Anfänge und Enden: Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos 9783825367626, 3825367622

Das antike und nachantike Epos bietet sich aufgrund seiner diachronen Ausprägung und narrativen Großform in besonderer W

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German Pages 402 [404] Year 2017

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Impressum
Inhalt
Vorwort
Christine Schmitz: Einleitung: Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos
Joachim Latacz: Vom unbekannten Anfang bis zum bekannten Ende. Das Vers-Epos im Überblick
Stefan Büttner: Was meint die Formel »Anfang – Mitte – Ende« in der "Poetik" des Aristoteles
Annemarie Ambühl: Narrative Potentiale von Anfängen und Enden im hellenistischen (Klein-)Epos
Christiane Reitz: Das Unendliche beginnen und sein Ende finden – Strukturen des Aufzählens in epischer Dichtung
Angela Jöne: Beinahe-Abschiede in der "Aeneis"
Farouk F. Grewing: Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang? Überlegungen zu "closure" in Ovids "Metamorphosen"
Christine Walde: Tu ne quaesieris scire nefas quem finem . . . di dederunt . . . : Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans "Bellum Civile"
Thomas Baier: Anfang ohne Ende. Abgebrochene Kommunikation bei Valerius Flaccus
Claudia Klodt: Die Exordialtechnik der Redner in Statius’ "Thebais"
Jan Telg genannt Kortmann: Tag und Nacht als Anfangs- und Endpunkte in Silius Italicus’ "Punica"
Raymond Marks: A Medial Proem and the Macrostructures of the "Punica"
Helen Kaufmann: Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike
Ursula Gärtner: Ohne Anfang und Ende? Die "Posthomerica" des Quintus Smyrnaeus als ›Intertext‹
Thomas Haye: Die "Herculeia" des Giovanni Mario Filelfo (1426–1480)
Claudia Schindler: Anfang als Ende, Ende als Anfang. Der Schluss der "Aeneis" und die frühneuzeitlichen "Aeneis"-Supplemente
Carla Piccone: Quid primum . . . canam quaeve ultima narrem? Riflessioni sulla struttura della "Felsinais" di Marco Girolamo Vida
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Anfänge und Enden: Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos
 9783825367626, 3825367622

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christine schmitz jan telg genannt kortmann angela jöne (Hg.)

schmitz telg gen.

schmitz · telg gen. kortmann · jöne (Hg.) Anfänge und Enden     as antike und nachantike Epos bietet sich aufgrund    seiner diachronen Ausprägung und narrativen Großform in besonderer Weise für eine vergleichende Untersuchung über Anfänge und Enden an, und zwar unter makro-/mikrostrukturellen und thematischen Aspekten. Anfänge und Enden eines Epos bilden darüber hinaus bevorzugte Orte für metapoetische Reflexionen als Teil der Neuinszenierung. Neben einem Überblick über die Genese, Enden und Neuanfänge des antiken und modernen Versepos sowie einer Deutung der aristotelischen Formel »Anfang – Mitte – Ende« werden in den hier vorgelegten Beiträgen narrative Modellierungen epischer Bauformen, die sich mit Anfang und Ende beschäftigen, ebenso behandelt wie das (bisweilen als nicht wirklich abgeschlossen empfundene) Finale und seine Fortsetzungen in Form von Korrekturen oder auch Ergänzungen. Anfangend mit den homerischen Epen über das hellenistische (Klein-)Epos und das lateinische Epos augusteischer, neronischer, flavischer und spätantiker Zeit enden die Fallbeispiele mit neulateinischen Epen. Im Fokus der Untersuchungen steht die Frage, welche Potentiale die dynamische Gattung des Epos in der Modellierung von Anfängen und Enden als markanten Punkten innerhalb einer größeren narrativen Struktur entfaltet.

kortmann jöne (Hg.)

Anfänge und

Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos

Enden

Anfänge und Enden

Universitätsverlag

isbn 978-3-8253-6762-6

win t e r

Heidelberg

bi bli oth ek d er klass isc hen a ltertu m swis s ens cha f t en Herausgegeben von

j ürg en pau l sc h w i n dt Neue Folge · 2. Reihe · Band 154

Anfänge und Enden Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos Herausgegeben von

christine schmitz jan telg genannt kortmann angela jöne

Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

isbn 978-3-8253-6762-6 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2017 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christine Schmitz: Einleitung: Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Latacz: Vom unbekannten Anfang bis zum bekannten Ende. Das Vers-Epos im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Büttner: Was meint die Formel »Anfang – Mitte – Ende« in der Poetik des Aristoteles? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annemarie Ambühl: Narrative Potentiale von Anfängen und Enden im hellenistischen (Klein-)Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christiane Reitz: Das Unendliche beginnen und sein Ende finden – Strukturen des Aufzählens in epischer Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Angela Jöne: Beinahe-Abschiede in der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Farouk F. Grewing: Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang? Überlegungen zu closure in Ovids Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . 141 Christine Walde: Tu ne quaesieris scire nefas quem finem . . . di dederunt . . . : Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Thomas Baier: Anfang ohne Ende. Abgebrochene Kommunikation bei Valerius Flaccus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Claudia Klodt: Die Exordialtechnik der Redner in Statius’ Thebais . . . . . . 221 Jan Telg genannt Kortmann: Tag und Nacht als Anfangs- und Endpunkte in Silius Italicus’ Punica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Raymond Marks: A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Helen Kaufmann: Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Ursula Gärtner: Ohne Anfang und Ende? Die Posthomerica des Quintus Smyrnaeus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Thomas Haye: Die Herculeia des Giovanni Mario Filelfo (1426–1480) . . . 339

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Inhalt

Claudia Schindler: Anfang als Ende, Ende als Anfang. Der Schluss der Aeneis und die frühneuzeitlichen Aeneis-Supplemente . . . . . . . . . 357 Carla Piccone: Quid primum . . . canam quaeve ultima narrem? Riflessioni sulla struttura della Felsinais di Marco Girolamo Vida . . . . 377 Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Vorwort Der britische Autor Tim Parks empfiehlt, nicht jedes Buch, das man angefangen hat, auch bis zur letzten Seite zu lesen. Bücher nicht zu Ende zu lesen bedeutet für den autonomen Leser Parks paradoxerweise sogar eine Anerkennung der Qualität eines Buchs: »Wenn ich einen Roman vor seinem Ende aus der Hand lege, dann erkenne ich einfach nur an, dass für mich seine Form, seine ästhetische Qualität im Webmuster der Handlungsstränge liegt und im Fall der besten Romane im Zusammenwirken von Stil und diesem Handlungsgewebe. [. . . ] Wenn die Struktur steht und das Erzählen läuft, ist die Notwendigkeit eines Endes nur eine unselige Last, eine Unannehmlichkeit, ein bedauerlicher Ausschluss so vieler Möglichkeiten.« 1

Die traditionelle Haltung vertritt Sandra Kegel, die in ihrem Artikel »Wie wir Bücher lesen. Zu guter Letzt« 2 dafür plädiert, neben den berühmten ersten Sätzen eines Romans auch die letzten Sätze zu lesen, da sich viele Werke »oft erst von ihrem Ende her noch einmal ganz neu aufschlüsseln.« Epischen Anfängen und Enden als konzentrierten Ausgangs- und Endpunkten galt das Interesse einer internationalen Tagung, die vom 9. bis 11. Oktober 2013 an der Universität Münster stattfand. Der vorliegende Band hat seinen Ursprung in dieser Tagung. Am Anfang soll der angenehmen Pflicht des Dankens Genüge geleistet werden. Zu danken haben wir dem Institut für Klassische Philologie für die perfekte Organisation der Tagung, allen voran Susanne Pinkernell-Kreidt, die in gewohnter Souveränität alle Probleme gemeistert und so maßgeblich zum Gelingen der Tagung beigetragen hat. Dank gebührt auch den Hilfskräften des Instituts für Klassiche Philologie für die Unterstützung bei der Durchführung der Tagung, insbesondere Ann-Katrin Wintzer. Dem Fachbereich 8, dem Internationalisierungsfonds des Rektorats der Universität Münster, den Münsteraner Freunden der antiken Kultur und Literatur und vor allem der DFG ist für die großzügige finanzielle Förderung der Tagung zu danken. Für Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit danken die Herausgeber Konstantin Ameis, Henning Haselmann und Hannah Hoffmann, für den professionellen Satz Tim Doherty. Jürgen Paul Schwindt ist schließlich für die Aufnahme des Bandes in seine Reihe zu danken. Münster, im Oktober 2016

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Für die Herausgeber Christine Schmitz

Vgl. Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen. Aus dem Englischen von Ulrike Becker und Ruth Keen, München 2016, 25. FAZ.NET, 18.10.2016.

Christine Schmitz (Münster)

Einleitung Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos

I. Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos Literarische Anfänge und Enden begegnen in vielfachen Formen. Die Gattung Epos eignet sich in besonderer Weise für eine diachrone Untersuchung der Gestaltungsmöglichkeiten von Anfängen und Enden, liegt doch mit dem antiken Epos eine Gattung vor, die in der Wahl ihres Stoffes auf bekannte Sagenkreise wie vor allem die Argonautenfahrt, den Trojanischen Krieg und den Kampf um Theben zurückgreifen kann, wodurch sich ein mythisches Kontinuum ergibt und identische Helden in verschiedenen Epen auftreten können. 1 Nicht nur Ovids Metamorphosen sind ein carmen perpetuum; auch die einzelnen Epen, zumindest diejenigen mit mythischen Sujets, schreiben sich in ein Kontinuum ein und bilden insgesamt eine Art carmen perpetuum. 2 Formal zeichnet sich das Epos schon allein durch das konstante Versmaß des Hexameters aus, darüber hinaus aber auch durch charakteristische Bestandteile wie Proömien, Musenanrufe, Kataloge, Gleichnisse usw., ferner durch typische Szenen wie Kämpfe/Aristien, Seestürme, Gastmäh-

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Eine namentliche Erwähnung von Figuren aus Vergils Aeneis und damit die Aufforderung, das intertextuell aufgerufene analoge Heldenpaar Nisus und Euryalus mit den eigenen Akteuren Hopleus und Dymas, zugleich aber auch die neue Version mit dem literarischen Modell (Aen. 9,446–49) zu vergleichen, liegt in Statius’ Thebais vor. In einer Apostrophe wendet sich der Dichter direkt an seine Figuren, wobei er in ostentativer und gerade dadurch provokativer Bescheidenheit sein Gedicht von vornherein seinem Vorgänger unterordnet (Stat. Theb. 10,445–48): vos quoque sacrati, quamvis mea carmina surgant / inferiore lyra, memores superabitis annos. / forsitan et comites non aspernabitur umbras / Euryalus Phrygiique admittet gloria Nisi (Auch ihr seid geheiligt, und obwohl meine Lieder einer niedrigeren Leier entstammen, werdet ihr die Jahre hindurch überleben, die eurer gedenken. Und vielleicht wird Euryalus eure Totenschatten nicht als Gefährten verschmähen und der ruhmreiche phrygische Nisus wird euch willkommen heißen). Zu dieser ungewöhnlich expliziten Referenz vgl. etwa Hinds (1998) 92 und Walter (2014) 134–37 mit weiterer Literatur. Vgl. auch Fowler (1997) 20: »In the background, too, may be an old dream of the West, the idea of the carmen perpetuum that might unite all stories into one big master narrative, a truly Epic cycle linking works in a golden chain.«

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Einleitung

ler, Tages- und Nachtanbruch usw. Aufgrund dieser Strukturelemente und Motive, die in Variationen wiederkehren, lassen sich Traditionslinien und intertextuelle Dialoge innerhalb des epischen Kontinuums aufzeigen. 3 Kontinuität und zugleich Dynamik in der epischen Tradition bedeuten ein fließendes Ineinanderübergehen, Anknüpfen und Fortsetzen, aber auch ein permanentes Variieren und Korrigieren. Es kann also bei griechisch-römischen Epen nicht von abgeschlossenen Einheiten und mithin von völligen Neuanfängen die Rede sein. Vielmehr präsentieren sich die nachfolgenden Epen im kontinuierlichen Dialog mit ihren Vorgängern. Ganz analog zur Konzeption in Vergils Aeneis, wonach die Trojaner unter Aeneas’ Führung in Italien ihre alte Heimat, das untergegangene Troja, nicht vollständig aufgeben, sondern in das Land ihrer Vorfahren zurückkehren, 4 um hier ein neues Volk zu gründen, verhält es sich auf literarischer Ebene. In Valerius Flaccus’ Argonautica wird in einer Passage die vom Schicksal bestimmte, unabwendbare Zerstörung Trojas erwähnt (Val. Fl. 2,570 f. namque bis Herculeis deberi Pergama telis / audierat, denn er [sc. Laomedon] hatte gehört, Troja sei bestimmt, zweimal den Geschossen des Hercules zum Opfer zu fallen). In einer auktorialen Einschaltung wird aber zugleich ein prophetischer Ausblick auf die zukünftige Gründung Roms gewährt (Val. Fl. 2,573 et genus Aeneadum et Troiae melioris honores, und das Geschlecht der Aeneaden und der Ruhm eines besseren Troja). Mit dieser externen Prolepse wird also ein beständigeres, besseres Troja (Troia melior), das dereinst in Italien zu verorten sein wird, angekündigt. Vergleichbar der Idee eines zwar untergegangenen, in Rom aber wiederauferstehenden neuen Troja können auch vorausgehende Epen in Form von Prä- und Intertexten eine Wiedergeburt im jeweils neuen Epos erleben. Anfang und Ende werden im vorliegenden Band als narratologische, nicht als anthropologische Kategorien im Sinne von Geburt und Tod verwendet. 5 Der Tod spielt jedoch als strukturelle Grenzsetzung eine zentrale Rolle im Epos, wenn Lebens- und Buchende zusammenfallen. So bedeutet das todesähnliche Entrücktwerden Creusas durch Cybele am Ende des zweiten Aeneis-Buchs für Aeneas

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Harrison (2013) untersucht, wie Buchanfänge und -schlüsse in Apuleius’ Metamorphosen nach epischen Mustern gestaltet sind. Auch wenn die Modellierungen von Zeitangaben in Buchanfängen und -enden auf die im Roman erzählten alltäglichen Situationen und Gefahren, die Lucius/Esel durchlebt, herabgestimmt sind, bleiben epische Strukturelemente auch noch in diesen Transformationen erkennbar. Zu Vergils Konstruktion, daß die trojanische Schar unter Aeneas’ Führung in das alte Ursprungsland des aus Italien stammenden Ahnherrn Dardanus zurückkehre, vgl. Schmitz (2013) 123 (mit Anm. 42) und 132. Einen anderen Zugriff verfolgt der interdisziplinär angelegte »Poetik und Hermeneutik«-Band »Das Ende. Figuren einer Denkform« (1996): hier wird das Ende nicht als narratives Strukturelement, sondern als Denkform oder Reflexionsfigur behandelt. Zu vergleichen ist vor allem der Beitrag von Herzog (1996): neben der Tradition der christlichen Eschatologie betrachtet er die Darstellungsform der mythischen Metamorphose als menschliche Dauer am oder im Ende.

Christine Schmitz

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den endgültigen Abschied und Aufbruch von Troja. 6 Der Tod des Vaters Anchises, der auf narrativer Ebene das Ende der Irrfahrtenerzählung des Aeneas bildet (Aen. 3,710–18), ermöglicht auf der Handlungsebene erst das doppelte Abirren des Aeneas von seinem Weg (im Sinne von Fahrtziel und Sendung), und ebenso markiert Didos Selbsttötung im Finale des vierten Buchs eine Zäsur, insofern Aeneas nach der zeitweiligen Abirrung in Karthago nun wieder seinen vorherbestimmten Weg aufnimmt. 7 Der Tod als Markierung des Erzählrahmens fällt freilich nicht immer mit einem Buchende zusammen. So setzt etwa Ovid den Tod des Orpheus (met. 11,1–66) gerade an den Anfang eines Buchs. 8 Turnus’ Tod, mit dem die Aeneis überhaupt endet, bewirkt ein offenes Ende, das wiederum viele neue Lesarten provoziert. 9 Mit dem Tod, dem Ende von Helden, ist aber nicht zwangsläufig das Ende der Erzählung selbst erreicht. 10 So läuft Statius’ Thebais trotz des im Proömium ange6

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Als Schattenbild bzw. Abbild ihrer selbst (Aen. 2,772 f. simulacrum, ipsius umbra Creusae, imago) tröstet sie Aeneas und prophezeit ihm seine Zukunft. Nach ihren letzten Worten, die nach Art eines inschriftlichen Grabepigramms gestaltet sind (vgl. Aen. 2,789 iamque vale et nati serva communis amorem, Und nun leb wohl und bewahre deine Liebe für unseren gemeinsamen Sohn), und Aeneas’ vergeblichem Versuch, sie zu umarmen (Aen. 2,792–94), wird nach einem Hinweis auf das Ende der Nacht von Trojas Untergang (consumpta nocte, Aen. 2,795) noch im Finale symbolhaft der Anbruch eines neuen Tages geschildert (Aen. 2,801 f.), der als Signal für den Auszug der Trojaner gilt. Zur Gliederungsfunktion von Tag und Nacht im Epos vgl. den Beitrag von Jan Kortmann, unten, insbes. 254–56. Zum Tod als Abschluß vieler Bücher der Aeneis und den damit verbundenen Implikationen vgl. Coleman (2014) 341: »Eight books of A[eneid] end with deaths that contribute to the transition from the past to the future.« Im besonderen Fall des Orpheus bedeutet der Tod ohnehin nicht das endgültige Ende, vielmehr die Umkehrung der von den Unterweltgöttern auferlegten Bedingung (met. 10,51 ne flectat retro sua lumina, daß er seine Augen nicht rückwärts wende). Im Gegensatz zu seinem ersten Aufenthalt in der Unterwelt wird Orpheus nach seinem Tod als Schatten in der Unterwelt gezeigt, der hier wieder zusammen mit seiner Eurydice fortlebt (met. 11,61–6), vgl. den Schlußvers (met. 11,66): Eurydicenque suam iam tuto respicit Orpheus (und Orpheus blickt – nunmehr gefahrlos – nach seiner Eurydice zurück). Vgl. etwa Hardie (1993) 12: »the end of the poem, which as so many have felt is not an ending at all (except for Turnus), merely the beginning of the history of the Aeneadae . . . «. Zum überraschenden Ende der Aeneis vor der Folie der homerischen Modelle vgl. Fowler (2000a) 263. Zum Ende der Aeneis mit Aeneas’ zunächst zögernder, dann aber von furor und Zorn (Aen. 12,946 f. furiis accensus et ira / terribilis, von Furien entflammt und schrecklich in seinem Zorn) getriebener Tötung des um Gnade bittenden Turnus als Klimax s. Freund (2008), Harrison (2014) 29 und Schindler, unten 357, Anm. 1, jeweils mit einschlägiger Literatur; vgl. auch unten, 23 mit Anm. 47. Fowler (2000a) 245 erinnert daran, daß selbst der friedliche Abschluß der Ilias mit Hektors Bestattung (vgl. den letzten Vers: Hom. Il. 24,804 √Wc o— g+ Çmf–epon tàfon ìEktoroc …ppodàmoio. So besorgten diese die Bestattung Hektors, des Rossebändigers), »the archetypal epic ending of the Iliad«, wie Fowler (2000a) 249 später schreibt, nicht

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Einleitung

kündigten Themas fraternas acies . . . (Stat. Theb. 1,1) nicht auf den Tod der Protagonisten hinaus. Vielmehr bedeutet die gegenseitige Tötung der feindlichen Brüder Eteocles und Polynices gerade nicht das Ende der Thebais (vgl. den Nachruf des Erzählers auf die Seelen der verstorbenen Brüder, Stat. Theb. 11,574–79). Die Erzählung über die Auseinandersetzung zwischen den Brüdern muß geradezu unabgeschlossen bleiben 11 wie auch der Haß der Brüder, der selbst noch beim Zusammentreffen ihrer Leichname wieder auflebt (vivunt odia improba, vivunt, Theb. 12,441), über den Tod hinaus anhält. 12 Epische Anfänge – Anfänge im Epos Die Frage, von wo das Epos seinen Ausgang nehmen solle, stellt sich jedem Epiker, auch wenn sie nicht immer so explizit und emphatisch wie im Proömium zu Statius’ Thebais thematisiert wird. 13 Hier wendet sich der Dichter mit der Frage an die Musen, woher sie sein Werk beginnen lassen wollen (Theb. 1,3 f.): unde iubetis ire, deae? Die Frage offenbart, daß der Anfang eines Epos nicht gegeben ist, sondern vom Dichter gesetzt und als Kristallisationspunkt der nachfolgenden Erzählung inszeniert wird. Auch die weiteren Fragen, ob die Uranfänge des verfluchten Geschlechts (gentis . . . primordia dirae, 4), Europas Entführung (Sidonios raptus, 5) und die anschließende Aussendung des Cadmus (6) den Einsatzpunkt bilden sollen, lassen den Leser am Suchprozeß teilhaben. Im Durchspielen alternativer Anfänge machen die Fragen vor allem die Kontingenz jedes Anfangs deutlich und zeigen – eng damit verbunden – die narrativen Möglichkeiten des zu setzen-

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darüber hinwegtäuschen darf, daß es sich nur um einen vorübergehenden Waffenstillstand handelt. Vgl. auch Lovatt (1999) 144: »Polynices’ burial in the Thebaid, [. . . ], does not achieve the closure for which Argia and Antigone hoped.« Bezeichnenderweise leitet nondum (»noch nicht«, Stat. Theb. 12,1) als erstes Wort das letzte Buch ein (vgl. auch Hardie [1997] 153, Anm. 48 und Fowler [1997] 21 zu nondum cuncta), in dem die Sorge und der Streit um die Bestattung der Toten erzählt wird. Zur Position des zwölften Buchs innerhalb der Thebais vgl. Pollmann (2004) 21–5; zur Frage von mehreren Enden oder closure s. Pollmann (2004) 25–7 (»The over-all message: a never-ending story«). Entsprechend erkennt Antigone die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit der kriegerischen Auseinandersetzung, die am fortdauernden Haß nichts ändern konnte (Stat. Theb. 12,442 nil actum bello, nichts wurde durch den Krieg erreicht). So hatte Polynices im Augenblick des Sterbens seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, daß sich die brüderliche Rivalität auch nach dem Tod fortsetzen werde (Theb. 11,570–72). Zur erneuten Konfrontation der Brüder vgl. auch Ganiban (2007) 211; zum kontrovers diskutierten Ende der Thebais s. Ganiban (2007) 213 (mit weiterführender Literatur in Anm. 20). Myers (2015) 32 diskutiert in ihrer Interpretation des Proömiums zur Thebais die Schwierigkeit, angesichts der unermeßlichen Dimension des Themas einen Anfangspunkt zu finden und beurteilt den narrativen Zugang in folgender Weise: »Statius’ proem to the Thebaid and indeed the whole of the first book exhibit a self-conscious concern with the poetics of opening.«

Christine Schmitz

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den Anfangspunktes auf. Der Dichter deutet die unendlich weit zurückreichende Vorgeschichte des thebanischen Königshauses an (longa retro series, 7), aber nur, um in einer Praeteritio markante Ereignisse herauszugreifen, denen er sich gerade nicht widmen wolle. 14 Nach dem initialen Akkusativ Fraternas acies alternaque regna profanis / decertata odiis sontesque . . . Thebas (Der Brüder Schlachtreihen und die abwechselnde Königsherrrschaft, um die in unheiligem Haß gekämpft wurde, und das schuldige Theben, Theb. 1,1–2), womit der Tradition entsprechend der eigentliche Gegenstand des Epos am Anfang benannt wurde, sucht der von Inspiration ergriffene Dichter nach dem geeigneten Ausgangspunkt. Nachdem er mehrere Möglichkeiten des Anfangs innerhalb des thebanischen Sagenkreises erörtert und zurückgewiesen hat, legt er endlich positiv fest, von wo aus er seinen Weg nehmen will (Theb. 1,16b–7a): limes mihi carminis esto / Oedipodae confusa domus (der Weg meines Gesangs soll mir das verwirrte Haus des Oedipus sein). Bei der allmählichen Eingrenzung der unendlichen Dimension der Vorgeschichte könnte man versucht sein, das Wort limes im Sinne eines definitiven Ausgangsoder Endpunktes zu verstehen. 15 Dagegen spricht jedoch der lexikalische Befund, wonach limes in vergleichbaren Kontexten den Weg, die Gangart bezeichnet, die eingeschlagen wird. 16 Das Bild des Weges (vgl. Stat. Theb. 1,3 f.) begegnet auch im Proömium zur Achilleis, wenn der Dichter sein Projekt benennt (Ach. 1,4 f.): nos ire per omnem . . . / heroa velis. Mit der Fokussierung auf die Verfluchung der Nachkommen durch Oedipus nimmt das Unheil des thebanischen Hauses seinen unaufhaltsamen Lauf, der in der gegenseitigen Tötung der feindlichen Brüder (im

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Zum Proömium von Statius’ Thebais vgl. auch Walter (2014) 120–30 mit einschlägigen Literaturangaben. Entsprechend wird limes häufig mit »Grenze« übersetzt. So versteht Schetter (1962) 207, insbes. Anm. 18, limes im Sinne einer zeitlichen Abgrenzung nach oben, also einer Begrenzung einer allzuweit zurückgehenden Vorgeschichte, Vessey (1973) 64 dagegen im Sinne von Grenze als Endpunkt: »But the limit of the epic will be the final doom of the accursed race«; ebenso Vessey (1982) 574: »He fixes the limits of his epic in the ›disturbed house of Oedipus‹ (Oedipodae confusa domus, 17): the last and worst act in a seemingly unending chain of doom and devastation.« Dominik (2003) 98 versteht limes im Sinne einer thematischen Beschränkung: »Statius will ›limit‹ (cf. limes, 16) himself to relating the tale of the turbulent house of Oedipus«. Vgl. die ThLL 1411,64–1412,3 s.v. limes zusammengeführten Stellen zur übertragenen bzw. bildlichen Bedeutung: Stat. silv. 5,3,237 f. labat incerto mihi limite cursus / te sine et orbatae caligant vela carinae. Theb. 1,16 f. (3 unde iubetis ire, deae) limes mihi carminis esto / Oedipodae confusa domus (cf. CE 1552 B., 5 quo nunc Calliope gemino me limite cogis, quas iam transegi, rursus adire vias?) . . . Mart. 11,90,1 f. carmina nulla probas molli quae limite currunt, / sed quae per salebras . . . cadunt; s. auch OLD 3a Mart. 11,90,1 und 4a: Stat. silv. 5,3,237–8. Vgl. auch Myers (2015) 37, Anm. 39: »For limes as ›path‹ (not ›limit‹, as usually translated)«. S. auch unten (Anm. 23) zu Drac. Romul. 8,3 aggrediar meliore via.

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Einleitung

elften Buch) gipfeln wird, ohne daß damit ein wirkliches Ende des brüderlichen Hasses und mithin auch des Epos erreicht wäre. 17 Wiederholungsstruktur mythischen Erzählens: Endloses Wiedererzählen, Variieren, Korrigieren Gerade die bekannten Sujets des Mythos fordern die Dichter zu innovativen Erzählstrategien und immer neuen Techniken des Wiedererzählens heraus. Anfänge und Enden eines Epos bilden bevorzugte Orte für metapoetische Reflexionen als Teil der Neuinszenierung. Der flavische Epiker Valerius Flaccus etwa beginnt seine Argonautica ganz linear 18 mit der Argo, die als Protagonistin den Ausgangspunkt bildet – entsprechend eröffnet prima als erstes Wort das Epos. 19 Durch vielfach eingelegte externe Prolepsen in Form von Prophezeiungen und Ekphrasen bleibt aber den mit dem Mythos und dessen literarischen Bearbeitungen vertrauten Lesern die Gesamtheit des Mythos bis zu Medeas Ermordung ihrer Kinder von Anfang an präsent. 20 Szenen und Figuren erscheinen durch intertextuelle Referenzen als variierende Wiederaufnahmen literarischer Vorbilder, zugleich aber wird der eigene Text als Vorläufer definiert, während zeitlich zwar vorangehende Werke, 17

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Vgl. Hardies (1997) 147 allgemeingültige Bemerkung, die sich konkret auf den Appell des besiegten Turnus an Aeneas, seinen Haß zu begrenzen, bezieht (Verg. Aen. 12,938 ulterius ne tende odiis, geh nicht weiter in deinem Haß): »An end to anger is an end to a wrath epic. The problem is that the emotion of anger is inherently unbounded; it does not know how or where to stop. The immoderateness of epic emotion becomes an even greater stumbling-block to closure in the epics of Lucan and Statius.« S. auch oben, insbes. Anm. 9. In der Ars poetica wird Homers Beginn eines Epos lobend vom ungeschickten Auftakt eines kyklischen Epikers abgesetzt (Hor. ars 147 f.): nec gemino bellum Troianum orditur ab ovo: / semper ad eventum festinat et in medias res (er läßt den Trojanischen Krieg nicht mit dem Zwillingsei beginnen; immer eilt er zum Ziel und mitten hinein ins Geschehen). Zu Homer als Vorbild in Abgrenzung von zyklischen Epen ist Aristoteles, Poetik, Kapitel 23, 1459a30–9b7 zu vergleichen. Zu Aristoteles’ Poetik vgl. den Beitrag von Stefan Büttner, unten 61–78. Auch Quintilian handelt in seinem rhetorischen Lehrbuch im Kontext der Erläuterung seines Konzepts einer ökonomischen Gliederung (oeconomica . . . dispositio) über die verschiedenen Formen des Beginns: der linear von vorne beginnenden Erzählung wird, was als Beginn nach homerischem Modell bezeichnet wird, der Beginn in der Mitte oder vom Ende her entgegengesetzt (Quint. inst. 7,10,11): ubi ab initiis incipiendum, ubi more Homerico a mediis vel ultimis. Zum Proömium vgl. Deremetz (2014) 50–6, insbes. 54 zu prima am Beginn. Zur emphatischen Anfangsposition von prima in der adverbialen Bedeutung von »zum erstenmal« s. Zissos (2008) 72. Vgl. etwa Fuhrer (1998) 26. Zur komplexen narrativen Struktur von Anfängen und Enden s. auch Ambühl (unten, insbes. 92–6), die zeigt, wie Geburt und Tod bzw. Apotheose berühmter mythischer Gestalten in Form von Ana- und Prolepsen in eine nicht linear verlaufende Erzählung integriert werden können.

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deren erzähltes Geschehen aber nach der Fahrt des ersten Schiffes liegt, in den Status von Anschlußtexten versetzt werden. 21 In der unaufhörlichen Aufeinanderfolge epischer Erzählungen reflektieren nachfolgende Epiker darüber, wie sie Leerstellen ausfüllen können, haben doch die großen Vorgänger zentrale Themen bereits ausgeführt. So fühlt sich der Dichter der Achilleis zu seinem Projekt, Achills ganzes Heroenleben darzustellen, gerade dadurch herausgefordert, daß er genau die Freiräume nutzen wolle, welche die Ilias gelassen habe, wie er im Proömium erklärt (Stat. Ach. 1,3b–5a): quamquam acta viri multum inclita cantu Maeonio (sed plura vacant), nos ire per omnem (sic amor est) heroa velis (sc. diva) Obwohl die Taten des Mannes im Maeonischen Gesang vielgerühmt sind (aber mehr noch bleibt übrig), magst du (sc. Göttin) wünschen, daß ich den ganzen (dies ist nämlich mein Verlangen) Helden behandle.

Im Gegensatz zum unbestimmten Einsatzpunkt der Thebais skizziert der Dichter hier gegenüber der ihn inspirierenden Göttin zielstrebig sein Projekt, Achills Heldenleben in seiner Totalität darzustellen. Beginnend mit Kindheit und Jugend soll der Held in linearer Erzählweise bis zum Ende, d. h. dem Tod, also noch über das Ende der Ilias hinaus (vgl. 1,6 f. nec in Hectore tracto / sistere, nicht bei Hektors Schleifung innehalten), präsentiert werden. Auch der spätantike Dichter Dracontius beansprucht im Proömium zu seinem Kurzepos De raptu Helenae in stilisierter Bescheidenheit, seinen berühmten Vorgängern, Homer und Vergil, 22 noch etwas hinzufügen zu können (Romul. 8,22b– 21

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Zu diesem Phänomen vgl. Hinds (1998) 104–7, der gezeigt hat, wie es etwa Ovid in seiner Version einer Aeneis (Ov. met. 13,623–14,573 bzw. 608) gelingt, den übermächtigen Vorgänger Vergil als bloßen Vorläufer seiner eigenen Metamorphosen zu konstruieren bzw. degradieren: »Rather than construct himself as an epigonal reader of the Aeneid, Ovid is constructing Virgil as a hesitant precursor of the Metamorphoses« (Hinds, 106). Vgl. auch Schmitz (2009) zur Konzeption der Argonautica als Ausgangspunkt aller mythischen Unternehmungen und damit als Vorläufer der nachfolgenden epischen Erzählungen. Homer habe geschildert, wie Agamemnon Griechen gegen Troja führte, um die Entführung Helenas zu rächen (Romul. 8,17b–8), und Vergil habe den Untergang Trojas dargestellt (19–21). Dracontius beschreibt die Rolle des Dichters recht anschaulich, wenn der poeta zugleich in der Rolle eines aktiven Teilnehmers der Iliupersis (Romul. 8,19 et qui Troianos invasit nocte poeta, und der Dichter, der in der Nacht ins Lager der Trojaner eindrang) bzw. als Dramaturg erscheint (Romul. 8,20 f. armatos dum clausit equo, qui moenia Troiae / perculit et Priamum Pyrrho feriente necavit, indem er bewaffnete Krieger in das Pferd einschließen ließ, das Trojas Mauern zerstörte, und indem er Priamus durch den Todesstoß des Pyrrhus töten ließ). Zur Konvention, wonach der Dichter selbst als Akteur der Handlung auftritt, welche seine Dichtung beschreibt, vgl. J. C. McKeown: Ovid: Amores. Vol. III. A Commentary on Book Two (ARCA 36), Leeds 1998 zu Ov. am. 2,1,11–12 und 2,18,2.

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3): quidquid contempsit uterque / scribere Musagenes, hoc vilis colligo vates (was auch immer beide Musenabkömmlinge zu schreiben verschmähten, das lese ich, ein unbedeutender Dichter, auf). Es folgt ein anschauliches Tiergleichnis (Romul. 8,24–7) von Füchsen, die auf die Überreste der Löwenbeute (reliquias praedae, 24) hoffen. Der Anspruch, dem alten Thema neue Aspekte hinzufügen zu können, besteht hier in der Herangehensweise (vgl. aggrediar meliore via, Romul. 8,3), 23 die Gründe für Paris’ Entführung der Helena und damit die Gründe für den Trojanischen Krieg neu aufzurollen. Entsprechend beschränkt sich der Erzähler in der Exposition der Gründe für den Trojanischen Krieg nicht auf das ParisUrteil, sondern bezieht auch den ersten Trojanischen Krieg in die Vorgeschichte mit ein. So führt er die verweigerte Rückgabe der Hesione an ihren Bruder Priamus als möglichen Grund für Helenas Entführung (sic est data causa rapinae, 52) an (forsan . . . , 50–2a), auch wenn dieser Grund im Lauf der Handlung widerlegt wird. In Dracontius’ Neugestaltung des schon von vielen Vorgängern behandelten Trojanischen Kriegs spielt der Gedanke der Wiederholung eine große Rolle. Insbesondere in der Reaktion des Telamon, der die Forderung der trojanischen Gesandten, ihnen seine Gattin Hesione auszuliefern, zurückweist, häufen sich die Hinweise auf eine Neuauflage des ersten Trojanischen Kriegs. So fragt er die Gesandten (8,297b–98a): placuitne Phrygis periuria gentis / solvere vos iterum? (Haben die Phryger beschlossen, daß ihr das Unrecht eures Geschlechts ein zweites Mal bezahlt?). Die Wiederholung wird explizit durch iterum markiert. Durch die intertextuelle Anbindung an Vergils Aeneis 24 verweist dieses Adverb hier, wie so oft, zugleich auf eine Wiederholung in der poetischen Darstellung. Die drohende Ankündigung, daß sich die heranwachsende Heldengeneration über ein auferstandenes Troja, das erneut zerstört werden könne, freue, bildet die Klimax seiner Rede (Romul. 8,326): exultant quod Troia redit, quod Pergama surgunt (sie [sc. die künftigen Helden Griechenlands] freuen sich darüber, daß Troja zurückkehrt, daß sich die Burg von Troja wieder erhebt). Analog zu den aufeinanderfolgenden Heldengenerationen selbst treten auch die Epiker, die diese Akteure erst im Gedicht zum

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Zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten (literarisch-künstlerisch und/oder moralisch) dieses poetischen Anspruchs vgl. Simons (2005) 14; 286 f.; 292 f. Die Wendung periuria gentis (297) erzeugt eine Echowirkung aufgrund des gleichen Ausdrucks an identischer Versstelle und im vergleichbaren Kontext: Dido, die Aeneas’ Treulosigkeit realisiert, fragt sich selbst (Aen. 4,541b–42): nescis heu, perdita, necdum / Laomedonteae sentis periuria gentis? (Kennst du denn nicht, ach, Verlorene, spürst du noch immer nicht den Meineid des Laomedontischen Volkes?). Die Wortbrüchigkeit von Laomedons Volk wird auch sonst in kritischen Momenten aufgerufen, vgl. Verg. georg. 1,501 f. satis iam pridem sanguine nostro / Laomedonteae luimus periuria Troiae (schon längst [nämlich durch den Bürgerkrieg] haben wir mit unserem Blut den Meineid des Laomedontischen Troja gebüßt); vgl. auch Aen. 5,810 f.

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Leben erwecken, nacheinander auf den Plan und es kommt zu immer neuen Gestaltungen. 25 Die Drohung, die in Dracontius’ Epos in einer Figurenrede direkt ausgesprochen wird, kommt in anderen Kontexten indirekt zum Ausdruck. Aus Statius’ Thebais etwa führt Lovatt (1999) 139 ein implizites und ein explizites Beispiel zum Kreislauf von Auseinandersetzungen an, die durch die Rache der Epigonen unaufhörlich fortgesetzt werden: »In Argia’s lament, [. . . ], the closing mention of her unborn son reminds the epic audience learned in the myths that the sons of the Seven will form another army to take vengeance for their fathers. Jupiter hints at this in his prophecy to Bacchus in Book 7: veniet suspectior aetas / ultoresque alii (›a more uncertain time will come and other avengers‹, Theb. 7.220 f.).« Ebenso liegt in Vergils Aeneis der Gedanke einer Wiederholung des Trojanischen Kriegs zugrunde, wobei sich diesmal die Rollen von Sieger und Besiegten verkehren. 26 In Sibylles Prophezeiung der künftigen Ereignisse in Latium (Aen. 6,83–97) fordern zahlreiche Signalwörter wie alius und iterum zum Vergleich zwischen dem neuen Krieg in Latium und dem in der Ilias geschilderten heraus, vgl. Aen. 6,89: alius Latio iam partus Achilles (ein anderer Achilles wurde bereits in Latium geboren) und Aen. 6,93 f. causa mali tanti coniunx iterum hospita Teucris / externique iterum thalami (Grund eines so großen Unheils für die Trojaner ist wiederum eine Gattin aus dem Haus eines Gastfreundes und wiederum die Hochzeit unter Fremden, vgl. Aen. 7,98 externi venient generi). Insbesondere aus der Sicht von Figuren, die Aeneas gegenüber feindlich gesinnt sind, wird die Situa25

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Das Verb surgere verweist auf die Analogie: so wie sich das zerstörte Troja erhebt, wird sich auch der Gesang erneut erheben (im Kontext von Dichtung ist etwa Stat. Theb. 10,445 f. zu vergleichen: quamvis mea carmina surgant / inferiore lyra, s.o. Anm. 1). In einem anderen, aber möglicherweise ebenfalls selbstreferentiellen Kontext begegnet das Verb surgere am Ende des letzten Gedichts der Eklogensammlung (Verg. ecl. 10,75): surgamus: solet esse gravis cantantibus umbra (Stehen wir auf! Meist ist Schatten für Singende gefährlich). Als Abschluß der Hirtendichtung und Überleitung zum nächsten poetischen Projekt läßt sich die Aufforderung metapoetisch als Ankündigung verstehen, daß der Dichter sich nach der kleineren und niedrigeren Gattung nunmehr einer höheren Gattung zuwende. Vgl. Theodorakopoulos (1997) 162/63 zur Verschränkung des Endes der Eklogendichtung mit Vergils poetischer Karriere: »The exhortation surgamus is striking in a closing passage, where we might expect a downwards movement, to illustrate the sense of ending, as for instance the First Eclogue gives us cadunt as a closural image. But the rising implies quite strongly a beginning, leaving behind the past, and in a sense closing it, but at the same time an awareness of the new opening. The end of Eclogue 10 shows how easily an end may become a beginning, within a larger intratextual structure.« Hardie (1993) 14–8 referiert die Differenzierung in zwei Formen von Wiederholung in der Aeneis: »regressive repetition« (mit Buthrotum im dritten Aeneis-Buch als Musterbeispiel für diesen Typ einer unlebendigen Mimikry) und »repetition-as-reversal« (15). Genau die letztgenannte Ausprägung der Wiederholung liegt in der Konzeption der zweiten Aeneis-Hälfte vor.

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tion in Italien nach der Landung der Aeneaden als Wiederholung der Ilias inszeniert. In Junos Monolog wird Aeneas’ bevorstehende und von Latinus bestimmte Hochzeit mit Lavinia als Wiederholung der Entführung der Helena durch Paris konstruiert (Aen. 7,321 f.): Paris alter, / funestaeque iterum recidiva in Pergama taedae (ein zweiter Paris, und wiederum sind Hochzeitsfackeln für die wiederhergestellte Burg Trojas tödlich). Auch Amata (Aen. 7,362) und Turnus (Aen. 9,137– 39) stilisieren Aeneas zu einem zweiten Paris. 27 Entsprechend zur intertextuellen Wiederaufnahme von Figuren der homerischen Epen in der Aeneis präsentiert sich diese auch insgesamt als literarische Wiederaufnahme der Ilias unter veränderten Vorzeichen. Ganz analog inszeniert Silius Italicus den Trojanischen Krieg als unmittelbare Vorgeschichte der Auseinandersetzung zwischen Rom, dem wiederauferstandenen Troja, und Karthago. 28 Beginn in der Mitte Ein neuer Beginn kann auch in der Mitte eines Werks ansetzen. In Vergils Aeneis bedeutet das siebte Buch einen Neuanfang, der entsprechend durch ein eigenes Proömium markiert wird. Parallel zum ersten Buch wird erneut eine Muse, diesmal Erato, angerufen. Im zweiten Proömium (Aen. 7,37–45a) wird zunächst ganz konkret die bevorstehende Kampfhandlung in Latium angekündigt (Aen. 7,40b): et primae revocabo exordia pugnae (und ich werde die Anfänge der ersten Schlacht in Erinnerung rufen). Zugleich dürfte aber auch auf metapoetischer Ebene ein früherer Krieg, nämlich der um Troja, und das homerische Epos darüber evoziert werden. 29 Das Binnenproömium (Aen. 7,37–45a) gipfelt in der Ankündigung einer bedeutenderen Werkhälfte (Aen. 7,44 f.): maior rerum mihi nascitur ordo, / maius opus moveo (Eine größere Folge von Geschehnissen eröffnet sich mir, ein gewaltigeres Werk setze ich in Bewegung). Die Landung der Aeneaden in Latium stellt nicht nur eine Wiederholung des Trojanischen Kriegs unter veränderten Vorzeichen dar, sondern führt nach den als Bürgerkrieg stilisierten Auseinandersetzungen in Latium vor allem zur Gründung des römischen Volkes. 27 28

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Zu dieser Konzeption der Wiederholung der Helena-Entführung durch Paris vgl. SchmitNeuerburg (1999) 181 f., insbes. Anm. 514. Zu Silius Italicus’ aitiologischer Begründung des Zweiten Punischen Kriegs als direkter Folge des Trojanischen Kriegs vgl. Manuwald (2006) 78: »As Rome is again described as a second Troy in Silius Italicus, the relevance of the Trojan stories for Roman history is highlighted, while at the same time the Second Punic War is characterized as a parallel to or a later re-enactment of the Trojan War.« So setzt Dekel (2012) 9 unsere Stelle in Beziehung zu Aen. 1,456 videt Iliacas ex ordine pugnas (Aeneas betrachtet der Reihe nach die Schlachten von Troja): »The sonic similarity of ex ordine pugnas and exordia pugnae in the same metrical position reinforces the connection, while revocabo and primae both look back to the earlier war and the ›primary‹ Homeric account of it.« Vgl. auch Harrison (2001) 87: »Aeneas’ war in Italy is a repetition and inversion of the war at Troy, a second Iliad which takes up in detail the themes and episodes of its Homeric original.«

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Das Wiedererzählen bzw. Wiederbeleben der Erinnerung begegnet auch im Proömium zu den Punica des Silius Italicus (Sil. 1,20): iamque adeo magni repetam primordia motus (und nun gleich werde ich die Uranfänge der großen Bewegung verfolgen). Der epische Dichter beschreibt hier seine Aufgabe bis in die Wortwahl hinein nach dem Modell der Ankündigung in Aen. 7,40: primae revocabo exordia pugnae. Die Verben, mit denen das Tun des epischen Erzählers jeweils charakterisiert wird, zeigen durch das Präfix re-, daß die Präsentation das vergangene Geschehen von den Anfängen her (exordia, primordia) wieder in Erinnerung ruft, was auf metaliterarischer Ebene gleichbedeutend mit dem Anknüpfen an frühere Epen im Produzieren eines neuen Epos ist. In genau dieser Diktion wird auch die metapoetische Erzählung des vates Proteus in einem aitiologischen Exkurs im siebten Buch der Punica eingeleitet (Sil. 7,435 f.): Tunc sic, evolvens repetita exordia retro, 30 incipit ambiguus vates reseratque futura: Dann beginnt der wandelbare Seher, der die Geschehnisse bis zu den Uranfängen zurückverfolgt, so und eröffnet die Zukunft.

Nach vergilischem Modell läßt auch Valerius Flaccus die zweite Werkhälfte mit einem Proömium in der Mitte beginnen (Val. Fl. 5,217–24a), 31 vgl. den Auftakt in 5,217: incipe nunc cantus alios, 32 dea, . . . (Beginne nun mit einem anderen Gesang, Göttin). Nach der expliziten Festlegung des Anfangspunktes durch inde canens (224a) 33 setzt die Erzählung der zweiten Werkhälfte ein. Nicht nur die Mitte eines Epos, 34 sondern – analog zum Zusammenfallen von Buchende und Abschluß einer Erzählung – auch der Beginn eines jeden Buchs kann einen Neuansatz markieren. Geradezu symbolisch wird etwa das zehnte Buch der Aeneis mit einem Verb des Öffnens eingeleitet (Aen. 10,1): Panditur interea 30

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Vgl. Littlewood (2011) 174: »retro has its own metapoetic significance: Proteus, representing, as vates, both seer and poet, will reveal the causes of Juno’s implacable hatred, which pursued the Aeneadae through Virgil’s earlier epic.« Zur strukturellen Nachgestaltung dieses Proömiums in der Mitte vgl. Deremetz (2014) 67. Zur Konnotation des die Wiederholung markierenden Wortes alius in diesem Kontext vgl. Schmitz (2009) 124, Anm. 14 und 133, Anm. 47. Wijsman (1996) verweist zur Stelle auf eine vergleichbare Überleitung im Proömium zu Vergils Georgica (Verg. georg. 1,5a): hinc canere incipiam (Von diesem Punkt aus werde ich zu singen beginnen). Hier wird der Ausgangspunkt mit hinc bestimmt. Wie strukturierende Markierungen von Abschlüssen und Neuanfängen insbesondere im Lehrgedicht den fortlaufenden Prozeß des Lesens begleiten, verfolgt Nelis (2013) 250–53, indem er Vergils Gliederungstechnik innerhalb der Georgica aufzeigt. Die Mitte gerät darüber hinaus bei unserer Fokussierung auf Anfang und Ende allenfalls insofern in den Blick, als sich im Zentrum das befindet, was von diesen extremen Polen umgeben und mit dem Anfang und/oder Ende verschränkt ist, etwa als – oft auch fehlende bzw. nicht aufgelöste – Spannung auf ein Ende hin. Fowler (2000b) 109 konstatierte, daß neben einer Fülle von Studien zu Anfang und Ende ein Mangel an theo-

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domus omnipotentis Olympi (Weit öffnet sich unterdessen das Haus des allmächtigen Olymp). Das irdische Geschehen wird hier durch einen Wechsel des Schauplatzes um die göttliche Ebene erweitert. Eine solche Koinzidenz von Bucheröffnung und Einberufung einer Götterversammlung fällt umso mehr ins Gewicht als es geläufiger epischer Technik entspricht, die Buchübergänge fließend zu gestalten, eine Kunst, die in Ovids epischem Kontinuum zur Perfektion gesteigert wurde. 35 Aitiologie: Die Frage nach den Gründen Das Zurückverfolgen bis zu den Anfängen oder zum absoluten Anfangspunkt der zu schildernden Geschehnisse bedeutet auch, nach den Gründen zu fragen. 36 Das Proömium ist der Ort, diese Fragen nach der Vorgeschichte etwa einer kriegerischen Auseinandersetzung zu stellen, häufig in Verbindung mit einem Musenanruf. So bittet der Erzähler an prominenter Stelle im Proömium der Aeneis die Muse darum, ihm die Gründe für Junos Zorn zu nennen (Aen. 1,8): Musa, mihi causas memora (Nenne mir, Muse, die Gründe). Nach diesem Muster wurde die Darlegung der Gründe mit oder ohne Musenanruf fester Bestandteil eines Proömiums. Der Erzähler in Silius Italicus’ Punica etwa will die Gründe der erbitterten und Generationen übergreifenden Feindschaft zwischen den beiden Völkern darlegen (Sil. 1,17–9): Tantarum causas irarum odiumque perenni servatum studio et mandata nepotibus arma fas aperire mihi . . . Die Gründe so gewaltigen Zorns und den in anhaltendem Eifer bewahrten Haß und die an die Nachfahren weitergegebenen Waffen – all dies zu enthüllen ist mir erlaubt.

Diese Ankündigung evoziert die Eröffnung des Ursachenabschnitts innerhalb des Proömiums von Lucans Pharsalia (Lucan. 1,67–9):

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retischen Überlegungen zur Mitte bestehe. Entsprechend komplementär zur Arbeit an Anfängen und Enden verstand Fowler (2000b) 91f. seinen eigenen Beitrag. Mittlerweile ist erschienen: Kyriakidis/De Martino (2004): Middles in Latin Poetry; aus der Sammlung ist der Beitrag von Zissos (2004) zu den Argonautica des Valerius Flaccus hervorzuheben. In unserem Band ist die Untersuchung von Raymond Marks zu vergleichen: A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica, unten 277–91. Zu Buchenden und -übergängen in Ovids Metamorphosen vgl. Fowler (2000a) 258 f. Annemarie Ambühl nimmt in ihrem Beitrag »Narrative Potentiale von Anfängen und Enden im hellenistischen (Klein-)Epos« (unten 79–103) unter anderem auch die Geburtsund Kindheitsgeschichten in alexandrinischen Hymnen und Epyllien in den Blick, die als Ursprungsdiskurse Aitiologie, Intertextualität und Metapoetik miteinander verbinden und daraus zugleich eine immanente Literaturgeschichte konstruieren. Zum Konzept der Aitiologie vgl. allgemein Reitz/Walter (2014). Die einzelnen Beiträge untersuchen in Texten aus ganz verschiedenen Bereichen von der Antike bis zur Neuzeit die vielfältigen Muster, Strategien und Funktionen aitiologischen Erzählens.

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Fert animus causas tantarum expromere rerum, immensumque aperitur opus, quid in arma furentem impulerit populum . . . Es drängt mich, die Ursachen solch gewaltiger Ereignisse darzulegen, und mir eröffnet sich die ungeheure Aufgabe, zu fragen, was das Volk in seinem Wahnsinn zu den Waffen getrieben hat.

Epische Enden – Enden im Epos Das Ende eines Epos bedeutet zwar in der Regel 37 den Endpunkt im Sinne eines vom Dichter gesetzten Schlusses bzw. das Ende einer Handlung im eigentlichen Sinne nach Aristoteles, wenn nämlich das Ende bzw. Ziel (tËloc) der Handlung erreicht ist, 38 nicht aber den endgültigen Abschluß einer Erzählung. Vielmehr bildet ein abgeschlossenes Werk wiederum den Ausgangspunkt für ein neues Werk, das anknüpft und fortführt oder auch zurückgeht, unter Umständen auch korrigiert, in jedem Fall aber auch nicht zum absoluten Abschluß kommt, da Erzählungen – hierin Generationen vergleichbar – endlos sein können. Besonders virulent ist die Frage des Endes innerhalb der Gattung Epos, scheint sich doch ein Epos einem Abschluß geradezu zu verweigern, da es immer eine Fortsetzung von letztendlich unabschließbaren Erzählungen geben könnte. Unter politischem Aspekt ist an Jupiters Prophezeiung imperium sine fine dedi (Aen. 1,279) in Vergils Aeneis zu erinnern, vgl. Hardie (1997) 142: »The boundlessness of epic, always a hyperbolical genre, is also thematized, in psychological terms with regard to the unlimited nature of the passions of anger and grief, in political terms with regard to the unlimited expansion of Roman power.« Ebenso selbstreflexiv wie der Beginn ist auch das Ende von Statius’ Thebais gestaltet. In einer Apostrophe im zwölften und letzten Buch der Thebais entläßt der Dichter sein Werk mit der ausdrücklichen Aufforderung, nicht den Spuren der göttlichen Aeneis zu folgen (Stat. Theb. 12,816 f.): Vive, precor. nec tu divinam Aeneida tempta, sed longe sequere et vestigia semper adora. 37

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Ausnahmen von der Regel sind Werke, deren Abschluß erkennbar fehlt, sei es aufgrund eines mechanischen Verlusts (So bricht etwa das achte Buch der Argonautica des Valerius Flaccus mitten in der Handlung ab; zum unvollendeten Schluß vgl. Zissos [2008], Introduction XXVI–VIII: »Incompleteness and Intended Length« mit weiteren Literaturhinweisen) oder aus biographischen Gründen (So blieb Statius’ letztes Werk, die Achilleis, die zu Beginn des zweiten Buchs mit V. 167 abbricht, ein Fragment). Zu unvollendeten lateinischen Epen vgl. auch Hardie (1997) 139/40; s. auch unten Anm. 54. Zur Diskussion um das Ende von Lucans Bürgerkriegsepos ist der Beitrag von Christine Walde zu vergleichen, unten 169–98. Zur aristotelischen Bestimmung von »Handeln« vgl. Büttners Interpretation (unten 68– 70) und zum Endpunkt im prägnanten Sinn s. Büttner, unten 76: » ›Das Ende der Handlung‹ ist das Erreichen dieses Zieles oder das endgültige Scheitern daran«.

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Leb weiter, bitte ich, und fordere nicht die göttliche Aeneis heraus. Vielmehr folge in einiger Entfernung und verehre immer ihre Fußspuren.

