Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s 9783050061245, 9783050043487

Das Altern ist nicht nur eine biologische, sondern auch eine kulturelle Tatsache. Als Objekt der Verhandlungen zwischen

189 63 18MB

German Pages 253 [256] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
The Meaning of Quality of Life in early Old Age
Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter. Vergleichende Untersuchungen in Deutschland, Frankreich und England
Liebe, Tod und Lebensalter. Wandlungen in der Literatur der Frühen Neuzeit
Going Grey in Black and White: The Representation of Old Age in Netherlandisch Prints (1550-1650)
Alt und hässlich oder schön und heilig? Fragen zum ‚gefühlten‘ Alter der Heiligen
„... noch böser als der Teuffel“. Zur Darstellung alter Frauen in der Kunst der Frühen Neuzeit.
Die Lebensrhythmen in den bildlichen Darstellungen spätmittelalterlicher Autobiographien
Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur ‚alternden Gesellschaft‘
Zwischen Naturphilosophie und Anthropologie. Konzeptionen des Alters zwischen Aufklärung und Romantik
Alter als kulturelle Konstruktion. Diskursanalytische und philosophisch-kritische Beobachtungen
Das Gedächtnis alter Frauen: Intergenerationelles Erzählen in afrikanisch-karibisher und -amerikanischer Literatur
Liebe oder Entsorgung? Überlegungen zur Thematisierung der Pflegebedürftigkeit der Eltern in Literatur und Printmedien
The Long History of Old Age
Alt und krank um 1900. Umgang mit älteren Patienten in der Universitätsklinik Tübingen
Alternde Zellen und demographischer Wandel. Biologische und demographische Konzepte in historischer Betrachtung
Werk und Stil des alten Künstlers. Altersbegrifflichkeit um 1900
Das Alter macht Epoche. Literarische Semantik um 1800
Recommend Papers

Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s
 9783050061245, 9783050043487

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Alterskulturen und Potentiale des AlterÇn)s

Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s

Herausgegeben von Heiner Fangerau, Monika Gomille, Henriette Christoph auf der Horst, Andrea von Hans-Georg Pott, Johannes jfó'rg Vögele

Akademie Verlag

Herwig,

Hülsen-Esch,

Siegrist,

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004348-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: breutypo. Christopher Breu, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Heiner Fangerau/Monika Gomille/Henriette Herwig/Christoph auf der Horst/ Andrea von Hülsen-Esch/Hans-Georg Pott/Johannes Siegrist/Jörg Vögele Einleitung

7

David Blane/Gopalakrishnan Netuveli The Meaning of Quality of Life in early Old Age

19

Johannes Siegrist/Morten Wahrendorf Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter. Vergleichende Untersuchungen in Deutschland, Frankreich und England

25

Peter Rusterholz Liebe, Tod und Lebensalter. Wandlungen in der Literatur der Frühen Neuzeit

...

37

Anouk Janssen Going Grey in Black and White. The Representation of Old Age in Netherlandish Prints (1550-1650) Hiltrud Westermann-Angerhausen Alt und hässlich oder schön und heilig? Fragen zum ,gefühlten' Alter der Heiligen

59

.

81

Stefanie Knöll „... noch böser als der Teuffel". Zur Darstellung alter Frauen in der Kunst der Frühen Neuzeit

97

Jean-Claude Schmitt Die Lebensrhythmen in den bildlichen Darstellungen spätmittelalterlicher Autobiographien

109

Gerd Göckenjan Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur .alternden Gesellschaft'

125

Giovanna Pinna Zwischen Naturphilosophie und Anthropologie. Konzeptionen des Alters zwischen Aufklärung und Romantik

141

6

Inhaltsverzeichis

Hans-Georg Pott Alter als kulturelle Konstruktion. Diskursanalytische und philosophisch-kritische Beobachtungen

153

Monika Gomille Das Gedächtnis alter Frauen: Intergenerationelles Erzählen in afrikanischkaribischer und-amerikanischer Literatur

165

Miriam Seidler Liebe oder Entsorgung? Überlegungen zur Thematisierung der Pflegebedürftigkeit der Eltern in Literatur und Printmedien

175

Pat Thane The Long History of Old Age

191

Simone Moses Alt und krank um 1900. Umgang mit älteren Patienten in der Universitätsklinik Tübingen

201

Heiner Fangerau/Jörg Vögele Alternde Zellen und demographischer Wandel. Biologische und demographische Konzepte in historischer Betrachtung

213

Anja Schonlau Werk und Stil des alten Künstlers. Altersbegrifflichkeit um 1900

227

Thomas Küpper Das Alter macht Epoche. Literarische Semantik um 1800

237

Abbildungsnachweis

249

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

251

HEINER FANGERAU/MONIKA GOMILLE/HENRIETTE

HERWIG/

C H R I S T O P H AUF DER H O R S T / A N D R E A V O N H Ü L S E N - E S C H / H A N S - G E O R G POTT/JOHANNES SIEGRIST/JÖRG VÖGELE

Einleitung

1. Das Projekt: Kulturelle Variationen und Repräsentationen des Alter(n)s Im Rahmen des Forschungswettbewerbs „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven!" zur Förderung der Qualität und Exzellenz geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung an den Universitäten des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Schwerpunkt Lebenspraxis und Kultur in alternden Gesellschaften wurde für die Heinrich-Heine-Universität das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Kulturelle Variationen und Repräsentationen des Alter(n)s" bewilligt. Es wurde vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen koordiniert und international begutachtet. Das Alter(n) ist nicht nur eine biologische und soziale, sondern auch eine kulturelle Tatsache. Als Objekt der Verhandlungen zwischen Wissensdiskursen erscheint Alter(n) als ein ebenso heterogenes wie problematisches Phänomen, das von Werturteilen und Weltanschauungen bestimmt wird. Des Weiteren sind Alter(n) und Medizin in der öffentlichen Meinung moderner Gesellschaften eng miteinander verbunden. Die Projektgruppe geht von einem erweiterten, die geistes-, sozial- und medizinwissenschaftlichen Diskurse integrierenden Konzept von Alterskulturen und Potentialen des Alter(n)s aus. Dies bedeutet, Alter(n) als Gegenstand des Wissens und als Konzept zu begreifen. Alterskonzepte, d.h. Vorstellungen, Wertungen und ,Bilder' des Alter(n)s, sind Deutungsmuster für elementare Bedürfnisse an der Schnittstelle von individuellem und kollektivem Leben.1 Unter Gesichtspunkten einer globalisierten Welt zeigt sich Alter(n) als Objekt und Paradigma diskursiver Aushandlung 2 zwischen Wissenskulturen. Die Wissenskulturen finden sich unter einem Kulturbegriff zusammen, unter dem im Anschluss an die wegweisenden Ansätze seit den 1980er Jahren 3 Kultur als Plural, als Gesamtheit der symbolischen Produktionen - darunter fällt nicht zuletzt der Wissenschaftsdiskurs - zu begreifen ist. Die in diesem Kulturkonzept angelegte Thematik 1 Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000, S. 25. 2 Der Begriff der Aushandlung/Verhandlung geht auf den Ansatz des Kulturwissenschaftlers Stephen Greenblatt zurück, der über seinen ursprünglichen Verwendungskontext hinaus inzwischen breite Gültigkeit innerhalb der Kulturtheorie/Kulturwissenschaft erlangt hat, vgl. Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations, Oxford 1988 (dt. Verhandlungen mit Shakespeare. Berlin 1990). 3 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, Reprint, New York 1999 (dt. Dichte Beschreibung, Frankfurt a. M. 3 2003; James Clifford, The Predicament of Culture. Cambridge, Mass. 1988; dazu Eberhard Berg u.a., Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation in: Kultur, soziale Praxis, Text, Frankfurt a. M. 2 1999, S. 11-108.

8

Einleitung

kultureller Differenz zeigt sich in der Form eines Arrangements konkurrierender, sich teilweise durchkreuzender Wissen(schaft)sformationen und -praktiken.4 Wissen konstituiert sich in diesem Bezugsrahmen durch die wissenschaftlichen Einzeldiskurse, Text- und Bildmedien, durch deren Zusammenwirken, Kontrastieren, Sich-gegenseitig-Relativieren und -Kommentieren. Neben der Variation ist dabei der Begriff der Repräsentation von besonderer Bedeutung. Ausgehend von Ansätzen der gegenwärtigen Kulturanthropologie in der Tradition Geertz' und Cliffords, die seit den 1980er Jahren Repräsentation als einen durch sprachlich-rhetorische Mittel bestimmten Vorgang der Objektkonstitution in den Wissenschaften begreifen und diese Gegebenheit ausdrücklich zum Gegenstand der Reflexion erheben, macht sich das Gesamtprojekt - und auch der vorliegende Band - die reflexive Haltung in Bezug auf die konstruierende Kraft der jeweils eigenen Repräsentationsmodi ausdrücklich zu eigen. Im aktuellen kulturtheoretischen Diskurs ist der ursprüngliche Ansatz auf die konstruierende Kraft der repräsentativen Praxis in den Künsten und Medien ausgeweitet worden.5 Unter dem Gesichtspunkt des Zirkulierens kultureller Zeichen in Prozessen der Wissensbildung einerseits und der narrativen Verfasstheit kultureller Diskurse andererseits6 garantiert deren textuelle Struktur die Durchlässigkeit der Spezialdiskurse gegeneinander und rückt damit Aspekte der Übersetzbarkeit zwischen den hier beteiligten Wissenschaftsdisziplinen in den Blick. Der Umstand, dass Alter(n) sich im Spannungsfeld von Biologie und sozialer/kultureller Konstruktion verankern lässt, bedeutet, dass das Thema Alter zwischen die Disziplinen fällt.7 Damit ist eine inter- und transdisziplinäre Erforschung von Alter(n) zwingend erforderlich. Zusammengefunden haben sich die Disziplinen Germanistik, Anglistik, Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften, Soziologie und Medizingeschichte. Anders als in bisherigen Forschungsansätzen8 vereinigt das Projektvorhaben nicht nur Naturund Sozialwissenschaften, sondern führt diese mit Literatur- und Kunstwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte in historischer und interkultureller Perspektive unter Berücksichtigung der Geschlechterdifferenz zusammen. Die kulturellen Variationen und Repräsentationen des Alter(n)s wurden seit Frühjahr 2005 in sechs thematisch verbundenen Einzelprojekten mit folgenden unterschiedlichen Akzentuierungen analysiert. In diachron-historischer Perspektive wurden Konzepte des Alterns in der Medizingeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht. In synchron-gegenwartbezogener Perspektive wurden kulturelle Variationen sozialer Identität im höheren Lebensalter in drei 4 Homi Κ. Bhabha, Nation and Narration, London Ί993; Reprint 2003 (dt. DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation. Tübingen 1997). 5 Vgl. Stuart Hall (Hg.), Representation, London u.a. 1997; Roger Chartier, Le monde comme représentation, in: Annales E.S.C. 44 (1989), S. 1505-1518; Carlo Ginzburg, Représentation: le mot, l'idée, la chose, in: Annales E.S.C. 46 (1991), S. 1219-1234; Jean-Claude Schmitt, Représentations, in: Claudie Duhamel-Amado/Guy Lobrichon, Georges Duby. L'écriture de l'Histoire, Bruxelles 1996, S. 267-278. 6 Begriffe wie Narrativ (Homi Κ. Bhabha, Nation and Narration, (wie Anm. 4)) und Einschreibung („inscription") sind Belege für die Privilegierung des Textmodells in den Kulturwissenschaften. 7 Jürgen Mittelstraß, Methodische Transdisziplinärität, in: Technikfolgenabschätzung 2, 14 (2005), S. 18-23. 8 Die Berliner Altersstudie. Ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Karl Ulrich Mayer, Berlin 2 1999.

Einleitung

9

westeuropäischen Ländern vergleichend analysiert. Eine Vertiefung dieser Thematik erfolgte durch vergleichende literaturhistorische Untersuchungen zu Altersrepräsentationen und -konstruktionen in drei Epochenumbrüchen der Moderne. In literaturwissenschaftlicher Sicht wurde der Zusammenhang von Alter und Erzählen im Kulturvergleich anhand von anglophonen Erzähltexten betrachtet. Auf einer Metaebene wurden Variationen von Konzepten und Kategorisierungen von Altern bzw. Alter in der Germanistik in wissenschaftshistorischer Perspektive untersucht. Schließlich wurden - wiederum in diachroner Perspektive - Konzepte des Alterns in der Kunst vom 16. bis zum 20. Jahrhundert intra- und interkulturell vergleichend interpretiert.

2. Ergebnisse der interdisziplinären Forschungen Konzepte des Alterns in der Medizingeschichte Alter und Medizin sind in den westlichen Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts untrennbar miteinander verbunden. So genannte Alterskrankheiten stellen heute eine der größten Herausforderungen für Gesundheitspolitik, Gesundheitsökonomie sowie medizinische Forschung und ärztliche Praxis dar. Das Teilprojekt analysiert die Entwicklungslinien einer Altersmedizin vor dem Hintergrund des epidemiologischen Übergangs für die Zeit zwischen 1870 und 1930 und verbindet so historische Demographie und Wissenschaftsgeschichte. Eine systematische Zeitschriftenanalyse einschlägiger deutscher allgemeinmedizinischer Wochenschriften von 1880 bis 1930 zeigt ein zunächst geringes, aber tendenziell steigendes Interesse der Ärzte am Alter. Die inhaltliche Analyse eröffnet eine Vielzahl von Gründen, warum sich Mediziner in Deutschland vermehrt mit dem Thema Alter befasst haben. Darunter fallen Fragen der sozialen Sicherung - bedingt durch die Einführung der Alters- und Invalidenrente Ende des 19. Jahrhunderts - und demographische Veränderungen, insbesondere der merkliche Anstieg der Lebenserwartung und die strukturelle Alterung der Gesellschaft. Unter Ärzten diskutierte Themen sind fortan die Ursachen des Alterungsprozesses, die Behandlung von Alterskrankheiten sowie die Bewertung der Alterung der Gesellschaft. Eine im Teilprojekt durchgeführte Analyse des Sterblichkeitswandels von 1875 bis 1950 legt eine Parallelität der Diskurse um die Alterung der Bevölkerungsstruktur und des Alters in der Medizin nahe: Während die Sterblichkeit seit der Jahrhundertwende immer deutlicher zurückgeht, nimmt die Zahl der Zeitschriftenartikel in den Wochenschriften kontinuierlich zu.

Kulturelle Variationen sozialer Identität im höheren Lebensalter vergleichende Untersuchungen in Deutschland, Frankreich und England Soziale Identität, d. h. die Gesamtheit der für das Selbstwertgefühl von Menschen konstitutiven Erfahrungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wird in modernen Gesellschaften aufgrund von Geltungsverlust traditioneller sozialer Bindungen und aufgrund einer sich ausbreitenden Individualisierung der Lebensführung zunehmend brüchig. In besonderem Maß gilt dies für die wachsende Gruppe von Frauen und Männern im sogenannten dritten Lebensalter, einer Lebensspanne, welche im Durchschnitt gut zwei Jahrzehnte umfasst, von

10

Einleitung

der Berentung bis hin zu beginnender Pflegebedürftigkeit. Diese Phase ist zwar durch mehr individuelle Freiheit und neue Konsumchancen, zugleich jedoch durch einen Mangel an verbindlichen Angeboten sozialen Handelns (ζ. B. Fortsetzung beruflicher Arbeit in Teilzeitform, Übernahme von Ehrenämtern und andern Formen sozialen Engagements) - und damit durch eingeschränkte Chancen fortgesetzter sozialer Identitätserfahrung - gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir anhand empirischer Daten strukturelle Bedingungen und Qualität sozialer Identitätserfahrungen im dritten Lebensalter in drei westeuropäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien). Im Zentrum steht hierbei die Teilhabe an rollengebundenen sozial produktiven Aktivitäten im dritten Lebensalter, so insbesondere in den Bereichen .Ehrenamt' und ,Pflege' und die Frage welche Aspekte für eine positive Erfahrung sozialer Identität wichtig sind. Folgende Hypothesen liegen zugrunde: 1. Teilhabe ermöglicht positive Erfahrungen sozialer Identität und fördert dadurch Wohlbefinden und Gesundheit. 2. Dieser Zusammenhang ist immer dann besonders ausgeprägt, wenn produktive Aktivitäten nach dem Reziprozitätsprinzip erfolgen, d.h. soziale Anerkennung gewähren. Wir verwenden Daten aus zwei aktuellen europäischen Alterstudien: dem ,Survey of Health',Ageing and Retirement in Europe' (SHARE) (Deutschland und Frankreich) und der ,English Longitudinal Study of Ageing' (ELSA) (England). Die Ergebnisse zeigen, dass sozial produktive Aktivitäten in den drei untersuchten Ländern in einer Häufigkeit zwischen 5 und 14 Prozent ausgeübt werden. Unterschiede zeigen sich nach Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus und sozialer Schichtzugehörigkeit. Hierbei zeigt sich ein vergleichsweise höherer Anteil ehrenamtlich aktiver' Älterer (65-74 Jahre) und Rentner in England und Frankreich. Wer einer regelmäßigen sozialen Aktivität nachgeht, weist eine höhere Lebensqualität und eine bessere subjektive Gesundheit auf. Dies gilt in erster Linie für ehrenamtliches Engagement, weniger eindeutig für die pflegerische Tätigkeit. Ferner zeigt sich für beide Aktivitäten, dass die erfahrene Reziprozität, die bei der Tätigkeit erfahrene Wertschätzung und Anerkennung, das Wohlbefinden positiv beeinflusst. Als Schlussfolgerung lässt sich festhalten, dass soziale Produktivität im dritten Lebensalter eine bisher unzureichend genutzte Ressource nicht nur zur besseren Erfüllung vielfältiger gesellschaftlicher Aufgaben, sondern auch zur Steigerung von Lebensqualität und Gesundheit engagierter Älterer darstellt. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn entsprechende Aktivitäten dem Prinzip der Reziprozität folgen, d. h. wenn der Leistungsaufwand mit einer in der Regel nicht monetären Gratifikation der Wertschätzung und Würdigung beantwortet wird.

