aber von sich sehr eingenommen und sieht stolz auf gesellschaftlich unter ihr Stehende herab. Sie kuppelt gerne und scheut sich nicht, ihrer Herrin den jungen Tom wegen seiner körperlichen Kraft zu preisen. Sie ist durchaus niedriger Gesinnung und in bewußtem Gegensatz zu ihrer Herrin gezeichnet, wenn sie z. B. nicht einsehen kann, warum Sophia den Squire Blifil nicht nehmen will, nachdem ihr Vater nun einmal ihn und nicht Tom als Schwiegersohn haben will. Die Komik dieser Gestalt äußert sich besonders in den Situationen und im Dialog, und wird im II. Teil bei dieser Gelegenheit noch besonders zu behandeln sein. Es ist verschiedentlich beobachtet worden, daß Mrs. Honour zum Typus der Amme aus „Romeo und Julia" gehört (Dibelius a. a. O. S. 105). Cross will das dadurch erklären, daß beide, die Amme wie Honour, nach dem Leben gezeichnet sind (a. a. O. S. 207). Die6 ist aber zweifellos eine unzureichende Erklärung, denn gerade die Übereinstimmungen der beiden Figuren sind es, die den Typus ausmachen, den Typus der kupplerischen, niedrig gesinnten, aber doch ihrer Herrschaft mit einer gewissen Liebe anhängenden Dienerin, die zum eisernen Bestand der antiken wie der Renaissancekomödie und der Farce gehört. Diese Übereinstimmung geht sehr weit, bis in die Sprech- und Erzählweise (vgl. die peinigenden Abschweifungen bei Überbringung wichtiger Nachrichten; Romeo und Julia, II. 5, III. 2 und Tom Jones, XV. 7). Es ist doch wohl ausgeschlossen, 1 6 Die Ironie, die Fielding bei der Charakterzeichnung des Mr. Allworthy anwendet, ist so deutlich, daß Digeon nicht mit Unrecht die Parallele Blifil—Tartuffe, Allworthy— Orgon zu ziehen versucht: . . . „there is a touch of the foolish Orgon about Allworthy. Of course, Fielding, if only out of gratitude (Allworthy = Ralph Allen bzw. Lord LyUelton) could never have made him as stupid and as easily taken in as Orgon. He makes him a sensible and reasoning man . . . yet he allows himself to be deceived by the hypocrite Blifil, drives Jones from his presence . . . without even giving him a hearing. This is a curious symptom . . . Fielding is ever ready to make his good men play the dupe" (Adams, Heartfree).

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daß Shakespeare und Fielding beide diese übereinstimmenden Züge unabhängig voneinander am lebenden Modell studiert haben. Beiden kam es nur auf Wirkung dieser Figur an, und zwar auf komische Wirkung, beide waren große Theaterpraktiker und in beiden lebte die Tradition dieser komischen Typen. Fielding hat in Honour durchaus nicht etwa eine Kopie der Amme hingestellt, er hat in ihr diesen, menschlich in ihrer Beschränktheit doch sympathischen Typus mit anderen Komödienzügen gemischt, die aus ganz anderen Gebieten der Komödie, nämlich der französischen Tradition, kommen. Die medisante Dienerin, die so viel Geheimnisse von ihrer Herrschaft weiß, daß diese sich die gröbsten Unarten gefallen lassen muß (IV, 14), die aus einem Geheimnis Geld zu machen versteht, indem sie sich gleichzeitig von einer Person für das Verschweigen, und von einer anderen für das Verraten des Geheimnisses bezahlen läßt (Schluß von XV, 7), setzt die Linie, die von den gerissenen Moliere'schen Domestiken über die Diener der Restaurationskomödie geht, fort. Sehr stark kann übrigens Fielding an ihr seine Anschauung über das Lächerliche, das aus „affectation", und zwar aus Eitelkeit oder Heuchelei entsteht, illustrieren. Das männliche Gegenstück zu Honour, sowohl im Charakter, wie in der Rollenverteilung ist Partridge. Wie Honour, ist er schwatzhaft bis zur übelsten Klatscherei, eitel, zweideutig-zotig, kupplerisch, dabei aber voll Anhänglichkeit an Tom. Mit diesem Typ verbindet er aber noch andere, so besonders den des Pedanten: sein immer falsch angewendetes Latein ist eine besondere Quelle der Komik bei ihm. Damit nicht genug, zeigt er sich im Anfang der Geschichte als der typische Pantoffelheld der Farce, der in einer komischen Eheschlacht bös zugerichtet wird. Wesentliche Eigenschaften stammen aber aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus dem Don Quichote (vgl. Becker, a. a. 0. S. 153, Dibelius, a. a. O. S. 107). Er ist ein neuer Sancho in seiner verständnislosen Treue zu seinem Herrn, von dem er die fixe Idee hat, er sei Allworthys Sohn und diesem nur davongelaufen, und Allworthy würde ihn belohnen und wieder in Gnaden aufnehmen, wenn er ihm den verlorenen Sohn zurückbringe. P. lebt überhaupt immer in Hirngespinsten, aus denen heraus er immer wieder den tollsten Unfug treibt. Wie Sancho in Sprichwörtern, redet Partridge in lateinischen Sentenzen, wie Sancho ist er feige, abergläubisch und materialistisch im Gegensatz zu dem Idealisten Tom. Doch diese Linie im einzelnen zu verfolgen, ist nicht unsere Aufgabe. — Das Problem des neuen Stils der Schauspielkunst wird berührt in der Schilderung seines ungebildeten Banausentums im Theater, wo er Garrick als Hamlet sehr abfällig kritisiert, weil er sich dem Geist und der Mutter gegenüber so verhalten hätte, wie er, Partridge, es selbst gemacht haben würde. Ein Schauspieler mußte sich nach dem Geschmack des Publikums eben „theatralisch", d. h. unnatürlich benehmen. Der Umstand, daß P. heimlicher Jacobit ist, ist unter dem Gesichtspunkt der Zeitsatire zu verstehen. 134

Zwei Abwandlungen des Typus der „Dame von Welt" sind Tante Western und Lady Bellaston. Die erste ist die harmlosere und menschlich angenehmere. Allerdings gehört auch sie zum Typus der amourösen älteren Dame: die Situation des Mr. Fitzpatrick zwischen ihr und ihrer Nichte Harriet ist typisch für die Restaurationskomödie, wo der „Beau" der Gardedame den Hof machen muß, um die junge Schönheit davonzutragen. (Vgl. Mr. Tattie zwischen Miss Prue und Mrs. Frail in Congreves „Love for Love" oder young Wilding zwischen Lady Lucy und Bellaria in F.s „Temple Beau"). Aber das lag vor der eigentlichen Handlung des Romans. Im Roman selbst tritt sie auf als komische Erzieherin ihrer Nichte Sophia und verkörpert in sich verschiedene Spleens. Sie hat die Bildungseitelkeit der Femmes savantes und der Précieuses ridicules. Besonders komisch ist dabei, daß ihre Bildung gar nicht so großartig ist, wie sie dem ganz unwissenden Bruder gegenüber tut. So macht sie (VII, 3) die „Philosophie des Sokrates und Alcibiades" zur Richtschnur ihres Verhaltens, was Fielding zu der bissigen Bemerkung veranlaßt, daß sie die Werke des Alcibiades wohl genau so wenig gelesen habe wie die des Sokrates. Auch die Linie der literarischen- und Bildungsprätension ist von Molière über Lady Froth (Congreves „Double Dealer") und andere Figuren der Restaurationskomödie zu verfolgen. Zur Emanzipation der Frauen hat sie ähnliche Ansichten wie 6Ìe bei Molière ausgesprochen werden: VI. 14. sagt sie zu Western: „English women, I thank heaven, are not slaves, we are not to be locked up like the Spanish and Italian wives", fast dieselben Worte gebraucht Lisette in der Ecole des Maris I. 2. — Am stärksten ausgebildet ist ihr politischer Spleen, der zu Anfang des 18. Jahrhunderts in England in vielen Komödien und Wochenschriften abgewandelt wurde. Sie hat in ihrer Jugend „about the court" gelebt und ist treu hannoverisch gesinnt, was immer wieder Anlaß zu Szenen mit ihrem jacobitischen Bruder gibt. Nicht genug damit, daß sie dauernd von ihren Zeitungen und ihrer Politik erfüllt ist, spricht sie einen überaus komischen politischen Jargon; z. B. findet sie den Gedanken, daß Sophia Tom heiraten könnte, „an alliance as unnatural and contrary to your interest as a separate league with the French would to be the interest of the Dutch". (VII. 3.) Der Typus des politischen Narren findet sich u. a.: in Fieldings eigener Komödie „The Coffee House Politician", wo allerdings die Komik mehr darin liegt, daß Mr. Politic infolge seiner politischen Projektemacherei seine wichtigsten Hausangelegenheiten vernachlässigt. Nur einmal spricht er im Jargon Mrs. Westerns: V. 8. „Yes, that's as possible as that the Turks may come into our part of Europe". Eine ähnliche Rolle spielt Mr. Clincher in Farquhars „Sir Harry Wildair". Diese beiden Figuren sind allerdings rein auf die politische Narrheit eingestellt, während sie bei Mrs. Western nur ein Zug neben anderen ist. — Das Komischste an dieser Figur ist, daß alle ihre Erziehungskunst, auf die sie sich so viel einbildet, ihr durchaus nichts nützt, in dieser Beziehung gehört sie zum lächerlichen Typus der Pedanten. 135

Während sich Tante Western nur als Dame von Welt a u f s p i e l t , ist Lady Bellaston eine solche, in des Wortes übelster Bedeutung. Sie ist der Typ der intriganten, lüsternen alten Kokette, nur auf ihren Genuß bedacht und bereit, ihr Opfer rücksichtslos fallen zu lassen, wenn sie seiner überdrüssig geworden ist. Sie ist als Typus leicht zu übersehen: sie ist die große Dame der Komödie der Zeit; sie ist als Lady Touchwood (in Congreves „Double Dealer") als Lady Lucy im „Temple Beau" und in vielen anderen Komödien zu finden. Besonders auffällig ist ihre Übereinstimmung mit Mrs. Millwood im „London Merchant". Wie Lady B. es mit Tom tut, lockt Millwood Barnwell unter dem Vorwand, eine wichtige Nachricht für ihn zu haben, zu sich (II. 3), sie spekuliert auf seine Ritterlichkeit Damen gegenüber und hält ihn dadurch fest, sie läßt ihn kaltlächelnd fallen, als er nach seinem Unterschleif bei ihr Zuflucht sucht und stellt ihn vor Thorowgood als Schurken hin (IV. 16) wie Lady B. es mit Tom Lord Fellamar gegenüber tut. Zwei nur gegeneinander kontrastierte, aber in sich wenig vom Typus differenzierte Figuren sind die beiden närrischen Pädagogen Thwackum und Square. Sie tragen durch ihre stereotypen Reden, der eine über die Religion, der andere über die „eternal fitness of things" zur Erheiterung bei und spielen eine Rolle, die aus Zügen des „raisonneur" und des „clown" zusammengesetzt sind. Thwackum, der Frömmler, hat eine lange Ahnenreihe von Shakespeares Malvolio her, nur daß dessen Arnorosität auf den Moralphilosophen Square übergegangen ist, der uns in seinen Abenteuern in Molly's Dachkammer einen erschütternd komischen Beweis von der „eternal fitness of things" erbringt. Während Thwackum in seiner Mischung von Frömmigkeit und Intrigantentum etwas von Tartuffe hat, ist Square deutlich dem Bilde des Freidenkers nachgezeichnet, das Steele im Tatler vom 24. XII. 1709 zeichnete: „In distresses, he must be of all creatures the most helpless and forlorn . . . If you would behold one of those gloomy miscreants in his poorest figure, you must consider him under the terrors or at the approach of death . . . " Dazu wird die Geschichte eines solchen Atheisten erzählt, der in Seenot dem Kaplan jammernd bekennt, daß er Gott geleugnet habe 16 . Ebenso macht es Square, der auf dem Totenbett seine Sünden bereut. Neben dem Typus des Pedanten verkörpern beide auch den des Parasiten; sie nutzen Allworthys Güte reichlich aus und spekulieren auf eine Pfründe, eine Erbschaft, ja auf die Hand der Witwe Blifil. Es ist bei dieser Betrachtung der Personen des Romans der Versuch gemacht worden, sie auf die Typen der Komödie zurückzuführen, so weit das angängig ist. Wie weit diese Figuren von anderen Typen aus der Romantradition oder aus der Schilderung von Charakteren, wie sie seit Beginn des Jahrhunderts in den Wochenschriften üblich wurden, wie weit sie von ganz konkreten Fällen des praktischen Lebens beeinflußt sind, konnte natürlich nur ganz oberflächlich gestreift werden. 18

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Vgl. Hettner, Englische Literaturgeschichte von 1660—1770, 4. Aufl., S. 185.

Die Untersuchung ergibt nicht nur die Möglichkeit, die Personen des Romans auf literarische, insbesondere komödienhafte Typen im Sinne der Definition am Anfang dieses Abschnitts zurückzuführen, sondern es ergibt sich ferner, daß fast keiner der sogenannten „Charaktere" im modernen Sinne ein Charakter ist, (vielleicht mit einziger Ausnahme Toms und Sophias 1 7 ). Die Gestalten im T. J. sind aber alle mehr oder weniger rationalistische Typen. Die rationalistische Typenhaftigkeit der Fieldingschen Figuren läßt sich ohne weiteres aus der Einstellung des Dichters zu seinem Werk begreifen. Wenn er in der Vorrede zu J. A. sagt, er wolle sich „confine strictly to nature, from just imitation of which will flow all the pleasure", wenn er ferner sagt, das Leben liefere dem Beobachter das Lächerliche, das er schildern wolle, so ist damit schon darauf hingewiesen, daß er seine Charaktere als Träger des Lächerlichen und nicht als von irrationalen Kräften getriebene Individualitäten schildern will. Ebenso rationalistisch ist sein Begriff vom Genie eines Romanschriftstellers „By genius I would understand those powers of the mind which are capable of penetrating into all things . . . and of distinguishing their essential differences. They are no other than invention and judgment . . . By invention is . . . meant . . . discovery or finding out, or . . . a quick and sagacious penetration i n t o t h e t r u e e s s e n c e o f a l l o b j e c t s o f o u r contemplation." Dazu brauche man „judgment", denn „how can we be said to have discovered the true essence of two things without discerning their difference 18 ." Alle diese Äußerungen sind also auf die Beobachtung und Wiedergabe von Eigenschaften der Menschen und Dinge zugeschnitten, alle Handlungen werden sich also als notwendige Folgen der Eigenschaften bzw. der Verhältnisse, die selbst wieder nur durch die Struktur der Eigenschaften von Menschen und Dingen gegeben sind, herausstellen, nicht aber als Wirkungen unkontrollierbarer dämonischer Kräfte. Das i6t der innere Grund der Entferntheit der Fieldingschen Gestalten vom wirklichen Leben und ihrer verhältnismäßigen Nähe zu den überlieferten Typen. Dem kann man entgegenhalten, daß sich die Figuren F.s durch eine besondere Lebendigkeit auszeichnen, in der gerade ihr Reiz liegt. Das soll nicht geleugnet werden. Aber diese Lebendigkeit besteht doch eben darin, daß die Handlungen der Personen an ihren Eigenschaften mit so geschickter Begründung abgeleitet sind, daß man an Wirklichkeitsbeobachtung oder Psychologie denken könnte, während es sich doch vielmehr um konstruktive und rationalistisch berechnende Logik handelt 19 , die der Autor in der Komödie Molieres — seines und der übrigen Zeitgenossen Vorbildes — beobachten konnte. Diese konstruktiv*logische dramatische Lebendigkeit darf nicht mit Lebensnähe verwechselt werden, es ist irrig, 17 18 19

Vgl. Küchler a. a. O. S. 206 ff. IX. 1. Siehe Küchler a. a. O. S. 223. 137

an die Figuren des Romans mit dem Maßstabe moderner psychologischästhetischer Charakterbeurteilung heranzugehen. Die Lebensnähe des T. J. liegt auf einem ganz anderen Felde, nämlich dem der Schilderung der zeitgenössischen sozialen Zustände und Sitten, in die Fielding seine ganze Beobachtungsgabe hineinlegen konnte. Auch in der Methode der Charakterisierung lassen sich Beziehungen zum Lustspiel herstellen. Dibelius behandelt (a. a. 0 . S. 113/114) die Methode Fieldings und unterscheidet vorbereitende direkte Charakterisierung zu Anfang des Auftretens der Person und ausfüllende Einzelcharakterisierung im weiteren Verlauf. Von beiden Methoden macht Fielding reichlich Gebrauch, jedoch herrscht die zweite Art vor. Die erste Art der „direkten" Charakterisierung stammt natürlich aus dem Roman und ist dort meist recht einfach und kunstlos. Fiel ding benutzt sie im allgemeinen nur zu einer mehr vagen Beschreibung des Äußeren seiner Figuren, z. B. bei Sophia IV. 2, deren geistige Vorzüge sich dem Leser erst während des Verlaufs der Geschichte zeigen sollen. Diese „direkte" Technik der Charakterisierung i6t der Malerei verwandt, ist eine Konturenskizze, und zuweilen weist in richtiger Erkenntnis dieser Tatsache F. auch bei der beschreibenden Charakterisierung auf Blätter seines persönlichen Freundes Hogarth hin, so bei der Einführung des Capt. Blifil und der näheren Beschreibung der Miss Bridget (I. 11). Wenn geistige oder seelische Eigenschaften geschildert werden, so geschieht das oft, indem nur der erste, falsche Eindruck des äußerlichen Scheins gegeben wird. So wird der Leser erst einmal auf eine falsche Spur geführt, z. B. die Bemerkungen über Blifil (III. 2): „a youth so different from little Jones that . . . all the neighbourhood resounded his praises. He was indeed a lad of remarkable disposition: sober, discreet, pious, beyond his age." Der eigentliche Charakter entwickelt sich in allen Fällen, wo es sich um wichtige Figuren handelt, durch das Verhalten der Personen selbst. Die direkte Charakterisierung bedeutet also im Tom Jones, so sehr sie äußerlich im Stil auch hervortreten mag, kaum mehr als die ausführlichen Personenverzeichnisse, die im Restaurationsdrama üblich waren 20 . Fielding hat diese Bezeichnungen, die oft sehr lang und ungeschickt waren, selbst parodiert, wenn er in der Welsh Opera den Sir Owen Apshinken einführt als „a gentleman of Wales, in love with tobacco" und seinen Kaplan, Mr. Puzzletext, „in love with women, tobacco and backgammon" usw. — Eine weitere Art der direkten Charakterisierung hat er mit der Komödie, aber auch der Roman- und Traktatliteratur gemeinsam, das sind die „redenden Namen", die schon den Charakter des Trägers ausdrücken. Es seien nur einige genannt: Allworthy, der wie Justice Worthy, Thorowgood u. a. in die Reihe der Namen aus der morali2 0 Ein Beispiel für viele: Congreves „Double Dealer": Maskwell, a villain, pretended friend to Mellefout etc. oder: Lord Froth, a solemn Coxcomb — Lady Froth, a great coquette pretender to poetry, wit, and learning — Lady Plyant, insolent to her husband and easy to any pretender.

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sehen Literatur gehört, Thwackum (to thwack = prügeln) aus dem Gebiete der Farce, vgl. Justice Squeezum im „Coffee House Politician" und Justice Thrasher in „Amelia". Solche Namen können auch ironischen Klang haben, indem sie dem wirklichen Charakter widersprechen, z. B. Mrs. Honour. Beispiele für all diese Arten von redenden Namen sind in allen Komödien der Zeit in Mengen zu finden. Die „indirekte" Methode der Charakterisierung, die den Charakter aus den Worten und Handlungen der Personen sich entwickeln läßt, entspricht weit mehr noch der Methode der Komödie, des Dramas überhaupt. Nach Dibelius (S. 112) wäre, nachdem noch bei Defoe die direkte Methode des Abenteurerromans vorgeherrscht hätte 21 , zum ersten Male bei Richardson direkte und indirekte Methode gemischt worden. Die Briefform, die dem dramatischen Dialog verwandt ist, legt diese Entwicklung nahe. Fielding hat sich diese gemischte Methode zu eigen gemacht. So sind bei ihm die direkten Charakterzeichnungen immer nur Skizzen, die dann im Laufe der Handlung zum Bilde vervollständigt werden. Andere Figuren werden scheinbar als belanglos eingeführt und entwickeln sich erst allmählich zu ihrer Bedeutung. So Western, der zuerst nur als „a neighbouring squire" und „a great gamekeeper" erscheint, während dann Zug um Zug sein Charakterbild vor des Lesers Augen entwickelt wird. Wieder anders ist die Einführung von Personen durch eine charakteristische Situation oder Handlung, so die der Mrs. Waters durch ihr Hilfegeschrei und ihre Situation mit zerrissenen Kleidern in den Händen des Schurken Northerton, die bezeichnend für ihren Charakter ist. Andere Figuren charakterisieren sich selbst, indem sie redend eingeführt werden, z. B. Northerton, der VII. 12. sich ins Gespräch mischt und seine Unbildung zeigt, indem er Griechen und Trojaner für irgendwelche zeitgenössische, ihm unbekannte Truppen hält, so auch Square, der nach einer kurzen direkten Beschreibung sein Wissen redend durch den philosophisch aufgeputzten Unsinn kennzeichnet, den er im Streit mit Thwackum über die Ehre darbietet. Auch werden andere Personen dadurch charakterisiert, daß sie zu dritten in Kontrast gesetzt werden, z. B. Tom gegen Blifil, oder Partridge gegen Tom, oder Honour gegen Sophia. Alle diese Arten der Charakterisierung sind so typisch für die Methode des Dramas, daß es sich nicht lohnt, Beispiele dafür herbeizuholen. Vielleicht ist an dieser Methode die Beziehung zum Drama am stärksten. Allerdings ist sie Fielding aus seiner Theaterpraxis heraus schon so zur Gewohnheit geworden, daß man von einer bewußten Entlehnung natürlich keinesfalls mehr reden kann. Komposition. Die sorgfältige Anlage und Durchführung des Planes der Geschichte des Tom Jones ist schon von den ersten Kritikern erkannt und über21

Was nur teilweise richtig scheint.

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schwenglich gelobt worden. Arthur Murphy in seinem Essay on the Life and Genius of Henry Fielding Esq. (1762) vergleicht ihn mit dem der größten Epen der Weltliteratur: Homer, Virgil, Milton. (H. F.s Works ed. Brown, vol. I. p. 63 f.22) Dibelius hat (a. a. O. S. 88 f.) auf die starken Einflüsse hingewiesen, die die Konstruktionselemente dieses Planes vom Lustspiel her erfahren haben. Im ganzen allerdings sagt er: „Der Grundplan des Abenteurerromans bleibt auch bei Fiel ding: ein unstet von Ort zu Ort wandernder Held, der sein Glück in der Welt machen will und mancherlei erlebt. So im J. A., im T. J., im J. W., hier freilich mit bösem Ausgang." Mehr noch betont die Beziehungen dieses Plans zum Drama Cross (a. a. O. II, S. 159 ff.). Dort heißt es: „In Joseph Andrews he adopted a conventional type of dramatic structure as old as the Greek drama — what Aristotle called the procedure by revolution and discovery" . . . , allerdings mit starken realistischen und parodistischen bzw. DonQuichotischen Einschlägen, die das klare Ziel des Planes verdunkelt hätten. Aber „these secondary aims . . . were mostly to disappear in T. J., a novel that was to present on a large scale the pure comedy of English life; it was to be the fulfilment of that earlier design of a comic epic such a Homer might have written . . . B e i n g a d r a m a t i s t , Fielding could not conceive of a novel without an elaborate plot . . . Upon this plot . . . he depended for keeping his readers alert through six volumes . . . It was almost as if one were present at the representation of a score of comedies, some pathetic, some burlesque, others possessing the gay wit of Vanbrugh or Congreve, and all united in a brilliant conclusion, where every character was rewarded in accordance with his deserts . . . The drama was all played out to the very end, where it exploded in a burst of mirth." Die Untersuchung der Fabel de6 Tom Jones kommt zu dem Ergebnis, daß Cross' Ansicht die einleuchtendere ist. T. J. ist nicht ein Abenteurerroman mit einigen vom Drama herkommenden Konstruktionselementen, sondern umgekehrt, der Roman arbeitet, was die Struktur des Grundplanes betrifft, in erster Linie mit dramatischen Mitteln, und das Element des Abenteurerromans, vor allem das Reisemotiv, ist eingefügt, weil es äußerst gut geeignet ist, den Helden unter Leute aus den verschiedenartigsten sozialen Schichten zu bringen und auf diese Weise Sittenkritik, Satire, derbste Komik usw. anbringen zu können, ohne der Einheitlichkeit des Planes zu schaden. Sehen wir uns den Grundplan ganz schematisch zusammengefaßt an: Tom, das Findelkind, über dessen Herkunft wir bis zum Abschluß im Dunkel gelassen werden, wächst im Hause des reichen Gutsherrn Allworthy auf und wird von ihm zusammen mit Blifil, dem legitimen Neffen dieses kinderlosen Mannes, erzogen. Er lernt Sophia, die Nachbarstochter, kennen und lieben. Intrigen seines Ziehbruders Blifil, aber auch seine eigene Unbeherrschtheit, sind die Ursachen seiner Verbannung. Tom, verzweifelnd, Sophia jemals zu erlangen, geht 22

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Weitere Äußerungen früherer Kritiker Cross a. a. 0 . II, S. 161.

auf die Reise, will erst zur See, dann Soldat werden u n d hat Erlebnisse mit Gastwirten, niederem Volk und Soldaten. Inzwischen ist Sophia aus Liebe zu Tom mit ihrer Kammerfrau von Hause weggelaufen, um nicht, wie es ihr Vater verlangt, BliiiI heiraten zu müssen. I h r Ziel ist London; sie kommt aber zufällig auf Toms Spuren und verfolgt sie nun bis zum Gasthof in Upton, wo sie hört, daß Tom ihr gerade mit einer anderen die Treue bricht, und wo ihr versichert wird, ihr Name sei von ihm durch den Schmutz gezogen worden im Geklatsche mit den niederen Besuchern der Landgasthöfe. Zornig reitet sie davon und läßt Tom zum Zeichen, daß sie da war, ihren Muff zurück. Tom, verzweifelt, nimmt am nächsten Morgen seine Reise zu dem Regiment, dem er sich anschließen will, wieder auf, wird aber, indem er zufällig auf ein von Sophia verlorenes Taschenbuch stößt, wieder auf ihre Spur gebracht. Er beschließt ihr nachzureisen und trifft einige Tage nach ihr in London ein. Dort gerät er in die Netze der Lady Bellaston, einer alten Kokette, bei der Sophia wohnt, die sich aber selbst in Tom verliebt und ihn von Sophia fernhält. Um sie schließlich los zu werden, macht er ihr einen schriftlichen Heiratsantrag. Sie schlägt ihn, wie erwartet, ab; um sich an Tom zu rächen, spielt sie den Antrag Sophia in die Hände. Außerdem schmiedet sie einen Plan gegen Toms Freiheit, um ihn zu strafen und aus London wegzuschaffen. Da aber Tom in einen Raufhandel gerät und seinen Gegner schwer verletzt, kommt der Plan nicht zur Ausführung. Der Held wird in völlige Verzweiflung gestürzt. Im Gefängnis hört er, sein Gegner liege am Tode. Dazu erhält er einen empörten Absagebrief von Sophia wegen seines Antrages an die Lady. Und schließlich erfährt er noch, d a ß die Frau, mit der er die Nacht in Upton verbracht hatte, seine eigene Mutter, Jenny Jones, gewesen sei. — Aus dieser tiefsten und hoffnungslos erscheinenden Verwicklung heraus erfolgt nun Schlag auf Schlag die Lösung. Es stellt sich heraus, daß der verwundete Gegner nicht lebensgefährlich verletzt ist und bereit ist, auszusagen, er sei selbst der Angreifer gewesen. Die Intrigen werden aufgedeckt. Mrs. Waters (die frühere Jenny Jones) klärt Allworthy, (der inzwischen mit Blifil nach London nachgekommen ist) über Toms Geburt auf: er ist ein illegitimer Sohn von Allworthys Schwester Bridget und somit Bliiils Halbbruder. Tom wird aus dem Gefängnis entlassen und versöhnt sich mit Allworthy. Ein letztes Hindernis bleibt: Sophia ist durch das Eheangebot an Lady Bellaston schwer verletzt und unversöhnlich. Vater Western dringt jetzt ebenso gewaltsam in sie, Tom zu heiraten, wie er sie vorher zu Blifil hatte zwingen wollen, sie bleibt ungerührt, bis sie schließlich Tom genug gestraft zu haben glaubt, und es zu dem ersehnten Verlöbnis kommt. Ganz zum Schluß hält der Dichter noch eine „Nachlese" und zeigt uns das Paar in seinem Glück, Mr. Western als Großvater u n d die verschiedenen Nebenpersonen in höchst komischer Weise miteinander verheiratet. Wenn man diese Geschichte auf eine ganz kurze Formel bringt, so hat 141

man zwar zunächst die Formel des griechischen Romans: „Die Liebenden finden sich, werden nach kurzem Beisammensein ins Weite getrieben, . . . zu Land und Meer herumgeschleudert und nach mancherlei Prüfungen ihrer Treue und Standhaftigkeit endlich zu seliger Vereinigung wieder zusammengeführt. Den Zwischenraum zwischen dem verheißungsvollen Anfang und der endlichen Befriedigung des Schlusses füllen die buntesten Abenteuer aus 23 ." Dies Schema ist aber, wie schon in der Einleitung angedeutet, zur Renaissancezeit vom Lustspiel übernommen und besonders durch Shakespeares Romanzen zur Vollendung gebracht worden. Es ist auch in seinen Spannungen und Lösungen seinem innersten Wesen nach dramatisch, zumal wenn, wie es hier der Fall ist, die Verwicklungen durch die Intrigen eines oder mehrerer Bösewichter und Nebenbuhler geknüpft werden und eben durch die klare Lösung aller dieser unübersichtlichen, unentwirrbar erscheinenden Verwicklungen, — indem die Intrigen durch den Helden selbst oder seine Freunde aufgeklärt werden, — alles gut endet. Dies ist ein ganz bedeutsamer Unterschied gegenüber dem Abenteurerroman, bei dem das Leben des Helden allein das konstruktive Rückgrat war, das die Abenteuer notdürftig zusammenhielt, deren Kette meist entweder durch den wohlverdienten Tod am Galgen oder ein Reue- und Bekehrungserlebnis, recht willkürlich abgeschlossen wurde. Wir haben also im T. J. zum ersten Male einen streng durchkonstruierten Plan vor uns, dessen innere Bewegung durch ganz klar erkennbare, sorgsam gegeneinander abgewogene Kräfte erzeugt wird. Nicht „um sein Glück zu machen", zieht Tom in die Welt, sondern aus Verzweiflung nach der ersten Katastrophe, weil er Sophia, deren Glück er nicht zerstören will, vergessen muß. In dem Augenblick, als er erfährt, daß Sophia ihn noch liebt und ihm zuliebe ihr Vaterhaus verlassen hat, wird er anderen Sinnes und reist ihr nach. Diese Konsequenz der Handlung macht trotz aller scheinbaren Abschweifungen den schlagenden Unterschied dieses Romans vom Schema des planlosen Abenteurerromans aus. Die Frage, wie der Dichter diese Geschlossenheit und Konsequenz des Planes erreicht hat, muß durch eine Analyse der Konstruktionsmotive des Plans beantwortet werden. Dibelius stellt a. a. O. S. 87 ff. fünf Konstruktionsmotive heraus: 1. Die Liebe; 2. Die Reise; 3. Erziehung des Helden; 4. Geheimnis seiner Geburt; 5. Intrige 24 . Es scheint aber, als ob noch zwei Motive für die Konstruktion des Planes von Bedeutung wären: nämlich die Gruppierung der Personen und die Einheit bzw. Kontinuität von Ort, Zeit und Handlung. Wie im Lustspiel gehen auch hier die Kräfte, die die Handlung vorwärtstreiben oder hemmen, gleich von der G r u p p i e r u n g d e r 2 3 Erwin Rohde: D. griech. Roman. II. Aufl. 1900. Leipzig. Auf dieses Buch gründet sich alles, was hier vom griech. Roman gesagt ist. 2 4 Auf 2. und 3. wird hier nicht eingegangen.

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h a n d e l n d e n P e r s o n e n , also von der Verteilung der Rollen, aus. Die gesamte Anlage des Plans wie auch die Durchführung der Handlung hängt von der Gruppierung der Personen so stark ab, daß man diese sehr wohl als ein konstruktives Motiv der Komposition ansehen kann. Dibelius weist S. 92 darauf hin, daß schon im J. A. uns nach den Abenteuerromanen Defoes zum ersten Male eine vernünftige Verteilung der Rollen begegnet: Das Liebespaar Joseph—Fanny, die Hauptgegnerin Lady Booby und der Haupthelfer Adams. Die Nebenpersonen allerdings, abgesehen von Mrs. Slipslop, die zu den Gegnern gehört, sind mehr oder weniger episodisch. Die Hauptpersonen sind also schon hier nach dem „Prinzip der widerstreitenden Kräfte" gruppiert. Dies Prinzip ist aber das des Dramas und insbesondere das des Lustspiels par excellence. Nach dem gleichen Prinzip sind fast alle Komödien Molieres und der Restaurationsperiode gebaut. Im Tom Jones ist, entsprechend seiner weiteren Entfernung vom DonQuichotischen und Abenteurerroman dies Prinzip noch viel differenzierter und konsequenter durchgeführt als im J. A. Sogar die Episoden und die in ihnen handelnden Personen sind fast alle in irgendeine freundliche oder feindliche Beziehung zu dem Heldenpaare gesetzt. Das folgende Schema mag dies veranschaulichen: Cegner: Das Heldenpaar: Blifil ( H a u p t g e g n e r ) T o m — Sophia Western**Mrs. Western* Lady Bellaston* Mrs. F i t z p a t r i c k * Mr. F i t z p a t r i c k —» (wechseln ü b e r I —> zu den F r e u n d e n . )

Man

* = ** = =

Helfer: Allworthy* (wechselt erst zu den Gegnern, d a n n z. d. F r e u n d e n ) Partridge Mrs. H o n o u r * steht als richtende Instanz ü b e r d e n P a r t e i e n u n d entscheidet sich f ü r d i e gerechte S a c h e . vergleiche d a z u d i e G r u p p i e r u n g i m „ T a r t u f f e " : Cleanthe Tartuffe (Hauptgegner)* Elmire Valere — Mariane Dienerin O r g o n * * —>(wechselt zu d e n F r e u n d e n ) Damis Orgons Mutter D i e richtende Instanz ist hier der K ö n i g . w i r k e n durch Intrigen. w i r k e n d u r c h Gewalt. w i r k e n a u ß e r d e m noch g e g e n e i n a n d e r .