Der explizite Hinweis auf die Aeneis ist eher Ausdruck des poetischen Selbstbewußtseins als wirkliche Unterordnung unter den großen Vorgänger. 39 Die förmliche Sphragis kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ende der Thebais kein wirklicher Abschluß, 40 sondern lediglich ein vom Dichter gesetztes Ende ist. 41 Das Beweinen und Bestatten der Toten erweist sich in der Thebais gerade nicht als eine für Epen sonst oft typische Abschlußgeste: »the burials in Book 12 themselves show that burial is no solution, that there is no solution. For the burial of Menoeceus leads directly to Creon’s refusal of burial for the Thebans and a renewal of civil war; the burial of Polynices leads only to a continuation of hatred and war between the brothers.« 42 So konstatiert der Dichter am Ende der Thebais in einer Praeteritio seine Unfähigkeit, die Leiden der Überlebenden adäquat darstellen zu können (Theb. 12,808 f.): 43 Vix novus ista furor veniensque implesset Apollo, / et mea iam longo meruit ratis aequore portum (Kaum hätte ein neuer Wahnsinn und Apollos hilfreiche Gegenwart dies abgeschlossen und mein Schiff, das schon so 39

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Zur selbstbewußten Verortung der Thebais innerhalb der epischen Tradition vgl. Dominik (2003). Zum vermeintlichen Eingeständnis der Unterlegenheit s. auch Walter (2014) 154 mit weiteren Literaturhinweisen in Anm. 119 und 121. Zur Frage des Endes bzw. Abschlusses von Statius’ Thebais ist auch Kißels kritisches Referat der einschlägigen Literatur (2006) 73–7 heranzuziehen. Vergleichbar ist der mit dichterischem Selbstbewußtsein gepaarte emphatische Gestus der Bescheidenheit, mit dem sich der spätantike Dichter Coripp in der Praefatio zu seinem historischen Epos Iohannis (um die Mitte des sechsten Jahrhunderts n.Chr.) Vergil unterordnet, während sein Protagonist selbst Vergils Helden übertreffe (Coripp. Ioh. praef. 15 f.): Aeneam superat melior virtute Iohannes, / sed non Vergilio carmina digna cano (Den Helden Aeneas übertrifft zwar der an Tugend überlegenere Johannes, aber ich singe Verse, die eines Vergil nicht würdig sind). Braund (1996) dagegen sieht den Dichter geradezu auf eine closure-Poetik fokussiert. Zum intertextuellen Bezug der Thebais auf das Finale der Aeneis vgl. Braund (1996) 1: »Statius offers a supplement to, or even a critique of, the open-endedness of the Aeneid in the form of a triptych of resounding endings.« Den inszenierten Status einer Ergänzung der vorhergehenden Bücher betont auch Hardie (1997) 151: »The twelfth book of the Thebaid plays with its own status as a supplement, an ending after an ending.« Vgl. Walter (2014) 147 zum Ende und Epilog der Thebais: »Wie schon im Proömium der Thebais steht der Erzähler hier vor der Aufgabe, einer Erzählung eine Grenze zu setzen, die grenzenlos ist und die an sich weder Anfang noch Ende kennt.« Lovatt (1999) 144; s. auch oben Anm. 11. Zur Funktion des kurz zuvor formulierten Unsagbarkeitstopos der hundert Münder (12,797 f. non ego, centena si quis mea pectora laxet / voce deus), der hier nicht, wie üblich, etwa als Auftakt zu einem Katalog, sondern ganz am Ende des Werks eingesetzt wird, bemerkt Hardie (1997) 155: »here the effect is to leave the poem as a whole open-ended. Statius exaggerates the hyperbole of grief to suggest that what is left over is nothing less than a whole epic of mourning.«

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lange auf dem Meer weilt, hat endlich einen Hafen verdient). 44 Auf metapoetischer Ebene bedeutet novus furor die Ankündigung eines neuen Epos über Leiden und Klagen der Frauen, 45 ein Projekt, das am Ende der Thebais freilich nicht mehr realisiert werden kann. Die Klagen der Frauen um ihre im bürgerkriegsähnlichen Kampf verlorenen Verwandten müssen ohnehin – über das mythische Theben hinaus – für die zeitgenössischen Römer und mithin für die römische Literatur überhaupt als endlos und unabgeschlossen bzw. unabschließbar gelten. Epische Unabgeschlossenheit/Unabschließbarkeit am Beispiel des offenen Endes von Vergils Aeneis Nicht zutreffend, in jedem Fall zu undifferenziert, ist die Frontstellung Antike versus Moderne und Postmoderne, wenn in Abgrenzung vom vormodernen Epos als Spezifikum des modernen Romans gemeinhin die Unabgeschlossenheit hervorgehoben wird. 46 So fordert das scheinbar abrupte Finale im 12. Buch der Aeneis, das seit jeher für Diskussionen gesorgt hat, 47 zu immer neuen Lesarten und Fortset-

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Zur ambivalenten Bedeutung von novus furor (erneut aufflackernder Bürgerkrieg und dichterische Inspiration) führt Dominik (2003) 103 aus: »that a novus furor (›a new madness‹, 12.808) and veniensque . . . Apollo (›an Apolline presence‹, 808) – in other words, a new war and a new source of poetic inspiration, another epic achievement – would be required for him to relate another extended scene of epic lamentation depicting the distraught Argive women mourning over the corpses of their sons and husbands«. Zur intertextuellen Verschränkung von novus furor mit Lucans Bürgerkriegsepos vgl. Hardie (1997) 155, Anm. 58. Mit Recht sieht auch Lovatt (1999) 143–47 hierin eine Markierung eines Neubeginns. Zur Reduzierung auf die Opposition »einer kollektiven Erzählform der stabilisierenden Wiederholung gegenüber einer individuellen des offenen Endes« vgl. etwa Friedrich/ Hammer/Witthöft (2014) 14, insbes. Anm. 17: »Während das Epos über die ›epische Distanz‹ vergangenheitsorientiert ist und einen kollektiv verbindlichen Wissensraum tradiert, besetzt der Roman mit seiner ihm ›spezifischen Unabgeschlossenheit‹ die Dimension des Werdens«. Aber auch auf den antiken Roman trifft die Zuschreibung einer Abgeschlossenheit nicht zu, vgl. Harrison (2013) 193 zum Ende von Apuleius’ Metamorphosen: »The ending of Book 11 and the closure of the whole novel is famously open.« Zum oft problematisierten Ende von Apuleius’ Metamorphosen vgl. auch Kirichenko (2013). Zur Problematik der unvollendeten Aeneis vgl. allgemein O’Hara (2010). Zum offenen Ende der Aeneis und zur closure-Diskussion vgl. Hardie (1993) 12 (s.o. Anm. 9) und ausführlicher Hardie (1997) 142–51. Vgl. auch Perkell (1999), Introduction 22: »Perhaps there is no ›correct‹ way to read the Aeneid or its crucial final scene, which Vergil may have left ›open‹, undecidable. The continuing debate about the meaning of the poem suggests that it poses immensely challenging interpretive problems. Critics seek to establish a firm basis for interpretation, but such a basis seems to remain elusive« und Putnam (1999) 224: »The calculated dissatisfactions of this ending are many, especially by contrast to the epics of Homer and Apollonios, . . . « Zum closure-Begriff vgl. auch unten Anm. 59.

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zungen 48 heraus. Wie in anderen Werken weisen externe Prolepsen auch in der Aeneis über den Endpunkt der Erzählung hinaus. Entsprechend konnten nachfolgende Dichter unmittelbar ans Ende anknüpfen und das Werk fortsetzen. Als eine Art Supplement 49 zum Aeneis-Finale versteht etwa Braund (1996, 5) Statius’ Beendigung seines Epos, »in an acceptance of the invitation presented by the Aeneid’s unfinished state«. Der Gedanke der Vervollständigung bzw. Beendigung im Sinne einer Ausgestaltung nicht ausgeführter Erzählstränge wird in den Supplementen der Renaissance akut, allerdings als unmittelbare Fortsetzung existierender Werke, die als unvollendet empfunden wurden, nicht als autonomes Kunstwerk (wie in der programmatischen Exposition im Proömium zu Statius’ Achilleis, vgl. 1,4 plura vacant). Emphatisch und mit Blick auf Vergils Aeneis setzt Ovid dem Trojanischen Krieg innerhalb seiner Metamorphosen ein definitives Ende. Nach ausführlicher Schilderung des armorum iudicium und Aiax’ anschließender Selbsttötung folgt ein Passus, in dem Trojas Ende in äußerster Raffung erzählt wird (met. 13,399– 407): Victor ad Hypsipyles patriam clarique Thoantis et veterum terras infames caede virorum vela dat, ut referat Tirynthia tela, sagittas. quae postquam ad Graios domino comitante revexit inposita estque sero 50 tandem manus ultima bello, Troia simul Priamusque cadunt, Priameia coniunx perdidit infelix hominis post omnia formam externasque novo latratu terruit auras, longus in angustum qua clauditur Hellespontus. Der Sieger (Odysseus) segelt zu Hypsipyles und Thoas’, ihres berühmten Vaters, Heimat, berüchtigt durch den Mord an den früheren Ehemännern, um die Pfeile, die Geschosse des Tirynthiers, zurückzuholen. Nachdem er diese samt ihrem Besitzer zu den Griechen zurückgebracht hatte, wurde dem Krieg endlich, wenn auch spät, die letzte Hand angelegt, Troja und Priamus fallen zugleich, Priamus’ Gattin aber verlor in ihrem Unglück nach allem, was sie schon verloren hatte, auch noch ihre menschliche Gestalt und erschreckte mit für sie selbst ungewohntem Gebell die ausländischen Lüfte, wo der weithingedehnte Hellespont sich verengt. 48

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Zu den durch das plötzliche Ende provozierten Fortsetzungen vgl. Tarrant (2012) 30: »The abrupt ending of the Aeneid, in addition to generating lively debate among critics, has also prompted many subsequent writers to supply the conclusion to the story of A[eneas] that is so conspicuously absent in Virgil’s text.« Mit Recht problematisiert Braund (1996) 19, Anm. 9 den Begriff »Supplement«: »The word ›supplement‹ is not without problems, of course, in that it might suggest something additional and not essential.« Zu frühneuzeitlichen Aeneis-Supplementen vgl. den Beitrag von Claudia Schindler, unten 357–76). In Vers 403 hat Heinsius sero statt des handschriftlich überlieferten fero konjiziert. Hopkinson (2000) erwägt für serus » ›long drawn out‹, or possibly ›late begun‹, with reference to the ten-year preliminaries«.

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Diese überleitende Erzählung mit Ovids Version von Trojas Ende hat immer wieder Anstoß erregt, was vor allem an der als merkwürdig empfundenen Anordnung der Ereignisse liegt. Schon vorher hatte Odysseus im Rededuell um die Waffen des Peliden seine erfolgreiche Überlistung des Philoktet antizipiert (met. 13,313–34, als Replik auf Aiax’ Verweis auf Philoktet, met. 13,45–56). Vor allem aber die hier angekündigte Metamorphose der Hecuba nimmt vorweg, was erst im folgenden detailliert erzählt wird (13,567–75). 51 Gleichwohl markiert gerade die katalogartige Auflistung der Ereignisse um Trojas Fall besonders wirkkräftig den Übergang zu den Ereignissen im unmittelbaren Anschluß an Trojas Ende, die ganz aus der Perspektive der Troerinnen erzählt werden. Der Abschluß wird zusätzlich noch durch das Verb clauditur, das in Vers 407 ein geographisches Detail beschreibt, markiert. 52 Die für Trojas Untergang notwendige Rückführung des Philoktet und seiner Pfeile wird knapp erzählt, wobei die aufwendige, geradezu umständliche Periphrase für Lemnos im Verhältnis zur Aktion, der Gewinnung der Pfeile (401), weiten Raum einnimmt (399 f.). Umso knapper wird dann konstatiert (403): inposita estque sero tandem manus ultima bello. Das Ende Trojas wird hier passivisch ausgedrückt (inposita est), der Urheber wird nicht genannt. Gerade durch diese unbestimmte Formulierung gehen Ereignis und Schilderung ineinander über. Die der Kunst entlehnte Metapher der manus ultima, die einem Hand- oder Kunstwerk auferlegt wird, 53 zeigt die metapoetische Ebene an. 54 51

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Der Abschnitt met. 13,404–7 wurde öfter als Interpolation verdächtigt, vgl. etwa Hill (2000) 150: »These lines, deleted by Bentley, are surely an interpolation; they break the narrative sequence, they unhelpfully anticipate 13.566–75, and the phrase post omnia, ›after all‹ (405) is unintelligible in context«; vgl. auch Hopkinson (2000) zur Stelle. Zur Diskussion über die Echtheit s. auch Bömer (1982) 299 f., der die Verse verteidigt. Zum charakteristischen und in der Anfangs- bzw. Endposition eines Abschnitts tendenziell immer metapoetischen Vokabular des Öffnens und Schließens vgl. auch panditur (Verg. Aen. 10,1), oben 19/20. Zu vergleichen ist insbesondere die Wendung im Kontext von Daedalus’ Tätigkeit (met. 8,200 f.): postquam manus ultima coepto / inposita est (nachdem dem begonnenen Werk letzte Hand angelegt worden war). Zu manus ultima im Sinne von Vervollkommnung und Vollendung eines Werks oder einer literarischen Arbeit vgl. noch Verg. Aen. 7,572 f. Nec minus interea extremam Saturnia bello / imponit regina manum (Nicht weniger legt die Königin, Tochter des Saturn, unterdessen letzte Hand an den Krieg). Ov. trist. 2,555 f. (über seine Metamorphosen) manus ultima coeptis / defuit (dem Begonnenen fehlt zwar die letzte Feile). Zu Petron. 118,6 vgl. nächste Anm. Hinds (2013) 189–91 führt die möglichen Alternativen an, warum Claudians De raptu Proserpinae im dritten Buch abrupt und unvollendet aufhört. In diesem Kontext erinnert er an den Topos der fehlenden letzten Feile, der nach Vergils Aeneis für nach-vergilische Dichter zum Modell avancieren konnte (zu vergleichen ist die Wendung impositurus Aeneidi summam manum in der auf Sueton zurückgehenden Vergil-Vita Donats 35). Der fehlende Abschluß war nun nicht mehr einem biographischen Zufall geschuldet, sondern konnte zum Prinzip erhoben werden. In diesem Kontext verweist Hinds (2013) 189,

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Bömer (1982) 297 bemerkt zur Überleitungspartie (met. 13,399–428): »Die düsteren Darstellungen vom Untergang Troias in der Iliupersis, den ›Troades‹ des Euripides, vor allem aber bei Vergil waren allen Lesern Ovids so gut im Gedächtnis . . . , daß unser Dichter gut daran tat, sich nicht mit ihnen zu messen.« Es handelt sich jedoch um einen selbstbewußten Gestus: der Dichter der Metamorphosen setzt mit wenigen Worten den endgültigen Schlußpunkt unter die von seinen Vorgängern ausführlich erzählten Ereignisse um Trojas Untergang. Der Dialog mit den Versionen der Vorgänger besteht gerade darin, Trojas Ende so prägnant wie möglich darzustellen. Ovids kurzgefaßte Version von Trojas Untergang konkurriert vor allem mit der von Aeneas im zweiten Aeneis-Buch gegebenen Iliupersis. Auch hier, wie überhaupt in der ganzen ovidischen Aeneis, 55 verfährt der Erzähler nach dem Prinzip: was in der Aeneis ausführlich erzählt wurde, wie vor allem Priamus’ Ermordung (vgl. Verg. Aen. 2,506–58), wird nur lapidar mitgeteilt; dagegen werden die Leerräume genutzt. So wird Hecubas Verwandlung, die in der Aeneis nicht geschildert wird, breit ausgemalt (met. 13,488–575), während die Kämpfe in Latium nur angedeutet werden, 56 um dann wiederum mit der in der Aeneis von Jupiter nur prophezeiten (Aen. 1,259 f., 12,794 f.), aber nicht ausgeführten Apotheose des Aeneas (met. 14,581–608) einen über das Ende der Aeneis hinausgehenden Abschluß zu setzen. Eine nochmalige Reduzierung der Handlung von Vergils Aeneis und vielleicht auch von Ovids sogenannter Aeneis (met. 13,623–14,608) scheint der flavische Epiker Silius Italicus zu bieten, wenn in der Prophezeiung des Proteus an die Nereiden das Paris-Urteil als Grund des Trojanischen Kriegs breit ausgeführt wird, die Konsequenen aber in nur wenigen Strichen skizziert werden (Sil. 7,472–75): sed victae fera bella deae vexere per aequor, atque excisa suo pariter cum iudice Troia. tum pius Aeneas terris iactatus et undis Dardanios Itala posuit tellure penatis. Aber die besiegten Göttinnen (Juno und Minerva) brachten wilde Kriege übers Meer, und zugleich mit seinem Richter (Paris) wurde Troja zerstört. Dann etablierte pius Aeneas, umhergetrieben durch Länder und Wogen, auf italischer Erde die trojanischen Penaten.

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Anm. 35 auf die Passage in Petrons Satyrica, in der Eumolpus eine Kostprobe seiner Version eines Bürgerkriegsgedichts mit dem Hinweis einleitet (Petron. 118,6): etiam si nondum recepit ultimam manum (sc. hic impetus), (auch wenn dieser Erguß noch nicht die letzte Feile erhalten hat). Zu Ovids Verfahrensweise vgl. etwa Döpp (1991), insbes. 342; ferner Schade (2001). Charakteristisch ist die summarische Inhaltsangabe, verbunden mit einer typisch ovidischen Syllepse (met. 14,449 f.): domo potitur nataque Latini, / non sine Marte tamen (er [sc. Aeneas] gewinnt Haus und Tochter des Latinus, freilich nicht ohne Krieg). Vgl. Myers (2009) zu met. 14,449–53: »In another masterpiece of miniaturization, five lines condense Aeneid 7–12. [. . . ] The Aeneid in fact is threatened with premature closure in line 449 in a ›happy ending‹, until the following half line is added (non sine . . . ).«

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Vergils Iliupersis (Aen. 2) wird in Vers 473, die Irrfahrten der Trojaner (Aen. 1–6) in Vers 474 und die Ankunft in Latium (Aen. 7–12) in Vers 475 skizziert. Durch den zitathaften Anklang von terris iactatus et undis (474b) an das Proömium von Vergils Aeneis (multum ille et terris iactatus et alto, Aen. 1,3) wird auf Vergils Darstellung der Ereignisse als Bezugspunkt verwiesen. In der ausgewogenen Form eines versus aureus (475) wird Aeneas’ erfolgreiche Landnahme in Latium als Abschluß der Irrfahrten konstatiert. Freilich handelt es sich bei Proteus’ Prophezeiung lediglich um einen in die Erzählung der historischen Ereignisse eingelegten aitiologischen Exkurs, in dem an die in mythhistorischer Zeit vollzogene Gründung des römischen Volks erinnert wird, dessen Existenz gegenwärtig durch den Punischen Krieg bedroht ist.

II. Abgrenzung von vergleichbaren Projekten An Untersuchungen zu Anfang und Ende in narratologischer, zeitlicher, räumlicher, anthropologischer und, was vor allem Anfänge betrifft, aitiologischer Dimension fehlt es nicht. Angefangen hatte die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema von Anfängen und Enden in der antiken Literatur mit »Beginnings in Classical Literature« (1992), 57 einer Sammlung von Beiträgen zu Anfängen in verschiedenen Werken und Gattungen. Als Gegenstück hierzu versteht sich der einflußreiche Sammelband »Classical Closure. Reading the End in Greek and Latin Literature« (1997). 58 Das closure-Konzept wird entsprechend auch in unsere Überlegungen einbezogen, impliziert diese Kategorie doch mehr als ein bloßes Aufhören im Sinne von Zu-Ende-Bringen bzw. -Kommen. Nach wie vor hat Don Fowlers theoretische Fundierung von closure in seinen ersten Überlegungen (1989) Gültigkeit. Zu vergleichen ist insbesondere seine Differenzierung nach fünf Bedeutungen in der Verwendung der Bezeichnung closure. 59 Diese von ihm selbst vorausschauend als »first thoughts on closure« bezeichneten Überlegungen wurden dann durch den einleitenden Beitrag »Second Thoughts on Closure« (1997) in dem von ihm mitherausgegebenen Band »Classical Closure« revidiert und erweitert. 57 58 59

Vgl. Dunn/Cole (1992). Roberts/Dunn/Fowler (1997). Zur Mitte im Epos s.o. Anm. 34. Fowler (2000a) 242 unterscheidet fünf verschiedene Bedeutungen von closure in der Literaturkritik, wobei es natürlich Überlappungen gibt: »(1) the concluding section of a literary work; (2) the process by which the reader of a work comes to see the end as satisfyingly final; (3) the degree to which an ending is satisfyingly final; (4) the degree to which the questions posed in the work are answered, tensions released, conflicts resolved; (5) the degree to which the work allows new critical readings.« Zu vergleichen ist auch die konzise Definition von Perkell (2014) 274: »Term used in literary studies to denote both the ending of a text and the degree to which the ending is perceived as ›final‹ or ›closed‹.«

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Im einschlägigen Sammelband, in dem das closure-Phänomen in verschiedenen Gattungen der griechischen und lateinischen Poesie und Prosa betrachtet wird, ist der Beitrag von Philip Hardie für unseren gattungsorientierten Ansatz wegweisend: »Closure in Latin Epic«. Hardie (1997) analysiert die Enden dreier vollständig erhaltener Epen, nämlich das Finale von Vergils Aeneis, Statius’ Thebais und Silius Italicus’ Punica. Im Anschluß und in Fortführung von Fowlers Überlegungen zu closure wurde der speziellen Form von false closure ein ganzer Sammelband gewidmet: »The Door Ajar. False Closure in Greek and Roman Literature and Art«. 60 Fowler (2000a) 259 hatte das Phänomen »false ending« folgendermaßen skizziert: »where the text seems to pause or end but the external division has not yet been reached.« In einigen Beiträgen wird der Begriff »false closure« selbst, der auch als »Trugschluß« verstanden werden kann, problematisiert. 61 Der interdisziplinär ausgerichtete Tagungsband »Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne« bietet mediävistische Perspektiven auf das Thema. Am Beispiel mittelalterlicher Erzählungen werden die »narratologischen, anthropologischen und kulturellen Implikationen der Kategorien Anfang und Ende« 62 anhand verschiedener Texte und Textgattungen untersucht. Zu nennen ist schließlich noch der zweibändige Kolloquiumsband »Commencer et finir« (2008), der verschiedene Beiträge zum Anfang und Ende eines Werks quer durch die antike und neulateinische Literatur unter terminologischen, rhetorischen, poetischen, historischen und generischen Perspektiven versammelt. 63 Im Gegensatz zu Ansätzen wie denen von Stierle/Warning (1996) 64 und Mülder-Bach/Schumacher (2008) nehmen wir nicht die Denkfigur des Anfangs und Endes in den Blick, sondern narrative Verfahren des Anfangens und Beendens. Gegenüber den genre-übergreifenden Zugängen zu literarischen Anfängen und Enden konzentriert sich unser Band auf nur eine Gattung, das griechisch-(neu)lateinische Epos, weitet aber die Blickrichtung in diachroner Perspektive aus. Anfangend mit den homerischen Epen über das hellenistische (Klein-)Epos mit dem lateinischen Epos augusteischer, neronischer, flavischer und spätantiker Zeit im Mittelpunkt enden die Fallbeispiele mit neulateinischen Epen. Durchgehend ist in den von uns herangezogenen Epen eine auktoriale Selbstreferentialität zu beobachten, mit der Formen von Anfängen und Enden thematisiert und auch inszeniert werden. Im Fokus der Untersuchungen steht die Frage, welche Potentiale die 60

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Grewing/Acosta-Hughes/Kirichenko (2013). Vgl. auch Farouk Grewings Beitrag im vorliegenden Band »Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang? Überlegungen zu closure in Ovids Metamorphosen«, unten 141–68. Vgl. etwa Dunn (2013) 18 und Asper (2013) 81. Friedrich/Hammer/Witthöft (2014) 15. Bureau/Nicolas (2008), mit nützlichen Zusammenfassungen der 50 Artikel ganz am Ende (809–25). Zu vergleichen sind auch die kritischen Bemerkungen, insbesondere zur fehlenden Kohärenz, von Nicole Méthy, REA 110, 2008, 683–84. Vgl. oben Anm. 5.

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dynamische Gattung des Epos auf narratologischer Ebene in der Modellierung von Anfängen und Enden als markanten Punkten innerhalb einer größeren narrativen Struktur entfaltet.

III. Zu den einzelnen Beiträgen Der vorliegende Band vereinigt Vorträge, die auf der Tagung »Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos« (9.–11.10.2013) an der Universität Münster gehalten wurden. Im einleitenden Teil habe ich versucht, den Horizont und Tendenzen des Themas abzustecken. Knappe Hinweise sollen im folgenden den Fokus der einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes erschließen. Am Anfang zeigt Joachim Latacz nach Art eines Panoramas das weite Spektrum epischer Produktion von Homer bis ins 19. Jahrhundert. Sein Beitrag ordnet die fast unüberschaubar große Materialmenge in einem Überblick über Entstehung, Bestand, Verlauf, Enden und Neuanfänge, Funktionen und Funktionsverschiebungen im Leben der Gattung und schafft eine umrißhafte Basis für eine umfassende Poetik des antiken und modernen Versepos. Es folgt ein Beitrag über die für das Verständnis dramatischer und narrativer Texte so zentrale Strukurformel »Anfang, Mitte und Ende« im siebten Kapitel der Poetik des Aristoteles (1450b25). Stefan Büttner gibt durch Hinzuziehen von Textstellen aus anderen Werken des Aristoteles, die über vergleichbare Strukturprinzipien handeln – vor allem aus der Metaphysik, der Rhetorik und der Nikomachischen Ethik – eine genauere Erklärung dessen, was Aristoteles mit der schematisch anmutenden Formulierung der Abfolge »Anfang, Mitte und Ende« konkret gemeint haben könnte. Die exemplarischen Lektüren zu Anfängen und Enden sind in chronologischer Folge angeordnet. Eine systematische Ordnung nach anderen Kriterien, etwa nach Anfang oder Ende, bietet sich nicht an, da die beiden entgegengesetzten Pole oft untereinander verschränkt sind. Annemarie Ambühl untersucht in ihrem Beitrag anhand ausgewählter Textbeispiele aus dem hellenistischen Epos (Apollonios’ Argonautika) und Kleinepos (sog. Epyllien, wozu im Sinne einer Arbeitshypothese auch Hymnen des Kallimachos und Eidyllia Theokrits gezählt werden) die narrativen Potentiale von Anfängen und Enden speziell in poetischen Kleinformen unter formalen, narratologischen, intertextuellen und poetologischen Gesichtspunkten. Christiane Reitz beschäftigt sich mit der Frage, wie die epischen Dichter mit der Tatsache umgehen, daß sie durch die Verwendung von Bauformen wie Katalogen und Ekphraseis zwar innerhalb des eigenen Werks Grenzen, also Anfänge und Enden, definieren und sich in Strukturen bewegen, selbst aber in einer prinzipiell endlosen Kette der Tradition und Entwicklung stehen, was sich z. B. in Musenanrufen innerhalb von Katalogen beobachten läßt. Angela Jöne untersucht in ihrem Beitrag, wie in der Aeneis durch typische Motive und intertextuelle Bezüge Szenen eines Abschieds evoziert werden, die

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dann jedoch eine andere Wendung nehmen. Diese beinahe eintretenden Abschiede entsprechen anfänglich den szenischen Konventionen eines Abschieds, stellen dann aber eher einen Auftakt als ein Ende dar. Der »Beinahe-Abschied« zwischen Anchises und seiner Familie (Aeneas, Creusa und Ascanius) während der Zerstörung Trojas im zweiten Buch und der »Beinahe-Abschied« zwischen Nisus und Euryalus im neunten Buch stehen im Fokus der Untersuchung. Farouk Grewing setzt den Dialog mit Fowlers closure-Diskurs fort und füllt eine Leerstelle in dem von ihm mitherausgegebenen Band »The Door Ajar. False Closure in Greek and Roman Literature and Art« (2013). 65 In seinen nachgetragenen Überlegungen zu closure in Ovids Metamorphosen zeigt er einige Konflikte zwischen Abgeschlossenheit (closure) und Offenheit (open-endedness, aperture) bzw. trügerischem Schluß (deceit), die am Ende des 15. Buchs, aber auch in einzelnen Metamorphosengeschichten begegnen. In ihrem methodisch orientierten Beitrag unterzieht Christine Walde die These, Lucans Epos sei von Anfang an in der uns vorliegenden fragmentarischen Form geplant worden, einer kritischen Revision und überlegt, welche Auswirkungen die Annahme eines bestimmten Endpunktes für die Interpretation des Gesamtwerks hat. Diesen end- bzw. closure-fokussierten Untersuchungen folgen Beiträge auf mikrostruktureller Ebene, welche die Aufmerksamkeit auf spezifische Techniken des Anfangens und Beendens in Reden lenken. Thomas Baier widmet sich der Frage, wie Gespräche in Valerius Flaccus’ Argonautica begonnen, aber nicht zu Ende geführt und daran anknüpfend, wie Helden überhaupt eingeführt und dem Leser vorgestellt werden bzw. wie sich Figuren selbst vorstellen. Die unterdrückte Kommunikation wird schließlich durch einen vergleichenden Ausblick auf Tacitus als Symptom der flavischen Zeit beurteilt. Claudia Klodt analysiert in ihrem Beitrag, welche Funktion der Exordialtechnik bei der Figurencharakterisierung in Statius’ Thebais zukommt. In ihrer Untersuchung von Anreden und exordia verschiedener Reden hortativen Charakters sind folgende Fragen zentral: Wie formulieren die Figuren ihren ersten Satz im Hinblick auf das Redeziel und wie reden sie die zu Beeinflussenden an? Der dritte flavische Epiker, Silius Italicus, wird mit zwei Beiträgen bedacht. Jan Kortmann untersucht ausgehend von der Gliederungsfunktion von Nachtein- und Tagesanbrüchen im Epos die narrative Qualität von Nachtaktionen in den Punica des Silius. Am Beispiel der Episode im 12. Buch, in der Hannibal drohend vor Roms Mauern steht, zeigt er, wie die Ausnahmesituation nächtlicher Aktionen der Charakterzeichnung dient, und wie Silius die Konventionen von Tag und Nacht auf ganz eigene Art ändert und nutzt. Raymond Marks wirft, ausgehend vom Proömium, einen neuen Blick auf die Makrostruktur von Silius’ Punica, insbesondere auf die Mitte bzw. Mitten im Epos. Beim Übergang von Buch 10 zu 11, und zwar am Beginn des 11. Buchs,

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Grewing/Acosta-Hughes/Kirichenko (2013); vgl. auch oben Anm. 60.

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verortet er ein Proömium (medial proem), das eine Trennung des eigentlichen Kriegs in zwei Hälften (Bücher 4–10 und 11–17) markiere, eine Interpretation, die abschließend durch einen Rekurs auf die bekannten Mittelproömien in Vergils siebtem Aeneis-Buch und dem dritten Buch von Apollonius’ Argonautica unterstützt wird. Die nächsten beiden Beiträge widmen sich dem spätantiken Epos. Im Zentrum des Beitrags von Helen Kaufmann steht die Frage, ob die Endpartien der letzten (griechischen und lateinischen) mythologischen Epen der Antike ab 400 (Claudian) auf das bevorstehende Ende der Gattung hindeuten. Statt auf das Ende der Gattung zu verweisen, seien die Endpartien jedoch emphatisch abgeschlossen und ließen sich sogar als Zeichen für die Stärke der Gattung interpretieren. Ursula Gärtner untersucht die Posthomerica des Quintus Smyrnaeus, ein Epos, das nahtlos an das Ende der Ilias anschließt, und auf den ersten Blick auf einen typisch epischen Anfang und ein entsprechendes Ende zu verzichten scheint. In einer detaillierten Analyse wird jedoch gezeigt, wie die Anfangs- und Endpartie durch intra- und intertextuelle Bezüge, durch Ana- und Prolepsen in eigenwilliger Weise vergleichbare Funktionen wie in anderen Epen übernehmen, das Werk aber zugleich als einen ›Intertext‹ kennzeichnen, der auf das Vorgängerwerk wie die Fortsetzung angewiesen ist. Das Epos in der neulateinischen Literatur ist Gegenstand der folgenden drei Beiträge. Thomas Haye untersucht die noch unedierte Herculeia des Giovanni Mario Filelfo (1426–80), des produktivsten Ependichters des 15. Jahrhunderts, insbesondere im Hinblick auf die poetologischen und metathematischen Aussagen in den Praefationes und im Epilog. Neulateinische Supplemente, die ihre Vorgänger fortsetzen, ergänzen und korrigieren oder auch beenden, was noch nicht abgeschlossen ist bzw. zu sein scheint, und die auf diese Weise auch ein abgeschlossenes Werk nachträglich in einen Dynamisierungsprozeß überführen können, sind in jüngster Zeit zunehmend ins Interesse der Forschung gerückt. Insbesondere hat das als abrupt empfundene Finale der Aeneis in Form zahlreicher Supplemente das »dreizehnte« Aeneis-Buch evoziert, das den scheinbar verweigerten bzw. vermißten Abschluß nachliefert. In ihrem Beitrag vergleicht Claudia Schindler die Eröffnungsszenen in drei AeneisSupplementen, und zwar im Supplement von Maffeo Vegio (1427/8), Jan van Foreest (um 1648) und Claude Simonet de Villeneuve (1698). Es zeigt sich, daß die Eröffnungsszenen der Supplemente trotz eines gemeinsamen Ausgangspunkts und mancher struktureller Ähnlichkeiten die Ereignisse der Aeneis sehr unterschiedlich interpretieren und so die Interpretationsrichtung des gesamten Supplements bereits ouvertürenartig vorgeben. In vielen Beiträgen haben wir unseren Blick auf das Finale eines Epos geworfen, welches unvollendet hinterlassen oder unvollständig überliefert worden sein kann, aber selbst bei vollständigem Abschluß oft als nicht wirklich abgeschlossen empfunden wird. Wie aber ist mit einem Werk umzugehen, wo nicht nur die Buchenden, sondern auch die jeweiligen Buchanfänge fehlen? Im Zusammenhang mit ihrer Edition der nach 500 Jahren wiederentdeckten Felsinais des Marco Giro-

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lamo Vida (ca. 1485–1566) beschäftigt sich Carla Piccone mit genau dieser Frage. Sie zeigt Vidas durchgehende Orientierung an Vergils Aeneis, was ihr eine Rekonstruktion verschiedener Makrostrukturen des ca. 5400 Hexameter umfassenden Jugendwerks nach dem Modell der Aeneis ermöglicht.

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Joachim Latacz (Basel)

Vom unbekannten Anfang bis zum bekannten Ende Das Vers-Epos im Überblick

». . . eine eigentliche Gattungspoetik außerhalb der Gattungsgeschichte 〈kann es〉 überhaupt nicht geben« (Eberhard Lämmert) 1

Das Vers-Epos, das speziell in seiner Gestaltung durch Homer seit der Antike als Grundlage der Theoriebildung über das Wesen des ›Epischen‹ gedient hat und heute noch dient, 2 hat trotz zahlloser Ansätze in den Arbeiten von Aristoteles, Horaz, dem Autor Per» ìUyouc über die Renaissance- und Klassik-Poetiken bis hin zu modernen Erzählwerk-Analysen wie etwa denen von Eberhard Lämmert oder Gérard Genette 3 eine eigene umfassende Poetik noch nicht hervorgebracht. Das kann nicht verwundern, wenn bedacht wird, daß es trotz über 250jähriger Homer-Forschung seit Parnell, Wood, Herder, Lessing noch nicht einmal gelungen ist, auch nur eine umfassende ›Homerische‹ Poetik zustande zu bringen. In der Vorbemerkung zu ihrer ›Homerischen Poetik in Stichworten‹ im ›Basler Kommentar (BK)‹ zur Ilias stellen René Nünlist und Irene de Jong auch in der dritten Auflage von 2009 noch fest: »Das nachfolgende Glossar definiert (unter Nennung gebräuchlicher Alternativbegriffe) die wichtigsten und häufigsten Elemente der 1 2

3

Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart (9 1990) 12. Vgl. Lämmert (9 1990) 139 (». . . Goethe 〈gesellt sich〉 [. . . ] nur den zahllosen Theoretikern zwischen Batteux und Schadewaldt oder Staiger bei, die an Homer ihren Begriff vom ›Epischen‹ bilden.« – Vgl. auch Genette (der wesentlich öfter auf Homer als Anfang literarischen Erzählens zurückgreift, als es das ›Personenregister‹ am Ende von ›Die Erzählung‹ [1994] vortäuscht), etwa zu jenem Element, das wir heute als ›epische Regression‹ bezeichnen (23): ». . . unsere (westliche) literarische Tradition [. . . ] hebt [. . . ] mit einem betonten Anachronieeffekt an« [es folgt die Vorführung und narratologische Analyse des Anfangs der Ilias von V. 8 an] »Man weiß auch, daß dieser in medias res-Beginn, gefolgt von einem erläuternden Schritt zurück, einer der formalen topoi der epischen Gattung geworden ist, und man weiß auch, wie sehr der Roman in diesem Punkt seinem fernen Vorfahren treu geblieben ist – und das bis mitten ins ›realistische‹ 19. Jahrhundert hinein« (als Beispiel werden u.a. Balzacsche Roman-Anfänge genannt). Bei nur mit Namen (+ Erscheinungsjahr) genannten modernen Autoren s. die genauen bibliographischen Angaben im Anhang.

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Vom unbekannten Anfang bis zum bekannten Ende

homerischen Poetik, soweit sie bisher entwickelt worden ist.« 4 (Hervorhebung: JL). Diese Einschränkung, die trotz unüberschaubar vieler Arbeiten zu zahlreichen der in dieser Stichwort-Poetik behandelten 68 gattungstypischen Elementen (etwa zu ›Epitheton‹, ›Formel‹, ›Gleichnis‹, ›Iterata‹, ›Katalog‹, ›Retardation‹, ›Ringkomposition‹, ›Typische Szene‹) ihre volle Berechtigung hat, macht nicht nur deutlich, wie notwendig weitere Analysen wie die im vorliegenden Band zusammengestellten zum Element ›Anfänge und Enden‹ sind. Sie macht auch deutlich, wie sehr solche Analysen, die – wie hier – an Einzelwerken der Gattung durchgeführt werden, der Zusammenschau und nachfolgenden Einzelwerk-übergreifenden Abstrahierung zu handhabbaren Begriffen bedürfen. Grundlage für diese Sammel- und Begriffsbildungarbeit wird – im Sinne des oben gewählten Mottos – stets der möglichst vollständige Überblick über das gesamte uns noch verfügbare einschlägige Material bleiben, d. h. der Überblick über die Gattungsgeschichte. Da ein solches Werk etwa 4000 Jahre erfassen müßte (ca. 2000 v. Chr. bis ca. 2000 n. Chr.), dürfte es noch für lange Zeit ein Desiderat bleiben. Im Folgenden wird ein stark komprimierter, als provisorischer Anstoß gedachter Skizzierungsversuch vorgelegt.

I. Der unbekannte Anfang Wann etwa und wo das Vers-Epos der uns geläufigen westlichen 5 Gestalt ›erfunden‹ wurde, wissen wir nicht. Die neueren Untersuchungen zur Oral poetry, zur Linear B-Schrift und zur indogermanischen Dichtersprache haben immerhin wahrscheinlich gemacht, daß das griechische Vers-Epos mindestens schon im 2. Jahrtausend v. Chr. existiert hat, vermutlich aber noch höher, in die Zeit vor der Abwanderung der Griechen aus einem gemeinsamen indogermanischen Siedlungs- und Lebensraum hinaufreicht. 6 Dort, wo wir es erstmals zu fassen bekommen, in Ilias und Odyssee (entstanden um 700 v. Chr.), hat es also bereits eine rund 1300jährige Lebensgeschichte hinter sich. In diesen mindestens rund 1300 Jahren war es offenbar grundsätzlich – mögliche Gestalt- und/oder Funktionsverschiebungen, Enden und Neuanfänge in dieser Langzeitperiode sind für uns nicht mehr rekonstruierbar – eine lebendige Kunstübung aus dem Munde frei improvisierender Sänger im Dienste des Adels: Erzählungen großer Taten und Leiden überragender Adelsangehöriger sowohl aus vergangenen als auch aus jüngeren und jüngsten Zeiten. Stoffreservoir und Publi4 5

6

BK, Prolegomena (3 2009) 159–171 (hier: 159). Das orientalische Vers-Epos – für uns noch greifbar besonders im (fragmentarisch erhaltenen) sumerisch-babylonischen Gilgamesch-Epos, mit Vorläufern aus dem 24. Jh. v.Chr. – bleibt hier unberücksichtigt; Einflüsse auf das griechische Vers-Epos sind möglich bis wahrscheinlich, die beiden Stränge gehen jedoch schwerlich auf eine gemeinsame Wurzel zurück; s. dazu West (1997). Schmitt (1968); West (1988); Hajnal (2008).

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kumsvertrag dieser für uns ältesten Form haben sich als Reflexe an mehreren Stellen der viel späteren und funktional offenbar bereits neu und anders orientierten Homerischen Epen noch erhalten. Wenigstens zwei seien zitiert: (1) Zum Stoff: Il. 9,186–189 (die Bittgesandtschaft der griechischen ›obersten Heeresleitung‹ unter Agamemnon trifft beim Zelt des Achilleus ein): t‰n d+ [Achilleus] h›ron frËna terpÏmenon fÏrmiggi lige–hi, kal®i daidalËhi, ‚p» d+ Çrg‘reon zug‰n ™en, tòn äret+ ‚x ‚nàrwn pÏlin >Het–wnoc ÊlËssac. t®i Ì ge jum‰n Íterpen, äeide d+ ära klËa Çndr¿n; Den aber trafen sie, wie er den Sinn sich labte mit der Phorminx hellen Tones – mit einer schönen, wohlverzierten, und der Steg drauf war aus Silber –, die hatte er sich mitgenommen aus der Beute, als er die Stadt Eëtíons einnahm: mit der erquickte er sich nun das Herz – und sang den Ruhm von Männern.

klËoc ist ›das, was man hört‹, ›das (rühmende) Hörensagen‹. Das Wort ist stets positiv konnotiert – wir würden heute vielleicht von ›hohem Renommee‹ sprechen. Wenn also Achilleus hier wie ein professioneller Sänger agiert und das klËoc, den ›Ruhm von Männern‹, zur Phorminx singt, dann singt er die großen Taten und Leiden von Männern, die vor ihm lebten und die so Bedeutsames vollbrachten, daß es nie vergessen wurde und in das kollektive Gedächtnis einging – Männern also, die ihm, Achill, und seinesgleichen als Vorbild dienen konnten. Stellen wie diese ziehen sich durch Ilias und Odyssee wie ein roter Faden – allein in der Ilias sind es 25. Sie zeigen klar, daß die mündliche Sängerkunst im Bewußtsein des Ilias-Dichters von Anfang an Rühmungskunst war, Rühmung der großen Taten von Heroen – also ›Heldendichtung‹, ›Heroic Poetry‹. Die Stelle zeigt aber noch etwas anderes: Achilleus singt hier vor Troias Fall. Die Phorminx, zu der er singt, hatte er bei seiner Eroberung von Thebe – einem Ort in der Troas – als besonders wertvolles Prunkstück der Kriegsbeute entnommen. Da nun aber diese Phorminx, zu der er – ganz in der Art eines professionellen ÇoidÏc – singt (äeide 189), zweifellos zu den Kleinodien von König Eëtions privatem Familienschatz gehört hat, wird hier die Aoidenkunst in der Vorstellung des Ilias-Dichters in eine Zeit noch weit vor dem Troianischen Krieg hinaufgerückt. Daß sich seine Troia-Geschichte in sehr weit zurückliegender Zeit abgespielt hat – und die Sangestradition, in der er selbst steht, schon damals blühte –, das ist für den Dichtersänger des 8./7. Jh. also Gewißheit. Wie weit diese Zeit zurückliegt, weiß er freilich nicht. (2) Zum Publikumsvertrag: Od. 1,337–339 (Der Hofsänger Phemios singt am Königshof von Ithaka den Hausbesetzer-Freiern die »jammervolle Heimfahrt der Achaier aus Troia« vor [`Aqai¿n nÏston äeide / lugrÏn]. Penelope verweist ihm diesen Gesang unter Tränen):

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»F†mie, pollÄ gÄr älla brot¿n jelkt†ria o⁄dac Írg> Çndr¿n te je¿n te, tà te kle–ousin Çoido–; t¿n Èn gË sfin äeide . . . « »Phenios! Du kennst doch viele andere für die Sterblichen ergötzliche Taten von Menschen und Göttern, die die Sänger rühmend vortragen: von denen besinge eine . . . !« (Darauf Telemachos zu Penelope: »Mutter, laß doch den Sänger singen, was er will«) »tòn gÄr Çoidòn mêllon ‚pikle–ous` änjrwpoi, ° tic ÇÏntessi newtàth ÇmfipËlhtai.« »Denn denjenigen Gesang bedenken die Menschen jeweils mit dem größten Beifall, der ihnen beim Anhören als der neueste (aktuellste) um die Ohren klingt!«

Zusammengenommen ergeben die Aussagen der beiden Stellen: Das Vers-Epos hat im Bewußtsein des Dichtersängers um 700 v. Chr. eine weit zurückreichende Tradition. Es wurde bereits lange vor dem Troianischen Krieg von mündlich improvisierenden ›Sängern‹ (Çoido–) zur Ergötzung vorge›sungen‹ (Çe–dein). Bei umfangreichem Stoffreservoir (pollÄ älla Írga) sind Kernthema seit jeher große Ereignisse der Vergangenheit, deren Akteure herausragende Männer (und Götter) sind. Darüber hinaus soll sich der Sänger aber auch bemühen, über die jeweils neuesten (aktuellsten) großen Ereignisse zu informieren (und, so dürfen wir hinzusetzen, sie zu interpretieren und zu kommentieren). und dies stets mit der Tendenz, die Führungsschicht und ihr Wertesystem ins rechte Licht zu setzen. Diese Wesensbeschreibung des frühen Vers-Epos aus dem Munde des Dichtersängers um 700 v. Chr. ist, wie wir heute wissen, keine aus der Luft gegriffene Rückprojektion individueller Auffassung seines eigenen Werkes. Wie Oral poetry- und vergleichende Epen-Forschung seit dem 18. Jh. (Blackwell, Wood, Herder; Fr. A. Wolf) über das 19. Jh. (G. Hermann; Vgl. Epen-Forschung: Talvj, Radloff, Murko, die Chadwicks) bis zum 20. Jh. (überragend: Bowra – der eine Flut von Folgeliteratur evozierte) zur Genüge gezeigt haben, ist mündliche Vers-Epik dieser Art in vorliterarischen Gesellschaften weltweit verbreitet. 7 Eine mündliche Elementartechnik, wie sie für das Homerische Epos Edzard Visser aufgewiesen hat, 8 ermöglicht dabei dem Sänger regelmäßig die Stegreif-Komposition nicht nur traditionellen, sondern bei Bedarf auch neuesten Ereignismaterials. Nicht beantwortet war im Flusse dieser jahrzehntelangen Hauptbeschäftigung der Forschung mit Oral poetry- und vergleichender Epen-Forschung bis in die achtziger Jahre des 20. Jh. hinein die konkrete Frage, wie weit genau die Gattung dieses ›Prä-Epos‹ zumindest in Griechenland hinaufreichte. Erst seit etwa 1980 7

8

Zu diesem ganzen Komplex s. J. Latacz in: BK, Prolegomena, Kap. FOR (›Formelhaftigkeit und Mündlichkeit‹); zur Epen-Forschung bes. §§ 14–16 und 36–38 (= BKE, Prolegomena, FOR, §§ 14–16 und 36–38). Visser (1987); Visser (1988) (= Visser 1997); fortgeführt von Egbert Bakker, s. J. Latacz in: BKE, Prolegomena, §§ 40–44a. – Genaueres s. unten Anm. 12.

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begann sich das Dunkel in diesem Punkt zu lichten. In Zusammenarbeit gräzistischer und indogermanistischer Forscher wurde seit den 80er Jahren in einem geradezu leidenschaftlichen Arbeitsprozess Schritt für Schritt der Nachweis erbracht, daß Hexameterdichtung ebendesselben Typus, wie er uns in der Dichtung Homers vorliegt, schon spätestens im 16. Jh. v. Chr. in Griechenland gängig gewesen sein muß, also schon bevor die mykenischen Griechen die Linear B-Schrift aus Kreta übernahmen und für ihre eigenen (administrativen) Zwecke umgestalteten. Dieser ganze komplizierte, aber schlüssige Beweisgang kann hier nicht vorgeführt werden. 9 Ein einziges Beispiel: Es gibt in den Homerischen Epen bekanntlich Hexameter, die wir auf keine Weise gemäß den normalen Hexameterregeln skandieren können. Einer davon ist dieser hochaltertümlich klingende Vierwort-Vers: (Il. 2,651; 7,166)

MhriÏnhc Çtàlantoc >Enual–wi ÇndreifÏnthi Meriones, gleichviel wiegend wie Enyalios der männertötende.

Das letzte Wort dieses Verses, ÇndreifÏnthi, ist im Homerischen Hexameter metrisch regelwidrig. Führt man den Vers aber mit Hife der sprachwissenschaftlichen Rekonstruktionsgesetze in die Vor-Linear B-Sprachform zurück, also sozusagen ins ›Mittelhochgriechische‹, dann lautet der Vers – metrisch völlig normal –: Mârionâs hatalantos Enúwaliôj anṛqw hontâj.

Erkennt man zusätzlich, daß der besagte Meriones bzw. Marionas, der in der Ilias zusammen mit Idomeneus Anführer des griechischen Kontingents aus Kreta ist, einen Namen trägt, der offenbar mit dem im Hurritischen, einer Sprache des damals in der heutigen Türkei liegenden Hethiterreichs, im 16. Jh. gebräuchlichen Wort für ›Wagenkämpfer‹ ›maryannu‹ zusammenhängt – ferner, daß der in unserem Homer-Vers genannte Gott Enyalios dem mykenischen Linear B-Wort e-nuwa-ri-jo (KN 208; ebenfalls Dativ) entspricht, womit man damals den Kriegsgott Ares bezeichnete, dann wird man keinen Zweifel daran haben, daß dieser HomerVers uralt ist und im gleichen Wortlaut, in dem wir ihn jetzt bei Homer lesen, nur eben in einer früheren Sprachform, bereits in hexametrischen Sängerdarbietungen des 16. Jh. v. Chr. erschien. Noch 1988 hatte Martin West festgestellt: ». . . almost everyone accepts that the Greek epic tradition goes back at least to late Mycenaean times«. 10 Das »at least« können wir inzwischen bestätigen: Die Tradition geht tatsächlich noch weiter zurück. Sie war bereits in der frühmykenischen Zeit lebendig. Und in den Jahrhunderten bis hinunter zu Homer lebte das Genos offensichtlich fort als eine hochelaborierte Kunstübung aus dem Munde frei improvisierender Sänger, die professionell in Sängerschulen herangebildet wurden und ihr Wissen und Können von Generation zu Generation weitergaben. Damit haben wir in der Frage des Anfangs des Vers-Epos den Schlußpunkt des heutigen Forschungsstandes erreicht. Zwar reicht die Gattung wahrscheinlich noch höher hinauf – das legen Forschungen zur indogermanischen Dichtersprache 9 10

Im einzelnen dargestellt in Latacz (2010), Anhang II, 379–387. West (1988) 152.

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nahe –, doch hier ist alles noch im Fluß. So halten wir fest: Der Anfang der literarischen Gattung ›Vers-Epos‹ lag nach heutiger Erkenntnis bereits spätestens im 16. Jh. v. Chr. – rund 800 Jahre vor Homer. Erstes Ende und erster Neuanfang Eine derart lebendige Erzähl-, Darstellungs- und Kommentierungskunst – Altes tradierend, im Bedarfsfall aber auch prompt auf Neues reagierend, konservativ wertbewahrend und grundsätzlich affirmativ – muß ihre Primärfunktion verlieren, wenn die soziale Schicht zusammenbricht, mit der sie im Zweckverbund gekoppelt ist. Dieser Fall ist in Griechenland in Form der Katastrophe des sog. Seevölkersturms um 1200 v. Chr. eingetreten. Die achaiische Führungsschicht der mykenischen Zeit wurde dezimiert und in die Flucht getrieben (Zypern, Kleinasien) und mit dem angestammten Siedlungs- und Handlungsraum auch ihrer Dynamik beraubt. Die Sängerkunst, die der Führungsschicht in die neuen Siedlungsräume folgte, vollzog die Wandlung mit: Da es aktuelles Heldentum und aktuellen Tatenruhm, den man hätte besingen können, nicht mehr gab, fror die Sangesübung den alten Themenbestand gewissermaßen ein. In der gewohnten Technik, die zu ändern kein Anlaß bestand, wurden während der sog. Dunklen Jahrhunderte die alten Geschichten um Argos/Mykene, Troia, Theben, Pylos, die Argonauten usw. in immer wieder neuen Versionen (mit reziproken Querverweisen) repetiert. Die Übung drohte zu erstarren. Seit etwa 800 trat mit dem neuen gesellschaftlichen Aufschwung (›Renaissance des 8. Jh.‹) 11 ein Wandel auch für das Vers-Epos ein. Bevölkerungswachstum, Erschließung neuer Ressourcen, Kolonisation, Handel, Innovationsschub und die mit alledem einhergehende tiefgreifende Erschütterung des vornehmlich konservativ-rückwärtsgewandten Wertesystems der in den Dunklen Jahrhunderten neu erstandenen neuen Oberschicht schlugen in die Aoidenkunst durch und bewirkten eine Funktionsänderung der Epik weg von der rühmenden Narrativität und hin zur problematisierenden Realitätsreflexion, also hin zu einer neuen Aktualisierungsfunktion, im Medium der beibehaltenen alten Stoffe (so wie später in der attischen Tragödie). Dazu kam – nicht minder wesensverändernd – ein sangestechnischer Umbruch: Um 800 fand im Rahmen des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels die neue (Phonem-)Schrift, von Phönizien her kommend und schnell an die sprachlichen Eigentümlichkeiten der griechischen Sprache angepaßt, Eingang in Griechenland. Mit dieser Phonemschrift wurde die alte Sängertechnik im Grunde genommen überflüssig: Das spontane Ersingen des Verses mit Hilfe von drei bis vier sinntragenden Wörtern (›Determinanten‹, ›Stahlpfosten‹), deren Verbindung durch ›Variable‹ (Partikeln, Adverbien) und mittels der Auffüllung der verbliebenen Freiräume – im Vers-Innern und besonders auch am Vers-Ende – durch ›Strauch-

11

Im einzelnen dargestellt in Latacz (4 2003) 67–73.