Kulturelle Variationen und Repräsentationen des Alter(n)s: Vergleichende literaturhistorische Untersuchungen Der literaturhistorische Beitrag zur Altersforschung untersucht literarische Zeugnisse verschiedener Epochen im Hinblick auf die Darstellung alter Menschen und die Reflexionen des Alters als Phänomen und als Problem innerhalb verschiedener Gesellschaftsformen und unterschiedlicher Gesellschaftsschichten; insbesondere: Wohn- und Lebensformen alter Menschen, das Verhältnis zur Familie und zur Generationenfolge, prägende soziale Rollen, Re-Konstruktion und Sinngebung der eigenen Biographie angesichts der Abnahme von

Einleitung

11

Lebensalternativen, Erinnerungskultur (persönliche und nationale) im Alter, Alterslektüre, Verhältnis alter Menschen zu ihrem Körper, zu Krankheit und Tod (dem Tod des anderen, dem bevorstehenden eigenen Tod), Geschlechterdifferenzen bei der Wahrnehmung von alten Menschen und bei der Beurteilung von Altersliebe und Leidenschaft (der verliebte Alte, die verliebte Alte - komische, groteske oder tragische Figur), Altersreligiösität und Hinwendung zu Unsterblichkeitsmythen, Altersutopien. Die Untersuchungsergebnisse lassen einen komplexen Zusammenhang zwischen differenzierter Selbsterkenntnis („Erkenne dich selbst!") im Alter und guten oder schlechten sozialen Beziehungen erkennen. Dabei geht es um die Kontinuität oder Diskontinuität von den gesamten Lebenslauf bestimmenden Kräften und Werten, vor allem um Liebe, Lebenssicherung (Ökonomie, Erbschaft), Selbstbestimmung (Selbsterkenntnis) und (ab 1800) um Identitätssicherung angesichts des beschleunigten Veraltens von Lebensformen und Lebensstilen im Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft. Der Beitrag der Dichtung besteht dabei in der Kritik von gesellschaftlichen Stereotypen und in der Darstellung von Alternativmodellen. In Fallbeispielen der Literatur des 19. Jahrhunderts (J. W. Goethe, E.T. A. Hoffmann, Theodor Storm, Theodor Fontane, Hedwig Dohm u. a.) ergibt sich im Hinblick auf den Wandel von Alterskonzepten eine Dichotomie von Weisheit und Narrentum, eine geschlechtsspezifische Ungleichzeitigkeit sowie eine soziale Differenzierung nach Standeszugehörigkeit der Figuren. Dabei muss zwischen Selbst- und Fremdbeobachtung differenziert werden. Bei den Selbstbeobachtungen handelt es sich um die Erforschung von schriftlich überlieferten Innenansichten von Erfahrungen alter Menschen (Autobiographien, Tagebücher und Briefe, Alterswerke). Bei den Fremdbeobachtungen geht es um die Darstellung alter Menschen von außen (auch durch jüngere Autoren) in den verschiedenen literarischen Gattungen (Prosa, Lyrik, Drama) sowie in der ,Reflexionsliteratur' (Traktate, Weisheitsbücher, religiöses und philosophisches Schriftum). Bei der Untersuchung von Repräsentationen des Alters in der Literatur der Jahrtausendwende wurde ersichtlich, dass die Diskussion um die ,demographische Revolution' zunehmend Eingang in literarische und populärwissenschaftliche Texte findet. Das Alter wird in der Gegenwartsliteratur nicht mehr in erster Linie metaphorisch verstanden, sondern literarische Texte werden zum Experimentierfeld für die Reflexion von sozialen Entwicklungen. Neben der Beschreibung des Motivs des Generationenkonflikts und der Anwendung der Singleproblematik auf das Phänomen Alter stand vor allem das Aufeinandertreffen von Fremd- und Selbstbild alter Menschen im Zentrum der Analyse.

Altern und Erzählen im Kulturvergleich Während einerseits die Auseinandersetzung mit den Prozessen und Erscheinungsbildern des Alter(n)s ein transkulturelles Phänomen darstellt, können sich andererseits die Formen seiner Repräsentation in unterschiedlichen Kulturen verschieden ausprägen. Betrachtet man Alterskulturen als Wissenskulturen und damit Alter als kulturelles Narrativ, so versprechen kulturvergleichende Untersuchungen zum Alter als Gegenstand des Erzählens besondere Erkenntnisse. Unter diesem Gesichtspunkt untersucht das Projekt mit regionaler Schwerpunktbildung (afro-amerikanische, asiatisch-amerikanische, indigen-amerikanische bzw. -kanadische Literaturen) anglophone Erzähltexte. Das in den Literaturen des ehemaligen britischen

12

Einleitung

Empire gespeicherte Wissen ist durch komplexe Vorgänge der Interferenz und Interaktion westlicher und nichtwestlicher Traditionen geprägt. Die untersuchten Texte zeigen eine große Variationsbreite im Hinblick auf das Inventar der Altersbilder, auf die Formen und Verfahren ihrer Repräsentation sowie auf deren historische, institutionelle und religiöse Kontexte. Es werden jedoch nicht nur Differenzen, sondern auch Gemeinsamkeiten offenbar, denen ein literarisches Bild entspricht: die Repräsentation von kulturellem Wissen und damit von Gedächtnis durch weibliches Alter. Es ist verknüpft mit Modellen der Konnektivität und des intergenerationellen Transfers kulturellen Wissens. Diese Modelle sind vor dem Hintergrund der weltweiten Migrationsbewegungen zu sehen, die unsere Gegenwart bestimmen. Die Kulturwissenschaft hat zur Kennzeichnung der in diesem Zusammenhang entstehenden Kulturen den Begriff der Diaspora neu belebt.9 Sie betrachtet den Raum der Diaspora als einen lebendigen, dynamischen Raum, in dem sich Elemente des kulturellen Gedächtnisses der Herkunftskulturen der Migranten mit Elementen des kulturellen Gedächtnisses der aufnehmenden Kulturen mischen und gegenseitig befruchten. Das dadurch entstehende Neue lässt auch neue literarische Formen entstehen. Diese sind durch vielfältige intertextuelle Bezüge geprägt. Elemente des Gattungs- und Formenkanons der europäisch-amerikanischen Literaturen gehen teilweise konfliktreiche Verbindungen mit literarischen Traditionen, die zum kulturellen Erbe der Diaspora gehören, ein. Die Dominanz des Bildes der alten Erzählerin lässt sich weder mit den lebensweltlichen Substraten, die es in einigen Kulturen besitzt, noch mit der Tatsache, dass die Mehrzahl der untersuchten Texte von Frauen geschrieben wurde, hinreichend erklären. Einleuchtender erscheint der folgende Deutungsversuch: Sowohl Alter als auch Geschlecht (insbesondere Weiblichkeit) stellen Kategorien dar, die in bestimmten Kontexten Elemente des Imaginären von Kulturen zu bündeln vermögen, das in literarischen Texten figurative Gestalt gewinnen kann.10 Literarische Texte entstehen weniger aus dem ,Leben' selbst als aus anderen, ihnen vorausgehenden Texten, deren Um- und Weiterschreiben sie praktizieren. Insofern gehören die Bilder der alten Erzählerinnen zu den zentralen poetologischen Metaphern internationaler Literaturen, die vor dem Hintergrund einer weltweiten Diaspora die Notwendigkeit der Verschriftlichung kultureller Erinnerung als Grundlage von Identität verkörpern. Zugleich signalisieren diese Bilder eine Korrektur der (Literatur-)Geschichtsschreibung. Sie repräsentieren verschwiegenes oder an den Rand gedrängtes kulturelles Wissen und problematisieren weitere Bilder des weiblichen Alters. Das auf diese Weise entstehende Narrativ des (weiblichen) Alters wird damit widersprüchlich und vielstimmig.

Die Kategorie ,Alter' in den Geistes- und Kulturwissenschaften Die kritische Auseinandersetzung der Germanistik mit den eigenen Paradigmen und der eigenen Begrifflichkeit gehört zu den zentralen Arbeitsfeldern der jüngeren Wissenschaftsgeschichte des Fachs, die sich im Anschluss an die Methodendebatte der 1990er Jahre mit hohem Reflexionsanspruch positioniert hat. Es fällt aber auf, dass die konstante Anwendung 9 Vgl. z. B. Avtar Brah, Cartographies of Diaspora, London u. a. 1996. 10 Zum Verhältnis des Imaginären und des Fiktiven vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991.

Einleitung

13

von ,Alter' als literaturwissenschaftliche Kategorie bislang fast unbeachtet blieb. Die Germanistik verwendet ,Alter' als literaturwissenschaftliche Kategorie, wie die Werkphasen- und Stilbegriffe,Alterswerk' und ,Altersstil' explizit und Epochenbegriffe wie ,Sturm und Drang' implizit zeigen. Hinzu kommen literarische Typisierungen wie ,Alterslob', ,Altersklage', ,Altersspott' und Altersmotive wie ,senex amans' oder ,vetula'. Gerade Komposita mit dem Wortteil ,alt' wie ,Alterswerk' und ,Altersstil' haben kaum Eingang in Fachlexika gefunden, obwohl sie in der Fachsprache allgemein geläufig sind. Die Verwendung von Altersbegrifflichkeit in der Germanistik muss dabei als Teil einer umfangreicheren Diskussion und im diskursgeschichtlichen Zusammenhang der Geistes- und Kulturwissenschaften gesehen werden. Damit wurde eine historische Herleitung der disziplinaren Anwendung von Altersbegrifflichkeit notwendig. Es zeigte sich, dass (1.) die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Altersbegrifflichkeit in der Antike liegen, dass sich (2.) in der Frühen Neuzeit ein entscheidender Umbruch im Diskurs vollzieht und dass (3.) eine weitere Neubewertung um 1800 durch Goethes Neudefinition, die um 1900 in den akademischen Diskurs eingeht, erfolgt. 1. Weder ,Alterswerk' noch ,Altersstil' existieren in der Antike als Begriffe. Diskutiert wird Alter vor allem in der klassischen Literatur. Hier finden sich bereits die Ursprünge dreier unterschiedlicher Bewertungen, die sich bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Die positive Sichtweise auf das Alter betont die Altersreife, die negative hebt die Altersschwäche hervor und in einer dritten Bewertung wird die Altersschöpfung als genialer Höhepunkt gerühmt. ,Alterswerk' und ,Altersstil' zeichnen sich in der Antike weiterhin durch anthropologische Merkmale aus, die Anknüpfungspunkte für die spätere Altersbegrifflichkeit bieten: So wird das ,vom Menschen gemachte' Werk analog zum Modell des .lebendigen Organismus' gedacht. Nach Aristoteles besteht es aus einer „Handlung mit Anfang, Mitte und Ende, damit das Werk einheitlich und abgeschlossen wie ein Lebewesen" sei. Mit dieser antiken Dreiteilung wird später das Gesamtwerk eines Künstlers in eine Jugend-, Reife- und Altersphase unterteilt. Auch für ,Stil' gilt, dass der Begriff trotz seiner Abstraktionsfunktion in enger Beziehung zum Menschen gesehen wird. Zwischen der sprachlichen Ausdrucksweise eines Menschen und seiner geistig-seelischen Disposition wird ein enger Zusammenhang behauptet. 2. In der Frühen Neuzeit wird das Verhältnis zwischen Alter und schöpferischer Kraft vor allem in der bildenden Kunst erörtert. Das Kunstwerk wird nicht länger wie von der Antike bis zum Mittelalter als Ergebnis göttlicher Inspiration, sondern als charakteristischer Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers verstanden. Gleichzeitig thematisiert die Kunstkritik erstmals das Alter des Künstlers in Bezug auf seine Leistungskraft. Die Betonung des Verlusts des handwerklichen Könnens steht im Vordergrund dieser kunstkritischen Alters-Diskussion. Auch die Künstler selbst zeigen eine veränderte Wahrnehmung: Michelangelo ist der erste bekannte Künstler, der literarisch über die Einschränkung seiner Fähigkeiten durch das Alter klagt. Bemerkenswert ist, dass gleichzeitig erste medizinische Traktate zum Alter und zu Verjüngungskuren entstehen. Es ist anzunehmen, dass neben dem veränderten Werkbegriff auch die Aktualität dieser Schriften das Bewusstsein gewandelt hat bzw. beide Phänomene ein verändertes Bewusstsein für die Körperlichkeit des Alters ausdrücken. Die Frühe Neuzeit verändert den Diskurs also durch die Betonung der visuellen und motorischen Verluste des alten Künstlers in der Kunstkritik grundlegend. 3. Erst im späten 18. Jahrhundert lässt sich der Begriff des Alterswerks erstmals nachweisen, wobei die Kunstwissenschaft in der Regel bei Goethe ansetzt. Gesichert ist, dass

14

Einleitung

Goethes Auseinandersetzung mit der Altersbegrifflichkeit einen entscheidenden Einfluss auf den akademischen Diskurs hat, der um 1900 einsetzt. Seine Formel vom Alter als „stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung" prägt die folgende Diskussion in Kunst und Literatur ebenso entscheidend wie seine Analyse des Spätstils Tizians. Der endgültige Durchbruch der Alters-Begrifflichkeit erfolgt um 1900 vor dem Hintergrund eines romantisch-subjektivierten Künstlerbegriffs.

Konzepte des Alterns in der Kunst vom 16. bis zum 20. Jahrhundert Die Tradition der Auseinandersetzung mit dem Alter, der Vergänglichkeit und dem Prozess des Alterns in Kunstwerken wurde im Rahmen der Ausstellung Zum Sterben schön! Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute (vom 6. September bis 26. November 2006 im Museum Schnütgen, Köln, vom 3. Dezember 2006 bis 21. Januar 2007 im Goethe-Museum, Düsseldorf und vom 11. Februar bis 15. April 2007 in der Kunsthalle Recklinghausen) mit den Exponaten außergewöhnlicher Graphiken und kleinplastischer Skulpturen thematisiert. Die den Prozess des Alterns berührenden Themenkomplexe, die durch die Exponate repräsentiert werden, sind das Motiv der vanitas, des memento mori und das aus dem Totentanz stammende Motiv ,Der Tod und das Mädchen' (die Gegenüberstellung von jungen schönen Frauen und verwesenden alten Männern). Sowohl die Ausstellungskonzeption als auch der begleitende wissenschaftliche Ausstellungskatalog und die jeweiligen, die unterschiedlichen Schwerpunkte der einzelnen Ausstellungsorte thematisierenden, Begleithefte erhellen anhand der Objekte den Zusammenhang zwischen den äußeren Bedingungen, den religiösen Wertvorstellungen und dem zeitspezifischen medizinischen Wissen um die Wirkungen des Alterns auf den Körper. Dabei gelingt es im Rahmen der kunsthistorischen Beiträge des Katalogbandes nachzuweisen, dass die Thematisierung des Alters etwa bei Heiligendarstellungen auf spezifische Altersdiskurse reagiert und wirkt. Die Bedeutung des Alters in historischer Perspektive wurde außerdem in den die Ausstellung begleitenden Podiumsdiskussionen sowie in dem für die Schulen erarbeiteten Begleitmaterial zur Ausstellung auf der website: www.zumsterbenschoen.info erörtert. Ein Schwerpunkt der weiteren Forschungen betrifft die kulturellen Variationen von Alter in der bildenden Kunst. Geklärt werden konnte die Entstehung des Bildmotivs ,Der Tod und das Mädchen': Dieses offenbart sich als eine kulturelle Variation einer spezifischen Vorstellung von Alter; hier zeigt sich, dass dieses Motiv nicht, wie bisher angenommen, eine Vereinzelung aus der monumentalen Berner Totentanzfolge darstellt, sondern dass es der frühen Druckgraphik und deren Auseinandersetzung mit dem vorzeitigen und grausamen Tod - im Gegensatz zum Tod im Alter - entstammt. Die Vorstellungen von den die Gesellschaft prägenden Altersstufen und Generationenfolgen in der Kunst stellen einen weiteren Forschungsschwerpunkt dar. Es wird gezeigt, dass Hans Baidung Grien offensichtlich die früheste bislang bekannte weibliche zehnstufige Lebensalterdarstellung geschaffen hat, die auf die noch junge Bildform der Lebenstreppe Bezug nimmt. Außerdem ergibt eine Analyse der Darstellungen von Großeltern mit ihren Enkeln, die vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind, dass das Verhältnis der Großeltern zu ihren Enkeln geschlechtsspezifisch definiert ist. Während Großmütter meist in der Rolle der Gebenden sind, stehen Großväter immer öfter auf der Seite des Empfangenden und für seine Hingabe und Fürsorge Entlohnten.