Dieser Vergleich hinkt insofern, als die Liebeshandlung im Tartuffe nicht die zentrale Rolle spielt wie im Tom Jones. Aber in den wesentlichen Punkten der Kräfteverteilung, der Verwendung von Intrigen und Gewalt zur Verwicklung, stimmen beide Werke überein. Ähnliche Übereinstimmung im Schema läßt sich dutzende Male feststellen, auch in einzelnen Zügen. So z. B. das Übergehen von Gegnern des Helden auf die Seite der Freunde in „As You Like It": Oliver, der Orlando erst verfolgt hatte, geht auf dessen Seite über, Das Schema der beiden sich gegenüberstehenden Gruppen um das Heldenpaar in der Mitte wird sorgfältig vorbereitet, und wie im Lustspiel 143

durch eine bis ins kleinste genaue Exposition entwickelt. Aus der Gegenüberstellung des Intriganten Blifil z. B. gegen den impulsiv-harmlosen Tom und die unschuldig-kluge Sophia allein ergibt sich die gesamte Verwicklung; aus Toms guten Charaktereigenschaften und hilfreichen Taten in Verbindung mit den Charaktereigenschaften (Dankbarkeit, Treue) der Familie Miller-Nightingale ergeben sich die wichtigsten Teile der Lösung, die erst durch die Stellung und den Charakter Allworthys als unbestechlichen Ehrenmannes zu gutem Ende geführt werden kann. Diese Beziehungen (von Energien), die die Personen der beiden Lager miteinander verbinden, oder gegeneinander in Bewegung setzen, sind für den Roman als Ganzes von viel strafferer konstruktiver Bedeutung als die am Faden eines Schelmenlebens aufgereihten Abenteuer. An dieser Straffheit der Konstruktion sieht man aufs Allerdeutlichste den Einfluß des Dramas. Von ähnlicher Bedeutung für die Konstruktion des Planes ist die E i n h e i t bzw. K o n t i n u i t ä t v o n O r t , Z e i t u n d H a n d l u n g . Congreve hat in seiner „Incognita" noch diese Einheiten als konstituierend für das „dramatic writing" angesehen. Fielding lehnt Einheit von Ort und Zeit des Romans ausdrücklich ab. (II. 1.) Dagegen auf die Einheit der Handlung macht er Anspruch, wenn er in X. 1. sagt: „we warn thee (viz. the critic), not too hastily to condemn any of the incidents in this our history, as impertinent to our main design, because thou dost not immediately conceive in what manner such incident may conduce to that design . . . " Trotz Fieldings ausdrücklichem Verzicht kann man aber, wenn auch nicht von Einheit, so doch von Kontinuität von Ort und Zeit sprechen. Im ersten Teil spielt die Geschichte auf Allworthys Landgut, im zweiten auf der Reise, und zwar liegt in diesem Teil der Hauptknotenpunkt der Handlung sogar an einem Ort, nämlich im Gasthof zu Upton (siehe unten S. 151 ff.). Der dritte spielt wieder an einem Ort, in London. Was die Zeit angeht, so nimmt natürlich der Dichter das Recht in Anspruch, in seiner History über viele ereignislose Jahre hinwegzuspringen. (II. 1.) So zeigt er uns im ersten Teil nach der Geburt des Helden erst wieder die Zeit, als er 14 Jahre ist und springt schnell bis zum zwanzigsten Jahre Toms vor. Dann aber beginnt die Kontinuität der Zeit. Vom IV. Buche an beginnt die Überschrift die Zeit zu registrieren, und der Lauf der Zeit bleibt bis zum Schluß ununterbrochen, so daß man bis zum Kalendertage genau die Daten der Ereignisse in dieser Geschichte errechnen konnte. (Vgl. Cro6S, a. a. 0. S. 188 ff.) Ich vermute, daß in dieser ängstlichen Innehaltung der Kontinuität der Zeit der Versuch des Dramatikers Fielding zu sehen ist, die Forderung der Zeiteinheit auf die zeitlich einen langen Raum einnehmende „History" zu übertragen. Jedenfalls ist diese genaue Zeitangabe durchaus ein Konstruktionsmotiv des Planes geworden und stimmt sehr wohl zu der Genauigkeit, mit der die Verwicklungen und Lösungen des Planes ausgearbeitet sind. Zweifellos bewußt gewahrt im Sinne seines Planes ist die Einheit der 144

Handlung, die ein deutliches Konstruktionsmotiv gerade dieses Romans ist in sichtbarem Gegensatz zu allen Romanen der Zeit, der heroischgalanten wie der abenteuerlichen. Noch Joseph Andrews war, nachdem dem Dichter die Parodie der „Pamela" ihren Reiz verloren hatte, wesentlich zu einer Abenteuergeschichte des braven Parson Adams geworden, die burlesken und picaresken Abenteuer überwucherten die Handlung gar zu sehr, und die Lösung setzt etwas plötzlich und gewaltsam am Schluß ein, durch die Erzählung des Hausierers. Hier liegt die Sache ganz anders. Alles was geschieht oder erzählt wird, hat Beziehungen zu einem der Helden, oft haben auch die unbedeutendsten Nebenpersonen Beziehungen zu beiden, indem sie den einen auf die Spur des anderen bringen. Sogar die Episoden und Einschübe wie die Geschichte des Man of the Hill, die Mrs. Fitzpatricks, die des Quakers in Toms ersten Rastort, haben alle ihre Bedeutung für die Hauptgeschichte, indem sie die Haupthandlung aus der Perspektive einer anderen sozialen Schicht parallelisierend beleuchten (Quaker) oder auch die Parellele zum Leben des Helden (Geschichte des Mannes vom Hügel) oder der Heldin (Geschichte der Mrs. Fitzpatrick mit unglücklichem Ausgang) ziehen und dadurch die Gefahr aufzeigen, in die sie sich begeben wollen 25 . Aber viel wichtiger noch ist die genaue Motivierung der kleinen und kleinsten Züge: daß Allworthy vor der Geburt Toms ein Vierteljahr abwesend war und auf die Weise von dem Zustand seiner Schwester nichts ahnte, das zweideutige Schweigen der Jenny Jones über die Vaterschaft, die Vorbereitung der Verzweiflung Toms durch das zufällige Zusammentreffen mit Mrs. Waters und die Nacht in Upton und vieles andere mehr. Diese Einheit der Handlung trotz anscheinender Unübersichtlichkeiten und episodischer Erlebnisse ist eins der stärksten dramatischen Konstruktionsmotive unseres Romans. Am großartigsten zeigt sie sich in dem virtuosen Denouement am Schluß, wo von rückwärts her die kleinsten Details in einem neuen Lichte erscheinen, z. B. die erwähnte Abwesenheit Allworthys vor der Geburt Toms, oder der wenigstens Tom belanglos erscheinende Besuch des Rechtsanwaltes Dowling, als Allworthy sterbenskrank daniederlag, u. a. m. Dibelius nennt unter den Konstruktionsmotiven des Fieldingschen Romans d i e L i e b e an erster Stelle. Sie ist im J. A. zum ersten Male ein gleich am Anfang angeschlagenes, immer wieder betontes und am Ende zum Höhepunkt geführtes Motiv, während es bisher, im Abenteurerroman Defoes, nur eines unter vielen Handlungsmotiven gewesen war. Auch dies Motiv, das im Tom Jones zum wirklichen Konstruktionsmittel geworden ist, hat Fielding, wie auch Dibelius betont, dem Drama, besonders dem Lustspiel, abgelauscht. Wie in der Komödie, entzünden sich an diesem Motiv die schwersten Verwicklungen, aber auch die besten Charaktereigenschaften. Sie gibt aber auch die Gelegenheit zu komischen 25

Vgl. Cro&s. a. a. O. S. 187.

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Wirkungen allerersten Ranges, z. B. des Schwankens zwischen Liebesglut und kaltem Haß bei Sophia, je nachdem sie von den Leiden hört, die Tom um ihrer Liebe willen erdulden muß, oder von seinen Seitensprüngen. Toms Schwanken zwischen seiner Liebe zu Sophia und seinen fleischlichen Gelüsten gibt gleichfalls viel Anlaß zu komischen Erlebnissen. Und schließlich setzt die Liebe dem Ganzen durch die Hochzeit am Schluß die Krone auf, wie in der Komödie. Der Leser weiß von vornherein, was gespielt wird; wie alle äußeren Widerwärtigkeiten sind auch alle Zerwürfnisse zwischen den Liebenden nur retardierende Momente, nach der Art des von Molière immer wieder verwendeten Dépit amoureux. Ein weiteres wichtiges Motiv der Konstruktion ist d a s G e h e i m n i s d e r G e b u r t d e s H e l d e n , das zu Anfang gleich die Spannung des Lesers auf die Person des Helden konzentriert und immer wieder an entscheidenden Stellen mit dunklen Andeutungen umspielt wird, mehrmals der Auflösung ganz nahe ist (der Rechtsanwalt Dowling erscheint immer wieder mit verschlossenen Mienen, listigem Grinsen und mysteriösen Andeutungen, VIII. 8, XII. 9, 10), und erst am Schluß in dem großen Dénouement aller Verwicklungen völlig gelöst wird. Das ganze kunstvolle Gebäude ist in der Tat so sehr auf die Wahrung des Geheimnisses aufgebaut, daß es keine Möglichkeit gäbe, den Roman weiterzuführen, wenn es z. B. Mr. Dowling gelungen wäre, zu Allworthys Krankenbett zugelassen zu werden und ihm selbst seine wichtige Botschaft zu überbringen. Dibelius schreibt dies Motiv dem Einfluß des heroisch-galanten Romans zu (a. a. 0 . S. 92). Aber auch im Drama ist es äußerst häufig zu finden, und zwar in gleicher Weise als Konstruktionsmotiv, so daß mit der Lösung des Geheimnisses die ganze Spannung des Stückes auseinanderfallen würde. Es sei nur an Shakespeares „Comedy of Errors" erinnert, deren Tradition auf Plautus' Menaechmi zurückgeht, um ein Beispiel für viele zu geben 26 . Das Geheimnis um die Persönlichkeit des Helden liegt durchaus auf der Linie der Verwirklichungs- und Denouements-Komödie, dessen enge Verbindung mit dem Grundplan des T. J. oben festgestellt wurde. Es ist natürlich bei den Wechselbeziehungen zwischen Roman und Drama etwas wie ein Wagnis zu behaupten: dieser Zug stammt aus dem Drama; gewiß kann dies Motiv auch aus dem Roman stammen, und Belege dafür wären nicht schwer herbeizuziehen. Aber wenn man die Gesamtheit der Konstruktionsmotive des Planes dieses Romans als eine Einheit betrachtet, wenn man ferner Fieldings Herkunft vom Drama und seine Abneigung gegen den „großen" Roman, dessen Uneinheitlichkeit und Formlosigkeit er ja gerade ein straff disponiertes Formkunstwerk gegenüber2 8 Vgl. hierzu auch das Motiv des Findlings in der Komödie und im Roman der Zeit! (Mrs. Haywoods Novelle „The Foundling", Edw. Moores Komödie „The Fortunate Foundling".)

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stellt, in Betracht zieht, so liegt doch eine Berechtigung vor, auch in diesem Zuge eine lebendige Beziehung zum Drama zu sehen. Daß unter den Konstruktionsmotiven des Planes d i e I n t r i g e eine wichtige Rolle spielt, ist schon bei der Besprechung des Grundplanes (S. 142, u. ö.) angedeutet worden. Mehr noch als das Geheimnis der Person des Helden ist dieses Motiv ein integrierender Bestandteil komödienhafter Verwicklungs- und Denouementstcchnik. Auf die einzelnen Intrigen einzugehen, ist hier nicht der Platz, sie werden unter den Einzelhandlungen im folgenden Abschnitt mit betrachtet werden. Hier soll nur von der Bedeutung der Intrige für den Plan als ganzes die Rede sein. Angefangen mit den Verleumdungen der Pädagogen Square und Thwackum, die Toms reine Absichten bei Allworthy verdächtigen (z. B. IV. 11: Square deutet Toms Mildtätigkeit der Familie Seagrim gegenüber als Schandlohn für die Verführung der Molly aus) setzt nach und nach der konzentrische Intrigenangriff der Gegner auf Tom ein. Blifils Erbschleicherei durch Unterdrückung der Wahrheit über Toms Herkunft und durch Mißdeutung von Toms Verhalten bei Allworthys Krankheit bilden den Hauptschlag, der die erste Katastrophe: die Verbannung Toms, herbeiführt. Im mittleren Teil des Buches, der Reise, treten die Intrigen zurück, aber mit dem Schlußteil, den Erlebnissen in London, setzen sie neu ein, diesmal besonders von der Seite der weiblichen Gegner. Mrs. Fitzpatrick beginnt mit ihrer Geheimhaltung des Aufenthalts Sophias (sie will sich durch die Verhinderung dieser Liebesbeziehung wieder die Gunst ihrer Tante Western erwerben). Dann setzt das kunstvolle Netzwerk der Ränke der Lady Bellaston ein, die ihn erst nur von Sophia fernhalten und ihrer eigenen Person zuführen will, die aber, als Tom ihrer überdrüssig ist, vor Versuchen zur Vernichtung seiner ganzen Existenz nicht zurückschreckt. Die letzte Intrige gegen Tom wird wieder von Blifil in Gemeinschaft mit dem ehrsamen Mr. Dowling gespielt, die Zeugenbestechung, die Tom den Kopf kosten soll. Gegen Sophia arbeiten ebenfalls die Intrigen ihrer Gegnerinnen: der Tante, Mrs. Fitzpatricks und der Lady. Sehr kunstvoll überschneidet sich das Gewirr dieser Intrigen, aber es bleibt stets übersichtlich, der Leser weiß immer, von wo die Gefahr droht, die Einheit der Handlung leidet nie unter der Vielheit der Intrigen, wie es in vielen Restaurationskomödien der Fall war. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß diese Technik der Intrigen vom Drama herkommt. Die gesamte Renaissance- und Barock-Dramatik, Tragödie wie Komödie, aller europäischen Völker kennt die Intrigen als eines der wichtigsten Mittel, Spannung zu erregen, und so blieb es, vor allem für die Komödie und Posse, bis in die neueste Zeit. Und wenn einzelne Intrigen, einzelne mehr oder weniger grobe Verleumdungen und andere Schurkereien auch im Roman vorkommen: dies System von feinen Intrigen, wie wir es im T. J. finden, ihre methodische Anlage und ihre klare schrittweise Lösung ist deutlich von der Komödie übernommen. Gerade in der Anlage dieses Systems liegt die größte Ähnlichkeit des Planes des 147

T. J. mit dem von Congreves „Incognita". Hier wie dort erfüllt die feine Konstruktion der Intrigen den Zweck einer straffen Konzentration gegenüber dem höfischen Roman, und es ist kein Zufall, daß Incognita das erste Werk eines künftig berühmten Dramatikers war, und Tom Jones der große Roman eines Dichters, der sich seinen ersten Ruhm mit dem Schauspiel erworben hat. Eine zusammenfassende Betrachtung der Analyse des Grundplanes in die einzelnen Konstruktionsmotive ergibt da6 erstaunliche Bild, daß hier der Plan eines der größten Epen der Weltliteratur durchaus mit dramatischen Mitteln aufgebaut ist. Er wirkt wie ein Konstruktionsgerüst, dessen dramatische Träger und Streben aber mit einer lebendigen und bunten Fülle von ironischem, fabulistischem, auch didaktischem Baumaterial ausgemauert sind. Ein System wohlvorbereiteter Verwicklungen, Geheimnisse und Intrigen hält den Leser in Spannung, so daß der Dichter sich die fabulistischen Monstrositäten, die der große Roman so liebte, sparen konnte, so daß er als Baumaterial wirklich das Leben, wie er es erlebt hatte und wie jeder Engländer im 18. Jahrhundert es erleben mochte, in den Roman hineinarbeiten konnte. In dieser Beziehung ist Fielding Realist, aber nur in dieser Beziehung. Denn der Grundplan, sein ganzes künstlerisches System, hat mit dem Leben nichts zu tun, er ruht auf einer Jahrhunderte alten dichterischen Tradition 27 . Wie in der Führung der Handlung im großen der Roman mit dem Handlungstyp der Intrigenkomödie, mit ihrer Verwicklung und Lösung in Beziehung gesetzt werden konnte, ist die gleiche Beziehung auch im einzelnen herstellbar. Die Gliederung des Romans in drei H a n d l u n g s g r u p p e n , nämlich die Jugendzeit auf Allworthys Gut, die Reise, und die Erlebnisse in London, macht sich sofort bemerkbar. Diese drei Gruppen entsprechen den drei Akten einer Komödie: dem ersten, der die Exposition, die Verteilung der Kräfte und die ersten Angriffe der Gegner des Liebespaares bis zur ersten Katastrophe zeigt, dem zweiten, in dem die Verwicklungen weitergeführt werden zu einer zweiten Katastrophe, und dem dritten, in dem zu den alten Verwicklungen neue, besonders schwere hinzukommen und nach einem retardierenden Moment letzter Spannungen die Lösung einsetzt und Schlag auf Schlag zum glücklichen Ende geführt wird. D i e J u g e n d z e i t (Buch I—VI) ist ihrem Bau nach derjenige Teil, der am meisten episch gehalten ist. Sie nimmt auch zeitlich den längsten Raum ein. Schilderung und Bericht herrschen in diesem Teile vor, einige Dialoge und Szenen sind, mehr um der komischen oder charakterisierenden Wirkung willen, als um die Handlung selbst vorzutreiben, eingestreut. Aber in diesem Teil werden fast alle Handlungskeime angesetzt, die sich später als wichtig für das weitere Geschick des Liebespaares erweisen. Die wichtigsten Personen (mit Ausnahme der Lady Bellaston 27

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Vgl. hierzu Küchler: Molière, S. 191 unten.

und des Kreises der Mrs. Miller) werden eingeführt und zu abgerundeten Bildern ihres Wesens entwickelt, vor allem die Stellung zueinander, ihre freundlichen und feindlichen Beziehungen, werden dargestellt. Auch die wichtigsten anderen Motive des Grundplanes der Handlung werden angeschlagen: die Liebe, das Geheimnis, die Intrige. Die Verwicklungen werden angeknüpft. Mit den Verleumdungen der Pädagogen setzt das große Intrigenwerk gegen Tom ein, Blifil schließt sich mit seinem ersten großen Schlag gegen Tom an, der in Verbindung mit Toms eigenem Leichtsinn zur ersten Katastrophe, der Verweisung aus dem Hause Allworthy, führt. — Die Liebeshandlung zwischen Tom und Sophia ist ebenfalls angesponnen und bis zu gegenseitigen Geständnissen geführt. Die Tante beginnt ihre Intrigen gegen Sophia. Sie glaubt, durch eine falsche Spur mißleitet, die Verliebtheit, die sie an Sophia findet, richte sich auf Blifil und insinuiert ihrem Bruder den Heiratsplan Sophia-Blifil. Western unterstützt diese Intrige mit seiner polternden Tyrannei, und es kommt auch hier zur Katastrophe: Tom, der in einer Gegenintrige unter dem Vorwand, Sophia beruhigen und ihrem Vater gefügig machen zu wollen, sich Zutritt zu ihr verschafft, wird auch von Western das Haus verboten. Am Schluß des VI. Buches sehen wir Tom in Verzweiflung, er schreibt einen Brief des Verzichts an Sophia; aber diese Verzweiflung wird dadurch gemildert, daß in Sophias gleichzeitig geschriebenen Brief an Tom ein klares Bekenntnis ihrer Liebe und Treue steht. So ist der Faden doch noch vorhanden, an dem die Handlung ihren Weg aus der Hoffnungslosigkeit in eine bessere Zukunft finden kann. Einzelne Beziehungen zu Komödien sind hier natürlich schwer zu entdecken, es genügt aber bei dieser Betrachtung, den „ersten Akt" des Romans auf den Handlungstypus der Exposition einer Komödie bis zur ersten Katastrophe zurückgeführt zu haben. D e r z w e i t e T e i l zeigt das Liebespaar auf der Reise, ist somit natürlich auch vorwiegend episch. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß dieser zweite Teil in der Hauptsache abenteuerlich und picaresk ist. Die Intrigen, überhaupt die großen Linien der Konstruktion, treten zurück, die Verwicklungen, an denen auch dieser zweite Teil reich ist, entstehen nicht durch lang vorbereitete Pläne, sondern aus mehr oder weniger farcenhaften und picaresken Situationen, durch komischen Klatsch und andere Elemente, die mehr den niederen Gebieten des Abenteurerromans und der Farce entstammen als der Komödie. Nur an einer Stelle sind die bisher lose daherlaufenden Fäden der Handlung zu einem kompositorischen Knotenpunkt vereinigt, das ist im Gasthof zu Upton. (IX/X. Buch.) Die Ereignisse der Nacht, die Tom auf seiner Reise im Gasthof in Upton zubringt, bilden, was die Komposition angeht, einen der Höhepunkte des Romans. Der Dichter bringt es hier fertig, eine gewaltige Zahl von Personen, die bisher eine Rolle in der Geschichte spielten, wie auch solcher, die im weiteren Verlaufe noch eine Rolle zu spielen haben, 149

an einem Ort zusammenzubringen und wild durcheinander zu wirbeln. An einem dünnen Faden hängt es nur, d a ß nicht das ganze Gewirr von Verwicklungen der verschiedensten Art aufgelöst wird. Durch die in reißendem Tempo sich abspielenden Mißverständnisse und Fehlhandlungen zerstieben alle diese Personen am nächsten Morgen in alle Winde, ohne d a ß auch nur eine einzige ihrem Ziele hätte näher kommen können. Im Gegenteil, die lustigsten u n d folgenschwersten Mißverständnisse, die farcenhaftesten und doch die Beteiligten aufs tiefste ergreifenden Ereignisse überstürzen sich u n d haben am Ende die Fäden noch viel schlimmer verwirrt, als sie es vorher waren; und die Spannung des Lesers ist nun wieder f ü r die folgenden 8 Bücher bis zum großen SchlußDénouement aufs höchste gesteigert. Es ist kein Zufall, sondern ein Beweis f ü r die an der Komödie geschulte architektonische Kompositionskunst Fieldings, daß diese beiden Bücher, das IX. und X. Buch, genau in der Mitte des Romans stehen. Sie sind der „mittelste" Akt dieser großen Komödie. Von diesem Zusammentreffen gehen Energien aus, die dem Roman bis zum Schluß die nötige Spannung verleihen: Toms Reue und Verzweiflung, die ihn Sophias Spur bis London verfolgen läßt, Sophias zornige Enttäuschung über Toms wirkliches und durch Partridges Klatsch maßlos entstelltes unverantwortliches Benehmen, die Nebenhandlung der Eheleute Fitzpatrick, die ganz zum Schluß wieder schwerste Komplikationen hervorruft. So sehr auch die einzelnen Abenteuer in das Gebiet des Schelmenromans hineingehören, kann man doch sagen, d a ß an wenigen Stellen die Beziehungen zum Lustspiel, wenigstens was die Komposition angeht, so stark erkennbar sind wie hier. Das Ineinander der verschiedenen Nebenhandlungen und der Haupthandlung, das Gewirr von Beziehungen, die an dieser Stelle fast jede Person mit jeder anderen verbinden, die schwerwiegende Bedeutung, die manches harmlos dahergeschwatzte Wort f ü r andere Personen hat, von der der betreifende Schwätzer nichts ahnt: alles das macht im eigentlichen Sinne die dramatische Komposition im Gegensatz zu der einfachen, klaren, breit ausholenden epischen Komposition aus. Die Vor- und Nachteile dieser dramatischen Kompositionsweise zeigen sich auch deutlich an dieser Stelle: wohl ist die wilde Szenenfolge dieser Nacht unglaublich reich an den erstaunlichsten u n d von erschütternder Komik überfließenden Begebenheiten, aber der Dichter m u ß sich die folgenden Kapitel damit abgeben, zu erklären, wie die verschiedenen Personen dazu gekommen sind, zufällig gerade in dieser Nacht an diesem abgelegenen Ort sich zu treffen. Das Gesetz des Epos setzt sich hier durch, das den breiten F l u ß der Geschichte verlangt und alle Überraschungen, alle plötzlich entstehenden Brennpunkte des Kampfes oder des Zusammentreffens verschiedener Kräfte, also die szenischen Handlungen in erster Linie, durch nachgeholten Bericht glaubhaft machen muß. Die nun folgende Analyse der Ereignisse in Upton soll die einzelnen Linien der Komposition freilegen. 150

Zunächst der Ort der Handlung: Ob der Landgasthof als Ort der Handlung, der höchst geeignet ist, die verschiedensten Gestalten an einem Orte zusammentreffen zu lassen, ursprünglich aus dem Schelmenroman stammt oder aus der Komödie, wage ich nicht zu entscheiden; es ist hier auch gleichgültig. Denn soviel ist gewiß, daß der Gasthof an der Landstraße, in dem die Reisenden zufällig kommen und gehen, eine hervorragende Gelegenheit abgibt, ein ganzes Bündel Handlungen und Schicksale unter Einhaltung der Einheit des Ortes dramatisch zusammenzufassen. Die Komödie hat von diesem Schauplatz auch reichlich Gebrauch gemacht, so, um nur ein Beispiel zu nennen, Fielding selbst in seinem „Don Quixote in England" (1733)28. Hier in Upton ist die Situation eine ähnliche: Das dem edlen Ritter von la Mancha und seinem braven Schildknappen in der Konzeption durchaus verwandte Paar Tom-Partridge kommt auf seiner Wanderung in die Herberge in Upton, nachdem Tom gerade in Don-Quichote-hafter Art einer zweifelhaften Dame seine Ritterdienste geleistet hat. Auch hier spielen die Motive der Politik hinein. Tom will sich der Armee des Duke of Cumberland gegen den Prätendenten Charles Edward anschließen, es kommt zu ergötzlichen Szenen zwischen dem hannoverisch gesinnten Sergeanten und dem heimlichen Jacobiten Partridge. Für die davongelaufene Tochter des Sir Thomas in der Komödie stehen hier gleich zwei davongelaufene junge Damen: zunächst Sophia auf der Flucht vor ihrem Vater, dann Mrs. Fitzpatrick auf der Flucht vor ihrem Gatten. Damit nicht genug, trifft in der Nacht der wütend-eifersüchtige Mr. Fitzpatrick ein und macht in seinem irisch-cholerischen Temperament unglaublich komischen, dabei höchst fatalen Unfug (er verfehlt natürlich seine Frau)und schließlich am Morgen kommt noch Mr. Western selbst, von Dienern, Hunden und Parson Supple begleitet, gerade noch rechtzeitig, um zu erfahren, daß die gesuchte Tochter soeben wieder verschwunden ist. Es sind also, mit Ausnahme Blifils, alle an der Haupthandlung am nächsten Beteiligten und noch ein gut Teil mehr an einem und demselben Orte vereinigt, und die Erfüllung der Wünsche der verschiedenen Personen bzw. das endgültige Scheitern ihrer Hoffnungen, steht auf des Messers Schneide. Und nun ist es die dramatische Kunst der Erfindung des Dichters, die es fertig bringt, all diese Spannungen wie eine Seifenblase zerplatzen zu lassen und am Schluß so viele Hindernisse und Verwicklungen aufgebaut zu haben, daß erst einmal jede Hoffnung auf Lösung dieser Verwirrung verschwunden zu sein scheint. Dies geschieht auf viererlei Weise: 1. durch das Geheimnis, mit dem einzelne Personen auftreten (Mrs. Fitzpatrick); 2. durch die tolpatschige blinde Wut, mit der Mr. Fitzpatrick sein Ziel verfehlt, und außerdem 2 8 So auch Lessing in seiner Minna v. Barnhelm und Miss Sara Sampson (obwohl letzteres ein Trauerspiel, ist die Ausgangssituation eine ganz ähnliche). Vielleicht haben Fieldings Casthofszenen aus T. J . und J . A. auf Lessing, der F.s Werke gut kannte, eingewirkt.

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Tom Jones in nicht wieder gutzumachender Weise bloßstellt; 3. durch den gedankenlosen und böswilligen Klatsch der Dienstboten: Partridges alberne Reden über Tom und Sophia, durch die er auch dem verfolgenden Squire Western Toms Spur verrät (denn Partridge „always left a strong 8cent behind him" durch sein Ceklatsch, wo immer er übernachtet hatte). Dies Gerede nimmt Sophia für Wahrheit und verzeiht es Tom weniger als alle Untreue. Auch Chambermaid Susans bereitwilliges Ausplaudern des Abenteuers, das Tom gerade mit Mrs. Waters besteht, während Sophia in Eilmärschen Tag und Nacht hinter ihm herreist, gehört hierher; 4. durch Zufall: Sophia ist gerade vor einer Stunde abgereist, als Squire Western eintrifft und seiner Wut nur noch in einer komischen Szene mit Tom Luft machen kann. Fast alle diese Verwicklungen und Enthüllungen werden durch unerhört lebendige, in atemlosen Tempo aufeinander folgende, vielfach auch in der Sprache dramatisch geformte Szenen höchst amüsant dargestellt. Der Dialog mancher dieser Szenen könnte wörtlich in eine Komödie übernommen werden, so sprühend, schlagartig-scharf, mit Spannung geladen und reich an plötzlichen Peripetien ist er (z. B. X., 5, zwischen Sophia, Honour und dem Zimmermädchen). All diese hier aufgezählten Mittel der Knüpfung der neuen Verwicklungen sind, wie die Situation im Ganzen selbst, altes, traditionelles Komödien- und Farcengut. Geheimnisvolle Reisende, besonders Damen, tolpatschig wütende Ehemänner — klatschende Dienstboten, und auch der Zufall sind in den Komödien aller Zeiten und Völker so häufig, daß es überflüssig scheint, Einzelbelege anzuführen. Es ist ausgeschlossen, daß die Komposition einer solchen Folge von Ereignissen, die man fast eine Komödie oder besser eine Farce innerhalb des Romans nennen könnte, einem Dichter möglich ist, der nicht eine tiefe Kenntnis der zu seiner Zeit lebenden Komödie und darüber hinaus auch eigene Erfahrung in der Schöpfung von Komödien selbst hat. Im übrigen fließt in dem Rest des Teiles der geteilte Strom der Handlung episch weiter. Die Geschichte der Flucht Sophias und der Verfolgung durch Mr. Western wird nachgeholt, Mrs. Fitzpatrick erzählt Sophia ihre Ehegeschichte, wie vorher der Mann vom Hügel Tom seinen Lebenslauf erzählt hat — beides Einschübe, die für den höfischen Roman kennzeichnend sind —, und wirklich ist, vor wie nach Upton, abgesehen von einigen farcenhaften Szenen, nichts von dramatischer Komposition zu verspüren. Ganz anders wird es im l e t z t e n T e i l , den Erlebnissen in London (Buch XIII bis XVIII). Wenn man die Nacht in Upton eine Farce im Roman nennen konnte, so kann man diesen letzten Teil füglich eine sorgfältig durchgeführte Komödie im Stil Congreves nennen. Der ganze Abschnitt spielt innerhalb 30 Tagen, die strengste Kontinuität der Zeit ist gewahrt, ebenso Einheit des Ortes, insofern London, wenn auch verschiedene Häuser in London, Ort der Handlung ist. 152

Nachdem wir im XI. Buche erfahren hatten, daß Sophia in Begleitung ihrer Base Mrs. Fitzpatrick und des irischen Lords in London angekommen ist, setzt im XIII. Buche der Schlußakt mit Toms Ankunft in London ein. Schon mit Toms erstem Besuch hei Mrs. Fitzpatrick, wo er Sophia zu finden hofft, beginnen die Mißgeschicke, Mißverständnisse und Intrigen: Tom kommt genau 10 Minuten, nachdem Sophia das Haus verlassen hat. Mrs. Fitzpatrick hält Sophias Aufenthalt vor Tom geheim, erst weil sie ihn für Blifil hält, dann aber, nachdem sie von ihrem Mädchen den Sachverhalt erfahren hat, um sich durch die Zuriickführung Sophias bei Mr. Western und seiner Schwester wieder beliebt zu machen. Sie bespricht die Angelegenheit mit Lady Bellaston, deren Begehrlichkeit nach dem als solch ein hübscher Jüngling beschriebenen Tom erwacht ist, und die ihr vorschlägt, vorläufig noch nicht an Western zu schreiben, sondern sich zu begnügen, Tom von Sophia fernzuhalten. Die Lady sieht Tom und fängt sofort Feuer. Sie eröffnet nun ihre eigene Intrige durch die Einladung zum Maskenball. Er erscheint, in der Hoffnung, etwas von Sophia zu hören, und geht der Lady ins Garn, als sie an seine Galanterie appelliert und damit an seine „Ehre". Nach kurzer Zeit ist Tom völlig lahmgelegt, die Lady hält ihn sich durch ihre Geschenke verpflichtet und macht ihn Sophia gegenüber unsicher, indem sie ihm vorhält, er werde sie nur unglücklich machen, auch verberge sich augenscheinlich Sophia vor ihm. Tom trifft durch einen Zufall Sophia im Hause der Lady und beweist ihr seine Reue über das Vergehen in Upton. Ein neues Einverständnis zwischen den Liebenden ist hergestellt. Da kommt Lady Bellaston hinzu und sieht ihre Liaison mit Tom in Gefahr. Durch ein neues System von Intrigen suchte sie nun Sophia von Tom fernzuhalten. Sie ermutigt die Werbung des Lord Fellamar, entlarvt, um den Lord eifersüchtig zu machen, Sophias Liebe zu Tom durch die Lügenerzählung, Tom sei gestorben, worauf Sophia in Ohnmacht fällt, gibt Lord Fellamar den Rat, Sophia einfach zu vergewaltigen und sie so zur Heirat zu zwingen. Vor diesem Schicksal wird die Heldin in letzter Minute durch ihren Vater gerettet, der, von Mrs. Fitzpatrick über Sophias Aufenthalt verständigt, kommt, um sich seine Tochter zurückzuholen. So finden wir Sophia wieder in den Händen ihres Vaters, der sie einsperrt, um sie Blifil, der mit Allworthy nach London kommt, zu übergeben. Sophia wird nun zum Zankapfel zwischen Western und Tante Western, die im Einverständnis mit Lady Bellaston sie dem Lord Fellamar geben will, während Western auf dem Gutsnachbarn besteht. Tom hatte sich inzwischen durch eine recht ungeschickte Gegenintrige auf den Rat seines Freundes Nightingale hin der unbequemen Liebschaft mit der Lady entledigt; er hatte ihr schriftlich einen Heiratsantrag gemacht. Seinen Zweck erreichte er zwar damit, aber eine schwere Komplikation beschwört er dadurch herauf: der Brief wird Sophia in die Hände gespielt, die nun wirklich nicht mehr an die Aufrichtigkeit Toms glauben kann. Außerdem ist Lady Bellaston furchtbar in ihrer Rache: 163

sie redet Lord Fellamar den Plan ein, Tom, den sie ihm als einen gemeinen, verwegenen Vagabunden hinstellt, der ihm täglich Sophia entführen könne, zum Dienst auf ein Kriegsschiff zu pressen. Das wird aber durch Fitzpatrick verhindert, der den Aufenthalt seiner Frau in London erfahren hat und vor ihrer Tür Tom trifft, und ihn in dem Glauben, dieser habe ihn mit seiner Frau betrogen, überfällt. Tom zieht blank und verwundet ihn schwer. In dem Augenblick kommt die Bande, die Tom pressen sollte, hinzu und verhaftet ihn als Totschläger. Im Gefängnis bricht nun die Fülle des Unglücks über Tom herein. An dieser Stelle (Buch XVIII, 1. Kap.) macht der Autor selbst die Bemerkung, daß er, wenn er ein Tragiker wäre, die Geschichte jetzt mit einem oder zwei Morden und ein paar moralischen Sentenzen als Tragödie schließen könnte. Aber das XVIII. Buch ist ein einziges großes, Schlag auf Schlag folgendes Denouement. Alle Intrigen werden zuschanden, Lord Fellamar und Fitzpatrick, beide im Grunde anständige Männer, sehen ihr Unrecht gegen Tom ein und helfen ihm aus dem Gefängnis; die unermüdliche Tätigkeit der Mrs. Miller und ihres Schwiegersohnes entlarvt die beiden Gauner Blifil und Dowling, Mrs. Waters enthüllt das Geheimnis von Toms Geburt, Mr. Western geht begeistert auf Toms Seite über und alles strebt dem happy end zu, nur noch einmal aufgehalten durch Sophia. Am Ende zeigt uns der Dichter noch das Schlußtäbleau aller beteiligten Personen beim Festmahl im Hause der guten Dame Miller, und ganz wie in der Komödie sitzen neben Tom und Sophia noch zwei strahlende junge Paare inmitten der glücklichen Versammlung. Die Guten bekommen ihren Lohn, die Bösen ihre — allerdings sehr milde — Strafe. Dieser „letzte Akt" zeigt also eine ganz außerordentlich sinnreiche dramatische Konstruktion, die Anlage und der Ablauf der vielen Intrigen, meist in dialogisch äußerst belebten Szenen, könnte fast das Muster der Anlage eines frühgeorgischen Lustspiels sein. Bis ins einzelne hinein sind die Parallelen bei Knüpfung und Lösung der Intrigen zu ziehen. So blickt der Maskenball als Gelegenheit, unerkannt Bekanntschaften zu machen und Intrigen einzufädeln, auf eine lange Tradition zurück. Romeo sucht sich maskiert auf dem Fest der Capulets den Anblick der angebeteten Rosalinde zu verschaffen. Auch in Congreves Incognita, die in jeder Beziehung stark innerhalb der Tradition der Renaissancekomödie steht, machen die beiden Freunde Aurelian und Hippolito ihre folgenschweren Bekanntschaften auf einem Maskenball. — Die Intrige der Entlarvung Sophias durch die Lügen der Lady Bellaston hat ihre Parallele z. B. in „As You Like It", wo Rosalinde in Ohnmacht fällt, als Oliver ihr das mit Orlandos Blut benetzte Tuch zeigt. Weitere Beziehungen sind oben schon bei der Besprechung der Charaktere genannt worden. Für das Motiv der letzten Spannung, wie auch für das des Schlußtableaus ist die Zahl der Beispiele aus der Komödie Legion. Auch weitere Beispiele aus Komödien für andere Züge dieser 154