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werk‹ (insbesondere die lückenfüllenden epitheta ornantia) 12 konnte nun durch das Erdenken des Verses ersetzt werden. An die Stelle der ›Strauchwerk‹-Teile konnten nun ebenfalls streng kontextbezogene und damit durchgängig sinntragende Bedeutungselemente gesetzt werden, also weitere ›Stahlpfosten‹. Das führte zu Sinnkondensation und damit Kompaktheit des Hexameters (erkennbar schon in den frühesten erhaltenen hexametrischen Weih- und Grab-Inschriften, deutlich ausgebildet bereits bei Hesiod). Der Wesenskern und das enorme Wirkungspotential dieser Revolution der versepischen ›Produktionstechnik‹ ist nur zu verstehen, wenn die Generationensituation in einer Zeit des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit bedacht wird. Zu rechnen ist vereinfacht mit drei unterschiedlich betroffenen Sänger-Generationen: (1) Für die erste dieser drei Generationen kommt die Schrift-Einführung zu spät, als daß sie die poetische Technik der ihr angehörenden Sänger noch substantiell verändern könnte. (2) Die zweite Generation wird von der Schrift-Einführung in der Mitte ihrer Produktivitätsphase betroffen. Diese Sänger sind noch mit der alten Mündlichkeitstechnik großgeworden, haben sie bisher uneingeschränkt angewandt und können sie daher nicht mehr vollständig ablegen, erkennen aber die Chancen der neuen schriftlichen Kompositionstechnik sofort und übernehmen daher auch diese Technik. Das Ergebnis ist eine Mischtechnik. (3) Die dritte Generation ist rezeptiv noch mit den dichterischen Schöpfungen der ersten und zweiten Generation aufgewachsen (hat also einerseits noch improvisierende Aoiden gehört), andererseits aber auch – ebenso wie Inschriften auf Weihgaben und Grabstelen – regelrechte Hexameter-Dichtungstexte gelesen), geht aber schon ganz selbstverständlich mit der Schrift um. Den Mischungszustand der zweiten Generation bietet Homer dar, in der Ilias noch ausgeprägter als in der Odyssee (die auf dem Weg zur neuen Technik bereits weiter vorangeschritten ist). Er repräsentiert innerhalb des dreistufigen Prozesses den Übergang: Er verfügt noch über die alte Technik (›epische Sprechkompetenz‹), und er kennt schon die neue. Er ist noch ÇoidÏc, Sänger, und schon poiht†c, Macher. Locker, glatt und unbeschwert klingende Passagen im alten Stil der stichischen Reihung stehen bei ihm neben schweren und dichten Stücken, mit Sätzen, die sich über fünf bis sieben Verse hin erstrecken – nicht mehr parataktisch, sondern schon verschachtelt und oft gespickt mit ungewohnten Wörtern, die vergleichsweise unhomerisch klingen (daher mit der Verdachtsbezeichnung ›Hapax legomena‹ belegt werden und Athetesen-Impulse auslösen). Dieser Mischzustand ist nicht etwa ein Indiz für multiple Autorschaft (Mischung zeitlich früherer = ›guter‹ mit zeitlich späteren = ›schlechten‹ Produktionsstufen), sondern die logische Konsequenz aus der Technik-Entwicklung. Daß Homer genau diesen Zustand

12

Siehe die Arbeiten von Visser, oben. Anm. 8.

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repräsentiert, ist intuitiv, ohne Kenntnis der modernen Oral poetry-Forschungsergebnisse, schon früh erkannt worden: Johann Gottfried Herder hatte Homer schon 1767 mit einem Leuchtturm (»Pharus«) zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verglichen und präzisiert: »Und dieser Sänger Griechenlands trifft [. . . ] eben auf den Punkt – der schmal wie ein Haar und scharf wie die Schärfe des Schwerts ist –, da Natur und Kunst sich in der Poesie vereinigten« 13 (im Anschluß daran noch wesentlich erhellendere Definitionen). Da aber die epische Technik in diesem Übergangsstadium nicht verbleiben konnte und natürlicherweise zur vollständigen Verwirklichung des angebahnten dritten Stadiums, des reinen ›Machertums‹ (po–hsic), hindrängte, stellt Homer – solange wir aus diesem Zwischenstadium nur seine Schöpfungen kennen – für uns notwendig eine Singularität innerhalb der Gattungsgeschichte des Vers-Epos dar: Zwei offenbar schon von der Zeitgenossenschaft als optimal erkannte Werke dieses poetischen Zwischenstadiums konnten nun dank der Phonemschrift – auf welche Weise auch immer – fixiert werden und haben sich bis zu uns erhalten: Ilias und Odyssee. Beide Epen erzählen nicht vornehmlich, um zu erzählen (wie vermutlich die vorangegangenen und mit Gewißheit die nachfolgenden ›Thebaiden‹, ›Nestoriden‹, ›Herakleïden‹, ›Argonautika‹ usw.), sondern um durch Vorführung einer Krisis im erzählten Ereignisablauf längstbekannter alter Sängerstoffe (51 Tage aus dem sagenchronologisch rund 40 Jahre umfassenden Troia-Stoff im Fall der später sogenannten >Iliàc, 40 Tage aus dem rund 20 Jahre umfassenden Odysseus-Stoff im Fall der später sogenannten >Od‘sseia) aktuelle und menschlich wie sozial bedeutsame Zeitprobleme von Grund auf neu zu durchdenken: das Problem von Führerschaft und adeligem Wertekanon am Beispiel eines Persönlichkeitskonfliktes – Achilleus : Agamemnon – im einen, das Problem der Identitätssuche und -findung des Adligen – Odysseus – in einer sich bereits spürbar wandelnden Wertewelt im andren Falle. Der umfassende gesellschaftliche Wandel, der diesen verheißungsvollen Neubeginn innerhalb der Gattung veranlaßte, führte aber nur wenige Schritte weiter auch schon wieder zu seinem definitiven Abbruch – so daß Ilias und Odyssee in der Tat zu dem werden mußten, als was sie in aller Folgezeit stets empfunden wurden: zu poetischen Meisterwerken, zugleich aber gattungsgeschichtlichen Singularitäten. Denn die im 8. Jh. sich beschleunigende Umwälzung der alten Sozialstruktur führte einerseits zu einem rasanten Bedeutsamkeitsverlust der Adelsschicht alten Typs, in deren Dienst – mit veränderter Funktion (Zurücktreten reiner Narrativität zugunsten von Problematisierung) – auch Ilias und Odyssee noch gestanden hatten, und andererseits zu einer neuen literarischen Bedürfnislage: Die sog. ›strukturelle Revolution‹ bewirkte die Ablösung der früher dominierenden Großform ›Adelsepos‹, die der alten gesellschaftlichen Monostruktur entsprach, durch die nun nach oben drängenden kleinen Formen der ›Lyrik‹, die mit der multistrukturel-

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Herder (1767).

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len Sozialschichtung des sich anbahnenden Polisstaats korrespondierten. 14 Diese sozialen Entwicklungen, gepaart mit dem Umbruch der poetischen Technik infolge der Innovation ›Phonemschrift‹, bewirkten in der dritten Generation der Aoidenzunft die Hinwendung zur ausschließlichen Schriftlichkeit. Dieser kategoriale Wandel in Wesen und Funktion der Gattung, der ihr Weiterleben überhaupt erst möglich machte, verlangt nach einer tieferen Erklärung. Eine solche könnte darin bestehen, daß die jüngeren und jüngsten Vertreter der Aoidenzunft, die ja in einer ›neuen Zeit‹ aufgewachsen waren, die spezielle Eigentümlichkeit der Gattung nicht mehr durchschauten. Damit hätten wir das Überleben der Gattung einem grundlegenden Mißverständnis zu verdanken. Aus heutiger Sicht müßte dann freilich von einem höchst produktiven Mißverständnis gesprochen werden; denn aus ihm erwuchsen im Laufe der folgenden europäischen Literaturgeschichte Dichtungswerke, die uns nicht nur für die literarische, sondern auch und besonders für die allgemeine Kultur-Entwicklung der westlichen Welt als unverzichtbar erscheinen. Für diese Deutung lassen sich Indizien und Argumente auf besonders zwei Ebenen finden: (1) Die sprachliche Ebene Die Funktion des ›Strauchwerks‹ in der poetischen Technik des alten Vers-Epos wird nicht mehr durchschaut. Sie kann gar nicht mehr durchschaut werden, weil der schreibende Epos-Produzent ein Strauchwerk ja gar nicht mehr benötigt (also z. B. lückenfüllende Elemente wie Epitheta, Patronymika u. ä.), da er im voraus überlegen und infolgedessen an jede Stelle des Verses einen ›Stahlpfosten‹, einen mot juste, setzen kann. Dadurch wird der Vers allerdings dichter, kompakter, schwerer (auch für das Verständnis naturgemäß schwieriger: der reflektiert Schreibende zielt auf den reflektiert Lesenden, der ›lockere‹ Sprecher hatte auf den ›lockeren‹ Hörer gezielt). Das Resultat ist, daß der Vers nicht mehr gewohnt ›homerisch‹ klingt. Da der Schreibende aber dem ›Gattungsklang‹ natürlich nahebleiben, also ›homerisch‹ klingen möchte, beginnt er ›homerische‹ Klang-Elemente gezielt einzustreuen (homerische Epitheta, Patronymika, Formeln, Bilder, usw.), ahmt also bewußt nach. Aus Natur wird so, wie Herder (s. o.) schon erkannte, ›Kunst‹. Das ist ein kategorialer Unterschied. Die Kategorialität des Unterschieds wird aber weder vom Produzenten noch vom Rezipienten voll erkannt. Darin genau besteht die Produktivität des Mißverständnisses. Denn wäre die Kategorialität der Unterschiedlichkeit des alten und neuen Hexameter-Epos rational durchschaut worden, dann wäre die Unzerreißbarkeit von Technik und Qualität des alten Epos erkannt worden. Das aber hätte zugleich die Erkenntnis der unwiderruflichen Unerreichbarkeit Homers bedeutet. Damit wären der unermüdliche Überbietungs-Ehrgeiz (freilich auch die oft auf dem Fuße folgende Resignation oder gar Verzweiflung, durch die ein Großteil der nachhomerischen narrativen 14

Latacz (3 2004) 92–96.

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Hexameter-Epik von wirklich künstlerisch motiviertem Anspruch gekennzeichnet ist – z. B. Kallimachos, Vergil, später Goethe) gar nicht erst zustande gekommen. Das Mißverständnis erhält also die Gattung am Leben. (2) Die soziologische Ebene Die Schichtgebundenheit des alten Epos (die Adelsbindung) wird nicht mehr durchschaut. Wäre das Epos als Ausdruck einer zeitbedingten Sozialstruktur erkannt worden, dann wäre es in die Gefahr geraten, als ›reaktionäre‹ Literaturform (gegenüber den neuen kleinen Formen, besonders den durch den ›Ich‹-Modus gekennzeichneten) 15 verworfen zu werden. Es wurde jedoch als zeitlos freie Form verstanden. Damit wurde es seiner authentischen Funktion entkleidet und zum multifunktionalen Transportgefäß umfunktioniert. Dadurch wiederum wurde das Epos aus einer inhaltlich eng begrenzten Standesdichtung zu einer für beliebige Zwecke und soziale Schichten einsetzbaren metrischen (hexametrischen) Leerform. Der zweite Neuanfang und das Ende Die Anfangsphase der neuen Entwicklung stellt für uns, die wir aus dieser Frühzeit des Vers-Epos nur noch Reste haben, 16 in beiden Hinsichten (sprachlich und soziologisch) Hesiod dar. Sprachlich: Hesiod kennt die mündliche Technik zwar noch und nutzt sie aus (durch Verwendung der alten mündlichkeitsbedingten Junkturen, Formeln und Erzählmuster), konzipiert, versifiziert und komponiert aber deutlich bereits schriftlich. Treffend hat man seine Technik demgemäß eine »oralità di riflesso« genannt. 17 Mit ihr ist der Übergang im wesentlichen abgeschlossen: Aus dem mündlichen Improvisations-Epos, das nur als jeweils einmaliger, unfixierter Vortrag coram publico realisiert worden war, ist das Schrift-Epos geworden – im voraus aufgeschrieben, auswendiggelernt und auswendig vorgetragen, schriftlich tradiert. Damit hat sich auch die Existenzform des ›Produzenten‹ gewandelt: aus dem Aoiden ist der Rhapsode geworden. – Soziologisch: Hesiods hexametrische Gedichte sind nicht mehr narrative Adelsdichtung zur Standesrühmung mit dem untergründigen Ziel der Selbstvergewisserung, Selbstrechtfertigung und, wie bei Homer, Selbstproblematisierung, sondern aufklärende Sachdarstellungen, die sich ausdrücklich gegen den Adel richten (dwrofàgoi basil®ec; Mahnung zur d–kh, also einer schichtübergreifenden Norm). Mit dieser neuen Nutzung der Leerform ›Hexameter-Epos‹ wird Hesiod (jedenfalls für uns) zum Begründer eines ganz neuen Epos-Typus: des Sach-Epos (in der Theogonie ist die dargestellte Sache die Entstehung der Welt und der Götter, in den Erga ist es die Lebensform und der Wertekanon des kleinen Grundbesit15 16 17

Latacz (3 2004) 144–146. S. Graphik I. Rossi (1971). – Genaueres zu Hesiods Stellung in der Gattungsgeschichte des Vers-Epos: Latacz (3 2004) 92–96.

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zers). Die Sache wird dargestellt, nicht um sie schulmäßig zu lehren, sondern um aus ihrer vollen Erfassung zwingende Folgerungen für die Lebensführung und die Weltsicht (im Sinne Hesiods) abzuleiten und anderen nahezulegen. (In der Folge ist diese ›weltanschauliche‹ Funktion der Hesiodischen Epen ihrerseits produktiv mißverstanden worden: Theogonie und Erga wurden als ›Lehrbücher‹ aufgefaßt – daher sprechen auch wir von ihnen immer noch fälschlich als von ›Lehrgedichten‹ – und haben dadurch Imitationsprodukte wie die hellenistischen und kaiserzeitlichen Fischfang-, Giftsorten-, Astronomie-, Grammatik- usw. -Lehrgedichte evoziert – die oft freilich wohl nur die ›poetische‹ Brillanz ihrer Verfasser demonstrieren sollten). Der durch dieses zweifache Mißverständnis bewirkte Wandel von Wesen und Funktion des hexametrischen Vers-Epos hat das Fortleben der Gattung in einer bis dahin unbekannten Typenvielfalt ermöglicht. Neben diversen Wiederbelebungsversuchen des narrativen Typus (im 4. Jh. und im alexandrinischen Umkreis des Museions) entstanden zahlreiche neue Varianten (s. Graphik I). Der bei weitem produktivste Typus war das Sach-Epos, das in der Folge weitere Varianten (und Subvarianten) hervorbrachte. Die beiden wichtigsten, da lebens- und zeugungskräftigsten, Varianten sind das sog. ›Lehrgedicht‹ und das historische Vers-Epos, die sich beide über die Sprachgrenze zwischen Griechisch und Latein schon lange vor der offiziellen Einverleibung Griechenlands ins Römische Reich nach 146 v. Chr. (Schlacht am Isthmos von Korinth, als Achaea an die römische Provinz Macedonia angegliedert wurde) hinweggesetzt hatten: die historische Variante (letztlich natürlich stets mit der Homerischen Ilias vor Augen) von Choirilos v. Samos um 400 v. Chr. über Naevius’ Bellum Punicum (um 200 v. Chr.), Ennius’ Annales (bis ca. 170 v. Chr. reichend), z. T. dann Vergils Aeneis, Lucans Pharsalia, Claudians Goten-Epen usw. bis – die zweiten europäischen ›Dunklen Jahrhunderte‹ überspringend – hinunter zu den mittelalterlichen und Renaissance-Epen und schließlich zu Voltaires ›La Pucelle‹ von 1762. Schon Aristoteles hat in der Poetik erkannt, daß diese Varianten gegenüber dem Vers-Epos in seiner authentischen Funktion (die er – wie noch wir – in Ilias und Odyssee repräsentiert sah) etwas kategorial Andersartiges darstellen und daher qualitativ abfallen (das Verdikt über das Lehrgedicht, am Beispiel des Empedokles: 1447b16: oŒd‡n d‡ koinÏn ‚stin ìOmhron (Posthomerica) (3. Jh. n.) 5. *Triphiodoros: >Il–ou ìAlwsic (um 300) 6. *Claudianus: Gigantomaq–a, De raptu Proserpinae (um 400) 7. *Nonnos: Dionusiakà (5. Jh.) 8. *Ps.-Orpheus: >Argonautikà (um 500) 9. *Kolluthos: Ifikl®a, / ÇmfotËrouc lo‘sasa ka» ‚mpl†sasa gàlaktoc, / qalke–an katËjhken ‚c Çsp–da . . . ), Moschos’ Europa (1: EŒr∏p˘ pot‡ K‘pric ‚p» glukÃn ©ken Óneiron) sowie das durch die Diegesis als erster 18

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Vgl. auch den letzten Vers von Arats Prooimion (14: Tƒ min Çe» pr¿tÏn te ka» ’staton …làskontai). Vergleichbare Anfangsgesten finden sich in den Kallimacheischen Hymnen, etwa in 3.4 (ärqmenoi ±c . . . ) und 4.4–6 (. . . D®loc d+ ‚jËlei tÄ pr¿ta fËresjai / ‚k MousËwn, Ìti Foÿbon Çoidàwn medËonta / lo‹sË te ka» spe–rwse ka» ±c je‰n ¶nese pr∏th). Zu den Implikationen der letzteren Passage vgl. Hardie (2016) 121–31, zur Verbindung mit der Geburts- und Kindheitsgeschichte siehe unten 3.3. Vgl. den Begriff ›snapshots of myth‹ bei Sistakou (2009a); ähnlich Billault (2008) 333 zu den mythologischen Eidyllia Theokrits: »Dans le temps des mythes, en effet, le commencement est obscur et la fin hypothétique.« Mit narrativen Ellipsen im hellenistischen Epyllion und bei Catull, allerdings nicht spezifisch auf Anfang und Ende bezogen, befasse ich mich in Ambühl (2014). Vgl. allgemein Fantuzzi/Hunter (2004) 192, 198 f. und Sistakou (2009a) 296 f., 299, 307, 313; Bühler (1960) 47 f., Campbell (1991) 26 f. und Hunter (2004) 95 zu Moschos; Harder (2004) 72 und Gutzwiller (2012) 233 f. zur Hekale; Hunter (2004) 84, 86 zu Theokrit unter Hinweis auf lyrische Parallelen (vgl. Nünlist [2007b] 233 f., 247 f. zu Pindar und Bakchylides); zur Verwendung von potË in den narrativen Passagen der Homerischen Hymnen vgl. Nünlist (2007a) 60 und Baumbach (2012) 144. Generell zu den rhapsodischen Homerischen Hymnen als strukturellen Modellen der hellenistischen Epyllien vgl. Petrovic (2012), zu Pindar Luz (2012) und zur frühgriechischen Dichtung überhaupt Morrison (2007). Zu solchen narrativen Einsätzen im komparatistischen Sprachvergleich siehe auch Orlandini/Poccetti (2008) 237–42.

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Narrative Potentiale von Anfängen und Enden im hellenistischen (Klein-)Epos

Vers von Kallimachos’ Hekale bezeugte Fragment 1 Hollis (>Akta–h tic Ínaien >EreqjËoc Ín pote gounƒ). 21 Auch die eingelegte Erzählung von der Blendung des Teiresias in Kallimachos’ elegischem fünftem Hymnos, dem Bad der Pallas, wird auf dieselbe Weise eingeführt (57 f.: paÿdec, >Ajana–a n‘mfan m–an Ín poka J†baic / poul‘ ti ka» pËri dò f–lato tên ·tarên . . . ); im sechsten Hymnos ist genau der Vers, der zum Mythos von Erysichthon überleitet, unvollständig überliefert (23), doch beginnt die Erzählung auch hier mit einer mit temporalen Markern versehenen Zustandsbeschreibung (24: o÷pw tÄn Knid–an, Íti D∏tion …r‰n Ínaion), nach der dann einige Verse später die eigentliche Handlung einsetzt (31 f.: Çll+ Ìka Triop–daisin  dexi‰c äqjeto da–mwn, / toutàkic Å qe–rwn >Erus–qjonoc âyato bwlà). Diese sprachlichen Signale, die sich offenbar analog zu vergleichbaren Entwicklungen in der Bukolik durch intertextuelle Bezugnahmen auf die jeweiligen Vorgängertexte zu einer Art von immanentem Gattungssignal entwickelt haben, 22 suggerieren gewissermaßen einen ›natürlichen‹ Anfangspunkt der Erzählung, der den erzählten Ausschnitt an einem mehr oder weniger vagen Platz in einem größeren mythischen Kontext verortet. Doch wäre es gerade im Fall des hellenistischen Kleinepos, das ohnehin keine festen Gattungskonventionen kennt, verfehlt, aus diesen Beispielen eine normative Regel ableiten zu wollen. In der Tat gibt es Gegenbeispiele, wo die mythologische Erzählung unvermittelt beginnt, ohne an einem – wenn auch oft vagen – Punkt in Zeit und Raum situiert zu werden. Eine Zwischenstufe bildet Theokrits 26. Eidyllion, die Lenai oder Bakchai, die in den Eingangsversen zwar eine eindeutig identifizierbare mythische Situation skizzieren, jedoch ohne explizite räumliche oder zeitliche Markierungen (26.1 f.: >In∞ kaŒtonÏa qÇ malopàrauoc >Aga‘a / treÿc jiàswc ‚c Óroc treÿc ägagon aŒta» ‚oÿsai). 23 Die Nennung der drei (thebanischen Schwestern) Ino, Autonoe und Agaue, die ihre (dionysischen) Thiasoi auf den Berg (Kithairon) führen, ruft in den Rezipienten, die die in Klammern genannten Informationen leicht aus ihrer Kenntnis des Mythos ergänzen können, die Erinnerung an Euripides’ Bakchen auf. Deren Hauptakteur Pentheus wird allerdings erst einige Verse später ebenso unvermittelt als verborgener Ausspäher eingeführt (10: PenjeÃc d+ Çlibàtw pËtrac äpo pànt+ ‚je∏rei . . . ), der gleich darauf von seiner Tante Autonoe entdeckt (12: AŒtonÏa pràta nin ÇnËkrage dein‰n  doÿsa . . . ) und daraufhin von ihr und ihren rasenden Schwestern zerrissen wird (15–26). Theokrits 26. Eidyllion erweist sich somit als eine sehr stark komprimierte und großenteils aus der Perspektive der Bakchen re-fokussierte Nach- oder Neuerzählung von Euri21

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Clausen (1986) 164 f. führt lateinische Beispiele an, darunter Catulls Carmen 64.1 f. (Peliaco quondam prognatae vertice pinus / dicuntur liquidas Neptuni nasse per undas), wo quondam in Verbindung mit dicuntur nicht nur die mythische, sondern im Sinne einer ›alexandrinischen Fußnote‹ auch die literaturgeschichtliche Vergangenheit markiert (vgl. Bartels [2004] 23 mit Anm. 24). Zur Bukolik vgl. Nauta (1990). Vgl. Hunter (2004) 85 und Morrison (2007) 242.

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pides’ Drama in sechsundzwanzig Versen, mit einem darauf folgenden Epilog des Erzählers in zwölf Versen. 24 Der erzählte Ausschnitt konzentriert sich nach einer deutlichen Anspielung auf den Beginn des ersten Botenberichts der Bakchen (677–774), wo die drei Thiasoi beschrieben werden (680–82: Âr¿ d‡ jiàsouc treÿc gunaike–wn qor¿n, / ¡n ™rq+ ·n‰c m‡n AŒtonÏh, to‹ deutËrou / m†thr >Agauò s†, tr–tou d+ >In∞ qoro‹), vor allem auf die im zweiten Botenbericht (1043–152) geschilderten Ereignisse um die Zerreißung des Pentheus. Doch lassen sich auch Anspielungen auf den Prolog des Dramas erkennen, wo Dionysos seine Tanten erwähnt, die er in Raserei versetzt und auf den Kithairon geschickt habe (26–38; vgl. 62 f.), sowie auf die Parodos, wo der Ruf ›e c Óroc e c Óroc‹ als Refrain fungiert (116, 163). 25 Wenn das 26. Eidyllion als ein in sich geschlossener Text gelesen wird, wirkt der Beginn abrupt, da keinerlei Informationen zur Vorgeschichte der beschriebenen Ereignisse gegeben werden, während das durch ein etymologisches Wortspiel betonte Ende, die Rückkehr der Bakchen mit dem zerstückelten Leichnam des Pentheus nach Theben, den natürlichen Abschluss der Erzählung zu bilden scheint (25 f.: ‚c J†bac d+ Çf–konto pefurmËnai a—mati pêsai, / ‚x Óreoc pËnjhma ka» oŒ Penj®a fËroisai). 26 Im Licht des euripideischen Prätextes ergibt sich jedoch gerade das umgekehrte Bild. Der Beginn des Eidyllion ist nämlich durch intertextuelle Verweise auf die Eingangspassagen der Bakchen und den Beginn des ersten Botenberichts als narrativer Neueinsatz markiert, wohingegen das Ende sich bei näherer Betrachtung als Pseudo-›closure‹ entpuppt, da die Folgen der Tat gar nicht in den Blick genommen werden. 27 Dieser Eindruck wird durch den anschließenden Epilog des Erzählers (27–38) noch verstärkt, der sich weigert, die in der Exodos von Euripides’ Bakchen disputierte Frage von Pentheus’ Schuld und der Angemessenheit der Strafe überhaupt in Erwägung zu ziehen (27–30: OŒk ÇlËgw mhd+ älloc ÇpeqjomËnw Dion‘s˙ / front–zoi, mhd+ e  qalep∏tera t¿nde mog†sai / . . . / aŒt‰c d+ eŒagËoimi ka» eŒagËessin âdoimi). Damit nimmt 24

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27

Literarisch ausgewertet werden die intertextuellen Bezüge zu Euripides nach den Parallelstellenlisten in den Kommentaren von Gow (1952) 475–84 und Dover (1971) 263 f. vor allem von Cairns (1992), der den Schwerpunkt auf die rituellen Aspekte legt, und Cusset (1997), der den Text als intertextuelle ›réécriture‹ liest; vgl. auch Cussets Kommentar (2001). Vgl. auch die (unechten?) Verse 229 f. aus dem Auftrittsmonolog des Pentheus: [>In∏ t+ >Agau†n j+, ° m+ Ítikt+ >Eq–oni, / >Akta–onÏc te mhtËr+, AŒtonÏhn lËgw]. Zum Wortspiel Pentheus – pËnjhma / pËnjoc (Leid) vgl. die von den Kommentatoren angeführten Stellen Euripides Ba. 367 und 507 f., aber auch die (unechten?) Verse 1244 f. des Kadmos [¬ pËnjoc oŒ metrht‰n oŒd+ oŸÏn t+  deÿn, / fÏnon tala–naic qers»n ‚xeirgasmËnwn], die dem Kontext bei Theokrit noch besser entsprechen. ›Closure‹ wird hier im dritten (»The degree to which an ending is satisfyingly final«) und vierten Sinn (»The degree to which the questions posed in the work are answered, tensions released, conflicts resolved«) nach Fowler (1989) 78 und (1997) 3 verstanden. Zum verwandten Phänomen der ›false closure‹ siehe jetzt Grewing/Acosta-Hughes/Kirichenko (2013).

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er quasi die Rolle des euripideischen Boten ein, der es vorzieht, mit einem moralisierenden Kommentar von der Bühne zu verschwinden, bevor Agaue mit dem Haupt des Pentheus auftritt (1148–52: ‚g∞ m‡n ofin 〈t®id+〉 ‚kpod∞n t®i xumforêi / äpeim+, >Agauòn pr»n moleÿn pr‰c d∏mata. / t‰ swfroneÿn d‡ ka» sËbein tÄ t¿n je¿n / kàlliston; o⁄mai d+ aŒt‰ ka» sof∏taton / jnhtoÿsin e⁄nai kt®ma toÿsi qrwmËnoic). 28 Auch wenn über den Entstehungskontext und den Zweck der Komposition nur spekuliert werden kann, präsentiert sich das 26. Eidyllion jedenfalls in formaler Hinsicht als eine gezielt auf die essentiellen narrativen Elemente reduzierte dramatisierte Szene, quasi als episches Fragment eines tragischen Botenberichts. Ein ähnliches Verfahren lässt sich an zwei weiteren Beispielen beobachten, die sich beide um den Mythos von Herakles drehen. Das unter dem vom RenaissanceHerausgeber Callierges stammenden Titel Herakles Leontophonos (Herakles der Löwentöter) überlieferte 25. Gedicht aus dem Corpus Theocriteum setzt noch abrupter ein als das 26. Gedicht, nämlich mit einer epischen Formel, die ein Gespräch einleitet (25.1: T‰n d+ Â gËrwn prosËeipe bo¿n ‚p–ouroc Çrotre‘c). Unter dem Vorbehalt, dass es sich dabei nicht um ein Textproblem handelt – was nicht grundsätzlich auszuschließen ist, da das überlieferte Ende des (allerdings nicht in der handschriftlichen Tradition) vorangehenden 24. Gedichts, das summarisch die Erziehung des jungen Herakles zusammenfasst, durch einen Papyrusfund um rund dreißig weitere fragmentarische Verse ergänzt wurde –, ist dies ein ausgesprochen unüblicher Beginn für ein selbstständiges Werk. 29 Die Partikel dË suggeriert, dass es sich um die Fortsetzung einer bereits begonnenen Erzählung handle. Die angesprochene Person wird mit dem anaphorischen Pronomen tÏn bezeichnet, ohne dass zuvor eine innertextliche Bezugsperson genannt worden wäre, und der greise Sprecher wird nicht näher identifiziert; zudem kündigt dieser an, die offenbar zuvor gestellte Frage des Fremden nach den Herden des Augias bereitwillig zu beantworten (3: Ík toi, xeÿne, prÏfrwn muj†somai Ìss+ ‚ree–neic . . . ). Dieser merkwürdige Beginn passt allerdings perfekt zum ungewöhnlichen Charakter des gesamten Kleinepos, in dem der Protagonist Herakles für seine Gesprächspartner anonym bleibt – auch in seinem eigenen Interesse, da das weitgehend vermiedene eigentliche Thema des Gedichts, die Reinigung der Ställe des Augias, nicht gerade zu seinen heroischsten Taten zählt. 30 Stattdessen schildert der Erzähler im zweiten 28

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Cairns (1992) 10–21 und Morrison (2007) 242–45, 270 identifizieren den Sprecher von Theokrit 26 mit einem Knabenchor, während Cusset (1997) 457 ihn ebenfalls mit dem Boten assoziiert (offener Cusset [2001] 18, 28 f., 109 f.). Zur Frage der Textüberlieferung vgl. Gow (1952) 436–38, der dazu neigt, dass der Beginn von Id. 25 vollständig überliefert sei, was Schmitz (2012) 260–63 mit weiteren Argumenten bekräftigt. Auch Chryssafis (1981) 27 ad loc. und Kurz (1982) 15 gehen von einem bewusst abrupten Beginn aus; vgl. Hunter (2004) 88. Für ausführlichere Interpretationen des Gedichts unter besonderer Berücksichtigung von dessen elliptischer Erzählweise siehe u.a. Zanker (1996), Hunter (1998) und Fantuzzi/ Hunter (2004) 210–15, Ambühl (2010) 160–63 und Schmitz (2012).

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Abschnitt des Gedichts den Kampf des Helden mit dem Leitstier Phaethon (85– 152) und im dritten und längsten Teil berichtet Herakles selbst von seinem Sieg über den Nemeischen Löwen und der Gewinnung des Löwenfells (153–281). Im Vergleich zum Beginn des Gedichts sind die Anfänge und Enden der übrigen Teile jeweils deutlicher in epischer Weise wie homerische Buchanfänge und Buchenden markiert, die ja wohl ungefähr zeitgleich von der alexandrinischen Homerphilologie eingeführt wurden, mit typisch hellenistischen subtilen Modifikationen von homerischen Versen und unterstützt durch (originale?) Zwischentitel. 31 Chronologisch gesehen bildet dabei Herakles’ Erzählung vom Nemeischen Löwen, mit der der dritte Teil endet, eigentlich den Anfang der Geschichte. Lässt sich die auffallend unmarkierte Struktur des Anfangs daher als ein Indiz dafür deuten, dass das Gedicht auch in umgekehrter Reihenfolge gelesen werden könnte und der Beginn wiederum an das Ende anschließt? Das Gedicht ließe sich somit als eine Art ›kyklische‹ Herakleis in drei ›Büchern‹ lesen, bei der die drei Teile mit den kanonischen und nicht kanonischen Arbeiten des Herakles – der improvisierte Stierkampf antizipiert die spätere Bändigung des Kretischen Stiers – sich zu einem Ring zusammenschließen und die Lektüre theoretisch an jedem beliebigen ›Buchanfang‹ (sozusagen einer Miniatur-›Buchrolle‹) einsetzen kann, zumal das emblematische Löwenfell in allen drei Teilen eine zentrale Rolle spielt – im ersten Teil provoziert es die Neugier des Greises (62–7), im zweiten Teil den Angriff des Stiers (142–44), und der dritte Teil liefert schließlich das Aition nach. 32 Zugegebe31

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Teil 1: HRAKLHS PROS AGROIKON, mit dem oben zitierten Eingangsvers 1 und dem Schlussvers 84; Teil 2: EPIPWLHSIS, mit dem Anfangsvers 85 f. und dem Schlussvers 152; Teil 3: [HRAKLHS LEONTOFONOS], mit den Anfangsversen 153 f. und den Schlussversen 280 f. Vgl. Gow (1952) 438: »[The three sections] begin and end much like books of the Iliad and the Odyssey; and the first two have titles resembling those attached to sections of Homer [. . . ].« Gow (442 ad loc.) wendet dasselbe Prinzip auch auf den Beginn des ersten Teils an: »[. . . ] the heading is probably suggested by that of Od. 14 [. . . ]. 1 f. dË: the opening most closely resembles that of Od. 9 [. . . ], but many books in both Homeric poems are connected by dË with what precedes.« Zur inhaltlichen Subversion in Verbindung mit der formalen Variation homerischer Sprach- und Stilmerkmale vgl. Gutzwiller (1981) 30–8, Kurz (1982) 15–47 und Hunter (1998) 118 f., 122–24. Zu solchen Herakles-Epen vgl. Hunter (1998) 128 und Ambühl (2010) 156 f. Natürlich ist die Ästhetik aber eine ganz andere als die der kyklischen Epen (vgl. Cozzoli [2016]). – Die Ekphraseis vom Körbchen in Moschos’ Europa und vom Hirtenbecher in Theokrits erstem Eidyllon, die ebenfalls jeweils drei nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnete Szenen präsentieren (in Analogie zur dreiteiligen spatiotemporalen Struktur der Europa insgesamt: vgl. Sistakou [2016]), dabei aber nur einen Ausschnitt des ganzen Gedichts bilden, sind von Petrain (2006) in Analogie zu hellenistischen visuellen Medien gesetzt worden; zur ›reader supplementation‹ analog zur ›viewer supplementation‹ in Id. 25 vgl. Zanker (1996) und (2004) 89–95. Zur Ästhetik der Miniaturisierung vgl. auch Acosta-Hughes (2012) und gerade zur Verbindung von textuellen und visuellen Miniaturisierungsstrategien in den Tabulae Iliacae Squire (2011) und Petrain (2014).

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Narrative Potentiale von Anfängen und Enden im hellenistischen (Klein-)Epos

nermaßen wäre es wohl schwierig, in der antiken Literatur eine Parallele für einen solchen interaktiven Text zu finden, mit Ausnahme von durch die Leser selbst nach ihren eigenen Bedürfnissen zusammengestellten Gedichtbüchern und Anthologien. 33 Als drittes Beispiel soll nun noch das dem Moschos zugeschriebene Kleinepos Megara betrachtet werden. Im Unterschied zum eben betrachteten Gedicht besteht hier kein Zweifel daran, dass der überlieferte Beginn bewusst so gestaltet ist. Der Text setzt ohne auktoriale Einleitung mit einer direkten Rede ein (1–3): Ek Di‰c Çrq∏mesja. Arat. Phaen. 1 e Theocr. XVII 1, MD 5, 1980, 163–72. Fantuzzi, Marco/Hunter, Richard L.: Tradition and Innovation in Hellenistic Poetry, Cambridge 2004. Fowler, Don P.: First Thoughts on Closure: Problems and Prospects, MD 22, 1989, 75–122.

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Christiane Reitz (Rostock)

Das Unendliche beginnen und sein Ende finden Strukturen des Aufzählens in epischer Dichtung 1

Die Frage des Beginnens und Endens und die Problematik der großen Zahl ist ein wiederkehrendes Element in epischen Katalogen, vor allem in Truppenkatalogen. An anderem Ort habe ich zu zeigen versucht, dass diese von Beginn der epischen Tradition an vorhandene Bauform in besonderer Weise zum Ort und zum Gegenstand von Gattungsexperimenten werden kann. So wandelt sich z. B. der Katalog entweder im Munde einer Erzählerperson in eine Teichoskopie und hat damit Teil an den dramatischen Gattungen, wie es z. B. in Statius’ Thebais der Fall ist, wenn die thebanischen Kämpfer von einem intradiegetischen Erzähler von der Mauer herab vorgestellt werden (Stat. Theb. 7,243–373). Oder der Katalog gerät im Kontext eines Gastmahls zu einer proleptischen Rede, beinahe wie die eines Feldherrn vor der Schlacht. Dafür ließe sich als Beispiel der Katalog der Krieger anführen, den Aietes auf Nachfragen beim Gastmahl beginnt, dann aber wegen der übergroßen Zahl abbricht (Val. Fl. 5,576–606). 2 Ein weiteres traditionelles und nahezu unabdingbares Element epischen Erzählens, der Musenanruf, hat seinen Platz nicht nur zu Beginn epischer Dichtungen oder in Binnenproömien, sondern spielt in den Katalogen eine wichtige Rolle. Diesen Befund kann man mit Überlegungen zum Entstehen von Katalogdichtung zu begründen suchen, aber diese Frage soll hier außer Acht bleiben. 3 Wichtig für meine Zwecke ist die Tatsache, dass – ebenfalls bei Homer beginnend – im Katalog, also nicht oder nicht notwendig nur zu Beginn eines Epos oder in Apostrophen, ein konventioneller Ort ist, um die Autorstimme und die Frage nach Anfang und Ende vernehmbar zu machen.

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Ich danke den Organisatoren der Tagung in Münster für die Einladung und die Aufnahme des überarbeiteten Beitrags in den Sammelband. Meine grundsätzlichen Überlegungen konnte ich dann auch bei einem Vortrag an der Universität Heidelberg und vor allem in einem Panel zu »Lists and Catalogues« bei der Celtic Conference in Classics, Edinburgh 2014, diskutieren. Davon habe ich sehr profitiert. Reitz (2013). Zur Frage, ob Listen und Kataloge eine eigenständige Gattung darstellen und in welchen performativen Kontexten sie ihren Platz haben, vgl. die Überlegungen von Asper (2007) 18–26, die sich auch auf poetische Texte verallgemeinern lassen.

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Das Unendliche beginnen und sein Ende finden

Gibt es also, so frage ich, für das Auftreten dieser Autorstimme bestimmte Anlässe, bestimmte Konventionen, gibt es auf Leser- oder Hörerseite Erwartungen dazu? Wie konstant, wie fix sind diese auktorialen Elemente und was können wir aus ihrer Untersuchung für die Konstanten und für die Innovationen in der epischen Tradition generell abzuleiten versuchen? Dazu möchte ich in diesem Beitrag zwei Bereiche ansprechen, um aus ihnen Hypothesen abzuleiten, die über die bloße Beschreibung des Vorhandenen hinausgehen und in eine metapoetische Dimension weisen. Diesen beiden Bereichen entnehme ich auch das Belegmaterial, mit dem ich mich im Folgenden beschäftigen werde. Zum einen geht es um auktoriale Äußerungen in epischen Katalogen. Zum anderen geht es um das Bedürfnis oder doch die Möglichkeit des Auflistens und Aufzählens an anderen Orten, also gewissermaßen der Option, einen Katalog einzufügen, ohne dass das jeweils in extenso dann auch geschehen muss. Der Ort solcher Aufzählungen befindet sich häufig innerhalb von Figurenreden, die für den Fortgang der Handlung von besonderer Bedeutung sind, also z. B. den Reden von prophetischen Charakteren. 4 Zum Musenanruf hat unlängst Claudia Schindler Wesentliches präzise zusammengefasst. 5 In glücklicher Formulierung weist sie darauf hin, dass die Invokatio als »Synonym für das poetische Programm eines Dichters« aufgefasst werden kann. Sie diskutiert auch die vorgetragenen Motivationen für das Ersuchen um Beistand, insbesondere den »Wissensvorsprung der angerufenen Gottheit in ihrer Eigenschaft als Augenzeuginnen und Chronistinnen«; oder, um eine Begrifflichkeit des Basler Homerkommentars (zu Il. 2,484/93) aufzugreifen, es geht um »Leistungsfähigkeit und Stoffwissen«. Ebenso identifiziert Schindler in ihrer Übersicht andere Instanzen in der Inspirationsbitte und geht nicht nur auf die literarische Tradition, sondern auch auf deren Parodien und auf die Distanzierung von der Tradition ein. Ich brauche deshalb hier nicht ausführlicher zu werden. Neben der Invokatio finden die auktorialen Elemente innerhalb eines Kataloges ihren sprachlichen Ausdruck in den Begriffen von ›Beginnen‹ und ›Enden‹ und im Zählen. Das Zählen und Aufzählen findet natürlich in den Listen selbst statt, wie an den gliedernden Partikeln (›der erste, dann, darauf folgend, schließlich . . . ‹) ohne weiteres ersichtlich. Aber es wird auch immer wieder innerhalb der einzelnen, zählbaren Elemente auf Zahlen oder auf die Zählbarkeit verwiesen. Auch diese Hinweise auf das ›Geschäft‹, die Aufgabe des Katalogdichters oder des intradiegetischen Erzählers möchte ich unter bestimmten Bedingungen zu den metapoetisch deutbaren Elementen rechnen. Den Hintergrund und Anfang einer solchen Untersuchung müssen die bekannten Verse des Iliasdichters (Il. 2,484–93) bilden. Dort wird in die Bitte um Beistand der Musen die Begründung für diese Bitte gleich mit eingeflochten: Allein sei das Unterfangen, die Namen (o— tinec, 487) und Anzahl (plhj‘n, 488) der

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Walter (2014). Schindler (2012), bes. 185–200; hier 192, 194.

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nach Troja gesegelten Anführer und Schiffe zu erinnern und zu nennen, nicht zu bewältigen. Auch zehn Münder wären nicht genug. Das bedeutet doch, dass schon an der Stelle, die für unsere Tradition den Prototyp des Katalogs darstellt, die Aufgabe der vollständigen Auflistung zu Beginn einer quantitativen Abschätzung unterzogen wird, in diesem Fall das Vermögen eines Dichters oder von zehn Dichter(mündern) im Verhältnis zur erwarteten Leistung und zum göttlichen Beistand. Zu dieser Stelle vergleichen die Iliasscholien eine Passage aus dem 12. Gesang der Odyssee, wo Kirke spricht (›20 Hände und Füße könnten den Felsen der Skylla nicht erklimmen‹, Od. 12,78). Im Basler Kommentar wird hierfür der Begriff der »hyperbolischen Zahlen« eingeführt. Bei Apollonius Rhodius wird zum Auftakt des Argonautenkatalogs im ersten Buch ebenfalls der Beistand der Musen erbeten. Orpheus wird als erster genannt: pr¿ta . . . mnhs∏meja (1,23). Am Ende des langen Kataloges wird zusammengefasst: tÏssoi – so viele Gefährten hatten sich wegen des Aisoniden versammelt (1,228). Also wird zwar nicht explizit, aber doch implizit gezählt. Der Auftakt mit der Bitte um göttlichen Beistand ist in Variationen auch in der lateinischen Epik konstitutiv für den Katalog. Dabei spielt die Erinnerung und Vergegenwärtigung eine große Rolle: meminisse und memorare 6 sind Vermögen der Musen, der Dichter allein wäre auf den Hauch des Gerüchts, die tenuis famae aura (Aen. 7,646) angewiesen. Der erneute Anruf der Musen im siebten Buch der Aeneis ist also zunächst als Beginn eines zwar integrativen, aber doch klar abgegrenzten Elements epischen Erzählens zu betrachten, und das heißt zugleich als ein Anfang innerhalb des Erzählten und als eine Kommentierung des dichterischen Tuns. Besonders gut erkennbar wird das, wenn man sich die Weiterentwicklung in der flavischen Epik ansieht. Valerius verdoppelt dieses Beginn-Motiv im Truppenkatalog zu Beginn des 6. Buches, vor der Schlacht zwischen Skythen und Kolchern, und hebt dabei auf die Augenzeugenschaft der Muse einerseits ab (hinc age . . . furores quos videris, / Musa, mone, 6,33 f.). Diese Invokatio wird aber andererseits relativiert und zugleich überhöht durch die begründende Einschränkung des eigenen Vermögens: verum ego nec numero memorem nec nomine cunctos / mille vel ora movens (36 f.). Das Motiv der 10 Münder, die nicht ausreichen, ist gesteigert zu tausend Mündern. Die Zahl der Namen, die zu nennen sein werden, ist ein vorerst noch unkonkreter Superlativ: Keine andere Region ist volkreicher als die, aus der die Feinde sich versammelt haben (neque enim plaga gentibus ulla ditior, 6,37). Daher also bedarf der Dichter besonders des Beistandes. 7 Statius zu Beginn des Argiver-Katalogs in der Thebais teilt diese topischen Bestandteile des Anrufes auf. Den Beginn markieren Fama und Vetustas, deren Aufgabe das Erinnern und Perpetuieren menschlicher Existenz ist, und dann wird erst die Muse genannt, die mit dem tiefen Verständnis begabt ist (altior mens,

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Vgl. z.B. meministis, memorare potestis, Verg. Aen. 7,645. Vgl. Baier (2001) zu 6,33–4.

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Das Unendliche beginnen und sein Ende finden

Theb. 4,32–8). Das Motiv der zu schwachen Stimme des Autors angesichts der Größe des Gegenstands erscheint bei Statius erst in der Mitte des Argiver-Katalogs (4,145). 8 Wichtig für die Anfang- und Endethematik ist in diesem Zusammenhang auch, dass Adrastus als Rahmenfigur zu Beginn und Schluss genannt wird. Zu einem für uns nicht erkennbaren Zeitpunkt der literarischen Tradition geschieht dann etwas Interessantes: Die kaum oder nur mit göttlichem Beistand zu bewältigende und unüberschaubare Aufgabe, für die dem Dichter auch nicht zehn oder tausend Münder ausreichen würden, wird dann doch zu einer von vornherein quantifizierbaren. Die Zahlen und das Zählen werden explizit gemacht.

Das Zählen Einige Beispiele sollen die Bedeutung der Zahl und des Zählens beleuchten. Beginnen wir mit runden Summen und betrachten, in welchen Kontexten die Zahl 1000, mille, von Vergil benutzt wird, und ob wir daraus Konsequenzen für das epische ›Er-zählen‹ in der Aeneis ziehen können. Sinon – in der verhängnisvollen Endphase kurz vor der Eroberung Trojas durch die Insassen des trojanischen Pferdes – erzählt bekanntlich eine lange Lügengeschichte. Am Ende dieser Geschichte (Aen. 2,198) kommentiert der Erzähler: So erreichte er (sc. Sinon), was nicht tausend Schiffe, mille carinae, in 10 Jahren hatten ausrichten können. In dieser lakonischen Feststellung steckt, wie man natürlich gesehen hat, 9 ein Hinweis auf die Trojafahrer, und zwar zu Beginn des Krieges. Die – mehr oder weniger konkrete – Zahl scheint zuerst in der Parodos des aischyleischen Agamemnon aufzutauchen. 10 Dass diese Zahl mille bei Vergil kein Synonym für ›viele‹ ist, sondern prägnant zu verstehen, also gewissermaßen etabliert und von Bedeutung ist, zeigt ein intratextueller Verweis an einer späteren Stelle des Epos: 11 Turnus (9,148–50) beteuert in seiner Ansprache in schwieriger Lage zur Anfeuerung der Rutuler: non armis mihi Volcani, non mille carinis / est opus in Teucros. addant se protinus omnes / Etrusci socios. Mille carinae ist also zu einer ›Abbreviatur‹ des Katalogs geworden. Die Zahl 1000, mille, ist auch von Bedeutung im Latiner- und im Rutulerkatalog; dort gibt es etliche Kontingente von je

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Zu den Musenanrufen bei Statius vgl. Steininger (1998). Vgl. z.B. Heyne (1968) zu 2,195–98: numero paullo liberius expresso, ut solent poetae. Ausführlich mit Parallelen Bömer (1982) zu Ov. met. 12,7 (vgl. auch 12,44 und 12,73). Neben Aischylos Ag. 45 stÏlon >Arge–wn qiliona‘tan vgl. auch Eur. Andr. 106, Orest. 352; neben Aen. 2,198 (s.o.) auch Sen. Tro. 27 und 273; Il. Lat. 81 mit genauer Zahlenangabe. Wenn man die einzelnen Einträge bei Homer zusammenzählt, kommt man auf 1186. Bei Thuk. 1,10,4 heißt es »1200«. Vgl. dazu sowohl Hardie (1994) als auch Dingel (1997) knapp im Kommentar z. St., die jedoch keine weiteren Konsequenzen aus dieser Beobachtung ziehen.

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1000 Mann. Man könnte fragen, ob das als Überbietung der literarischen Tradition von den kanonischen homerischen 1000 Schiffen zu verstehen sei. 12 Denn dass die 1000 wirklich eine kanonische Zahl ist, wird ganz offensichtlich, wenn man diese Abbreviatur weiter verfolgt. Man kann dazu mehrere Stellen bei Ovid anführen. So schreibt Laodamia (epist. 13,87) an Protesilaus, sie wünsche sich, von den tausend Schiffen sei seines das letzte. Besonders deutlich wird die Verweisfunktion auf Homer in der Trojaerzählung in den Metamorphosen. In diesem alternativen ›Schnelldurchgang‹ durch den trojanischen Krieg heißt es gleich zu Beginn des 12. Buches über die Verfolger von Paris und Helena, verbündet folgen ihnen 1000 Schiffe und Völker: coniurataeque sequuntur mille rates gentisque (met. 12,7). 13 Mille rates genügt als Floskel, um den Schiffskatalog und die Vielzahl der Helden vor Troja zu evozieren. Dass mille nicht bloß im Sinne von ›sehr viele‹ benutzt ist, wird ganz deutlich, wenn in den Zusammenhängen, wo Aufzählungen möglicherweise wirklich unendlich sind, das auch explizit gesagt wird. So bewegen sich in der Unterwelt innumerae gentes (Aen. 6,706). Charon braucht unzählige Schiffe, um die Toten des Bürgerkrieges überzusetzen. Dazu passt die Äußerung Julias in Pompeius’ Traum bei Lucan. 14 Ob eine Topik wirklich vorhanden ist, etabliert ist, wiedererkannt wird, ist schwer nachzuweisen. Ein mögliches Indiz für Topik kann darin liegen, dass ein Topos parodiert wird. Das möchte ich an einigen Beobachtungen zu Statius’ Achilleis verdeutlichen. Auf die verschiedenen Deutungsmuster dieses in letzter Zeit ja glücklicher Weise wieder stark ins Interesse der Forschung gerückten Gedichts werde ich hier nicht eingehen. Als Grundlage meiner Beobachtungen bevorzuge ich eine eher ironische und selbstreflexive Lesart, wie z. B. auch Rosati und Barchiesi. 15 Es ist auf der anderen Seite festzustellen, dass die neuere Forschung den Gender-Aspekt des Gedichtes und die Dichotomie zwischen heroischem und unheroischem Epos sehr stark in den Fokus gerückt hat und dabei möglicher Weise die poetische Raffinesse auch auf anderen Ebenen etwas aus dem Blick verliert. 16 Die Topik der Unzählbarkeit und das, was ich ›Abbreviatur‹ des Katalogs genannt habe, taucht in der Achilleis mehrfach auf: zunächst in der prophetischen Rede der Thetis, wenn sie (Ach. 1,34 f.) vorhersieht, was die Entführung der Helena für Folgen haben wird (video iam mille carinis / Ionium Aegaeumque premi . . . ), dann in der Schilderung der Kriegsvorbereitungen. Hier wird beim Leser eine 12 13 14

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Juno spricht zu Allecto und beauftragt sie, den Streit anzufachen, denn sie verfügt über 1000 Namen, sie beherrscht 1000 schädliche Künste (Aen. 7,337 f). Wieder aufgenommen wird das Motiv in der Darstellung, die Fama dann verbreitet: met. 12,64; 12,72 f.: iam leto proles Neptunia cygnus / mille viros dederat. Vgl. Lucan. 3,14 und dazu genauer unten 114. Ovid zählt die Flüsse auf, die das Schwarze Meer so unwirtlich machen, und beendet seine Aufzählung erschöpft mit den Worten: innumeri alii (Pont. 4,10,45–65). Rosati (3 2005), Barchiesi (2005). Fantuzzi (2012), v. a. 71–96.

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Erwartung geweckt, wenn es heißt, das Meer sei zu klein für die Fülle der Schiffe, und die nächste Zeile dann beginnt: Prima ratis. Diese Erwartung wird dann allerdings sogleich enttäuscht, denn der Vers fährt fort: Danaas Hecateia congregat Aulis. Hier wäre Platz für einen Schiffskatalog gewesen! Ein weiteres Mal finden wir so einen Beinahe-Katalog, wenn unter den versammelten Truppen in 1,467 ff. sechs Heldennamen, darunter die gemini Atridae, also insgesamt sieben Anführer benannt werden, aber einer fehlt. Die Betonung liegt ganz deutlich auf dem Einen, der fehlt, nämlich Achill. Sein Name wird dreimal explizit genannt, und seine Herkunft und besondere Tüchtigkeit werden, ganz wie in einem ›normalen‹ Katalog, in einem kleinen Exkurs ausgeführt. Den Abschluss bildet die Nennung derjenigen, die im narrativen Kontext diese Liste mit der entscheidenden Fehlstelle selbst vorgetragen haben: iterant traduntque cohortes (482). Die Aufgabe des Aufzählens, des Katalogisierens wird also auf die Beteiligten selbst verlagert. Eine weitere kleine Namensliste taucht auf, wenn Protesilaus den Seher Calchas zur Weissagung auffordert (1,496). Auch hier wird die Liste der Anwesenden dem einen Abwesenden, nämlich Achill gegenübergestellt, nicht ohne eine gewisse Eifersucht durchschimmern zu lassen. Hierzu und zur dann folgenden Rede zieht Fantuzzi zu Recht die schon erwähnte Stelle aus der Prophezeiung des Calchas im zweiten Aeneisbuch heran. Er fasst zusammen, an dieser Stelle werde »die offizielle Sicht der Griechen wiedergegeben«. 17 Im jetzigen Kontext ist es wichtig festzuhalten, dass hier die Namensliste der Trojakämpfer auf auffällige Weise unvollständig bleibt. Von der so etablierten ›Abbreviatur für den Truppenkatalog‹ kann dann im weiteren Verlauf einer der interessantesten Erzähler über den trojanischen Krieg Gebrauch machen. In Statius’ Achilleis stehen zwei Welten nebeneinander: die unheroische, in der Achill auf Scyrus bislang noch lebt, und die heroische, die gewissermaßen als Kulisse von den Unterhändlern Ulixes und Diomedes durch ihre Berichte evoziert wird. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Rede des Ulixes auf Scyrus. 18 Sie findet beim abendlichen Bankett statt. 19 Die Besucher haben die eroberten Schiffe (carinae) bereits auf der Stadtmauer gesehen. Im Saal dann berichtet Ulixes, was sich gerade bei den Vorbereitungen zum Trojanischen Krieg ereignet. Ulixes antwortet damit auf die Frage des alten Königs von Scyrus, der bedauert, dass er nicht an den Kriegsvorbereitungen teilnehmen kann, und stellt dann eine rhetorische Frage: »quis enim non visere gentes / innumeras variosque duces atque agmina regum / ardeat?« (1,785–87). Es folgt ein Katalog in Kurzform, zwar unspezifisch, was einzelne Namen angeht, aber doch mit einer gewissen Topik. Die Schiffe und Helden sind zahllos, und das Ende 17 18 19

Fantuzzi (2012) 84: »reflects the public view point of the Greeks«; 85 zum Kontrast Protesilaus – Achill: »disappointing prophecy«. Bei Ripoll/Soubiran (2008) ad 1,785 wird nur auf Od. 1,3 verwiesen. Zum iliadischen Hintergrund findet sich dort nichts. Vergleichbar der Heldenliste beim Bankett des Skythenkönigs Thoas in den Argonautica, s.o. 107.