Einleitung

15

3. Synopse der Tagungsbeiträge Soziologische und psychologische Aspekte des Alterns sind Gegenstand der ersten beiden Beiträge. David Blane und Gopalakrishnan Netuveli untersuchen die eigenständige Bedeutung des so genannten dritten Lebensalters, das sich durch mehr persönliche Freiheit, aber auch durch einen Mangel an verbindlichen gesellschaftlichen Aufgaben kennzeichnen lässt. Sie zeigen, wie diese besondere Situation anhand eines sozialwissenschaftlichen Messverfahrens erfasst werden kann und wie die Ausprägung der Lebensqualität Älterer in Abhängigkeit vom sozialen Status und von sozialen Beziehungen variiert. Johannes Siegrist und Morten Wahrendorf untersuchen den Zusammenhang zwischen sozialer Identität in Form der Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten im höheren Lebensalter und dem Wohlbefinden anhand einer vergleichenden Studie zwischen Deutschland, Frankreich und England. Dabei wird deutlich, dass nicht nur die Tatsache, sozial produktiv zu sein, das Wohlbefinden steigert, sondern auch die Qualität des Austauschs. Wenn ,Geben' und ,Nehmen' im gesellschaftlichen Engagement ausgeglichen sind, stellt sich die günstigste Wirkung ein. Die beiden sozialwissenschaftlichen Beiträge machen deutlich, dass Älterwerden in modernen Gesellschaften erhebliche Potenziale persönlichen und gesellschaftlichen Nutzens in sich birgt. Diese sichtbar zu machen, ist eine wissenschaftliche sowie gesellschaftspolitische Aufgabe. Unter dem Aspekt Repräsentationen des Alters untersucht der Beitrag von Peter Rusterholz die unterschiedlichen Begriffe, mit denen der Lebenslauf von Alten und Jungen im Hinblick auf Liebe und Tod thematisiert wird. Lebenslaufkonzepte ordnen Jugend und Alter je verschiedene Bezüge zu Liebe und Tod zu. Während die konventionell normierten Diskurse der Populärkultur durch weitgehend konstant bleibende Repräsentationsformen geprägt sind, zeigen exemplarische literarische Texte der Frühen Neuzeit Wandlungen der Bilder der Liebe, des Todes und des Alters im Kontext des Wechsels von einer moraltheologisch begründeten zu einer naturrechtlich bestimmten Anthropologie an. Anouk Janssen widmet ihre Untersuchungen der Frage, ob es stereotype Darstellungen von ,guten' und ,bösen' Alten gibt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass kontextgebunden verschiedene Formen existieren, die auch unterschiedliche Facetten der Charaktere beleuchten: Negativ und positiv dargestellte alte Menschen können sowohl zur Kennzeichnung verschiedener Lebensstadien aufeinanderfolgen als auch zur Hervorhebung der jeweils anderen Charaktereigenschaft kontrastierend nebeneinander oder als das jeweilige Exemplum einander gegenübergestellt werden. Hiltrud Westermann-Angerhausen geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Werte mit der Darstellung von jungen oder alten Heiligen verbunden sind. Dazu untersucht sie, in welcher Zeit Heilige als alt dargestellt werden und ob dies mit den Schriftquellen korreliert und wann ihnen entgegen aller theologischen Aussagen in bildlichen Darstellungen eine zeitlose Schönheit zugesprochen wird. Stefanie Knöll untersucht in ihrem Beitrag den Typus der ,hässlichen Alten' in Form einer .zänkischen Alten', der eine Variation von Alter darstellt, für deren Entstehung es bislang in der Forschung keinen Erklärungsansatz gab. Durch den Vergleich dieses Motivs mit der zeitgenössischen Literatur kann sie erstmals eine Interpretation vorlegen, die die Beziehung zwischen dem Prototyp einer alten zänkischen Frau und einem Satyr als diejenige zwischen einer

16

Einleitung

alten Frau und einem Teufel erhellt und das Motiv damit in einen völlig anderen Kontext stellt. Jean-Claude Schmitt analysiert die Beziehung zwischen dem Alter als einer angenommenen Gegebenheit und dem Altern als einer dynamischen Realität. Nach einem weitgespannten Überblick mit Beispielen aus der mittelalterlichen Geschichte und Philosophie exemplifiziert er den Prozess des Alterns anhand der Darstellungen des Geburtstages in historischer Überlieferung sowie ausführlich am Beispiel des Trachtenbuches von Matthäus Schwarz aus dem 16. Jahrhundert, einer der frühesten Manifestationen des Bewusstseins vom Ablauf der eigenen Lebenszeit. Unter dem Gesichtspunkt einer Diskursgeschichte des Alters stellt Gerd Göckenjan mit einem kurzen Überblick über die zentralen Diskursstrategien der Altersthematisierung den Altersdiskurs als Ordnungsdiskurs vor. Von diesem unterscheidet sich die Altersthematisierung seit der Großen Rentenreform von 1957 fundamental, da diese traditionellen Muster obsolet werden. Alter wird von nun an nicht nur zu einer neuen Lebensphase, sondern das Altersbild des Rentners ist gleichzeitig auch durch die „Rolle der Rollenlosigkeit" gekennzeichnet. Diese Leerstelle wird nun im Altersdiskurs zu füllen versucht. Damit hat sich dieser nach der Einschätzung von Gerd Göckenjan in der Gegenwart vom Ordnungs- zum Klienteldiskurs gewandelt. Giovanna Pinna zeigt, dass der Wandel der Wahrnehmung und der Repräsentation des Alters in der deutschen Philosophie und Literatur um 1800 nicht nur mit den Veränderungen der Gesellschaft, der Enttraditionalisierung und der funktionalen Differenzierung, zu tun hat, sondern auch mit einem ideologischen Wandel des Naturbegriffs in der romantischen Philosophie. Mit dem Wechsel von einer mechanistischen zu einer organisch-vitalistischen Naturauffassung bei Schelling geht eine Veränderung in der Konzeption des Alters einher: Sowohl was die literarische Metaphorik des Alters angeht als auch die wissenschaftlichen Diskurse. Medizin, Biologie und Psychologie anstelle der ,Physik' werden die Leitwissenschaften, die sich mit dem Alter beschäftigen. In diesem Zusammenhang wird die Idee des Alters fundamental verändert. Hans-Georg Pott untersucht,Alter' als kulturelle Konstruktion, also als Gegenstand von unterschiedlichen ,Medien' und ,Diskursen'. Er beobachtet die Wissensformen der Konstruktion von Alterskulturen. Dazu werden der 3. und 5. Altenbericht der Bundesregierung, die Gerontologie, ein Altersbrief Petrarcas, Simone de Beauvoirs Altersbuch und eine gegenwärtige .Philosophie des Alters' analysiert und kommentiert. Der Beitrag von Monika Gomille zeigt Alter als vieldeutige, mit unterschiedlichen Semantiken auffüllbare Kategorie. Anhand afro-karibischer und -amerikanischer Literatur illustriert der Beitrag die Bedeutung von Bildern weiblichen Alters als transkulturelle, Gedächtnis verkörpernde Fiktionen. Erzählte Erinnerungen sind in diesem Zusammenhang für die kulturelle Konstruktion von Diaspora-Gemeinden zentral. Miriam Seidler vergleicht in ihrem Beitrag Narrationstechniken in Printmedien und Literatur am Beispiel der Darstellung pflegebedürftiger alter Menschen. Sie zeigt, dass beide Medien zwar mit ähnlichen ästhetischen Mitteln arbeiten, dass die Alterskonstruktionen der Literatur aber dennoch wesentlich realistischer und differenzierter sind, da die Literatur die Lebensphase Alter in der Regel nicht losgelöst von den vorhergehenden Erfahrungen und Beziehungen betrachtet. In der abschließenden Gruppe unter dem Titel Alter in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte untersucht Pat Thane in ihrem Beitrag die historische Dimension des Umgangs mit

Einleitung

17

alten Menschen und den sich ständig wandelnden Bildern des Alters in Nordeuropa mit einem Fokus auf Großbritannien. Den Bilderbegriff fasst sie dabei weit, indem sie die Bilder des alten Menschen in seiner alltäglichen Umgebung sowohl auf der Basis von Textdokumenten als auch von Bilddarstellungen analysiert. Simone Moses stellt in ihrem Beitrag den ,alten Menschen' um 1900 im Krankenhaus vor. Auf der Basis von Patientenakten der Medizinischen Klinik in Tübingen zeichnet sie ein Bild vom Gesundheitszustand der „älteren Patienten", von der gesellschaftlichen Stellung kranker Menschen im Alter und der medizinischen Behandlung und psychologischen Betreuung der älteren Patienten in Tübingen. Heiner Fangerau und Jörg Vögele untersuchen in ihrem Beitrag die Verbindung zwischen biologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Alterstheorien, wie sie sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert darstellten. Dabei beschreiben sie sowohl die derzeit gängigen Alterstheorien als auch das bevölkerungswissenschaftliche Konzept des demographischen Wandels im Hinblick auf ihre Wirkung bis in die heutige Zeit. Die Untersuchung von Anja Schonlau setzt sich mit der akademischen Etablierung von Alters-Terminologie in den Geistes Wissenschaften um 1900 auseinander. Dieser Prozess ist im Kontext einer inhaltlichen Aufwertung von Spätwerken zu sehen, die mit einer Idealisierung letzter Potenzen des alten Künstlers (Tizian) einhergeht. Er ist begrifflich eng mit der Reaktion der frühen Germanistik auf Johann Wolfgang von Goethes Spätwerk verknüpft und wird nach 1900 von der Kunstwissenschaft fortgeführt. Thomas Küpper führt in seinem Beitrag vor Augen, welche Schwierigkeiten sich ergeben können, wenn wissenschaftliche Ansätze literarische Strömungen anhand von Alterskategorien wie J u g e n d ' , ,Reife',,Generation' usw. beschreiben: Mit solchen Formeln übernimmt die Wissenschaft geradezu Versatzstücke, die etwa der Literatur um 1800 ihrerseits zur Selbstdarstellung dienen. Wenn literarische Bewegungen sich ausdrücklich als Jugend- oder Altersbewegungen ausgeben und die Forschung sie mit den gleichen Etiketten versieht, dann fehlt es dieser an Distanz zu ihrem Objekt. Um die literarische Alterssemantik nicht zu kopieren, sondern zu analysieren, ist nach ihrer Funktion für das Literatursystem zu fragen. Als theoretische Grundlage seiner Analyse zieht Küpper Luhmanns Theorie sozialer Systeme und ihrer Evolution heran. Seine Beispiele sind Gottscheds ,Critische Dichtkunst', der ,Sturm und Drang', Goethes Gestalt des erwachsenen und reifen Dichters und Immermanns Epigonen-Roman.

DAVID BLANE/GOPALAKRISHNAN NETUVELI

The Meaning of Quality of Life in early Old Age

Background In Britain since 1970, as in most of Europe, life expectancy at middle age has increased by more years than during the rest of the Twentieth Century combined. 1 This biological transition is giving us a new stage of the life course, situated between labour market exit at one end and the onset of physical dependency at the other end. Today a growing proportion of the population, after retirement from paid employment, can expect to spend from 10 to 20 years in reasonable health and, due to the spread of second pensions, comparative financial security. As yet this new stage of life lacks norms and values, legitimate expectations and social content; for social scientists it will be fascinating to watch these emerge over the coming period of time. 2 Policy concerns in relation to ageing now include quality of life and the postponement of physical dependency. Interestingly, the former has resurrected an age-old debate about the nature of happiness, well-being and quality of life: eudaemonia or hedonism, virtue or pleasure, reflecting the work of two recent Nobel Laureates - Amartya Sen and Daniel Kahneman. 3 The empiricist contribution to such debates is to try to measure these phenomena. Broadly speaking, there are two approaches to measuring quality of life at older ages. 4 The subjective approach treats the respondent's point of view as sovereign; for example, asking "How do you rate your quality of life?". 5 The disadvantage of this approach is its vulnerability to what Sen calls adaptive preference, by which he means the tendency of human beings to judge their situation in relation to their surroundings, so that a slave in a society where slavery is endemic may judge their quality of life as good if their owner does not whip them. 6 The alternative approach is theory-based, which is open to the criticism of academic arrogance: 1 In 1980-82, a 45 years old man in Great Britain could expect to live for another 29 years and a woman of the same age for 33 years; after two decades in 2000-2002, the life expectancy at 45 years was 33 years for men and 37 years for women. 2 However, it has acquired a name: the Third Age, which "implies a different arrangement of the stages of life from any that has previously been suggested." (P. Laslett, A Fresh Map of Life, London 1996, p. 3) A more detailed discussion follows. 3 See M. Nussbaum/A. Sen, The Quality of Life, Oxford 1993 and D. Kahneman/E. Diener/N. Schwarz, Well-being: The foundations of hedonic psychology, New York 1999. 4 G. Netuveli and D. Blane, Quality of life in older ages. British Medical Bulletin (forthcoming). 5 A. Bowling, Measuring Health: A Review of Quality of Life Measurement Scales, Philadelphia 1997. 6 A more general treatment within the theory of epistemology is in Nussbaum/Sen, Quality of Life (cf. note 3). What we have flagged here as adaptive preference is dealt in great detail with examples in M. C. Nussbaum, Women and human development. The capabilities approach, New York 2000.

20

DAVID B L A N E / G O P A L A K R I S H N A N N E T U V E L I

"Why do you, the academic, think you know better than the respondent?" 7 Probably neither approach is perfect; and both have their virtues. The present researchers' response has been to choose the theory-based approach; and to compare its results with those of the subjective approach (reassuringly, the results of the two approaches tend to agree). Three strands within 1990s' social theory have influenced our approach.8 The idea of the Third Age was coined by Laslett to describe, and to suggest a social content for, early old age.9 Laslett reasoned that the previous stages of life were concerned primarily with socialisation and then the responsibilities of work and family formation. The Third Age was the first opportunity in life to give priority to the self, its well-being and self-realisation; and these are the appropriate tasks of early old age. Giddens pointed out the vulnerability of the sense of self in a rapidly changing society that weakens the old structures of social position and requires reflexivity to maintain continuity of self over time.10 Doyal and Gough add to Giddens' analysis by stressing the autonomy and social participation that are preconditions for reflexivity and the continuity of self over time.11

CASP Our measure of quality of life contains four domains identified by these social theorists as key to contemporary life at older ages: Control (freedom from), Autonomy (freedom to), Self-realisation, Pleasure; giving the acronym CASP. We are aware that there may be cultural variations in the value attached to these dimensions; in particular, autonomy may be less valued in cultures where offspring are expected to care for their aged parents (these issues are being explored currently in Russia, Japan and India). An important characteristic of the CASP measure is that it is intended to be independent of the factors which may influence it, such as financial circumstances and health status. The dimensions and the items which operationalise them were explored by focus groups,12 with 19 questionnaire items so identified - hence CASP-19. Each item is scored 0 - 3 on a Likert scale, giving a summary score that ranges from 0 to 57. The Cronbach alphas13 of the 7 The 'arrogance' we display is more in our theoretical stance about what defines quality of life in the third age in the reflexive world of post-materialistic culture than in the approach we use per se. In the taxonomy of models of quality of life by Bowling (see Bowling, in: J. Brown/A. Bowling/T. N. Flynn, Models of quality of life. A taxonomy and systematic review of the literature. European Forum on Population Ageing Research, 2004) our model does not fit into any single taxon, but could be considered as straddling two taxa: satisfaction of human needs and psychological models, suggesting we are not too far off the beaten track. 8 P. Higgs/M. Hyde/R. Wiggins/D. Blane, Researching quality of life in early old age: the importance of the sociological dimension. Social Policy and Administration 37 (2003), p. 239-252. 9 Laslett, Map of Life (Cf. note 2). 10 A. Giddens, Modernity and Self-Identity, Cambridge 1991. 11 L. Doyal and I. Gough, A Theory of Human Need, Hong Kong 1991. 12 A selection of statements based on our theoretical concepts was offered to the focus groups for discussion. Originally 22 items were selected but three of them were dropped later. 13 Cronbach's alpha is an aggregate measure of how well the items correlate with the scale they construct with values ranging from 0 to 1. A value nearer to one suggests better consistency Similarly lambdas, ranging from - 1 to 1, represent the strength of relationship between the items and the unobserved (latent) quality of life.