Handlung ließen sich noch in großer Zahl anbringen; es kommt darauf aber nicht mehr an, nachdem die Analyse den dramatischen Bau dieser Handlungsgruppe gezeigt hat. — Bemerkt sei endlich nur noch, daß die Zahl der eigentlichen „Szenen", und zwar gerade dialogisch ausgeführter Szenen in keinem Abschnitt so groß ist wie hier. Wie die eben behandelten Handlungsgruppen den Akten einer Komödie entsprechen, so kann man viele in sich gerundete E i n z e l h a n d l u n g e n durchaus mit d r a m a t i s c h e n S z e n e n vergleichen. Unter derartigen Einzelhandlungen, die hier mit Szenen verglichen werden sollen, sind hier nur solche „Handlungen" zu verstehen, die aus dem Gegensatz zweier widerstreitender Energien entspringen, zunächst einmal gleichgültig, ob dabei gesprochen wird oder nicht. Wenn also z. B. Parson Adams im Schweinestall seines Amtsbruders Trulliber ausrutscht und sein geistliches Gewand mit Jauche besudelt, so ist dieses Geschehnis ein komisches, aber noch keine Szene, so lebendig der Dichter es auch dargestellt hat. Dagegen ist jener unsterbliche Kampf zwischen Partridge und seiner Xanthippe mit allem, was dazu gehört, wie aufgerissenem Schnürleib, zerkratztem Gesicht, Tränen und Ohnmachtsanfall und dem Gekeife der zu Hilfe geeilten Weiber, eine wenn auch farcenhafte Szene, denn was da geschieht, ergibt sich aus dem Streit der Energien, die hier zusammenplatzen. Farcenhafte Prügelszenen dieser Art führt uns Möllere auf seiner Bühne immer wieder vor, und auch in der Restaurationskomödie fehlt die Prügelei als szenisches Element nicht (Farquhar „(konstant Couple" II., 5). Aber die komödienmäßige Hauptszene im eigentlichen Sinne ist doch nur die in die Worte eines zugespitzten, fein durchgeführten Dialogs gekleidete Streitszene, die aus der Spannung und Entladung der gegeneinander stehenden Energien über sich hinausweist und der Handlung als Ganzem Antrieb gibt. Diese Art Szene ist grundsätzlich in der Tragödie ebenso gut möglich wie in der Komödie; nur endet die tragische Szene mit einer Katastrophe (z. B. der Streit der Königinnen in Schillers „Maria Stuart"), während die komische Szene mit einer unerwarteten Pointe, einem Witz oder einem unvorhergesehenen Ereignis endet, das den ganzen Streit in Fröhlichkeit auflöst. Zwischen diesen beiden Arten von Szenen, der farcenhaft-mimischen und der eigentlichen Streitszene der höheren Komödie, steht das lustige Streitintermezzo, das mehr oder weniger in 6ich geschlossen ist, für die Handlung selbst geringere Bedeutung hat und nur Gelegenheit zu komischen oder witzigen Effekten gibt, die höchstens vielleicht die Handlung aus einer burlesken Perspektive beleuchten sollen. Hierher gehören die Clownszenen Shakespeares mit ihrem Unsinn und Tiefsinn, hierher die Disputationen der verrückten Pädagogen Thwackum und Square. Natürlich gibt es zwischen den hier isoliert festgestellten Typen auch Übergänge. An Szenen aller dieser Arten ist der T. J. reich, und einige unter ihnen sollen nunmehr auf ihre Verwandtschaft mit dem Drama untersucht werden. 165

An den zuerst genannten mimisch-farcenhaften Szenen ist im Tom Jones kein Mangel. Es wird, besonders im mittleren Teil der Geschichte, viel geprügelt, und zwar um so öfter, je niedriger die sozialen Schichten sind, in denen die Handlung sich bewegt, z. B. in der Eheszene zwischen Partridge und seiner Frau und der Prügelei zwischen Molly und ihren Freundinnen. Wenn diese Szenen auch in der Darstellung episch sind, so spürt man doch die eigentlich dramatische Bewegtheit dieser Szenen über die rein gegenständliche Bewegtheit hinaus, mehr gefühlsmäßig als verstandesmäßig, weniger in den Elementen der Schilderung als in der Atmosphäre von Zorn, physischem Schmerz und burlesker Komik, die über der ganzen Szene liegt. Diese Atmosphäre ist dieselbe, die in den Prügelszenen der Moliereschen Farcen herrscht, es ist die der menschlichen Gegensätzlichkeiten: Neid, Haß, Eifersucht, die hier durch die Niedrigkeit der Beteiligten in ein burleskes, ja groteskes Licht gesetzt wird, die aber den Leser schaudernd spüren läßt, daß die gleiche Atmosphäre auch, ins Tragische gewendet, über der Eifersucht eines Othello oder dem Streite der Montague und Capulet liegen kann, wenn sie in eine höhere menschliche Schicht gehoben wird. Die grausig ironischen Anspielungen auf derartige Tragödien, die Fielding bei solchen Gelegenheiten liebt, tragen stark dazu bei, diese irrationale Wirkung der dramatischen Spannung zu erhöhen. Zur zweiten Gruppe, den komischen Streitintermezzi, die in der Mitte zwischen der rein mimisch-burlesken Gruppe und der höheren Streitszene stehen, gibt es auch wieder Übergänge, z. B. burleske Prügelszenen, die von einer dialogisierten Streit6zene ausgehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Streit Toni6 mit dem Fähnrich Northerton (VH., 12). Die Streitatmosphäre wird bereits geschaffen mit Toms Bemerkung über Northertons Unwissenheit, nachdem N. ihn wegen seiner ernsthaften Auffassung der Religion gehänselt hatte. Tom sagt ihm nämlich: „it is possible for a man to know something without having been at school, as it is to have been at school and to know nothing". Northerton weiß darauf nichts zu entgegnen und wird von dem Leutnant ausgelacht. Aber er rächt sich gleich bei der nächsten Gelegenheit, als Tom eine Gesundheit auf seine Liebste ausbringen 6oll u n d Sophia m i t Namen nennt, indem er schandbare Dinge von ihr behauptet. Nun folgt Schlag auf Schlag der Wortwechsel, N. nimmt seine Beleidigung nicht zurück, Tom nennt ihn „impudent rascal", u n d sofort wirft N. ihm eine volle Flasche an den Kopf, worauf Tom ohnmächtig zusammensinkt. Hier sind viele Elemente der dramatischen Szenengestaltung zusammen: die gereizte Stimmung gleich zu Anfang, ein Wort gibt das andere, eine Bemerkimg ü b e r t r u m p f t die andere, der friedfertige Tom antwortet schließlich selbst spottend-überlegen, als aber dann die Beleidigung seiner Sophia folgt, verliert er diese Überlegenheit u n d nennt seinen Gegner im vollen Bewußtsein, was solch ein Wort unter „Kavalieren" bedeutet, einen Schurken. Auch hier liegt wieder die grausig ironische Stimmung 166

über der Szene, eine Stimmung von der Art des Don Quichote : Tom, dem nichts so heilig ist wie seine Liebe, profaniert sie hier in tragikomischer Weise, indem er sie in die Lage bringt, von solchen Gesellen wie Northerton beschmutzt zu werden. Wie Don Quichote behandelt er hier allerübelsten Auswurf der Gesellschaft als Ritter, als seinesgleichen (und wird selbst durch den Flaschenwurf nicht kuriert, selbst danach will er noch um jeden Preis mit N. fechten, nachdem der Leutnant seine religiösen Bedenken beseitigt hat). — Die Parallele solcher Szene von der Streitatmosphäre bis zum offenem Kampf ist im Drama leicht zu ziehen. Ins Tragische gewendet finden wir sie zu Anfang von Romeo und Julia, wo die dramatische Spannung sich mit dem Dialog: „Bohrt Ihr uns einen Esel, mein Herr?" — „Nein, mein Herr, aber wir bohren einen Esel, mein Herr!", in einer beklemmenden Stimmung auf den Leser legt und so die Atmosphäre schafft, in der die Degen aus der Scheide fliegen und die das ganze kommende tragische Geschehen vorbereitet. Nur gibt hier im Tom Jones der Flaschenwurf der Sache einen burlesken Ausgang, statt eines tragischen. Reine Beispiele dieses Typus des komischen Streitintermezzos sind die verschiedentlich wiederholten und abgewandelten Szenen zwischen den beiden Pädagogen Thwackum und Square. Ganz ähnlich liegt die Sache bei den Streitszenen zwischen Western und seiner Schwester, soweit sie sich um ihre Politik drehen. An irgendeiner Stelle fällt das Stichwort für die politische Marotte, und wieder folgt Schlag auf Schlag derselbe oder ein ganz ähnlicher Dialog, dem dann irgendeine besonders groteske Wendung, eine besonders grobe Beleidigung Westerns die Krone aufsetzt, worauf dann regelmäßig Mrs. W. anspannen läßt, um dann ebenso regelmäßig, den einen Fuß bereits auf dem Trittbrett der Kutsche, sich wieder mit ihrem Bruder zu versöhnen. Die Farcenhaftigkeit solcher Streitszenen liegt auf der Hand. Sie laufen wie in allen Farcen, nach gleichen Gesetzen ab, die in den burlesk verzerrten Charaktertypen der beteiligten Personen begründet sind. Wird das Stichwort für die betreffende Marotte gegeben, so schnappt eine Feder ein, und das Uhrwerk läuft ab. Molière ist in seinen farcenhaften Stücken der Meister dieser Darstellungsweise. Auch dort herrscht diese Art des Streitgespräches in den Stücken vor, wo solche Personen die Handlung tragen, die an irgendeiner fixen Idee leiden, z. B. die Femmes Savantes, die Ärzte in verschiedenen Komödien, die hohlköpfigen Marquis, die sich ohne jede tiefere Kenntnis um literarische Fragen zanken. Ich möchte behaupten, daß Fielding hier wie auch sonst öfter bewußt von Molière gelernt hat. Beispiele für seine direkte Abhängigkeit von Molière sind in seinen Komödien häufig zu finden29. Die größte Sorgfalt hat Fielding auf die Ausarbeitung der großen, findie Handlung bedeutsamen Komödienszenen gelegt. Auch sie sind, wenn sie auch im einzelnen hier und da abweichen, auf die Grundform der 39

Vgl. Lindner a. a. 0 . S. 11 u. öfter. 157

Streitszene zurückzuführen, denn Kampf ist im Drama der Vater aller Dinge. Wir haben auch hier Misch- und Zwischenformen. Die Streitszene Tom gegen Thwackum und Blifil im Wäldchen (V., 11), wohin Tom sich mit Molly zurückgezogen hat, ist mehr als nur burlesk, obwohl sie dem Bau nach den eben behandelten Streitszenen gleicht und gar am Ende in eine der großartigsten Prügeleien ausgeht, die in dieser Geschichte vorkommen, und obwohl sie durch Westerns Dazwischentreten in äußerst komischer Weise aufgelöst wird. Hinter der vorgeführten burlesken Handlung eröffnet sich ein Hintergrund: nämlich Blifils finstere Absicht, Tom unmöglich zu machen, als er Thwackums Aufmerksamkeit auf das im Busch verschwindende Paar lenkt. Ein weiterer Hintergrund sind die Folgen, die für Tom au6 dieser Prügelei entstehen, die Verbannung aus dem Hause. Diese Hintergründe machen die ganze Szene schicksalsschwer im Verhältnis zu anderen Streit- oder Prügelszenen, sie ist aus dem Bereiche rein komischer Stilisierung in den der wichtigsten Bausteine der Gesamthandlung selbst gehoben. Doch im allgemeinen sind die wesentlichsten dieser Szenen diejenigen, die den Fortschritt der Handlung am meisten fördern, am weitesten von der farcenhaften und handgreiflichen Art der bisher beschriebenen Szenen entfernt. Fielding legt seine ganze, an Molière und Congreve geformte Kunst der brillanten Dialogführung in solche Szenen hinein. Musterszenen dieser Art sind die zwischen Sophia und der Tante bei verschiedenen Gelegenheiten, besonders aber die zwischen Sophia und Tom bei ihrem zufälligen Zusammentreffen in Lady Bellastons Wohnung (XIII., 11), die darauf folgende Szene Sophia-Lady Bellaston und die Schlußszene zwischen Tom und Sophia. Es ist kein Zufall, daß in den meisten dieser Szenen Sophia eine Rolle spielt. Sie ist unter den Personen des Romans diejenige, die auf dem höchsten menschlichen Niveau steht, und mag auch ihre unschuldige Art der Hinterhältigkeit einer Lady Bellaston unterliegen, die moralische Siegerin ist Sophia doch, und ihre bloße Gegenwart wirkt veredelnd auf das Gespräch ein, an dem sie Teil hat, und die komischen Stilmittel werden auf das freie, witzig-elegante Niveau der zeitlosen, heiteren Komödie gehoben. Es wäre natürlich reizvoll, alle diese hier erwähnten Szenen zu analysieren, wir müssen uns aber auf eine Betrachtung einiger weniger beschränken. Das Zusammentreffen von Sophia und Tom in Lady Bellastons Wohnung und die darauf folgende Unterhaltung der beiden Damen bildet eine in sich geschlossene Szenengruppe, fast einen kleinen Akt für sich, voll lebhaftesten Dialogs, voll mimischer Bewegung und geladen mit größter dramatischer Spannung. Schon der Ausgangspunkt gibt ein Moment peinlicher und gleichzeitig froher Überraschung und Aufregung. Tom, zu einem Rendez-vous in Lady Bellastons Wohnung bestellt, sieht sich plötzlich Sophia gegenüber, die früher als erwartet aus dem Theater zurückgekehrt ist. Sie ahnt nicht, daß jemand im Zimmer ist, und sieht 158

Tom erst im Spiegel. Glücklicherweise hat der Dichter einige Bücher vorher Tom das Taschenbuch Sophias finden lassen, so daß dieser nun nicht um einen Grund dieses unvermuteten Besuches verlegen ist. Nachdem er das Buch abgegeben hat, macht er sofort seinen Angriff, wirft sich auf die Knie und bittet sie, ihm zu verzeihen. Er denkt dabei nur an das Abenteuer mit Mrs. Waters in Upton, weiß aber nicht, daß sie ihm das Geklatsche Partridges, f ü r das sie ihn verantwortlich glaubt, viel mehr übelnimmt. Sophia bleibt kalt und überlegen, überläßt ihn seiner Qual und weckt sein schlechtes Gewissen wegen der Affäre mit Lady Bellaston durch den doppeldeutigen Ausruf: „Can everything noble and everything base lodge in the same bosom?" 3 0 . Sie weiß aber von Toms neuer Untreue nichts und bringt nun ihre Beschwerde wegen des Klatsches vor. Tom kann ihr aufatmend seine Unschuld beweisen. Nun finden sich die Liebenden; Tom macht eine Art von Heiratsantrag, sie schwächt wieder ab mit dem Hinweis auf die Pflicht ihrem Vater gegenüber. Tränen, Zärtlichkeiten folgen, dann eine Erklärung Toms, er würde sich lieber ganz zurückziehen als Schmerz bereiten, neue Tränen, neue Zärtlichkeiten, und dann wieder eine Peripetie: Sophias Frage „How he came into that room?". Tom fühlt den Boden unter sich wanken, und wird im letzten Augenblick gerettet — durch den Eintritt Lady Bellastons. Die Lady, geistesgegenwärtig wie immer, ist gleich Herrin der Lage. Während Sophia ihr erzählt, warum sie so f r ü h aus dem Theater zurückgekehrt ist, sammelt sie ihre Lebensgeister und entschuldigt sich, sie in ihrem Geschäft mit dem jungen Herrn gestört zu haben. Sophia erklärt den Anlaß von Toms Besuch mit dem Taschenbuch, was Lady B. f ü r eine geschickte Ausrede hält. Sie bringt nun durch ihre Fragen die beiden in Verlegenheit. Tom aber, froh, d a ß die Lady ihn nicht kennen will, weist sie mit einer feinen Anspielung in ihre Schranken, er habe Miss Westerns Aufenthalt zufällig von einer Dame auf einer Maskerade erfahren, und benutzt den Augenblick der Verwirrung, um sich zurückzuziehen, nicht ohne sich als Finderlohn die Erlaubnis zukünftiger Besuche gesichert zu haben. Sofort an diese Szene schließt sich das Gespräch der beiden Damen über Tom. Beide sind sich klar, eine Gegnerin vor sich zu haben, und reden nun um einander herum in einem witzigen Geplänkel, das ihre wahre Stimmung der Feindseligkeit verschleiert. Sophia zeigt, daß sie in der Umgebung der Lady gut lügen gelernt hat, sie behauptet, den Herrn nicht zu kennen. Die Lady aber f ü h r t das Gespräch auf Tom, stellt Sophia eine Falle, indem sie sich entschuldigt f ü r ihren Verdacht, der Herr, der eben das Taschenbuch gebracht habe, sei Tom Jones selbst gewesen, worauf Sophia nicht umhin kann zu erröten. Durch fortgesetzte Anspielungen bringt die Lady Sophia dann schließlich so weit, d a ß sie 30 Vgl. Misanthrope IV. 2. — O juste ciel, faut-il qu'on joigne ä tant de gräces. lies vices odieux des fimes les plus basses?

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aus der Rolle fällt und halb verrät, daß der Herr doch Mr. Jones war. Als daraufhin die Lady noch einmal auf Tom anspielt, löst sich Sophia mit großer Eleganz aus dem Streit: „Then, upon my honour, Mr. Jones is as entirely indifferent to me as the gentleman who just left us." Lady Bellaston pariert mit derselben Eleganz: „Upon my honour, I believe it!" Mit dieser Wendung, Spitze gegen Spitze in der Form der Rede wie in der Doppelsinnigkeit des Inhalts, schließt diese Szene, deren Linienführung ein Musterbeispiel für die dramatische Szenenkomposition Fieldings ist. Die ganze Eleganz der Hofkultur der Restaurationskomödie zeigt sich in der Führung des Dialogs mit seinen plötzlichen Wendungen und geheimnisvollen Anspielungen, die den eingeweihten Leser mit Tom und der Lady um die Entdeckung ihrer Heimlichkeit zittern lassen. Das schlechte Gewissen der beiden steht wie ein Resonanzboden hinter dem Dialog und schwingt in einem ganz anderen Tone als die gesprochenen Worte mit. Und die Energien, die für die ganze weitere Entwicklung von dieser Szenengruppe ausgehen, sind bedeutend. Tom wie Sophia müssen im weiteren Verlauf der Geschichte beide spüren, was es heißt, sich eine Intrigantin wie die Lady zum Feinde zu machen. Zu diesem inneren Leben des dramatischen Dialogs kommt noch der ganze äußerlich-komödienhafte Apparat der Überraschungen und der retardierenden Momente. Überraschung spielt eine Hauptrolle vom ersten Moment des Zusammentreffens an, überraschend wird Tom aus peinlicher Lage von Lady B. gerettet, aber nur, um in eine neue, ebenso peinliche Lage hineinzukommen. Eine unmittelbare Parallele zu dieser Stelle ist aus dem Drama zwar nicht zu finden, aber der Typus einer dramatischen Szene liegt hier zweifellos vor mit ihrem Streitgespräch, mit den plötzlichen Wendungen, den Überraschungen, Doppelsinnigkeiten und Anspielungen auf einen unausgesprochenen Hintergrund. Der Dialog ist im Ganzen so fein ausgearbeitet, daß man unter Weglassung des nicht dialogischen Teiles, der nur wie Bühnenanweisungen wirkt, diese beiden Kapitel wirkungsvoll auf der Bühne aufführen könnte. Nachdem bisher der Gegenstand der Betrachtimg die Führung der Handlung im ganzen und im einzelnen gewesen ist, sollen jetzt die a l l g e m e i n e n K o m p o s i t i o n s e l e m e n t e untersucht werden, die der Autor bei seiner Handjungsführung anwendet. Unter KompositionserZey-Romanwerk im eigentlichen Sinn nur als Fremdkörper auf und fehlen deshalb bei dem auf das Ganze der Erscheinung sehenden Bagehot mit Recht. 16 Dies Hin und Her bringt es mit sich, daß gerade in der für Bagehot nicht unumgänglich wichtigen, in Wirklichkeit aber ausschlaggebenden Frage des Verhältnisses von Romanwelt und wirklicher Welt eine von Bagehot abweichende Ansicht zu vertreten sein wird; vgl. unten S. 236—237.

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bis zu den Schriften, deren Erklärung man sucht, sicherer in der Tiefe als durch einfache Anschauung des in sich ruhenden reifen Werkes selbst. Ein großer Teil der Arbeit am fFaver/ey-Romanwerk wird demgemäß durch eine natürlich immer schon auf die späteren Romane selbst auszurichtende, stark abstrahierende Analyse der Dichtungen und Fragmente der Früh- und ersten Reifezeit Scotts zu tun sein. Im Schaffen, des jungen Scott laufen zwei deutlich geschiedene Entwicklungsreihen nebeneinander her, zwischen denen für ziemlich lange Zeit jeder auch nur scheinbare Ausgleich unmöglich ist. Dies Nebeneinander der Werke entsteht aus dem Nebeneinander zweier einander widersprechenden Welthaltungen, die eine echte Einheitlichkeit des Menschen und des Werkes noch nicht aufkommen lassen 1 6 . Der ersten Entwicklungslinie Scotts gehören an seine Beziehungen zur englischen „Vorromantik" und zum deutschen Sturm und Drang, dann das Fragment Thomas the Rhymer (um 1800) 1 7 , daneben und danach die Bemühungen um die schottischen Balladen, schließlich als Gipfel das Lay of the Last Minstrel (1805). Die Aufgabe dieser Dichtungen, wie sie sich selbst sehen, ist zunächst: unter den unvollkommenen Menschen das Licht gewesener Vollkommenheiten am Leuchten zu erhalten; dann, sicher stärker als es Scott bewüßt war von der Erscheinung auf den Sinn zurückgehend: in die Unvollkommenheit der Menschen ständig jene Fülle der Vollkommenheit hineinzutragen, deren Verwirklichung den Menschen nur in einzelnen Fällen, eben denen, die dann Gegenstand der Dichtung werden, gelingt; schließlich, ganz auf den Sinn gestellt: als Poesie der Ort der in der Unvollkommenheit anwesenden Vollkommenheit zu sein 1 8 . Dabei wird die Spannung zwischen dem Menschen und dem Vollkommenen von Thomas the Rhymer bis zum Lay of the Last Minstrel als immer größer empfunden. In Thomas the Rhymer war noch innerhalb fast eines ganzen Standes, bei den Rittern, ein Zusammenfallen vorstellbar. Im Lay of the Last Minstrel dagegen kann der alte, vom Leben geschlagene Sänger nur noch das Sprachrohr sein, durch das die Poesie 16 In einer Besprechung von Kellers Scott-Rede (vgl. Anm. 5) im Beiblatt zur Anglia, B d . X L V I , S. 268—274, in der ich die folgenden Untersuchungen schon kurz vorskiz/iert habe, habe ich die beiden Haltungen und Entwicklungslinien des .Dichters einander vorläufig als Pathos und Ironie gegenüber gestellt, da die eine wesentlich als Pathos in Erscheinung tritt, und die andere schließlich in der voll entwickelten romantischen Ironie Marmions gipfelt. Diese vereinfachte Gegenüberstellung genügt aber nicht, da j e d e der beiden Seiten ihre eigene Möglichkeit von Pathos und Ironie in sich trägt. 1 7 Abgedruckt im Anhang zum General Prejace to Waverley, Waverley S. X X X V I I — X L I I I (die Romane werden stets nach Längs Border Edition angeführt). Daß Scott auch sonst nicht Erhaltenes, hierher Gehöriges geschrieben hat, zeigt ebenfalls das General Prejace S. X I X . 1 8 Direkter Beleg ist zunächst die Aussage. im Lay of the Last Minstrel S. 31 (Gesang V, Strophe 1—2; die Dichtungen werden nach Robertsons Ausgabe angeführt). Von da aus führt dann tiefer beim gleichen Werk die Erwägung der Rolle des Sängers sowie des Verhältnisses der Rahmenerzählung zu den Gesängen selbst.

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in eine ihr immer halb entfremdete Welt hineinspricht. Aber wenn der Gegensatz derart auch unvergleichlich viel größer geworden ist, 60 handelt es sich doch nicht um ein völliges Auseinandergerissensein. Denn ist auch das tatsächliche Leben des Sängers fern der Poesie und der Vollkommenheit, so doch nicht sein innerstes Sein; er gibt sich j a unter Verzicht auf alles unmittelbare persönliche Glück bis zur Erschöpfung an die Verkündigung der Poesie hin 1 9 , so daß er in ihr ein tieferes, schmerzliches Glück findet und selbst durch sie zur poetischen Gestalt wird; und wenn die Welt auch die Poesie nicht aus eigener K r a f t tragen und bei sich erhalten kann, so ist sie doch willig, sie zu hören und als Kunde von einem Höheren bei sich aufzunehmen. Aus der Spannung zwischen der Welt und der Vollkommenheit, die doch kein völliges Zerrissensein bedeutet, ergibt sich auch die Funktion des Historischen 2 0 , dem man auf allen Stufen der Entwicklung Scotts wird besonders nachspüren müssen, da sich ja seine Romane schließlich als historische Romane vollenden: die Vereinigung zwischen Welt und Vollkommenheit ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, muß aber in die Ferne einer poetisierten Vergangenheit verlegt werden. Der zweiten Entwicklungslinie gehören das Fragment The Lord of Ennerdale (um 1800)21 und die ersten Waverley-Kapitel (um 1 8 0 6 ) ^ an. In ihnen ist keine Rede mehr von einer noch so fernen Vereinbarkeit der Welt und des Vollkommenen; nackt und verloren, ohne jede Möglichkeit, vom Vollkommenen erfüllt zu werden, liegen in ihnen die Welt und das eigene I c h 2 3 da in der Hoffnungslosigkeit ihrer „armen Existenz", um einen aus gleicher Lage ungefähr gleichzeitig gebrauchten Ausdruck Friedrich Schlegels zu übertragen 2 4 . Dementsprechend ist die Funktion des Historischen völlig verwandelt. Schon im Lord of Ennerdale dient es nur dazu, die ewig gleiche Niedrigkeit des Menschen durch mehrere Zeiten hindurch aufzudecken 2 5 . Im Waverley-Anfang hat es dann vollends die Aufgabe, von sich selbst wegzuführen und zum unveränder19 Lay S. 2 : „Cold diffidence, and age's frost, In the full tide of song were l o s t " ; S. 8 : „Here paus'd the h a r p ; and with its swell The Master's fire and courage fell; Dejectedly, and low, he bow'd." 20 E s handelt sich hier nur um die F u n k t i o n des Historischen, dessen Herkunft usw. im augenblicklichen Zusammenhang ohne Bedeutung ist. 2 1 Abgedruckt im Anhang zum General Preface to Waverley, Waverley S. X L V I I — LIII. 2 2 Vgl. Waverley, S. X X — X X I , und The Letters of Sir Walter Scott, Bd. I, London 1932, S. 341—344. 23 Der Waverley-Anfang ist zum guten Teil als Selbstanalyse des Dichters zu verstehen. 2 4 Vgl. die Herausstellung dieses Begriffs bei P. Böckmann, Die romantische Poesie Brentanos und ihre Grundlagen bei Friedrich Schlegel und Tieck, i n : Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1934—1935, S. 56—176. 26 Die Mitte des siebzehnten und das Ende des achtzehnten Jahrhunderts bilden abwechselnd den nur stofflich ausgeführten Hintergrund f ü r das zu beiden Zeiten im Grunde gleichartige Geschehen, auf das es der Erzählung ankommt.

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liehen Menschen hinzuleiten, der der alleinige Gegenstand dieser ersten Kapitel (im Gegensatz zum späteren ganzen Roman) ist — ein interessantes Beispiel übrigens, wie eine geistige Haltung Material, das ihr aus der natürlichen Art oder einer anderen geistigen Haltung ihres Trägers zufließt, bis zur Umkehrung umzugestalten vermag! Waverley i6t ja um gerade sechzig Jahre vor die Zeit der Abfassung zurückverlegt, damit keinerlei Teilnahme an ein allzu fremdes Kostüm oder an die in sich interessanten Gegenwartssitten verloren geht und alle Aufmerksamkeit vielmehr auf die Menschen selbst konzentriert bleibt 2 6 . Dabei möchte es freilich zunächst scheinen, als ob der Mensch, auf den so alles scharfe Licht gesammelt wird, nur Gegenstand der Satire im überkommenen Sinn wäre, was bedeuten würde, daß doch noch eine, wenn auch unendliche Relation zwischen der Welt und der Vollkommenheit besteht. Das wäre richtig, wenn es bei der Satire des Lord of Ennerdale und bei der satirischen Psychologie des Waverley-Anfangs bliebe. Aber in beiden Fragmenten kommt ja die Ironie hinzu. Beide Male scheint sie zunächst rein literarisch zu sein; aber wenn man bedenkt, daß sie sich gegen eben die Literaturformen richtet, in denen Scott selbst gleichzeitig nicht als bloßen Literaturformen, sondern aus der ganzen Existierensweise einer seiner beiden Entwicklungslinien schafft, erkennt man, daß die Ironie hier in Wahrheit jeden Versuch eines Aufschwunges zur Vollkommenheit und zur Poesie eben als nur einen Versuch zum Aufschwung und als einen Flug mit gebrochenen Flügeln erweist, aus dem der Dichter in die ihm allein sichere „arme Existenz" zurückstürzt 2 7 . Innerhalb jeder einzelnen der beiden Entwicklungslinien des jungen Scott ist durch Weiterentwicklung ein eigener Ausgleich und auch eine eigene Entwicklung im Roman denkbar. Für die erste Reihe steht als Haltung am Ende, freilich noch in allerweitester Ferne, die sokratische Ironie und ihre dialektische Ruhe, der große Humor; die zweite Reihe könnte — und wird — von der romantischen Ironie zur Selbsthaltung der „armen Existenz", also zum modernen Humanismus, führen 2 8 . Und da ja die natürliche Voraussetzung für den großen Roman: die Erzählgabe, und die geistige Voraussetzung: das Ich, das bewußt als Ich mit der Welt fertig werden muß oder will, vorhanden sind, weist die erste Vgl. Waverley S. 3—6. E s wäre durchaus verfehlt, die Literaturironie des Lord of Ennerdale und des (FauerZey-Anfangs zusammen mit J a n e Austens Norlhanger Abbey usw. als eine Zeitmode anzusehen; für Scott ergibt sich die Widerlegung aus Obigem, für J a n e Austen genügt ein Verweis auf die neuerdings veröffentlichten Frühwerke Volume the First und Love and Freindship. 2 8 „Sokratische Ironie" und „romantische Ironie" sind hier natürlich durchaus als ständige Möglichkeiten, nicht als einmalige geschichtliche Phänomene gemeint. Sokratische Ironie, gesteigert bis zur „unendlichen absoluten Negation" im Sinn Kierkegaards, findet sich heute beispielsweise im (Taste Land. Umgekehrt erscheint romantische Ironie nach der Romantik, ebenso beispielsweise, beim jungen R i m b a u d und gegenwärtig bei den Surrealisten. — Zur Frage des Verhältnisses von (sokratischer) Ironie und Humor vgl. neuestens V. Jankelevitch, L'Ironie, Paris 1936. M

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Reihe auch schon von fern auf den „älteren" und die zweite auf den „neueren" Roman hin. Diesen Erwägungen entspricht es, wenn Scott ja tatsächlich in seinen beiden Entwicklungslinien wieder und wieder zum Roman drängt und dann alle Ansätze jedesmal wieder aufgibt. Der doppelte, in sich gespannte Verlauf seiner Entwicklung gibt ihm noch nicht die Ruhe zum Roman, auf den ihn seine natürliche Veranlagung ebenso wie das beiden Haltungen gemeinsame Ich-Bewußtsein führen. Das Nebeneinander von Thomas the Rhymer und The Lord of Ennerdale ist für Scotts damalige Lage und für sein damaliges Verhältnis zum Roman überaus bezeichnend. Der Gegensatz zwischen den beiden Haltungen des jungen Scott ist, vorausgesetzt, daß man bis auf den Grund geht, so wesentlich, daß er durch keinerlei Dialektik überwunden werden könnte. E s ist j a auch nicht die eine der beiden Haltungen aus der anderen entstanden oder abgeleitet; sie haben sich vielmehr eben nebeneinander und unabhängig voneinander herausgebildet. Die einzige Lösungsmöglichkeit, die verblieb, war, daß die eine Haltung die andere verdrängte. Das vollzog sich in Marmion (1808), Scotts entwicklungsgeschichtlich wichtigster und aufschlußreichster Dichtung. Scotts eigene Feststellung 2 9 , er habe in Marmion das Lay of the Last Minstrel in verbesserter Form wiederholt, bleibt beim Äußerlichen stehen und ist durchaus nicht einfachhin zutreffend. Wenn der Befund aus dem Werk, im Fall Marmions sogar durch darin enthaltene sehr deutliche Selbstaussagen gestützt, gegen solche nebenherlaufenden oder späteren Äußerungen des Dichters spricht, wird man stets dem B e f u n d aus dem Werk, genügende Vorsicht und Eindeutigkeit vorausgesetzt, den Vorrang geben müssen 3 0 . Marmion ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes als das Lay of the Last Minstrel, das vielmehr in ihm gerade überwunden wird, freilich auch, wie wir sehen werden, im bekannten Doppelsinn des Wortes „aufgehoben" zu sein scheint -r— worin dann vielleicht eine unbeabsichtigte tiefere Richtigkeit der Feststellung Scotts liegt. Die Selbstaussagen zur Entstehung Marmions, die Scott in den Widmungen zu den einzelnen Gesängen, besonders in der ersten, gegeben hat, sind so offen und systematisch, daß die Untersuchung der für Marmion vorauszusetzenden existentiellen Veränderungen gegenüber der Frühzeit des Dichters an sie anschließen kann. Die Widmung zum ersten Gesang beginnt mit der Verherrlichung großer Menschen, ganz entsprechend dem, was der- Minstrel als seine Aufgabe angesehen hatte: die Erinnerung an Nelson, Pitt und Fox, die in der eigenen Zeit des Dichters vollkommener und größer als die Welt sonst gewesen waren, soll durch die Dichtung wachgehalten werden^ 1 . Aber schon sehr bald erweist sich, wenigstens Einleitung zur Erstausgabe (Robertson S. 171). Dieser für jeden, der Scott kennt, selbstverständliche methodische Grundsatz begründet sich aus der ganzen Arbeitsweise des Dichters. 3 1 S. 89—92. Man beachte besonders die Parallelität von Lay, Gesang V, Strophe 1—2, Z. 17—26, mit Marmion S. 89, Z. 53 bis S. 90, Z. 16, und S. 92, Z. 1 - 4 . 28

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für die Person des Dichters, diese „Poesie", diese scheinbare Möglichkeit einer als Dichtung unter den Menschen anwesenden Vollkommenheit, als eine Illusion der aus ihren Grenzen herauswildernden Phantasie 3 2 . So ist also endlich die Spannung beseitigt, die Leben und Werk des Dichters bis dahin bestimmte: das Bewußtsein der „armen Existenz" entlarvt hier nicht nur wie früher die eigenen Aufschwünge, sondern die Haltung der „Poesie" überhaupt als eine Selbsttäuschung und zieht so das, was früher echte Teilhabe am Höheren zu sein schien, ganz und gar in den Kreis des Abgefallenen hinein. Doch bleibt der Dichter nicht dabei stehen; j a , vielleicht ist die Überwindung der früheren Spannung gerade deshalb hier, und erst hier möglich, weil inzwischen durch die Zerstörung der ursprünglichen Poesie hindurch irgendwie ein Weg zu neuer Poesie sichtbar geworden ist. Scott hat es überaus geschickt nachgezeichnet, wie gerade aus der Verlorenheit des Dichters, der in spöttischem Gegensatz zum ersteil täuschenden und enttäuschten Aufschwung seines Pathos auf das ganz sinnlose, unverantwortliche Spiel verwiesen ist, eine neue Dichtung erwächst, die freilich ihres Ursprungs wegen trotz ihrer neuen, nun eigenkräftigen Vollkommenheit das ständige Bewußtsein, nur Spiel und eigener Aufschwung zu sein, behalten muß 3 3 . So durchaus anders die Poesie Marmions damit ist als die des Lay of the Last Minstrel, so steht und fällt sie doch mit dem Anspruch, irgendwie die ursprüngliche Poesie in sich enthalten zu können, und mit dem Poetischen, des Lay wird auch die anfängliche Funktion des Historischen in Mar mion „aufgehoben": bereits die dritte Form* in der sich das fest zu Scott dazugehörige und mit ihm wandelbare Geschichtliche wiederfindet. Das ist, wie sich schon aus dem vorläufigen doppelten „irgendwie" ergibt, noch nicht alles, was aus den Widmungen Marmions abgelesen und erschlossen werden muß, die eigentliche Dichtung selbst setzt aber nicht mehr voraus. Das Wissen um die „arme Existenz" als das, was die ursprüngliche Poesie zerstört und gleichzeitig die neue Poesie entwickelt hat, ist in Marmion so stark, daß das Werk, so poetisch wie nur wenig andere, zugleich so sehr Gegenstand direkter Ironie i6t wie überhaupt S. 92: Stay yet, illusion, stay a while, My wilder'd fancy still beguile! S. 92: Prompt on unequal tasks to run, Thus Nature disciplines her son: Meeter, she says, for me to stray, And waste the solitary day, In plucking from yon fen the reed, And watch it floating down the Tweed; Or idly list the shrilling lay, With which the milkmaid cheers her way, Marking its cadence rise and fall, As from the field, beneath her pail, She trips it down the uneven dale: Meeter for me, by yonder cairn, The ancient shepherd's tale to learn Though oft he stop in rustic fear, Lest his old legends tire the ear Of one, who, in his simple mind, May boast of book-learn'd taste refin'd. But thou, my friend, can'st fitly tell (For few have read romance so well,) How still the legendary lay O'er poet's bosom holds its sway . . . So, auf dem Umweg über das Spiel, kehrt al6o der Dichter aus neuem Geist zur alten Dichtung zurück (man beachte gegen Ende die Vokabel J a y " , die sogar durch das Wort den Anschluß an die frühere Poesie herstellt!), wie es dann im Rest der Widmung noch eingehender ausgeführt wird. 32