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ähnelt im sprachlichen Duktus unverkennbar dem eines epischen Kataloges: non alias umquam tantae data copia famae / fortibus (792 f.). Erst durch den Sprung über das Zeilenende wird deutlich, an wen sich die Rede eigentlich wendet. Denn die Intention ist eine andere: Ulixes hat sich in den epischen Dichter verwandelt, um den von ihm im Interesse des Handlungsfortschritts intendierten Zuhörer zu überzeugen. 20 Der Gastfreund und Berichterstatter über die Kriegsvorbereitungen ist in die Rolle des Katalogdichters geschlüpft, um den Hörer der epischen Erzählung zum Mitmachen zu animieren, also dazu, in die erzählte Geschichte einzutreten. 21 Die Schiffe und Helden sind ›zahllos‹. Ulixes in seiner Erzählung bringt also eine Art Truppenkatalog vor, und zwar in der Weise und mit dem Zweck, dass er den anwesenden Achill zunächst gewissermaßen zur Augenzeugenschaft ermuntert, um ihn dann als Beteiligten zu aktivieren (Ach. 1,784). Auch hier scheint mir in der Zahllosigkeit ein Hinweis zu liegen, dass wir uns an der Grenze zwischen binnenfiktionaler Realität und Fiktionalität befinden. Ulixes hätte ja genau zählen können – aber das hier evozierte Bild kommt im Augenblick für den jungen Achill einem Traum noch näher als der Wirklichkeit. 22 Für das Verwischen der binnenerzählerischen Realitätsebenen sei noch ein besonders einleuchtendes Beispiel angeführt. Lucan lässt in BC 7,342–82 den Pompeius eine Ansprache halten. Vor der entscheidenden Schlacht versucht der Heerführer seine Leute von der Möglichkeit des Sieges zu überzeugen. Dazu bedient er sich zahlreicher rhetorischer und epischer Mittel. Er beschwört die illustre Ahnenreihe von exemplarischen Republikanern, die ideell auf Seiten der Pompeianer stehen oder vielmehr stünden, wären sie noch am Leben. Er zählt in einer Kurzfassung des Truppenkataloges die versammelten Streiter auf, die aus zahllosen Städten des Orients gekommen sind (innumerae urbes, 7,361). Dann bricht er diese Aufzählung ab und begründet das, wie ein Katalogdichter, mit der Wendung, seines sei das größte Heer, das je in eine Schlacht gezogen sei (quantas in 20

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Rosati (3 2005) 21 spricht von »ironia implicita« und dem »gioco di complicità fra narratore e lettore«. Aber es ist ein mehrfaches Spiel zwischen dem intra- und dem extradiegetischen Erzähler und zwischen den intra- und extradiegetischen Zuhörern. Zwei Hörer hören jeweils Verschiedenes heraus. Ähnliches lässt sich über Lycomedes’ getäuschte Erwartung sagen, wenn er Ulixes als möglichen Freier seiner Tochter einschätzt, und das gegen das Vorwissen des Lesers abhebt. Das scheint mir so noch prägnanter als Fantuzzi (2012) 97: »Achilles . . . the star of erotic poetry lost his battle with a troubled tragic Achilles, who . . . preferred to return to being an epic hero.« Zitiert sich Statius vielleicht selbst? Innumeri, unzählbar, sind bei ihm nicht nur in der Prophezeiung von Laius’ Geist die gegen Theben bereitstehenden Feinde (innumero agmine); auch Adrastus vermag gewissermaßen seine eigenen Leute nicht zu zählen, wenn er Hypsipyle anspricht. Der haben die Argiver die Rettung von innumeras cohortes zu verdanken. Anke Walter macht mich darauf aufmerksam, dass dem auch der knapp bemessene Raum des Textes selbst entspricht (Theb. 5,22). Weitere Parallelen sind Theb. 12,506: den Altar in Athen kennen innumerae gentes. 12,657: der Boden dampft von innumeris catervis.

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proelia numquam, 7,361). Dies, die unbeschreibbare Größe des Krieges und der Kontingente, ist sowohl in der Geschichtsschreibung topisch als eben auch im epischen Truppenkatalog und wird so z. B. von Silius Italicus in Sil. 8,352 f. für den Aufmarsch vor der Schlacht von Cannae wieder aufgenommen. Der Redner Pompeius evoziert dann in direktem Anschluss an diese Beteuerung historischer Größe vor dem Auge seiner Soldaten auch die Zuschauer der bevorstehenden Schlacht – Frauen, Alte, ja Rom selbst sollen sie sich als Beobachter vorstellen. Damit verweist er auf die epische, aber vor allem auch dramatische Situation der Teichoskopie. Der Feldherr im Augenblick besonderer ›Historizität‹, bei der Rede, ist also besonders literarisch, episch überhöht.

Ordnung Soweit vorerst zum Zählen und den Zahlen in engerem Sinne. Aber mit dem Zählen stehen das Auflisten und die geordnete Abfolge in direktem Zusammenhang. Für das Ordnen und Auflisten sind ordo und series zentrale Begriffe. Der Leser erfährt so mit einem Stichwort, dass er nun mit einer Aufzählung, einer Liste, einer Abfolge konfrontiert werden wird. Dabei sind beide Begriffe sowohl im Katalog als auch in ekphrastischen Kontexten konstitutiv. Erinnern wir uns an die series longissima rerum, an die lange Ahnenreihe, mit der das Haus der Dido in Karthago geschmückt ist: Der imposante, historisch weit zurückreichende und zahlreiche Einträge bergende Stammbaum wird nicht im Detail ausgeführt, sondern dem Leser, und Aeneas als dem Fokalisierer, gewissermaßen als Möglichkeit eines Katalogs vor Augen gestellt: caelataque in auro / fortia facta patrum, series longissima rerum / per tot ducta viros antiquae ab origine gentis (Aen. 1,640–42). Ordo ist auch der Begriff, der verwendet wird, wenn sich größere Gruppen von Personen in der erforderlichen Reihenfolge organisieren. So nehmen z. B. die Argonauten in der Argo ordentlich ihren vorgesehenen Platz ein (Val. Fl. 1,352– 483). Das ordnende Prinzip, die gegliederte Reihenfolge, steht aber mitunter im Gegensatz zu Begebenheiten, die sich dem ordentlichen Erzählen entziehen. Als Beispiel für eine der Gelegenheiten, wo der Dichter sich über die Überfülle des Aufzuzählenden beklagt, sei Val. Fl. 2,216–19 angeführt. Dort heißt es über die Raserei der Lemnierinnen: unde ego tot scelerum facies, tot fata iacentum / exequar. heu vatem monstris quibus intulit ordo! / quae se aperit series! o qui me vera canentem / sistat et hac nostras exsolvat imagine noctes! Also stehen das Prinzip von ordo, series, die nach kompletter Aufzählung verlangen, und die zu große, die übergroße Zahl sowie die Frage der Glaubwürdigkeit einander konträr entgegen. Denn es gibt, neben den Katalogen, weitere Gelegenheiten, bei denen erzählerisch die Frage nach der Ordnung und Vollständigkeit von Personen und Ereignissen, nach dem kompletten Ablauf von Anfang bis Ende ihren Platz hat und thematisiert wird. Das ist vor allem dann der Fall, wenn in der Erzählung die Zusammenfassung einer Abfolge von Ereignissen – in der Vergangenheit, aber besonders in der Zukunft – gegeben wird, von einer der handeln-

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den Personen, oder von einer Figur, die eigens zu diesem Zweck eingeführt wird. Vergangene Ereignisse werden häufig in den Mund verstorbener Personen gelegt und sind in den Begegnungen mit der Totenwelt anzutreffen. Künftige Ereignisse werden durch prophetische Charaktere verkündet, sei es als Mahnung, als Hilfe oder als Warnung. Hier verquicken sich die Sehergestalt und die Dichtergestalt. Es geht darum, die Kette und Aufeinanderfolge der Ereignisse zu erkennen und deren tiefere Logik und Ordnung zu durchschauen und zu präsentieren. Dazu folgen nun einige Beobachtungen. Im Sinne einer solchen tieferen Logik der Ereignisse ist series bei Lucan gebraucht: invida fatorum series (1,70). Der Astrologe Figulus fragt, ob es überhaupt sinnvoll sei, ein Ende der Übel zu erbitten et superos quid prodest poscere finem? (1,669). Eine Existenz in Freiheit ist für Rom nur in der unablässigen, nicht enden wollenden Abfolge der Übel möglich: Duc, Roma, malorum / continuam seriem clademque in tempora multa / extrahe (1,670–72). Der intradiegetische Erzähler steht vor einem Paradox! 23 Solche Äußerungen zu Anfang und Abschluss, zu Zahl und Zählbarkeit fallen auch in anderen prophetischen Äußerungen im Bellum Civile. Der Erzähler selbst erwägt, wie die Geschichte hätte verlaufen können, hätte Caesar seine Truppen nicht in aggressiver Absicht nach Rom geführt, sondern als siegreicher General über auswärtige Feinde. Er imaginiert den Triumphzug mit den langen Reihen Besiegter. Dem schließt sich in Form eines knappen ›Negativkatalogs‹ das Bild der Rheinbrücke an, der Meeresbrücke, die Gallier, die Briten. Die verpasste Gelegenheit und die imaginierte Räumlichkeit wird im Irrealis ausgedrückt: quam seriem rerum longa praemittere pompa, / quas potuit belli facies (3,75 f.). Die pythische Seherin Phemonoe wird in ihrer prophetischen Aussage gehindert und eingeschränkt, sie darf nicht alles sagen, was sie sagen könnte: (frenos), nec tantum prodere vati / quantum scire licet (5,176 f.). Die künftigen Ereignisse drängen ans Licht (tanta patet rerum series, 5,179), die Seherin kennt Anfang und Ende von allem: non prima dies, non ultima mundi, / non modus Oceani, numerus non derat harenae (5,181 f.). Sie vermag also im Prinzip die topischen Adynata zu entkräften, nämlich die Größe des Ozeans und die Zahl der Sandkörner, aber sie darf nur einen Teil enthüllen. Appius erfährt nur einen Teil der Wahrheit. Die Prophezeiung, die er erhält, betrifft nur sein eigenes kleines Stückchen Geschick. Ein Gegensatz klafft zwischen dem Gott, dem nichts Künftiges verborgen ist, und dem Menschen, der eben nicht Anfang und Ende und die richtige Reihenfolge erfährt, sondern nur einen Ausschnitt, auf dessen Auswahl er keinen Einfluss hat. Ähnlich gibt auch die Hexe Erictho Auskunft über ihr Tun: Sie muss zugestehen, dass die Ereignisse vom Anbeginn der Schöpfung an nicht in der Hand der Hexen liegen, sondern dass Fortuna allein in diese causarum series einzugreifen vermag. Vorher-

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Es geht hier nicht darum, die Tendenz des Bürgerkriegsgedichtes oder auch nur des Proöms zu diskutieren; wichtig ist die lexikalische Konstanz der Begriffe.

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wissen ist ihr möglich (praenoscere), aber den Ablauf zu ändern vermag sie nicht (si quicquam mutare velis, 6,611) Auch die Traumerscheinung der Julia, die Pompeius erscheint und ihm das bevorstehende Unheil ankündigt, enthält, wie oben schon kurz angedeutet, implizit das Problem der Zählbarkeit und Vollständigkeit. Woher die Wahrheit stammt, die Julia dem Schlafenden verkündet, kann man nämlich auch daran ablesen, dass sie von innumeras puppes (3,16) spricht, die Charon zum Transport der vielen Gefallenen benötigen werde – die Zahllosigkeit als Topos der Unterweltsbewohner wird hier in die wirkliche, historische Welt hinübergeholt. Die Schwelle zwischen Unterwelt und Welt der Lebenden wird durch die prophetische Rede und durch die Zahllosigkeit markiert. Zum Paradox wird die Frage von Zahl und Unzählbarkeit in der Rede des Phineus bei Valerius Flaccus (4,558–613). Der Seher beschreibt den Argonauten die Route und kündigt an: expediam rerumque vias finemque docebo (558). Die typischen sprachlichen Merkmale einer Aufzählung (hinc – tum – demum) sind vorhanden. Das Tempus ist, wie bei einer Prophezeiung nicht anders zu erwarten, das Futur. Nach einer eingeschobenen Rede Jupiters folgt dann allerdings eine eher überraschende Abbruchformel: quid memorem sagt Phineus (4,600) und lässt Teile der Reiseroute ganz im Ungefähren: Von da an gibt es am gesamten Gestade unzählige Könige, auf deren Gastfreundschaft kein Verlass ist: inde omnem innumeri reges per litoris oram, / hospitii quis nulla fides (4,613 f.). Ist das nun eine Prophezeiung oder nicht, kann man sich fragen. Innumeri ist entweder nicht wörtlich zu nehmen, oder Phineus schlüpft in die Rolle des Katalogdichters und beschwört hier die potenzielle Unendlichkeit des zu Berichtenden. Warum lässt er die Namen der Könige weg? Murgatroyd 24 erklärt diese Schweigsamkeit als intertextuellen Bezug auf die ausgedehnte ethnographische Liste, die Apollonius Rhodius im zweiten Buch der Argonautika an der vergleichbaren Stelle gibt (Apoll. Rhod. 2,373 ff.). Die Raffung und der Verzicht auf die Liste dienen, so Murgatroyd, dazu, das Erzähltempo zu steigern. Aber schauen wir auf den Schluss von Phineus’ Rede bei Valerius (4,623–25): iamque ultima nobis / promere fata nefas; sileam, precor.« atque ita facto / fine dedit tacitis iterum responsa tenebris. Die Abbruchformel ähnelt derjenigen in der Prophezeiung des Helenus in der Aeneis, wie man natürlich gesehen hat. (Aen. 3,377–80: Pauca tibi e multis . . . expediam . . . ; prohibent nam cetera Parcae / scire Helenum farique vetat Saturnia Iuno. In der Prophezeiung wird die Reihe der Ereignisse von Jupiter selbst vorgegeben: is vertitur ordo, 3,376) Auch dort ist der Gegensatz der großen Fülle – multa und des wenigen, das zu sagen erlaubt ist – pauca, thematisiert. Anke Walter hat das treffend als »Einschränkung der prophetischen Rede« bezeichnet. Der »Seher [sei] zum Schweigen und zur Unkenntnis über den wahren weiteren

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Murgatroyd (2009) z. St.

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Verlauf des Epos verurteilt.« 25 Sie deutet das als Signal der Unsicherheit, das die Ambivalenz von fatum und nefas kennzeichnet. Aber ich möchte darüber hinaus behaupten, dass man diesen Augenblick der Unbestimmtheit auch als metapoetischen Kommentar zu den Aufgaben des Dichters und des Propheten deuten kann. Dessen Aufgabe ist es, die großen Massen an Stoff und an literarischer Tradition zu bewältigen, und der Seher und der Dichter haben die Verpflichtung und die Möglichkeit, dies in mehr oder weniger großer Ausführlichkeit zu tun – oder auch nicht. Dafür, in dieser Tradition eine Position zu beziehen, gibt es verschiedene poetische Möglichkeiten: – Eine Position ist die der Überbietung – die Überbietung der genannten Zahlen bis in die Dimension der Unzählbarkeit; die Überbietung der schieren Länge; die Überbietung in der Bitte um göttlichen Beistand: Wie viele Musen, wie viele Instanzen stehen dem Dichter bei der Aufgabe bei? – Eine weitere Möglichkeit, die Tradition aufzunehmen und sich in ihr zu positionieren, besteht in der Variation: der Mischung mit anderen Formen und Formelementen. Beispiele dafür sind, wie schon gesagt, das Gastmahl, die Teichoskopie; auf der anderen Seite die Erweiterung des Katalogs oder einzelnen Katalogelements durch biographische und aitiologische Elemente. 26 – Einige der oben behandelten Passagen lassen sich als Position des impliziten Wettbewerbs bezeichnen. Damit meine ich einen Wettbewerb zwischen dem Dichter und seinen Erzählergestalten. Für das Beispiel der Achilleis könnte das Thema des Wettbewerbs heißen: Wer dichtet den besseren Katalog? Sind es die Teilnehmer am Kriegszug, die sich angesichts der Fehlstellen bei der Aufzählung der aufgestellten Krieger fragen müssen, ob nicht ein entscheidender Kämpfer fehlt, oder ist es Ulixes, der den Katalog in seinem Referat zitierend evoziert? – Als extreme Position möchte ich den knappen Verweis, den ich Abbreviatur genannt habe, bezeichnen. Die Abbreviatur bedeutet ja eigentlich, den Katalog ad absurdum zu führen. Statt die Liste in der erwartbaren und gewohnten Ausführlichkeit auszuführen, bleibt nur ein knapper Begriff stehen und muss ausreichen, wie mille carinae. Diese Technik wird besonders deutlich in der Szene am Hof des Lykomedes. Die Schiffe bilden gewissermaßen die Kulisse. Im Katalog selbst dann muss dem Hörer, sowohl intra- wie extradiegetisch, die Angabe innumerae genügen. Der Dichter verweigert die Konkretion, in diesem Fall die exakte oder scheinbar exakte Zahl. Diese Positionen und literarischen Optionen angesichts der Aufgabe des Auflistens treten nicht notwendig völlig isoliert voneinander auf. Sie können sich bis 25 26

Walter (2014) 103. Weniger überzeugend ist die Deutung, es handele sich hier um eine Betonung der politischen Freiheitsproblematik, Stover (2012) 165–70. Reitz (2014).

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zu einem gewissen Grad mischen und überlagern. Sie können durch das Angebot von optischen Ordnungsmustern gegliedert, strukturiert und sogar überdeckt werden. Wir haben Beispiele für die Verwendung von Begriffen wie ordo und series betrachtet. Die Reihenfolge, die Abfolge wird auf diese Weise als prinzipiell vorhanden definiert, aber nicht notwendiger Weise präsentiert oder präsentabel gemacht. Gründe dafür können in der Erzählung liegen, wenn z. B. der Seher am Aussprechen der ganzen Wahrheit gehindert wird. Sie können aber auch durch Abbruchformeln ganz offensichtlich in die auktoriale Verantwortung geschoben werden. Eine weitere Position, in der das poetische Eingreifen in die zählbare und katalogisierbare Ganzheit sichtbar wird, ist das Verwischen der Fiktionalitätsebenen. Am Beispiel der Unzählbarkeit wird das deutlich. Das Unendliche, die unzählbar und unnennbar große Menge wird für die außerirdische Welt benutzt, also für die unzählbaren Völker, innumerae gentes, innumerum examen (so Stat. Theb. 11,82) in der Unterwelt, für die unzählbaren Schiffe, die die Traumerscheinung Julia erblickt. Diese Unzählbarkeit kann dann in die innernarrative Fiktion einbrechen. Das im Prinzip Zählbare, das einen Anfang und ein Ende hat, kann zum Unzählbaren werden – innumerum agmen, innumerae cohortes, innumeri leti, innumeri horrores: Es gibt Gründe für das Verweigern des Zählens. Der Leser ist aufgefordert, diese Gründe zu erkennen. Anhand eines letzten Textbeispiels soll dieser metapoetische Hintergrund verdeutlicht werden. Unmittelbar vor der kleinen Vignette, die den militärischen Leistungen des Dichters Ennius im Kampf mit dem Sarden Hostus gewidmet ist, ruft Silius Italicus die Muse an. Er bricht die Beschreibung der Kämpfe in Sardinien ab, der er sich nicht gewachsen fühlt, und erbittet stattdessen Dauerhaftigkeit für sein Lob des Dichters (Sil. 12,387–92): non equidem innumeras caedes totque horrida facta sperarim tanto digne pro nomine rerum pandere nec dictis bellantum aequare calorem. sed vos, Calliope, nostro donate labori, nota parum magni longo tradantur ut aevo facta viri, et meritum vati sacremus honorem. »Ich vermag wohl kaum zu hoffen, die unzähligen Todesfälle und so viele schreckliche Taten in würdiger Weise für so gewichtige Ereignisse zu offenbaren, noch mit Worten angemessen der Hitze der Kämpfer gerecht zu werden. Aber ihr, Calliope, gebt dies meiner Mühe, dass die zu wenig bekannten Taten eines großen Mannes einer langen Tradition überliefert werden mögen, und dass wir dem Sänger die verdiente Ehre weihen!«

Der Dichter entscheidet sich, das Morden in den Bereich des Nicht-Erzählbaren abzuschieben und stattdessen die Leistung des Einzelnen und sein Geschick in den Mittelpunkt zu rücken. Es stehen sich also die Unendlichkeit des Erzählbaren, des episch-historischen Stoffes und eine andere Aufgabe gegenüber. Das Bemerkenswerte ist, dass die Abbruchformel ja eigentlich das ›Geschäft‹ des epischhistorischen Dichters unterbindet, denn es bilden doch, bei Silius und in der Tra-

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dition des heroischen Epos generell, vornehmlich die Toten, die Taten und das Kämpfen den Anlass der Dichtung – was natürlich nicht notwendiger Weise heißt, dass im Epos andere Bereiche des Lebens nicht vorkämen. Dass diese Abbruchformel gerade an der Stelle erscheint, wo im Folgenden dann die epische Tradition in einem exemplarischen Vertreter, nämlich der Gestalt des Ennius, verherrlicht und verewigt wird (longo aevo, 12,391), berechtigt uns zu der Auffassung, dass hier eine Grundwahrheit epischen Dichtens explizit gemacht ist. 27 Der Dichter muss immer wieder den Konflikt zwischen vollständigem Erzählen, von Anfang bis Ende, und individueller Auswahl des Stoffes thematisieren und bewältigen.

Verzeichnis der benutzten Literatur Baier, Thomas: Valerius Flaccus, Argonautica Buch VI, Einleitung und Kommentar (Zetemata 112), München 2001. Barchiesi, Alessandro: Masculinity in the 90’s: the Education of Achilles in Statius and Quintilian, in: Michael Paschalis (ed.): Roman and Greek Imperial Epic, Herakleion 2005, 47–75. Batinsky, Emily: Lucan’s Catalogue of Caesar’s Troops: Paraodox and Convention, CJ 88, 1992, 19–24. Bömer, Franz: P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Kommentar von Franz Bömer, Buch XII– XIII, Heidelberg 1982. Dingel, Joachim: Kommentar zum 9. Buch der Aeneis Vergils (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern), Heidelberg 1997. Fantuzzi, Marco: Achilles in Love. Intertextual Studies, Oxford 2012. Georgacopoulou, Sophia: Ranger/Déranger: Catalogues et listes de personnages dans la Thébaide, in: F. Delarue et al. (éds.): Epicedion. Hommage à P. Papinius Statius, 96– 996, Poitiers 1996, 93–129. Hardie, Philip (ed.): Virgil, Aeneid: Book IX (Cambridge Greek and Latin classics), Cambridge 1994. Heyne, Christian Gottlob: P. Virgili Maronis Opera, ill. a Chr. G. Heyne, 4 1832, Ndr. Hildesheim 1968. Latacz, Joachim (Hg.): Homers Ilias. Gesamtkommentar, Band II: Zweiter Gesang (B). Fasz. 2: Kommentar (Brügger/Stoevesandt/Visser, unter der Leitung von Latacz), München; Leipzig 2003, 2 2010. Manuwald, Gesine: History in Pictures: Commemorative Ecphrases in Silius Italicus’ Punica, Phoenix 63, 2009, 38–59. Murgatroyd, Paul: A Commentary on Book 4 of Valerius Flaccus’ Argonautica (Mnemosyne Suppl. 311), Leiden; Boston 2009. Reitz, Christiane: Does Mass Matter? The Epic Catalogue of Troops as Narrative and Metapoetic Device, in: Gesine Manuwald/Astrid Voigt (eds.): Flavian Epic Interactions, Berlin; Boston 2013, 229–43. 27

Zu dieser Passage grundsätzlich Manuwald (2009).

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Reitz, Christiane: Ursprünge epischer Helden. Mythologie, Genealogie und Aitiologie im Argiverkatalog von Statius’ Thebais, in: Christiane Reitz/Anke Walter (Hgg.): Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche, Hildesheim 2014, 59–78. Ripoll, F./Soubiran, J.: Stace. Achilléide. Introduction, édition, traduction et commentaire (Bibliothèque d’études classiques 56), Louvain; Paris 2008. Rosati, Gianpiero: L’Achilleide di Stazio: un’epica di ambiguità, Maia 44, 1993, 233–66. Rosati, Gianpiero: Publio Papinio Stazio, Achilleide, intr., trad. e note di Rosati, G., Mailand 3 2005. Schindler, Claudia: ›Musen‹, in: RAC 25, 2012, 184–220, hier 185–200. Steiniger, Judith: Saecula te quoniam penes et digesta vetustas. Die Musenanrufungen in der Thebais des Statius, Hermes 126, 1998, 221–37. Stover, Tim: Epic and Empire in Vespasianic Rome. A New Reading of Valerius Flaccus’ Argonautica, Oxford 2012. Walter, Anke: Erzählen und Gesang im flavischen Epos (GFA Beihefte 5), Berlin; New York 2014.

Angela Jöne (Münster)

Beinahe-Abschiede in der Aeneis Eine besondere literarische Ausprägung, ein Ende zu markieren, ist die Gestaltung von Szenen, in denen ein Abschiednehmen stattfindet oder in denen ein Fortgehen beschrieben wird. Darstellungen von Abschieden haben eine lange Tradition im griechischen und lateinischen Epos: 1 Bevor Hektor im sechsten Buch der Ilias Troja verlässt, um in den Kampf zurückzukehren, verabschiedet er sich von seiner Frau Andromache; dies ist die Urabschiedsszene. 2 Zu Beginn der Argonautika des Apollonios Rhodios wird die Abreise der Argonauten aus Iolkos dargestellt, dort richtet Alkimede aufgewühlt Worte an ihren Sohn Jason. 3 Mit Abschieden in der Aeneis wird sicherlich die emotionale Unterredung zwischen Dido und Aeneas vor der Abfahrt der Aeneaden aus Karthago assoziiert. 4 Doch in der Aeneis gibt es auch Szenen, in denen die Handlung nur dem Anschein nach auf einen Abschied bzw. eine Trennung hinausläuft: Dass Geschehnisse nur ›beinahe‹ eintreten, sich ein Ereignis in einer Szene oder Episode in eine bestimmte Richtung zu entwickeln scheint, dann aber eine andere Wendung nimmt, hat Nesselrath als narratologisches Mittel für das griechische und römische Epos herausgearbeitet: Hier wird mit den Erwartungen der Rezipienten gespielt und Spannung erzeugt. Gleichzeitig werden auch alternative Handlungsstränge begonnen, dann aber wieder abgebrochen. 5 1 2 3

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S. zu den folgenden Abschiedsszenen und zu Abschieden allgemein Jöne (2017). Zur Szene in der Ilias (6,392–496) s. neben dem umfangreichen Kommentar von Stoevesandt (2008) auch Schadewaldt (1935). Die Szene in den Argonautika umfasst die Verse 1,260–306. Zur Abfahrt der Argonauten aus Iolkos s. Pike (1993). Zu der Abschiedsszene von Alkimede und Jason s. Natzel (1992) 166 f., Clauss (1993) 37–56 besonders zu den intertextuellen Bezügen zu Homers Ilias, Dräger (1995) 472–76 und Tschiedel (2004) mit besonderer Berücksichtigung des Abschieds zwischen Jason und seinen Eltern bei Valerius Flaccus. Zu Motiven und Strukturen von Abschiedsreden s. Gross (1985), der in seinem Kapitel »The Rhetoric of Abandonment« (69–123) verschiedene Reden von Frauen vergleicht, die Abschied nehmen (Andromache [Hom. Il. 6,407–439], Tekmessa [Soph. Ajax 485–525], Alcestis [Eur. Alk. 280–325], Medea [Eur. Med. 465–519; Apoll. Rhod. 4,355–90], Ariadne [Catull. 64,132–63], Dido [Verg. Aen. 4,305–30; Ov. epist. 7]). Verg. Aen. 4,296–396. Zur Begriffserklärung »Beinahe-Episoden« und »Ungeschehenes Geschehen« s. Nesselrath (1992) 1–4. Für den Dichter der Ilias stellt er anschaulich dar, dass dieser »eine

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Als erster Beinahe-Abschied im Epos kann die Unterredung zwischen Medea und Jason im dritten Buch der Argonautika des Apollonios angesehen werden: Die beiden treffen im Tempel aufeinander, die Kolcherin überreicht Jason das Zaubermittel und gibt zunächst Hinweise für das Erringen des Goldenen Vlieses (3,1026– 61a). Die anschließenden Worte Medeas erwecken durch intratextuelle Bezüge zur Abschiedsrede Hypsipyles und durch intertextuelle Bezüge und Parallelen zum Abschied zwischen Odysseus und Nausikaa den Eindruck eines Abschiedsgesprächs, als gingen Medea und Jason nach der Unterredung endgültig auseinander, wie es in der Lemnos-Episode und auch später in der Odyssee geschieht. 6 Auch Hunter, der in seinem Kommentar auf die Parallelen hinweist, stellt heraus: »Medea’s plea, in itself a quite natural thing to say when parting [. . . ].« 7 Doch nach den anfänglichen Gemeinsamkeiten mit bekannten Abschiedsworten und Abschieden entwickelt sich die Unterredung im weiteren Verlauf zu einem Auftakt der Liebesbeziehung. Im Zentrum dieser Untersuchung stehen zwei Szenen innerhalb der Aeneis, die den Anschein erwecken, ein Abschied zu sein: Diese sind die letzte Szene im Haus des Aeneas während der Iliupersis (2,634–80) und der Anfang der Nisus- und Euryalus-Episode im neunten Buch (176–223). Zunächst soll gezeigt werden, mit welchen Mitteln der Eindruck eines tatsächlichen und finalen Abschieds evoziert wird. Hierzu richtet sich der Fokus – neben der jeweiligen narrativen Ausgestaltung der Szene – besonders auf die Szenentypik von epischen Abschieden und auf inter- und intratextuelle Bezüge. Dem Propemptikon, das nach Menander Rhetor bestimmte Topoi aufweist, wird dabei eine prominente Rolle zuteil werden, ist dieses doch ein Geleitgedicht, das vor dem Fortgehen eines geliebten Menschen

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Episode bis an den Rand ihrer endgültigen Verwirklichung führt und sie dann durch eine (oft recht plötzliche) Wendung wieder ungeschehen macht«, Nesselrath (1992) 2. S. auch die ambivalenten Bewertungen der Arbeit Nesselraths Gelzer (1992), negativer Spaltenstein (1992) 170: Er sieht eine Inkonsequenz in der Klassifizierung der BeinaheGeschehnisse (»il s’agit une fois de la technique narrative, une autre fois de la nature des événements racontés . . . «) und geht sogar so weit: »Surtout, on ne peut s’empêcher de penser que le sujet de ce livre est artificiellement gonflé.« Bes. 1061 f.: »Du aber geh dahin, wohin es dir beliebt, wohin es dir gefällt zurückzukehren, wenn du einmal von hier aufgebrochen bist«; vgl. mit 1069–71: »Wenn du also nun irgendwann nach Haus zurückgekehrt sein wirst, vergiß den Namen Medeas nicht! Ebenso will auch ich wiederum deiner gedenken, wenn du fern bist«, und 1105–17. Vgl. 1,888–98; bes. 896 f.: »So denke denn an Hypsipyle, ob du fern bist oder schon wieder auf dem Rückweg«. Die Übersetzung folgt der zweisprachigen Ausgaben von Glei/ Natzel-Glei (1996), vgl. auch Hom. Od. 8,461f.: »Freue dich, Fremder! Mögest du auch künftig, wenn du in dem väterlichen Lande bist, meiner gedenken, weil du mir als erster den Rettungslohn schuldest«; Übersetzung nach Schadewaldt (Homer, Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Stuttgart 1966). Hunter (1989) 216.

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gehalten wird; diese Gattung hat gerade bei augusteischen Dichtern viel Anklang gefunden. 8 In einem letzten Schritt werden mögliche Funktionen dieser BeinaheAbschiede in der Aeneis erörtert.

Beinahe-Abschied zwischen Anchises, Aeneas und Creusa (Verg. Aen. 2,634–80) Die erste Beinahe-Abschiedsszene der Aeneis findet sich am Ende des zweiten Buches: 9 Aeneas selbst erzählt, wie er durch die in Troja tobenden Kämpfe zu seinem Haus gelangt, um gemeinsam mit der Familie die Flucht anzutreten, da es ihm von Venus aufgetragen war. Doch Anchises, so schickt es Aeneas der Wiedergabe der Ereignisse im Haus voraus, weigert sich, nach Trojas Zerstörung weiterzuleben und zu fliehen. 10 Dies entspricht natürlich nicht den Erwartungen der Rezipienten, denn diese waren vertraut mit dem Bild des Aeneas, der seinen Vater aus Troja fortträgt. 11 Doch Vergil lässt den Erzähler Aeneas die Spannung weiter steigern, da ein mögliches Umdenken oder Umbesinnen des Anchises hier noch nicht vorausgedeutet wird; stattdessen gibt Aeneas nun chronologisch die Ereignisse wieder und referiert als direkte Rede die Worte des Vaters: 12

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»Vos o, quibus integer aevi sanguis,« ait, »solidaeque suo stant robore vires, vos agitate fugam. me si caelicolae voluissent ducere vitam, has mihi servassent sedes. satis una superque vidimus excidia et captae superavimus urbi. sic o sic positum adfati discedite corpus. ipse manu mortem inveniam; miserebitur hostis exuviasque petet. facilis iactura sepulcri.

Zum Propemptikon s. Cairns (2 2007), der auch die Propemptika des Properz und des Horaz untersucht. Schon Nesselrath (1992) 80 zählt diese Ereignisse im Haus des Aeneas zu den BeinaheEpisoden, führt dieses jedoch nicht weiter aus: »Kunstvoll hat Vergil über mehrere Stufen die Situation bis hart an eine drohende Katastrophe geführt (Anchises’ Weigerung – Aeneas’ Reaktion – Kreusas Klage) und die über mehrere Stufen (das Flammenzeichen – Anchises’ erste Reaktion – Iuppiters Bestätigung des Omens) auch wieder entschärft.« Der Beginn der Szene (634–38a): Atque ubi iam patriae perventum ad limina sedis / antiquasque domos, genitor, quem tollere in altos / optabam primum montis primumque petebam, / abnegat excisa vitam producere Troia / exsiliumque pati. Der Aeneis-Text folgt der Ausgabe von Mynors (1969). Zu der Darstellung von Aeneas und Anchises s. Horsfall (2008) 501. Zu den Abbildungen s. Canciani, Fulvio: LIMC I 1 (1981) 386–91 s.v. Aineias (M. Fuga di Troia – Aineias porta Anchises; N. Fuga da Troia – Aineias conduce Anchises). Die Übersetzungen wurden mit kleineren Modifikationen aus der zweisprachigen Ausgabe von Binder/Binder (2012) übernommen.

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Beinahe-Abschiede in der Aeneis iam pridem invisus divis et inutilis annos demoror, ex quo me divum pater atque hominum rex fulminis adflavit ventis et contigit igni.«

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»Ihr, deren Blut jung und unverbraucht ist,« sagte er, »deren starke Kräfte kerngesund sind, sinnt ihr auf Flucht! Hätten die Himmelsbewohner gewollt, dass ich weiterlebe, hätten sie mir diesen Wohnsitz erhalten. Mehr als genug ist es, einmal die Zerstörung der Stadt mitangesehen und ihre Eroberung überlebt zu haben. So, ja so lasst mich liegen, verabschiedet euch und geht. Ich werde im Kampf den Tod finden; ein Feind wird sich erbarmen und nach Beute verlangen. Leicht ist der Verzicht auf ein Grab. Schon längst bin ich den Göttern verhasst und friste unnütz meine Jahre, seit mich der Vater der Götter und König der Menschen mit dem Hauch seines Blitzes anblies und mit seinem Feuer anrührte.«

Kontrastierend zu sich – deutlich werden die Oppositionen vos und me an den Anfang gerückt – stellt Anchises seine Familie als jung und vital dar und fordert sie aus diesem Grund auf zu fliehen (638b–40); es ist damit eine Absage, mit auf die Flucht zu gehen, da er, dieses impliziert er, zu alt sei. Dieses Motiv, der Sohn bricht zu einer Unternehmung auf, der betagte Vater bleibt zurück und spricht eine Abschiedsrede, führt Vergil im weiteren Verlauf der Aeneis bis zum Ende aus: So nimmt Euander von seinem Sohn Pallas Abschied (Verg. Aen. 8,558– 84): Am Anfang der Rede klagt der Vater über seine vergangene junge Lebenszeit, denn wäre er noch so stark wie einst, wäre die jetzige Situation eine andere und er würde nicht aus der süßen Umarmung (568 dulci amplexu) seines Sohns gerissen. 13 Anschließend spricht er ein Gebet und bittet darin die Götter, den Sohn wohlbehalten zurückkehren zu lassen (572–77); 14 sollte aber ein unsägliches Schicksal (infandum casum, 579) drohen, wolle er lieber jetzt im Arm seines Sohns sterben (583a). Schließlich bricht Euander zusammen und wird von seinen Sklaven ins Haus getragen. Die gerade in der Abschiedsszene von Euander und Pallas präsentierte Klage des Helden über den Verlust der Jugend und Stärke ist ein bekannter epischer

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560–71 »O mihi praeteritos referat si Iuppiter annos, / qualis eram cum primam aciem Praeneste sub ipsa / stravi scutorumque incendi victor acervos / et regem hac Erulum dextra sub Tartara misi, / nascenti cui tris animas Feronia mater / (horrendum dictu) dederat, terna arma movenda – / ter leto sternendus erat; cui tunc tamen omnis / abstulit haec animas dextra et totidem exuit armis: / non ego nunc dulci amplexu divellerer usquam, / nate, tuo, neque finitimo Mezentius umquam / huic capiti insultans tot ferro saeva dedisset / funera, tam multis viduasset civibus urbem. at vos, o superi, et divum tu maxime rector / Iuppiter, Arcadii, quaeso, miserescite regis / et patrias audite preces. si numina vestra / incolumem Pallanta mihi, si fata reservant, / si visurus eum vivo et venturus in unum, / vitam oro, patior quemvis durare laborem.

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Topos; schon Nestor beklagt dies in der Ilias. 15 Der flavische Epiker Valerius lässt in seiner Abschiedsszene zwischen Jason und den Eltern, deren Reden nach den Abschiedsworten Euanders modelliert sind, 16 Aeson auch zu Beginn klagen, dass er zu alt und schwach sei, um mitzukommen auf das Unternehmen der Argonauten; 17 interessanterweise lässt Valerius Flaccus Aeson dabei auch die Vitalität, wie der Vater Anchises, mit sanguis ausdrücken. 18 Doch Anchises klagt nicht, dass er zu alt sei, und wünscht sich auch nicht, jünger und wieder stärker zu sein, wie es in der späteren Abschiedsszene des Valerius Aesons Wunsch ist, sondern er deutet seine Schwäche an und ist zu hoffnungslos, um sich die alte Stärke zurückzuwünschen; er hat schon aufgegeben, denn, diese Begründung lässt er folgen (641–43), er habe schon einmal die Zerstörung seiner Heimatstadt Troja mitansehen müssen. Wenn die Götter wollten, dass er lebe, so hätten sie Troja bewahrt. Diese Hoffnungslosigkeit setzt sich im Folgenden fort und evoziert damit deutlich einen endgültigen Abschied: Anchises befiehlt seinen Angehörigen, sich von ihm zu verabschieden, als sei er schon tot (644): sic o sic positum adfati discedite corpus. Die Familie soll damit schon jetzt die letzte Verabschiedung vornehmen, denn Anchises will sterben (645 f.); und Aeneas wird gleichzeitig von allen anderen Verpflichtungen wie der Anwesenheit beim Tod oder der Bestattung freigesprochen. 19 Anders reagiert beispielsweise Alkimede in den Argonautika des Apollonios Rhodios vor der Abfahrt, denn sie würde gerne von Jason bestat-

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Hom. Il. 7,132 f.; 11,670 f., vgl. Fordyce (1977) 264 f. zu Verg. Aen. 8,560 und Zissos (2008) 235 zu Val. Fl. 1,336–440. S. Dräger (2003) und Zissos (2008) jeweils zu den Versen. Val. Fl. 1,336b–40 o si mihi sanguis / quantus erat cum signiferum cratera minantem / non leviore Pholum manus haec compescuit auro, / primus in aeratis posuissem puppibus arma / concussoque ratem gauderem tollere remo. Eine andere Bedeutung von sanguis nimmt Zissos (2008) 235 hier an: »Often sanguis has the figurative sense ›vitality‹, but as Strand (1972), 66–7 notes, quantus erat argues for taking it litterally here.« Dass es eine enge Verbindung zwischen den hier dargestellten Abschieden zwischen Eltern und Kindern gibt, sieht auch Nelis (2001) 322: »Vergil has clearly modelled the departure of Pallas from Evander on Jason taking his leave of Alcimede,« und mit der anschließenden Anmerkung 239: »Valerius Flaccus appreciated the connection and in turn modelled his Alcimede on Evander; cf. Arg. 1.323–7 and [Verg. Aen.] 8.574–80.« Der Beinahe-Abschied zwischen Anchises und seiner Familie fügt sich gut in diese Tradition ein. »To die with one’s family round one’s beside was counted a blessing ([Dionys.] Rhet. 5, p. 30; [Plut.] Cons. Ad Apoll. 117B) just as, for Andromache and others afterwards, it was a source of grief not to have been present to hear the last words of a dying man (Iliad 24, 743–5; [Plut.] Cons. ad Apoll. (loc. cit.),« Ogilvie und Richmond (Cornelii Taciti de vita Agricolae. Edited by R. M. Ogilvie and The Late Sir Ian Richmond, Oxford 1967) 311 in ihrem Kommentar zu Tac. Agr. 54,4.

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tet werden. 20 Aber nicht einmal durch diesen Akt der pietas erga parentes will Anchises die Angehörigen aufhalten. 21 Zum Schluss erklingen noch einmal – wie auch am Anfang – unterschwellig Gründe, warum er seine Familie fortschickt und zurückbleiben möchte: neben der fehlenden körperlichen Kraft (vgl. 647 f. inutilis annos / demoror), die ihn ein Hindernis auf der Flucht werden ließe, 22 könnte er auch das Gelingen des Unternehmens in Gefahr bringen, weil er den Göttern verhasst sei (iam pridem invisus divis, 647a) – ein gutes Gelingen einer Unternehmung setzt schließlich den Schutz der Götter voraus, wie es auch bei den Wünschen in einem Propemptikon betont wird. 23 Anchises, so erzählt es Aeneas weiter, beharrt auf seinem Standpunkt (talia perstabat memorans fixusque manebat, 650) – trotz der physischen Schwäche und besonders trotz der Tränen, die die Angehörigen vergießen. 24 Auch wenn Situation und Motivation von dieser Szene natürlich differieren, so gleicht doch die Verhaltensweise des Vaters dem späteren Auftreten des Sohns, denn auch Aeneas lässt sich nicht durch Worte und Tränen von der Trennung von Dido abbringen: Die karthagische Königin bittet per . . . has lacrimas (4,314), doch Aeneas hält sich an die Anweisungen Jupiters, und auch Annas späterer Bittgang kann Aeneas nicht umstimmen. 25 Die Spannung wird in der Erzählung in Buch zwei gehalten, da Aeneas, Creusa und Ascanius und alle im Haus weinen, wie es auch oftmals in Abschiedsszenen beschrieben wird, so beispielsweise auch beim Abschied Jasons von seinen Eltern. 26 Auch hier findet sich keine Andeutung, dass sich die Situation nicht zu einem Abschied entwickelt, denn erneut erzählt Aeneas, Anchises verweigere sich dem Vorhaben (654): abnegat incepto. Statt nun eine Rede zu halten, die Anchises durch Entkräftung der Gründe vom Mitgehen überzeugt, indem er zum Beispiel 20

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Apoll. Rhod. 1,278–82a: »Wenn ich doch an jenem Tag, als ich Arme hörte, wie der König Pelias den schlimmen Auftrag verkündete, sogleich mein Leben ausgehaucht und meinen Kummer vergessen hätte, damit du selbst mich mit deinen eigenen Händen bestattet hättest, mein Kind!« Nach Richardson (1940), dem sich auch Wiik (2008) 70–2 anschließt, ›verzichtet‹ Anchises auf ein Begräbnis (facilis iactura sepulcri, 646), weil er versucht, die Fliehenden zu retten, wie aus einer Parallele zu Livius hervorgeht: »In the fifth book, 39.12, during the account of the Gallic capture of Rome, the old Romans decide, like Anchises, to sacrifice themselves in an attempt to save the others . . . « Wiik (2008) 71. Auch Austin (1964) 224 versteht diesen Hinweis so: »Anchises, despite all his subborn and bitter thoughts, must have felt himself a hindrance to his son’s chances of escape.« S. zu diesem Motiv (»good wishes and divine help for outlined journey ending at destination«) Cairns (2 2007) 115. Trotz der physischen Schwäche, vgl. Horsfall (2008) 466 zu Vers 650. 331 f. ille Iovis monitis immota tenebat / lumina et obnixus curam sub corde premebat. 337–39 Talibus orabat, talisque miserrima fletus / fertque refertque soror. sed nullis ille movetur / fletibus aut voces ullas tractabilis audit. Apoll. Rhod. 1,292 f.: »So klagte sie (sc. Alkimede) in ihrem Schmerz, und ihre Dienerinnen, die sie umringten, klagten 〈mit ihr〉.«

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die Intentionen nennt, die er vor der Ankunft an seinem Haus verfolgte, den Vater auf der Flucht zu tragen, 27 will er sich nun erneut in die Kämpfe stürzen. Er richtet zuvor aber noch Worte an verschiedene Adressaten: 28

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»mene efferre pedem, genitor, te posse relicto sperasti tantumque nefas patrio excidit ore? si nihil ex tanta superis placet urbe relinqui, et sedet hoc animo perituraeque addere Troiae teque tuosque iuvat, patet isti ianua leto, iamque aderit multo Priami de sanguine Pyrrhus, natum ante ora patris, patrem qui obtruncat ad aras. hoc erat, alma parens, quod me per tela, per ignis eripis, ut mediis hostem in penetralibus utque Ascanium patremque meum iuxtaque Creusam alterum in alterius mactatos sanguine cernam? arma, viri, ferte arma; vocat lux ultima victos. reddite me Danais; sinite instaurata revisam proelia. numquam omnes hodie moriemur inulti.« »Dass ich dich, Vater, zurücklassen und den Fuß aus diesem Haus setzen könnte, hast du das erwartet, ist wirklich eine solche Ungeheuerlichkeit dem Mund des Vaters entschlüpft? Wenn es den Göttern gefällt, dass nichts von dieser bedeutenden Stadt übrig bleibt, und du auf deinem Entschluss beharrst und es dir beliebt, dich und die Deinen dem sicheren Untergang Trojas beizugesellen, so steht diesem Tod die Tür offen, und gleich wird Pyrrhus, über und über bespritzt vom Blut des Priamus, zur Stelle sein, der den Sohn vor den Augen des Vaters, dann den Vater am Altar erschlägt. War es dies, gütige Mutter, wofür du mich durch Geschosshagel und Feuer hindurch gerettet, um mitten im eigenen Haus den Feind, Ascanius und meinen Vater und daneben Creusa, den einen im Blut des anderen hingeopfert zu sehen? Waffen, Männer, schafft meine Waffen her; es ruft der letzte Tag die Besiegten! Bringt mich wieder zu den Danaern, lasst mich von neuem den Kampf aufnehmen! Nie und nimmer werden alle heute sterben, ohne gerächt zu werden!«

Zunächst reagiert Aeneas sehr emotional auf das Vorhaben seines Vaters, ob Anchises wirklich erwartet habe, dass er gehen und ihn zurücklassen könne (657 f.). Die Kommentare führen als Parallele zu diesen Versen den Anfang der Dido-Rede im vierten Buch an, wenn die Königin von Karthago Aeneas vor der Abfahrt zur Rede stellt. Auch dort findet sich die verkürzte Perfektform: 29 dissimulare etiam sperasti, perfide, tantum / posse nefas tacitusque mea decedere terra? (4,305 f.). Doch gibt es neben sprachlichen Bezügen auch motivische Verbindungen? Dido 27 28

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Vgl. 635 f.: genitor, quem tollere in altos / optabam primum montis primumque petebam. Highet (1972) 146: »Apart from certain prayers directed to several deities, this is the only speech in which Aeneas addresses several different hearers (›genitor‹, ›alma parens‹, ›uiri‹): the fact betokens his extreme excitement.« Nur noch ein weiteres Mal findet sich diese Form in der Aeneis: 9,560 f.

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ist wütend, dass Aeneas wortlos und heimlich Karthago verlassen will, und Aeneas hat im Untergang Trojas kein Verständnis für den Wunsch des Anchises, zurückgelassen zu werden. Die Situationen korrespondieren darin, dass jeweils der Sprecher überzeugt ist, dass der Angesprochene eine Trennung wünscht, und dass Aeneas und Dido darüber enttäuscht und aufgebracht sind. Beide empfinden das Verhalten des anderen als tantum nefas (Verse 305 f. und 658), doch deutet Aeneas den Ausspruch des Anchises mit excidit so, als wüsste sein Vater gar nicht, was er da sagte, und als wären seine Worte unbedacht aus dem Mund ›rausgerutscht‹. 30 In den folgenden Versen nämlich veranschaulicht er seinem Vater, welche Konsequenzen die Entscheidung für die gesamte Familie zur Folge haben werde: Wie Troja werden auch die Angehörigen ein trauriges Ende finden (659–63). Aeneas spricht nun auch voller Enttäuschung und Fassungslosigkeit seine abwesende Mutter an (664–67), ob sie ihn nur sicher zu seinem Haus geleitet habe, damit er dort mitansähe, wie alle getötet würden. Schließlich verlangt er nach seinen Waffen und rüstet sich erneut für den Kampf. Aeneas kann seinen Vater nicht von der Flucht überzeugen, will jedoch nicht ohne ihn Troja verlassen und sucht so den Weg zurück in die Kämpfe. Und hier kommt nun eine bewegende Wendung, angedeutet mit ecce: 31 Creusa versucht Aeneas im letzten Augenblick, auf der Türschwelle (in limine) festzuhalten, sie wirft sich ihm geradezu in den Weg, umklammert bittend die Füße und streckt, um Mitleid zu erregen, den Sohn Ascanius entgegen. 32 Doch was den Anschein erwecken könnte, einen Abschied aufzuheben, erzeugt durch Parallelen zu anderen Texten, die Abschiede thematisieren, nur ein noch stärkeres Bild von einer Abschiedsszene: Die nonverbale Handlung Creusas erinnert an lebhafte Darstellungen der Liebeselegie, in denen der Versuch unternommen wird, den geliebten Menschen festzuhalten, um ihn am Fortgehen zu hindern. 33 Auch ein motivischer 30

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Vgl. Austin (1964) 250 zu Vers 658 und Horsfall (2008) 470 zu Vers 658. Die Redesituation darf hier nicht außer Acht gelassen werden: Dido erfährt die Enttäuschung über Anchises’ Ansinnen aus Aeneas’ Darstellung. So könnte sie im vierten Buch Aeneas’ eigene Worte zitieren, um ihn an den Schmerz, den er angesichts des damaligen BeinaheAbschieds empfand, zu erinnern. Ich danke Frau Prof. Dr. Claudia Schindler (Hamburg) für diesen Hinweis. Ecce autem complexa pedes in limine coniunx / haerebat, parvumque patri tendebat Iulum (673 f.). Plötzlich aber, auf der Schwelle, schlang meine Frau ihre Arme um meine Füße, klammerte sich fest an mich und hielt mir, dem Vater, den kleinen Iulus entgegen. Das Umschlingen der Füße ist eine Bitt-Gebärde, vgl. Sittl (1890) 164 f. Greene (1995) 220 weist darauf hin, dass in der Ilias einer Bitte oft stattgegeben wird, wenn diese mit physischem Kontakt, Berührung der Knie, verbunden ist: »Of the eight supplicants who initiate physical contact with their supplicand, five (1.498–527, 9.451 ff., 15.660– 70, 18.457, 24.477–508) receive the desired favor.« Zum ostentativen Hinstrecken des Kindes als in der Rhetorik empfohlenes Mittel der commiseratio bzw. conquestio s. Lobe (1999) 185. Vgl. Hübner (1968) 22 f. Anm. 64: Zu finden ist dieses Motiv z.B. in Prop. 1,6,5 sed me complexae remorantur verba puellae und Tib. 1,1,55 Me retinent vinctum formosae

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Anklang an die Abfahrt der Argonauten lässt sich hier vernehmen: Apollonios Rhodios beschreibt, wie Chiron und dessen Frau, den kleinen Achill auf dem Arm haltend, am Ufer stehen und diese immer wieder dem Vater Peleus den Sohn zeigen: 34 Einem großen Heros wird ein zukünftiger großer – in Achills Fall noch größerer – Held gezeigt, der zu der Zeit der Trennung aber noch schutzbedürftig ist. Aeneas’ Drang, in den Kampf zu ziehen, erinnert an Hektor und besonders die eindringliche Rede Creusas weist deutliche Züge der Rede Andromaches im sechsten Buch der Ilias auf. Dies ist nicht verwunderlich, schließlich korrespondieren die Situationen in beiden Szenen scheinbar: Creusa und Andromache haben ihre Familien verloren, Aeneas erwähnt die Ermordung des Priamos zuvor noch in seiner Rede; der Ehemann will in einen Kampf ziehen, »von dem er weiß, daß er ihm Tod, seiner Familie Verderben bringen wird, zu dem es aber für ihn keine Alternative gibt. Und beide Male sind es die Frauen, die den Mann zurückhalten wollen« 35. 675

»si periturus abis, et nos rape in omnia tecum sin aliquam expertus sumptis spem ponis in armis, hanc primum tutare domum. cui parvus Iulus, cui pater et coniunx quondam tua dicta relinquor?«

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»Stürzt du dich wissend in den Tod, so reiße mit dir auch uns in alles, was kommt; setzt du aber mit gutem Grund noch eine Hoffnung auf die ergriffenen Waffen, so schütze allem voran dieses Haus! Wem wird der kleine Iulus, wem der Vater, wem werde ich, die einmal deine Frau hieß, zurückgelassen?«

Am Beginn der Rede hebt sie die Schicksalsverbundenheit hervor: Si periturus abis, et nos rape in omnia tecum. »Creusas Worte sind Ausdruck höchster Angst, dem drohenden Schicksal schutzlos ausgeliefert zu sein. Sie ist entschlossen, dem Gatten in jede Lebenslage, auch in den Tod, zu folgen, um nicht von seiner Seite getrennt zu werden.« 36

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vincla puellae. Horsfall (2008) 477 zu Vers 674 geht davon aus, dass Il. 6 einen geringeren Einfluss auf die einrahmende Darstellung mit dem Entgegenstrecken des Ascanius hatte, und verweist auf lateinische Vorbilder: »[T]he scene is unexpectedly Roman and quotidian.« 1,547–58. Auch Nelis (2001) 458 führt in seinem Anhang als korrespondierende Stelle zu Verg. Aen. 2,674b die Verse der Argonautika an. Zur Abschiedsszene zwischen Achill und Peleus mit Schwerpunkt auf der Ausgestaltung bei Valerius Flaccus s. Tschiedel (2004). Dort ist aus der knappen ›Randszene‹ eine längere Szene zwischen Vater und Sohn geworden; zwar zeigt auch dort Chiron Achill (iamque aderat summo decurrens vertice Chiron / clamantemque patri procul ostendebat Achillen, 1,255 f.), jedoch umarmen sich später auch noch Vater und Sohn. Gall (1993) 46 zu den korrespondierenden Situationen in Aen. 2 und Il. 6. Zu den Parallelen dieser Szenen s. auch Feldmann (1958) und Hughes (1997). Hübner (1968) 23.