The Meaning of Quality of Life in early Old Age

21

dimension items vary from 0.59 to 0.88; and load onto a second order factor, quality of life, with lambdas that range from 0.71 to 0.88. Construct validity is indicated by a correlation r=0.63 with the Life Satisfaction Index-Wellbeing.14 In other words, the technical properties of the CASP-19 measure are not perfect, but they are adequate for practical purposes; as demonstrated by the measure's subsequent adoption by major studies worldwide, including: English Longitudinal Study of Ageing and British Household Panel Survey in Britain; Health and Retirement Survey in USA; and HAPIEE in Russia and Eastern Europe. A shortened version, CASP-12, has been included in Study of Health, Ageing and Retirement in Europe. A second version of CASP-12, with better domain properties, is in preparation,15 as is the first comparison of Europe with USA and Russia.16

Data The summary results that follow are based on the English Longitudinal Study of Ageing (ELSA), which is a large (N = 11,234), nationally representative, sample of people aged 50 years and older in England. This survey is multi-purpose, covering work and retirement, income and wealth, social activity, health and environment. The present analyses are crosssectional, based on ELSA Wave 1 (2002). 17

Results The regression coefficients in table 1 are age & sex adjusted and independent (mutually adjusted); and the numbers in parentheses are standardised beta coefficients. 18 Quality of life in ELSA was reduced by: clinical depression (-0.265), poor financial situation (-0.157), 14 M. Hyde/R. Wiggins/P. Higgs/D. Blane, A measure of quality of life in early old age: the theory, development and properties of a needs satisfaction model (CASP-19). Aging and Mental Health 7 (2003), p. 186-194. 15 R. D. Wiggins/G. Netuveli/M. Hyde/P. Higgs/D. Blane, An empirical evaluation of a theoretically grounded measure of quality of life (CASP-19) across three research settings, (personal communication). 16 G. Netuveli/H. Pikhart/M. Wahrendorf/M. Bobak/J. Siegrist/D. Blane, Wellbeing in the older ages: inequalities across Europe, Russia and USA. (personal communication). 17 The data were made available through the UK Data Archive. ELSA was developed by a team of researchers based at the National Centre for Social Research, University College London and the Institute for Fiscal Studies. The data were collected by the National Centre for Social Research. The funding is provided by the National Institute of Aging in the United States, and a consortium of UK government departments coordinated by the Office for National Statistics. The developers and funders of ELSA and the Archive do not bear any responsibility for the analyses or interpretations presented here. 18 We did linear regression in which we predict CASP-19 using a set of variables assuming that each variable independently contribute to the overall predicted CASP-19 score. The beta coefficients represent how much that contribution is for every unit increase in the predicting variable. However, the scales of variables vary and since the size of the beta coefficients depends on those scales, the coefficients themselves are of much use in estimating the relative importance among the variables. We overcome this limitation by standardising the beta coefficients so that they can be validly compared with each other.

22

DAVID BLANE/GOPALAKRISHNAN NETUVELI

Table 1 : Influences of quality of life at older ages; English Longitudinal Study of Ageing; multiple linear regression of CASP-19 scores; Numbers are standardized beta coefficients. Standardised Beta Coefficient Socioeconomic variables: No educational qualifications Top 40 % of income distribution Two or more motor cars

- 0.023 0.038 0.066

Social relationships: Caring for somebody Volunteering Trusting relationships

- 0.037 0.030 0.105

Health: Long-standing illness Restricted activities of daily living Depression

- 0.028

-0.112 -0.265

Source: Netuveli et al. (cf. note 19) 2006.

limitation of mobility (-0.124), difficulty with everyday activities (-0.112) and having a limiting long-standing illness ( - 0.112). Quality of life in ELSA was increased by: a trusting relationship with at least some family members (0.105), a trusting relationship with at least some friends (0.078), frequent contact with friends (0.059), living in a liked neighbourhood (0.103) and having two or more motor cars (0.066). The regression model containing both negative and positive factors explains 48 % of the variance in CASP-19 score;19 a proportion which is similar to an earlier estimate from the smaller Boyd Orr cohort.20 Resilience,21 or the ability to maintain good quality of life in the face of adversity, was influenced also by social relations. The type of social relation that was protective tended to vary with the nature of the adversity faced. When the adversity was financial (poverty), the quality of the older person's relationships with their children was the important factor. When the adversity was a physical disability, membership of social organisations was protective. When the adversity was a limiting long-standing illness, the important factors were social participation and, again, membership of social organisations.22

19 G. Netuveli/Z. Hildon/S. Montgomery/R. Wiggins/D. Blane, Quality of life at older ages: evidence from English Longitudinal Study of Ageing. Journal of Epidemiology and Community Health 60 (2006), p. 357-363. 20 R. Wiggins/P. Higgs/M. Hyde/D. Blane, Quality of life in the third age: key predictors of the CASP19 measure. Aging and Society 24 (2004), p. 693-708. 21 Resilience, often described in terms of super human beings winning against all odds, is studied more often among children. We find it a scarce, and therefore, very valuable capability among the older people. A vade mecum of our researches can be found in Bartley (2006). 22 G. Netuveli/S. Montgomery/Z. Hildon/R. Wiggins/D. Blane, Resilience to functional limitations at older ages: role of social factors, (personal communication).

The Meaning of Quality of Life in early Old Age

23

Discussion These results show that poor health, particularly when it limits physical functioning, and financial problems are the main factors that reduce quality of life at older ages; and that social relations with family, friends and neighbourhood, as well as material affluence (owning two or more cars) are the main factors that increase quality of life, with resilience depending on participation in social life and its organisations. These results are consistent with earlier findings from ELSA 2 3 and the Boyd Orr cohort. 24 Some of these results suggest a material explanation. The resilience-enhancing effect of a good relationship with one's children, when faced with poverty, could depend upon the children giving money to their parents. Similarly, the resilience-enhancing effect of membership of social organisations, when faced with physical disability, could depend on other members of these organisations helping with shopping, transport and the other things made difficulty by disability. In general, though, the positive influences are as much social relationships as material circumstances. In this sense, social connectedness is crucial to the meaning and experience of quality of life at older ages. The main reservation about this conclusion is that our findings depend upon cross-sectional data, so it is not possible to disentangle causal sequences, for example, whether physical disability preceded poor social relations. Fortunately, new data are coming on stream which will allow us to clarify these issues. In the meanwhile, a reasonable prescription for good quality of life at older ages might be: Enough money, good health and an active social life characterised by trust. The spread of second pensions and the increase in life expectancy at middle age address the first two prescribed items; its time for social policy to address the third.

23 G. Netuveli/Z. Hildon/S. Montgomery/R. Wiggins/D. Blane, Need for change in focus from illness to functioning to improve quality of life: evidence from a national survey. British Medical Journal 331(2005), p. 1382-1383. 24 R. Wiggins/P. Higgs/M. Hyde/D. Blane, Quality (cf. note 20), p. 6 9 3 - 7 0 8 .

JOHANNES S I E G R I S T / M O R T E N W A H R E N D O R F

Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter Vergleichende Untersuchungen in Deutschland, Frankreich und England Einleitung Zu den großen Herausforderungen moderner Gesellschaften gehört zweifellos das demographische Altern. Für einen wachsenden Anteil von Bevölkerungen in industrialisierten Ländern hat sich die Lebenserwartung in den vergangenen lOOJahren substantiell erhöht, insbesondere stieg die durchschnittliche Überlebenszeit jenseits des siebzigsten Lebensjahres stark an. Dieser Trend wird sich aller Voraussicht nach in nächster Zukunft fortsetzen. Zwar bestehen deutliche Unterschiede der Lebenserwartung nach Geschlecht und nach sozialer Schichtzugehörigkeit, aber für die gesamte ältere Bevölkerung zeichnen sich mit dem demographischen Altern zwei große Problembereiche ab. Erstens stellt sich die Frage, wie die Behandlungs-, Pflege- und Betreuungskosten im höheren Lebensalter gesamtgesellschaftlich aufgebracht und gesichert werden können. Bezüglich des Generationenvertrags solidarischer Leistungen der Alterssicherung spitzt sich dieses Problem weiter zu durch einen Rückgang der erwerbsaktiven Bevölkerung, sowohl als Folge generativen Verhaltens als auch makroökonomischer und technologischer Entwicklungen. Eine zweite Frage betrifft das so genannte dritte Lebensalter, d. h. die Lebensspanne zwischen traditionell festgelegter Altersgrenze bei Eintritt in den Ruhestand und dem Einsetzen irreversibler Schädigungs- und Behinderungsprozesse, d. h. in der Regel eine Spanne zwischen dem sechzigsten und achtzigsten Lebensjahr. In dieser Phase sind viele Ältere bei relativ guter Gesundheit und verfügen über vielfältige Erfahrungen und Kompetenzen. Allerdings werden diese Ressourcen gegenwärtig aufgrund mangelnder gesellschaftlich institutionalisierter Angebote des Handelns nicht ausreichend genutzt. Mit anderen Worten: Soziale Produktivität im dritten Lebensalter ist ein sowohl im wissenschaftlichen wie im gesellschaftspolitischen Diskurs vernachlässigtes Thema. Umso wichtiger ist es, Chancen und faktische Verbreitung sozialer Produktivität im dritten Lebensalter in europäischen Ländern zu untersuchen und zu fragen, welche Beziehungen zu Gesundheit und Wohlbefinden bestehen. Doch was genau verbinden wir mit dem Begriff .soziale Produktivität'? Es handelt sich um alle Formen verbindlich über einen längeren Zeitraum erbrachter Leistungen, die das Ziel verfolgen, einen gesellschaftlichen Bedarf zu decken. In der Regel werden diese Leistungen nicht monetär vergütet, sondern aus intrinsischen Motiven durchgeführt. Wichtige Beispiele sind ehrenamtliche Tätigkeit, informelle Hilfe in Familie, Nachbarschaft und Organisationen, in flexiblen Arrangements fortgesetzte berufliche Tätigkeit sowie Pflege chronisch kranker und behinderter Personen im näheren sozialen Umfeld. Die Vermutung, dass das Wohlbefinden von Personen, die sich in sozial produktiven Aktivitäten engagieren, im Durchschnitt besser ist als dasjenige von Personen, die keiner sol-

26

JOHANNES S I E G R I S T / M O R T E N WAHRENDORF

chen Aktivität nachgehen, stützt sich auf Erkenntnisse der Sozialpsychologie. Danach bildet die Erfahrung, für andere Menschen etwas Nützliches zu tun und dafür Anerkennung zu erhalten, eine wichtige Quelle eines positiven Selbstwertgefühls. Man kann auch sagen, dass solche Erfahrungen die soziale Identität älterer Personen günstig beeinflussen. Denn unter sozialer Identität versteht man die Gesamtheit der für das Selbstwertgefühl konstitutiven Erfahrungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Bezüglich positiver Erfahrungen sozialer Identität besteht in der Phase des dritten Lebensalters häufig ein Defizit, da, wie bereits betont, in dieser nachberuflichen Phase ein Mangel an gesellschaftlich verbindlichen Rollenangeboten herrscht. Allerdings ist das Ausüben sozialer Aktivitäten nicht automatisch mit positiven Erfahrungen des Selbstwerts assoziiert. Entscheidend ist vielmehr, ob den erbrachten Leistungen in irgendeiner Form eine Gegenleistung folgt, wenn auch in der Regel in Form nicht-materieller Belohnungen der Anerkennung, Wertschätzung und Würdigung des Geleisteten. Erwartbare Gegenleistungen dieser Art sind für die Betroffenen deshalb von Bedeutung, weil sie einem uralten Prinzip der Tauschgerechtigkeit, der Norm sozialer Reziprozität folgen.1 Es gilt somit, in dem nachfolgend dargestellten Forschungsprojekt zwei Hypothesen zu überprüfen. Erstens vermuten wir, dass in den drei vergleichend untersuchten Ländern Deutschland, Frankreich und England das Wohlbefinden von Personen im dritten Lebensalter, die sich in sozial produktiven Aktivitäten engagieren, im Allgemeinen besser ist als dasjenige von Menschen, denen diese Art sozialer Identitätserfahrungen verschlossen bleibt. Zweitens wird erwartet, dass erfahrene Reziprozität in diesen Aktivitäten das Wohlbefinden besonders stark moderiert.2 Dies bedeutet, dass die vergleichsweise beste Lebensqualität bei Personen festzustellen ist, welche angemessene Rückmeldungen für ihr Engagement erhalten, während erbrachte Leistung ohne Anerkennung das Wohlbefinden deutlich beeinträchtigt. Einen Extremfall diesbezüglich stellt die Pflege demenzkranker Angehöriger dar, da aufopfernde Tätigkeit hier krankheitsbedingt ohne Resonanz bleibt. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass diese Form langfristiger Pflegetätigkeit für die Betroffenen ein erhebliches gesundheitliches Risiko nach sich zieht.3 Nachfolgend beschreiben wir die Methodik der Studie und die erzielten Ergebnisse. Abschließend werden die Resultate in den größeren Zusammenhang von Bedingungen gesunden Alterns gestellt.

1 Johannes Siegrist/Olaf v. d. Knesebeck/Craig Evan Pollack, Social productivity and well-being of older people: A sociological exploration, in: Social Theory & Health (2004), S. 1-17. 2 Johannes Siegrist, Social reciprocity and health: new scientific evidence and policy implications, in: Psychoneuroendocrinology (2005), S. 1033-1038. 3 Richard Schulz/Scott R. Beach, Caregiving as a risk factor for mortality: the Caregiver Health Effects Study, in: The Journal of the American Medical Association (1999), S. 2215-2219. Sunmin Lee/Graham A. Colditz/Lisa F. Berkman/Ichiro Kawachi, Caregiving and risk of coronary heart disease in U.S. women: a prospective study, in: American Journal of Preventive Medicine (2003), S. 113-119.

Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter

27

Methode Datenbasis Datengrundlage sind zwei europäische Studien, die jeweils Lebenslage, Gesundheit sowie soziale Produktivität und Wohlbefinden der über 50-jährigen Bevölkerung untersuchen. 4 Für Deutschland und Frankreich handelt es sich hierbei um Daten des Release 1 der ersten Erhebungswelle des ,Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe' von 2004. 5 Für England wurden Daten der zweiten Welle der ,English Longitudinal Study of Ageing' (ELSA) von 2004/2005 verwendet. 6 SHARE basiert auf einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Bevölkerung im Alter von 50 und mehr Jahren. Die Studie sichert durch einen einheitlichen Untersuchungsplan eine hohe Vergleichbarkeit von Daten über gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Lage der Alten in insgesamt 10 europäischen Ländern (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Niederlande, Italien, Österreich, Schweden, Schweiz und Spanien). Alles in allem enthält der erste Release Daten von 22777 Befragten aus 15789 Haushalten, wobei Männer und Frauen über 50 Jahren plus deren (möglicherweise jüngere) Partner im Haushalt befragt wurden. Die Teilnahmequoten lagen in Deutschland bei 63.4 % und in Frankreich bei 73.6 %, was einer Teilnehmerzahl von 3020 für Deutschland und 1842 für Frankreich entspricht. 7 SHARE wurde in enger Koordination und Abstimmung zu ELSA entwickelt. Neben einem vergleichbarem Erhebungsdesign werden ebenso identische Befragungsmodule zu sozialer Produktivität und Wohlbefinden bei Männern und Frauen mit 50 Jahren oder mehr verwendet. Die Teilnahmequote der zweiten Welle von ELSA lag bei 84 %, was einer Teilnehmerzahl von 9432 Befragten entspricht. 8

4 Die SHARE-Datenerhebung wurde hauptsächlich durch das 5. Rahmenprogramm der Europäischen Union finanziert (Projekt QLK6-CT-2001-00360). Weitere Finanzmittel wurden vom US National Institute on Aging zur Verfügung gestellt (U01 AG09740-13S2, POI AG005842, POI AG08291, P30 AG12815, Yl-AG-4553-01 and OGHA 04-064). Die Daten der ELSA Studie wurden durch das Datenarchiv des Vereinigten Königreichs (UK Data Archive) zugänglich gemacht. ELSA wurde durch ein Forscherteam vom University College London, vom Institute of Fiscal Studies und vom National Centre for Social Research entwickelt. Die Finanzierung erfolgt durch das National Institute on Aging in the United States und eines Konsortiums von Ministerien des Vereinigten Königreichs unter Koordination des Office for National Statistics. Die Entwickler und Finanzierer von ELSA und das Datenarchiv tragen keinerlei Verantwortung für hier präsentierten Analysen oder Interpretationen. 5 Axel Boersch-Supan/Agar Brugiavini/Hendrik Juerges/Johan Mackenbach/Johannes Siegrist/Guglielmo Weber, Health, Ageing and Retirement in Europe. First Results from the Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe, Mannheim 2005. 6 James Banks/Elizabeth Breeze/Carli Lessof/James Nazroo, Retirement, health and relationships of older population in England; the 2004 English Longitudinal Study Of Ageing, London 2006. 7 Für Details siehe: Axel Boersch-Supan/Hendrik Juerges, The Survey of Health, Aging and Retirement in Europe - Methodology, Mannheim 2005. 8 Für Details siehe: Banks et al., Retirement (wie Anm. 6).

28

JOHANNES S I E G R I S T / M O R T E N WAHRENDORF

Messung Bei der Operationalisierung und Messung der verwendeten Variablen steht die vergleichbare Variablenbildung innerhalb beider Studien im Vordergrund. Zentrale Dimensionen für die Untersuchung sind „Gesundheit und Wohlbefinden", „Soziale Produktivität" und „Sozioökonomische Lage". Im Einzelnen erfolgt die Messung wie folgt: Wohlbefinden: Zwei Indikatoren werden zur Bestimmung von Wohlbefinden herangezogen. Diese sind allgemeine Selbsteinschätzung der Gesundheit, und die Lebensqualität (CASP-12). Die Selbsteinschätzung der Gesundheit wird anhand einer einzelnen Frage („Würden Sie sagen Ihr Gesundheitszustand ist ... ausgezeichnet / sehr gut / gut / mittelmäßig / schlecht?") gemessen. Dieses weit verbreitete subjektive Maß zeigte sich bereits vielfach als verlässlicher Indikator für Morbidität und Mortalität, so insbesondere bei alten Menschen. 9 Sofern die Befragten eine ausgezeichnete oder sehr gute gesundheitliche Lage angeben, gehen wir von einer erhöhten gesundheitlichen Lage („gute Gesundheit") aus. Das standardisierte Erhebungsinstrument CASP 12 ist speziell zur Messung der Lebensqualität bei Älteren entwickelt worden, wobei davon ausgegangen wird, dass zentrale Bedürfnisse im höheren Lebensalter existieren, deren Deckung mit einer erhöhten Lebensqualität einhergeht. 10 Diese Bedürfnisse betreffen die Freiheit von herkömmlichen Zwängen (Control), die Chancen autonomer Lebensgestaltung (Autonomy), die Selbstverwirklichung (Self-realization) sowie die das Wohlbefinden (Pleasure), wobei die Anfangsbuchstaben den Namen des Instruments bilden. 11 Jeweils drei 4er Likert Items messen in welchem Ausmaß diese Aspekte als befriedigt gelten und bilden die Grundlagen für einen additiven Index, dessen Rangweite von 12 bis 48 reicht, wobei höhere Werte eine erhöhte Lebensqualität beschreiben. Soziale Produktivität: Bei der Messung sozialer Produktivität stehen zwei Aktivitäten zur Verfügung, die in beiden Studien abgefragt wurden. Dies sind die Teilnahme an „Ehrenamtlicher Tätigkeit" und „Pflege". In beiden Studien gaben die Teilnehmer jeweils für jede dieser Aktivitäten an, ob eine Beteiligung innerhalb der letzten vier Wochen erfolgte. Während die meisten Studien die Teilhabe an sozialen Aktivitäten über Stunden innerhalb des vergangenen Jahres oder über die Mitgliedschaft in Vereinen erheben, scheint diese Art der Messung zuverlässiger, da die aktive Teilnahme - und nicht die bloße Mitgliedschaft - innerhalb eines klar eingegrenzten, überschaubaren Zeitraumes abgefragt wird. Neben der Teilnahme wurde zudem - zur Bestimmung der Qualität - das Ausmaß an erfahrener Reziprozität innerhalb der Aktivität erhoben. Bei Beteiligung an einer der Aktivitäten gaben die Befragten hierzu zusätzlich an, inwiefern folgender Aussage zugestimmt werden konnte: „Wenn ich überlege, wie viel Zeit und Mühe ich in [Aktivität] investiert habe, war die Anerkennung meiner Leistung durch andere immer angemessen." Sofern dieser Aussage nicht zugestimmt wurde, wird von einer nicht-reziproken Aktivität ausgegangen. Hierdurch lassen sich nicht

9 Ellen L. Idler/Yael Benyamini, Self-rated health and mortality: A review of twenty-seven community studies, in: Journal of Health and Social Behavior (1997), S. 21-37. 10 Martin Hyde/Richard D. Wiggins/Paul Higgs/David Blane, A measure of quality of life in early old age: the theory, development and properties of a needs satisfaction model (CASP-19), in: Aging & Mental Health (2003), S. 186-194. 11 Vgl. den Beitrag von D. Blane und G. Netuveli in diesem Band.

29

Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter

nur Vergleiche zwischen „Aktiven" und „Nicht-Aktiven" durchführen (Hypothese 1), sondern es kann zusätzlich untersucht werden, ob sich Aktive, die empfundene Reziprozität berichten, von denjenigen unterscheiden, die ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung erfahren (Hypothese 2). Sozioökonomische Lage: Die Bestimmung der sozioökonomischen Lage basiert auf den Statusindikatoren Bildung, Einkommen und Vermögen. Die Messung von Bildung erfolgt anhand des höchsten Bildungsabschlusses. Mit Hilfe des ISCED-97 Schemas (International Standard Classification of Educational Degrees) ist dieser in drei Kategorien eingeteilt. „Niedrige Bildung" entspricht hierbei den ISCED Codes 0-2 (pre-primary, primary and lower secondary education), „mittlere Bildung" den Codes 3 und 4 (upper and post secondary education) und „hohe Bildung" den Codes 5 und 6 (tertiary education). Einkommen basiert auf dem jährlichen Haushaltsnettoeinkommen. Dieses setzt sich innerhalb beider Survey aus verschiedenen Einkommenskomponenten zusammen, die innerhalb des CAPI Interviews abgefragt werden. Um für die Haushaltsgröße zu adjustieren, wird das Haushaltseinkommen gemäß der OECD Skala gewichtet, das heißt entsprechend der im Haushalt lebenden Personen wird das Einkommen geteilt. Im nächsten Schritt wird durch die Berechnung länderspezifischer Terzile ein länderübergreifend vergleichbares Maß ermittelt und jeweils drei Kategorien gebildet („niedriges Einkommen", „mittleres Einkommen", „hohes Einkommen"). Weitere Variablen: Weitere Variablen sind Geschlecht, Alter, Erwerbsstatus, Partnerschaft sowie die Information, ob der Befragte mit Kindern lebt. Alter wird anhand dreier Alterskategorien ermittelt ( „ 5 0 - 6 4 Jahre", „ 6 5 - 7 4 Jahre" und „75 Jahre und mehr"). Rückschlüsse auf die Haushaltsgröße erlaubt die Variable „Partnerschaft" („Mit Partner lebend" (Ja/Nein)) sowie die Variable „Kinder im Haushalt" (Ja/Nein). Eine Übersicht der Stichprobe erfolgt in Tabelle 1. Tabelle 1: Beschreibung der Stichprobe Deutschland (N = 3020)

Frankreich (N = 1842)

England (N = 9432)

Geschlecht

Männlich Weiblich

44.9 55.1

45.2 54.8

46.1 53.9

Alter

50-64 65-74 75 oder älter

50.4 28.2 21.4

51.4 25.5 23.1

47.1 27.7 25.2

Erwerbsstatus

Berentet Erwerbstätig Heimtätigkeit Sonstiges

54.7 28.4 9.4 7.5

55.0 28.3 10.8 5.9

53.0 29.8 10.3 7.0

Mit Partner lebend

Ja Nein

65.4 34.6

69.1 30.9

67.9 32.1

Mit Kinder lebend

Ja Nein

16.7 83.3

22.2 77.8

18.7 81.3

30

JOHANNES S I E G R I S T / M O R T E N WAHRENDORF

Ergebnisse Die Verteilung sozialer Produktivität in Deutschland, Frankreich und England Der Anteil ehrenamtlich aktiver Männer und Frauen variiert zwischen 10% und 12.9 % mit vergleichsweise niedrigeren Werten in Deutschland (siehe Tabelle 2). Der Anteil „ehrenamtlich aktiver" Männer ist in Frankreich und Deutschland etwas höher, wohingegen in Großbritannien vermehrt Frauen ehrenamtlich tätig sind. Mit Bezug auf den Erwerbsstatus nimmt in Frankreich und England das Niveau ehrenamtlich Tätiger mit der Rente zu, wohingegen es in Deutschland eher abnimmt. Auch zeigt in Frankreich und England die Altergruppe der 65-74 jährigen das höchste Niveau an Aktivität auf, wobei sich diese Altersgruppe in Deutschland nicht von den Jüngeren (50-64 Jahre) unterscheidet. Erst mit 75 Jahren nimmt in allen Ländern das Niveau deutlich ab. Mit Bezug auf die Indikatoren sozioökonomischer Lage kann festgestellt werden, dass ehrenamtliches Engagement sich stark entlang der zwei verwendeten Indikatoren verteilt. So gehen sowohl höheres Einkommen als auch höheres Bildungsniveau mit erhöhtem Anteil an ehrenamtlicher Tätigkeit einher. Dies gilt für alle drei untersuchten Länder. Tabelle 2: Häufigkeiten ehrenamtlicher Tätigkeit in %

Gesamt

Deutschland (N = 3020)

Frankreich (N = 1842)

England (N = 9432)

10.0

12.9

12.6

Geschlecht

Männlich Weiblich

10.8 9.4

15.7 10.5

11.4 13.4

Alter

50-64 65-74 75 oder älter

11.6 11.5 4.6

13.4 16.3 7.9

12.8 17.2 10.4

Erwerbsstatus

Berentet Erwerbstätig Heimtätigkeit Sonstiges

9.3 10.5 12.1 9.7

14.5 12.8 10.5 10.9

14.5 10.3 13.4 6.5

Mit Partner lebend

Ja Nein

11.6 7.2

13.9 10.5

13.5 10.7

Mit Kinder lebend

Ja Nein

11.7 9.8

12.8 13.2

10.9 13.0

Bildung

Hoch Mittel Gering

16.7 9.1 5.1

24.1 15.3 8.9

22.9 15.2 7.7

Einkommen

Hoch Mittel Gering

12.5 11.5 6.4

16.5 13.5 8.6

17.9 11.1 9.4

Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter

31

Tabelle 3: Häufigkeiten von Pflege in %

Gesamt

Deutschland (N = 3020)

Frankreich (N = 1842)

England (N = 9432)

5.1

6.0

13.7

Geschlecht

Männlich Weiblich

4.1 6.8

4.5 7.3

10.1 16.8

Alter

50-64 65-74 75 oder älter

6.7 5.9 2.7

4.7 10.3 4.2

16.8 14.2 7.3

Erwerbsstatus

Berentet Erwerbstätig Heimtätigkeit Sonstiges

4.8 5.9 8.2 6.9

7.1 3.9 8.3 5.8

11.6 14.2 27.2 7.6

Mit Partner lebend

Ja Nein

6.6 3.8

5.9 6.3

16.3 8.3

Mit Kinder lebend

Ja Nein

7.3 5.3

4.5 6.6

15.9 13.2

Bildung

Hoch Mittel Gering

7.3 5.2 4.7

5.5 7.2 5.9

15.1 16.7 12.8

Einkommen

Hoch Mittel Gering

6.4 4.8 5.7

5.7 7.9 4.4

14.8 15.1 11.4

Bei der Pflege ist aus Tabelle 3 festzustellen, dass der Anteil in England deutlich erhöht ist. Eine vergleichende Interpretation der Ergebnisse und Rückschlüsse auf ein tatsächliches erhöhtes Niveau in England erscheint allerdings schwierig, da bei der Abfrage der Pflege eine unterschiedliche Itemformulierung verwendet wurde. So lassen sich die hohen Werte in England wohl hauptsächlich damit erklären, dass innerhalb der SHARE Studie nach der „Betreuung eines Kranken oder Behinderten" abgefragt wurde, wohingegen innerhalb ELSA die Formulierung lediglich „care for someone" lautete, was den Kreis der möglichen Hilfeempfänger erheblich ausweitet. Davon unbetroffen scheinen allerdings die Zusammenhänge innerhalb der Länder. In allen drei Ländern sind erwartungsgemäß eher Frauen an der Pflege beteiligt. Der hohe Anteil an „pflegenden" Heimtätigen in allen drei Ländern lässt sicherlich darauf schließen, dass es sich hierbei hauptsächlich um Hausfrauen handelt. Im Gegensatz zur ehrenamtlichen Tätigkeit gehen die Anteile der beteiligten Männer und Frauen nicht mit erhöhter sozioökonomischer Lage einher.

32

JOHANNES S I E G R I S T / M O R T E N WAHRENDORF

Soziale Produktivität und Wohlbefinden in Deutschland, Frankreich und England Tabelle 4: Soziale Produktivität und Wohlbefinden (Mittelwert bzw. Häufigkeiten) Deutschland

Frankreich

England

(N = 3020)

(N = 1842)

(N = 9432)

37.7

36.1

38.6

Lebensqualität (Mittelwert) Gesamt Ehrenamtliche Hilfe

Ja Nein

40.2 37.4

38.5 35.7

40.2 38.3

Pflege

Ja Nein

37.6 37.7

36.5 36.0

38.5 38.6

20.6

21.8

39.4

Gute Gesundheit (Häufigkeiten) Gesamt Ehrenamtliche Hilfe

Ja Nein

25.6 20.0

29.3 20.7

54.1 37.3

Pflege

Ja Nein

21.8 20.5

25.8 21.6

45.1 38.5

Wie sieht nun in den drei untersuchten Ländern der Zusammenhang zwischen sozialer Produktivität und den beiden Maßen für Wohlbefinden, subjektive Gesundheit und Lebensqualität, aus? Tabelle 4 zeigt zunächst, dass die Gesamtgruppe der Befragten eine vergleichbare Lebensqualität aufweist. Für Deutschland und Frankreich gilt dies auch für die selbsteingeschätzte Gesundheit, die in England im Mittel deutlich höher liegt. Dieses letztere Ergebnis sollte jedoch nicht überbewertet werden, da weiterführende methodische Auswertungen gezeigt haben, dass die vorgegebenen Antwortabstufungen dieser Frage eine etwas günstigere Einschätzung in der englischen Version nahe legen. Wichtig ist nun die Beantwortung der ersten Forschungsfrage: Ist das Wohlbefinden sozial produktiver Älterer im Allgemeinen besser als dasjenige der nicht aktiven? Bezüglich Ehrenamt lässt sich diese Frage eindeutig bejahen. In allen drei Ländern sind die mittleren Werte der Lebensqualität bei den Ersteren erhöht, und ein höherer Prozentsatz der Befragten gibt an, bei guter Gesundheit zu sein. Dieser Trend ist weniger eindeutig bei der Pflege. Hier sind die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen nur minimal, so dass der in der Hypothese postulierte Zusammenhang für die pflegerische Tätigkeit nicht bestätigt werden kann. Die weiterführende, in der zweiten Hypothese präzisierte Frage lautet sodann, ob sich Lebensqualität und subjektive Gesundheit in der Gruppe der Aktiven weiter differenzieren lassen nach dem Kriterium erfahrener Reziprozität. Die entsprechende Auswertung ist in Tabelle 5 dargestellt. Mit einer Ausnahme lässt sich dieser Zusammenhang für beide Maße des Wohlbefindens bestätigen, und zwar sowohl für die ehrenamtliche Tätigkeit wie auch für die Pflege. Betrachtet man die jeweiligen Differenzen der Mittelwerte bzw. Häufigkeiten, so

Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter

33

Tabelle 5: Soziale Produktivität und Wohlbefinden: Rolle der Reziprozität (Mittelwert bzw. Häufigkeiten) Deutschland (N = 3020)

Frankreich (N = 1842)

England (N = 9432)

Lebensqualität (Mittelwert) Ehrenamtliche Hilfe

Reziprok Nicht-reziprok Nein

40.3 39.5 37.4

38.7 37.5 35.7

40.3 39.4 38.3

Pflege

Reziprok Nicht-reziprok Nein

38.0 36.2 37.7

36.3 37.5 36.0

38.8 36.6 38.6

Ehrenamtliche Hilfe

Reziprok Nicht-reziprok Nein

26.0 22.9 20.0

28.5 33.3 20.7

54.3 52.4 37.3

Pflege

Reziprok Nicht-reziprok Nein

22.9 17.2 20.5

28.3 25.5 21.6

46.2 36.8 38.5

Gute Gesundheit (Häufigkeiten)

fällt auf, dass die Unterschiede bei der Pflege etwas stärker ausgeprägt sind als beim Ehrenamt. Dies unterstreicht indirekt die Bedeutung positiver Rückmeldungen bei Tätigkeiten, welche mit einem hohen Aufwand verbunden sind. Zusammenfassend können wir festhalten, dass sozial produktive Aktivitäten im dritten Lebensalter in den drei untersuchten Ländern Deutschland, Frankreich und England, in einer Häufigkeit zwischen 5 und 14 Prozent ausgeübt werden. Unterschiede zeigen sich nach Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus und sozialer Schichtzugehörigkeit. Wer einer regelmäßigen sozialen Aktivität nachgeht, weist eine höhere Lebensqualität und eine bessere subjektive Gesundheit auf. Dies gilt in erster Linie für ehrenamtliches Engagement, weniger eindeutig für die pflegerische Tätigkeit. Hingegen zeigt sich für beide Aktivitäten, dass die erfahrene Reziprozität in dem jeweiligen Tauschprozess, vorwiegend die bei der Tätigkeit erfahrene Wertschätzung und Anerkennung, das Wohlbefinden positiv beeinflusst. Besonders ausgeprägt ist dies bei der pflegerischen Tätigkeit der Fall.