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keines sonst. Die Ironie, die am Anfang und am Ende 3 4 am deutlichsten erscheint, rahmt die Poesie und die poetische Historie ganz und gar ein und erfaßt sie damit so, daß das Ganze sich als ein „morning dream 3 5 " offenbart, als etwas also, das schöner als das Wirkliche und doch unwirklich ist und das sich auflöst im gleichen Zuge, wie es schön ist. Es ist aber nötig, die unterbrochene Interpretation der Marmion-Wiimungen wieder aufzunehmen. Sie hat bisher nur den tatsächlichen Entwicklungsgang, sein innerstes Wesen jedoch noch nicht geklärt. Die beobachtete Möglichkeit zu einer neuen Poesie kann ja nicht einfachhin aus der „armen Existenz" hervorgegangen sein, der allein wohl das Zerstören, nicht aber ein Neuaufbauen solcher Art möglich sein sollte. Man muß also noch eine weitere, unsichtbar vollzogene Veränderung der Existierensweise Scotts annehmen, außer der, daß die „arme Existenz" jede Möglichkeit einer Verbindung des Menschen und des Vollkommenen, wie sie früher bestand oder zu bestehen schien, zerstört hat. Die bisher hauptsächlich zugrunde gelegte Widmung zum ersten Gesang läßt darauf freilich nur schließen, aber die zum zweiten bringt eine ungemein wichtige Stelle, von der aus das Gesuchte sich erhellen läßt: But chief 'twere sweet to think such life (Though but escape from fortune's strife) Something most matchless, good and wise, A great and grateful sacrifice; And deem each hour to musing given, A step upon the road to heaven 36 . Was für ein Leben Scott hier meint, hat er vorher genauer ausgeführt, aber diese Zeilen ergeben es selbst mindestens ebenso deutlich. Das Selbstbewußtsein des Dichters, das früher so mühsam rang — nur weil es sich selber kein Genüge finden konnte, empfand es sich als „arme Existenz" —, ist hier zur Ruhe gekommen, indem es nicht mehr in vergeblichen Aufschwüngen zum wirklichen ganzen Vollkommenen aufzusteigen versucht, sondern eben in Selbstbewußtsein gemäß dem gefährlichen Doppelsinn, den das Deutsche dem Wort gibt, aus dem in ihm verbliebenen Abbild des Vollkommenen seine eigene ganze Vollkommenheit aufrichtet, die seine Leistung vorm Angesicht des wirklichen ganzen Vollkommenen sein soll und mit der es dereinst ins wirkliche ganze Vollkommene eingehen will 37 . S. 169—170 (Gesang VI, Strophe 38). S. 112. Ebendort wird Marmion auch als ein „desultory song" bezeichnet. * * S. 103. 3 7 S. 124: So still we glide down to the sea Of fathomless eternity. — Es mag scheinen, als ob hier aus zwei verhältnismäßig geringfügigen Stellen außerordentlich weite Folgerungen gezogen würden. Bei der Art des Materials, auf das sich die Untersuchung gründen muß, ist es aber unvermeidbar, daß man offensichtlich sehr ernst gemeinte Äußerungen Scotts auch wirklich ernst nimmt, so klein an Umfang sie sein mögen. Das ist eine ganz andere Frage als bei den früher erwähnten, schnell hingeschriebenen, sachlich als ganz unrichtig erweisbaren Sätzen, über die man 34

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Diese grundlegend verändernde Weiterentwicklung der „armen Existenz" zieht die schon beobachtete, nun kaum noch weiterer Erklärung bedürftige Veränderung der Dichtung nach sich. Den Anfängen gegenüber hat im Verhältnis von Mensch und Dichtung geradezu ein Austauschen der Plätze stattgefunden. Dort war die Dichtung das Größere, das sich zum Menschen herabließ; hier ist die Dichtung und mit ihr die erneuerte „Poesie" das Werk und damit eine Bewährung der eigenen Vollkommenheit des Menschen. Anfangs, im gerade deshalb noch nicht als Vollendung anzusprechenden Marmion, tritt, wie zu erwarten, die Ironie besonders deutlich auf, da sie ja das sich nur allmählich selbstverständlich werdende Bewußtsein der Eigenmächtigkeit ist. A m völligsten bewährt sich die neue Dichtung aber erst, wenn sich die (natürlich bis zuletzt anwesende) Ironie ganz ins Verborgene zurückziehen, und wenn das Wissen um die Abgefallenheit, über der sich der neue Mensch aufbaut, im Werk restlos neutralisiert werden kann. Die Dichtung, die ganz und gar diesen letzten aus den Marmion-Widmungen abzuleitenden Erwartungen entspricht, ist die Lady of the Lake ( 1 8 1 0 ) 3 8 . Zugleich bedeutet sie aber auch einen erneuten Schritt vorwärts, denn in ihr ist Scott nun endlich fast unmittelbar an die wirkliche Möglichkeit zum Roman herangekommen. Die innere Spannung, die ihn früher nicht über Ansätze zum Roman hatte hinauskommen lassen, war ja inzwischen überwunden und die neu gewonnene Einheitlichkeit hatte sich schon in Marmion als in einem Prozeß fortschreitender Festigung befindlich erwiesen. So kommt es, daß die Lady of the Lake im Gegensatz zum Lay of the Last Minstrel und zu Marmion tatsächlich a l l e n f a l l s gegebenenfalls hinweggehen darf. Die obenstehenden Folgerungen aus den zwei zitierten Marmion-Stellen enthalten übrigens, wie man sehen wird, kein Wort, das sich nicht direkt aus diesen ergibt; nur das e i n e Verbindungsglied „aus dem in ihm verbliebenen Abbild des Vollkommenen" ist eingeschoben, da Scott nicht sagt, wie denn eigentlich das von ihm postulierte Menschentum möglich ist, die Interpretation aber auch auf diese Frage antworten muß. Wenn die Interpretation größer als der Text scheint, so nur deshalb, weil sie den Text wirklich beim Wort nimmt. — Als christlich dürfen die beiden Stellen trotz ihres scheinbar in solche Richtung weisenden Wortlauts nicht aufgefaßt werden: ganz aus eigenem will der Dichter zu seiner Vollkommenheit gelangen, und das „musing" ist dementsprechend etwas anderes als christliche Kontemplation. Vgl. dazu auch S. 161—162 = Gesang VI, Strophe 18, dip Einwertung eines christlicher Liebe und Kontemplation ergebenen Klosters im Vergleich zu einem modernen gentleman! (Der „reverend pilgrim" dieser Stelle ist Patrick Brydone, über ihn vgl. Dictionary of National Biography, Bd. III, S. 166—167.) Über Scott und das Christentum vgl. im übrigen unten S. 239—240. 3 8 Scotts zwischen Marmion und Lady of the Lake erschienene Fortsetzung zu Joseph Strutts Queenhoo Hall (1808; Waverley S. LIV—LXXII) ist ein Beispiel ähnlich deutlicher Ironie wie Marmion. — In der Lady of the Lake ist eine einzige Stelle, die von den Dunkelheiten spricht, über die sich in der Dichtung die „arme Existenz" zu erheben vermag: Much have I owed thy strains on life's long way, Through secret woes the world has never known, When on the weary night dawn'd wearier day, And bitterer was the grief devour'd alone; That I o'erlive such woes, Enchantress! is thine own. (S. 273.) 231

aitich hätte in Prosa geschriteben werden können 3 0 ; in ihr ist das Ich bereits auf dem Weg 4 0 , 6ich nicht mehr einfach in der Poesie, sondern in der Bewältigung der Welt durch die Poesie zu bewähren — also in eben dem, was das innerste Wesen der Romanwelt Scotts ausmacht. E s ist kein Zufall, daß die Lady of the Lake die letzte bedeutende Verserzählung Scotts geblieben ist. m .

Der äußere Anlaß, der Scotts endgültigen Übergang von der Verserzählung zum Roman herbeiführte, war, wie bekannt, zum guten Teil der große Erfolg Byrons, dem gegenüber Scott zurücktreten und eine neue Kunstform suchen mußte. So i6t es ihm auch selbst bewußt gewesen. Trotzdem muß die Frage, ob der Wettbewerb Byrons irgendeinen wesentlichen Einfluß auf die Entstehung Waverleys und des ganzen Scottschen Romanwerks gehabt hat, durchaus verneint werden. Der Beweis dafür läßt sich auf mehreren Wegen, die sämtlich das gleiche Ergebnis haben, ganz eindeutig führen. Zunächst einmal haben wir Scotts eigene Äußerung in einem unmittelbar nach der Veröffentlichung Waverleys geschriebenen Brief, dahingehend, daß er das zufällig wiedergefundene Manuskript der fniher verfaßten ersten Kapitel in allerkürzester Zeit aus reiner Freude an der Sache zu Ende geschrieben habe 4 1 . Damit fällt, zweitens, die im Vorausgehenden durchgeführte Analyse der inneren Welthaltung und Existierensweise Scotts in ihrer Entwicklung während der Periode der Verserzählungen zusammen; sie hat gezeigt, wie ganz all* mählich erst Scott zu dem in sich ruhenden, selbstbewußten Ich gelangte, d a s mit seiner nach Durchschreitung des langen Entwicklungsganges nun ständig wachsenden K r a f t zur eigenständigen Bewältigung der -Welt, zum Roman drängte: der so plötzliche und schnelle Abschluß Waverleys — man denke an die vielen vergeblichen früheren Ansätze zum Roman zurück! — bedeutete, daß diese K r a f t durch die ihr im zufällig wiedergefundenen Manuskript endlich gebotene adäquate F o r m 4 2 zu ihrer gewaltigen Wirkung, diesem ersten und allen folgenden Romanen, ausgelöst wurde 4 3 . Drittens zeigten die Verserzählungen, nachdem sie in Märmion 3 8 So wie umgekehrt Waverley a l l e n f a l l s auch hätte als Verserzählung geschrieben werden können. 4 0 Auf dem Weg! — das Ziel ist aber noch nicht ereicht, wie dadurch bewiesen wird, daß Scott gerade zur Zeit der Lady oj the Lake anscheinend noch einmal ohne Erfolg den IFaverley-Anfang zu Ende zu führen versucht hat, vgl. Letters, B d . III, S. 456—457, Anm. 41 Letters, Bd. III, S. 457. 4 2 Scott selbst (Wavetley S. X X I — X X I I ) nennt als einen Anstoß zum endgültigen Waverley Maria Edgeworths irische Erzählungen. Selbstverständlich kommt ihnen ein Einfluß auf die Waverley-Romane nur insofern zu, als Scott sich durch sie speziell zum Heimatroman ermutigt sah. 43 Wegen der ungewöhnlichen SchneUigkeit, mit der Scott seine Romane herausbrachte, und weil ihnen die allmähliche, lernende Entwicklung vor dem Erfolg Waverleys zu fehlen schien, haben neuerdings Dame Una Pope-Hennessy und Donald Carswell im Times Literary Supplement 1932, S. 311. und S. 331, den Gedanken ver-

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und in der Lady of the Lake die ihnen mögliche Höhe erreicht hatten, ein Absinken" schon, ehe Byrons Werke neben sie traten 4 *, und ihr endgültiges Erlöschen ergab sich durchaus nicht aus mangelndem Interesse der Leser 45 , sondern, wiederum nach Scotts eigener brieflicher Äußerung 48 , dadurch, daß die Versform "dem Dichter selbst fremd wurde — also auch hier ein in sich ablaufender Vorgang, der durch Byrons Erfolg gefördert, aber nicht wesentlich verursacht 6ein kann. Den letzten und wichtigsten Beweis dafür, daß Scott nicht wegen Byron in den Roman „ausgewichen" ist — so würde man es dann ja nennen müssen —, bedeutet die Tatsache, daß sein Römanwerk eine gänzliche, in allem Wesentlichen auf nichts Früheres zurückführbare Neuschöpfung darstellt 47 . Wenn dem aber so ist, kann Byrons Einfluß tatsächlich, auch unter dem Gesichtspunkt dieser letzten Fragestellung, nur außenseitig. gewesen sein: man weicht nicht in eine Neuschöpfung, sondern nur in überlieferte Formen aus. Das völlig Neuartige am Roman werk Scotts — nur Jane Austen leistet in England neben ihm, aber unabhängig von ihm, in geringerem Maß etwas Ähnliches — ist, daß Scott nicht mehr wie alle vor ihm nur e i n e n Roman odiar nur einzelne Romane oder aber einen besten Roman unter vielen geschrieben hat, in den alle seine treten, ¿aß Guy Mannering, Redgauntlet und St. Ronan's Well, nach Carswell außerdem Black Dwarf und Monastery im wesentlichen bereits vor Waveriey geschrieben und später nur für die. Veröffentlichung zurechtgemacht sein sollen. Es steht natürlich prinzipiell nichts im Wege, außer den früher besprochenen noch weitere wiederaufgegebene Ansätze zum Roman in der Frühzeit anzunehmen. Caiize, praktisch vollendete Romane sind vor Waverley aber undenkbar; .auch findet sich in Scotts Briefen usw.-m. W. nichts, was die Hennessy-Carswellsche Theorie 6tützt, wohl aber vieles, was gegen sie spricht. Daß Scott eine Entwicklung durchgemacht hat, die zugleichreine Lehrzeit war, dürfte, in vorliegender Arbeit genügend gezeigt sein .(Dame Una Pope-Hennes6y versteht den frühen Scott so wenig, daß 6ie von „tempfrarily diverted by the study of ballads and the fashion of the hour tö writing poetry" spricht). Vor allem bedeutet es aber eine Unterschätzung der bei der endgültigen Entstehung ¡Vaverleys sozusagen vor unseren Augen sich auslösenden Kraft, wenn man ihr nicht eine Produktion zutrauen will, die auch andere, z. B. Trollope, erreicht und sogar Übertroffen haben! 44 Roderick 1811, Harold the Dauntless angefangen und teilweise schon gedruckt vor 1812 (Létters, Bd. IV, S. 383), Rokeby und Bridal of Triermain geschrieben 1812 — Ckilde-Harold 1812, Giaour und Bridé of Abydos 1813, Corsair und Lara 1814. 4 5 Lockhart, Bd. II, Kap. 24; „The volumc (Harold the Dauntless, die letzte Veröffentlichung) was published by Messrs. Constable, and had, in those booksellers' phrase, .considerable 6uccess'". 49 Leiters, Bd. TV, S. 383: „I have to send yöu in a couplc of däys Harold the Dauntless which has not turned out so good as I thought it woujd have done. I begin to get too old and stupid I think for poetry and will never again advcnture on a grand scale." 4 7 Dibelius, a.a.O., Bd. II, S. 113—231, untersucht das Verhältnis Scotts zur Tradition nur im sekundär Wichtigen und kommt so zu (an sich natürlich weiter gültigen) Ergebnissen, die mit denen einer Untersuchung des primär Wichtigen nicht übereinzustimmen brauchen und auch tatsächlich durchaus nicht übereinstimmen. Unrichtig ist es deshalb, wenn Dibelius aus seinem Material allgemeine, Scott weitaus unterschätzende Folgerungen zieht (z. B. S. 113 und S. 227-^230).

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sonstigen, früheren und späteren, Bomane aufgegangen waren, daß er vielmehr eine Roman w e i t geschaffen hat, wie es sie vorher nie, später aber immer wieder gegeben hat 4 9 . Für die Zeit nach Scott ist die Roman w e i t sogar so sehr kennzeichnend, daß rückwärtsblickend fast die Gefahr besteht, die Einheitlichkeit der Welt Scotts zu überschätzen. Seine Romane sind nicht wie später bei Balzac, Zola, Proust — nach Frankreich hat sich ja das Schwergewicht der abendländischen Romankunst sehr bald verlagert, so daß unsere Vorstellung vom modernen Roman besonders durch die französischen Romanciers bestimmt ist — als Einheit g e w o l l t , vielmehr sind sie es nur durch den in erster Linie nicht in jedem einzelnen von ihnen, sondern zunächst und hauptsächlich in ihnen als einer Gemeinsamkeit wirkenden Geist des Dichters g e w o r d e n . Aber die gewollte Erschaffung der Romanwelt, wie sie den Fortschritt Balzacs über Scott hinaus, oder richtiger: einen der vielen Fortschritte Balzacs über Scott hinaus darstellt, ist nur das Ergebnis eines völlig seiher selbst mächtig gewordenen Bewußtseins der neuen Form des Romans: der wesentliche Schritt ist bereits bei Scott getan, und Balzac fühlte sich ja auch tatsächlich als direkten Schüler Scotts. Nicht eine Reihe einzelner Romane also, sondern eine Roman w e i t ist die Kunstform, in der das Ich Scotts die Welt zu bewältigen unternahm. Wir halben das soweit rein äußerlich beobachtet und zugleich als eine Neuschöpfung von größter Bedeutung für die Geschichte des Romans erkannt. Dabei kann man aber nicht stehenbleiben. Es fragt sich, ob diese eigenste Leistung Scotts, die, in der er erst völlig zu sich selbst kam und mit der allein er in die Weltliteratur eingegangen ist, wirklich aus der Entwicklung und schließlichen Haltung seiner Existierensweise als notwendig verstanden werden kann. Zur Beantwortung müssen noch einmal für einen Augenblick alle bisherigen Resultate zusammengeführt werden, so wie es andeutend oben schon geschehen ist, als die gegen einen ausschläggebenden Einfluß Byrons sprechenden Indizien zusammenzustellen waren. Wir haben gesehen, wie Scotts lange Entwicklung schließlich zu jenem „selbstbewußten' 4 Ich führte, das sich als vom Ganzen losgelöst und als, sich in sich selbst haltend, dem Ganzen gegenüberstehend erkannte. Wir sahen weiter, wie dies Ich sich nur vorübergehend (Marmion) in einer erneuerten Poesie als solcher bewährte, wie es sich vielmehr sehr bald (Lady of the Lake) der durch die Poesie zu bewältigenden Welt zuwandte und damit schon ganz nahe an den Roman herankam. Was nun weiter geschehen ist — auch das wurde schon angedeutet, kann aber erst jetzt ganz geklärt werden —, bedeutet nur noch einen neuen Schritt vorwärts geradlinig auf dem einmal eingeschlagenen Weg: die Poesie bewältigt nicht mehr einen Ausschnitt der Wirklichkeit, son4 8 Man beachte die aufschlußreiche Tatsache, daß sich für fast jeden einzelnen Romanschriftsteller vor Scott ohne Schwierigkeit der beste Roman nennen läßt, daß es aber seit Scott oft eine Schwäche des Romanschriftstellers bedeutet, wenn ein einzelner Roman sein bester ist.

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d e m die Wirklichkeit schlechthin, indem der Dichter in seiner Romanwelt die von ihm bewältigte Welt als seine eigene Welt neu errichtet 4 9 . E s ist also tatsächlich so, daß Scotts Entwicklung unter Voraussetzung seiner natürlichen, auf den Roman weisenden Anlagen ihn, nachdem zur Zeit Marmions einmal die endgültige Entscheidung gefallen war, konsequent zu eben der Art und Form des Romans führen mußte, in der er sich schließlich tatsächlich verwirklicht hat. Den Geist der so als innerlich notwendig erwiesenen Roman w e i t Scotts, nicht die vielen einzelnen Romane nebeneinander, hat Bagehot in dem Essai dargestellt, der die Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet. Die Untersuchung, die zuletzt schon stillschweigend an Bagehot anschloß, insofern bei ihm die einheitliche Romanwelt Scotts wohl vorausgesetzt, aber noch nicht bewußt erkannt war, kehrt jetzt ausdrücklich zu ihm zurück, um zu verfolgen, wie der Geist Scotts nicht nur in der gesamten Form, sondern auch im inneren Inhalt des fFaverZey-Romanwerks, wie ihn Bagehot entfaltet hat, wirksam ist. Wollte man Bagehots Darstellung, die bereits so sehr auf das Wesentliche gerichtet ist, noch einmal komprimieren, so müßte man sagen, daß sie das Eigentümliche der Scottschen Welt in ihrer Harmonie sieht. Damit hat sie natürlich vollkommen recht, und es ist das ja auch immer und immer wieder gesagt worden. Aber nicht nur für ihn selbst, sondern ebenso im Vergleich mit fast allen anderen großen neueren Romanschriftstellern ist die harmonische Welt Scotts unterscheidende, so als wesentliches Kennzeichen des Werks ihm beinahe allein zukommende Eigentümlichkeit. Dickens hat zwar in den Pickwick Papers ein leuchtenderes und einmaligeres Bild verwandten Geistes geschaffen; aber er konnte das nur, weil er von der harmonischen Welt auf den harmonischen Menschen 4 9 E s soll hier u n d in allem Vorhergesagten in keiner Weise eine Indentifizierung des „ n e u e r e n " R o m a n s schlechthin u n d der F o r m der R o m a n w e i t vorgenommen w e r d e n ; dem „ n e u e r e n " R o m a n stehen selbstverständlich auch durchaus andere F o r m e n zur V e r f ü g u n g , wie praktische Beobachtung und theoretische Erwägung in gleichem M a ß zeigen. Wohl aber ist das Waverley-Werk insofern typisch f ü r den „ n e u e r e n " R o m a n , als in ihm das Ich der Welt gegenübersteht, während im „ ä l t e r e n " R o m a n das Ich in der Welt darinsteht (und in ihr seinen Weg finden w i l l ) . Dementsprechend ist j a auch die Ironie des „ ä l t e r e n " R o m a n s die sokratische u n d die des „ n e u e r e n " die romantische (vgl. oben S. 227). Diese Beobachtungen stimmen mit den von anderen Gesichtspunkten ausgehenden B a g e h o t s (oben S. 223. Der „ ä l t e r e " R o m a n ist „allgegenwärtig", weil in ihm das Ich in der ganzen, unverkürzten, wirklichen Welt darinsteht, mit der es zurechtkommen m u ß ; der „ n e u e r e " R o m a n wird zum „ L i e b e s r o m a n " — wie es etwa Tom Jones nicht i s t ! — , weil das Ich, das sich aus der wirklichen hierarchischen Ordnung der Welt herausgelöst und auf sich 6elbst gestellt hat, auch die Leidenschaft, die als einzige scheinbar das Ich von sich selbst erlösen kann, aus ihrem Platz in der hierarchischen Ordnung herauslöst und zum Zentrum der Welt erhöht, vgl. auch T h . Haecker, Was ist der Mensch?, L e i p z i g 1933, S. 58—59), Helios und B e r g a m i n s (vgl. oben Anm. 12) im wesentlichen überein. E i n e Weiterführende Untersuchung der Unterscheidung zwischen dem „ ä l t e r e n " u n d d e m „ n e u e r e n " R o m a n ist im Z u s a m m e n h a n g m i t einem einzelnen Autor, wie Scott, natürlich weder möglich noch nötig.

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zurückging — sowie er sich wieder der Welt zuwandte, brach, sehon in . Oliver Twist, und von da an immer aufs neue, die ganze Abgefallenheit der Wirklichkeit durch und ließ sich hinfort unter einem Schleier von Humor und Bürgerlichkeit wohl verdecken, aber nie ganz verbergen. Bei Thackeray gar scheint die Loslösung von den dunklen Untergründen überhaupt nur noch durch den Kurzschluß der Sentimentalität gelungen zu sein 50 — und damit sind wir aus dem Kreis des mit Scott irgendwie Vergleichbaren schon wieder heraus. Außerhalb Englands wird man wohl an Einzelnes bei Goethe und an die beiden Romane Stifters, besonders an Witiko, denken müssen, und das in bezug auf die augenblickliche Frage nach der Harmonie als dem Signum der Romanwelt bei allen gewaltigen, selbstverständlichen sonstigen Verschiedenheiten auch sicher mit Recht; im übrigen gilt aber, soweit ich es übersehen kann, für den Kontinent fast ebenso wie für England selbst, daß kaum irgendwo die harmonische Welt so ganz und gar das Wesentliche ist wie bei Scott. Bagehot geht freilich noch einen Schritt weiter, obgleich ständig zögernd und unsicher: die Harmonie der Welt Scotts soll nach ihm, wenigstens in manchem, die Spiegelung einer Harmonie der wirklichen Welt selbst • sein, wie sie sich einem ruhigen und unvoreingenommenen Blick offenbart. Das bedarf einer genauen Untersuchung, denn es handelt sich um etwas ausschlaggebend Wichtiges. Gegen die völlige Richtigkeit von Bagehots. Urteil spricht zunächst sein eigenes Schwanken in den Aussagen darüber, was Scott aus der Wirklichkeit übernommen und was er der Wirklichkeit gegenüber umgestaltet haben soll. Bald erkennt er, daß etwa Scotts Arme, Narren und Verbrecher gemäß dem Geist des gesamten Romanwerks umgeformt sind, bald glaubt er, daß jene mittlere Gerechtigkeit — nicht ganz gerecht, nicht ganz ungerecht - s die für Scotts Romane bezeichnend ist, einer tatsächlichen mittleren Gerechtigkeit des wirklichen Weltgeschehens nachgebildet ist; dabei sieht er nicht, daß beides genau die gleiche halbe Grundlage in der Wirklichkeit hat und vor allem in ganz genau der gleichen Weise gegenüber der Wirklichkeit abgewandelt ist. Daß die Realität der Welt tatsächlich ganz anders ist als in der Darstellung Scotts, kann ja ein jeder nur zu leicht durch einen Blick in sich selbst oder in seine Umwelt bezeugen; man braucht auch bloß auf Romane wie Ivanhoe zu verweisen, um zu zeigen, wie greifbar sich die Romanwelt, obgleich sie alle typischen Scottschen Eigenschaften behält, von der Wirklichkeit entfernen kann 51 . Tatsächlich ist Bagehots Urteil durchaus ständisch und zeitlich gebunden, und daraus erklären sich seine Fehler: ein gentleman des neunzehnten Jahrhunderts spricht hier über einen anderen gentleman fast derselben Zeit. Doch ist es, wie immer so auch hier, besser, sich einem positiven Gedankengang anzuvertrauen statt 6 0 Ich hoffe zu dem, was hier nur so angedeutet werden kann, binnen kurzem eine genauere Ausführung Die Grenzen Dickens', Tennysons und Thackerays: ein Versuch zu Biedermeier und Viktorianismus, vorlegen zu können. 6 1 Vgl. unten S. 238.

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einem negativen, der nur die Fehlerquellen herausstellen kann. Die Eigenschaft Scotts, die ihn nach Bagehot die Harmonie der Welt, wo sie vorhanden ist, erkennen, wo sie noch nicht vorhanden ist, herstellen läßt, ist seine „sagacity"; es ist also ein und dieselbe Eigenschaft, die in beiden sich auswirkt — das Primäre ist demnach eben eine Eigenschaft Scotts, sekundär erst ist, ob und wieviel Material diese Eigenschaft schon zubereitet in der Welt vorfindet und wieviel Material sie sich erst selbst zubereiten muß 52 . Nun ist kein Zweifel, daß Bagehot das Maß dessen, was Scotts „sagacity" in der Welt als schon zubereitet vorfinden konnte, überschätzt hat. Aber darauf kommt es ja jetzt nicht mehr wesentlich ari. Wesentlich ist nur noch, daß auch nach Bagehot eine eigene Eigenschaft Scotts die Welt so umgestaltet hat, wie sie sie im Roman brauchte, daß also doch auch nach Bagehot die Harmonie der Scottschen Romanwelt prinzipiell Scotts eigene Leistung und nicht eine Spiegelung der Wirklichkeit ist 53 . Scotts von Bagehot herausgestellte Neuformung der Welt durch seine „sagacity" ist freilich nicht einfach identisch mit der von uns als Kern des HPaveriey-Romanwerks erkannten Bewältigung der Welt durch die Poesie. Die „sagacity" bleibt auf einer, wenn man am Kunstwerk mißt, niedrigeren Stufe stehen. Sie ist für Scott etwa als die aktive Umbildens-, Wählens- und Urteilensklugheit des in sich und doch auch noch in einer gesicherten Wertetradition 54 ruhenden humanistischen Ichs zu definieren. Sie ist also eine Fähigkeit, die zunächst dem wirklichen Leben gilt und in die-höhere Welt der Poesie nicht von selbst hineinreicht. Möglich nicht notwendig! — ist es freilich, daß die „sagacity" als eine natürliche Eigenschaft des Dichters 55 innerhalb des Reichs der Poesie bei der Gestaltung der bewältigten und neu zu errichtenden Welt zur Wirkung kommt, und so sind ja auch wirklich Scotts Romane um so bedeutender 6 2 Das Wort „sagacity" scheint einen gewissen Bedeutungswandel durchgemacht zu haben, was für das Verständnis der Aufstellungen Bagehots wichtig sein könnte. Im achtzehnten Jahrhundert und so auch noch in Bagehots Verwendung bedeutet es Klugheit nicht nur im Erkennen, sondern auch im freien Gestalten der Dinge; daneben kommt die engere, heute herrschende Bedeutung auf, die „sagacity" auf das Erkennen der Dinge und auf das nicht-umgestaltende Sichzurechtfinden unter den Dingen einschränkt. Vgl. die Beispiele im Oxford English Dictionary unter sagacity 2 und auch unter sagacious 2. 5 3 E s kann natürlich nicht Bagehots ganzer Essai als subjektiv bezeichnet werden, weil seine dargestellten bestreitbaren Ansichten nachweisbar aus subjektiven Fehlerquellen stammen; sie können j a , wie gezeigt, eliminiert werden, ohne daß sich Bagehots Scott-Bild wesentlich ändert. Etwas ganz anderes ist es mit der ScottAuffassung bei John Buchan (vgl. Anrn. 2 und Anm. 7). Für Buchan ist Scotts „poetische" Welt eine realisierbare höhere Wirklichkeit, in die Scott die Schotten und seine Leser überhaupt hineinführt. Das ist, als Leitmotiv der ganzen Darstellung, nun wirklich subjektiv und eben das volle Bekenntnis eines gentleman zu einem anderen gentleman.

Vgl. T. S. Eliot, After Strange Gods, S. 53. Die „sagacity" ist natürlich zunächst eine natürliche Eigenschaft des Dichters und nimmt erst sekundär die oben definierte, der geistigen Existierensweise ihres Trägers anverwandelte Gestalt an. 64

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geworden, je mehr er seine „sagacity" hat an ihnen mitschaffen lassen. In Ivanhoe etwa ist prinzipiell dieselbe Bewältigung der Welt durch die Poesie vollzogen wie z. B. im Heart of Midlothian, und die vorhin besprochene „mittlere Gerechtigkeit", die Bagehot mit Scotts „sagacity" zusammenbringen wollte, ist im einen Roman so gut zu finden wie im anderen. Aber die „sagacity" ist in Ivanhoe kaum zur Wirkung gebracht, und so ist Ivanhoe zwar kein fundamental anderes, jedoch ein weniger gutes Werk als das Heart of Midlothian. Vielleicht läßt sich das Verhältnis der Bewältigung der Welt durch die Poesie und ihrer Formung durch die „sagacity" am Fall der von Bagehot mit Recht so gepriesenen Behandlung der Armen, Narren und Verbrecher noch weiter verdeutlichen. Durch die Poesie bewältigt sind sie insofern, als sie, die an sich ein ethisches bzw. metaphysisches Problem bedeuten, dieses Charakters hier entkleidet und gänzlich in die aus ästhetischer Einheitlichkeit und Harmonie lebende Welt einbezogen sind, so daß auch sie durchaus nur noch ästhetische Faktoren bilden. Durch die „sagacity" werden sie dagegen insofern neugeformt, als sie — Bagehot hat es an Meg Merrilies sehr schön gezeigt — innerhalb der vorhergegangenen Ästhetisierung glaubhaft und lebensecht gemacht werden. Wenn also auch die Bewältigung der Welt durch die Poesie das prinzipiell unvergleichlich Wichtigere ist, so ist doch, wie das Beispiel zeigt, für die Ausführung die „sagacity" kaum weniger bedeutend. Erst das Zusammenwirken beider macht Scotts ganze Leistung, wie sie in der Waverley-Welt vor uns steht, möglich, und eben durch das volle Mitwirken der „sagacity" stehen seine Romane noch höher als etwa Stifters Witiko, der, wie wir sahen, ihnen am ehesten verglichen werden könnte, ihnen gegenüber aber doch — so viel lieber er uns sein m a g ! — etwas epigonisch bleibt 5 6 . Der so als Ganzes beobachtete und verstandene innere Geist der Waver/ey-Romane muß nun in seiner Wirksamkeit durch die von Bagehot festgestellten einzelnen Besonderheiten des Scottschen Romanwerks hindurch verfolgt werden. Was zunächst das von Bagehot aufgezeigte Fehlen des Denkens betrifft, so würde man es sehr einfach mit Scotts persönlicher Art erklären können, wenn es sich wirklich nur um das Fehlen des ausdrücklichen, entfalteten Denkens handelte. Aber darauf kommt es j a 6 6 In diesem Zusammenhang erklären sich auch Bagehots Feststellungen (vgl. oben S. 223—224), daß manches in den If^areWey-Romanen in besonderer Weise Träger des „romantisch-sentimentalen Geistes" und daß manches auch nicht recht in die Wirklichkeit der Romanwelt einbezogen ist. Bagehot nannte zur ersten Gruppe die historischen Persönlichkeiten, die Heldinnen und die mittelalterlichen Szenen, zur zweiten wiederum die Heldinnen und außerdem die Helden. Es handelt sich bei dem allen um Dinge, die so stark poetisch oder poctisiert sind, daß sie die Neuformung durch die „sagacity" nicht zulassen. Teilweise handelt es sich auch um Dinge, die geradezu noch als letzte, traditionell bestimmte Reste aus der frühen „Poesie" der Lay-Zeit stehengeblieben und deshalb der poetischen Bewältigung und Neuformung entzogen sind. Wenn es einmal gelingt, einen hierher gehörigen Gegenstand — es sei an die Figur der Jeanie Deans erinnert — wirklich so wie alles andere zu beherrschen und zu gestalten, dann wird das Ergebnis nur um so großartiger.