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Schon Andromache ruft Hektor den gemeinsamen Sohn ins Gedächtnis und prophezeit, dass durch seinen Tod der Sohn zum Waisen und sie zur Witwe werde, in dem Bestreben, ihn vom Kampf ab- und auf dem Turm zu halten. 37 Auch Creusa appelliert an die pietas dem kleinen Sohn, dem Vater und schließlich der Ehefrau gegenüber (677 f.) – und greift damit die Figurenkonstellation in den Worten des Aeneas wieder auf (vgl. 666 Ascanium patremque meum iuxtaque Creusam), um Aeneas zum Bleiben zu bewegen. Aeneas, der aus pietas gegenüber seinem Vater nicht ohne diesen aus Troja fliehen wollte (657 te . . . relicto), muss sich nun vorwerfen lassen, keine pietas zu zeigen und Creusa zurückzulassen (678 relinquor). Der enttäuschte Sohn scheint die eigenen Pflichten als Vater ganz vergessen zu haben. Dann erscheint plötzlich, die Klage Creusas ist noch nicht ganz verstummt, ein Flammen-Prodigium, das Anchises zum Umdenken bewegt (679–86). cedo equidem nec, nate, tibi comes ire recuso (704): »Ja, ich füge mich und weigere mich nicht länger, mein Sohn, dich zu begleiten.« Der intensiven Steigerung des Abschieds – von Anchises’ Weigerung und seinem Wunsch, letzte Worte an ihn zu richten, als sei dieser schon tot, über Aeneas’ Unverständnis, dass der Vater eine Trennung möchte, bis hin zu Creusas Worten, die der Situation Züge des Abschiedstreffens von Hektor und Andromache verleihen – wird durch das Prodigium ein jähes Ende bereitet. Da durch viele intertextuelle Bezüge alle Inhalte der Reden und auch die Szenerie auf einen Abschied deuten, bedarf es eines deus ex machina, um den Konflikt zu lösen und den Abschied, der sich abzuzeichnen scheint, abzuwenden. 38 Weder die Worte des Aeneas, noch die Worte Creusas bringen ein Umdenken – es ist das Prodigium, das hier eine plötzliche Wendung bereitet. In der ersten Beinahe-Episode kommt es damit durch göttliches Eingreifen nicht zu einer Trennung, obwohl die Erzählung auf einen Abschied zusteuert. Dort zeigen sich als dominierende Motive in der Aeneis göttliches Eingreifen und menschlicher Gehorsam. 39

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Hom. Il. 6,431 f. Auf einen deus ex machina weist schon Heinze (1976) 57 hin: »Spiel und Gegenspiel gehen von Anchises und Creusa aus: durch ihr Verhalten wird ein Knoten geschürzt, der nur durch göttliches Eingreifen, einen wahren deus ex machina, gelöst werden kann.« Hughes (1997) 414 f. sieht in dem Flammenprodigium eine weitere Parallele zu der Abschiedsszene in Il. 6: »Interestingly, the incident of the ›flaming‹ helmet leads Hector to make a hopeful prayer that his son will enjoy success in battle and will be better than his father (Il. 6. 476–81). In the Aeneid too the despair of the family at this point is dispelled by a flame that appears over the head of young Iulus.« Horsfall (2008) 458: »This is the point at which (paradoxically benevolent) divine intervention and human obedience are introduced as dominant motifs of the poem.«

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Beinahe-Abschied von Nisus und Euryalus (Verg. Aen. 9,176–223) Der zweite Beinahe-Abschied findet ebenfalls ein abruptes Ende, auch wenn die narratologische Gestaltung eine andere ist: Im neunten Buch der Aeneis werden die Aeneaden von den Rutulern belagert und das Freundespaar Nisus und Euryalus, das hier erneut vorgestellt wird, obwohl es schon während der Wettkämpfe in Buch fünf auftrat, 40 fasst gemeinsam den Entschluss, Aeneas über die bedrohliche Lage zu informieren – soweit verkürzt wird in Zusammenfassungen diese Szene der Episode, auf die hier näher eingegangen werden soll. 41 Nach Zustimmung des Teukrerrates ziehen sie los, bringen auf ihrem Weg zahlreiche Rutuler um, die Anklänge an die Dolonie im zehnten Buch der Ilias sind kaum zu überhören, 42 und sterben schließlich beide, ohne Aeneas erreicht zu haben – dies ist nur eine starke Raffung der Ereignisse – doch werden sie mit einem vielzitierten Nachruf bedacht. Im Fokus dieser Untersuchung steht der Anfang des Unternehmens, 43 Nisus und Euryalus befinden sich auf ihrem Posten am Tor – wie Fowler schon richtig darstellt, kann das Tor hier auch symbolisch für den Anfang der Episode gelten – 44 und Nisus beginnt mit einer Frage, die als zentral für die gesamte Aeneis angese-

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Auf diese erneute Einführung der beiden weisen auch die Kommentare hin. Bereits das erste Auftreten der beiden ist geprägt von einem beinahe eintretenden Geschehen: Der das Wettrennen anführende Nisus hätte beinahe mit seinem Verfolger das Ziel erreicht, als er stürzte (327–30 iamque fere spatio extremo fessique sub ipsam / finem adventabant, levi cum sanguine Nisus / labitur infelix, caesis ut forte iuvencis / fusus humum viridisque super madefecerat herbas), s. Nesselrath (1992) 76. Solche Formulierungen finden sich z.B. bei Dingel (1997) 101, der die Verse 176–223 mit den Worten »Entschluß zum gemeinsamen Wagnis« überschreibt, oder bei SchmitNeuerburg (1999) 40: ». . . in dem Gespräch zwischen Nisus und Euryalus und ihrem gemeinsamen Entschluß, ihren Plan auszuführen.« Derartige Zusammenfassungen der Passage resultieren natürlich daraus, dass andere Schwerpunkte bei der Untersuchung gesetzt wurden. Differenziert sieht es z.B. Wiltshire (2000) 189: »Nisus, the elder of the pair, poses the excursion in the first place but later tries to dissuade Euryalus from joining him.« Die intertextuellen Bezüge wurden schon zahlreich untersucht. Zu den Modellen für Nisus und Euryalus s. Hardie (1994) 29–31, Casali (2004) bes. 326: »Nisus and Euryalus are a pair, like Diomedes and Odysseus, and they slaughter a group of sleeping men, like Diomedes and Odysseus. But, unlike Diomedes and Odysseus, they are discovered, like Dolon, and fail miserably, like Dolon, ending up by being beheaded, like Dolon.« Vergils Darstellung wurde auch durch die antike Homerexegese beeinflusst, s. dazu SchmitNeuerburg (1999) 23–65. S. zu dieser Szene u.a. Duckworth (1967), Fitzgerald (1972); Lennox (1977), Pizzolato (1995) 276 f.; Petrini (1996) mit dem Kapitel 3 (Nisus and Euryalus), in dem auch die Parallelen zwischen dem Verlust des Euryalus und dem Verlust Creusas’ in Aen. 2 thematisiert werden. Fowler (2000) 93 mit Anm. 12.

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hen werden kann und die aus diesem Grund viel Aufmerksamkeit erregt hat (Vers 184 f.): 45 Sind die Götter für die Entscheidungen der Menschen verantwortlich oder die Menschen selbst? 46 Er wolle kämpfen oder ein großes Wagnis auf sich nehmen (186 f.); die derzeitige Lage biete eine Gelegenheit dazu, seien doch die Rutuler durch den Wein gerade kampfunfähig (188–90) und auf ihrer Seite wolle man Aeneas über die Situation informieren (191–93). Nisus nennt zum Abschluss seiner Rede einen Plan (195bf.: »Ich glaube, unmittelbar unter dem Hügel einen Weg finden zu können zu den Mauern der Stadt Pallanteum«), den er in die Tat umsetzen will, wenn – und diese Bedingung eröffnet das Vorhaben (194 f.) – seinem Freund Euryalus das von ihm Verlangte versprochen werde; er stellt somit Euryalus und dessen materielle Absicherung in der Bedingung des Plans voran. Er selbst wolle sich mit dem durch die Tat erlangten Ruhm begnügen. Mit diesen Worten ist die Ausgangssituation bzw. Konstellation klar konturiert: Ein Mann will sich in eine gefährliche Unternehmung begeben, er »brennt« darauf, wie aus der folgenden Beschreibung, die von Euryalus fokalisiert sein könnte, hervorgeht (198 Euryalus . . . ardentem adfatur amicum). Vielleicht will er sogar in den Kampf ziehen, zumindest zieht er dies in Erwägung, da er von einem Kampf spricht (186 pugnam). Er wird einen geliebten Menschen zurücklassen – dass die beiden eine große Liebe verbindet, steht bereits am Anfang der Szene –, 47 auch wenn hier natürlich nicht die Diskussion, ob die zwei ein Liebespaar sind, im Zentrum dieser Untersuchung steht. 48 Wie reagiert Euryalus auf dieses Ansinnen, entspricht doch die Ausgangskonstellation den gerade gesehenen Abschieden bzw. Beinahe-Abschieden der Ilias und der Aeneis? In der Forschung wird immer wieder betont, dass er von der Liebe nach Ruhm ganz und gar durchdrungen sei, denn es heißt magno laudum percus-

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Die Nisus-Rede: Verg. Aen. 9,184–96 »dine hunc ardorem mentibus addunt, / Euryale, an sua cuique deus fit dira cupido? / aut pugnam aut aliquid iamdudum invadere magnum / mens agitat mihi, nec placida contenta quiete est. / cernis quae Rutulos habeat fiducia rerum: / lumina rara micant, somno vinoque soluti / procubuere, silent late loca. percipe porro / quid dubitem et quae nunc animo sententia surgat. / Aenean acciri omnes, populusque patresque, / exposcunt, mittique viros qui certa reportent. / si tibi quae posco promittunt (nam mihi facti / fama sat est) tumulo videor reperire sub illo / posse viam ad muros et moenia Pallantea.« Zur Motivation von Nisus (und Euryalus) s. Casali (2004) 337–39. Die Götter sind im weiteren Verlauf der Handlung abwesend; Nisus und Euryalus sind nicht (nur) motiviert durch die Belohnungen, die Ascanius ihnen in der Versammlung (9,257–280a) in Aussicht stellt, sondern auch durch das Streben nach Ruhm. Zu der lukrezischen Junktur dira cupido und den damit evozierten intertextuellen Bezügen s. Hardie (1994) 109, Fowler (2000) 96. Verg. Aen. 9,182 his amor unus erat pariterque in bella ruebant. S. zu den verschiedenen Bewertungen der Beziehung zwischen Nisus und Euryalus u.a. Makowski (1989) bes. 2 mit Anm. 3 und 4, Meban (2009) 239–59.

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sus amore (197), 49 doch dem Partizip steht das Prädikat obstipuit voran, das eine weitere Konnotation zuließe: Dieses kann sicherlich die Bewunderung des Euryalus für den Gefährten Nisus ausdrücken; 50 gleichzeitig könnte hier aber auch ein Erstaunen mitschwingen: Euryalus ist überrascht und verblüfft über die Worte, da er nicht als Teilnehmer des Unternehmens eingebunden werden soll, schließlich kommt dieses Verb auch in Kontexten vor, die eine Reaktion auf ein unerwartetes, auch schauerliches Ereignis beschreiben. 51 So ist auch die erste Reaktion in Euryalus’ Antwort kein Hinweis auf Ruhm, sondern eine als Frage formulierte Klage: 52 200

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»mene igitur socium summis adiungere rebus, Nise, fugis? solum te in tanta pericula mittam? non ita me genitor, bellis adsuetus Opheltes, Argolicum terrorem inter Troiaeque labores sublatum erudiit, nec tecum talia gessi magnanimum Aenean et fata extrema secutus: est hic, est animus lucis contemptor et istum qui vita bene credat emi, quo tendis, honorem.« »Mich als Gefährten für äußerste Umstände beizugesellen, Nisus, davor rennst du davon? Allein soll ich dich in so große Gefahr gehen lassen? Nicht hat mich so mein Vater, der kampfgewohnte Opheltes, während des schrecklichen Krieges gegen Argos und der Not Trojas angenommen und großgezogen, auch habe ich nicht an deiner Seite so kleinmütig

So beispielsweise Fitzgerald (1972) 116: »Euryalus the boy (puer), distinguishable in the bare emergence of youth (ora puer prima signans intonsa iuventa. 181), who is thereby so impressionable, so uncritical (obstipuit. 197) in regard to the values of his elders, the glory (laudum. 197) his older friend holds before him as attainable; such glory which is so desirable (magno . . . amore. 197). Euryalus is overwhelmed at such opportunity (percussus. 197).« Horsfall (2 2001) 171: »Euryalus too (cf. 194 f.) is struck by laudis amor . . . « Ross (2007) 36: »Euryalus too is smitten with ›a great love of heroic glory‹ . . . « Dies impliziert sicherlich Dingel (1997) 107 zu Vers 197, wenn er nur knapp die Parallelen nennt: »Vgl. 8,121, aber auch 1,513«; in Buch acht wird hiermit die Reaktion des Pallas auf die Worte des Aeneas beschrieben, im ersten Buch erklärt Aeneas die Wirkung der Erscheinung Didos im Tempel auf sich und Achates mit diesem Verb. So beispielsweise in Verg. Aen. 2,774, wenn Aeneas nach dem Verlust Creusas auf ihren Schatten trifft; dieser Vers entspricht dem Vers 3,48, der Aeneas’ Reaktion auf das Prodigium der blutenden Zweige illustriert. Auch in 5,90 reagiert Aeneas derartig auf das Erscheinen einer Schlange. Auch Pavlock (1985) 211 sieht die Erschütterung in Euryalus: »Vergil uses strong language to convey the youth’s intense response: ostipesco denotes a state of being struck senseless with astonishment, and percutio implies a violent blow.« Nur in Verg. Aen. 8,121 drückt dieses Verb vielmehr Bewunderung aus, denn von Pallas heißt es obstipuit tanto percussus nomine (sc. Aeneae) Pallas. Schon de la Cerda (Cerda, Juan Luis de la, P. Vergilii Maronis Aeneidos Sex Libri Posteriores, Köln 1628) 309 fasst den Anfang als querela auf.

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Beinahe-Abschiede in der Aeneis gestritten, als ich dem heldenhaften Aeneas gefolgt bin bis an den Rand des Todes: Hier, ja hier ist eine Gesinnung, die dem Licht des Daseins keinen Wert beimisst und glaubt, dass Ehre dort gut erworben werden kann, wohin du strebst.«

Aus dem Gesagten schlussfolgert Nisus, hier mit igitur angedeutet, 53 dass Euryalus ihn bei dem gegenwärtigen Unternehmen, dessen Gefahr er impliziert (summis rebus), nicht als socius an seiner Seite haben möchte. Die enge Beziehung der beiden wurde schon in der Szeneneinleitung hervorgehoben, Euryalus wurde als comes des Nisus vorgestellt, ihre gemeinsamen Erlebnisse wurden erwähnt und auch in dieser Nacht verrichten sie gemeinsam den Dienst. 54 Das Ansinnen des Nisus erzeugt damit nicht nur bei Euryalus, sondern auch beim Rezipienten Erstaunen, ist es doch dem bisherigen Verhalten diametral entgegengesetzt. Natürlich beinhalten die Worte des Euryalus den Freundschaftstopos, dem Gefährten zu folgen bis ans Ende der Welt, wie es schon aus Catulls elftem carmen oder Horaz’ Oden bekannt ist. 55 Und sicherlich könnte Vergil, wie es schon vermutet wurde, von der Darstellungsweise der Freunde Orest und Pylades in der Iphigenie bei den Taurern des Euripides inspiriert worden sein. 56 Doch ist hier die Formulierung bedeutsam: Vergil lässt Euryalus das Verb fugere mit dem Infinitiv nutzen, eine weniger häufige Konstruktion, die in den Werken Vergils kein zweites Mal zu finden ist. 57 Zusammengezogen kommen diese Verse der Vorhaltung Didos gleich, als sie Aeneas zur Rede stellt: Sie wirft Aeneas vor, seine Reise nach Latium trotz Gefahren des Weges und der widrigen Umstände durch die Jahreszeit fortsetzen zu wollen; diese Ausführungen gipfeln in der Frage, mit der sie das

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Ähnlich schlussfolgert der amator in Prop. 1,8,1–4 auf Cynthias Reisepläne: Tune igitur demens, nec te mea cura moratur? / an tibi sum gelida vilior Illyria? / et tibi iam tanti, quicumque est, iste videtur, / ut sine me vento quolibet ire velis? Vgl. die Szeneneinleitung Verg. Aen. 9,179–83: et iuxta comes Euryalus, quo pulchrior alter / non fuit Aeneadum Troiana neque induit arma, / ora puer prima signans intonsa iuventa. / his amor unus erat pariterque in bella ruebant; / tum quoque communi portam statione tenebant. Auf diesen Topos verweist Hardie (1994) 111 zur Stelle. Dieses Motiv findet sich in Catull. 11,1–4; Hor. carm. 2,6,1 und 2,17,10; vgl. ferner Prop. 1,6,3 f. Zu diesem Motiv im Kontext der Propemptikonelemente s. Cairns (2 2007) 4; 123 f. Parallelen zu diesem Drama sieht König (1970) 111–14, die besonders die Aufopferung der Freunde füreinander und den Wunsch, gemeinsam zu sterben, gleichsetzt; Pavlock sieht neben Entsprechungen zur Dolonie auch Parallelen zu Euripides’ Rhesos: »The allusions to the Doloneia and to the Rhesus point in particular to the characters’ concern with gloria and pietas,« Pavlock (1985) 222. Auf die Analogien weist auch La Penna (1983) hin 310 f.: Während es ein dichtes Netz an Bezügen zu ähnlichen Szenen bei Homer gebe, seien die Verbindungen zum Drama des Euripides weniger deutlich markiert, jedoch nicht weniger von Bedeutung. Zu fugere mit dem Infinitiv s. ThLL 6.1.1491.64–77. Zum Vorkommen des Verbs fugere in den Werken Vergils s. Warwick, Henrietta Holm, A Vergil Concordance (with the technical assist. of Richard L. Hotchkiss), Minneapolis 1975, 336 f.

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Verhalten des Aeneas erklärt: mene fugis? 58 Dieser intertextuelle Bezug wurde natürlich schon erkannt, auch die Sprache, die Nisus hier verwendet, wird dem sermo amatorius zugeordnet, 59 da das Verb fugere häufig in Liebeskontexten das Weggehen eines geliebten Menschen charakterisiert. 60 Dies bedarf jedoch noch einer Ergänzung: Im militärischen Kontext, in dem diese Szene maßgeblich verortet ist, hat fugere aber auch die Konnotation ›desertieren‹. 61 So entwickelt sich am Anfang vor der Folie Didos eine Rede, die Verwunderung und Enttäuschung zum Ausdruck bringt; Nisus verletzt in den Augen des Euryalus durch den Plan, alleine zu gehen, nicht nur die Pflichten als geliebter Freund, sondern auch die Pflichten als Kamerad. 62 Die damit verknüpfte Frage solum te in tanta pericula mittam? erweckt die Erinnerung an eine andere Abschiedsszene, denn die Worte ähneln denen der homerischen Hekuba, die entsetzt ist vom Vorhaben des Priamos, den Leichnam ihres gefallenen Sohns Hektor von Achill auszulösen; sie fragt: »Wie willst du zu den Schiffen der Achaier gehen ganz alleine?« 63 Die gerade präsentierten Worte Didos und Hekubas stellen eine besondere Adaptation des Propemptikon dar, einen Schetliasmos, der aus dem Versuch besteht, einen Menschen, der im Begriff ist aufzubrechen, durch Hinweise auf bevorstehende Gefahren von seinem Vorhaben abzuhalten. 64 Doch Euryalus verfolgt – obwohl er die Gefahren, tanta pericula, erkennt und prononciert – ein anderes Ziel: Dazu stellt er sich und seine Entwicklung von frühester Jugend bis zum Zeitpunkt der Unterredung dar. Die Negation führt jeweils in die Selbstdarstellung ein (201 non, 203 nec), um gleichsam Nisus zu widersprechen. Zunächst beruft er sich auf seine Erziehung und auf seine väterliche Abstammung (201–203a): Er ist geprägt von seinem kriegserprobten Vater Opheltes und den Ereignissen des Trojanischen Kriegs. Anschließend erinnert er knapp an die gemeinsamen Erlebnisse mit Nisus (tecum talia gessi) und auch mit Aeneas. Dabei betont er immer wieder die bis jetzt schon überstandenen Strapazen (terror, labores, fata extrema). Nach diesem Blick in die Vergangenheit kommt er nun schlussfolgernd zu seinem Anliegen: Er will Nisus begleiten, denn dort, wo er hingehe (quo tendis), könne er Ruhm (honorem) erlangen; die Gefahren, die er zu Beginn der Rede nannte, greift er auf (205), indem er

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Vgl. Verg. Aen. 4,309–14a: quin etiam hiberno moliri sidere classem / et mediis properas Aquilonibus ire per altum, / crudelis? quid, si non arva aliena domosque / ignotas peteres, et Troia antiqua maneret, / Troia per undosum peteretur classibus aequor? / mene fugis? So Dingel (1997) 108 zu Vers 199 f. Zu den Stellen vgl. Pichon (1966) 156 f. s.v. fugere: »fugere proprio sensu est procul ab amante discedere.« Vgl. ThLL 6.1.1481.20–27. Natürlich drückt das Substantiv socius auch in der Liebeselegie die enge Beziehung der Liebenden aus s. Pichon (1966) 264 s.v. socius. Doch sollte nicht dessen militärische Konnotation außer Acht gelassen werden. Die Wortwahl ist polyvalent. Hom. Il. 24,203 p¿c ‚jËleic ‚p» n®ac >Aqai¿n ‚ljËmen o⁄oc. Vgl. Cairns (2 2007) 7–10 und passim.

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seinen animus als lucis contemptor darstellt, er nimmt folglich sogar in Kauf, bei diesem Unternehmen zu sterben, wie es auch beim Appell der Creusa zu sehen war. Euryalus wirbt geradezu für sich selbst, indem er zunächst eine negierte Selbstdarstellung gibt, um der darauf folgenden kontrastierenden und tatsächlichen (animus lucis contemptor) mehr Gewicht zu verleihen. 65 Neben dem Anfang der Rede weisen auch die gerade zitierten Verse motivische Verbindungen zum Propemptikon auf: Der Zurückleibende drückt gewöhnlich den Wunsch aus, den Fortgehenden zu begleiten, 66 jedoch spricht Euryalus hier keinen Wunsch aus, sondern eine Tatsache. Die Erinnerung an die gemeinsamen Erlebnisse in Troja und auf dem Weg nach Latium dient hier nicht, wie es in anderen Abschieden üblich ist, dazu, Nisus von seinem Vorhaben abzubringen und zum Bleiben zu bewegen wie Andromache und Creusa, vielmehr ist sie Teil der Argumentation, Nisus zu folgen. Ähnlich verhält sich auch Dido, wenn sie Aeneas per conubia nostra, per inceptos hymenaeos (316 bei unserer Ehe, der kaum erst vollzogenen Hochzeit) beschwört, von dem Vorhaben abzulassen (318 f. istam / . . . exue mentem). Auch Nisus stellt in seiner Antwort die Negationen prononciert voran und greift so ein Charakteristikum, zunächst nicht direkt Inhalte der Rede auf (nec, non ita me).

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»equidem de te nil tale verebar, nec fas; non ita me referat tibi magnus ovantem Iuppiter aut quicumque oculis haec aspicit aequis. sed si quis (quae multa vides discrimine tali) si quis in adversum rapiat casusve deusve, te superesse velim, tua vita dignior aetas. sit qui me raptum pugna pretiove redemptum mandet humo, solita aut si qua id Fortuna vetabit, absenti ferat inferias decoretque sepulcro. neu matri miserae tanti sim causa doloris, quae te sola, puer, multis e matribus ausa persequitur, magni nec moenia curat Acestae.« »Ich befürchte, was dich angeht, nichts dergleichen, es wäre auch nicht rechtens; nicht soll mich bei solchem Zweifel siegreich dir wieder schenken der große Juppiter oder wer immer mit wohlwollendem Blick auf dies Unternehmern sieht. Aber wenn irgendein (was man vielfach erlebt bei solcher Gefahr), wenn irgendein Zufall oder Gott mich ins Unglück stürzen sollte,

Ein solches Schema des Redeaufbaus ist typisch für Liebeswerbungen in den Metamorphosen Ovids, wie Schmitz, Christine, Liebeserklärungen. Zum narrativen Potential in Ovids Metamorphosen, Gymnasium 120, 2013, 139–67 z.B. für Apollo (1,504–24) und Jupiter (1,588–97) herausstellt: Zunächst erfolgt eine negative Selbstdarstellung, die jedoch nur »die Kontrastfolie für die folgende positive Selbstpreisung« bildet, Schmitz (2013) 148. So etwa in Hor. epod. 1,11–4, s. Cairns (2 2007) u.a. 141.

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möchte ich, dass du am Leben bleibst: Dein jugendliches Alter hat ein höheres Anrecht auf Leben. Es soll jemanden geben, der meine Leiche dem Schlachtfeld entreißt oder um einen Preis loskauft und der Erde übergibt oder, wenn – wie es immer wieder vorkommt – ein Geschick dieses verbietet, für mich, obschon fern, das Totenopfer darbringt und mich mit einem Grab ehrt. Auch möchte ich nicht für deine Mutter zur Ursache so bitterer Schmerzen werden, die dir, mein Junge, als einzige von vielen Müttern wagemutig bis hierher folgt, ohne Verlangen nach den Mauern des großen Acestes.«

Feierlich (equidem) gelobt er, dass er in der Vergangenheit, angedeutet im durativen Imperfekt verebar, und Zukunft, der Optativ referat gibt den Hinweis, nie derartige (tale) Bedenken, dass Euryalus kein mutiger Krieger und ungeeignet für ein solches Unternehmern sei, getragen habe. In dem unscheinbaren Wort tale steckt all’ das, was Euryalus mit seiner Selbstdarstellung entkräften wollte; der Freund Nisus kennt ihn so gut, dass er es so knapp zusammenführt. Mit dem Optativ wird gleich vieles ausgesagt: Zum einen, dass er sich eine Rückkehr als Sieger (ovantem) wünscht, aber auch dass er weiterhin ohne Euryalus losziehen möchte, denn zu ihm möchte er zurückkehren. So knapp sind die Bezüge zur Euryalusrede. Es dominieren im weiteren Verlauf die Ausführungen zur Ungewissheit und zu den Gefahren des Vorhabens (210 f.). 67 Im Zentrum der Rede und damit auch ungefähr in der Mitte formuliert er das Hauptanliegen (212): te superesse velim, das er zweifach begründet: zum einen mit dem jungen Alter (tua vita dignior aetas), zum anderen damit, dass ja einer der Pflicht nachkommen möge, ihn zu bestatten oder zumindest sein Kenotaph zu versorgen (213–15). Er gibt damit direkte Angaben zu seiner Bestattung, mandata morituri, als wäre dies die letzte Unterredung vor Nisus’ Tod und Euryalus bliebe als Angehöriger zurück. 68 Berief Euryalus sich auf die Pflicht Nisus und Aeneas gegenüber, dem er folgte (Aenean et fata extrema secutus), so appelliert Nisus nun an die Pflicht gegenüber dessen Mutter, die ihm folgte (persequitur); der Appell an die pietas erga parentes wird hier verstärkt durch die Anrede puer, die Euryalus an den Status als Sohn erinnert. Nisus selbst möchte nicht zum Grund für den Schmerz der Mutter werden, wenn – und dies muss ergänzt werden, denn er lässt es aus – Euryalus ihn begleitete und diesem etwas zustieße. Hier liegt eine motivische Verbindung zu dem gerade untersuchten Beinahe-Abschied von Aeneas und dessen Angehörigen vor, denn auch Creusa erinnert Aeneas an die Verpflichtungen gegenüber der Familie. Ein Blick zurück auf die Euryalusrede: Die zitatartige Evozierung der Didoklage am Anfang lässt die Rede emotional erscheinen und führt dazu, dass die Intentionen von Euryalus mit Dido übereinzustimmen scheinen: Beide wollen den geliebten Menschen nicht ziehen lassen. Doch wird diese Erwartung schnell wieder unterlaufen, denn im Nachfolgenden klagt Euryalus nicht mehr, sondern er fin67 68

Erkennbar in den Konditionalsätzen durch das Pronomen und den Konjunktiv. Konkrete mandata für die Bestattung werden in Hor. carm. 2,20,21–4 genannt: absint inani funere neniae / luctusque turpes et querimoniae; / conpesce clamorem ac sepulcri / mitte superuacuos honores. Vgl. auch Prop. 2,13,17–58.

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det Gründe, warum er sich Nisus anschließen kann, warum er dieses wagemutige Unternehmen auf sich nehmen muss; er erinnert damit sogar an Hektor, der sich in der schon erwähnten Abschiedsszene auch auf seine Verpflichtungen gegenüber den Trojanern und auf seine Erziehung beruft und daher nicht feige tatenlos zusehen könne. 69 Nisus wiederum muss sein Vorhaben nicht verteidigen, wie es Aeneas und auch Priamos tun, sondern er wechselt die Rolle: Durch den Rollentausch wird er zu der Person, die den anderen von einem gefährlichen Unternehmen abhalten möchte. 70 Auch in seiner Rede finden sich viele Elemente von anderen Abschiedsreden, sogar mandata morituri. Doch die Oppositionen der Freunde lösen sich sehr schnell auf, denn Euryalus entgegnet nur: »Vergeblich reihst du haltlose Gründe aneinander, unverändert ist mein Vorsatz und bleibt fest bestehen,« 71 und fordert seinen Freund auf, gemeinsam loszuziehen (acceleremus). An dieser Stelle schließt der Beinahe-Abschied, denn die Szenerie wird verlassen: Zurück bleibt nicht einsam und verlassen Euryalus, sondern der Posten (statione relicta), der jüngere Held ist wieder comes (ipse comes Niso graditur regemque requirunt, 223) wie auch zu Beginn der Szene. Dass die Gründe, die Nisus vorbrachte, aber nicht ganz inanes, haltlos und unbedeutend, sind, aber ohne Erfolg vorgetragen wurden, wird schon kurz darauf deutlich, wenn Euryalus Ascanius bittet, die Mutter von seinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen, da er selbst ihre Tränen beim Abschiednehmen nicht ertragen könne. 72 Dort wird demnach eine Abschiedsszene vermieden, doch können die Rezipienten durch ihr Wissen über epische Abschiedsszenen hier sicherlich in Gedanken die Leerstelle füllen und einen emotionalen Abschied von der Mutter, wie er von Alkimede in den Argonautika oder auch von Hekuba, die Hektor vom Zweikampf mit Achill abhalten will (Hom, Il. 22,82–9), bekannt ist, imaginieren. Vergil folgt an dieser Stelle einem homerischen Motiv, denn das Aufbrechen zu einer riskanten Unternehmung, ohne vorher die Mutter in Kenntnis zu setzen, findet sich schon in der Odyssee, als sich Telemach auf die Suche nach seinem Vater Odysseus macht und vorher nur die Amme Eurykleia einweiht (Hom. Od. 2,237–

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Hom. Il. 6,441b–46; dies sieht auch König (1970) 115. Später gleicht Euryalus noch einmal Hektor in der Unterredung mit Andromache, wenn er beim Abschied von Ascanius die Sorge um die Mutter überträgt, s. Schmit-Neuerburg (1999) 62 Anm. 157. Highet (1972) 313 f. fasst die Reden des Nisus in seiner zweiten Appendix als »persuasions« auf und lässt die Worte des Euryalus aus; doch überzeugt ja Euryalus den Nisus, dass er mitkommen kann. Diese Auffassung vertritt schon Duckworth (1967) 131, der sich gegen das Missverständnis von Prescott wendet: »Nisus does not urge Euryalus to join him, but attempts to dissuade him . . . « Verg. Aen. 9,219 f. causas nequiquam nectis inanis / nec mea iam mutata loco sententia cedit. Verg. Aen. 9,287–92a hanc ego nunc ignaram huius quodcumque pericli / inque salutatam linquo (nox et tua testis / dextera), quod nequeam lacrimas perferre parentis. / at tu, oro, solare inopem et succurre relictae. / hanc sine me spem ferre tui, audentior ibo / in casus omnis.

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80). »The devoted servant, crying over the departure of her ›child‹ . . . , takes the place of Penelope . . . The actorial motivation for her exclusion is Telemachus’ concern not to ruin her beauty (cf. 376n.) . . . The scene will have a follow-up in 4.675–776, when Penelope finds out about Telemachus’ trip and Euryclea explains why she did not tell her mistress about it.« 73 In gewisser Weise wird der von Euryalus vermiedene Abschied nachgeholt (481–97), wenn die Mutter später über den Verlust des Sohns und nicht zuletzt auch über die ausgelassene Gelegenheit, Lebewohl zu sagen (483 f. nec te sub tanta pericula missum / adfari extremum miserae data copia matri?), klagt. 74

Schlussfolgerungen Das Modell ›Abschied von einem Krieger‹ wird in beiden Episoden angerissen, jedoch nicht bis zur Trennung ausgeführt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Aeneas und Euryalus, die beide überrascht sind, dass eine Trennung von Anchises bzw. Nisus in Kauf genommen wird, ihre Reden mit Fragen, die mit mene eingeleitet werden und an Didos enttäuschte Worte erinnern, beginnen. An diesen Stellen der Aeneis wird das Bild eines Abschieds evoziert, der schließlich doch nicht stattfinden wird. Hier entsteht somit kein Endpunkt einer Episode, sondern vielmehr ein Anfang, ein Auftakt zu weiteren – gemeinsamen! – Unternehmungen, der Flucht aus Troja und der Suche nach Aeneas. Doch überschatten retrospektiv die Beinahe-Abschiede die kommenden Ereignisse: Aeneas wird Creusa auf der Flucht aus Troja endgültig verlieren, Creusa wird eine weitere, endgültige Abschiedsrede halten (776–89), aber Aeneas wird darauf nichts entgegnen können. Auch dort ist es der Wille der Götter, dass Aeneas aus Troja fortgeht – doch ohne Creusa. Im Beinahe-Abschied von Nisus und Euryalus werden proleptische Fäden gesponnen, die das kommende Unheil andeuten: 75 Zwar schlafen die Rutuler wie erwartet, als Nisus und Euryalus das Lager betreten, doch genügt dem Euryalus, 73 74

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De Jong (2001) 64. Hardie (1994) 161 zu den Versen 481–97 führt als Modelle Andromaches Klage um den toten Hektor (Il. 22,477–514; 24,725–54) und auch Electras Wehklage um den Bruder (Soph. El. 1126–70) an. Auch auf die intratextuellen Bezüge zu den klagenden Worten nach dem Tod einer geliebten Person in der Aeneis verweist er, so klagt Anna um Dido (4,675–85), sie sich selbst tötete, und Euander um den durch Turnus getöteten Pallas (11,152–81). Dingel (1997) 185 zur Stelle verweist auf die Trauer Hekubas und Andromaches im 22. Buch der Ilias. Zur Mutter des Euryalus und ihrer Rede s. auch Wiltshire (2000) und Sharrock (2011). Für den hier treffenden Ausdruck »proleptische Fäden« danke ich Prof. Dr. Christian Pietsch (Münster). Auch im weiteren Verlauf des Unternehmens wird das kommende Ende vorausgedeutet, wie beispielsweise Potz (1993) 329 herausstellt: »Spätestens von 312 ff. an [. . . ] wird klar, daß die beiden Jünglinge sterben werden. Gerade dadurch, daß der Leser um die Erfolglosigkeit der Expedition weiß, konzentriert er sich eher auf das ›wie‹, d.h. darauf, wie das Handeln der beiden motiviert ist.«

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anders als Nisus, nicht der aus dem mutigen Unternehmen gewonnene Ruhm (vgl. 194 f.: nam mihi facti / fama sat est), sondern er nimmt nach der Tötung der Feinde Beute an sich (359–66a). 76 Gerade der erbeutete Helm enttarnt das Freundespaar – es ist nicht einfach der Zufall oder ein Gott, der das Unglück bereitet (vgl. 211: si quis in adversum rapiat casusve deusve) – beide fliehen getrennt, Euryalus wird gefasst und Nisus riskiert das eigene Leben, um den Freund zu retten, die Beteuerung te superesse velim (212a) bewahrheitet sich – doch vergebens. Die Frage des Euryalus Nise fugis? bleibt unberechtigt, denn Nisus kehrt zu seinem Freund zurück und im Tod erscheinen beide wieder so, wie die Rezipienten sie kennengelernt haben: vereint. Doch die Einwände des Nisus werden geradezu zu einer selffulfilling prophecy: Die Leichname der beiden werden geschändet, die Köpfe aufgespießt und den Aeneaden vorgeführt (465–67) und die Mutter des Euryalus hält eine klagende Abschiedsrede. Rückblickend stellt sich die Frage: Was wäre gewesen, wenn . . . ? 77 Wenn Euryalus nicht mitgekommen wäre? Wenn hier wirklich ein Abschied stattgefunden hätte? Hätte Nisus Aeneas informieren können? Wäre er erfolgreich zurückgekehrt? Es wird ein Handlungsstrang beschritten, der signalisiert, dass es ein anderes, ein gutes Ende hätte geben können, wenn Euryalus nicht mitgekommen wäre; vielleicht hätte auch die Mutter mit einer Abschiedsrede einen oder sogar beide abhalten können. Doch dies sind nur konturierte Alternativen, die nicht abgeschlossen werden. Rückblickend sind diese Beinahe-Abschiede Anfänge der Enden. Literatur Austin, R. G.: P. Vergili Maronis Aeneidos liber secundus, Oxford 1964. Binder, Edith/Binder, Gerhard: P. Vergilius Maro, Aeneis. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2012. Cairns, Francis: Generic Composition in Greek and Roman Poetry, Michigan 2 2007. Casali, Sergio: Nisus and Euryalus: Exploiting the Contradictions in Virgil’s Doloneia, HSPh 102, 2004, 319–54. Clauss, James Joseph: The Best of the Argonauts: The Redefinition of the Epic Hero in Book 1 of Apollonius’s Argonautica, Oxford 1993. De Jong, Irene J. F.: A Narratological Commentary on the Odyssey, Cambridge 2001. Dingel, Joachim: Kommentar zum 9. Buch der Aeneis, Heidelberg 1997. Dräger, Paul: Jasons Mutter – Wandlung von einer griechischen Heroine zu einer römischen Matrone, Hermes 123, 1995, 470–89. Dräger, Paul (Hg.): C. Valerius Flaccus, Argonautica. Die Sendung der Argonauten. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger (Studien zur klassischen Philologie 140), Frankfurt a.M. u.a. 2003. 76

77

Gleichwohl kündigt Nisus aber auch schon an, als die beiden das Vorhaben dem Ascanius unterbreiten, mit Beute zurückzukehren (mox hic cum spoliis ingenti caede peracta / adfore cernetis, 242 f.). Interessante Überlegungen zu möglichen Alternativen, die in der Aeneis angelegt sind, stellt Suerbaum (1998) an.

Angela Jöne

139

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140

Beinahe-Abschiede in der Aeneis

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Farouk F. Grewing (Berlin)

Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang? Überlegungen zu closure in Ovids Metamorphosen

Zur Einordnung Der im Jahre 2013 von Benjamin Acosta-Hughes, Alexander Kirichenko und mir herausgegebene Band The Door Ajar: False Closure in Greek and Roman Literature and Art enthält leider keinen separaten Beitrag zu Ovids Metamorphosen, 1 ja sie spielen eigentlich überhaupt keine Rolle. Das ist gewiss ein Desiderat, zumal gerade dieses Epos so viele Fragen bezüglich seiner Struktur als Ganzes, des Anfangs und Endes einzelner Episoden und miteinander verbundener Geschichten sowie schließlich seiner Buchgrenzen aufwirft. Selbst die Frage, inwiefern die Metamorphosen, auch nach traditionell antiken Vorstellungen, sich überhaupt als Epos qualifizieren, spielt hier mit hinein. Die Literatur zu dergleichen Fragestellungen ist in der Tat inzwischen uferlos; eine Zusammenfassung, ja sogar eine kurze Bibliographie wäre nicht zielführend und notgedrungen stets defizitär. 2 Im vorliegenden Beitrag will ich versuchen, einige Konflikte zwischen Abgeschlossenheit (closure) und Offenheit (open-endedness, aperture) bzw. trügerischem Schluss (deceit), die den Lesenden in den Metamorphosen begegnen, herauszuarbeiten. Die Frage danach, was closure eines literarischen Werks eigentlich ist, d. h., welche Parameter man zur Bestimmung der Qualität eines ›Schlusses‹ anlegen kann (oder muss?) – Wie also ›funktioniert‹ closure? – wurde in den Neuphilologien (vor allem der Anglistik, Romanistik und Slawistik) spätestens gegen Ende der 1950er Jahre etabliert und erreichte mit einiger Verspätung in den 1980er Jahren auch die Klassische Philologie, und zwar maßgeblich durch D. P. Fowlers First

1 2

Grewing et al. (2013). Vgl. aber die einschlägigen Einträge in Holzberg (2009) 449–73. Tendenziell lässt sich beobachten, dass moderne Strukturanalysen der Metamorphosen fast zwänglich nach Originalität streben. Dies geschieht teils aus schierer Verzweiflung angesichts der nicht wirklich fassbaren Komplexität und Wandelbarkeit des Textes, andererseits aber auch aus dem Bestreben, ›koste es, was es wolle,‹ den ›Schlüssel‹ zum Gesamtverständnis der Metamorphosen zu finden. Das ist literaturwissenschaftlich fast tragisch.

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Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang?

Thoughts on Closure. 3 Tatsächlich haben wir als Herausgeber von The Door Ajar Fowlers wesentliche Überzeugung, dass closure niemals endgültig sein kann, sondern notwendig transient ist, also kein Ende jemals ›hermetically closed‹ ist, ins Zentrum des Bandes gerückt. Die Tagung, die dem Ganzen vorausgegangen war, fand 2009 statt und markiert – tatsächlich zufällig – das 20-jährige, wenn man so will, ›Jubiläum‹ von Fowlers First Thoughts. 4 Fowler machte fünf miteinander zusammenhängende Punkte namhaft, die einem literarischen Text seine closure verleihen: (1.) Das Werk verfügt über ein – auch physisch fassbares – Ende; (2.) der Leser erreicht im Verlauf seiner Lektüre ein Ende, das er selbst als befriedigend final empfindet; (3.) das Ausmaß, in dem das Ende eines Werks in befriedigender Weise final ist; (4.) das Ausmaß, in dem Fragen oder Probleme, die in dem Werk aufgeworfen worden waren, beantwortet oder Spannungsfelder aufgelöst oder Konflikte gelöst wurden; (5.) das Ausmaß, in dem das Werk neue kritische Lesarten ermöglicht. 5 Es versteht sich, dass Punkt 5 hier aus literaturwissenschaftlicher Perspektive der interessanteste, weil produktivste ist: »the degree to which the work allows new critical readings«, wie es im Original heißt. 6 Denn es ist letztlich doch dieser Punkt, der der Literaturwissenschaft heute ermöglicht, sich einer Textinterpretation zuzuwenden. 1989 noch schrieb Fowler:

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4

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Fowler (1989), der einen Überblick über die einschlägige Forschung gibt (75–7) und nicht zuletzt die Vorarbeiten des Russischen Formalismus betont (bes. 75 Anm. 2). Zu den einflussreichsten poststrukturalistischen Arbeiten, die sich gegen die starren Kriterien des New Criticism von ›ästhetischer und organischer Abgeschlossenheit oder Stringenz‹ eines literarischen Werks, völlig losgelöst von seiner historischen Bedingtheit, wandten, gehören F. Kermodes The Sense of an Ending (1966) und B. Herrnstein Smiths Poetic Closure: A Study on How Poems End (1968). Hinzuweisen ist ebenso auf den Band Concepts of Closure der Yale Classical Studies 67 (1984). – Auch nach Fowlers Bestandsaufnahme von 1989 bleibt das Thema in der Literaturwissenschaft omnipräsent; das zeigt sich allein bei einer Recherche in der MLA International Bibliography, die für den Zeitraum von 1990 bis 2015 weit über dreihundert relevante Treffer liefert. In ihrer sehr erfreulichen Rezension des Bandes schreibt Jansen (2015) 106: »The exclusive affinity with Fowler’s work might strike potential readers, perhaps paradoxically given the book’s topic, as a form of critical closure itself. Indeed the volume’s intimate dialogue with this scholar tends to occlude research [. . . ] carried out in the 2000s [. . . ].« Das war freilich weder intendiert noch ist es so von uns exekutiert worden, was nicht zuletzt das Literaturverzeichnis ausreichend belegt. Jansen schreibt weiter: »The volume [falsely?] closes with an essay on fama by P. Hardie in Section 5.« (107): Ja, natürlich falsely! 2009 war es ein (offensichtlicher) conference joke, Hardies Fame – The Last Word? als Eröffnungsvortrag zu positionieren. Die gedruckte Door Ajar endet jedoch (pace Jansen) nicht mit Hardies Fama, sondern mit einem Epilogue, dem Ende von Mike Oldfields Amarok und Janet Browns Impersonation of the Iron Lady, Margaret Thatcher (Grewing et al. [2013] 325). Das ist wesentlich. Vgl. Fowler (1989) 78–82; Grewing et al. (2013) 1–11. Vgl. Mortimer (1985) 31–2.

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[. . . ] it seems to do more justice to our intuitions to see the tension between ›open‹ and ›closed‹ as one ever present in the literary work. All works leave things undone as well as done; all great works have that paradox at the core of their greatness. 7

Was hier noch deutlich ein Streben nach (gesuchter oder erhoffter) Objektivität erkennen lässt, in dem die notgedrungen subjektive Herangehensweise eines jeden Interpreten vor einer höheren Wahrheit zu verschwinden scheint, das relativiert Fowler 1997 dann deutlich: I now appreciate more clearly that whether we look for closure or aperture or a dialectic between them in a text is a function of our own presuppositions, not of anything ›objective‹ about the text. [. . . ] I am more aware now that that has to do with my own ideology, temperament, and mood rather than with the nature of the universe. 8

Kurz: Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, worin genau in einem literaturwissenschaftlichen Diskurs das Ende eines Textes dialektisch besteht. Schon der letzte Vers der Metamorphosen legt dies, ganz unbelastet vom Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts, unmissverständlich nahe: si quid habent veri vatum praesagia: vivam (wenn an den Prophezeiungen der Dichter auch nur irgendetwas Wahres dran ist, werde ich fortbestehen, Ov. met. 15,879). 9 Deutlicher in die Zukunft gerichtet – und tatsächlich richtiger – kann eine Dichter-persona das Schicksal ihres eigenen Werks kaum prognostizieren. Und damit sind wir mitten im closure-Diskurs Fowlers, vor allem im oben zitierten Punkt 5 seiner Definition von closure: »the degree to which the work allows new critical readings«, denn new critical readings gibt es von der klassischen Antike bis zum heutigen Tag unendlich viele. 10 Insofern sind die Metamorphosen wie jedes literarische Werk, das rezipiert wird, open, obwohl sie closed sind. Im Folgenden will ich jedoch zeigen, auf welche Weise nicht nur die vermeintliche closure, wie sie am Ende des 15. Buches deutlich markiert zu Tage tritt, sondern auch unzählige weitere Schluss7 8 9

10

Fowler (1989) 80. Fowler (1997) 5. Vgl. ausführlich Fowler (1994). Man kann sich über diese Offensichtlichkeiten hinwegsetzen, wie es bisweilen getan wird. Zielführend ist das aber gewiss nicht, sondern im Gegenteil. Ein Negativbeispiel aus Wien: C. Ratkowitsch, Gesamtinterpretation und Strukturanalyse der Metamorphosen Ovids (vgl. https://kphil.ned.univie.ac.at/node/124661 – zuletzt besucht am 07.02.2016). Und dieser unendliche Dialog mit Ovids Text(en) ist mitunter innerliterarisch (Dichter über Dichter, Dichter dichten Dichter) wesentlich aufschlussreicher als die literaturwissenschaftlichen Diskurse, wie sie von ›uns‹ hervorgebracht werden. Hier ist besonders hinzuweisen auf Hinds (2007) insbes. 136–46 (zu Martials Ovidrezeption), und Kennedy (2002) (zu Ovid in der westlichen Literatur des 20. Jahrhunderts). – Dass man heute den tot geglaubten, schließlich aber dann erfolgreich reanimierten Autor doch wieder (und das ist nicht biographistisch gemeint!) ›verwenden‹ darf, muss als späte Einsicht begrüßt werden. Vgl. dazu Detering (2002). Freilich steht zu befürchten, dass die Klassische Philologie in gewissen Nationaldiskursen (natürlich und zum Glück verspätet) überreagieren wird.

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Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang?

punkte einzelner Metamorphosengeschichten sich immer wieder und absichtsvoll als trügerische Schlüsse erweisen.

1. Anfang und Ende – Eine Annäherung an die Metamorphosen Der Prolog der Metamorphosen enthält bekanntlich zwei auf den ersten Blick paradoxe Aussagen. 11 Erstens betont Ovid ausdrücklich das unzertrennliche Nebeneinander einer rein thematischen Ordnung (In nova fert animus mutatas dicere formas / corpora, also: von Gestalten zu singen, die in neue Körper verwandelt wurden) und zugleich des chronologischen Prinzips (ab origine mundi / ad mea . . . tempora, vom Ursprung der Welt bis in meine eigene Zeit). Diese Aussage wird auch durch einen zweiten paradoxen Kontrast verstärkt. Die Tatsache, dass Ovid sein Werk als ein carmen perpetuum bezeichnet, erinnert absichtsvoll an den Aitien-Prolog des Kallimachos, wo „n äeisma dihnekËc (ein ununterbrochenes Lied) als das Gegenteil von Kallimachos’ eigenem poetischen Ideal dargestellt wird. 12 Deducite wiederum weckt die Erinnerung an Vergils Adaptation des Aitien-Prologs in der 6. Ekloge, wo einem megalomanen poetischen Text über Helden und Kriege ein carmen deductum – ein fein gesponnenes Lied – entgegengesetzt wird. 13 Das tatsächliche Ende der fünfzehn Bücher Metamorphosen, im physischen Sinne, (Fowlers »the concluding section of a literary work«), ist zugleich ein Epilog, der autoreferentiell über das klar definierte Ende des Werks, das er abschließt, reflektiert und ihm somit eine Abgeschlossenheit verleiht, die jedoch zugleich wieder aufgebrochen wird: iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas. cum volet, illa dies, quae nil nisi corporis huius ius habet, incerti spatium mihi finiat aevi; 11 12

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Ov. met. 1,1–4. Zum Metamorphosen-Prolog siehe, inter al., z.B. Knox (1986) 9–10; Grewing (1993); Spahlinger (1996) 27–41; Keith (2002) 236–38. Call. Aet. fr. 1,1–6 Pollàk]i moi Telqÿnec ‚pitr‘zousin Çoid¨, / n†idec oÀ Mo‘shc oŒk ‚gËnonto f–loi, / e—neken oŒq „n äeisma dihnek‡c £ basil[h / ......]ac ‚n pollaÿc ¢nusa qiliàsin / £ ......]ouc °rwac, Ípoc d> ‚p» tutj‰n ·l[–ssw / paÿc âte, t¿n d> ‚tËwn ô dekÄc oŒk Êl–gh. ([Oft] pfeifen Telchinen auf meinen Gesang, Ignoranten, die keiner Muse Freund geworden sind, weil ich nicht ein Lied, ein durchlaufendes, [auf Taten der] König[e] zustandegebracht habe in vielen tausend Versen oder auf Helden [der Vorzeit], sondern mein Wort nur eine kleine Strecke [rolle] wie ein Kind, doch meine Jahrzehnte nicht wenige sind. Übers. Asper [2004]). Verg. ecl. 6,3–5 cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem / vellit et admonuit: ›pastorem, Tityre, pinguis / pascere oportet ovis, deductum dicere carmen.‹ (Als ich von Königen und Schlachten singen wollte, zupfte mich Phoebus am Ohr und ermahnte mich: »Einem Hirten, Tityrus, geziemt es, die Schafe fett zu weiden, aber ein fein(gesponnen)es Lied anzustimmen«). Vgl. Hoffmann (1985); Fabre-Serris (1995) 23–36.

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parte tamen meliore mei super alta perennis astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum; quaque patet domitis Romana potentia terris ore legar populi, perque omnia saecula fama (si quid habent veri vatum praesagia) vivam. (Ov. met. 15,871–79)

Jetzt habe ich ein Werk vollendet, das weder Jupiters Zorn noch Feuer / noch Eisen oder nagendes Alter wird zerstören können. / Wenn er denn will, so möge jener Tag, der lediglich über diesen meinen Körper / Gewalt hat, die Zeitspanne meines ungewissen Lebensalters beenden. / Mit dem besseren Teil meines Selbst werde ich dennoch für die Ewigkeit hoch über die Sterne getragen werden, und mein Name wird unzerstörbar sein; / und so weit sich über die bezwungenen Länder die Macht Roms erstreckt, / werde ich vom Mund des Volkes gelesen werden und durch alle Jahrhunderte hinweg im Ruhm / – wenn an den Prophezeiungen der Dichter auch nur irgendetwas Wahres dran ist – fortbestehen.