Diskussion Verbindliche soziale Rollen jenseits der für das mittlere Alter konstitutiven Rollen der Erwerbstätigkeit und Erziehungsarbeit in der Familie sind im dritten Lebensalter erst in Ansätzen ausgestaltet. Dieser gesellschaftliche Tatbestand steht im Widerspruch zu dem hohen Potential an leistungsbereiten, gesunden und vielfältig kompetenten Älteren, die in der Lage sind, eine Vielzahl gesellschaftlich nützlicher Tätigkeiten auszuführen. Diese soziale Pro-

34

JOHANNES S I E G R I S T / M O R T E N WAHRENDORF

duktivität kann sich auf flexible Arrangements fortgesetzter beruflicher Tätigkeit beziehen, betrifft aber in erster Linie ehrenamtliches Engagement, informelle Hilfe und Unterstützungsleistungen im Freundeskreis, in Nachbarschaft und in Organisationen, schließlich die pflegerische Tätigkeit im engeren Familien- und Freundeskreis. Die Befragung in den drei ausgewählten Ländern Deutschland, Frankreich und England hat gezeigt, dass nur ein geringer Teil der Älteren aktuell in regelmäßiger und verbindlicher Form in eine oder mehrere dieser Aktivitäten eingebunden ist. Hier stellt sich somit eine gesellschaftspolitische Herausforderung der sozialen Gestaltung dieses traditionell auf Rückzug und individualisierte Lebensführung ausgerichteten Lebensabschnitts.12 Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit einer wachsenden Zahl von Untersuchungen, die belegen, dass Ältere, die sozial produktiv sind, eine bessere Lebensqualität und Gesundheit aufweisen als diejenigen, die in dieser Hinsicht abstinent bleiben.13 Man kann somit annehmen, dass produktives Handeln die soziale Identität stärkt und ein Chance positiver Erfahrungen des Selbstwerts engagierter Menschen bildet, allerdings unter der Voraussetzung, dass Reziprozitätserfahrungen in Form von Wertschätzung, Anerkennung und Würdigung des Geleisteten erfolgen. Dieser zuletzt genannte Aspekt ist in unseren Studien unseres Wissens erstmals explizit untersucht worden.14 Er belegt die Bedeutung der Befolgung eines grundlegenden Prinzips der Tauschgerechtigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen für Wohlbefinden und Gesundheit. Unter dieser Bedingung kann soziale Produktivität im dritten Lebensalter zum gesunden Altern einen wichtigen Beitrag leisten. Bei der Interpretation der dargestellten Befunde sind allerdings einige wesentliche Einschränkungen zu beachten. Erstens handelt es sich um eine Querschnittsstudie. Wir können daher über die Richtung des Zusammenhangs zwischen sozialer Produktivität und Wohlbefinden keine zuverlässigen Aussagen machen. Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass nur relativ gesunde Menschen in der Lage und bereit sind, sich sozial zu engagieren. In zusätzlichen, hier nicht gezeigten Auswertungen haben wir daher versucht, den aus weiteren Daten der Befragung ermittelten allgemeinen Gesundheitszustand zu berücksichtigen. Dabei zeigte sich, dass auch bei statistischer Kontrolle des Einflusses der Gesundheit sozial aktiver Älterer der dargestellte Zusammenhang erhalten bleibt. Dies bedeutet, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Ergebnisse vorwiegend auf einen sogenannten Selektionseffekt besonders gesunder Älterer zurückzuführen sind. Eine zweite Begrenzung betrifft das Spektrum untersuchter Aktivitäten sowie die Erfassung der Qualität von Tauschbeziehungen. In beiden Bereichen sind tiefergreifende Analysen wünschenswert, welche im Rahmen einer umfangreichen, viele Themengebiete umfassenden standardisierten Erhebung nicht realisierbar waren. So wäre es beispielsweise wichtig, die unterschiedliche Qualität der Aktivitäten hinsichtlich des Aspektes der Freiwilligkeit versus Verpflichtung bzw. der Autonomie versus der begrenzten Kontrolle bei der ausgeübten Tätigkeit zu analysieren. Diese Aspekte sind bezüg-

12 Peter Laslett, A Fresh Map of Life, London 1996. 13 A.R. Herzog/M.B. Ofstedal/L.M. Wheeler, Social engagement and its relationship to health, in: Clinics in Geriatric Medicine (2002), S. 593-609. P. A. Bath/D. Deeg, Social engagement and health outcomes among older people: introduction to a special section, in: European Journal of Ageing (2005), S. 24-30. 14 Morten Wahrendorf/Olaf v.d. Knesebeck/Johannes Siegrist, Social Productivity and well-being of older people: results from the SHARE study, in: European Journal of Ageing (2006), S. 67-73.

Soziale Produktivität und Wohlbefinden im dritten Lebensalter

35

lieh Pflege von besonderer Bedeutung. Auch fehlt eine Betrachtung des Aspekts der Rollenüberlastung, beispielsweise bei Personen, die bei ganztätiger Berufstätigkeit oder bei umfangreicher Arbeit in der Familie zusätzlich soziale Verpflichtungen erfüllen. Drittens haben wir uns bei der Untersuchung der beiden Hypothesen auf lediglich drei nordwesteuropäische Länder beschränkt. Obwohl auch hier in der Tendenz interessante Unterschiede zwischen Ländern sichtbar wurden - so insbesondere die Beobachtung, dass der Anteil ehrenamtlich Aktiver in der nachberuflichen Phase in England und Frankreich deutlich höher liegt als in Deutschland - , erlaubt erst ein umfangreicherer Vergleich nordund südeuropäischer sowie west- und osteuropäischer Länder, kulturspezifische Variationen des Zusammenhangs zwischen sozialer Produktivität und Wohlbefinden zu untersuchen. 15 Ein solcher umfassender Vergleich gestattet auch, den Einfluss unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Modelle, d. h. von konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes, zu überprüfen. 16 Diese interessanten Aspekte bleiben zukünftigen Auswertungen des reichhaltigen Datensatzes der SHARE- und ELSA-Studien vorbehalten. Als Schlussfolgerung lässt sich festhalten, dass soziale Produktivität im dritten Lebensalter eine bisher unzureichend genutzte Ressource nicht nur zur besseren Erfüllung vielfältiger gesellschaftlicher Aufgaben, sondern auch zur Steigerung von Lebensqualität und Gesundheit engagierter Älterer darstellt. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn entsprechende Aktivitäten dem Grundsatz der Tauschgerechtigkeit in zwischenmenschlichen Kooperationsbeziehungen folgen, d. h. wenn der Leistungsaufwand mit einer in der Regel nicht monetären Gratifikation der Wertschätzung und Würdigung beantwortet wird. Ebenso wichtig ist der Aspekt der Freiwilligkeit versus Verpflichtung bzw. der Autonomie versus begrenzter Kontrolle über die zu erbringende Aufgabe, wie dies beispielsweise bei manchen Pflegeleistungen der Fall ist. Für den gesellschaftspolitischen Diskurs ergibt sich daraus die Folgerung, sowohl das Spektrum der Opportunitäten sozialer Produktivität für Ältere zu erweitern als auch die Qualität entsprechender Angebote unter den Aspekten verbesserter Chancen von Anerkennung und Autonomie zu gestalten. Auf diese Weise könnte es gelingen, den Anteil motivierter und engagierter Älterer in wichtigen Bereichen sozialer Produktivität zu erhöhen und damit indirekt einen Beitrag zum gesunden Altern zu leisten.

15 L. M. Salomon/S.W. Sokolowski, Institutional Roots of Volunteering. Towards a Macro-Structural theory of Individual Voluntary Action, in: Paul Dekker/Loek Halman (Hg.), The Values of Volunteering, New York 2003, S. 7 1 - 9 0 . 16 G0sta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

PETER RUSTERHOLZ

Liebe, Tod und Lebensalter Wandlungen in der Literatur der Frühen Neuzeit1

Mit dem Alter verbinden wir nicht nur die Phänomene eines physiologischen Prozesses, sondern auch ein Set kulturell und historisch sich unterscheidender und verändernder Deutungsmuster. Sie beziehen sich auf normierte idealtypische Wertbegriffe und Lebensformen. Sie unterscheiden sich je nach Sozialisationstypus und verändern sich in Prozessen gesellschaftlichen Wandels. Populäre Textsorten wie Flugblätter, Kalendersprüche, Hochzeits- und Taufzettel entsprechen normierten Idealtypen, Diskursen, literarische Textsorten differenzierterer Art eröffnen aber verschiedene Möglichkeiten der Deutung und zeigen Verschiebungen der Stellenwerte traditioneller und die Bildung neuer Deutungsmuster an. Gerd Göckenjan formuliert in seinen diskursanalytisch orientierten, systematischen Überlegungen Altersbilder und die Regulierung der Generationenbeziehungen den Satz: Der Altersdiskurs thematisiert nicht Vielfalt und Differenziertheit von Lebensformen und sozialen Milieus, auch nicht einzelnes, sondern Gemeinsamkeiten. Alter kennt keine Stände oder Klassen, nicht einmal chronologische Zäsuren. 2

Diesen Satz zu beachten ist methodisch wichtig, er ist aber dann und nur dann richtig, wenn wir uns auf radikal konventionalisierte Texte beschränken, nicht aber, wenn wir uns mit differenzierten Texten der Literatur beschäftigen, die diskursanalytisch nur grob zu erfassen sind, zum Verständnis der ästhetischen Eigenart aber semiotisch-hermeneutischer Reflexion bedürfen. Diese Differenz ist von zentraler Bedeutung, wenn wir uns der Frage stellen: Was können Literatur und Literaturwissenschaft zur Altersforschung beitragen? Welche methodischen Probleme sind damit verbunden? Auch wenn wir an literarische Altersbilder denken, erinnern wir uns vorerst vor allem an Stereotypien oder an bestimmte, durch Jahrhunderte tradierte Texte des Alterslobs wie Ciceros Monographie Cato major. De Senectute, die Lyrik der Altersklage Anakreons oder den Spott über die senilen Greise in Aristophanes' oder Plautus' Komödien. Doch die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht ja nicht darin, die Differenziertheit der im engeren Sinn literarischen Texte auf Stereotypien zu reduzieren, sondern darin, die Verschiebungen ihres Stellenwerts durch die Veränderungen nicht nur ihrer Inhalte, sondern auch durch die semantische Qualität ihrer Form zu erfassen. Freilich sind dabei auch die diskursanalytisch besonders interessanten Textsorten der populären Gebrauchsliteratur von Bedeutung. Sie sind Indikatoren für die Kon1 Dieser Aufsatz erscheint auch in: Alterskonzepte in Literatur, Film, Kunst, Musik und Medizin, hg. von Henriette Herwig, Freiburg (in Vorbereitung). 2 Gerd Göckenjan, Altersbilder und die Regulierung der Generationenbeziehungen. Einige systematische Überlegungen, in: Josef Ehmer/Peter Gutschner (Hg.), Das Alter im Spiel der Generationen, Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien/Köln/Weimar 2000, hier S. 102.

38

PETER RUSTERHOLZ

junkturen verschiedener Altersdiskurse; sie können die Funktion von Modellen der Sozialisation übernehmen und Interaktionsrituale zwischen Jugend und Alter darstellen. Göckenjan skizziert im schon genannten Artikel in dem von Josef Ehmer und Peter Gutschner herausgegebenen Sammelband Das Alter im Spiel der Generationen kommunikationstheoretische Voraussetzungen des Altersdiskurses als Moraldiskurs: Typisch für den Altersdiskurs als Moraldiskurs ist die binäre Form des Erwartungscodes. Es werden Maßstäbe benannt von gut und schlecht, von richtig und falsch, von aufgeschlossen und verbohrt, von dem, was dem ,Alter' ,zukommt', und dem, was es zu leisten hat. Codes .regulieren' durch die Formulierung von Wert-Unwert-Gegensätzen, durch Problemreduktion und durch Selektionsdruck, also durch die Aufforderung, die einzig mögliche positive Fassung zu übernehmen. 3

Auch dies trifft zweifellos für Diskurse im engeren Sinn, also für genannte Textsorten der Sach- und Gebrauchsliteratur, nicht aber für spezifisch literarische Texte zu, die den Lesenden in bestimmten Grenzen verschiedene Möglichkeiten der Deutung überlassen. Umstritten ist die Frage, ob das Verhältnis von Tradition und Innovation der für die Lebenslaufkonzepte relevanten Faktoren erst seit der „Schwellenzeit" des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert untersucht werden sollen oder ob der weit vor der Aufklärung beginnende Prozess der radikalen Veränderungen seit 1500 einbezogen werden müsse.4 Auch für die Entscheidung dieser Frage ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Textsorten zu unterscheiden. Die konventionalisierten Diskurssysteme verändern sich langsamer als die stärker individuierten und kulturell diversifizierten Texte der Literatur. Für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchung ist der Einbezug der Veränderungen der Organisationsformen des Wissens nach 1500 unerlässlich; eine rein medizinhistorische Untersuchung, die sich auf die gravierendsten Veränderungen dieser Wissenschaft beschränkt, wird sich unter Umständen auf die Analyse der Veränderungen während und nach der Schwellenzeit beschränken. In seiner A b h a n d l u n g „Alter" und „Krankheit".

Die Dynamik

der Diskurse

und der Wan-

del ihrer historischen Aushandlungsformen betont Hans-Joachim von Kondratowitz die Bedeutung der von Koselleck definierten Schwellenzeit, bejaht aber die These, die auch ich vertrete, dass das Verhältnis von Tradition und Innovation der für die Lebenslaufkonzepte relevanten Faktoren erst verstanden werden könne, wenn der weit vor der Aufklärung beginnende Prozess der radikalen Veränderungen des intellektuellen Bezugssystems einbezogen würde.5 Seit 1500 verschärfte sich die Spannung zwischen kosmologischem Traditionswissen und dem neuen Erfahrungswissen ständig. Die empirische Naturwissenschaft führte zu Widersprüchen mit dem Traditionswissen der Philosophie. Die Modernisierung der Medizin führte zum Verlust der Vorstellung der Einheit menschlichen Lebens, da sich die Forschung sukzessive weg vom ganzen Menschen, hin zu bestimmten Krankheitsbildern, Körperzonen, Zellen, schließlich Genen bewegte. Dies erzeugte eine immer größere Spannung zwischen alltagsweltlichen Formen der Wahrnehmung und medizinischen Erklärungsansätzen, ein Entfremdungsprozess, der aktuell zu den Konflikten zwischen Schul- und Alternativmedizin geführt

3 Ebd., S. 104. 4 Göckenjan beschränkt sich auf die Moderne nach der Schwellenzeit. Ebd., S. 104, Anmerkung 25. 5 Hans Joachim von Kondratowitz, „Alter" und „Krankheit". Die Dynamik der Diskurse und der Wandel ihrer historischen Anschauungsformen, in: Ehmer/Gutschner, Das Alter im Spiel der Generationen (wie Anm. 2), S. 109-155, hier speziell S. 118 f.