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gar nicht an. Wichtig ist nur, daß das Denken nicht einmal implizit in den Romanen anwesend ist. Das war früher beim Lord of Ennerdale und beim Waverley-Anfang ganz anders gewesen — diese Beobachtung legt nahe, daß zwischen der Art der reifen Romane und dem Fehlen auch des impliziten Denkens ein Zusammenhang bestehen muß. Dem ist tatsächlich so. B e i m reifen Scott verbraucht sich der Geist in die existentielle Haltung des Dichters: sein Werk ist ein rein ästhetisches, zwar auf Geist aufruhendes, selbst in 6ich aber außergeistiges Gebilde 5 7 . Sehr viel vorsichtiger würde man sein müssen, wenn man auch das Zurücktreten und die unwirkliche Behandlung der Liebe in Scotts Romanen ausschließlich aus dem Gesamtgeist seiner Romanwelt erklären wollte. E s ist sicher richtig, daß ein moderner Humanismus wie der Scotts seinem ganzen Wesen nach für die Liebe so wenig Verständnis wie nur irgendeine Haltung haben konnte, und es ist ferner richtig, daß ernst und wirklich genommene Liebe die Harmonie der Romanwelt Scotts hätte zerstören müssen und deshalb keinen Platz in ihr haben durfte. Aber nach Lage der Dinge wird man doch die persönlichen Faktoren noch höher einschätzen müssen: schon im Lay of the Last Minstrel hatte Scott ja immer wieder das Thema des K a m p f e s dem Thema der Liebe vorgezogen. Dazu kam dann die schottische Tradition, die bekanntlich auch noch bei Stevenson zu Romanen ohne Frauen und ohne Liebe führte. Im ganzen muß man also sagen, daß die persönlichen Voraussetzungen, die geistige Haltung und die Erfordernisse des Kunstwerks sich in diesem Fall durchaus ergänzten und zu eben dem Ergebnis führten, das Bagehot festgestellt h a t 5 8 . Weder mit Scotts persönlicher Art noch mit den Erfordernissen des Kunstwerks, sondern ausschließlich mit seiner geistigen Haltung hängt dagegen die Einseitigkeit seiner Religiosität zusammen. Bagehot hatte ja richtig erkannt, daß bei Scott das Gefühl des Überweltlichen — um ganz bei den von Bagehot, wie wir sahen, vorweggenommenen Begriffen Ottos zu bleiben — nur ein Gefühl des fascinans ist. Das tremendum deutet sich bei ihm höchstens im Aberglauben an; aber da der Aberglaube 5 9 nur erzählerisch und folkloristisch gebraucht wird 6 0 , bildet er keinerlei Ge67 E i n e interessante, den Gedanken an Z u f ä l l i g k e i t oder bloße persönliche Art Scotts noch weiter ausschließende Parallele bietet sich, wenn m a n unter diesem GeHochwald sichtspunkt Stifters vorhumanistischen, von implizitem Denken erfüllten mit der humanistischen Fassung desselben T h e m a s i m Granit vergleicht, die rein ästhetisch und ohne j e d e s implizite Denken ist. Vgl. auch Anm. 72. 68 D i e Feststellung des Zurücktretens der L i e b e bei Scott widerspricht nicht der früheren Identifizierung des „ n e u e r e n " R o m a n s mit B a g e h o t s „ L i e b e s r o m a n " (vgl. A n m . 49). Der L i e b e s r o m a n ist erst eine etwas spätere Entwicklungsstufe des „ n e u e r e n " R o m a n s : nicht gleich von Anfang an wirft d a s selbstbewußte Ich die ü b e r k o m m e n e Wertordnung a b , nicht gleich von Anfang an fühlt es das B e d ü r f n i s , sich von sich selbst zu erlösen. 5 9 Vgl. D. F . Schumacher, Der Volksaberglaube in den Waverley Novels, Diss. Göttingen 1935. 6 0 Coleridge (Miscellaneous Criticism, L o n d o n 1936, S . 321) hat d e n Gegensatz zwischen einem möglichen wirklichen Sinn d e s A b e r g l a u b e n s u n d seiner B e h a n d l u n g

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gengewicht gegen das fascinans; vielmehr ist es Scott gerade durch seine Behandlung des Aberglaubens gelungen, auch das wenige tremendum, das allenfalls vorhanden sein könnte, gänzlich in die Harmonie des Gesamtromanwerks einzubeziehen. Da nun aber ein echter sensus numinis das verbundene Erlebnis beider, des fascinans und des tremendum, voraussetzt, führt Bagehots Beobachtung zu dem Zweifel, ob bei Scott überhaupt von voller Religion gesprochen werden kann. Zur Klärung verhilft das, was uns durch direkte Untersuchung der Äußerungen Scotts über seinen Glauben bekannt ist. Scott war liberal-allgemeinchristlich, innerhalb der Trinität war ihm der Vater die vollste, auch ohne den Sohn erreichbare religiöse Wirklichkeit, und höchste Leistung der Frömmigkeit war ihm der vollkommene menschliche Charakter im Sinn des modernen Humanismus 6 1 . Im Anschluß an die Waverley-Stelle „This worthy man . . . preached the practical fruits of Christian faith as well as its abstract tenets 6 2 " hat Coleridge in einer der kürzlich veröffentlichten Randbemerkungen seines Scott-Exemplars die Grenzen der Religion des Dichters sehr klar festgehalten: „Abstract tenets — i. e., whatever in the Gospel is peculiar to the Gospel! 0 what an opening into the actual state of religion among the higher classes, as represented by and in Sir Walter Scott! Christ's Divinity, the Fall of Man, Sin, Redemption — abstract t e n e t s 6 3 ! " Es ergibt sich also hier derselbe Zweifel, aber durch die Bevorzugung des Charakters und der „practical fruits" auch schon die Lösung. Im Mittelpunkt der Welthaltung steht das humanistische Ich, das die Religion nach seinem Bilde umgestaltet; der Ersatz der gesamten Religion durch das e i n e fascinans bedeutet die Ausdehnung der ästhetischen und poetischen Welt, dieser großen Bewährung des in sich ruhenden Ichs, aus dem Bereich des Natürlichen bis in das Reich des Übernatürlichen hinein. Wenn man die Tragweite dieser Bewältigung nicht bloß der natürlichen, sondern auch der übernatürlichen Welt einmal ermessen hat, bedeutet es nur noch verhältnismäßig wenig, daß die Poetisierung und Ästhetisierung auch durch alle Zeiten und durch die ganze historische Entwicklung hindurchgreift 6 4 . Wir hahen gesehen, welche sich mehrfach wandelnden bei Scott sehr deutlich empfunden, als er Scott gegenüber feststellte: „In the most reflecting minds there may, nay must, exist a ,certain reserve of superstition', from the consciousness of the vast disproportion of our knowledge to the terra incognita yet to be known. Between these is a region of indistinctness, sights not forms, but to which we give a form. Some few are aware that the form is their own gift, yet without denying a somewhat seen! Whatever the last understood causes may be, still aliquid superstat — and this it is, which constitutes the reason of superstition, and makes it reasonable." 0 1 Vgl. W. S. Crockett, The Religion of Sir Walter Scott, i n : Hibbert Journal, Bd. X X V I I , S. 483—497. S. 496: „ T h e best we can say about Scott is that character constituted his creed." 62 Waverley, S. 292. 03 a. a. O., S. 322. 6 4 Nicht tatsächlich, aber prinzipiell: es besteht kein Zweifel, daß Scott, genügendes Interesse und genügende Kenntnisse vorausgesetzt, auch alle anderen Zeiten so wie die wirklich von ihm dargestellten hätte behandeln können,

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Funktionen das Historische in Scotts Frühzeit hatte. Es war das gewesen, was der ersten „Poesie" eine gegenwartsferne Verwirklichungsmöglichkeit gab; daneben hatte es dazu gedient, die Gleichheit aller Zeiten zu verdeutlichen, indem die Geringfügigkeit des Wandelbaren das Unwandelbare nur um so klarer hervorhob; schließlich, wieder als Ferne, hatte es der neuen, bewußten Poesie eine Möglichkeit gegeben, ihre immanente Unwirklichkeit in die Gestaltung eingehen zu lassen. So eindeutig liegen die Dinge in der IFatierZey-Romanwelt aber nicht mehr, wie schon die einfache Tatsache, daß die Romane jetzt auch in der Gegenwart spielen können, beweist. Der große Fortschritt ist, daß hier die Geschichte wirklich als Geschichte, nicht mehr bloß als eine im Grunde unhistorische Ferne, zur Welt der Poesie geworden ist. Seit dem siebzehnten Jahrhundert war j a ständig zunehmend die Geschichtlichkeit, sei es als wesentliche Wandelbarkeit des Geschehens, sei es als fortschreitende Entwicklung, Bestandteil der selbstverständlichen Weltanschauung des Gebildeten geworden. Dabei stand das Bewußtsein der Geschichtlichkeit natürlich in ständiger Gefahr, in einfachere Formen zurückzufallen und irgendeine Ferne als gültiges Ideal heraufzubeschwören. Das war Scott durch seine eigene Unreife und durch den Druck seiner Umwelt im Lay of the Last Minstrel und in sublimerer Weise auch in Marmion geschehen — das Große der Waverley-Romane ist dagegen, daß in ihnen die Welt im Sinn echten historischen Bewußtseins erfaßt werden konnte und so erst, als die Wirklichkeit in ihren geschichtlichen Abwandlungen, durch die Poesie bewältigt ist 6 5 . Eine kurze Untersuchung des schottischen Patriotismus Scotts sei hier angeschlossen. Bekanntlich erkennen die heutigen schottischen Nationalisten Scott durchaus nicht als einen ihrer Ahnherrn an. Das geschieht aus einem völlig richtigen Gefühl für die Stellung, die Scott zu seiner Heimat eingenommen hat. Scotts Patriotismus war im guten eine Angelegenheit des Herzens, über die der Verstand ohne Schwierigkeiten hinweggehen konnte, und im schlechten eine des „antiquarian". Nicht so freilich, als hätte er aus politischer Einsicht, um des Staates willen, den kleineren Patriotismus dem größeren geopfert! Was ihn über Schottland hinaushob, war vielmehr das humanistische Bürgerideal; ein klares Beispiel dafür bietet sich, wenn man in Waverley die Stellungnahme zu Talbot mit der zu Fergus Mac-Ivor vergleicht und beobachtet, wie Waverleys Entwicklung in der Befreiung aus den Versuchungen Fergus' hin zum Anschluß an Talbot besteht. Tatsächlich stellt sich also noch einmal, auch bei der Untersuchung dieser letzten Einzelfrage, heraus, daß, so wie 6 5 Wie 6chon früher allgemeiner (vgl. Anm. 56), so kann man hier beim Historischen genauer beobachten, wie gerade die Dinge, die für Scott einen besonders starken direkten poetischen Gehalt haben oder durch die Tradition (die „vorromantische" Dichtung) so festgelegt sind, sich der Formung durch die „sagacity" entziehen und demgemäß nicht zum besten des Romanwerks gehören, z. B. das von Bagehot in diesem Zusammenhang hervorgehobene Mittelalter.

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es sich uns grundsätzlich als die Haltung des Dichters ergeben hatte, der humanistische Mensch ihm das Maß aller Dinge ist. Wir sind so weit den Aufstellungen Bagehots gefolgt und haben gesehen, wie sich der Geist Scotts in seiner besonderen Welthaltung und seiner besonderen Existierensweise f ü r alles, was Bagehot voraussetzte oder beobachtet hat, als das Formgebende erwies: die Waverley-Romanwelt ist nicht die wirkliche Welt, sondern die Welt Scotts, der in ihr in Selbstbewährung des humanistischen Ichs die wirkliche Wirklichkeit bewältigt u n d höher und rein ästhetisch neu geschaffen hat 6 6 . Da ja aber das in sich selbst ruhende humanistische Ich n u r eine Selbsthaltung der „armen Existenz" und alle aus ihm hervorgehende Poesie als allerletzten Endes unwirklich durchschaut ist, wäre zu erwarten, daß auch noch das große und scheinbar so sichere Gebilde der Waverley-Romane als ein im Grunde hoffnungsloser Aufschwung erkannt und durch die Ironie aufgehoben wird. Nur wird, wie auch schon besprochen, mit der zunehmenden Kraft des Dichters eine immer größere Verborgenheit der Ironie zusammengehen, und dementsprechend schwer ist sie im fFaver/ey-Romanwerk aufzuweisen 6 7 . Das Wichtigste ist gerade das Ungreifbarste, der Charakter der ganzen Romane als eines einzigen großen Spiels 68 . Am ehesten verdeutlicht es, von der Schaffensweise angefangen bis zum fertigen Gesamtwerk hin, der Vergleich mit Balzac, der, ebenso wie Scott ein auf sich selbst gestelltes Ich, bis zuletzt illusionslos „arme Existenz" blieb und als solche, nun wirklich nicht spielend, sondern schwer ringend und fast zusammenbrechend unter dem Gewicht der zu bewältigenden Welt, seine übermenschliche Leistung vollbrachte. Immerhin existieren wenigstens ein paar Stellen in den Waverley-Romanen, an denen die Ironie direkt zutage tritt. Ich nenne etwa die gelegentliche Schilderung des voraussichtlichen späteren Lebens Waverleys, in der Scott durchaus nicht nur die Art des Jünglings, sondern vor allem auch sein eigenes humanistisches Lebensideal auflöst 6 9 . Ein anderes Beispiel sind in Quentin Durward die spöttischen Worte Crèvecoeurs „This very young gentleman 7 0 ", 66 Wie durchaus ihm das gelungen ist, mag noch eine wenig bekannte Äußerung Byrons bezeugen, die übrigens unseren früheren Beobachtungen über die Auflösung der Ethik durch die Ästhetik nur scheinbar widerspricht: „How applicable to Scott's works is the observation made by Mme. du Deffand on Richardson's novels, in one of her letters to Voltaire: ,La morale y est en action, et n'a jamais été traité d'une manière plus interessante. On meurt d'envie d'être parfait après cette lecture, et l'on croit que rien n'est si aisé.'" (Conversations of Lord Byron with the Countess of Blessington, London 1'834, S. 232.) 67 Die Ironie Scotts ist von der Kritik fast stets übersehen worden. So sagt etwa S. Gwynn, The Life of Sir Walter Scott, London 1930, S. 197: „He knows his Don Quixote of course; but there is no trace that Cervantes influences him; his method was never that of irony." Der einzige mil- bekannte Fall, daß Scotts Ironie wenigstens berührt wird, ist bei Elton, a.a.O., S. 327. 88 Vgl. R. L. Stevenson, A Gossip on Romance: „As his books are play to the reader, so they were play to him." Vgl. auch oben S. 230 und Anm. 35. 69 Waverley, S. 474. 70 Quentin Durward, S. 408.

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die mit e i n e m mal erkennen lassen, mit welch zartem Verzicht und doch mit welcher Überlegenheit Scott sich von seinem Helden und in ihm vom ganzen Roman zu trennen vermag. E s dürfte kein Zufall sein, daß, soweit ich sehe, gerade immer die Helden der offenen Ironie ausgesetzt werden 7 1 : An ihnen muß sich j a Scott am völligsten des Gegensatzes zwischen der nur im Werk voll überwindbaren „armen Existenz" und der doch immer vergänglichen, nie ganz zu verwirklichenden höheren Welt der Poesie bewußt geworden sein. E s gibt jedoch noch einen dritten Weg, u m Scotts Romane als ein Werk nicht unmittelbarer, einfacher Erzählkunst, vielmehr als eine mittelbare Schöpfung des selbstbewußten Geistes und damit, in unserm Fall, auch der Ironie zu erweisen 7 2 . Scotts Narren mögen in manchem nach Gestalten Shakespeares gebildet 6ein, im wesentlichen sind sie doch durchaus seine eigenen Neuschöpfungen 7 3 . Charakteristisch für sie ist, daß sie zwar den Geist verloren, dafür aber eine direktere Verbindung mit dem Ganzen des natürlichen Lebens gewonnen haben; nicht umsonst werden gerade ihnen Scotts schönste Volkslieder in den Mund gelegt, also eben die Dichtungen, die Scott als die unmittelbarsten und natürlichsten erscheinen lassen will. Scotts Narren, wie die Narren als literarische Figuren so oft, implizieren also das Bewußtsein einer Gegensätzlichkeit zwischen dem selbstbewußten Geist und der natürlichen Unmittelbarkeit, und zwar ein schmerzliches Bewußtsein dieser Gegensätzlichkeit, insofern die Unmittelbarkeit nur noch um den Preis einer Hingabe des Geistes zurückgewonnen werden kann. So also — wenn man will: als ständige umgekehrte Ironie — in den Romanen darinstehend, erweisen auch die Narren die Welt Scotts als ein Erzeugnis des selbstbewußten Geistes und so, in Verbindung mit dem Vorausgehenden, auch der Ironie 7 4 . Was damit festgestellt ist, gilt für die Waverley-Romanwelt als ganzes, aber selbstverständlich nicht auch einfachhin für jedes einzelne Werk. Im Gegenteil gibt es Romarfe7 die ganz anders sind, weil Scott sie in Stunden geschrieben hat, in denen sein Ich sich nicht selbst zu halten vermochte und in denen so wieder die ursprüngliche „arme Existenz", ohne sich schützen zu können, der Welt gegenüberstand 7 5 . Die Bride of LamDas eine Beispiel Eltons, Jeanie Deans, gehört in Wirklichkeit nicht hierher. Daß Scotts Romane nicht selbst geistig, aber Werke des Geistes sind, sagt auch Coleridge in einer interessanten Stelle (a.a.O., S. 335), die außerdem die oben (S. 238-239) 19) versuchte Erklärung des Fehlens des Denkens in Scotts Romanen stützen kann: „The great felicity of Sir Walter Scott is that his own intellect supplies the place of all intellect and all character in his heroes and heroines, and representing the intellect of his readers, supersedes all motives for its exertion, by never appearing alien, whether as above or below." 7 3 Vgl. Dibelius, a.a.O., S. 147—151. 7 4 Eine Parallele, nur sehr viel deutlicher, ist wohl das Verhältnis von Bewußtheit, Ironie und Narrheit in den Novellen Tiecks. — Für die Richtigkeit der hier versuchten Deutung der Narren Scotts spricht, daß die erste derartige Gestalt in der Lady of the Lake (S. 246—248) auftaucht, also gleich in dem zweiten Werk, in dem sie unserm Verständnis Scotts nach überhaupt denkbar wäre. 7 6 Die Bride of Lammermoor ist bekanntlich nur mit halbem Bewußtsein geschrie71

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mermöör und St. Ronan*$ Well76 geKören hierher. E s ist überaus interessant zu beobachten — und es ist eine Bestätigung aller früheren Überlegungen —, wie in diesen Romanen all das verändert ist, was sich bei der Durchmusterung von Bagehots Charakterisierung der Waverley-Romane als Wirkung des Scottschen Humanismus herausgestellt hat. Vor allem sind diese beiden Romane durchaus erfüllt von implizitem Denken, und der Aberglaube 7 7 hat in ihnen eine nicht bloß schmückende, sondern eine wirkliche Funktion; die Religion, die man für die Bride of Lammermoor und St. Ronan's Well ansetzen müßte, würde unvergleichlich weiter sein als in den anderen Romanen, da hier nicht mehr das fascinans, sondern durchaus das tremendum ein Übergewicht hat. Gerade wenn man so noch einmal die Yerlorenheit gesehen hat, über der die heitere Harmonie der Waverley-Welt erbaut ist, wird die Kraft, die wahrhaft herrscherliche Haltung des reifen Scott endgültig deutlich. Sie ist ja auch nicht nur die K r a f t der Haltung, nicht nur die K r a f t der Bewältigung der Welt, sie ist vor allem auch die K r a f t des künstlerischen Schaffens selbst, splendor formae ist nach überlieferter Definition das Wesen des großen Kunstwerks: daß die Form, die das Schöne im Geist des Künstlers annimmt — die F o r m sei wie sie sei! —, sich im Werk wahrhaft strahlend aktualisiere. E s ist hier versucht worden, zu klären, wie in Scott die Form des Scottschen Kunstwerks zustande gekommen ist, und eben die Kraft, die sich da am Wirken zeigte, war es auch, welche die dem Schönen gegebene F o r m so lange in die Materie der Sprache hineinprägte, bis die Welt Waverleys leuchtend daraus hervorging. Zwar hat sich die Formung Scotts als eine bereits durchaus häretische erwiesen, aber das tritt nur so subtil nach außen, daß es von der Größe des Kunstwerks noch völlig überschattet wird und auch überschattet werden darf.

ben, so daß Scott sie später zuerst selbst nur mit unsicherer Furcht vor dem, was er geschrieben haben könnte, gelesen hat. 7 8 Bei St. Ronan's Well ist das, was wir über die erste, nicht durch James Ballantynes Kritik verdorbene Fassung wissen, noch aufschlußreicher als der endgültige Roman. " Vgl. D. F. Schumacher. a.a.O.. S. 158.

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Die Bedeutung der Natur in Emily Brontes Soman „Wuthering Heights". Von

Anna Bachmann. I. E M I L Y

B R O N T E S V E R B U N D E N H E I T MIT DER NATUR IHRER HEIMAT. „It is impossible to write of the three Brontes and forget the place they lived in, the black-grey, naked village, bristling like a rampart on the clean edge of the moor 1 ." Für jeden Dichter ist die Heimat und seine Verbundenheit mit ihr mehr oder weniger bedeutsam; Emily Bronte und ihr Werk sind aber geradezu undenkbar ohne Haworth und die Heide. Sie brachten ihren Genius erst zur vollen Entfaltung. Nur mit geringen Unterbrechungen verbrachte Emily die 30 Jahre ihres Lebens in dem grauen, abgelegenen Dorfe am Rande der Yorkshire-Heide. Freudlos war der Blick vom Pfarrhaus auf den Kirchhof mit seinen grauen nackten Grabsteinen. Freudlos und schwer war das Leben für die Bewohner des Pfarrhauses von Anfang an. Die Mutter starb früh; die kleinen Kinder standen einsam und sich selbst überlassen da. An Arbeit und Pflichterfüllung wurden sie früh gewöhnt. Der Vater übernahm die geistige Seite der Erziehung, die Tante unterwies die Mädchen in allen hausfraulichen Fertigkeiten. Später lastete auf Emily allein die Besorgung des Haushaltes, die Pflege des kranken Vaters und des Bruders, der sich körperlich und seelisch zugrunde richtete. In Arbeit und Sorgen, ohne Abwechslung und irgendwelche Ereignisse verläuft für Emily da6 Leben zuhause; und doch sehnt sie sich nie von Haworth fort, denn starke Bande knüpfen sie an die heimatliche Natur. Von Kindheit an liebt sie die Heide. Allein oder mit den Geschwistern durchstreift sie sie bei Wind und Regen oder Sonnenschein. In der Heide kann sie sorglos froh sein; dort fühlt sie sich frei von den häuslichen Sorgen, frei von aller Erdenschwere. Sie liebt die Heide, weil sie ihr Lebenselement ist. „ . . . her native hills were far more to her than a spectacle; they were what she lived in, and by, as much als the wild birds, their tenants, or as the heather, their produce 2 ." 1 a

May Sinclair: The Three Brontes. London, Hutchinson, 1911, S. 19. Charlotte Bronte: Vorwort zur 2. Aufl. von „Wuthering Heights" (1850), S. LV.

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In der Heimat ist sie stark; da trägt sie tapfer und geduldig alles Schwere, das ihr der Bruder auferlegt; da steht sie aufrecht und hilfsbereit, wo Charlotte sich abwendet, weil sie die Schmach nicht erträgt. Aber das Fernsein von der Heimat kann Emily nicht ertragen. Ihr Aufenthalt in Roehead, in Law Hill und in Brüssel war voller Qual und Heimweh. Er hat keine andere Bedeutung für ihre Entwicklung, als daß er sie noch 6tärker an die Heimat kettete. Emilys Leben ist arm an Erlebnissen und Erfahrungen im gewöhnlichen Sinne. Liebe und Freundschaft blieben ihr versagt, und selbst unter den Geschwistern stand sie einsam. Aber aus ihrer Einsamkeit und ihrer leidenschaftlichen Liebe zur Natur heraus schuf sie ein Werk, das wegen der Naturverbundenheit seiner Menschen einzig dasteht. Äußere Erfahrungen und Einflüsse waren für sie bedeutungslos. Swinburne erkennt die Kraft ihres Genius, wenn er sagt: „The book is what it is because the author was what she was . . . Circumstances have modified the details; they have not implanted the conception 3 ." Sie schafft aus reicher i n n e r e r Erfahrung, die ihr aus der Liebe zur Natur geworden ist. II. D I E N A T U R S C H I L D E R U N G I N „ W U T H E R I N G H E I GH T S " . Emily Brontes Roman ist ein Hymnus auf die Natur, auf die YorkshireHeide. Man könnte der Dichterin Einseitigkeit und Enge des Horizontes vorwerfen, weil sie über die Schilderung der Heide nicht hinauskommt. Aber gerade diese Einseitigkeit macht sie so groß. In „Wuthering Heights" gibt uns Emily eine Vorstellung von der Schönheit ihrer geliebten Heide. Wir finden keine ausführlichen Naturbeschreibungen in ihrem Roman. Die Bemerkungen über die Landschaft sind knapp und wie zufällig eingestreut. Dabei sind sie von einer solchen Intensität, daß man die Heideluft förmlich zu atmen glaubt. Die Natur wird uns nicht wie ein Gemälde vor Augen geführt, sondern sie ist einfach da. Wir spüren sie aus jeder Zeile. Der Name „Wuthering Heights" ist bezeichnend für den ganzen Roman. In diesem Namen sind Sturm und Regen, Wind und Schnee, ja, alle Naturgewalten eingefangen, denen der Hügel mit dem alten Haus der Earnshaws ausgesetzt ist 4 . Den eisigen Heidewind bekommen wir gleich am Anfang des Romans zu spüren. Lockwood, der unbeteiligte Zuschauer, sucht Heathcliff auf und entgeht gerade noch einem heftigen Schneetreiben. „On that bleak hill-top the earth was hard with a black frost,- and the air made me shiver through every limb" (W. H. S. 7). 3 Swinburne, „Emily Bronté", S. 49, in: The Complete Works, Vol. IV. London, William Heinemann Ltd., 1926. 4 Wuthering Heights, S. 2, in: The Life and Works of Charlotte Bronté and her Sisters, Vol. V. London, Smith, Eiders & Co., 15, Waterloo Place, 19.10.

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Ein wildes, trostloses Durcheinander ist die Natur in der Nacht, da HeathcliiF, im Innersten verletzt, von Catherine fortgeht (W. H. S. 87). Sturm und Regen durchziehen den ganzen Roman. Der Wind fegt um das Haus und heult im Schornstein, als der alte Earnshaw stirbt. Es regnet in Strömen die ganze Nacht, als Heathcliffs Kampf endet. Nelly findet ihn tot und vom Regen durchnäßt in seinem Zimmer. Ton und Bewegung sind die Hauptelemente der Natur, wie sie in dem Roman lebt. Emily Bronte kennt diese bewegte, tönende Natur aber nicht nur von der düsteren, unheimlichen Seite. Im Sommer verleiht die Sonne der Heide einen besonderen Glanz. Der junge Linton Heathcliff kann sich nichts Schöneres denken, als an einem heißen Julitag mitten in der Heide zu liegen und zu träumen. Wenn der Himmel blau und wolkenlos ist und die Sonne herniederstrahlt, wenn hoch oben Lerchen singen und unten Bienen einschläfernd um die Blüten summen, dann ist seine Vorstellung von „heaven's happiness" erfüllt. Die kleine Cathy Linton würde in seinem „Himmel" einschlafen. Sie braucht Leben, eine klingende, bewegte Welt, die wild und trunken ist vor Freude (W. H. S. 257). Selbst da, wo Emily Bronte die Natur in völligem Frieden zeigt, ist diese nicht starr, sondern lebt. Die Bewegungen sind nur feiner, die Geräusche gedämpfter. „Gimmerton chapel bells were still ringing; and the füll, mellow flow of the beck in the Valley came soothingly on the ear. It was a sweet Substitute for the yet absent murmur of the summer foliage, which drowned that music about the Grange when the trees were in leaf." (W. H. S. 163.) Man atmet förmlich diese sonntägliche Stille, zu der das sanfte Murmeln des Baches und das Läuten der Kirchenglocken die Grundmelodie abgeben. Die angeführten Beispiele zeigen, daß Emily Bronte auch die liebliche und sonnige Seite der Heide kennt. Viel wesentlicher für den Roman sind aber Sturm und Unwetter, Wind und Regen, die über die Heide brausen. Sie geben dem Ganzen das Gepräge. III. D I E W E C H S E L B E Z I E H U N G Z W I S C H E N N A T U R UND M E N S C H . Die Schilderung der Natur ist in Emily Brontes Roman nie Selbstzweck, wie man vielleicht nach den oben angeführten Beispielen vermuten könnte. Es kommt der Dichterin nicht darauf an« uns ein möglichst genaues Bild von der Heide zu entwerfen. Die Natur ist hier kein auswechselbarer Hintergrund, auf dem sich das Geschehen abspielt, sondern ein lebendiger Teil der Handlung selbst. Mensch und Natur sind hier gar nicht ohne einander zu denken. Der Mensch ist der Natur in tiefer Liebe verbunden. Die Natur ist ihm Lebenselement;'ohne sie wäre er haltlos. Andererseits wäre auch die Natur ohne den Menschen arm. In dieser Wechselbeziehung zeigt Emily Bronte Natur und Mensch. Sie sind 247

beide nur Teil eines großen Ganzen, der Natur im umfassenderen Sinne. Dieser umfassende Naturbegriff ist der üblichen Auffassung, welche mit dem Begriff Natur die Landschaft bezeichnet, übergeordnet. Auf dem umfassenden Naturbegriff beruht die pantheistische Weltanschauung Emily Brontes. 1. DIE NATUR ALS LEBENSELEMENT. Die Menschen, welche Emily Bronte in ihrem Roman zeichnet, sind undenkbar ohne die Heide, in der sie leben. Sie lieben sie, je nach ihrem Charakter mit größerer oder geringerer Intensität. Ihre Liebe zur Natur ist keine schwärmerische Verehrung, sondern ursprüngliches Bewußtsein der Verbundenheit, nicht die ästhetisierende Haltung des Städters, sondern weit nüchterner und doch viel tiefer. Die kleine Catherine Earnshaw und ihr Freund Heathcliff verbringen oft den ganzen Tag in der Heide. Der Bruder mag sie dafür strafen wie er will, das kümmert sie nicht. In der Heide sind sie glücklich und frei; da ist niemand, der sie tyrannisiert wie zuhause. Sie haben eine solche Freude an den „ramblings on the moors" wie die Bronte-Kinder selbst. Catherines Naturliebe und -Verbundenheit zeigt sich besonders deutlich in ihren Fieberträumen. Sie sehnt sich nach dem Heidewind; wenn sie ihn nur spüren könnte, würde sie gesund werden (W. H. S. 128). Die lebenspendende Kraft des Heidewindes wird an anderer Stelle so ausgesprochen : „ . . . every breath from these hills (was) so füll of life, thatit seemed whoever respired it, though dying, might revive." (W. H. S. 276.) Die Heide gibt Kraft und Mut zum Leben; sie bedeutet Catherine sogar mehr als alle himmlische Glückseligkeit. Ihr träumt, sie sei im Himmel, aber die Sehnsucht nach der Heide bricht ihr fast das Herz. Die Engel sind so zornig über ihr Weinen, daß sie sie aus dem Himmel verstoßen und mitten in die Heide werfen. Dort erwacht sie, weinend vor Freude und Glück (W. H. S. 82). Dieselbe Liebe, dasselbe Heimweh nach der Heide spricht aus diesen Zeilen, wie Emily selbst es empfunden haben mag während ihrer Abwesenheit von Ilaworth. 2. DER MENSCH ALS TEIL DES ALLS. Es wurde oben gezeigt, daß für die Menschen die Natur, so wie Emily Bronte sie in ihrem Roman darstellt, lebensnotwendig ist. In dieser Liebe zur sichtbaren Natur, zur Landschaft, kommt die Verbundenheit des Menschen mit dem All zum Ausdruck. Der Mensch i6t nur Teil eines großen Ganzen. Er kommt aus dem All und kehrt nach dem Tode dorthin zurück. Die Verbundenheit des einzelnen mit dem All wird besonders deutlich durch die Auffassung der Liebe einerseits und durch das Verhältnis des Menschen zur Mutter Erde andererseits. Catherine und Heathcliff sind durch Bande miteinander verknüpft, die sich nicht rational erklären lassen. Ihre Liebe ist wild und leidenschaft248.

lieh, oft läßt sie sich kaum von Haß unterscheiden. Diese Leidenschaft ist nichts Irdisches mehr; sie ist übermenschlich. Schon als Kinder sind Cathy und Heathcliff nur dann froh, wenn sie beieinander sein können. Sie stehen zusammen in all den Jahren der Demütigung und Erniedrigimg. Solange Cathy zu ihm hält, trägt Heathcliff geduldig alle Entwürdigungen. Das Leben wäre für Catherine sinnlos, wäre es in ihrer eigenen Brust gefangen. Sie sieht den Sinn in der Erfüllung der Existenz Heathcliffs. Seine Leiden sind auch ihre, denn sie i s t Heathcliff. Sie liebt ihn nicht um äußerer Vorzüge willen, sondern weil ihre Seelen aus dem gleichen Stoff sind. Heathcliff ist mehr sie selbst als sie. Ihre Liebe zu Heathcliff gleicht den ewigen Felsen; sie ist unabänderlich und unerschütterlich, „a source of little visible delight, but necessary" (W. H. S. 84). Seine Liebe ist ebenso elementar; sie ist dem Blitz und dem Feuer vergleichbar. Cathy lebt nur für Heathcliff und in ihm. Sie würde aufhören zu sein, wenn er nicht mehr wäre, und in ihm würde sie weiterleben, wenn alles außer ihm zugrunde ginge. Nur durch ihre Liebe zu Heathcliff ist sie dem All verbunden. Aber Catherine heiratet Edgar Linton und richtet damit sich und Heathcliff zugrunde. Nichts auf der Welt, weder Elend, Erniedrigung noch Tod hätte Cathy und Heathcliff trennen können; sie selbst hat die Einheit zerrissen. Eine Vereinigung ist erst im Grabe möglich. Für Heathcliff beginnt nach Catherines Tod ein Leben voller Qual und Schmerz. Er kann die trostlose Leere in seinem Innern nicht ertragen. „I c a n n o t live without my life! I c a n n o t live without my 6oul 5 !" ruft er. Er gräbt ihr Grab auf, um sie noch einmal in seinen Armen zu fühlen. Da hört er neben sich einen Seufzer und spürt ihre Gegenwart auf der Erde, Das gibt ihm ein Gefühl tiefer Beruhigung: er weiß jetzt, sie ist bei ihm und wird ihn nicht verlassen bis zu seinem Tode. Aber die tote Catherine verfolgt und peinigt ihn 18 lange Jahre. Sie kann im Grabe keine Ruhe finden, solange er leidet. Unter der Erde muß sie dieselben Qualen erdulden wie er auf der Erde. Catherine lebt weiter, nur in anderer, gespenstischer Gestalt. Sie ist unheimlich lebendig. Heathcliff fühlt ihre Gegenwart im Heidewind, er sieht sie in den Bäumen, den Wolken, den Menschen. Die ganze Welt erinnert ihn daran, daß sie gelebt und daß er sie verloren hat. Die Tote ist in das All, in den Schoß der Natur zurückgekehrt; in der ganzen Natur findet Heathcliff sie wieder. Die 18 Jahre, welche Heathcliff die Geliebte überlebt, sind ein qualvoller Kampf. Seine Seele strebt nach Vereinigung mit der Toten und kann doch nicht zu ihr, weil die körperliche Hülle sie hält. Die mystische Einheit wiederzugewinnen, die durch den Tod Catherine» zerrissen ist, das ist das Ziel seines Sehnens und seines Lebens. Mit wilder, unmensch5

W. H. S. 174.

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licher Leidenschaft kämpft er um sein Ziel. Nur die Kraft seines Körpers und seiner Nerven läßt ihn nicht früher an diesem Kampfe zerbrechen. 18 Jahre narrt ihn ein Gespenst. Er glaubt Cathy zu sehen, zu fühlen, sie endlich zu finden, aber immer wird er getäuscht. Schließlich trägt doch die Seele den Sieg über den Körper davon. Die Leidenschaft, die so lange in Heathcliff gebrannt und ihn genährt hat, verzehrt ihn vollkommen. Er schläft nicht, ißt nicht, vergißt fast zu atmen. Das Interesse für seine Umwelt hat er völlig verloren. Die Mittel, das Leben seiner Feinde zu zerstören, liegen in seiner Hand; aber er läßt sie ungenützt. Die Freude am Zerstören ist ihm vergangen. Er fühlt sich seinem Ziel so nahe, daß eine Art von Freude und Glück sein sonst so finsteres Gesicht verklärt. Er weiß, der Kampf ist jetzt zu Ende. Er hat seinen „Himmel", die Vereinigung mit Cathy im Grabe, erreicht. Catherine und Heathcliff gehen nach dem Tode als Gespenster in der Heide um. May Sinclair sagt sehr richtig: „Peace under green grass could never be the end of Heathcliff or of such a tragedy as ,Wuthering Heights'. Its real end is the tale told by the shepherd 6 ." Durch diese gespensterhafte Note am Schluß des Romans kommt noch einmal der Zusammenhang des Einzelwesens mit dem All zum Ausdruck. In einem besonders innigen Verhältnis stehen die Menschen in „W. H." zur Erde. Sie ist ihnen eine Mutter. Catherine will nicht in der Kirche begraben sein, sondern draußen in dr Heide. Ihre Heimat ist die Erde tier Heide. Nur dort kann sie Ruhe finden, wenn Ruhe für sie überhaupt möglich ist. Heathcliff träumt von der Vereinigung mit der Geliebten im Grabe. Das Grab, die Erde ist sein „Himmel". Ein Weiterleben im christlichen Sinne hat für ihn nichts Anziehendes und Begehrenswertes. Die Erde bedeutet auch für Catherine Glück und Leben, wie es ihr der Himmel nicht gewähren kann. Ihr träumt einmal, sie sei im Himmel. Aber sie fühlt sich dort sehr unglücklich. Ihre Liebe zur Erde ist so groß und tief, daß sie mit Recht sagen kann: „ . . . heaven did not seem to be my home 7 ." „Wuthering Heights" enthält keinen besonderen Hymnus auf die Erde, aber der ganze Roman ist ein solcher Hymnus. Der Roman sprüht ja von Lebenskraft. Es spricht daraus Emilys eigene Stellung zum Leben. Sie liebt das Leben „like an equal, with power over it and pride and an unearthly understanding, virgin and unafraid 8 ". Die Liebe zur Natur, zur Erde, ist in ihrem innersten Wesen verwurzelt. Ihre pantheistische Weltauffassung ist nicht die eines rein sachlich erkennenden Intellekts, sondern vielmehr intuitiv emotional, erlebnismäßig. Sie verwirklicht sie in Catherine und Heathcliff. 6 7 8

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Sinclair, S. 221. W. H. S. 82. Sinclair, S. 48.