Das Ende ist nicht das Ende. Der Verwandlungsprozess ist als solcher potentiell un-endlich, wie es schon die von Ovid absichtsvoll pseudowissenschaftlich gestaltete Metempsychosis-Lehre, die der Pythagoras des 15. Buches voller Inbrunst hält, deutlich präfiguriert. Am Ende seines Epos schildert Ovid den Prozess der ›Verwandlung‹ seines eigenen vergänglichen Körpers (corporis huius, 873) in sein in alle Ewigkeit überdauerndes und im gesamten römischen Reich verbreitetes opus. 14 Auffällig an Ovids Sphragis ist nicht nur, dass das Ende des Werks den Anfang seines persönlichen ewigen Ruhms markiert, 15 sondern auch, dass die angestrebte Ewigkeit – in Anlehnung an Pindar und Horaz 16 – in der Begrifflichkeit eines Denkmals verstanden wird, das sowohl sprachliche als auch visuelle Merkmale besitzt: Einerseits wird es – analog zu einem visuell wahrnehmbaren Artefakt – als eine materielle Entität dargestellt; andererseits ist es, im Gegensatz zu einem materiellen Kunstwerk, unzerstörbar und kann sich uneingeschränkt – nicht nur auf Erden, sondern sogar bis zu den Sternen – bewegen. 17 14

15 16

17

Aus der Vielzahl von Interpretationen des autopoetischen ovidischen Nachworts weise ich insbesondere hin auf Barchiesi (1997) und Feeney (1999). Sehr lohnend wäre bei einer Neuevaluation der fraglichen Verse m.E. auch der Blick in die moderne Theaterwissenschaft, vorzüglich die Einbeziehung solcher einschlägiger Arbeiten wie Die Ästhetik des Performativen von E. Fischer-Lichte (2004). Zum fama-Motiv in den Metamorphosen siehe Hardie (2012) 150–77. Vgl. das Lied für den siegreichen Wagenlenker Xenokrates von Akragas, Pi. P. 6,10– 4, sowie Hor. carm. 3,30, bes. exegi monumentum aere perennius (1), also non omnis moriar (6). Vgl. zu dieser poetischen Bildersprache Nisbet und Rudd (2004) 365 (mit wichtiger weiterführender Literatur); zur Analogie von Dichtung und bildender Kunst in den Epinikien Pindars s. Kirichenko (2016). Die tatsächliche Materialität der Buchrolle, ja sogar die Existenz des poetischen Werks in schriftlicher Form ist deutlich sekundär, ja irrelevant, wenn es um die Unsterblichkeit des Werkes = Dichters geht. Der ewige Ruhm des Siegers wird bei Pindar durch die Performanz des Epinikions hergestellt; der Ruhm der Lyrik = des Horaz wird immer

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Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang?

Anfang und Ende sind in der Literatur wie auch in der bildenden Kunst stets relative Begriffe, und jedes Ende ist provisorisch (und wird subjektiv immer unterschiedlich verstanden). Klare Grenzen gibt es nicht. Sie verschwimmen permanent allein dadurch, dass sie stets Teil einer Vielfalt von über- und ineinandergeordneten Strukturen und kognitiven Prozessen sind. 18

2. Die Metamorphosen als thematischer Katalog Schon der Titel des Gedichts (Metamorphoseon libri, die Metamorphosen – im Plural) lässt den Leser einen thematischen Katalog erwarten – insbesondere auch den zeitgenössischen Leser, der mit der hellenistischen Tradition der Katalogdichtung vertraut war. 19 Und es ist in der Tat allgemein bekannt, dass viele von

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neu wachsen durch das Lob der kommenden Generationen (usque ego postera / crescam laude recens, 3,30,7–8); Ovid schließlich ist sich sicher, dass sein Werk = er immer weiter »vom Mund des Volkes« gelesen werden wird (ore legar populi, 15,878). Die Vorstellung, die Horaz und Ovid hier teilen, entspricht der unverrückbaren Wahrheit, dass ein Buch, das in einer oder vielen Bibliotheken steht, aber von niemandem je gelesen wurde, wird oder werden wird, tatsächlich nicht existiert. Noch viel deutlicher wird dies bei rein mündlich tradierten, nie verschriftlichten Texten, die nur so lange existieren, wie sie im kollektiven Gedächtnis bzw. mindestens im Gedächtnis derjenigen vorhanden sind, die diese Texte bei Bedarf rezitieren können. Zugleich wird ein fundamentaler Unterschied zwischen Antike und Moderne, was die Wahrnehmung von Literatur als einem intellektuellen Wert, der sich auch in ›Buchform‹ materialisiert, deutlich: In der Antike ist Literatur viel stärker noch eine immaterielle Größe. Ihre Materialität in verschriftlichter Form ist zunächst sekundär. Berühmt geworden ist der aus dem 3. Jh. n.Chr. stammende Papyrus, P. Oxy. 67,4633, der zwei Kolumnen Ilias-Scholien enthält und nachweislich als Toilettenpapier gedient hat; Spooner (2002) 87: »the papyrus subsequently suffered an ignominious fate, as a piece of toilet paper«. Ganz anders verhält es sich in der Neuzeit mit hoher Literatur in gedruckter Form: Als bewusste Provokation und Besudelung des deutschen Nationaldichters Goethe ist es zu verstehen, wenn Edgar Wibeau in Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (Prosafassung von 1973 des ursprünglichen Bühnenstücks), der DDR-Variante von Goethes Werther, in Ermangelung passenderer Utensilien ein paar Seiten einer Reclam-Ausgabe des alten Werther zur Säuberung seines, ut ita dicam, Allerwerthesten verwendet. Das galt vielen Kritikern als geschmacklose Verunglimpfung. Dergleichen Dichtererniedrigungen durch Zweckentfremdung ihrer Werke, ganz oder in Teilen, sind aus der Antike hinlänglich bekannt und avancierten schnell zu einem literarischen Topos; vgl. Grewing (1997) 395 (mit weiterführender Literatur). Zu false closure in der bildenden Kunst vgl. die Beiträge von Ferrari (zum Nil-Mosaik von Präneste), Petrain (zu den Tabulae Iliacae) sowie Squire (zur Casa degli Epigrammi in Pompeji) in Grewing et al. (2013). Zum nie abgeschlossenen Lesen und Verstehen eines Textes, also auch seines Anfangs und Endes, vgl. die Darlegungen zur Rolle der Lesenden bei Fish (1982) passim. Vgl. Latacz (1979) 137.

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Ovids Metamophosengeschichten zwei hellenistischen Katalogwerken entstammen: Nikanders Ornijogon–ai (Entstehungen der Vögel). 20 Auch wissen wir, dass es andere hellenistische Metamorphosensammlungen gab, mit denen Ovid vertraut sein musste. 21 Das meiste, das wir über Ovids hellenistische Vorgänger wissen, kommt aus den Metamorphosen des kaiserzeitlichen Mythographen Antoninus Liberalis. 22 Da dieser seine Quellen sehr akribisch benennt, können wir recht zuverlässig ermitteln, welche von Ovids Geschichten bereits bei Nikander und Boios vorkommen, und das sind erstaunlich viele. 23 Indirekt erfahren wir noch ein wenig mehr über die beiden Werke. Wie im Falle von Ovids Metamorphosen weist allein schon der Plural im Titel beider Werke darauf hin, dass es sich um thematische Kataloge handelte. Athenaios berichtet, dass Boios in seinen >Ornijogon–ai von der Prämisse ausging, dass jeder Vogel früher einmal ein Mensch war. 24 Das wiederum legt es nahe, dass die >Ornijogon–ai wie eine katalogartige Auflistung von Verwandlungen von Menschen in Vögel strukturiert waren. Was Nikanders ErwtikÄ paj†mata enthaltenen Liebesgeschichten entspricht jedoch ziemlich genau der Grundtendenz der hellenistischen Katalogdichtung. 31 Spätere Mythographen liefern noch mehr Informationen darüber, nach welchen Prinzipien mythologische Kataloge erstellt werden konnten. Viele Einträge in Hygins Fabulae sind thematisch ausgerichtet und bestehen aus Listen. Einige von diesen thematischen Einträgen finden Entsprechungen in hellenistischen Kataloggedichten (z. B. 271 Qui ephebi formosissimi fuerunt? und Phanokles’ Erotes), andere nicht, was aber keineswegs ausschließt, dass sie nicht auch als Grundlagen für Katalogdichtungen hätten dienen können. Kallimachos’ Artemis-Hymnus enthält einen indirekten Hinweis darauf, dass solche Art von Dichtung in der Tat viel verbreiteter gewesen sein muss, als man für gewöhnlich annimmt, denn ungefähr ein Drittel dieses Gedichts besteht aus thematisch ausgerichteten Fragen, die der Sprecher an die Göttin stellt und die von ihren katalogartigen Antworten gefolgt werden (»Was sind deine Lieblingsinseln?«, »Wer sind deine Lieblingsnymphen?« usw.). 32 Anhand solcher Passagen lässt sich vermuten, dass bereits in der hellenistischen Dichtung mythologische Kataloge theoretisch einer unbegrenzten Anzahl thematischer Prinzipien folgen konnten. Ovids Geschichten entsprechen nicht nur den Metamorphosenkatalogen, die wir von Nikander und Boios kennen, sondern lassen sich auch nach zahlreichen anderen thematischen Prinzipien gruppieren. Die meisten seiner Verwandlungsmythen sind gleichzeitig auch >ErwtikÄ paj†mata. Außerdem impliziert die Einleitung zu Ovids erster (!) Liebesgeschichte in den Metamorphosen, dass sie den Beginn eines Katalogs darstellt: primus amor Phoebi Daphne Peneia (die erste Liebe des Phoebus war Daphne, die Tochter des Peneios, 1,452) bedeutet indirekt, dass es im Verlauf des Gedichts weitere ähnliche Geschichten geben wird, die sich am Ende zu einer virtuellen Liste – einem Katalog – zusammenschließen. 33 1,452 kann also auch so interpretierend übersetzt werden: Die erste Liebe (= Liebesgeschichte) ist die des Phoebus zu Daphne . . .

30 31

32 33

Asquith (2005) 266. Lightfoot (1999) 50–76 ist m.E. zu pessimistisch, was den Einfluss der >ErwtikÄ paj†mata (also nicht allein seiner Poesie) auf die neoterische und augusteische Dichtung angeht. Vgl. Hinds (1998) 74–83. Call. H. 3,113 ff. Zur Relevanz des Artemis-Hymnus des Kallimachos für das Verständnis der Metamorphosen Ovids siehe Tissol (1997) 131–43. Dazu Korenjak (2004).

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Abgesehen von diesem ›Katalog der Liebesleiden‹ finden sich im weiteren Verlauf der Metamorphosen diverse weitere, ähnliche Kataloge, z. B. die vielen strukturell einander ähnelnden Geschichten über göttliche Rache oder über jungfräuliche Anhängerinnen der Diana, die von Göttern verführt werden, oder auch der Katalog der schönen Knaben im Orpheus-Lied von Buch 10, der dem bereits erwähnten Kataloggedicht des Phanokles entspricht. Zusätzlich zu solchen thematischen Zyklen, die man im Laufe der Lektüre zu virtuellen Katalogen zusammenfügen kann, gibt es bei Ovid auch eine große Anzahl von tatsächlichen katalogartigen Überleitungen, bei denen benachbarte Geschichten einzig aufgrund ihrer thematischen Nähe miteinander verknüpft werden. Als typisches Beispiel könnte man den Übergang von der Geschichte über den Pfau in Buch 2 nennen, dessen Gefieder erst »vor kurzem« ein buntes Muster erhalten hat, zu der über den Raben, der erst »vor kurzem« schwarz wurde: . . . habili Saturnia curru ingreditur liquidum pavonibus aethera pictis, tam nuper pictis caeso pavonibus Argo quam tu nuper eras, cum candidus ante fuisses, corve loquax, subito nigrantes versus in alas. (Ov. met. 2,531–35) In behendem Wagen durchzieht Saturnia / den klaren Äther mit ihren bunten Pfauen – / mit ihren Pfauen, die erst kürzlich, nach der Tötung des Argus, bunt geworden sind, so wie auch du erst kürzlich, wiewohl du früher strahlend weiß warst, / schwatzhafter Rabe, plötzlich schwarzflüglig wurdest.

Oder, strukturell ganz ähnlich, die Überleitung von der Geschichte über Ceyx, dem König von Trachis, der sich in einen Vogel verwandelt hat, zu der über Aesacus, den Sohn des Priamus, den ein ähnliches Schicksal ereilt hat, in Buch 11. proximus, aut idem, si fors tulit, ›hic quoque‹ dixit, ›quem mare carpentem substrictaque crura gerentem aspicis‹ (ostendens spatiosum in guttura mergum), ›regia progenies; . . . ‹ (Ov. met. 11,751–54) (Ein älterer Mann sieht Ceyx und Alcyone nach deren Verwandlung am Himmel fliegen.) Der nächste (Alte) oder, wenn es der Zufall so wollte, derselbe sprach: »Auch dieser, mit schmächtigen Beinen, den du übers Meer fliegen siehst« – und dabei zeigte er auf einen langhalsigen Tauchervogel – »entstammt königlichem Geschlecht. . . . «

Dergleichen nicht aus der Entwicklung der Narration geborene, d. h. in einen kohärenten Plot eingebundene, sondern rein akzidentielle Verknüpfungen gibt es in den Metamorphosen immer wieder. 34 Diese katalogartigen Anordnungen dehnen sich nirgends über längere Strecken aus, wodurch hinlänglich klar wird, dass die Metamorphosen keineswegs ein Katalog im engeren Sinne sind, sondern ein idiosynkratisches Geflecht verschiedener katalogartiger Elemente – eine Kombination 34

Vgl. etwa auch die katalogartige Anordnung der Geschichten auf der Arachne-Tapisserie met. 6,103–28. Siehe Fletcher (2005) 303–10.

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aus zahlreichen thematischen Zyklen, die sich zu virtuellen Katalogen zusammenschließen lassen, und tatsächlich echten katalogartigen Verknüpfungen. Hinzu treten noch zahlreiche Textabschnitte, in denen katalogartige Anordnungen in der Form eines Dialogs erscheinen, wobei einzelne Geschichten als Antworten auf Fragen dargestellt werden – Situationen, die Sara Myers sehr überzeugend mit der Struktur der ersten zwei Bücher von Kallimachos’ Aitien vergleicht, die natürlich auch eine klare Katalogstruktur aufweisen: Der Dichter befragt die Musen zu einem thematisch homogenen Thema – zum Ursprung von Kulten, Bräuchen usw., und die Musen geben ausführliche Antworten darauf. 35 Kurzum: Ovids Gedicht ist unendlich komplizierter als seine hellenistischen Vorbilder. Er nimmt die gesamte thematische und formale Vielfalt auf, die die frühere Katalogdichtung hervorgebracht hat, und vermengt sie so miteinander, dass anstelle einer oft eher öden Auflistung etwas anspruchsvoll Vielschichtiges, etwas Polyphones, entsteht.

3. Die Metamorphosen als genealogischer Katalog Zusätzlich zur hellenistischen Katalogdichtung findet man bei Ovid Einflüsse des berühmtesten Kataloggedichts der Antike – des (pseudo-)hesiodischen Frauenkatalogs. Die fünf Bücher des Frauenkatalogs sind ein genealogisches Werk, in dem es um Geburten von Heroen – Nachkommen von Göttern und sterblichen Frauen – geht. 36 Soweit man anhand der mangelhaften Überlieferung beurteilen kann, zeichnete sich das Gedicht durch eine deutlich komplexere Struktur aus als seine hellenistischen Sprösslinge. Der sehr fragmentarisch überlieferte Prolog verspricht, von Verhältnissen zwischen Göttern und sterblichen Frauen zu berichten, wobei ein Götterkatalog aufgelistet wird. 37 Das sich anschließende Gedicht ist dann eher nach einem genealogischen Prinzip aufgebaut, d. h., es ist nicht nach einzelnen Göttern, sondern nach menschlichen Geschlechtern strukturiert. Innerhalb jedes einzelnen Geschlechts schreitet der Text mehr oder weniger chronologisch voran. 38 Um die Rückkehr zu einer früheren Generation und damit auch den Anfang eines neuen Katalogstranges zu signalisieren, wird im Text die £ o—h (oder so eine Frau wie)-Formel verwendet – daher der alternative Titel des Gedichts – die Ehoiai.

35 36 37

38

Vgl. detailliert Myers (1994). Thalmann (1984) 73–5; West (1985); Clay (2005); Osborn (2005). Vgl. jetzt auch Ormand (2014), bes. 1–51. Hes. Cat. fr. 1,14–22: t.àwn Íspete M[o‹sai / Ìss [Ëxat> >Ol‘mpioc . . . [ai]c dò parel eŒr‘opa ZeÃc / sperma–nwn tÄ pr¿ta gËnoc kudr¿n basil†wn, / .]c te. P. [o]seidàw[n / ..... .]n t> óArhc [ / ..... .]. hi . int[ / ..... ..].].stosp [ / ....... ‚peuxamËnh e“p˘ metÄ pêsi jeoÿsin ôdà geloi†sasa filommeidòc >Afrod–th πc ˚a jeoÃc sunËmixe katajnhtoÿsi gunaix–, ka– te katajnhtoÃc u…eÿc tËkon Çjanàtoisin, πc te jeÄc sunËmixe katajnhtoÿc Çnjr∏poic. (Hom. H. Aphr. 45–52)

Zeus aber senkte auch jener ins Herz das süße Verlangen, / sich einem sterblichen Mann zu ergeben in Liebe, damit sie / selber nicht entbehre die Freuden der menschlichen Brautnacht / oder gar rühmend einmal im Kreise der Götter behaupte, / süß dabei lachend, die lieblich lächelnde Aphrodite, / sie sei es doch, die vereine Götter mit sterblichen Weibern, / die dann sterbliche Kinder gebären unsterblichen Vätern, / wie sie auch Göttinnen paare mit sterblichen Männern. (Übers. A. Weiher)

Dafür, dass sie die Götter dazu brachte, sich in Sterbliche zu verlieben, wurde Aphrodite von Zeus damit bestraft, dass sie sich selbst in einen sterblichen Mann – Anchises – verliebte und ihm einen Sohn – Aeneas – gebar. Es ist höchst symptomatisch, dass das Ende von Ovids Metamorphosen dem Schluss des homerischen Hymnus ziemlich genau entspricht. Wie ich bereits erwähnt habe, ist das wichtigste Ereignis, das innerhalb der Metamorphosen die griechische Mythologie mit der römischen Geschichte verbindet, natürlich die Geburt des Aeneas von Venus, denn Julius Caesar und Augustus, die den genealogischen Rahmen abschließen, gelten als Nachkommen des Aeneas und damit als ›Söhne‹ der Venus. Alessandro Barchiesi hat gezeigt, dass der homerische Aphrodite-Hymnus eine Art ›master plot‹ für die gesamten Metamorphosen liefert. 45 Nun können wir sehen, dass dieser Plot Teil eines größeren – genealogischen – Rahmens ist, den Ovid somit höchst elegant abschließt.

4. Chronik – der Kyklos und die Annalen Ovids Gedicht kann aber nicht nur als eine multidimensionale Überlappung von Katalogstrukturen, sondern auch als eine Art Chronik gelesen werden – eine chronologische Erzählung, die die Entwicklung der Welt von ihrer Entstehung bis in die Gegenwart verfolgt. In der Forschung gab es mehrere Versuche, diese chronologische Anordnung in einen literarischen Kontext zu setzen, wobei die Metamorphosen entweder mit der Universalgeschichte eines Diodor von Sizilien oder mit kaiserzeitlichen mythographischen Werken verglichen wurden. 46 Da aber Ovids Werk ein Hexametergedicht ist, das ständig auf verschiedene Formen von Hexameterdichtung anspielt, ist es meines Erachtens sinnvoller, nach Analogien im Bereich des Epos zu suchen. Ein Teil von Ovids Metamorphosen folgt bekanntlich einem epischen Vorbild, dessen Aufbau sich durch eine stringent chronologische Reihenfolge auszeichnet. Es handelt sich natürlich um Ennius’ Annalen, die auch als ein carmen perpetuum 45 46

Barchiesi (1999). Wheeler (2002) (mit weiterführender Literatur).

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konzipiert sind und die ebenso das Ziel verfolgen, mea tempora zu erreichen, und die schließlich in der ursprünglichen Fassung auch aus 15 Büchern bestanden. Selbstverständlich enthalten Ovids Bücher 13–15, in denen es im weitesten Sinne um die römische Geschichte geht, besonders viele thematische Übereinstimmungen mit Ennius. 47 Eine indirekte Anspielung auf Ennius kann man z. B. auch in Ovids Pythagoras-Rede sehen, in der unter anderem die Seelenwanderungslehre gepredigt wird. Im Prolog der Annalen stellt sich Ennius selbst im Einklang mit der pythagoreischen Lehre als wiedergeborenen Homer dar. Ennius . . . in Annalium suorum principio . . . dicit se vidisse in somnis Homerum dicentem fuisse quondam pavonem et ex eo translatum in se animam esse secundum Pythagorae philosophi definitionem. (Enn. ann. 1 fr. 14 Sk. = Schol. ad Pers. 6,9–11) Ennius sagt zu Anfang seiner Annalen, er habe in einem Traum Homer gesehen, der ihm sagte, er sei einst ein Pfau gewesen und seine Seele sei dann gemäß der Lehre des Philosophen Pythagoras auf ihn (Ennius) übertragen worden.

Laut dieser Selbstdarstellung setzt Ennius also Homers poetisches Unterfangen auf römischem Boden fort. Sein Werk kann in der Tat als eine chronologische Fortsetzung der homerischen Epen angesehen werden, die sich, genauso wie später Vergils Aeneis, direkt an die Eroberung Trojas anschließt, von Aeneas’ Irrfahrten berichtet und dadurch einen Übergang zur römischen Geschichte schafft, die es dann in streng chronologischer Reihenfolge erzählt. 48 Was Ennius fortschreibt, ist aber weder die Ilias noch die Odyssee, sondern der gesamte griechische epische Kyklos, der auch aus einer chronologisch geordneten Ansammlung von Epen bestand, die in der Antike häufig Homer zugeschrieben wurden. 49 Die Vermutung liegt also nahe, dass Ennius durch seine Identifizierung mit Homer unter anderem darauf hinweisen wollte, dass seine Annalen als ein römisches Pendant zum gesamten griechischen epischen Kyklos anzusehen sind. Der epische Kyklos deckt genau den gleichen Zeitraum ab wie der hesiodische Frauenkatalog – von der Entstehung der Welt bis zu den unmittelbaren Folgen des Trojanischen Krieges. Unter den überlieferten Titeln sind eine kyklische Theogonie, eine Titanomachie, eine Thebais und zahlreiche Epen, die zum trojanischen Zyklus gehören (es gab sogar eine kyklische Version der Odyssee). 50 Diese wandelbaren Produkte einer mündlichen Kultur wurden irgendwann schriftlich fixiert und zu einem chronologisch geordneten Kontinuum zusammengeführt. Laut dem nur aus Photios bekannten Bericht des Proklos, dessen Prosazusammenfassung unsere wichtigste erhaltene Quelle über die Gedichte des trojanischen Kyklos darstellt, habe man in späteren Zeiten den Kyklos nicht aus ästhetischen Gründen,

47 48 49 50

Tissol (2002). Elliott (2010). West (1983); Davies (1989); Holmberg (1998); Burgess (2001). West (1983) 125; Burgess (2001) 16.

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sondern nur wegen der Chronologie der mythischen Ereignisse gelesen. 51 Dieser Einschätzung schließen sich auch andere antike Zeugnisse an, auf denen der spätere, eindeutig negative Ruf des epischen Kyklos beruht. Aristoteles beklagt etwa, dass im Gegensatz zu den idealen Plots der beiden homerischen Epen, die sich durch eine Handlungseinheit, d. h. ein System von leicht nachvollziehbaren kausalen Verbindungen, auszeichnen, kyklische Gedichte nur dadurch zusammengehalten werden, dass sie von einer bestimmten Person oder einem bestimmten Zeitabschnitt handeln: . . . o’tw ka» ‚n toÿc ‚fex®c qrÏnoic ‚n–ote g–netai jàteron metÄ jàteron, ‚x ¡n „n oŒd‡n g–netai tËloc. sqed‰n d‡ o… pollo» t¿n poiht¿n to‹to dr¿si. di‰ πsper e“pomen ¢dh ka» ta‘t˘ jespËsioc ãn fane–h ìOmhroc parÄ toÃc ällouc, tƒ mhd‡ t‰n pÏlemon ka–per Íqonta Çrqòn ka» tËloc ‚piqeir®sai poieÿn Ìlon; l–an gÄr ãn mËgac ka» oŒk eŒs‘noptoc Ímellen Ísesjai  m‹joc, £ tƒ megËjei metriàzonta katapeplegmËnon t¨ poikil–¯. . . . o… d> älloi per» Èna poio‹si ka» per» Èna qrÏnon ka» m–an prêxin polumer®, oŸon  tÄ K‘pria poi†sac ka» tòn mikròn >Iliàda. toigaro‹n ‚k m‡n >Iliàdoc ka» >Odusse–ac m–a trag˙d–a poieÿtai ·katËrac £ d‘o mÏnai, ‚k d‡ Kupr–wn polla» ka» t®c mikrêc >Iliàdoc ([Êkt∏], oŸon Ìplwn kr–sic, Filokt†thc, NeoptÏlemoc, EŒr‘puloc, ptwqe–a, Làkanai, >Il–ou pËrsic ka» ÇpÏplouc [ka» S–nwn ka» Tr˙àdec]). (Aristot. Poet. 1459a27–b7) . . . so ereignet sich in den aufeinander folgenden Zeitabschnitten bisweilen eines nach dem anderen, ohne dass sich aus ihnen ein (gemeinsam erreichtes) Ziel ergäbe. Aber nahezu alle Dichter gehen so vor. Daher muss, wie schon gesagt, auch in dieser Hinsicht Homer als göttergleich erscheinen im Vergleich mit den anderen, weil er nicht versucht hat, den Krieg insgesamt darzustellen, obwohl er einen Anfang und ein Ende hat. Viel zu groß nämlich und unüberschaubar hätte der Mythos werden müssen oder, wenn er maßvoll im Hinblick auf den Umfang geblieben wäre, doch überaus verwickelt wegen der Vielfalt (der Stoffe). . . . Die anderen kreisen in ihren Dichtungen um einen Menschen und um einen Zeitraum herum und um eine Handlung, die (aber) vielteilig ist; z.B. der Dichter der Kyprien und der Kleinen Ilias. Das ist der Grund, warum man aus der Ilias-Handlung und der Odyssee-Handlung jeweils nur eine Tragödie oder (im Fall der Odyssee) nur zwei machen könnte, während man die Kyprien-Handlung in vielen und die Handlung der Kleinen Ilias in mehr als acht Tragödien unterbringen müsste, etwa: die Entscheidung über die Waffe, Philoktet, Neoptolemos, Eurypylos, der Bettelgang, die Spartanerinnen, die Zerstörung Troja, die Abfahrt, Sinon und die Troerinnen. (Übers. nach A. Schmitt)

Andere Zeugnisse sind sich auch darin einig, dass es sich bei kyklischen Epen um Erzählungen handelte, deren einzelne Episoden rein chronologisch, also durch ein einfaches ›und dann‹, miteinander verbunden waren. 52 Der epische Kyklos ins51

52

Phot., cod. 239 f. 318b lËgei d‡ (sc. Â ProklÏc) ±c to‹ ‚piko‹ k‘klou tÄ poi†mata dias∏zetai ka» spoudàzetai toÿc polloÿc oŒq o’tw diÄ tòn Çretòn ±c diÄ tòn Çkolouj–an t¿n ‚n aŒtƒ pragmàtwn. Vgl. Pollians Epigramm über die kyklischen Dichter, AP 11,130,1–2: toÃc kukl–ouc to‘touc toÃc ›aŒtÄr Ípeita‹ lËgontac / mis¿, lwpod‘tac Çllotr–wn ‚pËwn. (Diese

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gesamt wurde in der Antike als eine Reihe von sequels und prequels zu den beiden großen homerischen Epen betrachtet, die nur einen einzigen erkennbaren Wert besaßen, nämlich die faktischen Lücken für die Zeit davor, dazwischen und danach so gut wie möglich zu stopfen. 53 Bei Ovid findet man auch eine dem epischen Kyklos nachempfundene chronologische Verknüpfung von verschiedenen, ursprünglich unabhängigen poetischen Stoffen – also, wenn man so will, auch eine Reihe von sequels. Jede scheinbar abgeschlossene Erzähleinheit, die Ovid aus früherer Literatur übernimmt, wird bei ihm fortgesetzt, so dass sie ihren Platz innerhalb seines allumfassenden carmen perpetuum einnimmt. Was hier miteinander verknüpft wird, sind jedoch nicht nur Metamorphosenepisoden geringeren Umfangs, sondern auch Elemente großer Sujets, die in den wichtigsten Werken der griechisch-römischen epischen Hexameterdichtung behandelt worden waren – in Hesiods Theogonie und Werken und Tagen, den Homerischen Hymnen, in verschiedenartigen Heroensagen (der Thebais, der Argonautensage, anderen Heldensagen – z. B. Theseus, Herkules), im trojanischen Kyklos. Das Ganze wird dabei mehr oder weniger chronologisch dargestellt und ergibt eine Art ›Mega-Kyklos‹ – von der Entstehung der Welt ad mea tempora. Der Übergang ad mea tempora wird dabei mithilfe von Ennius’ Annalen geschaffen, die bereits im Original im Großen und Ganzen den strukturellen und ästhetischen Prinzipien des epischen Kyklos entsprochen zu haben scheinen. Zusätzlich zu dieser übergeordneten chronologischen Anordnung, die aus den Metamorphosen eine neue Version des epischen Kyklos macht, scheint Ovid gelegentlich die für die kyklische Dichtung typische Erzählweise nachzuahmen – besonders dann, wenn es um epische Stoffe geht, für die es hellenistisch-römische literarische Vorlagen gibt, z. B. die Medea-Episode in Buch 7, die den Argonautica des Apollonios von Rhodos entspricht, oder Ovids kleine Aeneis in den Büchern 13 und 14. Dadurch, dass in beiden Fällen die Erzählung durch unzählige, für das lineare Fortschreiten der Geschichte vollkommen irrelevante Einlagen und Kataloge unterbrochen wird, wird die Einheitlichkeit der Handlung weitgehend aufgelöst. Diese wird dann durch das der kyklischen Poetik verpflichtete, rein chronologische ›und dann‹-Prinzip ersetzt: Medea hilft Jason, danach flieht sie mit ihm nach Griechenland, danach verjüngt sie seinen Vater Äson, danach sorgt sie dafür, dass die Töchter des Pelias ihren Vater töten, danach fliegt sie nach Korinth, danach tötet sie ihre Kinder, danach flieht sie nach Athen zu Aigeus, der sie heiratet; als Theseus in Athen erscheint, versucht sie vergeblich, ihn zu töten, und verschwindet anschließend auf immer aus der Erzählung, indem sie in den Himmel flieht (Ov. met. 7,1–403). Die Erzählung in Ovids kleiner Aeneis (Ov. met. 13,623–14,582) erfolgt mehr oder weniger nach denselben Prinzipien. 54

53 54

Kykliker, die ständig ›aber darauf dann‹ sagen, / hasse ich, diese Plagiatoren von anderer Leute epischen Werken.) Vgl. Thalmann (1984) 75–7. Vgl. Papaioannou (2005).

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Am Ende dieses Abschnitts möchte ich noch eine eher kuriose Beobachtung machen. Das chronologisch letzte von Proklos zusammengefasste Gedicht des epischen Kyklos – die Telegonie – weist gewisse Ähnlichkeiten mit dem Schluss der Metamorphosen auf: Telegonos, der Sohn des Odysseus von Kirke, bringt seinen Vater unwissentlich um; daraufhin bringt er nicht nur seine Leiche, sondern auch Penelope und Telemach zu seiner Mutter, die sie alle unsterblich macht; am Ende heiraten sie alle untereinander – Telegonos und Penelope, Telemach und Kirke. 55 Die vollkommene Absurdität dieses Schlusses scheint wirklich symptomatisch zu sein. Der Kyklos ist per definitionem eine Erzählform, die sich gegen jede Art von Schluss sträubt, denn sie besteht wie eine Seifenoper aus lauter sequels. Man kann eine solche Erzählung nur dadurch beenden, dass man jedes weitere Geschehen auf der gleichen ontologischen Grundlage komplett verunmöglicht, und eine totale Apotheose scheint dafür ein ideal geeigneter Kunstgriff zu sein. Ovids Werk hat im Gegensatz zum epischen Kyklos einen natürlichen Endpunkt – die bereits mehrfach erwähnten mea tempora. Trotzdem liest sich aus dieser Perspektive die außerordentliche Häufung von Apotheosen am Ende von Ovids Werk (Aeneas, Romulus, Hersilia, Julius Caesar und Augustus) fast wie ein spielerischer Verweis auf das Ende des epischen Kyklos. Demnach würden Ovids Metamorphosen nicht nur die Grundstruktur und die Erzählweise des epischen Kyklos reproduzieren, sondern auch seinen merkwürdigen Schluss, der die grundsätzliche Unabschließbarkeit des Kyklos indirekt problematisiert. 5. Eine Reihe von Kleinepen und das narrative Zeugma Ovids Metamorphosen ähneln dem epischen Kyklos natürlich nur bedingt. Einzelne Episoden des Werkes sind nicht nur Teile eines zeitlichen Kontinuums, sondern auch abgeschlossene Erzählungen, die man oft mit hellenistisch-römischen Kleinepen vergleicht. 56 In solchen Werken der hellenistischen und der römischen Literatur wie Kallimachos’ Hekale, Moschos’ Europa und Catulls carmen 64 werden Erzählstrukturen, die die Einheit des Ganzen hervorheben und die alle schon aus den homerischen Epen hinreichend bekannt sind, auf einen geringeren Textumfang übertragen und weiter ausgearbeitet. 57 Hellenistische Kleinepen bearbeiten zwar Sujets, die in der archaischen Epostradition als Episoden innerhalb einer größeren Erzähleinheit bereits vorkamen. Im Gegensatz zum archaischen mündli55

56 57

Procl. Chrest. (Thomas W. Allen: Homeri Opera, Tom. V, Oxford 2 1946, 109) ThlËgonoc d> ‚pignoÃc tòn Åmart–an tÏ te to‹ patr‰c s¿ma ka» t‰n ThlËmaqon ka» tòn PhnelÏphn pr‰c tòn mhtËra mej–sthsin; ô d‡ aŒtoÃc Çjanàtouc poieÿ, ka» sunoikeÿ t¨ m‡n PhnelÏp˘ ThlËgonoc, K–rk˘ d‡ ThlËmaqoc. (Als Telegonos seinen Fehler erkennt, bringt er sowohl den Leichnam seines Vaters als auch Telemach und Penelope zu seiner Mutter. Diese macht sie unsterblich, und dann lebt Telegonos zusammen mit Penelope und Telemach mit Kirke.) Crump (1931) 200–18; Pecchillo (1990). Gutzwiller (1981); Cusset (2001); Bartels (2004); Kuhlmann (2004).

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chen Epos wird aber im hellenistischen literarischen Epos nicht die faktische Vollständigkeit der Erzählung, sondern eine formelle Perfektion angestrebt, wobei die Ausübung eines künstlerischen, die Funktionsweise des poetischen Ganzen kontrollierenden Prinzips im Vordergrund steht. Die daraus resultierende Einheitlichkeit kann verschiedene Formen annehmen: Es handelt sich nicht nur um einen im aristotelischen Sinne einheitlichen Plot, sondern auch um ein einheitliches übergeordnetes Thema, eine ausgeklügelte assoziative Verknüpfung oder eine bis zur vollendeten Perfektion ausgearbeitete formale Komposition. Die meisten der Erzählungen Ovids sind genau nach den Prinzipien eines hellenistisch-römischen Kleinepos konstruiert. 58 Sie basieren auf einem abgeschlossenen Plot. Viele enthalten weitere Erzähleinlagen, die selber auch den gleichen narrativen Prinzipien folgen und mit ihrem unmittelbaren Rahmen eine nachvollziehbare formale Erzähleinheit bilden – sei es auf der Ebene des Plots oder auf einer rein formalen Ebene. Im Gegensatz zu einem hellenistischen Kleinepos, das in der Regel einen geringen Umfang und deswegen ein klar definiertes Ende hat, gehören Ovids kleinepische Einheiten immer einem größeren, übergeordneten Erzählrahmen an. In gewisser Hinsicht kann man hier von einer kreisförmigen Entwicklung sprechen: Hellenistische Kleinepen isolierten Episoden, die im archaischen Epos einem übergeordneten Erzählkontinuum angehörten. Ovid integriert diese Episoden wiederum in ein großes Erzählkontinuum, allerdings einer etwas anderen Art. Bei Ovid werden ›kleinepische‹ Erzähleinheiten nicht wie im archaischen Epos aneinander gereiht, sondern sind oft auf eine höchst komplexe Weise ineinander verschachtelt oder überlappen einander. Im Prinzip könnte man hier von einer übersteigerten Version dessen sprechen, was man im wohl kompliziertesten Gedicht der hellenistisch-römischen Kleinepostradition findet – in Catulls carmen 64. 59 Dieses Procedere führt dazu, dass die für das hellenistische Kleinepos so prägende Abgeschlossenheit bei Ovid ständig durchbrochen wird und dass sich die Grenzen zwischen einzelnen Erzähleinheiten je nach Sichtweise unterschiedlich ziehen lassen. Diese Überlappungen und Brüche in den Erzähleinheiten lassen die Grenzen von Anfang und Ende stetig verschwimmen, so dass gerade hier eine permanente, rekurrierende false closure erfahrbar wird. Als Beispiel für diese Eigenschaft von Ovids Metamorphosen möchte ich die Bücher 3 und 4 näher betrachten. Der thebanische Abschnitt des Gedichts – von der Gründung der Stadt durch Kadmos bis zu seinem Tod – bildet eine abgeschlossene Erzählung. Als Kadmos bei der Stadtgründung am Anfang von Buch 3 eine heilige Schlange tötet, wird ihm von einer göttlichen Stimme prophezeit, dass er sich auch in eine Schlange verwandeln wird. vox subito audita est (neque erat cognoscere promptum unde, sed audita est): ›quid, Agenore nate, peremtum serpentem spectas? et tu spectabere serpens.‹ (Ov. met. 3,96–8)

58 59

Vgl. Knox (1986) 43. Vgl. Bartels (2004) 191–219.

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Plötzlich war eine Stimme zu hören – man konnte nicht erkennen, woher, aber sie war zu hören –: »Warum schaust Du, Agenors Sohn, die getötete Schlange an? Auch dich wird man als eine Schlange anschauen.«

Das geschieht dann tatsächlich in der zweiten Hälfte von Buch 4: ›num sacer ille mea traiectus cuspide serpens‹ Cadmus ait ›fuerat, tum cum Sidone profectus vipereos sparsi per humum, nova semina, dentes? quem si cura deum tam certa vindicat ira, ipse, precor, serpens in longam porrigar alvum.‹ dixit et, ut serpens, in longam tenditur alvum . . . (Ov. met. 4,571–76) »War etwa jene Schlange, die von meinem Speer durchbohrt wurde, heilig,« fragte Kadmos, »als ich, von Sidon aufgebrochen, Vipernzähne auf dem Boden verstreute – ein neuartiges Saatgut? Wenn die Vorsehung der Götter diese Schlange mit so scharfem Zorn rächt, dann möchte ich selbst bitte als Schlange mich langbäuchig ausstrecken.« So sprach er – und wie eine Schlange spannte er sich langbäuchig aus. . . .

Hier wird dem Leser deutlich zu verstehen gegeben, dass dieses Ende in einem wie auch immer mild ausgeprägten kausalen, vom Schicksal bestimmten Verhältnis zum Anfang der Geschichte steht. Dieser an sich abgeschlossene Erzählrahmen enthält nun aber zahlreiche Einlagen, von denen man jede einzelne als Kleinepos mit eigenem Anspruch betrachten kann. Was bei der Überlappung solcher Erzählrahmen passiert, kann man sehr treffend mit einer rhetorischen Figur vergleichen, für die Ovid in den Metamorphosen eine besondere Vorliebe zeigt, nämlich das Zeugma bzw. die Syllepsis, deren zentrale Rolle für Ovids Humor vor einiger Zeit von Gareth Tissol untersucht wurde. 60 In dieser Figur werden mehrere Substantive in Abhängigkeit von ein und demselben Verb verwendet, wobei das Verb in Verbindung mit jedem dieser Substantive eine andere Bedeutung bekommt – eine konkrete, wörtliche und eine oder mehrere übertragene. Ein schönes deutsches Beispiel dafür wäre »Er nahm seinen Hut, Abschied von seiner Frau und sich das Leben.« Bei Ovid sind solche Wortspiele allgegenwärtig. Hier nur zwei Beispiele: Bei der Schilderung von Apollos Reaktion auf Coronis’ Untreue in Buch 2 wird gesagt, dass der Gott »zugleich die Fassung, das Plektrum und die Gesichtsfarbe verlor« (2,601–2 et pariter vultusque deo plectrumque colorque / excidit). Ähnlich verhält es sich in Buch 9, wo von Hyllus gesagt wird, er habe nach Hercules’ Willen Iole »in sein Schlafzimmer und in sein Herz aufgenommen« (9,278–9 Herculis illam [sc. Iolen] / imperiis thalamoque animoque receperat Hyllus). Der Effekt solcher Wortspiele basiert darauf, dass die Bedeutung eines Wortes mit sich selbst nicht ganz identisch ist, dass sie sich gewissermaßen je nach Gesichtspunkt ständig hin und her verwandelt. Gareth Tissol verbindet Ovids Vorliebe für diese Art von Wortspielen mit dem Metamorphosenthema des Gedichts und zeigt, wie sehr sich eine solche Sprechweise, deren Bedeutung sich in einem permanenten Fluktuationszustand befindet, als Vehikel 60

Tissol (1997).

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für die Darstellung einer höchst instabilen, sich ständig verwandelnden Welt eignet. Dieses Modell lässt sich aber meines Erachtens auch auf die Überlappung von Erzähleinheiten übertragen. In diesem Falle könnte man von einer Reihe von narrativen Zeugmata sprechen. Wie so ein narratives Zeugma funktioniert, werde ich nun am Beispiel der Geschichte von Narziss und Echo darlegen, die auch zum übergeordneten Kadmos-Rahmen gehört. Wie alle anderen Episoden der KadmosNarration nimmt diese Geschichte gleichzeitig an verschiedenen Erzählrahmen teil, und, je nachdem aus welcher Perspektive man sie betrachtet, bekommt sie grundverschiedene Bedeutungen. Isoliert betrachtet behandelt diese Geschichte auf eine sowohl künstlerisch virtuose als auch bewegende Weise eine Vielfalt von Themen, die allesamt für das Verständnis der Metamorphosen von zentraler Bedeutung sind: tragische Liebe, göttliche Gerechtigkeit, Parallelismus zwischen der auditiven und visuellen Nachahmung usw. Die erstaunliche künstlerische Treffsicherheit, mit der hier diese Themen zu einer ästhetischen Einheit verschmelzen, macht den Text zu einem Meisterwerk der hellenistisch-römischen poetischen Kunst, das Generationen von Ovids Lesern sowohl emotional als auch intellektuell zutiefst bewegt. Diese unbestreitbare Kraft von Ovids Erzählung hat aber eine Kehrseite. Während wir dem mimetischen Reiz von Ovids Fiktion vollkommen erliegen, vergessen wir nur allzu gern komplett, dass diese Geschichte nicht um ihrer selbst willen erzählt wird, sondern einem größeren Erzählrahmen angehört, wo sie nur als eine Illustration von Tiresias’ prophetischer Gabe eingeführt wird: Es war schließlich Tiresias, der Narziss prophezeit hatte, er werde ein hohes Alter nur dann erreichen, wenn er sich selbst nicht kenne (3,348 si se non noverit). Nach dem tragischen Ende des Narziss geht die Erzählung des Tiresias-Rahmens einfach weiter, als wäre nichts geschehen: cognita res meritam vati per Achaidas urbes / attulerat famam, nomenque erat auguris ingens (3,511–12). Innerhalb der Tiresias-Geschichte verwandelt sich nachträglich all das, worüber der Leser gerade eben noch gestaunt oder geweint hat, in eine untergeordnete, nebensächliche Episode. Dasselbe passiert dann auch mit der Tiresias-Episode selbst, die nur ein rein funktionaler Bestandteil der Bacchus-Geschichte ist, die wiederum auch zum übergeordneten Kadmos-Rahmen gehört. Wir haben es hier also mit einem dynamischen Transformationsprozess zu tun, der sich im Laufe der Lektüre vollzieht, wobei sich die Bedeutung des Textes wie bei einem Zeugma je nach Gesichtspunkt verwandelt. Man wird hier nämlich auch dazu aufgefordert, ein und dasselbe Ereignis sowohl wörtlich (in seiner tragischen Bewegungskraft) als auch in einem übertragenen Sinne (als ein rein funktionales Element der kausalen Plotstruktur einer anderen Erzählung) zu verstehen. Dergleichen narrative Zeugmata verbinden jedoch nicht nur ineinander verschachtelte kleinepische Erzählstrukturen, sondern auch alle anderen strukturellen Muster, die ich bis jetzt besprochen habe: den thematischen Katalog, den genealogischen Katalog und die kyklisch-annalistische Chronik. In den Metamorphosen nimmt jedes narrative Ereignis an mehr als einer solcher Strukturen teil. So besteht beispielsweise der Kadmos-Rahmen nicht nur aus mehreren ineinander verschach-

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telten Kleinepen, sondern auch aus einer Reihe von Metamorphosengeschichten, die sich automatisch in den virtuellen Metamorphosenkatalog einfügen, der, wie wir bereits gesehen haben, den Großteil des Werks ausmacht. Viele Episoden sind aber gleichzeitig tragische Liebesgeschichten und gehören somit zum virtuellen Katalog der ‚rwtikÄ paj†mata. Das Gleiche gilt auch für die Geschichten über göttliche Rache. Wir haben es also mit einer Mehrzahl von miteinander verflochtenen Katalogen zu tun, die aus genau denselben Ereignissen bestehen, die das Gerüst der verschachtelten kleinepischen Erzählstrukturen bilden. Zusätzlich dazu wird der gesamte thebanische Erzählblock (wie bereits erwähnt) als Teil des größeren genealogischen Rahmens eingeführt – als Geschichte über die Nachkommen des Agenor, dessen Tochter Europa von Jupiter entführt wurde (Ov. met. 2,833– 75). Wir sehen, dass die gleiche Ereigniskette sich gleichzeitig nach verschiedenen – syntagmatischen und paradigmatischen – Erzählprinzipien entfaltet, wobei jedes Ereignis je nach Gesichtspunkt verschiedenen Erzählstrukturen angehört – und, wie bei einem Zeugma, dadurch leicht unterschiedliche Bedeutungen erhält.

6. Ovids Metamorphosen und hellenistisch-römische Gedichtsammlungen Die letzte Frage, die ich stellen möchte, ist: An welchen literarischen Phänomenen hätte man als zeitgenössischer Leser die zum Verständnis solch eines komplexen narrativen Konstrukts notwendigen Lesekompetenzen erwerben können? Meines Erachtens ist das Prinzip des narrativen Zeugmas, das Ovids Metamorphosen weitgehend prägt, mit der Funktionsweise eines hellenistisch-römischen, aus mehreren kurzen Gedichten bestehenden Poesiebuches eng verwandt. Ich bin davon überzeugt, dass man diverse antike Poesiebücher zur Unterstützung meiner These heranziehen könnte. Aus Platzgründen beschränke ich mich hier jedoch auf nur zwei Beispiele aus dem Corpus der Gedichte Catulls. 61 Die überlieferte Reihenfolge von Catulls Gedichten geht höchstwahrscheinlich auf Catull selbst zurück. 62 In diesem Poesiebuch (beziehungsweise drei eng miteinander verbundenen Poesiebüchern) haben wir es mit einer Mehrzahl von verflochtenen thematischen Zyklen zu tun. 63 Bei einer linear fortschreitenden Lektüre merken wir, dass es mehrere Lesbia- und Juventius-Gedichte gibt, mehrere an gleichaltrige männliche Freunde adressierte Gedichte, mehrere Schmäh- und Schimpfgedichte, mehrere Gedichte über rein literarische Themen usw. Innerhalb der Sammlung gehen aber einzelne Gedichte nicht nur paradigmatische Verhältnisse innerhalb ihres jeweiligen Zyklus, sondern auch syntagmatische Verhältnisse mit unmittelbar benachbarten Gedichten ein. Dadurch entsteht eine außerordentliche Polyphonie, bei der ein und dasselbe Gedicht unterschiedliche Bedeutungs61 62 63

Die Übersetzungen (einschließlich Orthographie) der im Folgenden zitierten Passagen aus Catull gehören Weinreich (1960). Holzberg (2002) 67–87. Fitzgerald (1995) 19–33; Beck (1996); Wray (2001) 64–112; Skinner (2007).

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schattierungen erhält, je nachdem ob man es isoliert, innerhalb seines thematischen Zyklus oder linear liest. Obwohl carmen 51 bekanntlich eine freie Übersetzung eines Sappho-Gedichts (fr. 31 Lobel-Page fa–neta– moi k®noc . . . ) ist, galt es Generationen von Lesern als reinster Ausdruck von Catulls Liebe zu Lesbia und als Meisterwerk der persönlichen Lyrik. 64 Die letzte (genuin ›römische‹) Strophe, in der es plötzlich um Muße (otium) als Ursprung jeden Übels geht, störte erheblich dieses schöne Bild: otium, Catulle, tibi molestum est: otio exultas nimiumque gestis: otium et reges prius et beatas perdidit urbes. (Catull. 51,13–6) Müßiggang, Catullus, erweckt dir Leiden, Müßiggang verlockt dich zu frechem Schwärmen, Müßiggang hat Könige einst gestürzt und blühende Städte.

In den 1960er Jahren publizierte Marius Lavency einen Aufsatz, in dem er zeigte, dass die letzte Strophe eine klare Verbindung zum unmittelbar vorhergehenden Gedicht (carmen 50) aufweist, das demnach als eine Art lettre d’envoi für die Sappho-Übersetzung betrachtet werden kann. 65 In carmen 50 schreibt Catull an einen Freund namens Licinius. Am Vorabend haben die beiden otiosi ihre Zeit damit totgeschlagen, dass sie, miteinander wetteifernd, hin und her Gedichte in verschiedenen Versmaßen verfasst haben. Irgendwann musste Licinius nach Hause. Catull vermisste aber seinen Freund nach diesem angenehmen Zeitvertreib so sehr, dass er die ganze Nacht nicht einschlafen konnte. Schließlich schickte er Licinius »dieses Gedicht« (50,16 hoc poema), womit höchstwahrscheinlich die Sappho-Übersetzung von carmen 51 gemeint ist, als eine Aufforderung, den unterbrochenen poetischen Wettbewerb fortzusetzen. Wenn man carmen 51 aus dieser Perspektive liest, erhält es eine ganz andere Bedeutung. Lesbia wird aus Catulls Geliebter zu Sappho – der berühmten Frau von Lesbos, deren Gedicht Catull übersetzt; seine Liebesbekundung wird sowohl zur Hommage an die Dichterin als auch zu einer Metapher für Catulls Sehnsucht nach einem poetischen Spiel mit Licinius; und das Gedicht als Ganzes gehört damit nicht mehr so eindeutig zum Lesbia-Zyklus, sondern zur Gruppe der poetologischen Gedichte. Aus einem emotional bewegenden Gedicht wird also ein reines poetisches Spiel. Besonders zu betonen ist aber, dass man im Laufe der Lektüre nicht dazu aufgefordert wird, zwischen den beiden Lesarten zu wählen, sondern eher darüber zu staunen, mit welcher Virtuosität es Catull gelingt, beide scheinbar unvereinbaren Wirkungen gleichzeitig, wie bei einem Zeugma, zu erzielen. Ähnlich könnte man auch carmina 5, 6 und 7 deuten. Carmen 5 (vivamus mea Lesbia atque amemus . . . ) ist eines der berühmtesten Gedichte Catulls überhaupt, 64 65

Wray (2001) 88–109. Lavency (1962).

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in dem eine von den Konventionen der Außenwelt befreite Liebe geschildert wird: Das Einzige, worum sich die Liebenden kümmern, seien ihre Küsse; der Neid und die Boshaftigkeit der anderen, die über das Liebespaar Gerüchte verbreiten, interessiere sie nicht usw. da mi basia mille, deinde centum, dein mille altera, dein secunda centum, deinde usque altera mille, deinde centum. dein, cum milia multa fecerimus, conturbabimus illa, ne sciamus, aut ne quis malus invidere possit, cum tantum sciat esse basiorum. (Catull. 5,7–13) Gib mir tausend und aber hundert Küsse, dann noch tausend und nochmals hundert Küsse, noch ein Tausend und wieder hundert Küsse! Wenn vieltausend von Küssen dann beisammen, flugs vergessen, getilgt die Summe, daß ja keiner scheel sie besähe und uns schade, wenn er sämtlicher Küsse Zahl gefunden!

Auch dieses Gedicht wurde von Generationen von Catull-Forschern ausschließlich als Teil des Lesbia-Zyklus gelesen und verkörperte deswegen einen über alles geschätzten, unmittelbaren Ausdruck wahrer Liebe, als deren leidenschaftlicher Prophet Catull galt. 66 Wenn man aber dasselbe Gedicht in linearer Verbindung mit dem darauffolgenden Gedicht liest, wird dieses einfache Bild erheblich relativiert, denn in carmen 6 (Flavi, delicias tuas Catullo . . . ) spielt dann plötzlich derselbe Sprecher die Rolle der gerade eben höhnisch verschmähten neugierigen, neidischen Außenwelt. Beim Besuch bei seinem Freund Flavius merkt der Sprecher an zahlreichen indirekten Zeichen, zu denen, so treffend in der Übersetzung von Niklas Holzberg, sein »ausgefickter Unterleib« (latera ecfututa, 6,13) gehört, dass dieser in der Nacht davor mit jemandem Sex hatte. Der Sprecher schnüffelt überall herum, beschimpft die verheimlichte Geliebte als fieberkranke Hure und bittet seinen Adressaten, alle Einzelheiten seiner neuen Affäre zu erzählen, damit er das Liebespaar durch seine zierlichen Verse berühmt machen kann. 67 Genauso wie die Außenstehenden in carmen 5 ist hier Catull unglaublich neugierig und immer dazu bereit, Gerüchte über die Liebenden zu verbreiten, und sie aufs Heftigste zu beschimpfen, wenn sie ihn daran hindern. Dieses in seiner Grundhaltung jambische Schimpfgedicht relativiert also erheblich die leidenschaftliche Bekundung von carmen 5, indem es den Sprecher genau die Art von Einmischung in das Privatleben anderer praktizieren lässt, die er gerade eben für unannehmbar erklärt hatte.