Liebe, Tod und Lebensalter

39

hat. Kondratowitz bezieht sich dabei auf die seinerzeit Bahn brechenden William James-Vorlesungen Arthur Lovejoys The great chain of being (1936), ein kosmologisches Deutungsmuster des Seins.6 Lovejoy skizziert dessen Geschichte von Plato bis Leibniz. Diese Kette der geschaffenen Wesen ist unendlich, außerhalb ihrer ist nur Gott. Neue Erkenntnisse werden solange dies möglich war in sie eingepasst, oder - eben dies geschah durch die neuen Erfahrungswissenschaften - sie wird gesprengt. Im englisch-amerikanischen und im romanischen Raum blieb die Spaltung radikal. Im deutschsprachigen Bereich bildeten sich im 19. Jahrhundert im Zeichen der Romantik noch einmal medizinische Anthropologien mit kosmologischem Kontext heraus, meist im Kontext der Naturphilosophie Schellings. Ich bin mit Kondratowitz der Meinung, die frühe Neuzeit sei unbedingt einzubeziehen. Ich werde anhand von Beispielen literarischer Textsorten verschiedener Art und Funktion belegen, dass diese die konventionellen Altersdiskurse differenzieren und - schon vor der „Schwellenzeit" - Wandlungen der Bilder der Liebe, des Todes und des Alters im Kontext des Wechsels von einer moraltheologisch begründeten zu einer naturrechtlich bestimmten Anthropologie anzeigen. Die Vorarbeiten Lovejoys würde ich allerdings ergänzen durch die wissenschaftsgeschichtliche Studie Alexandre Koyrés, die sich speziell auf die Wandlungen im 16. und 17. Jahrhundert bezieht: From the closed world to the infinite Universe (Baltimore 1957). Sie ist im deutschsprachigen Bereich, mit gewohnter Verspätung, erst nach dem Erscheinen der Suhrkamp-Übersetzung (1969) rezipiert worden. 7 Koyré stellt die Geschichte der Genese des kopernikanischen Chocs vom endlichen geschlossenen Kosmos unter der Direktion des göttlichen Heilsplans zum unendlichen Universum ohne hierarchische Struktur im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert dar. Diese Veränderungen haben Folgen für die Wissenschaften wie für Sprache und Literatur. Während die Erfahrungswissenschaften sich vom Konzept des ganzen Menschen und der Schöpfung zu Gunsten immer detaillierterer Spezialisierung lösen, kommt der Literatur die Aufgabe zu, die Erfahrung der Spannung zwischen der Einheit des Menschen im alltäglichen Leben und den wissenschaftlich parzellierten Aspekten des Menschlichen zu demonstrieren oder zu vermitteln. Die Verbindung von Anthropologie und Literatur ist ja dann im 18. Jahrhundert, vor allem im Entwicklungsroman und in der Autobiographie, von zentraler Bedeutung gewesen. Auch die Anthropologie hat sich aber nicht erst im 18. sondern schon im 16. Jahrhundert innerhalb der protestantischen Schulphilosophie als Emanzipationsbewegung von der Theologie als Lehre von der menschlichen Natur gebildet. Die zentrale Frage lautete: Wie ist der Mensch zu bestimmen, wenn er nicht mehr durch die Schöpfungsgeschichte und die Seelenlehre der Kirchenväter und noch nicht durch mathematisch-experimentelle Naturwissenschaft bestimmt ist? Es ist dies eine Zwischenstellung zwischen der Natur des Menschen, die durch die Erbsünde gegeben ist, und einer psychologia empirica, die, durch die Affektenlehren Melanchtons und Vossius' vorbereitet, schließlich zur Erfahrungsseelenkunde des 18. Jahrhunderts führt. 8 Im 17. Jahrhundert finden wir die Unterscheidung zwischen der anthropolo6 Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge/London 1982. 7 Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 1969. 8 Im Gegensatz zu zahlreichen neueren Darstellungen der Geschichte der Anthropologie beginnt diese nicht erst mit dem 18. Jahrhundert. So wird Anthropologia schon als Bezeichnung für die Psychologie des Menschen verwendet in: Otto Cassmann, Psychologia anthropologica sive animae humarme

40

PETER RUSTERHOLZ

già physica - sie beschäftigt sich mit Anatomie und Physiologie - und der anthropologia medica - sie befasst sich mit Krankheit und Gesundheit. Die Ethik hingegen bleibt als praktische Ethik weiterhin Gegenstand der theologia moralis. Widersprüche und Konflikte zwischen naturrechtlicher Begründung des Menschen und konventioneller Moraltheologie zeigen sich dann zunehmend in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und finden in der erotischen Gesellschaftslyrik, im Schelmenroman und in der Narren- und Schwankdichtung ihren literarischen Ausdruck. Diese je verschiedenen Orientierungen des Menschen auf den gegenwärtigen Moment und das endliche Leben oder auf eine fröhliche Wiederauferstehung wirken sich auch auf Lebenslauf- und Alterskonzepte aus. Wenn wir den Altersdiskurs isoliert von diesen Kontexten betrachten, können wir sehr gut verstehen, dass Peter Borscheid den ersten Teil des ersten Bandes seiner Geschichte des Alters mit der Überschrift „Im Tal der Verachtung 1350-1648/80" beginnt und mit den folgenden Sätzen einleitet: Mit krachenden Beinen und triefender Nase, kahlköpfig, taub und halb blind schleppt sich der alte Mensch aus dem Mittelalter heraus und kriecht auf Krücken gestützt, unter dem Spott der Jugend, über die Schwelle zur Neuzeit. Der sieche, leidgeprüfte, mit sich und der Welt unzufriedene Alte in Gengenbachs Fastnachtspiel aus dem Jahre 1515 hat nichts mehr gemein mit den geistig so kraftvollen, tapferen und selbstbewussten Greisen, wie sie Cicero noch in seiner Schrift Cato major de senectute geschildert, nichts mehr mit dem Idealbild des römischen pater familias, wie es Vergil am Beispiel des Anchises, dem Vater des Aeneas, beschrieben hat.9

Wenn wir in Gengenbachs Basler Fastnachtspiel Die X Alter dyser Welt nur den Sprecher des Alters zur Kenntnis nehmen, können wir Borscheid nur zustimmen und mit Gengenbachs Greis sagen: „Worlich du bist ein boeser gast / All dieser Welt ein vberlast".10 Beziehen wir aber den Kontext und die Eigenart der Gattung mit ein, so erweist sich die Wertung Borscheids als höchst fragwürdig. Gengenbachs Fastnachtspiel verarbeitet einen populären Stoff, der auch in Flugblättern vorkommt und auf Ofenkacheln zu sehen ist. Er bezieht sich nicht nur auf das Greisenalter, sondern auf alle Lebensalter dieses Reihenspiels. Ein Einsiedler lässt alle Lebensalter Revue passieren und findet bei allen, vom Kleinkind bis zum Greis, nur Bosheit, Untreue, Geiz und Leichtsinn. Der Einsiedler äußert sich konstant in satirisch vernichtender Einstellung, mit Ausblick auf den jüngsten Tag, Tag der Verkehrung aller Ordnungen. Was uns aus heutiger Sicht als Ausdruck des radikalsten Pessimismus erscheint, ist historisch betrachtet Ausdruck des allgemeinen Sündenstandes, des status corruptionis des Menschen nach dem Sündenfall und keineswegs speziell auf das Alter bezogen. Gengenbachs Spiel entspricht spätmittelalterlich-vorreformatorischer Theologie. Die negative, rein sinnliche Sicht der Welt und des Menschen im Fasnachtspiel ist ebenso wenig direkt auf Wirkliches zu beziehen wie die

doctrina, Tomus I, Hannover 1593; Tomus II, 1596. Zur Frühgeschichte der wissenschaftlichen Anthropologie siehe Werner Sombart, Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie, in: Sitzungsberichte der preussischen Akademie. Philosophisch-historische Klasse 17 (1938), S. 9 6 130. Speziell zu Cassmann: Dietrich Mahnke, Rektor Cassmann in Stade, ein vergessener Gegner aristotelischer Naturwissenschaft im 16. Jahrhundert, in: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 5, 1913, S. 183-240 und S. 352-363. 9 Peter Borscheid, Geschichte des Alters. 16.-18. Jahrhundert. Studien zur Geschichte des Alltags, hg. von Hans J. Teuteberg und Peter Borscheid, Bd. 7, 1. Teilband, Münster 1987, S. 13. 10 Ebd.

Liebe, Tod und Lebensalter

41

positive, rein geistliche, kontrastive Sicht des Osterspiels. Die eine Sicht ist die Sicht des Narren, die andere diejenige des Weisen. Weder der alte, weise Einsiedler noch sein Gegenextrem, die im Reihenspiel auftretende Figur des Alters, repräsentieren das spätmittelalterliche Bild des Alters, sondern bezeichnen die Extrempunkte, zwischen denen sich die Deutungsmuster bewegen. Ganz anders und sehr viel differenzierter zeigen sich die Bilder des Alters bei Hans Sachs. Sachs ist engagierter Anhänger der Reformation, ausgezeichneter Kenner der Schriften Luthers und Anhänger der innerstädtischen Opposition gegen die gegenüber dem Kaiser und der katholischen Kirche überaus diplomatisch taktierende Stadtregierung seiner Heimatstadt Nürnberg. Als historische Person ist Sachs eher das Beispiel eines kraftvoll selbstbewussten Greises, wie ihn Cicero zeichnet, gewesen als ein Bild des Jammers, wie ihn das Fastnachtspiel zeigt. Er wurde 1494 geboren, war seit 1519 in erster Ehe mit der in der Pestzeit 1560 verstorbenen Kunigunde Kreutzer verheiratet und schloß 1561, mit 67 Jahren, die zweite Ehe mit der 27 Jahre alten Barbara Endres. Bis zu seinem Tod 1576, mit 82 Jahren also, arbeitete Sachs an der 1679 posthum erschienenen Folioausgabe seiner Werke, die über 6000 Titel umfasst. Die Stadt Nürnberg war von einer Art Gottesgnadentum, zwar nicht eines Fürsten, aber der patrizischen Bürger bestimmt. Der Stadtchronist Dr. Christoph Scheuerl schrieb 1516: Alles regiment unserer stat und gemainen nutzes steet in handen der so man Geschlechter nennet, das sein nun soliche leut, dero anen und uranen vor langer zeit her auch im regiment gewest und über uns geherrscht haben, frembdling, so allda eingewurtzelt und das gemain völcklein hat kainen gewalt: es steet inen auch nicht zu, dieweil aller gewalt von gott, und das wohlregirn gar wenigen und allein denen so vom schöpfer aller ding und der natur mit sonderlicher weyshait begäbet sein verlihen ist [...]."

Nürnbergs Patriziat ist zwar nicht eine feudale, sondern eine bürgerliche Gesellschaft. Wie wir diesen eben zitierten Zeilen des Stadtchronisten aber entnehmen, hat das Bürgertum das Legitimationsmodell des Adels mit der Gleichsetzung von Tradition und Gottes Wille übernommen. Nürnberg war in diesem Sinne konservativ. Andernorts gab es moderner organisierte Zunftregimente. Hans Sachs gehörte weder zu der patrizischen Oberschicht reicher Kaufleute, Juristen und Beamten noch zur Unterschicht armer Handwerker, Gesellen, Bettler und unehrlicher Berufe. Er gehörte zur Mittelschicht, zu einer Zwei-Frontenschicht also. Er war nicht regimentsfähig, war vorerst Schuhmachermeister, konnte aber später sein Handwerk aufgeben und aus dem Ertrag seiner Schriften leben. Diese wurden aber vom Rat sorgfältig überwacht und zensiert. Noch einen Tag nach seinem Tod findet sich in den Ratsprotokollen ein Eintrag, dass Hans Sachs, der mit Tod abgegangen sei, zwei bisher nicht bekannte „pasquillos" und weitere bisher nicht bekannte Gedichte hinterlassen habe, die an den Tag zu bringen „nicht gut were" und die deshalb von den Erben zu handen der Herren eingefordert werden sollten.12

11 Zitiert nach Horst Brunner, Hans Sachs - Über die Schwierigkeiten literarischen Schaffens in der Reichsstadt Nürnberg, in: Horst Brunner/Gerhard Hirschmann/Fritz Schnelbögl (Hg.), Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichstädtischer Literatur (= Nürnberger Forschungen 19), Nürnberg 1976, S. 1-13, hier S. 3. 12 Gerhard Hirschmann, Archivalische Quellen zu Hans Sachs, in: Horst Brunner/Gerhard Hirschmann/ Fritz Schnellbögl (Hg.), Hans Sachs (wie Anm. 11), S. 14-54, hier S. 54.

42

PETER RUSTERHOLZ

1520 erscheint ein von Hans Sachs verfasstes, von dem Dürerschüler Hans Sebald Beham illustriertes Spruchgedicht mit dem Titel Die Patriarchen des alten Testaments und der Zueignung (Abb. 1): Zu preyss / rhume vnd erhebung des ehrlichen lobwirdigen alters / Auch einem Erbern Rathe der Stat Ntirenberg / als Christenlichen Regenten / [ . . . ] / zuo sondern lob vnd ehren / sind hernach angezaygt vnd verzeychnet / die zehen heylige alte Patriarchen vnd Ertzväter Christi / [ . . . ] / welche zehen alten väter gelebet vnd geherschet haben in dem ersten alter der weit / das von anfang der weit biß auff die sindfluß / tausent sechßhundert sechs vnd funffzig jar geweret hat.13

Den Anfang dieses ersten Alters hätten die Alten der Antike die „gülden Welt" genannt wegen des „Gotseligen wandels und regiment der alten" und dem Gehorsam der Jugend. Sachs verbindet so die christliche mit den griechisch-römischen Weltalterslehren. Noch im dritten und vierten Weltalter hätten die Hebräer die von ihnen gewählten Richter und Vorsteher „Elteste" genannt und im fünften Weltalter, der Herrschaft der Römer, hätte man zur Verwaltung des gemeinen Nutzens aus den ältesten Geschlechtern die Ältesten erwählt und „Senatores" genannt. So müsse auch heute, meint er, „in disem unsern letzten sibenden alter" 14 dort, „wo noch ein Ersam vernünfftig tugentsam alter in regierung ist", notwendig auch eine tugendsame Bürgerschaft sich bilden, während die Regierung der Jugend selten gedeihe. Er belegt das mit Beispielen aus dem alten Testament und kommt zum Schluss: Derhalb das ehrsam erfaren alter / billich in regierung der jugent furgezogen wirdt / wann es mit zehen fürtrefflichen tagenden (zuo regierung gemaines nutzes furderlich) begäbet ist / vnd auß langer geübter erfarung volkummenlicher erleuchtet / wann die blüende jugent / welche doch auch mit der erfarung teglich zuo nympt / in gemelten tagenden / in welchen fast alle ander sitlich tugent mit eyngeflochten werden / vnnd mit vil Worten erklerung bedörfften / Aber doch zuo ehren dem vernünfftigen tugentreichen alter / und zuo anzündung der blüenden jugent / in begirden der tugent / werden gemelte zehen tugent des alters / mit sampt ihren früchten / hie unden mit gebunden reymen / auff das kürtzest / ordenlich begriffen [...].