3. DIE NATUR ALS SYMPATHETISCHER BEGLEITER DER MENSCHEN. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Naturschilderung in „Wuthering Heights" nie selbstzweckhaft ist, sondern stets im Zusammenhang mit den Menschen und ihrem Schicksal steht. Die Natur spiegelt das Schicksal der Menschen wider. Wie ein beseeltes Wesen nimmt sie Anteil an ihren Freuden und Leiden und begleitet sie wie ein treuer Freund durch ihr Erdenleben. Als Cäthy nach mehrwöchigem Aufenthalt bei den Lintons als eine kleine Dame zurückkehrt, fühlt HeathcliiF, daß sie anders ist als er und daß sie ihm zu entgleiten droht. Er ist gedemütigt, weil sie sich an seinem Aussehen stößt. Da geht er mit seinem Kummer in die Heide, und getröstet und mit guten Vorsätzen kommt er zurück. Cathy will HeathcliiF, trotz ihrer großen Liebe zu ihm, nicht heiraten. Ihr Bruder Hindley hat ihn so verkommen und verwildern lassen, daß eine Heirat mit ihm sie entwürdigen würde. HeathcliiF kann es nicht ertragen, daß Cathy sich seiner schämt und ihn im Stiche läßt. Im Innersten verletzt, geht er hinaus in die Nacht und kehrt nicht zurück. Draußen braust der Sturm über die Heide. Blitz und Donner, Wind und Regen, alle wilden Elemente sind wach und tosen durcheinander. Unheimlich und pechschwarz ist die Nacht. Die Natur spiegelt HeathclifFs und Catherines Stimmung wider. Dieselbe wilde Verzweiflung, dasselbe trostlose Durcheinander finden wir in der Natur wie in den Menschen. Am Abend nach Catherines Begräbnis schlägt plötzlich das Wetter um. Ein eisiger Wind und Schnee zerstören die Frühlingspracht. Dieser plötzliche Wechsel in der Witterung ist ein äußeres Zeichen für die Qual, die mit Catherines Tod für HeathcliiF beginnt. Aber es gibt auch glückliche, friedliche Momente im Leben dieser Menschen. Edgar und Catherine leben glücklich zusammen, solange HeathclifF fern ist. Eines Abends sitzen die beiden am Fenster und scHauen über den Garten und Park ins Tal hinab. Über allem liegt ein tiefer Friede. Durch HeathclifFs Ankunft wird er jäh zerrissen. Es ist, als hielte die Natur den Atem an, als wolle sie die Menschen noch einmal tiefe Stille und Frieden kosten lassen, bevor die Katastrophe über sie hereinbricht. Das ist „the tragic use of landscape", von der Swinburne spricht 9 . Die Art, wie die Dichterin die Natur mit dem Schicksal der Menschen verknüpft, gibt dem Werk eine besonders tragische Note. Die Tragik in ihrem Roman ist nichts Gewolltes, Gekünsteltes; Emily hat gewissermaßen einen Instinkt dafür. Die Tragik entspringt ihrem eigenen Wesen und Schicksal. Dies Werk voller Tragik klingt aus in Harmonie und Frieden. Als Lockwood zum letzten Mal nach Wuthering Heights geht, läßt der Friede in der Natur Ruhe und Glück auch in Wuthering Heights ahnen. „ I made 9

Swinburne, A Note on Charlotte Bronte, S. 31.

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my exit", erzählt Lockwood, . . with the glow of a sinking sun behind, and the mild glory of a rising moon in front — one fading and the other brightening . . . all that remained of day was a beamless amber light along the west: but I could see every pebble on the path, and every blade of grass, by that splendid moon." (W. H. S. 319.) Dieselbe ruhige Klarheit findet Lockwood über den Bewohnern von Wuthering Heights. Zusammenfassend läßt sich Folgendes sagen: Die Naturschilderungen in Emily Brontes Roman sind niemals Selbstzweck, sondern dienen dazu, den engen Zusammenhang zwischen der Natur und den Menschen aufzuzeigen. Die Natur i6t den Menschen lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Sie siijd fest in der Mutter Erde verwurzelt. Von ihr kommen sie, und zu ihr kehren 6ie nach dem Tode zurück, um Ruhe und Trost zu finden. Die Natur ist der sympathetische Begleiter der Menschen. In ihr spiegeln sich die Leidenschaften der Menschen; aber diese Leidenschaften haben übermenschlichen, elementaren Charakter. Es zeigt sich, daß der Mensch ein Teil des großen Ganzen, der Natur im übergeordneten Sinne ist. Die Natur ist ein beseeltes Wesen, nicht nur weil sie Anteil nimmt an dem Schicksal der Menschen, sondern weil die Toten in ihr fortleben, wenn auch in unpersönlicher Art. — Emily Bronte gibt damit einem Pantheismus Ausdruck, der ihre eigenste Weltanschauung ist, erwachsen aus der Liebe zur heimatlichen Natur.

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England und die Antike. Von

Emil Wolff. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis Englands zur Antike erscheint besonders geeignet, in der englischen Philologie das Bewußtsein ihrer höchsten Aufgaben zu wecken und zu stärken. Sie hat sich in ihrem Ursprung von der germanischen und romanischen Philologie abgelöst und war, ihnen nacheifernd, in ihrer Entwicklung bemüht, Gegenstand und Methoden denen der klassischen Philologie anzugleichen. Dies fast ängstliche Bestreben, in wissenschaftlicher Strenge dem Beispiel der klassischen Philologie äußerlich zu folgen, hat sie lange nicht dazu kommen lassen, die innere Einheit ihrer eigenen Aufgabe mit der der klassischen Philologie zu erkennen. Diese innere Einheit mußte immer deutlicher werden, als die Einheit der europäischen Kulturentwicklung in ihrer bestimmten Eigenart sich mehr und mehr enthüllte. Diese Eigenart zeigt sich wesentlich bestimmt durch die Leistung des griechischen und römischen Geistes — die europäische Kultur aber erscheint in der Mannigfaltigkeit und der gegenseitigen Verknüpftheit ihrer einzelnen Gestalten als immer wieder erneuerte und vertiefte Aneinandersetzung mit den Inhalten und Formen der antiken Welt. Dem Verständnis der umfassenden Einheit dieser Kultur und der Einsicht in die besondere Bestimmtheit ihrer verschiedenen Erscheinungsformen wurden neue fruchtbare Möglichkeiten erschlossen, als die klassische Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts die Antike als geschichtliche Wirklichkeit und geschichtliche Bewegung zu erfassen unternahm. Auch die Philologien, die der Interpretation der mittelalterlichen und modernen Kultur in ihren verschiedenen nationalen Abwandlungen dienen, sahen ihre Aufgabe durch diese neue Konzeption zugleich ins Allgemeine erweitert und im Einzelnen schärfer bestimmt. Die beiden Seiten des so gestellten Problems — die Erkenntnis des Fortlebens antiker Gebilde in neuen Gestalten und der eigentümlichen Ausprägung dieser Gestalten in ihrer Besonderheit gegenüber den entsprechenden Erscheinungen in anderen europäischen Kulturen — werden an der Entwicklung in England in besonderer Klarheit und in mannigfaltigem Reichtum offenbar. Das Problem erscheint aber außerdem noch 263

in einer eigentümlichen Form, die nur hier zu beobachten ist und einer besonderen Erörterung bedarf. Es handelt sich um das Verhältnis Englands zu Rom, um das Verhältnis des britischen Weltreichs zum römischen Imperium. Einer vergleichenden Betrachtung ergibt sich eine Reihe verwandter und einander entsprechender Erscheinungen. Sie lassen sich zunächst ebenso auf den unmittelbaren Einfluß römischer Ideen und Institutionen zurückführen, wie sie erklärt werden können als die gleichartige Wirkung gleichartiger Ursachen in beiden Fällen und unter der Annahme völliger Unabhängigkeit der britischen Entwicklung. Allein man wird bei der starren Alternative: römischer Einfluß und römisches Vorbild oder unabhängige analoge Entwicklung, nicht stehen bleiben können. Der geschichtliche Tatbestand ist viel zu kompliziert, um eine so einfache Lösung zu erlauben. Wenn auf der einen Seite das britische Weltreich, das einzige geschichtliche Gebilde, das sich dem römischen Reich vergleichen läßt, unter eigenen, von dem historischen Vorbild unabhängigen Bedingungen entstanden ist, wenn die Analogie der herrschenden Stellung, gesellschaftlicher und ökonomischer Voraussetzungen, die Gleichheit politischer Aufgaben und Verantwortungen zur Ausbildung analoger Erscheinungen innerhalb der herrschenden Schichten, zur Konzeption ähnlicher oder identischer politischer Methoden und Maximen, zu verwandten Formen eines überlegenen Selbstbewußtseins in Rom und Britannien geführt haben, so ist auf der anderen Seite nicht zu verkennen, daß das Vorbild der römischen Weltherrschaft und die Reflexion über ihre Entstehung und die Mittel zu ihrer Erhaltung bei der bewußten Begründung des englischen Willens zur Weltherrschaft in den Anfängen der britischen Expansion und bei dem Versuch einer sittlichen und historischen Rechtfertigung der britischen Machtstellung eine wesentliche Rolle gespielt haben. Wer die Briefe des jüngeren Plinius — vor allem den Briefwechsel mit Trajan — liest, wer die Figuren hoher römischer Beamter in der Apostelgeschichte, Gallio und Festus etwa, betrachtet, wird durch die römische Art. fortwährend an die britische erinnert werden, wird die Ähnlichkeit des ruhigen und sicheren Herrschaftsbewußtsein, der distanzierten Überlegenheit immer wieder feststellen. Die Analogie scheint bei den Briefen des Plinius noch weiter zu gehen, sie scheint das ganze einer aristokratischen Lebensart und Ausdrucksweise zu umfassen, die in Rom ebenso durch den Einfluß griechischer Bildung mitbestimmt ist, wie sie in England ihre Prägung durch die klaren Umrisse ursprünglich römischer und in Frankreich weitergebildeter römischer Formen empfangen hat 1 . Über die Ähnlichkeit in der Durchbildung der aristokratischen Persönlichkeit, wie sie sich im öffentlichen und privaten Leben darstellt, hinaus führen Übereinstim1 Die Ähnlichkeit des gesamten Stiles tritt besonders hervor, wenn man etwa kurze Briefe des Plinius, wie I, 15, V. 18, mit Briefen des ersten Lord Halifax aus den neunziger Jahren des XVII. Jahrhunderts vergleicht (H. C. Foxcroft, First Marquis of Halifax, U, pp. 130, 182).

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mungen, die sich aus der Analogie der imperialen Aufgaben und Leistungen ergeben. Ein besonders fruchtbares Feld zu Vergleichen dieser Art würde die Geschichte der Eroberung und der Grenzsicherung Indiens darbieten. Daß es sich aber nicht nur um politische und strategische Fragen handelt, deren verwandte Natur mit einer gewissen Notwendigkeit zu verwandten Lösungen führt, sondern um eigentümliche gemeinsame Züge, die das Wesen der römischen und der britischen Herrschaft kennzeichnen, möge an einem Beispiel aus dem „Agricola" des Tacitus illustriert werden. Tacitus schildert die Politik, die Agricola gegenüber den unterworfenen Briten verfolgt. „Nachdem er hinreichenden Schrecken eingeflößt hatte, suchte er durch Schonung den Frieden verlockend erscheinen zu lassen 2 ." Die kriegerischen Briten sollen durch Genüsse an Ruhe und müßiges Leben gewöhnt werden. Persönliche Anregung und öffentliche Unterstützung, Lob der Eifrigen, Tadel der Säumigen spornen zum Bau von Tempeln, Marktplätzen und Häusern an. Die Fürstensöhne werden in den freien Künsten unterrichtet. Die bisherige Ablehnung der römischen Sprache wandelt sich in Streben nach römischer Beredtsamkeit. Man empfindet es als Ehre, die römische Toga zu tragen und allmählich schreitet man fort zu Säulenhallen, Bädern und üppigen Gelagen und erliegt den Lockungen des Lasters, „den Unerfahrenen heißt dies Humanität, während es doch nur ein Teil der Knechtschaft ist 3 ." Nicht alle Einzelheiten, die hier über die Politik des Agricola mitgeteilt werden, können mit bestimmten Einzelmaßnahmen des britischen Systems unmittelbar verglichen werden. Es ist der Geist dieser Politik, der in dem Geist des britischen Systems weiterzuleben scheint. Und vielleicht berühren sich römisches und englisches Denken am engsten in der großartigen Objektivität, mit der der Römer in einem endgültig geprägten Satz eine universale Zivilisation und die Freiheit der nationalen Individualität einander gegenüberstellt. Möglich allerdings wird eine solche losgelöst überlegene Betrachtung der Herrschaft des eigenen Volkes erst Tacitus, Agricola 20. Ibid. 21. Idque apud imperitos humanitas vocabatur, cum pars servitutis esset. — Charles E. Trevelyan in seinem Buch „On the Education of the People of India" (1828), das, im Anschluß an Macaulay für die Vermittlung europäisch-engliicher Bildung an die Inder eintritt, beruft sich pp. 195 seq. ausdrücklich auf das römische Beispiel. „The Indians will, I hope, soon stand in the same position towards us in which we once stood toward the Romans. Tacitus informs us, that it was the policy of Julius Agricola to instruct the sons of the leading men among the Britons in the literature and science of Rome, and to give them a taste for the refinements of Roman civilisation. We all know how well this plan answered." Trevelyan zitiert den lateinischen Text mit der grimmigen Schlußbemerkung des Tacitus. — Er hat schon, pp. 189, seq. den Gedanken vorweggenommen: „Familiarly acquainted with us by means of our literature, the Indian youth almost cease to regard us as foreigners. They speak of our great men with the same enthusiasm as we do. Educated in the same way, interested in the same objects, engaged in the same pursuits with ourselves, they become more English than Hindus, just as the Roman provincials became more Romans than Gauls or Italians." — Vgl. unten Anm. 59. 2

3

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in einem bestimmten geschichtlichen Moment. Rom hat den Plan des Agricola, die Besetzung der britischen Insel durch die Eroberung Kaledoniens zu vollenden und durch die Unterwerfung Ivernias zu sichern, nicht mehr durchzuführen vermocht. Mommsen erörtert die Gründe, die einen solchen Verzicht rechtfertigen könnten, und fügt hinzu: „Ohne Frage hätten in anderer Zeit alle diese Erwägungen die Römer nicht vermocht, auf die so nahe gerückte Seegrenze im Norden zu verzichten, und wenigstens Kaledonien wäre besetzt worden. Aber weitere Landschaften mit römischem Wesen zu durchdringen vermochte das damalige Rom nicht mehr; die zeugende Kraft und der vorschreitende Volksgeist waren aus ihm entwichen. Wenigstens diejenige Eroberung, die nicht durch Verordnungen und Märsche erzwungen werden kann, wäre, wenn man sie versucht hätte, schwerlich gelungen4." Erst ein modernes englisches imperiales Bewußtsein könnte, eine Entwicklung reflektierend, die der römischen vielleicht verwandt ist, aber doch weit über sie hinausgeht in den Möglichkeiten wenigstens vorläufiger konstruktiver Lösungen, die ganze Härte des taciteischen Satzes in der Situation des eigenen Weltreiches wiederfinden. Eine Auseinandersetzung des britischen Denkens mit der Geschichte und der Idee des römischen Imperiums konnte in früheren Zeiten in dem römischen Vorbild Anregung zu eigenem Streben nach der Weltherrschaft finden; die Reflexion über die Voraussetzungen, den Aufstieg und den Niedergang der römischen Macht konnte die Einsicht in die Möglichkeiten und Gefahren britischer imperialer Aspirationen fördern. Auf der Höhe der eigenen Weltherrschaft stehend, mußten die Engländer des 19. Jahrhunderts mit neuem Interesse und neuem, auf eigene Erfahrung und auf das Bewußtsein eigener Verantwortlichkeit gegründetem Verständnis das Imperium Romanum betrachten und die gemeinsamen Züge erkennen, die der Leistung und Aufgabe der beiden Nationen eigentümlich sind. Damit Hand in Hand konnte die Erkenntnis gehen, daß dem britischen und dem römischen Weltreich vor allen anderen Imperien eine ausgezeichnete Stellung zukommt. So ließ sich der britische Anspruch auf die Weltherrschaft aus der eigenen hohen Aufgabe und aus dem Vorbild der geschichtlichen Sendung Roms rechtfertigen. Es ergibt sich, daß die Auffassung des römischen Imperiums im englischen Bewußtsein sich wandeln wird mit den Vorstellungen über die geschichtliche Stellung und Aufgabe des britischen Reichs. Besonders deutlich läßt sich diese Beziehung erkennen an der Entwicklung, die von Francis Bacon zu James Harrington führt. Bacon hat in seinem Essay „On the true Greatness of Kingdoms and Estates 5 " die Voraussetzungen territorialer Expansion und die zur Siche14 Mommsen, Römische Geschichte, V (1885), pp. 167 seq., p. 169. Vgl. auch Gibbon, Decline and Fall (ed. Bury, 1900), 1, p. 4. 6 Essay X X I X (ed. Reynolds, 1890, pp. 202 seq.). Über die Geschichte des Essays und Bacons mögliche Motive vgl. Reynolds, pp. 214 seq. Es erscheint lateinisch in

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rung und Erhaltung eines ausgedehnten und auf Eroberung gegründeten Reiches untersucht. In seinem Fragment „Of the true Greatness of the Kingdom of Britain 6 " hat er, von den Lehren historischer Erfahrung ausgehend, die Möglichkeiten einer britischen Eroberungspolitik erwogen. Der Gedanke an ein englisches „Weltreich" oder „Imperium" ist seinen Überlegungen nicht fremd. An den zwei Stellen 7 aber, wo er am deutlichsten hervortritt, wird er nicht an Rom, sondern an die Reiche Carls des Großen und Carls Y. angeknüpft und nicht sehr ernst genommen. Nirgends verbindet er mit dem Begriff des Imperiums die Idee einer besonderen geschichtlichen Mission oder einer über die Ziele einer nationalen Machtpolitik hinausgehenden Verantwortung. Das römische Reich erscheint als eines der großen Beispiele erfolgreicher Eroberungspolitik neben dem Perserreich und dem Reich des türkischen Sultans 8 . Die Römer haben allerdings am besten verstanden, die unterworfenen Völker als gleichberechtigt dem Reiche wirklich einzugliedern. „Therefore it sorted with them accordingly, for they grew to the greatest monarchy 9 ." „de Augmentis Scientiarium", lib. VIII (Works, ed. Spedding, Ellis and Heath, 1889, I, pp. 793 seq.) unter dem Titel „De Proferendis Finibus Imperii". 8 Works, VII (1892), pp. 47 seq. Das Fragment ist wohl eine Vorstufe des Essays; vgl. die Vorrede 1. c., p. 43. 7 In der an König Jacob gerichteten Einleitung zu dem Fragment (1. c., p. 47) sagt er: „Being for mine own part persuaded, that the supposed prediction 'Video solem orientem in occidente', may be no less true a vision applied to Britain, than to any other Kingdom of Europe; and being out of doubt that none of the great monarchies which in the memory of times have risen in the habitable world, had so fair seeds and beginnings as hath this your estate and Kingdom." — Im Jahre 1624 beginnt er seine „Considerations touching ,War with Spain'", in denen er sich an den Prinzen Carl wendet, folgendermaßen: „Your Highness hath an imperial name. It was a Charles that brought the empire first into France; a Charles that brought it first into Spain; why should not Great Britain have his turn? But to lay aside all that may seem to have a shew of fumes and fancies, and to speak solid: A war with Spain (if the King shall enter into it) is a mighty work; it requireth strong materials and active motions." (Letters and Life, ed. Spedding, VII, 1874, p. 469.) — An der zweiten Stelle ist der abrupte Übergang von dem höfisch schmeichelnden Spiel mit dem Imperium zu dem realpolitischen Problem des Augenblicks besonders charakteristisch. 8 Of the true Greatness of the Kingdom of Britain, 1. c., p. 52: „And so likewise we may observe, that all the great monarchies, the Persians, the Romans (and the like of the Turks), they had not any provinces to which they needed to demand access through the country of another." — lb. p. S3: „ For Persia at a time was strenghthened with large territory, and another time weakened; and so was Rome." Im folgenden wird der Verfall des römischen Reichs geschildert und den Türken das gleiche Schicksal prophezeit. — In dem Essay (Reynolds, p. 209) wird die kriegerische Tüchtigkeit der Römer und der Türken nebeneinander gestellt: „. . . those states, that continue long in that profession" (sc. of arms) „(as the Romans and Turks principally have done) do wonders." Ib. p. 210 wird die Wichtigkeit plausibler Kriegsgründe betont. Auch da erscheinen Türken und Römer als Beispiele nebeneinander. 9 Essay XXIX, 1. c., p. 207. Bacon folgt hier fast wörtlich Machiavelli, Discorsi II, 8. Vgl. Reynolds, pp. 221 seq.

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Während er anerkennend hervorhebt, daß die Römer ihre Eroberungskriege immer auf den Schein des Rechts, sei es die Verteidigung der beleidigten eigenen Ehre oder Bündnispflicht, zu gründen wußten, sieht er nicht, wie Kriege, die im Altertum zur Förderung einer politischen Partei oder einer bestimmten Regierungsform in einem anderen Staat geführt worden sind, sich rechtfertigen lassen („may well be justified"). Eines der Beispiele ist der Krieg, den die Römer für die Freiheit Griechenlands geführt haben 1 0 . Ausdrücklich fügt er noch hinzu: „Or when wars were made by foreigners, under the pretence of justice or protection, to deliver the subjects of others from tyranny and oppression; and the like 1 0 ." Zunächst scheint aus dem Zusammenhang hervorzugehen, daß Bacon nicht die Frage des Rechts an sich interessiert, daß er vielmehr, aus politischen Gründen, solche Kriegsvorwände nicht anerkennen will. Sein durchaus „realpolitischer" Gedankengang sucht zunächst nach möglichst vielen Kriegsvorwänden für den Staat, der nach Erweiterung und Eroberung strebt. Diese Vorwände müssen dem Angreifer wenigstens den Schein des Rechtes geben, um zweckmäßig zu sein. Wenn dann die angeführten Kriegsvorwände aus dem Altertum verworfen werden, so könnte es scheinen, als sei nun wirklich von einem Rechtsgrund und nicht mehr von einem Rechtsvorwand die Rede. Dies ist aber nicht der Fall. Es werden solche Kriegsvorwände abgelehnt, weil sie — so ist wohl anzunehmen — von anderen vorgeschützt zu gefährliche Konsequenzen haben könnten. Die ganze Argumentation ist ein ungemein lehrreiches Beispiel für das paradoxe Verhältnis, das zwischen „Realpolitik" und überstaatlicher Rechtsnorm besteht. Sie beginnt mit einer Anerkennung dieser Rechtsnorm, die nur dazu dient, das Recht mit Erfolg verletzen zu können, und sie endet mit der Forderung, die Norm so zu gestalten, daß durch die Norm selbst gewisse Vorwände zur Verschleierung eines ungerechten Krieges ausgeschlossen werden. Daß Bacon ausdrücklich ein Recht der Römer leugnet, einen Angriffskrieg zur Befreiung der Griechen von der makedonischen Herrschaft zu führen, daraus geht mit besonderer Deutlichkeit hervor, wie sehr sein politisches Denken an dem absoluten Recht und den realen Interessen des souveränen einzelnen Staates innerhalb eines Systems gleichgeordneter Staaten festhält, wie fern ihm eine Theorie liegt, die einem bestimmten einzelnen Staat eine wie auch immer begründete Überlegenheit zuspricht, die ihn zur Ausbreitung seiner Herrschaft berechtigt oder 6ogar verpflichtet. Denn es ist gerade dieses römische Verfahren, Philipp von Makedonien durch die „Befreiung" der Griechen zu schwächen, das bei den antiken Autoren als Beweis der Einzigartigkeit der römischen Herrschaft erscheint. Vielleicht ist es nur ein merkwürdiger Zufall, daß Bacon auf die berühmte Szene nach der Proklamation des Quinctius Flamininus bei den Isthmischen Spielen des Jahres 196 nur einmal in einer naturwissenschaftlichen Schrift anspielt 11 . Nach dem Essay XXIX, 1. c., pp. 210 seq. Silva Silvarum 127 (Works, II, p. 395). Vgl. E. Wolff: Francis Bacon und seine Quellen, II (1913), pp. 73 seq. 10

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Bericht des Plutarch waren infolge des ungeheuren Jubelgetöses der versammelten Griechen über dem Stadion fliegende Raben aus der Luft herabgestürzt. Plutarch gibt dazu physikalische Erklärungen 12 . Der Kontrast zwischen dem geschichtlichen Pathos der Szene — mag man von ihm ergriffen werden oder zwischen Grimm und Lachen schwankend sie mit kühler Ironie betrachten — und ihrer Verwendung als Quelle für eine naturgeschichtliche Beobachtung ist so groß, daß man die Unempfindlichkeit Bacons gegenüber der rhetorischen Verklärung des römischen Imperiums mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus ihm erschließen kann. Der Zauber, der in dem Worte „Freiheit" liegt, hat hier keine Gewalt über ihn. Und doch sagt Quinctius den Legaten des römischen Senats: „Liberandam omnem Graeciam . . . , si veram caritatem ac majestatem apud omnes nominis Romani vellent esse 13 ". Auch nachdem der erste Jubel verrauscht ist, kehrt das Denken und die Unterhaltung der Griechen noch Tage lang immer wieder dankbar zu der wunderbaren Tatsache zurück, „daß es ein Volk auf Erden gibt, das mit eigenem Aufwand, eigener Mühe und Gefahr Kriege führt um der Freiheit anderer willen, und daß es diesen Beistand nicht angrenzenden oder eng benachbarten oder durch zusammenhängende Länder mit ihnen ver-> bundenen Leuten gewährt, sondern sogar über Meere fährt, d a m i t auf dem ganzen E r d k r e i s keine ungerechte Herrs c h a f t bestehe, und ü b e r a l l das Recht, die göttliche Ordnung und das Gesetz das Mächtigste s e i e n 1 4 " . Wenn Livius so die befreiten Griechen in Gedanken und Worten die Idee eines wohl 6chon im Geiste augustaeischer Zeit konzipierten römischen Imperiums erfassen und umschreiben läßt, reflektieren sie bei Plutarch über den Unterschied zwischen der Fruchtlosigkeit ihrer eigenen Bemühungen um die Freiheit im Verlauf ihrer Geschichte und der Größe des ohne Blut und Leid errungenen Preises, der Hellas nun zugefallen ist, da andere für seine Unabhängigkeit gekämpft haben 15 . Mit besonderem Nachdruck hebt Plutarch weiterhin hervor, wie Quinctius von Stadt zu Stadt ziehend in den griechischen Gemeinwesen Recht und Einigkeit wieder herstellt und zwischen feindlichen Parteien Frieden stiftet. „Die Griechen durch Überredung zu versöhnen gab ihm nicht geringere Genugtuung als der Sieg über die Makedonier, so daß unter den Wohltaten, die sie empfingen, die Freiheit nunmehr als die 1 3 Plutarch, Titus Flamininus, 10. Livius (XXXIII, 32) hat die Bemerkung über die Raben nicht. 1 3 Livius, XXXIII, 31. 1 4 Livius, XXXIII, 33: Nec praesens tantum modo effusa est laetitia, sed per multos dies gratis et cogitationibus et sermonibus renovata: esse aliquam in terris gentem, quae sua inpensa, suo labore ac periculo bella gerat pro libertate aliorum, nec hoc finitimis aut propinquae vicinitatis hominibus aut terris continentibus iunctis praestet, sed maria traiciat, ne quod toto orbe terrarum iniustum Imperium sit, ubique ius, fas, lex potentissima sint. 1 6 Plutarch, Flamininus, 11.

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kleinste erschien 16 ." In der Großmut gegenüber den Griechen sieht Plutarch schließlich die Grundlage der römischen Weltherrschaft. Sie hat den Römern das Vertrauen der Völker und Könige gewonnen, die in der folgenden Zeit vor ungerechten Angreifern bei ihnen Schutz suchen und sich freiwillig unter ihre Oberhoheit begeben17. Erst im Lichte dieser Würdigung der römischen Politik gegenüber Griechenland durch die antiken Historiker tritt die prinzipielle Bedeutung der ihre Berechtigung verneinenden Doktrin Bacons ganz klar heraus. 18 . Von dieser Ideologie her aber wird, wenigstens zum Teil, auch der radikale britische Imperialismus verständlich, den James Harrington in seinem politischen „Roman" „Oceana" (1656) predigt. Die Idee dieses merkwürdigen Buches ist eine Neuordnung des britischen Staates, die zugleich die politische und religiöse Freiheit auf eine republikanische Verfassung gründet und durch eine dauernd gleichmäßige Verteilung des Grundbesitzes sichert, und diesem Staat als gottgewollte Aufgabe die Errichtung einer universalen Herrschaft zuweist. Wenn diesem neuen Britannien Recht und Pflicht zur Weltherrschaft zugesprochen wird, so geschieht es in bewußter Anknüpfung an das Vorbild der römischen Republik; denn der Sinn dieses britischen Imperiums soll die Begründung eines Reiches der Freiheit und des Rechtes sein. Der Weg dazu aber ist vorgezeichnet durch die Methoden der römischen 16

I b . 12. „"AyaMóiievo; 8£ ttu TtelO-siv xal BtaXXáxxsiv xoüj "EXXrjvas oüx r/txov f¡ xv üitjie |itxpóxaxov 9¡5f¡ XTJV éXeü9-spíav íoxslv The schrifte to oppose and hiere, My sone, I am assigned hiere Be Venus the godesse above, Whos Prest I am touchend of love. Bot natheles for certain skile I mot algate and nedes wile Nought only make my spekynges Of love, bot of other thinges, That touchen to the cause of vice. For that belongeth to thofiice Of Prest, whos ordre that I here' 111 ." 108 110 111

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Confessio Amantis, I, 203—208. Ibidem, I. 212—221. Ibidem, I, 233—242.

Die Fülle antiker Stoffe, die innerhalb dieses Rahmens dann von dem Genius erzählt werden, dienen nur als moralische Exempel. So wird — nach der mittelalterlichen Troja-Sage — die Rache des Orestes erzählt, ein Beispiel für die gerechte Bestrafung eines Weibes, das aus Begierde zur Mörderin geworden ist 1 1 2 . Der Raub der Helena erscheint als Beispiel — für eine Tempelschändung, weil Paris sie aus dem Tempel der Aphrodite entführt hat. Der Untergang Trojas ist die Strafe für das Sacrileg 113 . Ein wenig scheint der Priester aus der Rolle zu fallen, wenn er die Geschichte von Mars und Venus als Beispiel für die bestrafte Eifersucht des Vulcan anführt: „For Vulcanus his wife bewreide, The blame upon himself he leide, Whereof his schäme was the more; Which oghte for to ben a lore For every man that liveth hiere, To reulen him in this matiere, Though such an happ of love asterte, Yet scholde he noght apointe his herte With Jelousy of that is wroght, But feigne, as thogh he wiste it noght 1 1 4 ." Das Beichtkind findet denn auch dies Exempel „hart", die Begründung aber ist besonders hübsch. Es wundert sich, daß unter den Göttern im Himmel so etwas geschehen konnte: „For there is bot o god of alle, Which is the lord of hevene and helle 1 1 5 ." Der Confessor aber wird dadurch veranlaßt, einen langen Vortrag über heidnische Götter zu halten, in welchem er, bei der Aufzählung der griechischen Gottheiten „Venus und Cupido" aueläßt. Der Dichter erkundigt sich, wie es mit den beiden stehe und erhält eine Antwort, die den inneren Zwiespalt des ganzen Werkes in zwei Versen enthüllt: „Mi Sone, I have left it out for schäme, Be cause I am here oghne Priest 1 1 6 ." Es könnte bei flüchtiger Betrachtung scheinen, als bewege sich auch Chaucer in der gleichen Welt der Allegorie und der naiven Vermischung christlicher und antiker Elemente. In der „Legende von den guten Frauen" finden wir die Formeln der christlichen Legende, wie es scheint ohne Arg, auf antike Heroinen angewandt — Heroinen der unglücklichen Liebe oder der Keuschheit. Wir lesen Überschriften wie: „Incipit Legenda Cleopatrie Martiris, Egipti Regine", „Incipit Legenda Ysiphile 112 113 114 116 116

Ibidem, Ibidem, Ibidem, Ibidem, Ibidem,

III, 1885 seq. V, 7195 seq. V. 701—710. V, 729, 732—733. V, 1382—1383.

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et Medee, Martirum". Aber hat dieses naive Hin- und Widergleiten zwischen christlichen und antiken Vorstellungen hier nicht eine andere Bedeutung bekommen? Waltet hier nicht ein reines poetisches Bewußtsein, das, solange es sich in seiner Sphäre bewegt, mit freier Willkür sich aller Gestalten und Formen bedient, die es in der Welt seiner Bildung vorfindet, das über die Gebundenheit des harten Gegensatzes hinausgegangen ist, ja das vielleicht schon hie und da dazu fortschreitet, mit dem Widerspruch in poetischer Ironie zu spielen? Das vollendetste Beispiel für diesen neuen, frei schaltenden Geist der Chaucerischen Poesie ist vielleicht die Erzählung des Kaufmanns in den „Canterbury Tales". Der alte Januarius heiratet die junge, schöne Mai. Ausführlich wird die Hochzeit geschildert. Erst die Trauung in der Kirche: „Forth comth the preest, with stole about his nekke, And bad hire be lyk Sarra and Rebekke, In wysdom and in trouthe of mariage, And sayd his orisouns as i6 usage, And croucheth hem and bad god sholde hem blesse, And made all siker ynogh with hoolynesse 117 ." Dann beginnt das Fest: Musik erschallt, „That Orpheus, ne of Thebes Amphioun Ne maden never swich a melodye." Jeder Gang wird von Klängen begleitet, lauter als die Trompete Joabs und die des Theodamas bei der Belagerung von Theben (eine StatiosReminiszenz). „Bacus the wyn hem skynketh all aboute, And Venus laugheth upon every wight. And with hire firbrond in hir hand aboute Daunceth before the bryde and all the route. And certainly I dar right wel seyn this Ymeneus, that god of weddyng is, Saugh never his lyf 6o myrie a wedded man 1 1 8 ." Dieser ironischen Ausgelassenheit, die erst durchsichtig wird, wenn man die Zukunft der so gefeierten Ehe vor Augen hat, wird nun im folgenden die feierliche allegorische Hochzeit der Philologie und des Mercur gegenübergestellt: „Hold thou thy pees thou poet Marcian, — That writest us that ilke wedding murie, Of hire Philologie and him Mercurie, And of the songes that the Muses songe, — To smal is both thy pen and eek thy tonge, For to descryven of this mariage 1 1 9 ." 117 118

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Merchant's Tale, 1703 seq. Ibideta, 1716—1717 u. 1722 seq. Ibidem, 1732 seq.