66 67

Vgl. Holzberg (2002) 24–8. Vgl. Fitzgerald (1995) 53–5; Wray (2001) 153–60.

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Carmen 7 kehrt dann plötzlich zur Perspektive von carmen 5 zurück. Die Grundaussage der beiden Gedichte ist absolut identisch: Auch hier geht es um die Unzählbarkeit der Küsse, deren genaue Anzahl niemanden angeht außer die Küssenden selbst. Was hier jedoch anders ist, ist der Ausdruck, der diesem Gedanken verliehen wird. Anstatt einer eher sachlichen Zahlenauflistung haben wir hier einen höchst gelehrten poetischen Vergleich, in dem unter anderem Kyrene – die libysche Heimat des Battiades, d. h. des Kallimachos – die zentrale Rolle spielt. Quaeris, quot mihi basiationes tuae, Lesbia, sint satis superque. quam magnus numerus Libyssae harenae lasarpiciferis iacet Cyrenis oraclum Iovis inter aestuosi et Batti veteris sacrum sepulcrum. (Catull. 7,1–6) Du fragst, Lesbia, wieviel deiner Küsse genug, übergenug der Sehnsucht seien? Wieviel libyscher Sand bedeckt Kyrenes weite, silphionreiche Küstenstriche, vom Orakel des glühendheißen Ammon bis zu Battos’, des Alten, heiligem Grabmal.

Im Prinzip haben wir es hier mit einer abgewandelten Version von carmen 5 zu tun, das kallimacheisch – künstlich und gelehrt – umgedichtet wurde. Dieses letzte Detail transformiert die gesamte aus drei Gedichten bestehende Reihe in ein ausgeklügeltes poetisches Spiel, in dem es in erster Linie um Dichtung und Poetologie geht. Genauso wie in den anderen Beispielen, die ich bereits besprochen habe, verwandelt sich der Text während der Lektüre und zelebriert dabei seine eigene ungezügelte Polysemie. Was dabei passiert, ähnelt wieder dem Effekt eines Zeugmas: Zunächst lesen wir carmen 5 wörtlich – als unbekümmerte Liebeserklärung; danach werden wir mit zwei Perspektiven konfrontiert, die uns dazu auffordern, denselben Text weniger wörtlich zu verstehen. Die erste dieser Perspektiven lässt den leidenschaftlichen Sprecher von carmen 5 höchst unzuverlässig und lächerlich erscheinen; die zweite zeigt ihn als einen hellenistisch-neoterischen Dichter, dem es hauptsächlich um die Demonstration seiner virtuosen Vielseitigkeit geht – also um ein rein poetisches Experiment. Dergleichen Parallelen zwischen Ovids großem epischen Werk und Catulls winzigen nugae (poetischen Spielereien) erlauben uns eine neue Perspektive darauf, warum die Metamorphosen sowohl ein carmen perpetuum als auch ein carmen deductum sind. In den Metamorphosen verbindet Ovid die großformatigen Strukturen, die er von seinen epischen Vorgängern übernommen hat, tatsächlich zu einem überdimensionierten carmen perpetuum. Die Art und Weise, wie er sie miteinander verbindet, entstammt jedoch einer poetischen Form, die als Inbegriff des carmen deductum gelten darf.

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Christine Walde (Mainz)

Tu ne quaesieris scire nefas quem finem . . . di dederunt . . . Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile

Von Lucans Epos Bellum Civile sind neun vollständig überlieferte Bücher und ein halbes oder 3/4 zehntes auf uns gekommen. Nach der communis opinio handelt es sich um ein Großfragment von 8046 Versen mit einem abrupten, den antiken Rezipienten nicht nur unverständlichen, sondern für die antike Literatur gänzlich unmöglichen Ende. In der Tat entlässt uns das Bürgerkriegsepos mit einem der dramatischsten cliffhanger der Weltliteratur, um dies in der Terminologie unserer zeitgenössischen Fernsehserienproduktion zu formulieren: Caesar in Alexandria (ab 10,332)! Überraschend ist der römische Feldherr von einer Streitmacht aus Ägyptern und Römern gone native umzingelt worden, die es trotz zahlenmäßiger Übermacht nicht schaffen, ihn niederzuringen: Als Günstling der Fortuna und Herr der Nacht behält Caesar einen kühlen Kopf. Er setzt die Schiffe der Gegner in Brand und besetzt die Insel Pharos. Doch dann muss er fassungslos erkennen, dass sein Versuch, die Schlacht ans Meer zu drängen, gescheitert ist. Von Angst und Zweifeln ergriffen blickt er sich um und sieht den Centurionen Scaeva, der vor Epidamnus/Dyrrhachium alleine die Mauern des Magnus belagert hatte. – Schnitt –

Aber ist dieses grandiose Finale wirklich so ungewöhnlich? Es gibt gute Gründe, die stereotyp weitertradierte Meinung, das Bellum Civile sei unvollendet und höre unvermittelt auf, kritisch zu prüfen. Im Folgenden möchte ich am Beispiel der Diskussionen um das Ende des Bellum Civile eine Skizze vorlegen, wie eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung der Lucan-Forschung aussehen könnte, die der Frage nachginge, warum diese Diskussion eine so überwertige Bedeutung bekommen konnte. Ich will mit einem kurzen Blick auf die externen Kriterien für die Unvollendung/Vollendung beginnen.

Externe Kriterien für die Unvollendung/Vollendung (1) Die überlieferten 10 Bücher zeigen keine Spur von Unvollendung; metrisch und sprachlich ist das Bellum Civile perfekt und auch aus einem Guss. Es gibt keine Halbverse oder Sinnbrüche, jedenfalls nicht mehr oder auffälliger als in anderen

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Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile

›vollständig‹ überlieferten Epen. 1 Auch mögliche Doubletten halten sich in Grenzen, aber ohne eine gewisse Redundanz wäre ein komplexer Text unverständlich. 2 (2) Verschärfend kommt hinzu, dass sich aus den drei antiken Biographien, 3 die zwischen dem 1. und 5. Jahrhundert zu datieren sind, keine zwingende Evidenz für den (Un-)Vollendungsgrad des Bellum Civile ergibt. Hier gilt es zu beachten, dass die Sueton zugeschriebene Vita fragmentarisch überliefert 4 ist, während die beiden anderen knapp ein rundes Lebensbild des Epikers zeichnen, und dass sie trotz gewisser Konvergenzen zum Teil stark voneinander abweichen, weshalb ihre Abhängigkeit voneinander nicht zweifelsfrei bestimmt werden kann. Man kann lediglich durch eine Kombination der drei widersprüchlichen Vitae und durch eine bewusst gutgläubige Ausblendung des fabulierenden Charakters und der TopoiBasiertheit gerade von Dichterviten 5 eine entsprechende Aussage über die Unvollendung des Bellum Civile destillieren. In diesem Zusammenhang verweise ich ausdrücklich auf die minutiöse Diskussion von Jamie Masters in seiner Monographie Poetry and Civil War in Lucan’s Bellum Civile. 6 Es wird bestenfalls eine Nachlassherausgabe von 4–10 nahegelegt (wegen des Publikationsverbots, das Nero Lucan auferlegt hatte) bzw., dass Lucan die Bücher inemendatos 7 zurückgelassen habe; es wird nicht bestätigt, dass Lucan zum Zeit-

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Zum Komplex der Inkonsistenzen siehe die anregende Studie von O’Hara (2007). Natürlich kann nie ausgeschlossen werden, dass in der Überlieferungskette Ergänzungen, Streichungen oder sonstige Textveränderungen gegriffen haben, weil das in der Natur der Überlieferung über verschiedene Stufen und für unterschiedlichste Nutzungen liegt. Dazu schon Housman (1958) XXVI. Solche Ergänzungen etwa von Einzelversen in einzelnen Handschriften sind kein Hinweis auf generelle Unvollendung. Die drei Vitae (Lebensbeschreibungen) sind praktisch zusammengestellt bei Braidotti (1984). C. F. Weber sammelt hingegen in seiner Lipsia Lucanea von 1831 die Viten aus der Zeit vor dem Buchdruck (Bd. 3, De interpretibus Lucani ante inventam typographicam). Diese lasse ich außer Acht, obwohl es sicher ebenfalls eine Untersuchung wert wäre, diese frühen und prägenden Biographie-Versionen auf ihre je eigene Zeitprägung zu analysieren. Es fehlt der Anfang, mit höchster Wahrscheinlichkeit auch ein längerer Abschnitt über die Werke Lucans. Vgl. etwa Horsfall (2001) 1–25, der mustergültig die Frage der Vertrauenswürdigkeit antiker Lebenszeugnisse, insb. der Vitae, diskutiert. Diese Vergil-zentrierte Diskussion lässt sich mit leichten Modifikationen auf Lucan übertragen. Masters (1992) 216–234. Die unzuverlässige Vita III berichtet, dass Lucan wegen des frühen Freitods einiges »unfertig« oder »unvollkommen« zurückgelassen habe: Unde morte praeoccupatus quaedam, quae inchoaverat, imperfecta reliquit. nam mortem Pompeii atque † Catonis† descripsit. Libellos etiam suos inemendatos avunculo suo Senecae, ut eos emendaret, tradidit. Quaedam, quae inchoaverat ist sehr vage. Das folgende mortem Pompei deutet auf Buch 8 des Bellum Civile; † Catonis† ist eine Konjektur einer unheilbaren Crux, der viele gerne Glauben schenken; libellos inemendatos ist ebenfalls sehr vage gehalten;

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punkt seines Todes noch am Bellum Civile gearbeitet hätte. Noch sind Fragmente jenseits des Überlieferten greifbar. Dies deutet eher daraufhin, dass wir das komplette Epos überliefert haben. Ja, man darf getrost annehmen, dass es in der Überlieferung stärker Niederschlag gefunden hätte, wenn das Epos gänzlich unvollendet geblieben wäre. Auch in den Sekundärzeugnissen wird nichts dergleichen bestätigt: In Tacitus’ Annales steht nichts. Dass Lucans Gattin Pollia von Sidonius Apollinaris (im 5. Jh.) als Mit-Emendatorin von 1–3 erwähnt wird, sagt nichts über die prinzipielle Unvollendung von 4–10. Auch Statius’ Geburtstagsgedicht auf den toten Dichter (Silvae 2,7), in dem er dessen Vereinigung mit Cato und Pompeius in der Unterwelt imaginiert, taugt nicht als Beleg dafür, dass der Epiker noch den Tod Catos geschildert haben muss. 8 Immerhin sollte bedacht werden, dass gemäß dem neunten Buch des Bellum Civile (9,1–18) sich der tote Pompeius ja gerade nicht in der Unterwelt aufhält. Vielleicht hätte die Klage um ein früh gestorbenes Genie die Unvollendung des Hauptwerks stärker ins Zentrum gestellt. Insgesamt sollte man vorsichtiger sein, Sekundärzeugnisse für die Intention Lucans zu nehmen. Selbst wenn Statius das Bellum Civile für ein Epos primär über Cato und Pompeius gehalten hat, muss das nicht Lucans Konzeption entsprechen. Diese Deutung könnte auch dem Anti-Neronianismus der Flavier-Zeit entspringen und wäre dann ein Rezeptionsphänomen. Wenn es also alles andere als sicher ist, dass das Bellum Civile – in welchem Umfang auch immer – unvollendet ist, dann handelt es sich bei großen Teilen der Lucan-Forschung, die um das fehlende Ende kreist, um den wissenschaftsgeschichtlich hochinteressanten Sonderfall erhöhter philologischer und kultureller Phantasieproduktion, deren Ursprung, Motivation und Argumentationsstruktur

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das kann bedeuten, dass viel zu verbessern gewesen ist, es kann sich aber auch um eine letzte Durchsicht vor der endgültigen Publikation bei einem relativ hohen Perfektionsgrad gehandelt haben. Aber es wird nicht einmal deutlich, ob es sich bei den libellos um das Bellum Civile gehandelt hat. Präzisiert wird dies durch eine Aussage, die eher für das Problem des Anfangens interessant wäre, dass Seneca die ersten Verse des Bellum Civile ergänzt habe, das sonst abrupt begonnen hätte: Sciendum quia primo iste liber a Lucano non ita est inchoatus. sed taliter: »quis furor, o cives, quae tanta licentia ferri«. Seneca autem, qui fuit avunculus eius, quia ex abrupto inchoabat, hos septem versus addidit; »Bella per Emathios« usque »et pila minantia pila«. Allerdings ist Seneca, glauben wir Tacitus (ann. 15,61–4 [Seneca]; 70–1 [Lucan]), vor Lucan aus dem Leben geschieden; Fronto (der zeitlich näher an Lucan liegt als die Vita) weist die ersten Verse konkret Lucan zu (auch wenn er ihn gemeinsam mit Seneca abkanzelt; Haines, 2, 100 = Naber, 155). Vgl. im Übrigen die Diskussion ähnlicher Probleme in Bezug auf Vergils Aeneis bei Horsfall (2001) 22–4 (auch hier wird in VSD 24 von quaedam imperfecta, in VSD 40 versus imperfectos gesprochen, die Vergil bei seinem frühen Tode hinterlassen habe). Ob er es wollte, kann daraus ohnehin nicht abgeleitet werden. Es sei auch darauf hingewiesen, dass Statius den toten Jubilar auch mit anderen Jungverstorbenen wie Achilles, Orpheus und Alexander vergleicht. Sollte das auf ein positives Alexander-Bild bei Lucan schließen lassen?

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zu erörtern wäre. Bei dieser Phantasieproduktion werden Kriterien in Anschlag gebracht, die man selbst bei einem modernen Kunstwerk mit deutlich besserer Bezeugungslage empört zurückweisen würde. Sie stützt sich nicht nur auf eine Rekonstruktion der Dichterbiographie auf einer extrem dünnen Materialbasis, sondern auch auf Vermutungen über den Produktionsprozess und über eventuelle externe Einflussfaktoren auf diesen, etwa dass Buch 4–10 eine stärkere anti-neronische Einfärbung aufwiesen, da diese nach dem Bruch mit Nero geschrieben seien, obwohl dieser Einschlag nur mithilfe einer allegorischen Interpretation resp. bewussten Missverstehens möglich ist: 9 Die Erwartungshaltung und der Wunsch, dass das Bellum Civile ein Fragment sein möge, konditionieren diesen Forschungsansatz, der von vielen Spekulationen untermauert wird, die in den Bereich der »falls«-Aussagen fallen, aber in dieser Argumentation als Fakten maskiert werden. Dies ist umso bemerkenswerter, als im Falle des Bellum Civile genug erhalten wäre, um eine sich auf verschiedenste Dimensionen richtende Interpretation wagen zu können. Wenn sich aber aus den ersten 8046 Versen 10 keine stringente Interpretation abzeichnet, dann würden zwei, fünf oder zehn Bücher daran auch nichts ändern: Die Chance durch Divination oder Museninspiration nun ein alle Ambivalenzen und Unsicherheiten klärendes Finale konstruieren zu können, ist doch ziemlich gering.

Forschungsmeinungen Man kann die bisher vertretenen Positionen, die für die Gesamtinterpretation des Epos wegen der Rekursivität des Endes auf das Vorangehende folgenreich sind, in drei große Blöcke aufteilen: 11 A. Vollständigkeit des Bellum Civile bzw. des Überlieferten (1) 10. Buch ist vollständig und hat ein sinnreiches Ende. 12

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Schon Housman (1958) XXX hat übrigens eine damit gerne verbundene These, nämlich, dass 4–10 einen stärkeren Unvollendungsgrad aufwiesen, ins Reich der Fabel verwiesen. Bei dieser Textmenge stellt sich ohnehin die Frage, ob der Unterschied zu einem vollendeten Werk so groß ist. Wie bei Ovids Fasti oder – wenn man hier wirklich von genereller Unvollendung ausgehen will – bei Vergils Aeneis haben wir es nicht mit einem Lückentext zu tun. Im Folgenden wird nicht Wert auf absolute Vollständigkeit gelegt, da insbesondere die Argumentationen der Ergänzungsphilologie immer um dieselben Aspekte kreisen. Zu dieser Gruppe gehören wenige Forscher und Forscherinnen, aber die Gruppe wächst. Masters (1992) 235 f., Fn. 34 die neuere Diskussion bis 1992. Deren Hochzeit sieht er im Anschluss an der Reaktion auf den Artikel von Haffter (1957), der die Vollständigkeit sozusagen in den Ring geworfen habe. Masters’ luzide Argumentation, deren Ertrag er

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(2) 10. Buch ist vollständig und stellt auch den intendierten Schluss des Gesamtepos dar. 13 Diese beiden Positionen sind teilweise mit einer Buchgrenzenverschiebung zwischen 9 und 10 verbunden, auf die noch zurückzukommen sein wird, sodass sich hier die Frage nach einem angemessenen Abschluss verdoppelt, ja verdreifacht. Denn in Hinsicht auf Buch 9 und 10 wird gefragt: Wie endet ein Buch? Oder: Wie kann oder darf ein Buch enden? Und in Bezug auf die Gesamtkonzeption des Bellum Civile: Wie darf ein römisches Epos enden? (3) Implizites Ausgehen von Vollständigkeit: methodisch begründete implizite Annahme der Vollständigkeit, weil man sich zentraleren Dimensionen des Bellum Civile zuwendet. B. Zwischenpositionen ohne Ergänzungsvorschläge (1) Kürzungsphilologie: Das Epos endet mit Buch 9; Buch 10 ist der Anfang eines unvollendeten Folgeepos. (2) 10. Buch ist unvollständig; schon die letzten Verse ab 542 stellen einen missglückten Ergänzungsversuch dar. 14 C. Ergänzungsphilologie Die Ergänzungsphilologie geht davon aus, dass das Bellum Civile ein Großfragment ist, das am Ende ausfranst. Die Spannbreite der vorgeschlagenen Ergänzungen ist hierbei beträchtlich: Durch manche der Vorschläge werden die 8046 Verse Lucans nicht nur mehr als verdoppelt, sondern sogar verfünffacht.

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leider selbst nicht hat einfahren können, hat – soweit ich das sehe – keine nachhaltigen Spuren in der neueren Forschung hinterlassen. Lediglich Rossi (2005) 258, Fn. 92 geht im Anschluss an Masters davon aus, dass das Werk nicht einfach irgendwie in der Mitte eines Satzes abbricht, sondern ein effektvolles Ende hat: »My interpretation of the passage does not necessarily mean that this was the intended end of the poem. Following Masters (1992, 258) I merely suggest that the composition was not broken off suddenly at mid-sentence, at mid-book, but that the poem, as it stands, has an effective epilogue.« Die Schlussfolgerung, dass hier ein Buch oder gar das Epos endet, will sie allerdings nicht ziehen, weil sie dieses Nicht-Ende ideologisch deutet. Dazu Rimell (2013), die hierin einen Widerspruch sieht: erst sammle Rossi alle closure-Elemente, um dann am Ende das Epos doch für unvollendet zu erklären. Von der Warte der Ergänzungsphilologie diskutieren Marti (1968) und Vögler (1968) die verschiedenen Optionen (Vollständigkeit, Actium, Cato, Caesar). Siehe aber auch Anm. 25. Haffter (1957) votiert dafür, das Ende auch als intendierten Endpunkt des Epos zu sehen. Nach Masters (1992) ist dies mehr der Intuition als einer stringenten Argumentation geschuldet. Ebenso Kaestner (1824); ferner Schrempp (1964); Brisset (1964) 164, Anm. 2; Masters (1992); Penwill (2007); Tracy (2011); Rimell (2013). Gujet bei Oudendorp (1728) 910.

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(1) Ergänzung um ca. 300 Verse, um das kürzere Buch 10 aufzufüllen: projektiertes Ende: Bellum Alexandrinum (immerhin wird vorausgesetzt, dass der Umfang 10 Bücher waren; gehört im Prinzip zu A). 15 (2) Ergänzung um 2 auf 12 Bücher: Tod Catos (am meisten vertretene Meinung 16). (3) Ergänzung um 4 resp. 6 auf 14 oder 16 Bücher: Tod Caesars. 17 (4) Ergänzung um 14 auf 24 Bücher: Philippi. 18 (5) Ergänzung um 38 auf 48 Bücher: Actium. 19 Die Ergänzungsphilologie ist ein geschlossenes Argumentationssystem, weil sie sich weitgehend nur an vorangehenden Forschungsbeiträgen der Ergänzungsphilologie abarbeitet und die Tatsache, dass die komplette Beweislast eigentlich bei ihnen läge, mit einem konfusen, jedoch sehr selbstbewusst sich gerierenden Deutungs- und Begründungsaufwand abwehrt. 20 Sie ist charakterisiert durch eine extreme Isolierung Lucans innerhalb der antiken Literatur und setzt – neben dem Ignorieren z. B. von Gattungsbesonderheiten der historischen Epik – die Lese- und Deutungskompetenz der möglichen Rezipienten ausgesprochen niedrig an. Da die Argumentation sich sehr stark an formalen Aspekten orientiert, werde ich im Folgenden diese isoliert betrachten, um dann erst in einem zweiten Schritt die inhaltlichen Konsequenzen zu betrachten. Die fundamentalistische Position der Ergänzungsphilologie wird untermauert mit vier Grundtypen von Kriterien. Unter die Kategorie der formalen Kriterien fallen: (1) Buchanzahl und (2) Buchlänge. Die Grenze zu (3) Inhaltskriterien ist fließend, da die auf der vermuteten Gesamtstruktur aufbauende Argumentation neben inhaltlichen Kriterien auch Buchlänge, Buchanzahl, Übergänge zwischen

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Z.B. Literaturgeschichte von Bähr (1844) 243: ». . . obwohl nicht ganz vollendet . . . «. Vgl. Rutz (1970), Radicke (2004); Zusammenfassung der älteren Literatur bei Marti (1968) 18, Fn. 2 und 3 und bei Vögler (1968). So Marti (1968) (falsch referiert bei Von Albrecht [1994] 725 Fn. 1: »Buch 10 ist jedenfalls unvollständig, und eine Planung auf 12 Bücher ist wahrscheinlich. Weniger überzeugend B. M. Marti (1968). Bei 18 Büchern würde die tetradische Struktur durchbrochen.« Marti vertritt 16 Bücher und eine Tetradenstruktur). Die Caesar-Position ist aber schon präsent in der Literaturgeschichte von Bähr (1844) 245, der schon damals diese Option zurückweist (dort 247, Nr. 10–12 Diskussion der damals schon verhandelten Positionen). Due (1962), aber später verworfen (vgl. seinen Redebeitrag in Marti [1968] 41 f.). Interessant ist, dass selbst wenn die von Ribbeck (1892) und später von Bruère (1950) angedachten 48 Bücher bzw. ein Ende erst bei Actium nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen werden, referiert man diese Option immer noch pflichtschuldig in einer German footnote. Ich tue das natürlich gerade auch. Vgl. z.B. Marti (1968) 34: »Seule la structure que je propose me paraît esthètiquement satisfaisante«. Oder 5: ». . . je suis convaincue que seule la mort de César pouvait fournier à la Pharsale la conclusion que fait pressentir le poète«. Auch der Artikel von Vögler (1968) folgt in seiner Gänze vergleichbaren Argumentationsstrukturen.

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Büchern, Fernbeziehungen zwischen einzelnen Passagen und Intertextualität/literarische Modelle einbezieht. (4) Untergeordnet sind all diese Kriterien dem eigentlichen Ursprung der Ergänzung, also der psychologischen Befindlichkeit (inklusive gewisser Größenphantasien), der persönlichen Unzufriedenheit mit dem überlieferten, angeblich abrupten Schluss und der (anthropologisch erklärbaren) Lust nach der Abgeschlossenheit sowie damit verbundenen politischen Implikationen. 21

Das zentrale Argument: Die Länge des 10. Buches Die Vertreter der Ergänzungsphilologie nehmen als Ausgangspunkt (implizit oder explizit) immer die Buchlänge von 10, das mit 546 Versen sehr viel kürzer als die anderen Bücher ausfällt, was nur als Unvollständigkeit erklärt werden kann. Es sei ausgeschlossen, dass Lucan ein so kurzes Buch intendiert haben könne. Und das muss auch ausgeschlossen sein, weil man sonst das abrupte Ende akzeptieren müsste. Die Überlänge von 9 mit 1105 Versen wäre aber mindestens so erklärungsbedürftig. Die relative Länge des Epos bleibt trotz der unterschiedlichen Länge gleich, weil beide Bücher zusammengenommen und wieder durch zwei geteilt ziemlich genau die Länge von zwei Durchschnittsbüchern haben. 22 Im Übrigen hülfe eine Realitätsprüfung durch eine einfache Statistik schnell weiter: Die Verszahlen der Bücher der wichtigsten überlieferten Epen im Vergleich 23 zeigen, dass weder ein Buch mit über 1000 Versen noch ein Buch im 500er-Bereich ungewöhnlich ist. Ebenso gibt es auch in anderen Epen Schwankungen der Buchlängen von mehreren 100 Versen, sogar im 500er-Bereich: in der Ilias, in der Odyssee und bei Apollonios von Rhodos. Hier ist nicht der Ort für eine 21

22 23

Nicht weiter diskutiert werden soll, dass die Ergänzung z.T. auch aufgrund eines Psychogramms Lucans erfolgt, etwa bei Ribbeck, loc. cit.: »Aber warum hätte der junge selbstbewußte Mann . . . nicht die Verwegenheit haben sollen, mit den 24 Gesängen der Ilias zu wetteifern oder beide Epen Homers mit 48 Gesängen aufzuwiegen!« Selbst wenn in dieser Einschätzung ein extrem konservatives literaturwissenschaftliches Programm enthalten ist (man kann den Vergleich mit der Aeneis des ›reifen‹ Vergil praktisch mit AutoPilot schreiben), so muss doch zugestanden werden, dass diese Phantasie dem Schaffen Lucans deutlich angemessener ist als die rein der Schaulust der Interpreten geschuldete Ergänzung bis zum Tode Catos, die – aus welchen Gründen auch immer – ihren Helden für seine Überzeugungen sterben sehen wollen (dazu s.u. 183–193). Immerhin nimmt Ribbeck damit zur Kenntnis, dass Lucan sich in seiner Sphragis in 9,980–86 konkret mit Homer und – anders als Statius in Theb. 12,810–19 – nicht mit Vergil misst. Siehe Tabelle 194 f. Ich beschränke mich auf die Epik (alle Untertypen) vor Lucan bzw. im engeren Zeitumfeld nach seinem Tod. Dass Nonnos von Panopolis (5. Jhrt.) mit seinen Dionysiaka ein Epos mit 48 Büchern vorgelegt hat, scheint mir für Lucans Produktion nicht wichtig. In der Achilleis von Statius liegt m.E. kein mit Lucans Epos vergleichbarer Fall der Unvollendung vor.

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Diskussion, ob bei diesen drei griechischen Epen die Buchanzahl so vom Autor intendiert war, aber wir können davon ausgehen, dass Lucan und seine Rezipienten sie mit dieser Einteilung kannten. Wenn es überhaupt irgendwo in der Epik schwankende Buchlängen gibt, dann kann man Lucan posthum keine Vorschriften über die Notwendigkeit gleich langer Bücher machen, an die er sich gar nicht gebunden gefühlt haben kann. In Ovids Metamorphosen sind die meisten Bücher ungefähr gleich lang, das kürzeste (und zwar deutlich kürzere) und das längste (und zwar deutlich längere) folgen aber unmittelbar aufeinander. Dies könnte darauf hinweisen, dass auch die Buchlänge/Länge als ein Gegenstand programmatischen Kunstwollens begriffen werden konnte. Falls die unterschiedlichen Buchlängen von Lucans neuntem und zehntem Buch dennoch allzu problematisch erschienen, dann könnte man natürlich auch, statt Ergänzungen von bis zu 38 Büchern vorzuschlagen, die Buchgrenze verschieben. In der Tat wurde das von den Verfechtern der Vollständigkeit von zehn Büchern immer wieder als Gegenargument gegen die Ergänzungsphilologie vorgebracht. Zugegebenermaßen wäre die Frage der Vollständigkeit von Buch 10 von der nach dem eigentlichen Ende des gesamten Bellum Civile – erhalten oder nicht – aber erst einmal noch zu trennen. Seit mindestens 1728 wird vorgeschlagen, 24 Buch 9 mit Vers 999, also mit dem Ende von Caesars Troia-Besuch bzw. dessen Gebet ebendort enden zu lassen. Das zehnte Buch begänne dann zwar mit einem Resümee des Gebets (Sic fatus) und Caesars Reise Richtung Ägypten, wo er noch vor seiner Landung den Kopf des Pompeius überreicht bekommt. Eine Buchgrenze an einer direkten Rede wäre jedoch nicht gänzlich ungewöhnlich, in der Aeneis kommt das zweimal vor (2 auf 3; 5 auf 6): Für Lucan wäre das der einzige Fall, was aber kein ernsthaftes Gegenargument ist. Mit besserer Begründung wollte man mindestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das neunte Buch mit Catos Winterlager enden und das zehnte Buch schon mit Caesars Abreise aus Thessalien und seinem Troia-Besuch beginnen lassen, also mit 9,950. 25 Man gewönne ein komplettes, direkt den Schluss von Buch 7 24

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Es wird durchaus von manchen Ergänzungsphilologen pflichtschuldig erwähnt, dass es andere Meinungen gibt, aber diese Erwähnungen sind stereotyp, denn sie erfolgen mehr oder minder wortgleich: Zum Beispiel wird immer geschrieben, dass als erster Philologe Guyet vorgeschlagen habe, die beiden letzten Bücher anders, nämlich nach dem TroiaBesuch abzutrennen, das habe Oudendorp in seiner Ausgabe von 1728 erwähnt (stimmt, siehe dort 908; er referiert hier die Randnotizen Gujets in der Ausgabe von Grotius [. . . ]). So liest man es auch bei Housman in app. ad 9,1000 (»›hic liber X incipiendus videtur‹ Guietus collato Verg. Aen. VI 1«), bei Schönberger (1970) und bei Wick (2004) ad Lucan. 9,1000 ff., allerdings jeweils ohne Diskussion. Auch findet sich ad 9,949/50 meist keine Erwähnung von Vorschlägen einer anderen Einteilung. Vgl. z.B. die Ausführungen von Puntoni (1947) 124 f. Dieser Artikel ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er besonders in Auseinandersetzung mit den Parallelen zu Senecas Naturales Quaestiones die Datierung des Bellum Civile diskutiert, sondern weil er darlegt (103), wie die in der Vita Vaccae 13 erwähnte Rezitation des Epos, bei der Lucan drei

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aufnehmendes Caesar-Buch, das eine Parallele zum achten Buch, dem PompeiusBuch wäre, gerundet durch ein nettes Wortspiel, weil das Buch 10 mit Caesar (konstr. 10,1 = 9,950) begönne und mit Magnum (konstr. 10,706 = 10,546) endete. 26 Manfred G. Schmidt (1986, ad 10,1–19) argumentiert gegen beide Vorschläge, dass Buchanfang und Ortswechsel bei Lucan stets zusammenfielen, man aber Caesars Reise noch nicht als Ortswechsel zählen könne, sondern der eigentliche Ortswechsel erst mit der Landung in Ägypten vollzogen sei, wodurch eine »starke Zäsur« vorliege. Das ist ein typisches Beispiel für Pedanterie oder freundlicher formuliert hyper-sophistication, zumal Buch 3 mit der Abreise des Pompeius aus Italien beginnt, was dort offenbar schon genug Ortswechsel war. Die Ergänzungsphilologen wollen jenseits stereotyper 27 und prinzipiell ablehnender Erwähnungen dieser Vorschläge mögliche Verschiebungen in der Tat meistens nicht diskutieren. Wenn ich meine eigene Argumentation ernst nehme, muss man die Buchgrenzenverschiebung auch nicht diskutieren, weil sie, um ein ganzes Buch herzustellen, nicht nötig ist, obwohl angesichts der Instabilität von Buchenden in der Überlieferung eine andere Buchgrenze nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Trotzdem kann man aus der Buchabtrennungsdebatte viel lernen, nämlich dass sich aus der Retrospektive jeder Buchschluss und jedes Ende, jeder Anfang irgendwie nachvollziehen und rechtfertigen lässt, dass das aber noch lange kein Indiz für Authentizität sein muss; aus solchen Gedankenspielen kann ohnehin keine Handlungsvorgabe für Nicht-Erhaltenes abgeleitet werden. Im Vergleich zum Ergänzungsaufwand wäre es aber eine dramatisch einfache Lösung, die die Ergänzungsphilologen ignorieren müssen, weil sie ihrer Argumentation den Boden entziehen würde, müssten sie in Betracht ziehen, dass wir es hier mit 10 kompletten Büchern, vielleicht sogar einem vollständigen Epos zu tun haben. Denn Forscher und Forscherinnen, die seit den frühen Studien des 19. Jahrhunderts mit sehr verschiedenen methodischen Ansätzen zu dem gleichen Ergebnis kommen, dass das überlieferte Ende sinnreich, wenn nicht zwingend ist, ohne dass sie sich wechselseitig ausschließen, bieten kumulativ gesehen sehr viel Beweiskraft. Die Ergänzungsphilologie muss entsprechend auf sehr allgemeine Beweise zurück-

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Bücher vorgetragen habe, bisher gedeutet worden sei. Heute wird dies fast ausschließlich so gelesen, dass Lucan nur die ersten drei Bücher vorgelesen haben könne. Pichon (1912) habe gemäß Puntoni dafür votiert, dass Lucan die Bücher 2, 7 und 8 vorgetragen habe, Ussani (1903) aber für 1, 7 und 9. Das zeigt, dass die Frage der Unvollendung nicht prinzipiell an dieses Zeugnis geknüpft wurde. Vielmehr ging man davon aus, dass Lucan aus einem mehr oder minder fertigen Epos vorgelesen habe. Zudem wären hier auch die Parallelen zu Vergils Vita in Anschlag zu bringen, der ebenfalls drei Bücher aus der Aeneis (2, 4, 6) vorgetragen haben soll. Meines Erachtens macht Lucans ans Publikum gerichtete Frage Quid mihi restat ad Culicem? nur Sinn, wenn er ein schon relativ fertiges Epos rezitiert hat. Weiteres siehe unten Anm. 40. Mit der Ortsveränderung würde wie am Beginn der eigentlichen Handlung, als Caesar nach Abschluss des Gallien-Feldzuges und dem Alpenübergang den Rubicon überschreitet, mit der Reise der Anschluss des Bürgerkriegs mit Pompeius markiert. Siehe oben Anm. 24.

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greifen, um all diese Argumente von vorne herein auszuhebeln. Und hier kommt eine normative Setzung der Buchanzahl bzw. des Gesamtaufbaus, also der harmonischen Struktur von Dyaden, Tetraden, Hexaden und auch der Einzelbücher, die immer einen bestimmten Aufbau zeigten, ins Spiel, das Ganze verbunden mit der Absolutsetzung von Modellen Lucans (z. B. die Vergil-Livius-Parameter). Die ungewöhnliche Buchanzahl 10 des Bellum Civile wird also ergänzt nach dem angenommenen Modell des idealen Epikers bevorzugt auf 12, 16 oder seltener auf 24 oder 48 Bücher. 28 Ein letztlich verzweifeltes Argument ist etwa, dass Vergils Aeneis 12 Bücher aufweise, woran sich Statius, der nach Lucan geschrieben hat, in seiner Thebais (aus welchen Motiven auch immer) angeschlossen habe. 29 Da natürlich Vergil als das große formale Vorbild beider gesetzt wird, muss auch Lucan, der zeitlich zwischen Vergil und Statius steht, 12 Bücher geschrieben oder intendiert haben. Die Nekromantie im sechsten Buch beweise, dass Lucan wie Vergil 12 Bücher intendiert haben müsse. Dass die Nekromantie gerade in Buch 6 vorkommt, bedeutet ja nicht, dass Lucan zwangsläufig wie Vergil zwölf Bücher geschrieben haben muss, zumal eine Sibylle mit stark vergilianischen Anklängen schon im fünften Buch des Bellum Civile vorkommt. 30 Strukturanalysen Lucans, die sich an anderen Epen orientieren wollen, gehen ohnehin in die Irre, weil er sich ja eher durch eine innovative chaotisierende Erzählweise, zahlreiche Perspektivwechsel und intertextuelle Irreführungen und Dislozierungen durch Verdopplung oder gar Verdreifachung von Bezügen auszeichnet. 31 Dies ist unter anderem eine Konsequenz aus der Natur 28 29 30

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Siehe Tabelle zur Buchanzahl 194 f. Vgl. aber auch schon Marti (1968) zur ›Flexibilität‹ der Buchanzahl. Es sei daran erinnert, dass Vergil selbst die beiden Epen Homers hinsichtlich der Buchanzahl um ein Viertel ›gekürzt‹ hat (48 auf 12). Gute Zusammenfassung und Diskussion der Parallelen bei Haffter (1957). Marti (1968) postuliert ebenfalls, dass die Vergil-Parallelen keine Überzeugungskraft besäßen. Interessant ist, dass frühe Forscher deutlich mehr und heterogene Parallelen geltend machten. Da die Mär von Lucans Orientierung an der Aeneis früh den Weg in die Literaturgeschichten gefunden hat, wird sie als gegeben gesehen. Vgl. Von Albrecht (1994) 728, der reklamiert, dass »Einzelmotive sogar an dem der Aeneis entsprechenden Platz stehen« (als Beispiele: die ›Iliupersis‹ in Aen. 2 und der Rückblick auf den BC in Lucan. 2 sowie die ›Nekyomantie‹ im jeweils 6. Buch). Dann folgt: »Selbst die Großstruktur erinnert zum Teil an die Aeneis: Auch in der Pharsalia gibt es bedeutsame Parallelen zwischen den Büchern 1 und 7, 2 und 8 usw. Diese Gliederung durchkreuzt sich (wie in der Aeneis) mit einer tetradischen Struktur: Die Bücher 5 und 9 markieren Neueinsätze. All dies macht wahrscheinlich, dass das Werk auf 12 Bücher geplant war, also bis zum Tode Catos reichen sollte.« Das einzelne Buch sei als »künstlerische Einheit keineswegs bedeutungslos«, es sei aber »weniger autark als bei Vergil«. Hingegen will Syndikus (1958) 105 f. nur das Einzelbuch als maßgebliche Gestaltungseinheit sehen. Die frühe Lucan-Forschung, repräsentiert etwa durch J. D. Duff in seiner Loeb-Ausgabe, hat Lucan mangelndes Können vorgeworfen: Er sei nicht in der Lage gewesen, eine kohärente und sinnreich aufgebaute, ambivalenzfreie Erzählung zu konzipieren, verwende

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des gewählten Sujets, eines Bürgerkriegs, der trotz generell starker Fokussierung auf Caesar beide Parteiungen im Wechsel in den Blick nimmt. So werden wir mit zwei Truppenkatalogen (1,392–465; 3,169–297), zwei Feldherrnreden vor Pharsalus (7,235–336 [Caesar]; 337–84 [Pompeius]), Träumen von Pompeius (3,1–45; 7,1–44) und Caesar und den Soldaten (7,759b–86a) usw. konfrontiert. Diese Verdopplung wird dadurch unterstützt und zugleich aufgeweicht, dass die größeren männlichen Protagonisten sich alle durch Parallelisierungen und Abgrenzungen zu historischen Gestalten wie Alexander und Hannibal sowie myth-historischen Helden wie Achilles, Agamemnon, Hektor, Aeneas, Eteokles, Polyneikes usw. auszeichnen. Man müsste auch einrechnen, welche markanten Szenentypen aus Vergil bei Lucan (oder auch Statius) nicht im analogen Buch realisiert werden (z. B. der Seesturm [Lucan. 5 versus Aen. 1], der Besuch bei einer fremden Königin [Lucan. 10 versus Aen. 1–4]) 32 und was bei Lucan fehlt: neben den Musenanrufen und Götterszenen die Leichenspiele/sportlichen Wettkämpfe, falls man nicht argumentieren will, dass sie durch den Bürgerkrieg insgesamt oder etwa die Aristie der Schlangen in Buch 9 oder die Bestattung des Pompeius ersetzt sind. Diese die eigene Strategie immer wieder selbst durch Verschiebungen, Kürzungen und Implosionen unterlaufende ›Imitationstechnik‹ schließt es aus, nach dem ›Aufbau‹ der Aeneis eine Ergänzung des Bellum Civile zu konstruieren. Man kann, wenn man will, in diesen Buchzahlen ein System finden, das auf drei resp. sechs basiert; andererseits zeigt gerade die Sukzessivität und generelle Fortsetzbarkeit der historischen Epen, 33 dass die Buchanzahl vielleicht doch als Entscheidung des Dichters zur Disposition stand. Man könnte genausogut argu-

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auf Details zu viel Raum und schildere andererseits die wirklich wichtigen Ereignisse zu knapp. Die freundliche Variante dieses Urteils in der neueren Forschung wertet dies als innovative, bewusst chaotisierende Erzählweise. Im Prinzip gibt das den ergänzenden Dilettanten eine reelle Chance, weil sie nur Lucans Inkompetenz zu imitieren hätten, aber macht Begründungen unmöglich. Ein wichtiger Argumentationsschritt Richtung leichterer Ergänzung war es nun im Gegenteil eine hyper-harmonische Struktur zu postulieren. Dazu s.u. 182 f. Zuweilen wurde auch Lucans Orientierung an Ovids Metamorphosen ins Spiel gebracht, die ihrerseits von widerstrebenden Gestaltungsprinzipien geleitet seien (Marti [1968] 30 f., spricht hier von »symètrie« und »asymètrie«). Anders als Master (1992) 244 f. es referiert, sieht Haffter (1957)124/125 in Erichtho auch Parallelen zu Allecto in Aen. 7 realisiert, womit er auf Lucans Verdopplungsstrategie hinweist. Diese sieht er auch im Seesturm (Buch 5) und der Unterwelt in Aen. 6, die beide einen »Alleingang« des Helden zeigten, wobei die Unterwelt der Aeneis dennoch ein zweites Mal in der Nekromantie in Lucan. 6 und ein drittes Mal in Lucan. 5 (Befragung der Sibylle beim Orakel von Delphi) auftrete. Man sollte hinzufügen, dass das Unterweltsmotiv auch noch im Traum des Pompeius am Anfang des dritten Buches sowie nach der Schlacht von Pharsalus in Buch 7 aufgenommen wird, wo die Grenzen zwischen Ober- und Unterwelt verschwimmen. Allein diese Beobachtungen sollten davon abhalten, den Aufbau der Aeneis als zwingend normativ für das Bellum Civile anzusehen. Dazu s.u. 188 f.

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mentieren, dass durch Ennius und Ovids Metamorphosen und Manilius’ Astronomica ein Fünfer-System etabliert wurde, in das die zehn Bücher Lucans doch ganz gut passen. 34 Eine Verpflichtung auf eine bestimmte Buchanzahl gab es in den antiken Poetiken meines Wissens nicht, aber selbst wenn es sie gegeben haben sollte, war kein Dichter verpflichtet, sich daran zu halten. Ja, im Gegenteil: Solch eine Norm birgt in sich immer auch die Möglichkeit zur Abgrenzung, zur Programmatik. Methodisch gesehen sind Strukturanalysen zwar für die Philologie als Ausgangspunkt und Orientierung einer Interpretation nötig und für den Unterricht praktisch, aber in der Vereinfachung doch auch eine subjektive Sicht. 35 Eine chronologische Lektüre des Bellum Civile wird jederzeit andere, z. T. miteinander konkurrierende, in Widerspruch stehende Strukturen (Handlungsorte, Personen, Szenentypen [Kataloge, Liebesszenen], Gleichnisse und Bildersprache) sichtbar werden lassen, die diese Tetraden, Dyaden usw. überlagern, wenn nicht sogar die Einheit eines einzelnen Buchs auflösen. 36 Diese große Zahl sehr unterschiedlich definierter Ordnungssysteme wird von den Verfechtern der Ergänzungsphilologie auch präventiv zugegeben, aber nur weil es ihre Argumentation rettet: immer wenn ein absolut gesetztes Aufbaukriterium nicht funktioniert, wird postuliert, dass Lucan zwar meist diesem folge, aber doch sich immer gleichzeitig auch an mehreren anderen orientiere. 37 Hier ziehen sich die Interpreten – wie Mas34

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Sicher haben auch die Publikationsbedingungen (wieviel Text passt auf eine Papyrusrolle?) hier einen gewissen Einfluss, aber man kann dieses Argument nicht dafür stark machen, dass Lucan sich zwingend an Vergils 12er- oder Homers 24er-Schema gehalten haben muss oder sich halten wollte, denn zehn Bücher sind kürzer. Ich halte aus diesem Grund auch vom Übersetzer eingefügte Zwischenüberschriften, also nicht vom Dichter sanktionierte Paratexte (wie in Hoffmann/Schliebitz/Stocker [2011]), für äußerst problematisch, weil sie die Rezeption in einer bestimmten Weise lenken. Radicke (2004) geht von einer Feineinteilung der Bücher im Wechsel von zwei und drei Episoden aus. Auch Wick (2004) 1, 28 ff. postuliert, dass Buch 9 drei Sequenzen zeige, deren »Form und Funktion« sie analysiert. Zur dritten Sequenz merkt sie an, dass zwischen 949/50 »der einzige harte Schnitt« in Buch 9 liege. Das Auftreten Caesars vor Buchende könne zwei Gründe haben: a) der harte Schnitt sollte nicht auf die Buchgrenze gelegt werden; b) die Übergabe des Kopfes des Pompeius an Caesar sollte den Abschluss der Pompeius-Handlung bilden, was eine Ringkomposition zum Anfang des Buches bilde. Es dürfte deutlich werden, dass man dergestalt auch die Abtrennung von Buch 10 nach 9,949 begründen könnte. Dann würde aus der Ringkomposition eben eine Parallele. Ein besonders schönes Beispiel ist die Instrumentalisierung von Voraussagen bzw. Bezugnahmen; dazu auch Haffter (1957) 119, Masters (1992) 237 f.: Lucan weise durch bestimmte Vorausdeutungen auf spätere Passagen des Epos hin: Interessant ist, dass Lucan im erhaltenen Teil wenig auf spätere Episoden verweist. Wieso sollte er es denn dann gerade bei den Episoden tun, die in Buch 11 ff. geschildert werden würden? Einige Forscher unterscheiden also zwischen Voraussagen, die auf Ereignisse jenseits des Kunstwerks hinweisen und solche, die sich noch im Werk realisieren. Diese Unter-

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ters (1992) 243 38 es treffend ausdrückt – selber »den Teppich unter den Füßen weg«. Die formale Analyse steht aber meist im Dienste der politischen Interpretation, was sich besonders gut an der unterstellten Tetradenstruktur, die jenseits der Frage nach dem konkreten Schluss einen Konsens darzustellen schien, 39 aufzeigen lässt. Neben anderen gehen Werner Rutz und in seiner Nachfolge Jan Radicke, die nur repräsentativ genannt sind, davon aus, dass die Bücher 1–4 40 und 5–8 je eine inhaltliche Einheit bilden, denn sie würden jeweils durch einen Todesfall abgeschlossen, in 4 sterbe Curio, in 8 Pompeius. Zwangsläufig fordert diese Interpretation die Ergänzung zweier weiterer Bücher von 10 auf 12 (Cato), vielleicht auch auf 14 (Caesar), was aber nicht in die Tetradenstruktur passt, deshalb müsste man für 16 votieren; allerdings wäre dann den sekundären Kriegen nach der Schlacht bei Pharsalus ein zu großer Raum gewidmet, abgesehen davon, dass die Ermordung Caesars ein ziemlich problematischer Abschluss wäre. Also lässt man’s bei zwölf Büchern und Catos Tod, was die am häufigsten und auch am aggressivsten vertretene, hauptsächlich mit Ausgrenzungen operierende Meinung ist: Zentral ist hier, dass unter den »Vorlagen« Lucans (wie es immer so schön heißt), also unter den historischen Quellen, Caesars Bellum Civile ausgeschlossen wird. 41 Lucan darf es nicht oder nur indirekt über Livius gekannt haben, weil er sonst zu sehr Caesars Perspektive verpflichtet sein könnte. Denn wir wissen ja alle, dass beide Bella Civilia an ungefähr dem gleichen Punkt abbrechen. Lucan schreibt sozusagen ein paar Zeilen zum Prosabericht Caesars hinzu. Das ähnliche Ende von Caesars und Lucans Werken ist natürlich das stärkste Argument dafür, dass wir es wirklich mit dem Schluss von Lucans Epos zu tun haben. Doch das darf nicht sein:

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scheidung mag bei vollständig überlieferten Werken funktionieren, taugt aber nicht zur Ergänzung von (angeblich) Nichterhaltenem. Aus Voraussagen, die bei Lucan ohnehin selten sind, kann man keine Argumente für den fehlenden Schluss ziehen, da sich auch die Vorausdeutungen in anderen Werken nicht zwingend im Rahmen der erzählten Handlung materialisieren. Wir wissen zudem aus anderen Kunstwerken, dass Vorausdeutungen oft der Ersatz für eine gerade nicht erzählte Handlung sind. Schrempp (1964), der sich mit den Voraussagen und Prophezeiungen bei Lucan befasst, ist nicht ohne Grund auch ein Verfechter der Vollständigkeit. Zitat unten Anm. 43. Vgl. Marti (1968) 6 und 32 und die Diskussion ihres Vortrags (etwa das Statement von Rutz [1970] 39 f., der glücklich ist, dass man andere Optionen als Tetraden nun nicht mehr diskutieren muss. Er bringt zusätzlich die Ökonomie der Darstellung ins Spiel, die nur noch die Ergänzung auf 12 oder 16 Bücher als möglich erscheinen ließe.). Andererseits behaupten dieselben Forscher, dass Lucan die Bücher 1–3 öffentlich rezitiert habe. Wenn er wirklich die Tetrade favorisiert hätte, dann konnte er sich offensichtlich nicht einmal vernünftig in Szene setzen. Radicke (2004) 48 argumentiert das damit weg, dass das vierte Buch einer Tetrade immer abgesetzt von den ersten drei Büchern sei. Dazu schon Haffter (1957) 122. Natürlich hält er auch Caesars Bellum Civile für vollständig.

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Georg Pfligersdorffer (1959) z. B. argumentierte, dass Caesars Bellum Civile selbst unvollständig sei. Hier gäbe es dasselbe Forschungsdilemma wie bei Lucan, nämlich dass die eine Seite behauptet, Caesars Werk sei unvollständig und die andere behauptet, das sei Absicht, weil er so die nach-pompeianischen Kriege als auswärtige Kriege schildern konnte. Lucan könne sich keinesfalls ein unvollendetes Werk als Modell gewählt haben. 42 Zudem könne er niemals das Bellum Alexandrinum als externen Krieg aufgefasst haben. Man wählt also Livius’ nicht komplett erhaltenes Geschichtswerk als Modell (was dann doch wieder zur Benutzung Caesars führt, weil er als ›Ersatz‹ für die verlorenen Livius-Bücher gelesen wird), auch hinsichtlich der historischen Sinnkonstruktion, weil dessen historisches Narrativ angeblich pro-pompeianisch war. 43 Man verteilt jetzt einfach die Bücher Lucans auf die nichterhaltenen Bücher von Livius (Idee: je Tetrade Lucans = 2 Bücher Livius) und setzt das auch jenseits von Buch 10 fort, was natürlich überhaupt nicht hinhaut. Deshalb muss man weitere Parameter einführen, d. h. den harmonischen Gesamtaufbau. Problematisch an dieser Rückführung Lucans auf Livius und andere Quellen ist natürlich, dass dem Epiker eine Rezeptionshaltung unterstellt wird, die den Historiker so liest, wie Livius das Werk selbst intendiert hat oder wie dessen Zeitgenossen das Werk gelesen haben müssen. Lucan hat aber zweifellos die Zeit ›mitgelesen‹, die zwischen ihm selbst und Livius vergangen ist. Zudem ist Lucan kein einfacher Versifikator von Prosatexten, sondern hat zweifellos eine künstlerische Vision seiner Stoffgestaltung. Die Crux dieser Ergänzungen liegt darin, dass sie Cato, den starrsinnigen Stoiker und ›Republikaner‹, der sich lieber den Tod gibt als Caesars Sieg zu akzeptieren, zur Idealfigur und zum eigentlichen Helden des Bellum Civile machen, und dies trotz der anderen Evidenz im Epos: Zu einer zentralen Figur kann er nur werden, wenn man weitere Cato-Episoden ergänzt. Die vorhandenen Cato-Episoden sind (wie alles bei Lucan) nicht nur sehr ambivalent, sondern sie weisen ihn ganz klar als Nebenfigur aus, selbst das neunte Buch, das er in der vorliegenden Form 44 durchaus nicht alleine dominiert. Cato ist im Bellum Civile auf derselben Ebene 42 43

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Wenn man diesen Gedanken strikt zu Ende denkt, dann schließt das auch die Aeneis Vergils als ›Modell‹ Lucans aus. Vgl. etwa Marti (1968) 6–15 und ihren Anhang 35–8, in dem sie die (rekonstruierten) Bücher des Livius mit den erhaltenen und geplanten Büchern Lucans gegenüberstellt. Dazu Masters (1992) 243 f.: »The Livian model is again adduced by Marti, in a manner which sets a standard for muddiness of logic. [. . . ] No; what we have seen is, that the first tetrad covers nearly the material as Livy 109–10, that books 5–7 correspond to 111, and that books 8–10 correspond to 112; implying, if anything, a structure of one tetrad and two triads. The rest is pure hypothesis; and when we are told that Lucan would have had to alter his pace in order to fit later events into the Livian tetradic pattern, we must know for certain that Marti has pulled the rug from under her own feet, since she bases everything on the premise that Lucan would have continued composing in the same way as he had begun.« Die Abtrennung des zehnten Buches schon nach 9,549 würde die pro-catonianische Deutung übrigens sehr unterstützen.