Auffällig sind die einschränkenden Relativierungen. Nicht das Alter an sich ist der Jugend im Regiment vorzuziehen, dies gilt nur, wenn ein „ersam, vernünfftig, tugendhaft" Alter regiert und dies zur Förderung nicht des eigenen, sondern des gemeinen Nutzens einsetzt. Nur unter diesen Voraussetzungen wird es durch lange geübte Erfahrung vollkommener. Aber selbst dies wird eingeschränkt durch die Bemerkung, dass doch auch die Jugend mit der Erfahrung an Tugend zunehme. Auch das Lob des herrschenden Regiments ist nicht bedingungs- und voraussetzungslos. Was heutigen Lesern vorerst als Huldigung an die Herrschaft erscheinen mag, erweist sich bei näherem Zusehen als Ermahnung an die Herrschaft, dass die Legitimität ihrer Herrschaft nicht, wie ihr Stadtschreiber annimmt, allein durch Stand und Geburt ver-

13 Die Patriarchen des alten Testaments, Blatt 1, in: Die Welt des Hans Sachs, 400 Holzschnitte des 16. Jahrhunderts, hg. von den Stadtgeschichtlichen Museen Nürnbergs, Nürnberg 1976, S. 76-77. 14 Sachs folgt hier Augustinus und den christlichen Weltchroniken des Mittelalters. Die sechs Schöpfungstage sind Ordnungsmuster innerweltlicher Zeitlichkeit. Mit dem 7. Tag folgt der Übergang von der Zeit in die Ewigkeit. Schon Augustinus differenziert nach Generationenfolgen: 1. von Adam bis zur Sintflut, 2. von da bis Abraham, 3. von Abraham bis David, 4. von David bis zur babylonischen Gefangenschaft, 5. von da bis Christi Geburt, 6. von da bis zur Gegenwart. 7. Übergang Zeit-Ewigkeit.

44

PETER RUSTERHOLZ

bürgt, sondern erst durch den Einsatz genannter Qualitäten im Dienste des gemeinen Nutzens, also auch für „das gemain völcklein", gegeben sei. Die Tafeln beginnen mit Adam und Eva, zwischen ihnen der Tod, erinnernd, dass der Tod der Sünde Sold sei. Die je verschiedenen Tugenden der Ertzväter sind alle vornehmlich auf das Alter und auf den gemeinen Nutzen bezogen. Die Weisheit Adams bezieht sich auf vernünftig geregelte Gesetze, sein Handeln soll durch die Fähigkeiten des Zuhörens, des Lesens und des Erfahrens geprägt sein. Die Reihe endet mit Noah, dem Pietas/Güte zuerkannt wird (Abb. 2).15 PietasIGüte ist die Alterstugend, die dem Übermut jugendlicher Tyrannen entgegengesetzt wird. So wird „ein tugendreiches Alter", von Vernunft, Güte und Erfahrung geleitet, den gemeinen Nutzen befördern und eine Tyrannis vermeidende Regierung erhalten. Doch dann kehrt Sachs nach dieser idealtypischen Revue der Regenten zum heilsgeschichtlich-historischen Rahmen zurück und beurteilt seine Gegenwart skeptisch. Er vergleicht die Zeit unmittelbar vor der Sintflut mit seiner Zeit: Des jetzigen letzten alters zeyt Auch eben gleich ist mit boßheyt Dem ersten alter an dem endt Tyrannisch sind die regiment, Vol hochmuot, bracht vnd schynderey, Vol vngerechtigkeit dar bey, Zerstrewung des gemainen nutzs [...] On alle sitten, zucht und tugent Wirdt auff erzogen yetzt die jugent.

Deshalb meint er, das Ende sei nicht weit. Auch in dieses „jetzigen letzten alters zeyt" werde nur des alten Noah „Hausgesind", das kleine „häufflein" der Christenheit, in der Arche erhalten. Doch ebenso wie er betont, dass er die Regenten nicht durch Geburt, sondern durch ihre Förderung des gemeinen Nutzens legitimiert sehen will, ebenso deutlich betont er, dass das „klein häufflein" nicht durch ein Bekenntnis, sondern durch „wort und werck" seine Zugehörigkeit erweisen soll. Differenzierter und konkreter in Bezug auf den soziokulturellen Kontext unterscheidet Sachs die Qualitäten von Jugend und Alter in seinem Kampff-gesprech. Das alter mit der jugend (1534), eine in Knittelversen verfasste Traumvision.16 Der Ich-Erzähler, fasziniert von der Schönheit der Natur im Monat Mai, findet in einsamer Gebirgslandschaft einen alten Tempel mit drei Göttinnen, „drey herrlich göttin wolgethan", eine junge Schöne, eine mittleren Alters „Viertzig-jerig, dapffrer gestalt" und „die dritt inn Schwartz, an jaren alt". Es sind die drei Parzen „Cloto, Lachosis [sie!] und Antropos" : Darvon Ovidius der groß, Schreibt, wie sie dem menschlichen leben, Anfang, mittel und endung geben.17

15 Die Patriarchen des alten Testaments, Blatt 12, in: Die Welt des Hans Sachs (wie Anm. 13), S. 81-82. 16 Hans Sachs, Kampff-gesprech, Das alter mit der jugent, in: Adalbert von Keller und Edmund Goetze (Hg.), Hans Sachs, Werke, Bd. IV, Hildesheim 1964, S. 31-59. 17 Ebd. S. 33.

Liebe, Tod und Lebensalter

45

46

PETER RUSTERHOLZ

Ein schöner, höfisch gekleideter Jüngling tritt auf mit der Bitte an die Parzen, ein für alle Reiche gültiges Edikt zu erlassen, das Alter in Acht und Bann zu versetzen und aus dem menschlichen Geschlecht zu vertreiben. Ein Alter tritt als Gegenkläger auf und beruft sich auf Cicero, der das Alter vor der Jugend preise. Doch er betont, nicht die Berufung auf Autoritäten, sondern allein „Auß unser beyder experientz", auf Grund der Erfahrung des Jungen und des Alten, sollten die Göttinnen ihren Urteilsspruch fällen. Traumerzählung und Kampfgespräch sind Erzählformen mit der Funktion der Vorbereitung von Entscheidungen zwischen zwei Lebenswegen oder zwei Lebenshaltungen. Alter und Jugend nennen ihre Vorteile. Äußerer Anblick, körperliche und geistige Fähigkeiten werden verglichen und qualifiziert. Die Jugend beklagt sich über den jämmerlichen Anblick des Alters, das Alter repliziert, die Jugend sei zwar schön, aber ohne Vernunft und Tugend und würde ohne die Fürsorge des Alters schon im Säuglingsalter verkommen. Die Jugend rühmt sich des Studiums und ihrer Bibliothek, das Alter entgegnet, die Alten hätten die Bücher geschrieben, die die Jugend mit Unverstand lese. Die Jugend wirft dem Alter Unfähigkeit zum Kriegsdienst vor, das Alter erklärt sich als besonnen und friedlich. Altersgeiz, Biederkeit und Duckmäusertum stehen gegen Verschwendung und lustiges Lasterleben, altfränkische Moral und Kleidung gegen französische Moden und Sitten der Jugend. Die Jugend lobt „der liebe prunst", das Alter erwidert, es danke mit Sophokles, dass es „diser wollüste frei sei": „Lieb ist eyn süsse bitterkeyt, die nie keyn weyser hat gelobet." Der Junge meint, das Spiel schon gewonnen zu haben mit der Berufung auf ein längeres Leben. Das Alter verweist auf die Könige David und Cyrus, die länger gelebt hätten als ihre Söhne, darauf kommen beide überein, das Urteil den Parzen zu überlassen. Die Jüngste, Clotho, lobt die Innovationen und Evolutionen des Zeitalters, die Entwicklung des Handwerks, des Buchdrucks, der Wissenschaften und Künste, lobt, dass im Gegensatz zu früheren Zeiten, vor der Reformation, nun sogar der Bauer über Gesetz und Evangelium Bescheid wisse und spricht für die Jugend. Während die Junge, Clotho, Jugend und Wandel lobt, verurteilt die Älteste, A[n]tropos, die neue Zeit und lobt das vergangene, goldene Zeitalter. Heute würden Handwerker betrügen, die Bauern nur auf ihren Vorteil sehen, die Herren leichtfertig Kriege beginnen. Die mittlere, Lachesis, will sich weder für das Alter noch für die Jugend entscheiden und möchte beide vereint sehen, worauf die Älteste, A[n]tropos, das Endurteil spricht. Keines könne ohne das Andere bleiben, niemand sei zu vertreiben. Das Alter solle die an Qualitäten zunehmende Jugend nicht verachten, die Jugend solle dem Alter so begegnen „wie du auff erden im alter wilt gehalten werden". Hier begegnen sich verschiedene Auffassungen der Geschichte und verschiedene Normierungen des Alters und der Jugend. Das Parzenurteil verpflichtet zwar zur Synthese, überlässt aber den Lesenden, diese im konkreten Fall zu vollziehen. Die Lesenden erhalten kein Identifikationsangebot, wohl aber einen Appell zur unparteiischen Reflexion des Problems. Wenn wir den Perspektivismus dieser Texte beachten, ist klar, dass diese Bilder des Alters mit denjenigen Gengenbachs überhaupt nicht zu vergleichen sind. Dies gilt auch für den späteren Text, der unverkennbar die persönlichen Altersbeschwerden des Verfassers einbezieht: Eyn klag-gesprech über das schwer alter geschildert, geschrieben am 5. November 1558, am 65. Geburtstag. 18 Er beklagt den Verfall seiner Kräfte, wirft in seinem Dialog der an zwei Krücken humpelnden Personifikation des Alters vor, ihn „geruntzelt, kalt und ungestalt" gemacht zu haben. Diese versucht ihn mit dem 18 Hans Sachs, Eyn klag-gesprech über das schwer alter geschildert, in: Adalbert von Keller und Edmund Goetze (Hg.), Hans Sachs, Werke, Bd. VII, S. 211-219.

Liebe, Tod und Lebensalter

47

Verweis auf das „tugendsam gemüt und hertz" zu trösten, das des Menschen „schönste zir" sei. Erst als der Alte ihn auffordert, geduldig zu sein und die Gnade langen Lebens zu bedenken, die ihm zuteil geworden sei, zeigt er sich bereit, die Gebrechen des Alters zu tragen, aber durchaus nicht ohne zu wünschen, für weitere dichterische Arbeiten das frühere Ingenium zu erhalten. Das Alter möchte ihn zwar zur stillen Ruhe überreden, verspricht ihm aber schließlich doch, falls die Lust zur Poeterey weiter anhalte, die Rückkehr der Muse. Sie ist ihm offensichtlich bis zum 82. Lebensjahr treu geblieben. Er hat die letzten Jahre keineswegs mit stiller Andacht, sondern mit der Mehrung und Organisation seiner Werke verbracht und so das vorgegebene Lebensalterschema gesprengt. Hans Sachs ist sicher nicht der originellste Autor der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts gewesen, da müssten wir eher Fischart vorstellen. Er ist aber der für das reformierte Stadtbürgertum und seine moralischen Einstellungen repräsentativste Vertreter, und dennoch bemerken wir in seinen Texten nicht, wie oft gesagt wird, nur die Konventionen des Zeitalters, sondern, durch alle Masken rhetorischen Stils, auch Tendenzen der Perspektivierung, der Individualisierung, der Strategie, die Lesenden zur Selbstreflexion und eigenen Sinnbildung anzuregen. Bei näherer Betrachtung sind die Bilder des Alters im 16. Jahrhundert durchaus nicht so dunkel wie es im Überblick und ohne Kontext erscheinen mag. 19 Von den im engeren Sinn literarischen Texten sind freilich die massenhaft verbreiteten Einblattdrucke und Flugblätter zu unterscheiden. Sie liefern wirklich codierte, das heißt: eindeutig dechiffrierbare Bedeutungen mit überzeitlichem und alle sozialen Schichten einbegreifendem Anspruch, kirchlich approbierte Diskurse mit moralischem Appellcharakter. Das folgende Flugblatt aus Oppenheim zeigt ein Bild, das sich schon in Holzschnitten des 16. Jahrhunderts findet und auch nach 1612 mehrfach wieder erscheint (Abb. 3).20 Die zwei Sprachen verweisen auf den Gebrauch für höhere und mittlere Schichten. Die Überschrift: Augenscheinliche Abbildung und Kurtzweilige Beschreibung Der vnterschiedlichen Alter Menschlichen Leben / mit eines jeden Eygenschafften / sonderlich deren / so in Ehlichen Stand zugebracht werden / in Vergleichung der Jahrzeiten: Sampt beygefügter Erinnerung auß Gottes Wort / welche von allen frommen Ehegenossen / waserley standes die seyen / an stat eines täglichen vnterrichts nützlich kan und sol betracht werden. Das Bild führt die vier Lebensalter von Männern vor. Die Schriftbänder von rechts nach links zeigen ihr Verhältnis zur Liebe, das sich mit zunehmendem Alter verändern soll. Der Jüngling: „Juch dz thu ich alle Tag." Schon der Mann im besten Alter sagt: „Und ich wenn ich mag". Er signalisiert mit hoch erhobenem Pokal schon den Wechsel sinnlicher Genüsse von den Freuden der Liebe zu den Lüsten des Essens und Trinkens. Der ältere Mann kann sich nicht recht erinnern, meint aber schließlich: „O es denckt [dünckt ?] mir woll, dz ich's auch phlag." Der Greis beginnt mit Ächzen: „Och Och" und fragt schließlich: „Und tut man das noch?" Der Kommentar bemän-

19 Siehe dazu Franz Machilek, Krankheit, Alter und Tod in der Dichtung des Hans Sachs, in: Hans Sachs und die Meistersinger in ihrer Zeit, Katalog, hg. vom Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 1981, S. 3 9 - 4 5 . 20 REPRAESENTATIO ICONICA ET DESCRIPTIO FACETA DIVERSARUM AETATUM VITAE HUMANAE, SINGULARUMQUE PROPRIETATUM, MAXIME ILLARUM, ... per comparationem earundem cum partibus Anni: Adjuncta est Regula ex verbo Die, omnibus pié Conjugatis cujuscunque conditionis, loco quotidiane Institutionis observando, in: Wolfgang Harms (Hg.), Deutsche illustrierte Flugblätter, Bd. 1, Tübingen 1985, S. 189.

48

PETER RUSTERHOLZ

i !

ism Vi

MT D

E

¡ I D I V E R S A R U M g f x

S

H . O Í

aAdjWtiï*

I N

e f t Regula

R

I

P

T

I

O

r

A

C Β

t E T A T U M

S I N G U L A R U M Q U E

g j j s

C

Ρ R Ο

Ρ R I

E T A

Τ

A

V I T i E

T U

M ,

h u m a n j b J Ì

M A X I M E

S A C R O C O N J U O J O T R A N S I G I ' Γ per c o m p a r a t i o n c m carundem c u m partibus A n

T U R ,

ex ^verbo

/oca

Dei ,amml>uí

pie Crnju^uü

InßttHtionu

cit^ußwujue

condtmnù,

I L L A R U M , î f

t

î ï

tjuettdiM*

ukfervaniU.

3iycnfd>uofl) ·ι î>if|mnti«h internum r e f i n e 1 ú'l'r .ümiV: IrijiTV { ) l3>Uirrtén nún ύηίαΗΛ«* ct(,ùitî> ûitjcni ictP imí'c'. C:í\n" Λ ini ^ HítlVt .tSunl'utiomtfci ut S Ò u uurf't iriiu 2"mi(uVu fiut ^~>->ïa(tiit taltni flif: uni» >>'rt. ¡ ft i-m, aitutUm i'rt nùrSccttg ìtefién άu* , li r,0 Ivi)feirinii' mjfl ® v í (ttí frfinqenìevntÍ- i n ~ / j s ì ^ΛΛν :fiUm-.Kr¡t' ¿,tc«ier¡m©egelgeht/bcmroel)etbee@elúcfe/ tlnb tflüecfcl)iOcnba'ifd)mit feinem£iebeé¿2Miífe. 6. ®βϊ?ρίαΐΓ{ηηίφι fût feinen Sehtet l)ált/ © e r Ijat D e n S B e í t í S ^ m a t f unb alle n erfofcren/ Cc muß ein Unmenfi) fepn unbèc&eufaal biefec 2ßeit; © e t meijlen üeljret SBaljn erreget groang unb @φηιet|en.

Abb. 5: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Die Wollust

Liebe, T o d u n d L e b e n s a l t e r



Hument».

kSe Eugeni) j>fla|im tute öie « φ ί ί ^rcuöeiv f 53al)it/ »@ie fan î) en 3f2cfTcíftraud& juSiljcnsíStátteni macfcen/ bie Çroigfeit öermnljlet mit bet Sufi. t bie 3Belt befleef et. 6. 35ie t/ (Se helle flammen giebt/ 6οφ mit ©eflancf »ergebet/ ilBer bei) bem Çpicur unb feinem R a u f e n fiel)et / S e r lernt / wie Dicfe SLBaar ató búnneS ©la« jetbriefct ; & fan ύ κ ^ Γ α φ ο η ^ ϋ φ uní nid)t SltÇnei) geroál)« ren/ 5 ί ο φ gclbeé ©d)langeiií©tfft in Sabfal ft$ oerfefjren. *»*5!·*«·>!·>!·^>!·«··ί