Nun erst wird die Braut beschrieben: „Queene Ester looked never with swich an eye On Assuer, so meke a look hath she 1 2 0 ." Der alte Januarius aber sieht sie in entzückter Verliebtheit an und droht in seinem Herzen: „That he that night in armes wolde hire streyne Harder than ever Paris did Eleyne 121 ." Das Schicksal des so geschlossenen Bundes erfüllt sich in der Gartenszene unter dem Birnbaum, die Januarius dem Erblindeten in wahrhaft doppeltem Sinne das Licht der Augen wiedergibt, um ihn nur alsbald um so gründlicher zu verblenden. Es ist in dem Garten, von dem der Dichter vorher gesagt hat, daß: „Priapus ne myghte nat suffise, Though he be god of gardyns, for to telle The beautee of the gardyn, and the welle, That stood under a laurer, alwey grene. Ful ofte tyme he Pluto, and his queene Proserpina, and all hire fairye, Diaporten hem and maken melodye About that welle, and daunced as men tolde 1 2 2 ." Unter den Augen des Götterpaares vollzieht sich die arglistige Täuschung des vernarrten Alten. Pluto verdankt er die Wiederkehr seines Augenlichts und Proserpina rettet May vor der durch das wundertätige Eingreifen ihres Gatten herbeigeführten Entlarvung. Sie erscheinen als Feenkönig und -königin, aber ihr altes Wesen haben sie nicht verloren, denn Chaucer bemerkt ausdrücklich: „Whil that she gadered floures in the mede, In Claudyan ye may the stories rede, How in his grisely carte he hire fette." Auf einer Rasenbank sitzend, beginnt Pluto unter dem Eindruck der Treueschwüre der falschen May — unter Tränen geleistet, während ihr Geliebter auf dem Baume sie erwartet — über die Untreue und Falschheit der Frauen sprechen. Zornig beruft er sich auf Salomons weise Erfahrung und auf Jesus Sirach. Proserpina nimmt sofort den Kampf für ihr Geschlecht auf. Plutos Autoritäten imponieren ihr nicht. Sie stellt ihm die Märtyrerinnen gegenüber, die um ihrer Standhaftigkeit willen „in Christi Haus" wohnen, und fährt fort: But, sire, ne be nat wrooth, — al be it so, Though that he seyde he foond no good womman, I prey you take the sentence of the man, 120 121 132

Ibidem, 1744—1745. Ibidem, 1753—1754. Ibidem, 2034 seq. 293

He mente thus, that in sovereyn bontee, Nis noon but Cod, that sit in Trinitee. Ey, for verray God, that nys but oon, What make ye so muche of Salomon? What though he made a temple, Goddes hous? What though he were rich and glorious? So made he eek a temple of false goddis. How myghte he do a thing that moore forbode is? Pardee! as faire as ye his name emplastre He was a lecchour and an ydola6tre 123 . Das scheint zu subtil, um unmittelbar naiv zu sein. Es ist geradezu eine theologische Distinktion, die Proserpina bei ihrer Interpretation des „salomonischen" Wortes: „Virum de mille unum reperi, mulierem ex omnibus non inveni" (Eccl. VII. 29), anwendet. Und läßt sich etwas Entzückenderes denken, als die Berufung auf die Trinität und den einen Gott, als die fromme Entrüstung über Salomons Götzendienst im Munde Proserpinas? Man hat eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Erzählung des Kaufmanns und dem „Hous of Fame" finden wollen. Wenn sie besteht, gründet sie sich nicht nur auf gemeinsame Reminiszenzen aus der Bibel und antiken Autoren, sondern gerade darauf, daß auch im „Hous of Fame" das halb feierliche, halb ironische Spiel mit klassischen Mythen getrieben wird. Die Erzählung des zweiten Buches, in der der Dichter von einem mächtigen Adler entführt, zum Himmel emporgetragen wird, liefert eine Fülle von Zügen, die dies illustrieren. Am Schluß des ersten Buches sieht Chaucer sich in einer weiten Wüste. „ , 0 Christe', dachte ich, ,der du in der Seligkeit bist, vor Phantomen und Illusionen bewahre mich!' und in Andacht hob ich die Augen auf zum Himmel 1 2 4 ." Was er dort erblickt, ist ein riesiger, golden leuchtender Adler — der Adler des Zeus. Er trägt den Dichter in die Lüfte. Mit den Gesprächen, die er und der Adler während des Fluges führen, ist das zweite Buch ausgefüllt. Der Adler ruft ihm zuerst „Erwache" mit einer Stimme zu, die Chaucer aus seinem häuslichen Leben vertraut ist, nur daß der Ruf freundlicher klingt, als dies gewöhnlich der Fall ist. Der Adler seufzt: „Seynte Marie! Thou art noyous for to carie." Er redet ihm dann freundlich zu. Der Dichter aber wundert sich über das, was ihm widerfährt und denkt: „ , 0 God', thought I, ,that madest kynde, Shal I non other weyes dye? 123 134

294

Ibidem, 2286 seq. Hons of Fame I, 480 seq., 492 seq.

Wher loves woll me stellifye, Or what thing may this signyfye? I neyther am Enok, ne Elye, Ne Romulus, ne Ganymede, That was y-bore up, as men rede, To hevene with Daun Jupiter, And made the goddes boteler' 125 ." Der Adler liest seine Gedanken und belehrt ihn: „Thou demest of thyself amys; For Joves is not theraboute — I dar wel putte thee out of doute — To make of thee as yit a sterre 126 ." Dann klärt er Chaucer darüber auf, daß er wirklich Jupiters Bote ist und macht ihn mit den Absichten bekannt, die den Gott bestimmt haben, seinen Vogel nach dem Dichter auszusenden. Nach vielen lehrreichen Gesprächen nähern sie sich endlich ihrem Ziel, dem Haus der Fama, das der Adler mit den Worten begrüßt: „Seynt Julyan, lo, bon hostel!" Der Vogel des Zeus setzt seine Last sänftiglich nieder und verabschiedet sich mit dem frommen Wunsch: „And God of hevene sende thee grace, Some good to lernen in this place 1 2 7 ." Das dritte Buch aber setzt mit der Anrufung ein: „ 0 God of science and of light, Apollo, through thy greate myght. This lytel laste book thou gye." Es ist bekannt, daß diese „Invocation" sich an die Dantes zu Beginn des ersten Buches des „Paradiso" anlehnt. Aber wenn Dante „buon Apollo" sagt, setzt Chaucer mit dem mächtigen „O Gott des Wissens und des Lichts" ein. Dante beschwört den Gott, ihn so gewaltig zu inspirieren, daß seine Stirn des Lorbeers würdig werde, Chaucer sagt, wohl in bewußter Erinnerung an den Gegensatz: „Nat that I wilne, for maystrye Here art poetical be shewed; But, for the rym is light and lewed, Yit make hit sumwhat agreable, Thogh some vers faile in Billable; And that I do no diligence To shewe craft, but o sentence." 126 136 127

Ibidem, II, 51 eeq. u. 76 seq. Ibidem, 88 seq. II, 514. 579—580. 296

Das Folgende beginnt mit einer wörtlichen Anlehnung an Dante, um sich dann wieder um so schärfer ihm entgegenzusetzen. Es heißt bei Dante: 0 Divina virtu, ei mi ti presti Tanto che l'ombra di beato regno Segnata nel mio capo io manifesti, Yenir vedra' mi al tuo diletto legno E coronarmi allor di queüe foglie Che la materia e tu mi farai degno 1 2 9 ." Er greift nach dem Lorbeer. Dagegen Chaucer: „And if, divyne vertu, thou Wilt helpe me to shewe now That in myn hede y-marked is, — Lo, that is for to menen this, The Hous of Fame for to descryve, — Thou shalt see me go as blyve Unto the nexte laure I see, And kisse it, for hit is thy tree. Now entreth in my breste anoon!" Man kann das so interpretieren, daß Chaucer bescheiden auf den hohen Anspruch Dantes verzichtet und dadurch dem Dichter des „Paradieses" eine versteckte Huldigung darbringt. Selbst wenn dies richtig wäre, würde die Bedeutung der Stelle dadiirch nicht erschöpft. Sie verbindet mit unvergleichlicher Grazie echtes Pathos und leicht schwebende Überlegenheit. Und dieser Freiheit des poetischen Geistes entspringt jene Humanität, die die schlichte Äußerung dankbarer Frömmigkeit ermöglicht, in der ein zu ursprünglicher Reinheit geklärtes Gefühl unbefangen dem Gott und seinem heiligen Baume huldigt. Es entspricht einer tief begründeten Notwendigkeit, wenn nach fast zwei Jahrhunderten in dem Augenblick, da die englische Poesie sich jener reichsten Entfaltung nähert, in der Antike und Romantik des Mittelalters sich zu großartiger Einheit verschmelzen, — wenn in jenem Augenblick Spenser in seinem „Shepherd's Calendar" unmittelbar an Chaucer anknüpft. In der pastoralen Welt dieser Eklogen scheint denn auch die poetische Imagination sich völlig unbefangen in ihrer reinen Sphäre zu bewegen. Wenn der alternde Schäfer in der December-Ecloge betet: „O soveraigne Pan! thou god of shepherds all, Which of our tender Lambkins takest keep . . . " Wenn Spenser in der April-Ecloge Phoebus und Cynthia durch Elisabeth überstrahlen läßt und fortfährt: „But I will not match her with Latonaes seed, Such follie great sorrow to Niobe did breede; 138

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Paradiso I, 22 seq.

Now ehe is a stone, And makes dayly mone, Warning all other to take h e e d ; " wenn er in demselben Gedicht die Musen mit Lorbeerzweigen heranziehen läßt, wenn die Grazien kommen, um die Königin als Schwester in ihrem Tanz einzureihen, ja wenn Elisa als Tochter des Pan und der Syrinx gefeiert wird: „So sprong her grace Of heavenly race No mortal blemish may her blot;" so sind wir in eine widerspruchsfreie Welt poetisch lebendiger antiker Gestalten versetzt. Allein das gilt nicht für das ganze Werk. Es erhält sich nicht in diesem frei schwebenden Spiel der Einbildungskraft, indem die alten Gegensätze aufgehoben sind, sondern läßt die Dichtung zur Waffe in einem neuen Kampf werden, in dem sich allmählich der ursprüngliche Widerspruch zwischen der antiken und der christlichen Welt auf einer höheren Stufe wieder manifestiert. Im „Shepherd's Calendar" wird die pastorale Form zunächst zur poetisch-symbolischen Einkleidung f ü r einen innerhalb der christlichen Sphäre selbst auftretenden Gegensatz. Die Schäferwelt der Ecloge wird verbunden mit der christlichen Vorstellung des Hirten und der Herde, die gewissenhaften u n d die nachlässigen Hillen werden zu protestantischen und katholischen Seelenhirten. Darin liegt aber schon ein anderer, über den Bereich des kirchlichen Zwiespalts hinausgreifender Gegensatz verborgen, der alsbald scharf hervortreten wird: Der alte, unversöhnliche Widerspruch zwischen aiitikem Weltsinn und christlichem Sündenbewußtsein schreitet fort zu dem harten Gegensatz zwischen dem Reich der antiken Imagination und dem rein geistigen Reich protestantischen Christentums, zwischen antiker Sinnlichkeit und puritanischer Sittenstrenge. In der Mai-Ecloge ist diese Entgegensetzung noch eingeschlossen in den der freundlichen Duldung weltlichen Genusses durch den katholischen, und den des unbedingten christlichen Verzichts durch den protestantischen Hirten. Es ist Piers, der Protestant, der jede vermittelnde Einigung ablehnt: „For what concord han light and darke sam?" Auch Pan wird in diesem Gedicht genannt. Aber aus dem antiken Gott der Hirten und Herden, ist „der große P a n " geworden, „der von den Hirten Rechenschaft fordern wird", der „Pan, der selbst das Erbe der Schäfer war", als sie noch in apostolischer Armut lebten. Die Juli-Ecloge nimmt das gleiche Thema wieder auf. I n ihr stehen sich ein Ziegenhirt u n d ein Schafhirt gegenüber, wobei unter den „Ziegen" die am jüngsten Tag Verworfenen zu verstehen sind. Christliches und Heidnisches ist in diesem seltsamen Gedicht mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit nebeneinander gestellt. Morell, der Ziegenhirt, der seine Herde auf den Höhen weidet, preist gegenüber dem Schafhirten Thomalin die Hügel als die 297

Wohnstätte der Heiligen und der Musen. Dann fährt er fort: „And wonned not the great God Pan Upon mount Olivet, Feeding the blessed flock of Dan, Which did hymself beget? Und Thomalin fällt ein: O blessed 6heep! O shepherd great! That bought his flock so dear, And them did save with bloody sweat From Wolfes that would them tear. Morell aber läßt im folgenden „heilige Väter" von dem Hügel erzählen, auf dem sich Titan zu seiner Tagesreise erhebt. Der „heilige Vater" aber ist — Diodorus Siculus. Es folgt Diana und Endymion, woran sich unvermittelt eine Reminiszenz an den Sündenfall und den Verlust des Paradieses schließt. Dann wendet sich Morell zu den Kentischen Hügeln, um von ihnen zu sagen: „Here han the holy Faunes recourse, And Sylvanes haunten rathe; Here has the salt Medway his sourse, Wherein the Nymphes do bathe." Thomalins Entgegnung reiht Abel, als den ersten Schäfer, und die Söhne Jakobs aneinander, um ihnen den Hirten Paris gegenüberzustellen, sich dann Moses und Aaron zuzuwenden, und schließlich mit einer Schilderung des päpstlichen Rom, in dem Pan sich in den Papst verwandelt, zu enden. Es gibt einen Höhepunkt in dem poetischen Werk Spensers, auf dem jenes beglückende Gleichgewicht erreicht ist, in dem die Schalen christlicher Frömmigkeit und antiker Sinnenfreudigkeit auf ebener Höhe ruhig und sicher schweben. Die unmittelbare Lebendigkeit des „Epithalamion", in der sich die Freude über das eigene persönliche Glück und die feste Daseinssicherheit der geistigen Grundstimmung der Zeit eins werden, erhebt sich unangefochten über die in der Tiefe drohenden Widersprüche und läßt sie, alle Gestalten mit gleicher Kraft bildend und beseelend, in der Fülle poetischer Anschauung verschwinden. Was in Chaucers Geschichte von „January und May" in so ironischen Gegensatz getreten war — die Trauung in der Kirche und das folgende bacchantisch taumelnde Hochzeitsfest —, hier wird es versöhnt, christlich fromm und heidnisch zugleich, und reiht sich eines an das andere, ohne daß in dem ruhigen Weitergleiten und dem lebhaften Ansteigen des Gedichts eine Unterbrechung gefühlt werden kann. Schon in der Beschreibung der Braut, die ausführlich bei der sinnlichen Schönheit der körperlichen Gestalt verweilt, um dann mit feierlicher Wendung die innere Schönheit der Seele zu preisen, sind Einheit und Gleichmaß des Lebens vollkommen verwirklicht. Das Eintreten der Braut 298

in die Kirche schließt 6ich an. Sie erscheint vor dem Angesicht des Allmächtigen, laut dröhnt die Orgel, der Chor singt in frohem Wechselgesang. Sie steht vor dem Altar und empfängt den Segen des Priesters. Und die Engel, die um den geweihten Altar verweilen, vergessen ihres Dienstes und umschweben sie, in den Anblick ihrer Schönheit versunken. „Why blush ye, love, to give to me your hand, The pledge of all our band! Sing, ye sweet angels, Alleluya sing, That all the woods may answer and your eccho ring." Im Triumph wird die Braut nach Hause geführt und das Fest beginnt: „Poure out the wine without restraint or stay, Poure not by cups, but by the bellyfull, Poure out to all that wull, And sprinkle all the postes and wals with wine, That they may sweat, and drunken be withall. Crowne ye God Bacchus with a coronall, And Hymen also crown with wreathes of vine; And let the Graces daunce unto the rest For they can do it best." Und die Nacht sinkt herein. In mächtiger Steigerung singt der Dichter von den Liebesnächten Jupiters, Diana wird als Helferin der Frauen angerufen, ein Gebet an Juno, die Beschützerin der Ehe schließt sich an. „And thou, glad Genius! in whose gentle hand The bridale bowre and geniall bed remain, Without blemish or staine; And the sweat pleasures of their loves delight With secret ayde doest succour and supply, Till they bring forth the fruitfull progeny; Send us the timely fruit of this same night. And thou, fayre Hebe! and thou, Hymen free! Grant that it may so be." Zum Himmel aufblickend, bittet der Dichter alle Götter und Mächte um ihren Segen, auf daß ihm eine große Nachkommenschaft zuteil werde, die einst, zum hohen Himmelspalast emporsteigend: „May heavenly tabernacles there inherit, Of blessed Saints for to increase the count." Ihren Höhepunkt erreicht die unbekümmerte Willkür der Einbildungskraft in der Verschmelzung christlicher, romantischer und antiker Gestalten und Vorstellungen, wenn in der „Faery Queen" in der Form mittelalterliche Allegorie, ariostisch spielende Bewegtheit des Aufbaus und stilistische Züge des klassischen Epos, im Stoff ethische Begriffe der Philosophie und christliche Theologie, die Welt des Rittertums und die Mythen des Altertums ineinander verwoben erscheinen. Lucifera, die 299

allegorische Repräsentantin des Stolzes, ist die Tochter Plutos und der Proserpina; ihr Wagen gleicht dem der Juno, wird aber von sechs verschiedenen Tieren gezogen, auf denen die sechs übrigen Todsünden reiten. Der sarazenische wandernde Ritter Sansjoy wird, von Guyon schwer verwundet, mit Hilfe der Nacht in die Unterwelt zu Aesculapius gebracht, der dort in Ketten liegt, weil er den Hippolytos wieder zum Leben erweckt hat. So führt die Erzählung von dem ritterlichen Zweikampf vor Lucifera zu der Behausung der alten Nacht, die von Daemogorgon abstammt; eine Wanderung durch den Hades schließt sich an und wird durch eine knappe Darstellung der Phaedra-Hippolytos-Geschichte abgelöst. Die Vermengung des Mythischen und des Allegorischen tritt an solchen Stellen besonders klar hervor. Daneben finden sich Szenen, in denen der allegorische Gehalt völlig hinter der kräftig-lebendigen Anschaulichkeit antiker Gestalt verschwindet. So geschieht es, wenn Una — die Verkörperung des wahren Glaubens — unter die Faunen und Satyrn gerät und von ihnen feierlich eingeholt und göttlich verehrt wird: „And all the way their merry pipes they sound, That all the woods with doubled Eccho ring; And with their horned feet doe weare the ground, Leaping like wanton kids in pleasant spring. So towards old Sylvanüs they her bring; Who, with the noyse awaked, commeth out To weet the cause, his weak steps governing And aged limbs on cypresse stadle stout; And with an yvie twyne his waste is girt about 1 2 9 ." Darüber hinaus schreitet Spenser aber zu echter Mythenbildung fort. Ein besonders hübsches Beispiel ist die Geschichte der irischen Flußnymphe Molanna, die, eine Gefährtin der Diana, sich von Faun bereden läßt, ihm die Badestelle der Göttin zu verraten und dafür grausam bestraft wird. Faun aber vereinigt sie aus Dankbarkeit mit dem von ihr längst geliebten Flußgott Fanchin 1 3 0 . Dies ist ein mit außerordentlicher Grazie in allen Einzelheiten erzählter, in einer bestimmten irischen Landschaft lokalisierter Mythos. Am großartigsten vielleicht tritt Spensers mythenbildende Kraft in dem weiteren Zusammenhang hervor, in den diese anmutige Erzählung eingegliedert ist. Zugleich aber enthüllt sich in ihm mit besonderer Deutlichkeit die eigentümliche Verbindung mythischer Gestaltung und allegorischer Verbildlichung, die dem Stil der „Faery Queen" das Gepräge gibt. Es handelt sich um den Plan der „Mutability", die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen, die Zurückweisung ihres Anspruchs durch Jupiter und ihre Berufung an die Göttin Natur, deren Schiedsspruch den Streit schlichtet. „Mutability" — durch ihren Namen schon als Allegorie gekennzeichnet — erscheint als Tochter der Titanen 129 130

300

F. Q. I, 6, 14. F. Q. VII, 6, 37 eeq.

und wird so völlig in das antike mythische System eingeordnet. So ist auch die Handlung — abgesehen von einfließenden allegorischen Zügen — durchaus mythisches Geschehen, ein Geschehen, das seinen Höhepunkt erreicht in der Szene, in der die Titanentochter trotzig vor dem Throne Jupiters steht und der Gott, die Locken schüttelnd, nach dem Blitz greift. „But when he looked on her lovely face, In which fair beames of Beauty did appeare That could the greatest wrath soone turne to grace, (Such sway doth beauty even in heaven beare) He staid his hand 1 3 1 ." Die Allegorie ist völlig zur Gestalt, der Inhalt — als schöner Schein im wahren Sinn — zur reinen Erscheinimg geworden. Mit dem Auftreten der „Natur", deren Gestalt der Dichter selbst auf Chaucers „Parliament of Fowles" und Alanus de Insulis zurückführt 132 , scheinen wir ganz in die Welt der mittelalterlichen Allegorie zurückversetzt zu sein. Hier ist es, wo der Dichter, indem er uns die Gestalt der Natur mehr zur Ahnung als zur Anschauung bringt, plötzlich in das ruhige und klare Licht der mythischen Sphäre einen blendenden Glanz aus einem anderen Reiche einbrechen läßt: die Natur ist durch einen Schleier verhüllt — vielleicht, weil das Licht, das sie ausstrahlt, tausendmal stärker ist als das der Sonne, „Ne could be seene but like an image in a glass 1 3 3 " „Ihr Gewand war so strahlend und wundersam leuchtend, daß mein schwacher Geist nichts erinnern kann, dem es zu vergleichen wäre" „As those three sacred Saints, though else most wise, Yet on mount Tabor quite their wits forgat, When they their glorious Lord in strange disguise Transfigur'd sawe; his garments so did daze their eyes 1 3 4 ." Es ist, als ob die sicheren Umrisse der antiken Göttergestalten nur bestehen könnten, solange sie nicht von dem gewaltigen Glanz jenes höheren Lichts überflutet und gleichsam aufgelöst werden. In ihrem eigenen Reiche aber gilt die Macht der Schönheit. Wie aber, wenn die Welt der sinnlichen Schönheit und ihre Lust in Widerspruch gerät zu den unbedingten Forderungen christlicher Sittlichkeit? Spenser ist der Härte dieses Gegensatzes nicht ausgewichen. Er hat ihn in dem der „Temper antia" gewidmeten zweiten Buch bewußt gestaltet und mit puritanischer Strenge den Anspruch der Sittlichkeit vertreten. Mit allem Zauber verführerischer Sinnlichkeit hat er die Wohnstätte der Acrasia ausgestattet. Guyon, der Ritter, der die Temperantia repräsentiert, findet sich in einem Garten von berückender Lieblichkeit. Badende Frauen, deren Reize, deren Verführungskunst der Dichter ohne ängstliche Zurückhal131 132 133 134

F. F. F. F.

Q. VII, Q. VII, Q. Vn, Q. Vn,

6, 31. 7, 9 seq. 7, 6. 7, 7. 301

tung beschreibt, werden seiner Tugend gefährlich 135 . Die folgende Schilderung der Acrasia, die neben ihrem schlafenden Geliebten auf einem Bett von Bosen ruht, scheint sich völlig in schwelgender Sinnlichkeit zu verlieren, bis der Dichter den ganzen Zauber der lieblichen Erscheinung in den feuchten Glanz ihrer Augen gleichsam zusammenfaßt und die Strophe in ruhiger, klarer Schönheit ausklingen läßt: „And her fair eyes, sweet smyling in delight, Moystened their fierie beames, with which she thrild Fraile harts, yet quenched not; like starry light, Which, sparckling on the silver waves, does seeme more b r i g h t 1 3 V Es ist ein Netz, dem des Hephaistos ähnlich, in dem das liebende Paar von dem Ritter und seinem Begleiter, dem Pilger, gefangen und gefesselt wird. Der Palast und der Garten aber werden, ohne Rücksicht auf ihre Schönheit, erbarmungslos zerstört. „But all these pleasant bowers and Pallace brave, Guyon broke downe with rigour pittilesse; Ne ought their goodly workmanship might save Them from the tempest of his wrathfulnesse, But that their blisse he turn'd to balefulnesse. Their groves he feld; their gardins did deface; Their arbers spoyle; their Cabinets suppresse; Their banket houses burne; their buildings race; And, of the fayrest late, now made the fowlest place 1 3 7 ." In dem „rigour pittilesse" liegt gewollte puritanische Härte. Der latente Widerspruch zwischen humanistischer Erneuerung der Antike und dem reformierenden Ernst christlicher Gesinnung ist damit manifest geworden. Die folgende Entwicklung zeigt das so gesetzte Verhältnis in seinen verschiedenen Abwandlungen. Wie Milton das poetische Erbe Spensers antritt und zu geläuterter klassischer Vollendung weiterbildet, so übernimmt er auch den in ihm hervortretenden Widerspruch. Er löst ihn, indem er die poetische Form, die bei Spenser noch zwischen mittelalterlicher Dämmerung und antikem Tageslicht fließend hin- und hergleitet, zu sicherer klassischer Klarheit festigt, und indem er zugleich an die Stelle einer zwischen allegorischer Vision und mythischer Anschauung schwebenden Welt romantisch spielender Imagination eine neue epische Wirklichkeit setzt, in der poetisches Geschehen und die Wahrheit der Offenbarung eins werden. Der junge Milton scheint im „Comus" und im „Lycidas" noch ganz in der freien Welt der Phantasie zu verweilen, in der christliche und antike Sittlichkeitin ihrem Streben eins sind, in der klassisch pastorale Totenklage und » » F. Q. II, 12, 60 seq. 1 3 4 F. Q. II, 12, 78. „Splendel tremulo sub lumine pontus". 1 3 7 F. Q. II, 12, 83.

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grimmiger puritanischer Protest von « i n e m Rahmen umfaßt werden. Und doch sind es nur die Elemente der Form und des Stoffes, die gleich geblieben sind. Die gesammelte K r a f t und die hohe Spannung scheiden den Geist, der sie durchdringt, scharf von der dem Ernst des eigenen Willens in lässiger Fälle gleichsam überlegenen Einbildungskraft Spensers. Die kriegerische Keuschheit der Britomartis erscheint milde neben Miltons keuscher Diana: „Gods and men Feared her stern frown; and she was queen of the woods 1 3 8 ." Und wie großartig antik und puritanisch zugleich ist die unmittelbar anschließende Deutung des Gorgonenhauptes auf dem Schilde der Pallas: „What was that snaky-headed Gorgon shield That wise Minerva wore, unconquered virgin, Wherewith she freezed her foes to congealed stone, But rigid looks of chaste austerity, And noble grace that dashed brute violence With sudden adoration and blank a w e 1 3 9 ? " Aus der Welt der Gestalt, die nur Sinnbild ist, erhebt sich der Dichter in unvermittelt kühnem Übergang in das Reich der Geister, die wirklich sind: „So dear to Heaven is saintly chastity That, when a soul is found sincerely so, A thousand liveried angels lackey h e r 1 4 0 . " Und doch ist dies nur eine poetische christliche Wendung, die aufs neue zur Antike zurückführt. „In klarem Traum und feierlichem Gesicht" erzählen die himmlischen Geister der reinen Seele, „von Dingen, die kein gemeines Ohr zu hören vermag". Das folgende stammt aus Piatons „Phaidon 1 4 1 ". Der Zuhörer ruft hingerissen aus: „How charming is divine Philosophy! Not harsh and crabbed, as full fools suppose, But musical as is Apollo'6 lute 1 4 2 ." Diese Verse sind ein unmittelbarer Ausdruck persönlicher Erfahrung. Sie spiegeln den Gegensatz zwischen der Philosophie der Schule und dem platonischen Humanismus, in dem der junge Milton die Versöhnung des Denkens taiit der lebendigen Einbildungskraft findet. I m „Lycidas" erreicht die englische Poesie jene absolute Vollendung, die nur möglich wird, wo antiker Geist eine moderne Sprache so völlig bildend durchdringt, d a ß der Genius dieser Sprache in der freien Gebundenheit klassischer Form seine reinste eigene Gestaltung erlangt. 138 139 140 141 142

Comus, 445 Comus, 447 Comus, 453 Phaidon, p. Comus, 476

seq. seq. seq. 81 B seq. seq.

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Es ist daher tief im Wesen dieser Dichtung begründet, daß ihre poetische Intensität gleichmäßig die antike bukolische Form und die ihr entspringenden Gestalten und die den Dichter bewegenden, für ihn zeitlich unmittelbar gegenwärtigen Inhalte erfüllt und ihren Widerspruch in einer einmaligen und einzigartigen, aus der persönlichsten Bestimmtheit sich zur Allgemeinheit einer poetischen Idee erweiternden Sphäre anschauender Imagination versöhnt. Eine geheimnisvolle Gesetzlichkeit scheint sich zu offenbaren, wenn die Entwicklung, die mit Spensers „Shepherd's Calender" einsetzt, sich nun im „Lycidas" vollendet —- wenn hier wie dort die Hirten Theokrits und Yergils sich den geistlichen Hirten des Evangeliums gesellen. So unauflöslich ist Christliches und Antikes in dem Gedicht verschlungen, daß wir von der „heiligen Quelle" hören, „die unter dem Sitz Jupiters entspringt", und „von den reinen Augen und dem vollkommenen Zeugnis des allrichtenden Jupiter, wie er am Ende über jede Tat das Urteil spricht" — e i n Name bezeichnet den olympischen Zeus und den christlichen Weltenrichter. Eine antike Gestalt nach der anderen beschwörend, die Quelle Arethusa und Mincius, den Fluß des Virgil, Triton und Äolus und Panope, steigt die Klage hinan zu ihrem Höhepunkt, der feierlich angekündigten Erscheinung des Petrus: „Last came, and last did go The Pilot of the Galilean Lake." Und nachdem die dunkel drohende Prophezeiung des Apostels verklungen ist, besänftigt der Dichter mit unvergleichlicher Kunst den Aufruhr der Stimmung, der durch den unheimlichen Boten aus einer fremden Welt erregt ist, und stellt die klare Ruhe bukolischer Wehmut wieder her, „Return Alpheus; the dread voice iß past That shrunk thy streams; return Sicilian Muse, And call the vales, and bid them hither cast Their bells and flowerets of a thousand liues." Welch eine Wandlung ist es, wenn im „Paradise Lost" die griechischen Götter am Ende eines Katalogs der gefallenen Engel erscheinen, die „über die Erde wandernd durch Lüge und Falschheit den größten Teil der Menschheit verführten, Gott ihren Schöpfer zu verleugnen 143 ". Eine lange Reihe orientalischer und ägyptischer Götter zieht vorüber — ausführlich charakterisiert in ihrem Verhältnis zu Israel; dann fährt der Dichter fort: „These were the prime in order and in might: The re6t were long to teil; though far renowned The Ionian gods . . . " Titan, Saturn, Jupiter werden genannt, Saturn den Titan entthronend und von Jupiter verdrängt. 143

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Paradise Lost, I, 365 seq.

„So love usurping reigned. These, first in Crete And Ida known, thence on the snowy top Of cold Olympus ruled the middle air, Their highest heaven 1 4 4 ." Eine wirksamere poetische Entthronung als dieses ironisch-geringschätzige, in einem Halbvers mit besonderem Nachdruck angefügte: „Ihr höchster Himmel", läßt sich kaum vorstellen. Um so überwältigender ist der Kontrast, der sich in einer alsbald folgenden Stelle bietet. Der Zug der mächtigen höllischen Heerschar wird geschildert und es heißt: „Anon they move In perfect phalanx to the Dorian mood Of flutes and soft recorders — such as raised To highth of noblest temper heroes old Arming to battle, and instead of rage Deliberate valour breathed, firm, and unmoved With dread of death to flight or foul retreat 1 4 6 ." Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen antikem und christlichem Geist bietet das „Paradise Regained". In einer Rede von klassischer Schönheit breitet Satan die ganze Fülle athenischer Bildung — ihn versuchend — vor dem Erlöser aus. Aber Jesus mustert die Schulen der griechischen Philosophie und kommt zu dem Ergebnis: „Who therefore seeks in these True wisdom finds her not, or, by delusion Far worse, her false resemblance only meets, An empty cloud 1 4 6 ." „An empty cloud" — Ixion — ein antikes Bild! Die griechische Poesie ist „unwürdig, mit den Liedern Zions verglichen zu werden". „Remove their swelling epithets, thick-laid As varnish on a harlot's cheek, the rest, Thin-sown with aught of profit or delight, Will far be found unworthy to compare With Sion's songs, to all true tastes excelling 1 4 7 ." Und doch kehrt der Dichter zu Gestalten der griechischen Phantasie zurück, wenn er, auf dem Höhepunkt des Gedichts, den Sieg des Erlösers und den Fall des Versuchers in einem großartigen Bild zur Anschauung bringen will: To whom thus Jesus: ,Also it is written, Tempt not the Lord thy God.' He said, and stood; But Satan, smitten with amazement, fell. As when Earth's son, Antaeus, (to compare Small things with greatest), in Irassa strove 144 146 146 14T

Paradise Paradise Paradise Paradise

Lost, I, 506 seq. Lost, I, 548 seq. Regained, IV, 318 seq. Regained, IV, 343 seq.

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With Jove's Alcides, and, oft foiled, still rose, Receiving from his mother Earth new strength, Fresh from his fall, and fiercer grapple joined, Throttled at length in the air, expired and fell, So after many a foil the Tempter proud, Renewing fresh assaults, amidst his pride Fell whence he stood to see his victor fall 1 4 3 ." Daß dem Dichter hier der innere Widerspruch bewußt ist, ergibt sich aus der gleichsam entschuldigenden Einführung des Gleichnisses — to compare Small things with greatest. Aber es ist eine geradezu sublime Ironie, daß selbst diese Entschuldigung schon von einem antiken Dichter geprägt ist — si parva licet componere magnis —; nur ist aus dem magnis ein maximis geworden. In diesem Superlativ manifestiert sich der Riß, der das christliche Absolute von der Antike trennt. Welches Zeugnis für die klassische Vollendung Miltonischen Stils! Die erhabene Einseitigkeit Miltons steht in ihrer Besonderheit zwischen den Gegensätzen eines formfeindlichen Puritanismus und der Weiterbildungen des Humanismus, die an der universalen Idee eines Christentums festhalten, das sich in das Gesamterbe der Antike eingliedert und den Extremen Roms und Genfs jene anglikanische Liberalität der Gesinnung gegenüberstellen, in der eine Synthese von Kritik und Tradition, von evangelischer Freiheit und antiker Vernünftigkeit, von geistiger Religion und geformter sinnfälliger Gestalt versucht wird. Sehr merkwürdigen Ausdruck findet diese sichere Überlegenheit klassisch-christlicher Bildimg in dem, was John Seiden in seinem „Table Talk" über „Gentlemen" sagt. „Gentlemen have ever been more Temperate in their Religion, than the Common People, as having more Reason, the others running in a hurry. In the beginning of Christianity, the Fathers writ,Contra gentes', and ,Contra Gentiles', they were all one: But after all were Christians, the better sort of People still retained the Name of Gentiles, through the four provinces of the Roman Empire; as ,Gentil-homme' in French, ,Gentil homo' in Italian, ,Gentil huombre' in Spanish, and ,Gentil-man' in English: And they, no question, being Persons of Quality, kept up those Feasts which we borrow from the Gentils; as Christmas, Candlemas, May-day etc. continuing what was not directly against Christianity, which the Common people would never have endured 1 4 9 ." Eine wertvolle Ergänzung hierzu bringt die Äußerung über Ovid: „Ovid was not only a fine Poet, but (as a man may speak) a great Canon Lawyer, as appears in his »Fasti', where we have more of the Festivals of the Old Romans than any where else: 'tis pity the rest are lost"»." 148

Paradise Regained, IV, 560 seq. " » Arber's Reprint, p. 52. 180 Ibidem, p. 85. 306

Die reinste Verkörperung erreicht diese christliche Humanität da, wo sie frei und sicher genug wird, den Ton und Stil der theologischen Kontraverse zu bilden und zu bestimmen und dem Bereich, in dem die Beschränktheit des Ernstes am schwersten zu überwinden ist, sich mit leichter ironischer Unbefangenheit zu bewegen. John Haies versteht es, zu einer Zeit, in der um kirchliche und dogmatische Gegensätze mit fanatischer Leidenschaft gekämpft wird, mit heiterer klassischer Anmut über fundamentale theologische Fragen zu sprechen. So erörtert er in dem „Tract on the Sacrament of the Lord's Supper" das von beiden extremen Richtungen scharf umstrittene Problem der Wirksamkeit des Heiligen Geistes innerhalb der Kirche. Er lehnt die Ansprüche, die sich auf beiden Seiten auf das unmittelbare Zeugnis des „Geistes" berufen, mit unverhohlener Skepsis ab, tritt für eine Definition des „Geistes" ein, der „nichts ist als die Vernunft, erleuchtet durch Offenbarung aus dem geschriebenen Wort" und schließt daran die folgende Betrachtung: „Yet would I not have you to conceive that I deny, that at this day the Holy Ghost communicates himself to any in this secret and supernatural manner, as in foregoing times he had been wont to do; indeed my own many uncleannesses are sufficient reasons to hinder that good Spirit to participate himself unto me after that manner. The Holy Ghost was pleased to come down like a dove: — ,Veniunt ad Candida tecta colurabae; Accipiet nullas sordida turris aves 1 5 1 .' Now it is no reason to conclude the Holy Ghost imparts himself in this manner to none, because he hath not done that favour unto m e 1 5 2 . " Die Eleganz, mit der die Ovidischen Verse hier eingeführt werden, ist unvergleichlich. Nicht weniger anmutig-geistreich ist die Verwendung einer Plinius-Stelle in einem anderen Zusammenhang. In einem „Tractat über die Schlüsselgewalt und die Ohrenbeichte" wendet sich Haies mit aller Entschiedenheit gegen die These, daß die Vermittlung eines Priesters zur Versöhnimg mit Gott nötig ist. „Wer sich seiner Sünde bewußt ist, . . . weiß sehr wohl, daß keine Sünde zu groß ist, daß Gott auf unsere Unterwerfung hin sie nicht vergeben könnte und wollte; und keine so gering, daß Vergebung für sie nicht gesucht werden müßte; sonst hat er seinen Katechismus schlecht gelernt." „And more than this what can any priest tell him? Your Pliny somewhere tells you, — ,That he that is stricken by a scorpion, if he go immediately and whisper it into the ear of an ass, shall find himself immediately eased 1 5 3 .' That sin is a scorpion and bites deadly, I have always believed; but that to cure the hite of it, it was a sovereign remedy to whisper it into the ear of a priest, I do as well believe as I do that of Pliny 1 5 4 ." 1 6 1 Ovid. Tristia, I, 9, 7 seq. Aspicis, ut veniant ad Candida tecta columbae, Accipiat nullas sordida turris aves. 1 5 2 John Hales, Works (Glasgow 1765), I, pp. 69 seq. 1 5 3 Hales zitiert: Si quis asino in aurem percussum a scorpione se dicat, transire malum protinus tradunt. Hist. Nat. XXVIII, 10 (42). 1 6 4 Hales, 1. c., I, pp. 100 seq.

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Über Seidens und Haies' aufgeklärte Duldsamkeit hinaus geht die eigentümliche Vereinigung antiker und christlicher Frömmigkeit bei Robert Herrick. Zwar scheinen die beiden Welten in seinen „Hesperides" in die weltlich-heidnischen Gedichte und die christlich-erbaulichen „Noble Numbers" völlig getrennt, auch scheint er in dem Motto zu den geistlichen Gedichten (Hesiod. Theogonie 27—28) und in der vorangestellten „Beichte" und dem anschließenden „Gebet um Absolution" ausdrücklich seine weltliche Poesie zu verdammen, aber er hat sie zusammen herausgegeben; auch fehlt es in den „Noble Numbers" nicht an Gedichten, die ganz oder teilweise antiken Ursprung haben. Andererseits ist an dem wahren christlichen Ernst seiner schönsten geistlichen Gedichte nicht zu zweifeln. Um diesen auf der Oberfläche liegenden Widerspruch handelt es sich hier nicht. Was einigen Gedichten Herricks ihre besondere Bedeutung gibt, ist vielmehr eine Frömmigkeit, die in ihrer Weite jenseits der Trennung von christlich und heidnisch liegt, die es dem Dichter ermöglicht, den antiken, im wesentlichen den römischen, Kult mit echter poetischer Intensität wieder lebendig werden zu lassen. Besonders deutlich wird dies in einem Gedicht, in dem ein christlicher Ritus zugrunde liegt, christliches und heidnisches aber so ineinander fließen, daß sie völlig eins zu werden scheinen. „Julia's Churching, or Purification 1 5 5 " „Put on thy holy filletings, and so To th'temple with the sober midwife go. Attended thus, in a most solemn wise, By those who serve the child-bed mysteries, Burn first thine incense; next, whenas thou seest The candid stole thrown over the pious priest, With reverend curtsies come, and to him bring Thy free (and not decurted) offering. All rites well ended, with fair auspice come (As to the breaking of a bride-cake) home, Where ceremonious Hymen shall for thee Provide a second epithalamy." Die besondere römische Feierlichkeit des Gedichts beruht zu einem guten Teil auf den gewählten Worten: „sober, solemn, incense, candid, pious, reverend, decurted, rites, auspice, ceremonious." Der durchaus allgemein, nicht christlich religiöse Charakter des Ganzen zeigt sich besonders in der Art wie Hymen mit dem gewichtigen, durchaus die ursprüngliche Stimmung festhaltenden Adjektiv „ceremonious" eingeführt wird. Herrick gebraucht zweimal den Ausdruck „old religion" in einem Sinn, der nur eine solche kühne Erweiterung des Begriffes meinen kann. In dem Gedicht „The Sacrifice", das in der Form eines Dialogs die Zurüstung zu einem Opfer schildert, heißt es: 166

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Hesperides, 898 (ed. A. Pollard, Muses Library, 1898, pp. 106 seq.).

„Come and let's in solemn wise Both address to sacrifice: Old religion first commands That we wash our hearts and hands. Is the beast exempt from stain, Altar clean, no fire profane 1 5 6 ?" Und in „His Prayer to Ben Jonson", in dem in höchst charakteristischer Weise mit der Idee des Heiligen und des Heros gespielt wird, heißt es: „When I a verse shall make, Know I have pray'd thee, For old religion's sake, Saint Ben to aid me. Make the way smooth for me, When I, thy Herrick, Honouring thee, on my knee Offer my lyric. Candles I'll give to thee And a new altar, And thou, Saint Ben, shalt be Writ in my psalter 15 7." Er betet zu dem „Genius seines Hauses", zu den Laren, er gelobt der Minerva eine Eule, der Juno einen Pfau, er widmet den Musen und den Grazien Hymnen und Psalmen 158 . Vollendet römisch endlich ist das Gedicht „To Julia, the Flaminica Dialis or Queen-Priest": „Thou know'st, my Julia, that it is thy turn This morning's incense to prepare and burn. The chaplet and Inarculum 159 here be, With the white vestures, all attending thee. This day the queen-priest thou art made, t'appease Love for our very many trespasses. One chief transgression is, among the rest, Because with flowers her temple was not dressed; The next, because her altars did not shine With daily fires; the last, neglect of wine; For which her wrath is gone forth to consume Us all, unless preserv'd by thy perfume. Take then thy censer, put in fire, and thus, O pious priestess! make a peace for us. For our neglect Love did our death decree; That we escape ,Redemption comes by thee' 1 6 0 ." Hesperides, 870, 1. c., II, p. 99. Hesperides, 604. ib. II, — , 12. 1 6 8 Hesperides, 723, II, p. 55, ib. 674, II, —, 40; ib. 530, I, —, 245; ib. 360, I, p. 178. 1 6 9 Herricks Anmerkung: „A twig of a pomegranate, which the Queenpriest did use to wear on her head at sacrificing"; vgl. Servius zu Aencis IV, 137. 1 9 0 Hesperides, 539, I, p. 247. 166 167

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Die Aufklärung an der Wende des XVII. und XVIII. Jahrhunderts setzt, soweit sie sich gegen die religiöse Schwärmerei in allen ihren Formen wendet, die humanistisch-liberale Tradition fort. Allein es liegt in ihrem Wesen, daß sie nicht mehr in universaler und überlegener Frömmigkeit heidnische und christliche Religion mit gleicher Lebendigkeit durchdringt. Sie wird vielmehr in ihrem mehr oder weniger offenen Kampf gegen das Christentum die Partei der antiken Religion gegen dieses nehmen, oder, indem sie beide gleichsetzt, die humane und geläuterte Freiheit antiken und eigenen philosophischen Denkens der Enge und Beschränktheit religiöser Superstition gegenüberstellen. Die Wendung gegen den Enthusiasmus und das Streben nach antiker Klarheit und Heiterkeit tritt besonder deutlich in den Schriften Shaftesburys hervor. Daß er im alten und im neuen Testament Züge göttlichen „Humors" und heiterer Überlegenheit finden will 1 6 1 , darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er das Christentum und seine Dogmatik ganz klar als eine Verfallserscheinung betrachtet, die ihren Ursprung in dem Sieg des Aberglaubens über die entartete Philosophie und in einer unnatürlichen Verbindung von Religion und Philosophie hat 1 6 2 . So hebt Shaftesbury auch ganz unzweideutig den Kontrast zwischen der echten antiken Religion und dem Christentum hervor. Er betont, daß bei den Alten „the illiberal sycophantick manner of Devotion was by the wiser sort condemned and oft suspected, as knavish and indirect", und beruft 6ich auf Persius und Horaz. Durch lange Zitate aus Plutarch sucht er zu zeigen, „what a share Good Humour had in that which the politer Antients esteem'd as Piety and true Religion 1 6 3 ". Seine Erwägungen über das Christentum aber enden mit einem skeptischen Ergebnis. Es bleibt nur „the bare probability of our having, in the main, a witty and good-humour'd Religion 1 6 4 ". Es stimmt mit dieser Auffassung überein, wenn Shaftesbury den Anhängern der „heidnischen Kirche 1 6 5 " im wesentlichen nur „defensive Zeal" zuschreibt und für die Entstehung des „offensive Zeal" und der Bigotterie das Christentum verantwortlich macht 1 6 6 . Zur Illustration dieser These analysiert er das Verhalten der Epheser und des schlichtenden „Kanzlers" (wie Luther „ypafifiaTeuc;" übersetzt) in der berühmten Episode von der ephesischen Artemis in den Akten 167 . Sie ist ihm ein klassisches Beispiel einer „religiösen Panik" und zugleich eines Ausbruchs jenes „defensiven Eifers", den er den Heiden im Gegensatz zu den Miscellaneous Reflections, I, 3 (Characteristics 1749, III, p. 83—86). Siehe vor allem 1. c., I, 2, III, p. 57. „The un-natural Union of Religion and Philosophy was compleated, and the monstrous Product of this Match appeared soon in the World." An die Stelle der Störche und Krokodile der ägyptischen Religion treten dogmatische und scholastische Begriffe. 1 6 3 Ib. I, 3, III, pp. 87 seq. 1 8 4 Ib. I, 3, III, p. 91. 1 S 6 Siehe z. B. 1. c., III, p. 89, Note l «« 1. c , I, 2, III, p. 58. i e T Act. 19. 23 seq. 161

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Christen beilegt. Daß er das „geheime Motiv" des Eigennutzes, das den Goldschmied Demetrius bewegt, sich nicht entgehen läßt, wird niemand wundernehmen. In der Würdigung des geschickten Verhaltens des „Kanzlers" werden die Grundabsichten Shaftesburys besonders deutlich. Die „Mäßigung und Weisheit" seines Verfahrens entspricht völlig den Regeln, die der Autor selbst in seinem „Brief über den Enthusiasmus 168 " für die Regierungen in der Behandlung der Schwärmer vorgeschrieben und als „an antient Policy" bezeichnet hatte. „The Magistrate, if he be any Artist should have a gentler hand". Nun beruhigt der „Kanzler" die aufgeregten Epheser vor allem dadurch, daß er einerseits der Artemis und ihrem ephesischen Bilde, das vom Himmel herabgefallen ist, huldigt, andererseits aber seinen Mitbürgern versichert, daß den Christen jede Absicht der Tempelschändung und jede Lästerung fernliege. Hierzu bemerkt Shaftesbury: „This, no doubt, was stretching the point sufficiently; as may be understood by the Event, in after time. One might perhaps have suspected this Recorder to have been himself a dissenter, or at least an Occasional Conformist, who cou'd answer so roundly for the new Sect, and warrant the Church in Being secure of Damage, and out of all danger for the future 1 6 9 ." Der heidnische Kult erscheint hier als die anerkannte Kirche, die Christen sind die schwärmerischen Sektierer. Die ruhige Überlegenheit des „Kanzlers" gegenüber beiden Formen religiösen Eifers entspricht jener klugen Toleranz gegenüber aller Schwärmerei, gepaart mit der Freiheit philosophischer Lehre, die in der Antike einen glücklichen Gleichgewichtszustand aufrecht erhalten 170 . Dieses „harmonische und wohlabgestimmte" Dasein innerhalb „der Grenzen natürlicher Humanität" hat die „supernatural Charity" des Christentums zerstört 171 . Es ist eine merkwürdige, fast ironisch anmutende Fügung, zugleich aber das Zeichen einer sicher waltenden inneren Gesetzlichkeit, daß die machtigsten Verteidiger der Kirche, die sich den „Freidenkern" — in deren Reihe Shaftesbury zweifellos gehört — in England entgegenstellen, in verschiedener Weise Träger großer antiker Tradition sind. Swift, Bentley und Berkeley stehen unter den Apologeten gegenüber den Deisten in der ersten Reihe, der größte Satiriker, der größte Philologe und der größte Philosoph der Zeit. Alle sind sie Geistliche der anglikanischen Kirche und vertreten zugleich — bei aller Verschiedenheit im einzelnen — den Angriffen der Freidenker gegenüber ebenso die klassische wie die christliche Humanität. Für Swift ist dies nicht aus seiner grimmigen Persiflage der Deisten („Mr. Collin's discourse of Freethinking" 1713) zu ersehen. Ein um so klareres Zeugnis liefert jedoch „A Letter to a young Clergyman" (1720). Der Brief enthält eine ausführliche Verteidigung der alten Philosophie und sagt von den Kirchenvätern, „sie hätten in einer Zeit 198 170

*71

Characteristics, 1. c., I, p. 12. Misc. Refl., I, 2, III, pp. 59—61. A Letter concerning Enthusiasm, Char. I, p. 13. lb., p. 13.

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des Abstiegs der Literatur gelebt und schienen eher sehr vorzügliche, heilige Personen, als Träger überragender Genialität und Gelehrsamkeit zu sein". Zusammenfassend gibt Swift dem jungen Geistlichen folgenden Rat: „To return then to the heathen philosophers, I hope you will not only give them quarter, but make their works a considerable part of your study: To these I will venture to add the principal orators and historians, and perhaps a few of the poets: by the reading of which, you will soon discover your mind and thoughts to be enlarged, your imagination extended and refined; your judgment directed, your admiration lessened, and your fortitude increased; all which advantages must needs be of excellent use to a divine, whose duty it is to preach and practise the contempt of human things 1 7 2 ." Die plötzliche Verdüsterung, die in der Schlußwendung eintritt, — ist es ein echt Swiftischer Sarkasmus? —, scheint über die freie Klarheit des Vorhergehenden einen drohenden Schatten zu werfen. Allein es ist deutlich, daß der so entstehende Widerspruch nicht auf der alten Antinomie zwischen Christentum und Antike beruht, sondern Swifts eigener Natur entspringt. Es darf nicht verschwiegen werden, daß in einer der Predigten Swifts („On the Wisdom of this World 1 7 3 ") die antike Philosophie mit dem Wort des Jacobusbriefes 1 7 4 verurteilt wird: „This wisdom descended not from above, but was earthly and sensual." Der Spruch ist unvollständig zitiert; in dieser Form wendet Swift ihn auf die Ethik der Alten an. Er fährt fort: „What if I had produced their absurd notions about God and the soul? It would then have completed the character given it by that apostle, and appeared to have been devilish too 1 7 5 ." Der Gegensatz geht so weit, daß Swift sich hier ausdrücklich auf das Zeugnis der Kirchenväter beruft, das er in dem „Brief an den jungen Geistlichen" mit Geringschätzung ablehnt 174 . Man wird kaum fehlgehen, wenn man auf die überlegenere und weitherzigere Auffassung des „Briefes" mehr Gewicht legt als auf den Gedankengang der Predigt, die Swift nicht hat drucken lassen. Swifts persönliches Verhältnis zur Antike, wie es sich aus seinem Gesamtwerk ergibt, entspricht viel mehr dem Geiste des „Briefes an den jungen Geistlichen" als dem der Predigt. Eine besondere Seite dieses Verhältnisses bildet die Verwendung klassischer Mythen und religiöser Vorstellungen in zahlreichen Gedichten Swifts 1 7 7 . Einem ähnlichen Geist, wie diese die Antike ohne Prose Works ed. Temple Scott, III (1898), pp. 209 seq., pp. 210 seq. Ib. IV, pp. 171—180. 1 T * Jac. 3. 15. 1 7 6 Prose Works, ib. IV, p. 177. 1 7 6 1. c., p. 173. 1 7 7 Eine Analyse würde zu weit führen. Die antike Mythologie teilt in diesen Gedichten das Schicksal aller anderen geistigen Gebilde. Er stellt sie nicht nur rücksichtslos in den Dienst seiner Satire,- sondern er widersteht auch ihr gegenüber nicht seiner grausamen Lust, das Große bis zum Scurrilen lächerlich zu machen. Vgl. z. B. Prometheus, „On Wood the Patentee's Irish Halfpenny" (Poems, ed. W. E. Browning, 1910, II, p. 210). „Death and Daphne" (ib. II, 54). „Apollo" (ib. I, p. 211). Am weitesten geht Swift in dieser Richtung in dem „Panegyric on the Dean" (ib. II, pp. 115 m

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Scham lästernden Verse, entspringt ein Gedicht wie der „Pastoral Dialogue 178 ", in dem die alte bukolische Form einen derb komischen Inhalt einschließt, der die zarte Erotik idealer Schäfer in ebenso wirksamer wie respektloser Manier verhöhnt. Dem allen steht jedoch das Zeugnis der „Battie of the Books" entgegen. Man wird in der Verteidigung der Alten, die in der Fabel von der Spinne und der Biene und der sie erläuternden Rede Äsops enthalten ist, doch mehr sehen dürfen als die glückliche Eingebung eines Moments und das poetische Ergebnis eines einzelnen polemischen Anlasses. „As for us the Ancients, we are content, with the bee, to pretend to nothing of our own, beyond our wings and our voice, that is to say our flights and our language. For the rest, whatever we have got, hath been by infinite labour and search, ranging through every corner of nature; the difference is, that, instead of dirt and poison, we have rather chosen to fill our hives with honey and wax, thus furnishing mankind with the two noblest of things, which are sweetness and light 179 ." Es ist ein merkwürdige Fügung, daß sich die Worte „dirt and poison", die hier den harten Gegensatz zu den „zwei edelsten Dingen" bilden, unmittelbar gegen Richard Bentley richten. Es scheint, als ob der tief begründete Widerstreit zwischen „Humanismus" und echter kritischer Philologie hier offenbar würde. Wenn Matthew Arnold von Swift sagt, er selbst habe nur zu wenig von dem eineii dieser edelsten Dinge, der „sweetness", besessen180, so ließe sich das gleiche vielleicht auch von Bentley sagen, so sehr auch seine Gegner in ihrem Hohn über sejne „singularis humanitas" ihm Unrecht getan haben mögen. Und wenn der größte Kenner des Altertums zu seiner Zeit in seinen Predigten gegen den Atheismus und den Bemerkungen zu Collins „Discourse of Freethinking" als Verteidiger des Christentums auftritt, so wird man vergebens nach Stellen suchen, die sich mit dem Problem des Verhältnisses zwischen Christentum und Antike beschäftigen. Der Grund dürfte in der sicheren Unmittelbarkeit zu finden sein, mit der Bentley die beiden Seiten des Gegensatzes gleichmäßig umfaßt, und in der ihm selbstverständlichen Weise, die Dinge selbst sprechen zu lassen und ihre eigene innere Logik innerhalb ihrer Grenzen und ihrer scharfen Bestimmtheit zu entwickeln. Und doch gibt es eine außerordentlich aufschlußreiche Stelle, an der hervortritt, wie die philologische Art zu sehen und zu urteilen in ihrer vollkommensten und reinsten Form, zu einer Grundanschauung werden kann, die sich auf das gesamte Weltbild überträgt und zu einem fundamentalen Argument für eine weise, göttliche Weltregierung wird. In der feierlichen Peroratio zu seiner letzten Predigt seq.), wo er von dem Kult der Cloacina spricht; vgl. besonders p. 123 die Verse über den goldenen Zweig des Aeneas. 1 7 8 Poems, II, p. 99. 1 7 9 Prose Works. 1. C„ I, p. 172. 1 8 0 Culture and Anarchy, Nelson,, p. 95. 313

gegen den Atheismus bedient sich Bentley des folgenden Vergleichs: „We have formerly demonstrated, that the body of a man, which consists of an incomprehensible variety of parts, all admirably fitted to their peculiar function and the conservation of the whole, could no more be formed fortuitously than the ,Aeneis' of Virgil, or another longer poem with good sense and just measures, could be composed by the casual combinations of letters 181 . Now, to pursue this comparison; as it is utterly impossible to be believed, that such a poem may have been eternal, transcribed from copy to copy without any first author and original; so it is equally incredible and impossible, that the fabric of human bodies, which hath such excellent and divine artifice and, if I may say so, such good sense and true syntax and harmonious measures in its constitution, should be propagated and transcribed from father to son without a first parent and creator of it. An eternal usefulness of things, an eternal good sense, cannot possibly be conceived without an eternal wisdom and understanding. But that can be no other than that eternal and omnipotent God, 'that by wisdom hath founded the earth and by understandig hath established the heavens', to whom be all honour and glory and praise, and adoration from henceforth and for evermore! Amen! 1 8 2 " Der Reiz dieser etwas seltsam anmutenden Argumentation besteht vor allem darin, daß mit naiver Kühnheit als das klarste Beispiel vollendeter Teleologie, als das Gebilde, das bis ins Innerste und bis in alle Teile hinein von zweckmäßig vernünftiger Absicht durchdrungen ist, das große klassische Gedicht erscheint. Und dieser Reiz wird noch erhöht durch die Ausführung der Analogie zwischen dem menschlichen Leib und dem poetischen Werk, durch die Übertragung der grammatischen und metrischen Eigenschaften auf den Organismus — wenn von seiner s,richtigen Syntax und seinen harmonischen Maßen" gesprochen wird. Daß die Analogie dann den Beweis für das Erschaffensein des Menschen stützen soll, legt die Versuchung nahe, sich in einem Labyrinth von Überlegungen zu verlieren. Ein Gedicht kann nicht ewig von einer Abschrift zur andern tradiert worden sein — es muß einen Originaltext haben; denn — leider hat Bentley das Argument, das ihm so nahe liegen mußte, nicht ausgesprochen — unsere Texte müßten sonst unendlich korrumpiert sein. Und was würde aus dem kritischen Editor — aus einem Editor wie Bentley, wenn er nicht von der Idee eines ursprünglichen, korrekten Textes ausgehen könnte? Die Reflexion läßt sich aber auch umdrehen und liefert ein sehr merkwürdiges Ergebnis. Wenn — wie die Analogie es verlangt — der Mensch sich fortpflanzt wie ein Text, wenn er abgeschrieben wird von Vater zu Sohn, bis die Kette der Tradition rückwärts bei dem Schöpfer des Vaters endet, der dem Autor des Textes Hier wandelt Bentley, wohl ohne es zu ahnen, am Rande eines Abgrunds. R. Bentley, Works, ed. A. Dyce 1838, III, p. 200. Bentleys teleologisches Argument kehrt wieder in Humes „Dialogues concerning Natural Religion" (ed. Norman Kemp Smith, Oxford 1935, pp. 189 seq.). Es wird p. 192 als „familiar" bezeichnet. 181

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entspricht —, m u ß dann nicht auch der Mensch im Laufe dieser Überlieferung mehr und mehr korrumpiert werden? Wie schade, daß keiner der angegriffenen Freidenker diesen Gedankengang aufgenommen hat, wie es scheint! Er hätte Bentley zwei Gedankenreihen mehr oder weniger ironisch nahelegen können. Die eine hätte den Apologeten daran erinnern können, daß er sich ein ausgezeichnetes kritisch-philologisches Argument f ü r die Entstehung der Erbsünde habe entgehen lassen. Die zweite, eine andere Seite der Analogie zu Ende denkend, wäre vielleicht zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, daß dem Verhältnis des kritischen Herausgebers zu einem lange überlieferten und entsprechend korrumpierten Text fiur das Verhältnis des Priesters zu einer durch lange Fortpflanzung verderbten menschlichen Natur entsprechen könne. Berkeley, der tiefste und scharfsinnigste unter den Verteidigern der religiösen Überlieferung gegenüber der bunten Schar der Deisten u n d Freidenker in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, hat sich in seinem „Alciphron" (1732) jene Gegner als Mitunterredner in einem platonischen Dialog gegenübergestellt. Die Tatsache allein, daß der apologetische Gehalt sich hier in eine höchst humane und klassische Form kleidet, zeigt, daß das Buch sich in die Linie der großen christlichhumanistischen Tradition in England einreiht, die mit den britischen Freunden des Erasmus beginnt. Einer der „Minute Philosophers", gegen die sich die Widerlegung richtet, ist Lord Shaftesbury, der in seinem bedeutendsten Werk ebenfalls die Form des platonischen Dialogs verwendet hatte — „the most ingenious Characterizer of our times", wie Alciphron, sein Bewunderer, ihn an einer Stelle nennt 1 8 3 . Es geschieht in einem Zusammenhang, in dem sich eine höchst merkwürdige Auseinandersetzung zwischen einer Art des heidnischen Humanismus — eben dem Shaftesburys — und dem umfassenderen christlichen Humanismus vollzieht, der durch Crito vertreten wird. Und Berkeley versteht es, mit sicherer und eleganter Kunst den Vorkämpfer Shaftesburys, der eine Stelle auf dem „Soliloquy" seines Lieblingsautors rezitiert, oder vielleicht iesser geradezu deklamiert, lächerlich erscheinen zu lassen, und zwar gerade dadurch, daß vor allem der pathetische Stil Shaftesburys als schlechte und pseudo-poetische Prosa entlarvt wird; daß der „man of good breeding", der so überlegen über akademische Pedanten und über ihren „trockenen, formalen, steifen und schwerfälligen" Stil gespottet h a t 1 8 4 , indem sein Ton von der zu völliger Einfachheit durchgebildeten Sprache Critos und Euphranors abgehoben wird, das Schlimmste widerfährt, das ihm geschehen kann 1 8 5 . Er wird von echter Kritik des schlechten Ge183

G. Berkeley, Works, ed. A. C. Fräser (Oxford 1871), II, p. 196. Ib., p. 197. 186 Ib., p. 198. Berkeley druckt die Stelle aus Shaftesbury in Verszeilen abgesetzt und enthüllt dadurch, wie viele Blankverszeilen die Prosa enthält Das Amüsante ist, daß deutliche Reminiszenzen an einen Hamlet-Monolog herauskommen: „To live, and not to feel! To feel no trouble. What good then? Life itself. And is This properly to live? Is sleeping, life?" etc. 184

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schmäcks überführt; er wird 6elbst zum Gegenstand einer ganz ruhigen und überlegenen, zuweilen zum vernichtenden Sarkasmus gesteigerten Ironie. Dem universalen Charakter des Dialogs und der Fülle der sich in ihm verschlingenden Motive können einige kurze Andeutungen hier nicht gerecht werden. Noch einmal tritt Berkeley mit großartiger Weitherzigkeit ein für die innere Einheit echter antiker und echter christlicher Tradition. Die Kirchenväter werden — und zwar unter höchst wirksamer Berufung auf das Zeugnis des „Freidenkers" Pomponatius, der sie dem Piaton und Aristoteles gleichstellt —, mit leiser Einschränkung in ihrem hohen Werte anerkannt 186 . Der Anglikaner Crito rühmt die Verdienste der römischen geistlichen Humanisten des goldenen Zeitalters Leos des Zehnten, das dem des Augustus an die Seite gesetzt wird 1 8 7 . Ganz im Geiste dieses Humanismus wird die Scholastik mit Verachtung behandelt — sie ist nicht christlichen, sondern mohammedanisch-arabischen Ursprungs und wird schließlich „zu einer Art Aussatz in allen Teilen der Erkenntnis, sie verderbend und in hohlen Wortstreit, in einem höchst unreinen Dialekt geführt, verwandelnd 188 ." Man glaubt Erasmus selbst zu hören, wenn es an einer anderen Stelle heißt: „Wer sieht nicht, daß solch ein in Begriffe gefaßter, abstrakter Glaube dem Denken der Mehrzahl der Christen, der Landleute z. B., der Handwerker, oder der Dienstleute völlig ferne liegt? Oder welche Spuren finden sich in der heiligen Schrift, die uns auf den Gedanken bringen könnten, daß die Haarspalterei abstrakter Ideen den Juden oder Christen als Aufgabe auferlegt sei? Ist irgend etwas im Gesetz oder den Propheten, den Evangelisten oder Aposteln, das so aussieht? Jeder, dessen Verstand nicht durch eine fälschlich sogenannte Wissenschaft verkehrt ist, kann sehen, daß der Heilsglaube der Christen von ganz anderer Art ist — ein lebendiges Prinzip, das Liebe und Gehorsam erzeugt 189 ." Die Erörterung erweitert sich auf das Gebiet des allgemeinen Verhältnisses zwischen antiker und christlich moderner Zivilisation. Während auf der einen Seite gegen die libertine Arroganz der modernen Freidenker die Autorität antiker Weisheit und die innere Einheit mit echtem Christentum behauptet wird, vertritt Crito auf der anderen Seite entschieden die sittliche Überlegenheit der christlichen Zivilisation über die griechisch-römische. Hier wird schon die Frage aufgeworfen, die im Grunde Lord Cromers Überlegungen über antiken und modernen Imperialismus bestimmt, und in gleichem Sinne beantwortet. Es ist der Freidenker Alciphron, der die Antike über die christliche Welt erhebt, der seinen Gegner herausfordert, den ZuDie vernichtendste Ironie gegen Shaftesbury liegt aber vielleicht in dem Vergleich mit — Bunyan (1. c., p. 321). Alciphron zitiert eine Art Parabel Shaftesbury's und Crito antwortet: „Thie beautiful parable for style and manner might equal those of a known writer in low life, renowned for allegory, were it not a little incorrect.*' • « » Ib., p. 278. 1 8 T Ib., p. 203. 1 8 8 Ib., p. 202. 1 8 9 D>„ p. 309.

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stand des modernen „christlichen" England zu vergleichen „nicht mit dem der barbarischen Heiden, von denen wir abstammen, sondern mit den Sitten der berühmtesten Heiden des Altertums". Und er erinnert Crito an „die Unmenschlichkeit jenes barbarischen Brauchs des Duells", der den Römern fremd war. Critos Antwort lautet: „Ich gedenke keineswegs jeden Goten zu verteidigen, der in den Straßen umhergeht mit der festen Absicht, jedermann zu ermorden, der ihm ins Gesicht spuckt oder ihn der Lüge z e i h t 1 9 0 . " Diese Episode zeigt besonders deutlich, daß die Gegner in dem Streitgespräch in einem einig sind: sie bewegen sich beide innerhalb des Kreises antik-christlicher Zivilisation. Der Streit geht um das Verhältnis und die relativen Werte der beiden Grundelemente „antike A u f k l ä r u n g " und Christentum innerhalb dieses Kreises, der eine geschlossene und in sich stetige Welt abgrenzt. Das wird besonders deutlich daran, daß Alciphron sich auf die antike Polemik gegen die Christen, auf Celsus, Porphyrius und Julian b e r u f t 1 9 1 . So kehrt die Entwicklung der von Locke ausgehenden Philosophie hier, in dem diese zum reinsten und folgerichtigsten Idealismus fortgebildet wird, zugleich zum christlichen Humanismus des Erasmus zurück. Und es ist sicher nicht ohne tiefere Bedeutung, daß sein Name an einer Stelle, wo es sich um die rechte Würdigung der Kirchenväter handelt, ausdrücklich genannt wird: „Without any affront to certain modern critics or translators, Erasmus may be allowed a man of fine taste, and a fit judge of sense and good writing 1 9 2 ." Es ist durchaus im Sinn des Erasmus, wenn Crito, nachdem Alciphron sich auf die „natürliche Religion" zurückgezogen hat, ihm erwidert : • „ W i e können Sie behaupten, die Interessen der natürlichen Religion zu vertreten, wenn Sie sich zugleich als Feind der christlichen bekennen; der einzigen anerkannten Religion, die alles einschließt, was in der natürlichen vortrefflich ist, und die allein imstande ist, Ehrfurcht vor jenen so genannten Geboten, Pflichten und Begriffen über die Welt hin zu e r z e u g e n 1 9 3 ? " So ist auch durchaus folgerichtig, wenn als das Ergebnis der Unterhaltung die Forderung nach einer neuen Erziehung auftritt. Euphranor plant eine Art platonischer Akademie, wahrer Kontemplation gewidmet, aus der „nach sieben Jahren^ in Schweigen und Meditation verbracht", der „echte Freidenker" hervorgehen könne, und Crito schließt: „ I m Ernst, ich glaube, daß Denken das große Desideratum des gegenwärtigen Zeitalters ist." So ist die dringende Aufgabe eine neue, richtige Erziehung der herrschenden Klasse, eine Erziehung zum Denken und zur Bekanntschaft mit den ausgezeichneten Schriftstellern des Altertums. Die Jugend soll lernen: „KaXfij; ya.ips.iv 7) juaetv. Dies ist nach Piaton und Aristoteles, die öpdn) TtatSsia, die wahre B i l d u n g 1 9 4 . " 190 191 192 193 194

Ib„ Ib., Ib., Ib., Ib.,

185. pp. 270 seq. p. 278. p. 205. pp. 338—339. p.

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Die Hinwendung zu Piaton, die sich hier deutlich vorbereitet, wird völlig vollzogen in Berkeleys merkwürdigster Schrift, seiner „Siris", die schon in ihrem Titel — „die kleine Kette" — an eine alte neuplatonische Vorstellung anknüpft. Hier wird die Synthese zwischen antiker Philosophie und christlichem Denken vollendet. Zugleich aber erscheinen die großen griechischen Philosophen als die höchsten Autoritäten und — der Kreis erweitert sich — die alte platonische Forderung nach dem philosophischen Staatsmann wird aufs neue erhoben. In der antiken Philosophie liegt das wirksame Gegengewicht gegen die mathematischmechanistische Naturphilosophie der Zeit. Hätte die Philosophie des Sokrates und Pythagoras in diesem Zeitalter geherrscht, unter denen, die sich für zu weise halten, die Gebote des Evangeliums anzunehmen, so hätten wir sicherlich die Selbstsucht nicht so allgemein und so fest den Geist der Menschen in Besitz nehmen sehen; und Sinn für das öffentliche Wohl würde nicht als ysvvata Eurj-frsta, eine edle Torheit, gelten unter denen, die als der wissendste und im Nehmen geschickteste Teil der Menschheit betrachtet werden 195 ." Daran schließt sich ein begeistertes Lob Piatons, „whose writings are the touchstone of a hasty and shallow mind 1 9 6 ". Und sein Name kehrt wieder, im Verein mit denen des Pythagoras und Aristoteles, wo Berkeley die platonische Idee des Staatsmannes aufs neue, unbekümmert um den Spott der Welt, aufnimmt. „Das klarste Licht ist immer notwendig, die bedeutendsten Handlungen zu leiten." And „whatever the world thinks, he, who hath not much meditated upon God, the human mind, and the , s u m m u m b o n u m ' , may possibly make a thriving earthworm, but will most indubitably make a sorry patriot and a sorry statesman 197 ". Allerdings, e i n e Voraussetzung für das erfolgreiche Wirken des echten Staatsmannes muß erfüllt sein, wenn die Kunst, den Staat zu steuern, wie Piaton sie lehrt, anwendbar sein soll. „Unter schlechten Menschen, die der Zucht und der Bildung ermangeln, könnten selbst Piaton, Pythagoras und Aristoteles, wären sie am Leben, wenig Gutes wirken." „Plato hath drawn a very humorous and instructive picture of such a state; which I shall not transcribe for certain reasons. But whoever has a mind may see it, in the seventyeighth page of the second tome of Aldus' edition of Plato's works 1 9 8 ."

1 9 5 Siris, 331, 1. c., p. 494. *»« Ib., 332, 1. c., p. 494. 1 9 7 Siris, 350, 1. c., p. 501. 1 9 8 Siris, 323, 1. c., p. 495. Daß Berkeley die Stelle aus dem „Staat" (pp. 487 E 489 D) hier, wie Fräser in seiner Note nieint, nur ihrer Länge wegen nicht zitierea sollte, halte ich für unwahrscheinlich.

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Britannica Herausgegeben von dem Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hansisdien Universität Heft 1: Die Englische Biographik der Tudor-Zeit. Von Marie Schiitt. Großoktav. 162 Seiten. 1930. RM. 9.— Heft 2: Die Vorgeschichte des historischen Romans in der modernen englischen Literatur. Von Gerhard Back. Grofioktav. 115 Seiten. 1931. RM. 7 — Heft 3: Thomas Hardys Naturansicht in seinen Romanen. Von Frieda Vogt. Großoktav. 120 Seiten. 1932. RM. 6.— Heft 4:

Die Erzählkunst in Thackeray's „Vanity Fair". Von Ludwig Baucke. Großoktav. 202 Seiten. 1932. RM. 8 —

Heft 5:

Drydens Fabeln und ihre Quellen. Von Wolf gang Junemann. Qroßoktav. 103 Seiten. 1932. RM. 5 —

Heft 6: Joel Barlow: Revolutkmist, London 1791-92- Von Victor Clyde Miller. Großoktav. 124 Seiten. 1932. RM. 4.20 Heft 7:

Untersuchungen zur Bienenfabel Mandevilles und zu ihrer Entstehungsgeschichte im Hinblick auf die Bienenfabelthese. Von Wilhelm Deckelmann. Großoktav. 136 Seiten. 1933. RM. 6 . -

Heft 8: Vom Fabliau zu Boccaccio und Chaucer. Ein Vergleich zweier Fabliau mit Boccaccios Decamerone IX. 6 und Chaucers Reeyes Tale. Von Marius Lange. Großoktav. 162 Seiten. 1934. RM. 7 — Heft 9: Jonathan Swift, Gedanken und Schriften über Kirche und Religion. Von Hans Reimers. Großoktav. 162 Seiten. 1934. RM. 8.50 Heft 10: Laurence Sterne im Lichte seiner Zeit. Von Rudolf Maack. Großoktav. 182 Seiten. 1936. RM. 7.50 Heft 11: Der Stil der Davideis von Abraham Cowley im Kreise ihrer Vorläufer. Ein Beitrag zur Untersuchung des ...metaphysical wit" und des Epos vor Milton. Von Hans-Hellmut Krempien. Großoktav. 147 Seiten. 1936. RM. 6.50 Heft 12: Swift: Gulliver's Travels. Eine Interpretation im Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Beziehungen. Von Lilli Handro. Großoktav. 168 Seiten. 1936. RM. 7.—

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