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wie die anderen kleineren, nicht minder farbvollen Gestalten, etwa Curio, Scaeva, Sextus Pompeius, Appius oder Erichtho und Cornelia. Die Parallelgestalten zu Cato sind ja nicht Caesar und Pompeius, sondern neben Scaeva 45 eher Curio, ein anderer Feldherr, der erfolglos in Afrika kämpfte. Wir müssten uns im Prinzip jenseits von Buch 10 eine ganz auf Cato konzentrierte Handlung vorstellen, was nicht einmal das neunte Buch in der vorliegenden Form ist. 46 Auch entspricht das nicht dem historischen Verlauf, von dem Lucan sonst nicht derart extrem abweicht. Bekanntermaßen war neben Cato auch Scipio einer der Truppenführer bei Thapsus. Ihn erwähnt Lucan in 6,311 schon als weiteres prominentes Opfer der Folge-Bürgerkriege. Der Erzähler Lucans zeigt immer wieder eine Perspektivführung durch Caesars Wahrnehmung, zunehmend in Buch 9 und 10 auch die Tendenz, sich mit Caesar als verbliebene Alternative (zeitweilig) zu arrangieren (dux Latius [10,536]; besser ein Römer als dominus als ein Ausländer). Die verschärfte Schizophrenie der Perspektive, die sich nun einstellen müsste, ließe eher einen früheren Schluss ratsam erscheinen. Doch verbindlich zu klären ist auch das nicht. Darüber hinaus ist es auch psychologisch interessant, dass die Pro-Catonianer in ihren Ergänzungen die starre Geisteshaltung ihres Idealbildes reinszenieren und in einer merkwürdigen Schaulust ihren Helden unbedingt für seine Überzeugung sterben sehen wollen, ohne je systematisch weiter zu denken, wie bitteschön Catos heroischer Selbstmord aussehen sollte (bitte nicht die Supplemente als Ersatz nehmen!). Zuweilen wird auch noch postuliert, dass diese Szene dem Zweikampf von Turnus und Aeneas »unter umgekehrten Vorzeichen« analogisiert war bzw. hätte sein sollen. 47 Doch wie sollte gerade dieser Selbstmord, der, glauben wir Senecas Epistulae morales (24,6), so häufig geschildert wurde, dass das Publikum schon beim Namen Cato die Augen verdrehte, die schräg-ambivalenten Cato-Passagen aus Buch 2 und 9 sinnvoll entschärfen? Vertraute man Lucans Neigung zur Groteske und nimmt man die Parallelen zwischen Cato und seinem intratextuellen Zwilling Scaeva ernst, dann wollte ich persönlich diese Passage lieber nicht lesen (oder aus anderen Gründen eben doch, nämlich weil hier und in den Seneca-Tragödien die Ästhetik der frühen Quentin Tarantino-Filme wie Pulp Fiction vorweggenommen ist): Es läge auch eine abschließende Diskreditierung Catos im Bereich des Möglichen. Die überlieferten Bücher legen aber ohnehin eine andere Konzeption nahe: Denn im Prooemium und in der Darlegung der Ursachen des Bürgerkriegs wird als Ausgangsposition des Bürgerzwists nicht Caesars Überschreiten des Rubicon angegeben, sondern das Triumvirat von 60 v. Chr. (vgl. 1,4; 11; 84), wobei Crassus beim eigentlich Handlungsbeginn (Caesar am Rubicon) schon durch den Par-

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Dazu wegweisend Hömke (im Druck). Vgl. Wick (2004) zur Dreiteilung des Buchs, auf der letztlich der gesamte erste Band ihres Kommentars aufbaut. Vgl. Radicke (2004) 64, der auch ältere Literatur anführt.

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therkrieg eliminiert wurde. Die verbleibenden Triumvirn Caesar und Pompeius 48 haben nach dem frühen Tod der sie verwandtschaftlich verbindenden Tochter Caesars, Iulia, alles Zögern abgelegt, gegeneinander vorzugehen. In der Synkrisis in Buch 1 werden nur Caesar und Pompeius einander gegenüber gestellt, Cato wird in einem einzigen Satz erwähnt (126: mehrdeutiges victrix causa deis placuit, sed victa Catoni, frei zu übersetzen mit »Resto il leader, anche se decado« [Berlusconi am 19. August 2013]). 49 1–5 sind charakterisiert durch das wechselnde Auftreten von Caesar und Pompeius resp. von Caesarianern und Pompeianern, in Buch 6 und 7 befinden sie sich erstmals im gleichen geographischen Feld. Die Ausblicke auf spätere Konfliktkonstellationen, die jeweils Buch 1 und 7 abschließen, klammern diese Bücher zu einer Einheit, was die angebliche Tetraden-Struktur völlig unterläuft. Zudem hören mit der Schlacht bei Pharsalus die das römische Imperium resp. die Stadt Rom betreffenden Vorzeichen auf. Die Bücher 8 bis 10 schildern das Schicksal der beiden Feldherren nach der Entscheidungsschlacht. Doch sind diese sequels, in der Sprache des Sagenkreises um Troia, nur im Falle Caesars ein nostos. Pompeius setzt seine in Buch 2 begonnene Reise in den Tod fort, ohne Rom – außer im Traum – wiederzusehen. Man könnte mit gutem Grund behaupten, dass das gesamte Bellum Civile Caesars Nostoi nach dem Gallienfeldzug und nach Pharsalus gewidmet ist. Gleichwohl hat sich nun die Natur des Konflikts geändert, denn Caesar und Pompeius haben zwar die Entscheidungsschlacht gegeneinander gekämpft, aber Pompeius hat sich einer persönlichen Begegnung mit Caesar durch Verlassen des Schlachtfeldes, durch Desertation, entzogen. Die eigentliche Konfrontation der beiden steht demnach noch aus. Die von der Seite des Pompeius aus nur noch posthume Begegnung gibt Caesar, der ohnehin spätestens seit Illerda in der moralisch besseren Position ist, die Möglichkeit, durch die Rache an den Mördern des ehemaligen Schwiegersohnes seine Legitimation als römischer Imperator (als dux Latius) par excellence weiter zu untermauern. Das neunte Buch hat deutlich gemacht, dass Cato die Rolle des Rächers des Pompeius nicht ausfüllen kann oder will, auch wenn er nun von der racheheischenden Seele des Pompeius getrie-

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Auch Haffter (1957) 118 geht davon aus, dass Caesar und Pompeius die Hauptgestalten des Epos sind. Catos Gegner sind die Triumvirn: Die beiden großen Feldherrn bekommen einen Truppenkatalog, der sie charakterisiert. Caesars Truppen werden gekennzeichnet durch die gallischen Stämme, die sie zurücklassen (aber die Truppen bestehen aus Römern). Pompeius wird über die ausländischen Söldnertruppen charakterisiert. Der ›Katalog‹ der Schlangen und Soldaten, der Cato im 9. Buch zuteil wird, ist eine Mischung aus Truppenkatalog (allerdings der Sterbenden), Naturdarstellung und Aristie (allerdings der Schlangen). Es ist die zweite Passage, in der wir nach Massilia überhaupt die Namen von mehreren Einzelkämpfern erfahren. Diese Konstruktion der Passage macht vielfache Deutungsangebote und hat einen abschließenden, interpretativ implodierenden Charakter. – Auch in der Prophezeiung des toten Soldaten in Buch 6,802–20 geht es nur um die beiden Feldherrn Caesar und Pompeius bzw. die Pompeianer, ohne dass sich hieraus eine zwingende Fortsetzung ergibt.

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ben wird: Er wird – wie wir wissen – vor dem von ihm fanatisch gehassten Caesar sterben, was durch die Ereigniskette zwangsläufig ist (vgl. 6,311). Das Ende des 10. Buches, das nicht auf die letzten 12 Verse zu reduzieren ist, stellt den weiteren Verlauf der Geschichte gerafft dar, wobei es einen zweiphasigen Verlauf der noch ausstehenden Rache für die Ermordung des Pompeius konstruiert: Die erste Phase, die offizielle Rache Roms für Pompeius, ist Caesars Unterwerfung Ägyptens, verbunden mit der Tötung der Mörder des Pompeius (Pothinus und Achillas) und Gefangennahme der Arsinoe, der Schwester der Cleopatra. Die zweite Phase wird darin bestehen, dass Caesar selbst als Totenopfer für Pompeius in Rom ermordet werden wird, woran sich allerdings Caesars Apotheose und die Etablierung einer neuen Staatsordnung anschließen werden. Dies hatte der Erzähler schon in Buch 8 vorhergesagt, und auch dass der Tyrannenmörder Brutus seinerseits als Verräter und primitiver Mörder gebrandmarkt und getötet werden würde (609–10). Wie wir aus dem Proömium (33–66) wissen, wird dieses mehrfache Blutopfer den Frieden und den Prinzipat bringen, was in der Herrschaft Neros kulminieren wird. Warum sollte Lucan das noch weiter ausführen? 50 Ich darf darauf hinweisen, dass auch Apollonios von Rhodos am Ende der Argonautica (4,1773–81) ganz extrem rafft und nur noch summarisch die Heimreise der Argonauten beschreibt: Jeder weiß wie’s ausgeht, jeder ärgert sich, dass das Epos endet, aber es endet trotzdem weit vor dem Showdown zwischen Iason und Medea in Korinth. Vielleicht ist das ungewöhnliche gender-übergreifende Gleichnis in der Schlusspassage, in der Caesar mit Medea verglichen wird, auch ein intertextueller Hinweis auf das zu erwartende offene Ende des Bellum Civile. 51 Das eigentliche Buchende ist offen prospektiv und zugleich rekursiv-intratextuell gestaltet. Schon in mindestens den letzten 200 Versen werden auffällig, aber nicht ausschließlich Parallelen zum ersten Buch hergestellt. Die Handlung des Epos beginnt und endet mit einer visuellen Wahrnehmung Caesars, die ihn verstört: Beim Übergang über den Rubicon, 1,182 ff., erscheint ihm die Patria, die ihn abhalten will vom Eintritt in den Bürgerkrieg, in 10 sieht er unerwartet seinen Zenturionen Scaeva. 52 In Wirklichkeit ist es mindestens ein Caesar-Triptychon: Hinzuzunehmen sind Caesars Träume, in denen ihm seine Ermordung in der 50

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Horsfall (2000) ad Aen. 7,167 gesteht in Bezug auf ähnliche Fälle im Kontext der AeneisForschung, dass er ein Epos, dass alle Lücken füllen und Fragen beantworten würde, lieber nicht lesen wolle. Zum hellenistischen Charakter der Schlussbücher, siehe Ambühl (2015). Diese Parallelisierung von 1 und 10 wird durch zwei Gleichnisse untermauert, die Caesar in der jeweiligen Situation von Zögern und Furcht mit wilden Tieren vergleichen, wobei angemerkt werden muss, dass bei Lucan nur Caesar mit wilden Tieren verglichen wird: Während er 1,205 unter Verweis auf Ägypten (das damals zu Afrika zählte) mit einem libyschen Löwen analogisiert wird, der den Feind schon entdeckt hat, erst zögert, ob er eingreifen soll, dann aber unter Vernachlässigung der eigenen Sicherheit selbst den Mauren angreift, wird in 10,445 f. genau das Gegenteil evoziert: Eine nobilis fera für ein Gladiatorenspiel sitzt im Käfig und zerbeißt sich an den Gitterstäben die Zähne. Es soll

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römischen Kurie vors geistige Auge tritt, und sein Blick über das Schlachtfeld bei Pharsalus am Ende von Buch 7 (776b–824). Am Morgen nach der Entscheidungsschlacht rekapituliert er seinen Sieg, indem er sich die Gesichter der besiegten toten Römer anschaut und versucht, sein zukünftiges fatum zu eruieren. In dieser Passage fängt er sich wie in Buch 1 sofort wieder. Im Übrigen wird vor der Erscheinung der Roma gesagt, dass er im Geiste den Bürgerkrieg mit Pompeius schon ablaufen sieht (1,183–85); er ist also an diesen Punkten der Handlung zukunftsgerichtet. Nach dem endgültigen Ende der Auseinandersetzung mit Pompeius, auf die das Bellum Civile bisher konzentriert war, bleibt letztlich nur noch der Blick zurück. Eingekesselt und in Verzweiflung sieht er den Zenturio Scaeva, der bei Dyrrhachium ihm noch alleine die Schlacht gedreht hat, was auf Buch 6 zurückverweist. Respicit kann ›umdrehen und den realen Scaeva sehen‹ bedeuten, aber auch in der Erinnerung vor dem geistigen Auge als Akt der Selbstversicherung zurückschauen. Hier wird Caesar direkt mit Pompeius parallelisiert, der, als er das Schlachtfeld von Pharsalus verlassen hat, vom Erzähler in einer Apostrophe aufgefordert wird, auf seine großartige Vergangenheit zurückzublicken (7,687 f.). 53 Das Epos endet mit einer Art Sphragis mit Lucans Selbstlob, der Scaeva schon ewigen Ruhm verschafft habe. Anders als Masters (1992) sehe ich hierin keine Entwertung Caesars, da der Erzähler ihm schon an einer markanten Stelle (Troia-Besuch Caesars in 9,980–86) ewigen, gemeinsamen Ruhm durch seine Dichtung verheißen hat. Scaeva wird auch nicht seinerseits durch die Erwähnung des Pompeius entwertet: Schon in der Ilias (24,804) wird in der letzten Zeile noch einmal der Name des besiegten Gegners erwähnt. Doch dient die Nennung eines Namens auch bei Lucan nicht selten zur Markierung eines Buchschlusses (vgl. Lucan. 2,736; 3,702; 5,815). Die 12 letzten Zeilen sind, was closure-Elemente angeht, also völlig überdeterminiert. 54

Schlussgedanken Die Frage, wie sich ein Schluss ausnehmen kann oder könnte, ist sicher kulturund epochenabhängig und von der individuellen Toleranz und Wahrnehmungsfähigkeit geprägt. Dass das uns überlieferte Ende des Bellum Civile den zeitgenössischen Rezipienten zumutbar und verständlich war, darf dank der zu veranschlagenden Lese- und Wahrnehmungsfähigkeit, die sie im wortfixierten Rom mit komplexen Texten verschiedenster Gattungen wie etwa Catulls carm. 64, Vergils

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erläutern, dass Caesar den Gegenschlag fürchtet, sich aber auch dafür schämt, dass er sich fürchtet. Auf der anderen Seite entlässt uns Statius in Silvae 2,7,119 mit dem Bild, dass Lucan sich in der Unterwelt nach Nero umdreht (Neronem respicis), auch hier aber mit derselben Doppeldeutigkeit von respicere. Vgl. Stoffel (2015). Zu den closure-Elementen von Buch 10 insgesamt s. Masters (1992), Rossi (2005), Tracy (2011), Rimell (2013).

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Aeneis, Horazens Gedichten und den Metamorphosen Ovids entwickeln konnten, mit Zuversicht angenommen werden. Gerade die in der späten Republik und frühen Kaiserzeit verstärkt auftretenden Kleinformen (Catulls Œuvre, Elegie, Bukolik) beziehen ihren Reiz aus dem Ausschnittcharakter. Auch in den Metamorphosen Ovids werden Geschichten in unterschiedlichem Taktschlag von der Evozierung nur durch einen Namen bis zu fast Buchlänge in unterschiedlichen Graden der Abgeschlossenheit dargeboten. 55 Doch gilt dies nicht nur für die Poesie: Schauen wir exempli gratia nur einmal auf Quintilians Ausführungen (inst. 6,1,1 ff.) zur peroratio und conclusio, zum wirkungsvollen Abschluss von Reden, also für einen schwierigeren Fall als schriftlich und potentiell mehrfach zu rezipierende Texte: Quintilian betont ausdrücklich, dass es hier keine immer anwendbare Regel gibt, sondern dass diese Schlussgestaltung von Fall zu Fall zu entscheiden sei. Er nennt folgende, generell erweiterbare Optionen: Zusammenfassung, Mitleidserregung (auch durch Materielles), Rachegedanken, Verfluchungen, Ausblick auf die Zukunft des Anklagten oder Klägers oder sogar ein Verzicht auf einen Schluss. Sicher wird man Quintilians Ausführungen nicht 1:1 auf das Epos übertragen können, er bezeugt aber, dass man die römischen Rezipienten (und sich) unterfordert, wenn man ihnen unterstellt, sie könnten nur ein eindeutiges Textende verstanden und ertragen haben. Das Ende des Bellum Civile fügt sich also sowohl gut in die Gesamtstruktur des Bürgerkriegsepos als auch in die literarische Landschaft Roms. Generell wäre in Anschlag zu bringen, dass – was die Vollständigkeit der dargestellten Welt angeht – jedes Kunstwerk ein potentielles Großfragment ist. Doch wurde dies in der griechisch-römischen Literatur dadurch abgemildert, dass es wenige ›komplett‹ neu erfundene Stoffe gab. 56 Bei dem sehr viel größeren Teil handelt es sich um mythologische, historische oder myth-historische Stoffe. Je nach Bekanntheitsgrad (dazu zählt auch die Häufigkeit und Prominenz, mit der ein Stoff in der Literatur traktiert wurde) waren die Freiheitsgrade relativ eingeschränkt. 57 Doch diese wurden genutzt, etwa durch die Verschiebung der Zeitachse (z. B. durch Setzung bestimmter Anfangs- oder Endpunkte): Ovid hat etwa in den Heroides seine Heldinnen ihre Briefe klar erkennbar an einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb kanonischer Prätexte verfassen lassen, aber konnte gerade aus dieser Position eine Verflüssigung des Mythos bewirken, indem Handlungsalternativen insinuiert werden. Das war allerdings kein gänzlich innovatives, 55 56

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Vgl. auch den bewussten Abbruch der Rede Amors in Ovids Remedia 550–75. Und auch diese folgen – genauer betrachtet – bestimmten Geschichtenkonstruktionen. Vgl. die Komödienstoffe, die individuell anmuten, in Wirklichkeit aber Variationen und Neuzusammenstellungen von Geschichtentypen sind. Vgl. dazu schon Aristoteles’ Poetik über die Zwänge, die ein Stoff/Mythos mit sich bringt: Man hat nur jenseits des Grundgerüsts Möglichkeiten zur Abänderungen. Erstaunlich ist nicht diese Aussage, sondern dass die Dichter in der Tat meist nach dieser Regel gehandelt haben (Aristoteles leitet dies ja aus seinen eigenen Lektüreerfahrungen ab).

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aber doch wirkungsvolles Verfahren, da schon die Ilias Homers, deren detailliert beschriebenes Szenario weder den (vielfach vorausgesagten) Tod des Achilleus noch den Untergang Troias umfasst, doch seinen Reiz genau aus diesem Zustand des Dazwischen erhält. Der epische Kyklos kommt hingegen dem Bedürfnis des Menschen entgegen, der gerne wissen will, was vorangeht und wie es weiterging oder was andere Protagonisten in dieser Zeit machten. 58 Die Ausnutzung/Nutzung der Zeitachse ist gut mit Jurji Lotman (300 ff.) zu begreifen, der literarische Welten danach definiert sieht, was sie enthalten oder gerade nicht enthalten: Jede Welt enthält Leerstellen, die die Rezipienten, die in dieser dennoch als abgeschlossen anzusehenden Welt etwas vermissen werden, mit eigenen Assoziationen und Deutungen füllen. Und in Reaktion auf Lucans Text werden das viele Assoziationen sein. Das Sujet von Lucans Bellum Civile fügt sich in den Großkomplex ›Römische Geschichte‹ ein, der in sehr großem Umfang durch die historische Epik, die sich im Rahmen gewisser, jedoch flexibler Konventionen bewegt, poetisch begleitet wurde. Hier ist die relative Chronologie ein wichtiges Gestaltungscharakteristikum, woran man Vergils andere Realisierung in der Aeneis mit den vielen Sprüngen zwischen den Zeitebenen messen kann: Die annalistische Epik schreitet jährlich oder mindestens doch ereignisweise voran; sie kann daher an einem beliebigen Punkt aufhören oder beginnen. Lotman (306) weist den chronikartigen Texten, zu denen die historische Epik sicher zu zählen ist, eine Betonung des Anfangs zu; das Ende hingegen werde offener gestaltet, weil jedem Rezipienten bewusst sei, dass die Geschichte hier nicht an ein Ende kommt: Man kann Texte benennen, die als ›abgegrenzt‹ gelten, wenn sie einen Anfang haben; das Ende wird dabei prinzipiell ausgeschlossen – der Text verlangt nach einer Fortsetzung. Von solcher Art sind die Chroniken. Das sind Texte, die nicht enden können. Wenn der Text abbricht, so muß sich entweder jemand finden, der ihn weiterschreibt, oder der Text wird nun als unvollendet, als defekt empfunden. So ein Text wird, wenn er ein ›Ende‹ bekommt, unvollständig.

In der Tat scheint mir in Lucans Bellum Civile mit seinem grandiosen Bild, wie Caesar den Rubicon überschreitet, solch ein chronikartiger, anfangsbetonter Text vorzuliegen. Man müsste also auf jeden Fall Lucans Orientierung nicht nur an Vergil oder Homer, sondern auch am genuin historischen römischen Epos stärker akzentuieren. Das ist für uns wegen der disparaten Überlieferungslage der historischen Epik sehr schwierig. Wir wissen vielleicht gerade einmal, wieviel Bücher es von Ennius’ Annales gegeben hat: Auf 15 Bücher folgte eine Ergänzung von drei weiteren; hierauf sind in unregelmäßigem Takt die über 650 sehr disparaten Fragmente verteilt. Die Rekonstruktion der einzelnen Bücher muss jedoch aufgrund der Überlieferungssituation eher vage bleiben, auch wenn die Chronologie der realhistorischen Ereignisse, die in ihnen poetisch verarbeitet sind, gewisse Anhaltspunkte bietet. Ennius hat die Annales sukzessive publiziert, so dass man 58

Vgl. dazu auch Lotman (1993) 300. Siehe unten zu prequels, sequels/fanfiction.

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von relativ in sich geschlossenen Untereinheiten ausgehen kann. Angesichts dieser sukzessiven und sich selbst ergänzenden Abfassung wäre zu fragen, ob, wenn wir die Annales ganz in Händen hielten, diese eine geschlossene Gesamtkomposition von Buch 1–18 aufweisen würden oder ob, wofür ich votieren würde, sie nicht eher eine thematische Konvergenz (Auswahl bestimmter Episoden, die zueinander passen; ähnliche Darstellungsstrategien) und im politisch-moralischen Gehalt gezeigt hätten bzw. dass der Erzähler durch Kommentare oder intratextuelle Strategien den Zusammenhang zwischen den Untereinheiten deutlich gemacht hat. Das Ganze trug trotz der Heterogenität und unterschiedlichen Abfassungszeiten den Titel Annales. Wichtig erscheint mir hier, dass historische Epen wegen der Offenheit von Geschichte je nach angenommener Konstruktion von geschichtlichen Prozessen prinzipiell die Möglichkeit eines sequels oder prequels in sich bergen. Man könnte auch sagen, dass Ennius mit den Büchern 16 bis 18 selbst sequels zu seinen zuerst veröffentlichten Büchern geschrieben hat. Auf jeden Fall wurde Ennius von seinen Nachfolgern Hostius, Furius Bibaculus u. a. immer weiter ergänzt. Insofern wurde das Ende eines historischen Epos offensichtlich ohnehin als relativ aufgefasst. Wenn Jamie Masters (1992) am Ende seiner absolut hellsichtigen Argumentation zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Bellum Civile Lucans sei nicht abgeschlossen, weil der Bürgerkrieg endlos sei; wenn Rossi (2005) behauptet, Lucan habe sich die Freiheit genommen, sein Werk mit einer Niederlage Caesars enden zu lassen (obwohl jeder weiß, dass sich das nicht so verhalten hat); wenn behauptet wird, der Erzähler lasse am Ende Scaeva den Ruhm zukommen, den er Caesar verweigere, um dann umgekehrt Scaeva durch das letzte Wort des Epos Magnum seinerseits seinen Ruhm zu entreißen, dann hört sich das alles sehr postmodern und griffig an, aber letztlich verweigern diese pro-republikanischen Gesten eine Reflexion der seriell angelegten Gattung ›historisches Epos‹, was eine bewusst abrupte Gestaltung des Endes gerade nicht ausschließen würde. Was lässt sich aus dem von mir angestellten Reflexionen nun für die (zukünftige) Lucan-Forschung gewinnen? Ich will mit meiner Intervention keineswegs zwingend behaupten, dass das Epos Lucans so geendet hat, wie es überliefert ist, auch wenn m. E. mehr dafür als dagegen spricht. Aber ich möchte dafür werben, dass die ›Unvollendung‹ und die Ergänzungen nicht mehr als Argument im Rahmen einer Interpretation des Erhaltenen zugelassen werden: Die jeweils vorgebrachten Interpretationen müssen auch ohne virtuelle Ergänzung stichhaltig sein. 59 Freilich würde dies der grassierenden Cato-Mode mit einem Schlag den 59

Selbst wenn man sich weiterhin der Meinung anschließen will, das Bellum Civile sei generell unvollendet, und man das unbedingt mit Hypothesen über den weiteren Fortgang verbinden will, sollte man das wenigstens mit besseren Argumenten tun. Zur Schärfung der Problemwahrnehmung könnte man z.B. zur Experimentalphilologie greifen: Man nehme an, dass die letzten 500 Verse der Aeneis fehlten. Würde man durch die Analyse des ›Erhaltenen‹ – Hand aufs Herz! – wirklich auf exakt den überlieferten Schluss kommen (diese Klimax mit dramatischem Abbruch, und nicht bloß den Tod des Turnus)?

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Nährboden austrocknen. Es wäre in der Tat heilsam, wenn die beiden Cato-Episoden im Rahmen des Erhaltenen ausgelegt würden, was Cato dann die angemessene Position als (wichtige) Nebenfigur (neben anderen wie Curio, Brutus usw.) zuteilen würde. Die Annahme einer ›Vollständigkeit‹ könnte auch den Blick freimachen für rekursive Bezüge innerhalb des Erhaltenen. Aktuell werden durch den virtuell ergänzten Interpretationsraum jederzeit scheinbar geistreiche Interpretationen möglich, zumal wenn bestimmte postmoderne Literaturtheorien ins Spiel kommen, die bei aller Notwendigkeit der Modernisierung der Klassischen Philologie und der immer wieder zu vollziehenden Neuaneignung der antiken Texte durch jede Generation immer weiter vom antiken Text wegführen. Doch eine genaue Beobachtung und Analyse dieser Debatte ums Ende und deren Folgen für die Interpretation und generelle Einschätzung Lucans aus der Perspektive eines distanziertinvolvierten wissenschaftlichen Beobachters (eines wissenschaftlichen Erzählers also) kann durchaus lehrreich sein als Beispiel für die Sinnproduktion in den Geisteswissenschaften im Allgemeinen und insbesondere für die sich wandelnde Einschätzung der Ästhetik Lucans und anderer Autoren der sogenannten Silbernen Latinität. George Devereux zeigt in seiner auch für Altertumswissenschaftler immer lesenswerten Methodenanalyse »Angst und Methode« (1973) auf, wie Interferenzen der persönlichen blinden Flecken der Wissenschaftler in die Versuchsanordnung der gewählten Fragestellung ein ›objektives‹ Ergebnis oder auf jeden Fall bestimmte Ergebnisse geradezu verhindern. Durch die Wahl von ›Methoden‹ versuchten nicht selten Geisteswissenschaftler die auch nur scheinbare Objektivität naturwissenschaftlicher Forschungsansätze zu imitieren. Devereux gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Ausweichstrategien der Forscher mehr über den jeweiligen Gegenstand aussagen als die mit ›Methoden‹ gewonnenen ›Forschungsergebnisse‹. Auf die Lucan-Forschung übertragen: Wenn die (angebliche) Unvollendung und der Wille zur Ergänzung trotz der nicht möglichen Verifizierung eine derartig überwertige Bedeutung in der Interpretation Lucans bekommen haben, sondern hierzu umgekehrt verstiegene Sinnkonstruktionen 60 bemüht werden, kann das daher rühren, dass dies einen sekundären Gewinn/sekundären Krankheitsgewinn für die Interpreten bereitstellt: Die exzessiv ausgelebte ›verhinderte Autorschaft‹, die den Philologen glauben lässt, er könne einem der größten Dichter

60

Selbst wenn man das zwingend nachweisen könnte, bliebe immer noch die Frage, wie ein guter oder akzeptabler Schluss des Lucanischen Epos aussehen müsste und wessen Toleranzen (des Verfassers, der Leser verschiedener Zeiten, der wissenschaftlichen Kritiker) hier den Maßstab bilden können. Vgl. Fowlers grundlegenden Artikel von 1989 (der aber Lucans Bellum Civile leider auch für unvollständig hält). Schon eine Analyse aller erhaltenen Enden wäre ein großer Fortschritt. Zum Teil liegt hier eine interessante Form von konstruiertem Unverständnis vor, bei dem das eigene Vorverständnis erst ausgeblendet und dann in einem zweiten Schritt zum mangelnden Verständnis der zeitgenössischen (= antiken) Rezipienten erklärt wird.

Christine Walde

191

der Antike das Wasser reichen, und das auch noch mit Parametern der Mittelmäßigkeit und der Normativität, denen Lucans Epos doch ziemlich offensichtlich nicht entspricht (Stichwort: ›harmonischer Gesamtaufbau‹), ist eine Ausweichstrategie: Man schreibt das Werk einfach für den Autor, der sich nicht mehr wehren kann, aber eigentlich für sich selbst fertig (oder besser: fort), indem man Lucan einen absolut abstrusen Kreativitätsprozess unterstellt. Und dann erklärt man diese nur virtuelle Textmenge eines sequels (das nicht eine Rekonstruktion, sondern als Fortsetzung ein Werk sui generis ist) auch noch zum Schlüssel zum Verständnis der überlieferten 8046 Verse: 61 Es wäre sicher nicht völlig falsch, diese gezielte Zerschlagung von Lucans Innovativität und negativer Ästhetik durch Textkritik, Interpretation und normativer Poetik 62 als eine besondere Variante des Anti-Intellektualismus zu bezeichnen. Denn letztlich kompensieren diese Ergänzungen das Gefühl der Unzufriedenheit und Ungeduld mit dem überlieferten Schluss, ja der Hilflosigkeit gegenüber einem insgesamt schwierigen, von Ambivalenzen geprägten Kunstwerk. 63 Darum sollte man zukünftig die Debatte um die Unvollendung suspendieren und den Wunsch nach einem anderen Ende zu den Rezeptionsphänomenen zählen und in toto als Ausgangspunkt der Interpretation von Lucans Bellum Civile nehmen. Denn diese Reaktionsbildungen sagen etwas über den Text aus und was er mit seinen Rezipienten verschiedener Zeiten und Kontexte über die Jahrhunderte machte. Diese sind Spiegel der jeweils herrschenden, zeitgenössischen soziopolitischen Verhältnisse, in der sich die Interpreten – die literarischen wie die wissenschaftlichen – positionieren. Die Ergänzungsphilologie ist in der Regel mit impliziten politischen Positionen von großer Tragweite verbunden. Sie ergreift durch die Favorisierung jeweils anderer Protagonisten der späten Republik und des frühen Prinzipats selbst aktiv in diesen Bürgerkriegen Stellung. Plakativ formuliert ergeben sich durch das jeweils imaginierte Wunschende des Epos völlig verschiedene Szenarien: das Szenario des Dazwischen (überlieferter Erhaltungszustand), der Verzweiflung (Catos ambivalenter Triumph durch Selbstmord), der Rache I (Caesars Ermordung), der Rache II oder der Verzweiflung (Philippi), des erwünschten oder trügerischen Friedens (Actium). Letztlich bedeutet dies, dass sich die Interpreten die historische Abfolge dazu denken, die auch schon Lucan selbst nachvollziehen konnte, der ja im Proömium die Linie bis zur Regierungszeit Neros weiterzieht. Mit einer Weiterführung des Epos bis Actium (die ich keinesfalls vertrete) würde durchaus eine inhaltliche Ringkomposition zum Nero-Elogium geschaffen, in dem postuliert 61

62 63

Man versteigt sich hier sogar zu Aussagen wie: Hätte der früh verstorbene Künstler das Werk vollenden können, hätte er auch noch kritische Passagen umgearbeitet! Man ändert also virtuell auch noch rückläufig im erhaltenen Teil – hier wird Philologie zum totalitären System à la Orwells 1984. Vgl. auch Scaligers wütende Kürzung und Umdichtung der Antaeus-Episode (4,593– 660) in den Poetices libri septem, Buch 4, 1561. Vgl. z.B. Dues Aussage in Marti (1968) 42: »The scope of the poem must have been determined by the idea which gives unity and meaning to the Pharsalia.«

192

Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile

wird, dass die Reihe der Bürgerstreitigkeiten Grundvoraussetzung für die Herrschaft Neros gewesen seien. In der Tat wird mit den Ergänzungen nicht mehr angegeben als der Interpretationshorizont des Erhaltenen, der zeitgeschichtliche Kontext. Die am meisten vertretene These, dass das Epos mit Catos Tod enden sollte, ist mit einer auf Lucan zurückprojizierten pro-republikanischen und stoischen Position verbunden, 64 so wie auch die literarischen Supplemente im circulus vitiosus mit Lucans unterstellter politischer Haltung eher prinzipatsfeindlich sind. 65 Dieser pro-republikanische Kampf, der – wie die sogenannte stoische Opposition unter Nero – ein neuzeitliches Konstrukt ist, 66 hat sich – wie erwartet werden kann – im Laufe des 19. Jahrhunderts, das durch eine Insistenz auf objektive Forschungsinstrumente wie Textkritik, der Echtheitskritik und der Quellenkritik charakterisiert ist, mit wissenschaftlichen Standards (oder solchen, die als wissenschaftlich erklärt werden, obwohl es sich eher um Selbstbeglaubigungsstrategien handelt) und einer normativen Ästhetik kurzgeschlossen und sich dann mit der ersten Blüte der Lucan-Forschung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verstetigt und verselbständigt. Hier kommen also gleich mehrere Fundamentalismen zusammen: eigene konservative politische Einstellung, Stoizismus und konservative Klassische Philologie. Die Entwicklung lässt sich daran ablesen, dass in den frühen Literaturgeschichten die Unvollendung bzw. die Ergänzung des Bellum Civile kein großes Thema ist. 67 Aber nachdem diese Debatte einmal als Faktum Eingang in die Literaturgeschichten gefunden hatte, wurde sie gleichsam zementiert. Der aktuell immer schnellere Produktionsmodus in den Geisteswissenschaften kombiniert mit der ohnehin eher diskontinuierlichen Beschäftigung mit Lucan führt dazu, dass man die Basics nicht mehr prüft. 68 Doch möchte ich nicht mit einer Invektive im Stile des lucanischen Erzählers schließen: Die mit der Ergänzung Lucans befassten Wissenschaftler benehmen 64

65 66

67

68

Eine ›halbe‹ Ausnahme bildet Sklenár (2003), der intuitiv auf zwölf Bücher ergänzen würde, aber immerhin in wissenschaftlicher Seriosität zugesteht, sich bei seiner Interpretation nicht auf diese Ergänzung berufen zu können. Immerhin vermutet er aber, dass Cato in den fehlenden Büchern endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben worden wäre. Vgl. Backhaus (2005). Dass es diese ›stoisch‹ motivierte Opposition der Wohlmeinenden in der Realität eher nicht gegeben hat, dass vielmehr die senatorische Opposition sehr unterschiedliche Motive für den Widerstand gegen Nero hatte, könnte man wissen. Vgl. etwa schon die frühe Studie von MacMullen (1966), bes. 1–94. Aber ähnlich wie im Falle von Ciceros Scipionenkreis will man sich von diesem Narrativ nicht gerne verabschieden. Vgl. z.B. Bähr (1844) 245 ff.; Bernardy (1857) 457 spricht von Unvollendung; Teuffel (5 1890) postuliert mögliche Unvollendung, geht aber nicht auf die Ergänzungsvorschläge ein; in der sechsten Auflage wird auf S. 270, Abschnitt 7 folgender Satz eingefügt: »Über die Frage, mit welchem Ereignis das Epos abschliessen solle, haben sich die Neueren mit ebenso geringem Erfolg den Kopf zerbrochen wie Schol. 1,1.« Vgl. meine Ausführungen zur aktuellen Wissenschaftslandschaft in Walde (2008) und in Walde (in Vorbereitung).

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193

sich eigentlich wie normale, engagierte, wütende Leser, die mit dem Ende eines (vollständigen oder unvollendeten) Werks nicht zufrieden sind, weil ein Buch einfach aufhört und man eben nichts mehr über das Schicksal der Protagonisten und Protagonistinnen erfährt. Besonders quälend sind hier ambivalente Schlüsse, also solche, die auch noch mehrere Deutungen zulassen. Solche Bücher erregen nicht selten den Unmut ihrer Rezensenten. Und es ist auch klar, warum. Aber das ist eher eine anthropologische Dimension: Der Mensch wünscht sich das Abgeschlossene, die runde Lösung, die – anders als im richtigen Leben – das Grübeln unnötig macht. Aber Literatur – jedenfalls nicht die anspruchsvollere – ist nicht dazu da, unsere Wünsche nach Schlichtheit zu erfüllen, sondern uns mit auch unerwarteten Handlungsentwürfen zu konfrontieren und Nahrung zum Nachdenken zu geben. Die Frage, wie ein Kunstwerk enden kann oder sollte, stellt sich bei fragmentarisch überlieferten oder überhaupt unvollendeten Werken, die immer eine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in besonderer Schärfe. Die LucanForschung, die im Laufe der Jahrhunderte verschiedenste Szenarien der Fortsetzung imaginiert hat, kann zusammengenommen als postmodern anmutendes Literaturexperiment begriffen werden, die entsprechenden Tendenzen in der modernen Literatur- und Textproduktion vorgegriffen hat, in der das Spiel mit Varianten und seriellen Konzeptionen und Ergänzungen eine große Bedeutung gewonnen hat. 69 Auch die Produktion von sequels und prequels, die freilich – wie früher die Supplemente – auch auf gute Vermarktungschancen abzielt, ist in diesem Kontext zu verorten. Die Philologie ist im Falle der Lucan-Forschung zur literarischen Rezeption 70 geworden, die sie in Zeiten der schwindenden ›humanistischen‹ Bildung in Bezug auf manche antike Autoren ohnehin weitgehend ersetzt. Wissenschaft ist hier zur fanfiction geworden, in der die affektive Besetzung eines Textes zur Imitation des Autors/Gegenstandes führt. 71

69

70 71

Vgl. etwa das gesamte Œuvre von Italo Calvino; oder John Fowles, The French Lieutenant’s Woman (1969). In unserer zeitgenössischen Romanproduktion haben Werke mit einer Auflösung der Handlung in verschiedene Varianten Konjunktur. Vgl. Lionel Shriver, The Post-birthday World (2007); oder Kate Atkinson, Life after Life (2013). Letztlich zeigen Ovids Heroides und Metamorphosen schon ähnliche Tendenzen. Man goutiere die rührende Poetik der mehr oder minder zweckfreien Diskussionen um den Schluss des Bellum Civile, besonders in Marti (1968) 39–50. Siehe den anregenden Artikel von Tardin Cardoso (2009).

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Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile

Tabelle: Buchanzahl und Buchlängen ausgewählter antiker Epiker Buch

Homer, Ilias

Odyssee

Apollonios Rhodios, Argo.

Ennius, Annales

Vergil, Aeneis

1

611

444

1360

X

756

2

877

434

1285

X

804

3

461

497

1407

X

718

4

544

847

1780

X

705

5

908

493

X

871

6

529

331

X

901

7

482

347

X

817

8

565

586

X

731

9

713

566

X

818

10

541

574

X

908

11

848

640

X

915

12

471

453

X

952

13

837

440

X

14

522

533

X

15

746

557

X

16

867

481

XX

17

761

606

XX

18

617

428

XX

19

424

604

20

503

394

21

611

434

22

515

501

23

897

372

24

804

548

195

Christine Walde

Ovid, Metamorphosen

Lucan, Bellum Civile

Statius, Thebais Valerius Flaccus, Argonautica

Silius Italicus, Punica

779

695

720

850

994

875

735

743

660

707

733

762

721

740

714

803

824

843

760

829

678

815

753

695

678

721

830

945

760

716

865

872

823

653

750

884

872

766

467

676

797

1105/999/949

907

657

734

546/653/702

939

658

795

761

611

628

814

752

965

895

851

688

879

823 700 654

196

Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile

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Christine Walde

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Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile

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Thomas Baier (Würzburg)

Anfang ohne Ende Abgebrochene Kommunikation bei Valerius Flaccus

Einleitung Auf makrostruktureller Ebene ist die Frage nach Anfang und Ende eines Epos seit der Antike ein Thema – man denke an Horazens geflügelte Worte vom Beginn in medias res statt einer Darstellung ab ovo (ars 147 f.) oder an Petrons Kritik des laborat carmen in fine (sat. 115,5). Das verlorene Ende der valerianischen Argonautica hat den Raum für Spekulationen geöffnet. 1 Die Frage der »epic closure« fand in der jüngeren Forschung besonderes Augenmerk. 2 Das Problem von Anfang und Ende stellt sich aber auch in der Mikrostruktur, etwa in der Frage, wie Gespräche eröffnet und beendet werden, man könnte sagen in der ›Gesprächskultur‹. Daran knüpft sich die Frage an, wie Helden überhaupt eingeführt und dem Leser vorgestellt werden. Wie beginnen, wie enden also Gespräche bei Valerius Flaccus, wie stellen sich die Figuren vor?

Gespräch und Rede im Epos In der Gestaltung von Reden und besonders Gesprächen liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen dem homerischen Epos und seinen römischen Nachahmern. Bereits Heinze bemerkt bei Vergil das Fehlen von großen Gesprächsszenen und stellt fest: Virgil vermeidet alles, was zur künstlerischen Wirkung direkt nichts beitragen und den Leser nichts Neues lehren, sondern nur der Vollständigkeit wegen da sein würde. Wenn die homerischen Dichter zumeist bestrebt sind, die Szene, die ihnen vor Augen steht, in all ihren wechselnden Momenten festzuhalten und dem Hörer vor Augen zu stellen, somit wirken durch Totalität der Wiedergabe, wobei der Phantasie des Hörers möglichst wenig überlassen bleibt, so erwartet Virgil vielmehr von jedem Einzelbestandteil der Erzählung eine gewisse Wirkung und läßt alles weg, was an sich Wirkung nicht erzielen kann. 3

1 2 3

Überlegungen zur Rekonstruktion des Schlusses bei Nesselrath (1998) 347–54. Vgl. den Sammelband von Roberts u.a. (1997). Heinze (1915) 405 f.

200

Anfang ohne Ende

Er merkt an, Horazens auf Homer bezogenes Urteil, quae desperat tractata nitescere posse relinquit (ars 149 f.), treffe erst recht auf Vergil zu. 4 Es fällt in der Tat auf, daß Vergil gegenüber Homer viel stärker von der indirekten Rede Gebrauch macht, Gespräch und auch Monolog sparsam, ja äußerst reduziert verwendet. Das erzeugt eine Raffung und Konzentration der Handlung. Bei Homer finden sich während der Kampfszenen immer wieder Gespräche, die zum Ausgang des Kampfes nichts beitragen. So führen etwa in der Ilias (13,249– 94) Idomeneus und Meriones einen langen Dialog, während der Kampf bei den Schiffen tobt. 5 Vergil reduziert dagegen Gesprächssituationen so stark, daß er sich mitunter dazu genötigt sieht, das Ausbleiben von erwartbaren Reaktionen eines Gesprächspartners zu begründen; er weiß also um die bisweilen unnatürliche Darstellung der Kommunikation. Auch dieser Umstand ist seit Heinze bekannt. 6

Valerius Narrative Register: Dialog und Erlebte Rede Wie behandelt nun Valerius – der bald als bemühter Vergilianer, bald als Vergilianer wider Willen 7 etikettierte Nachfolger – die Kommunikation unter seinen Figuren, wie läßt er Gespräche beginnen, wie enden? Läßt sich daraus ein typisches Merkmal seines Stils gewinnen? Es spricht manches dafür, die letzte Frage mit Ja zu beantworten. Ein Indikator ist bereits der Anfang des Epos. Hier mag ein vergleichender Blick auf Apollonios von Rhodos hilfreich sein. Apollonios beginnt mit einem 22 Verse umfassenden Prooemium; daran schließt sich der Heldenkatalog an, der in die eigentliche Handlung mündet. Bereits innerhalb des kurzen Prooemiums wird die Motivation der Argofahrt berichtet (5–17), und zwar in geraffter Zusammenfassung nach Art eines Prologs im Theater. Pelias wird als Verächter der Hera und als Despot eingeführt. Da er durch ein Orakel erfahren hatte, er solle sich vor einem o opËdiloc (7), einem Ein-Schuhigen, in Acht nehmen und er in Jason eben diesen erkannte, ersann er die Argofahrt in der Hoffnung, den mutmaßlichen Gegner dadurch zu vernichten. Der Akzent liegt auf dem Orakel, Pelias ist weniger der Agierende als der Reagierende. Als er Jason mit nur einer Sandale auftauchen sieht, wittert er Gefahr und handelt blitzschnell. Doch bleibt seine Charakterisierung insgesamt eher blaß. Er ist eine Nebenfigur, die im ganzen Epos nicht zu Wort kommt, sondern lediglich als ›Auftraggeber‹ im Hintergrund steht. Die Argofahrt, die Pel–ao ‚fhmos‘nh, ist zwar die Folge einer Intrige des Herrschers, doch steht diese wiederum im Schatten des Orakels, ist also göttlich angestoßen. Jason selbst mag Pelias durchschauen, doch 4 5 6 7

Heinze (1915) 406 mit Anm. 1. Vgl. Heinze (1915) 409. Vgl. Heinze (1915) 415. Vgl. Eigler (1998) 33–44.

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empfindet er sich offensichtlich nicht als Thronprätendenten, zweifelt die Rechtmäßigkeit von Pelias’ Herrschaft jedenfalls nicht an. Dies wird in dem Abschiedsgespräch deutlich, das Jason und Hypsipyle in Lemnos führen, bevor die Argonauten in See stechen. Als Hypsipyle Jason die Herrschaft über Lemnos anbietet, antwortet dieser: »Hüte dich, allzu Tapferes von mir zu erwarten, da es mir doch genug ist, zu Hause zu wohnen unter der Herrschaft des Pelias« (1,901–3). 8 Die politische Brisanz der Fahrt, die Frage nach der rechtmäßigen Herrschaft in Jolkos, spielt bei Apollonios keine Rolle. Das ist umso bemerkenswerter, als Apollonios’ Vorgänger Pindar in der vierten Pythischen Ode eben dieses Thema angeschlagen hatte. Nach Pyth. 4,165–67 sollte Jason nach seiner Rückkehr die Regierung in Jolkos antreten. Apollonios läßt diese Tatsache unerwähnt, hat den Stoff also demonstrativ entpolitisiert. Valerius hat die knisternde Konkurrenz zwischen dem alten Herrscher und dem jungen Herausforderer dagegen zum beherrschenden Thema gemacht. Er hat das von Apollonios gemiedene Thema der Tyrannenherrschaft oder vielmehr des Umgangs mit Tyrannen als Basso-ostinato zugrunde gelegt. Valerius beginnt sein Epos deshalb nicht mit einer prologartigen Erläuterung der Vorgeschichte, sondern mit einer Tyrannentypologie. Kenntnis des mythologischen Sachverhalts scheint er beim Leser vorauszusetzen; er erzählt den Mythos folglich nicht, sondern deutet ihn. McGuire sieht in diesem pointierten Einstieg in die Handlung, der sich übergangslos, beinahe harsch an das Prooemium mit dem Herrscherlob anschließt, eine Schlüsselstelle (»key components« 9) zur Beschreibung flavischer Herrschaft. Der Epenbeginn läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Pelias wird als langjähriger Unterdrücker Hämoniens eingeführt (frenabat, 1,22) und, topisch für einen Tyrannen, gibt er seinen Untertanen beständigen Anlaß zu Angst und Besorgnis. Obwohl die Argonautica kein historisches Epos sind, beginnt Valerius dennoch im Stil des Historikers, indem er von der Herrschaft in diesem Teil Griechenlands spricht. Der Satzbau klingt taciteisch bzw. sallustisch aufgrund einer schleppenartigen, auf Pelias bezogenen Apposition am Ende, die das eigentlich Entscheidende enthält (1,22 f.): Haemoniam primis Pelias frenabat ab annis, / iam gravis et longus populis metus. 10 Für den Typus des Tyrannen, wie er aus Historiographie und staatstheoretischem Schrifttum bekannt ist, 11 gilt, was auch Valerius feststellt, nämlich daß er 8 9

10 11

T‘nh d+ ‚mËjen pËri jum‰n Çre–w / “sqan+, ‚pe» pàtrhn moi âlic Pel–ao Èkhti / naietàein. McGuire (1997) 156. In McGuire (1997) 154–61 wird das Tableau der »tyrannical portraits« in den Argonautica skizzenartig entfaltet; vgl. 160: »Such a representation of the tyrants’ methods [. . . ] reflects the types of behaviour attributed to emperors like Domitian and Tiberius«. Valerius Flaccus wird, wo nichts anderes vermerkt ist, nach der Ausgabe von Ehlers (1980) zitiert. Vgl. etwa Sen. clem. 1,8,6: regibus certior est ex mansuetudine securitas, quia frequens vindicta paucorum odium opprimit, omnium inritat.

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selbst keine ruhige Minute kennt: sed non ulla quies animo (1,26). Topisch ist schließlich der Gedanke, daß Tyrannen nichts mehr fürchten als die Tapferkeit der anderen. 12 So versteht es sich, daß Pelias virtus und fama des Jason als bedrohlich empfindet: instat fama viri virtusque haud laeta tyranno (1,30). Das Orakel wird bei dem römischen Autor gar nicht erwähnt, es ist lediglich von dunklen Sprüchen der Seher und monitus der Opferbeschauer die Rede. Diese treten aber, eingerahmt von den einschlägigen Tyrannentopoi, eher in den Hintergrund. Während also bei Apollonios das Orakel der eigentliche Auslöser ist, setzt bei Valerius der finstere Plan eines notorischen Dunkelmanns die Handlung in Gang. Das Tyrannenbild zeichnet sich aber nicht nur vor dem Hintergrund der apollonianischen Folie besonders deutlich ab, sondern auch im Kontrast zu dem unmittelbar vorangehenden Vespasian-Lob im Prooemium. Das muß nicht heißen, daß das eine das andere relativiert, wie McDonald vermutet hat; 13 vielmehr könnte der Gegensatz auch dazu dienen, die Konturen zu schärfen. Man wird aber in jedem Fall behaupten dürfen, daß das mythologische Thema der Argofahrt bei dem römischen Epiker politischer ist, als gemeinhin angenommen wird, 14 die vermeintliche Abkehr von Lucan, die man Valerius unterstellt, gar nicht so schroff ausfällt. Valerius läßt in den Versen 40–57 Pelias den Auftrag an Jason in direkter Rede erteilen. Die Rede entspricht strukturell dem Eingangsmonolog der Venus in Vergils Aeneis (1,37–49), welcher die divum regina ihrerseits als tyrannische und ränkeschmiedende Quertreiberin ausweist. Gleichwohl ist die Art der Exposition doch ganz anders als bei Vergil. Charakteristisch für den flavischen Autor ist die auffällige Kommunikationssituation: Es wird weder in die Situation eingeführt noch ist klar, zu welchem Anlaß Pelias Jason anspricht. Seine Rede beginnt ohne Umschweife mit hanc mihi militiam veterum quae pulchrior actis / adnue daque animum (1,40 f.): keine Anrede, keine Captatio benevolentiae, keinerlei Verbindlichkeit im Ton. Rhetorisch ist dieser Redenbeginn alles andere als schulmäßig. Vielmehr kommt Pelias mit Aplomb zur Sache. Das Demonstrativpronomen hanc bezieht sich nicht auf Vorangehendes, sondern weist auf die folgende PhrixusGeschichte voraus. Der Aufbau des ersten Verses erinnert mit Nennung des Objektes im Akkusativ am Versanfang, einem sich anschließenden Relativsatz und einem Verb im Imperativ an den Beginn eines Epos. Zissos bemerkt, nicht zur Form, aber zum Inhalt des Verses: »This conforms to a broad programmatic insistence on martial epic«. 15 Den Imperativ adnue verwendet Valerius mehrmals in seinem Werk, wenn es um drängende Bitten geht. 16 Zugleich passt diese Formulierung aber auch 12 13 14

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Vgl. etwa Tac. Agr. 1,3 zur argwöhnischen Beobachtung der virtus unter Domitian im Gegensatz zu deren Wertschätzung in republikanischer Zeit. Vgl. McDonald (1971) 14. Vgl. Zissos (2003) 660: »The mythic narrative of the Argonautic saga takes on aspects of a cultural commentary by importing key societal constructs and tensions from contemporary – that is to say, late Flavian – Rome.« Zissos (2008) 108 zu 40 f. 2,294; 2,489; 5,199; 6,461; 7,497.

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zu dem bereits konstatierten Prooemienton, klingt sie doch nach der Bitte eines Dichters um Zustimmung der Inspirationsgottheit. Eine entsprechende Parallele findet sich bei Vergil: In den Georgica (1,40) wendet sich der Dichter an Octavian als triskaidËkatoc jeÏc mit den Worten: da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis. Während dort die Dichtung mit Seefahrtsmetaphern umschrieben ist, eröffnet Pelias, der tatsächlich eine Seefahrt im Sinn hat, seine Rede mit Floskeln der Dichtersprache. Indem Pelias vorgibt, am liebsten selbst in See zu stechen und nur aus Altersgründen zu verzichten – si mihi quae quondam vires (1,51) –, erweist er sich als kundiger Vergilleser und umkleidet sich mit der Autorität des alten Euander, der den jungen Pallas in den Krieg schickt. 17 Am Ende seiner kurzen Rede steht die Aufforderung, das Vlies zurückzuholen und somit Ruhm zu erlangen. 18 Man hätte erwartet, daß Jason irgendetwas entgegnet. Doch eine Antwort bleibt aus. Stattdessen läßt uns Valerius noch einmal in das schwarze Herz des Pelias blicken, der um die todbringenden Gefahren, die auf der Fahrt lauern, sicher weiß (certus, 1,59) und der bewußt verschweigt, was Jason in Kolchis erwartet. Die Rede des Pelias hat also keinen Anfang und keine Einleitung, sondern beginnt abrupt medias in res, und es fehlt ihr die eigentlich zu erwartende Entgegnung des Adressaten Jason. Statt eines Gesprächs liegt ein konzentrierter Redeauszug vor, der von der Darstellung der Überlegungen des Pelias, also sozusagen von einem Blick in sein Inneres, gerahmt wird. Auf poetologischer Ebene wiederholt die Rede des Herrschers die Inspirationsbitte des Dichters aus dem Prooemium. Zwar erfahren wir nicht die Antwort des Jason, wohl aber hat der Leser Anteil an dessen Überlegungen: Der Angesprochene durchschaut die List sofort (1,64: mox taciti patuere doli), behält seine Einsicht aber für sich. Der Dichter teilt uns Jasons Gedanken mit, und zwar in Form der Erlebten Rede (1,66–78):

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qua iussos sectatur quaerere Colchos arte queat: nunc aerii plantaria vellet Perseos aut currus et quos frenasse dracones creditus, ignaras Cereris qui vomere terras imbuit et flava quercum damnavit arista. heu quid agat? populumne levem veterique tyranno infensum atque olim miserantes Aesona patres advocet an socia Iunone et Pallade fretus armisona speret magis et freta iussa capessat, siqua operis tanti domito consurgere ponto fama queat? 19 tu sola animos mentemque peruris,

Verg. Aen. 8,560–71. Vielleicht soll der Leser eine intertextuelle Anspielung auf Apoll. Rhod. 1,1 (klËa fwt¿n) heraushören. Interpunktion nach Dräger (2003).

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Anfang ohne Ende Gloria, 20 te viridem videt immunemque senectae Phasidis in ripa stantem iuvenesque vocantem.

Er geht dem nach, mit welcher Kunst er die Colcher, wie befohlen, aufsuchen könne: Bald wollte er die Flügelschuhe des durch die Lüfte schwebenden Perseus oder den Wagen und die Drachen, die der gelenkt haben soll, der die mit der Ceres unbekannten Länder mit der Pflugschar 70 in Berührung brachte und die Eiche gegenüber der gelben Ähre verwarf. Weh, was soll er tun? Soll er das leichtfertige und dem alten Gewaltherrscher feindliche Volk und die Väter, die seit langem Aeson bejammern, anrufen oder mehr im Vertrauen auf seine Verbündete Iuno und die waffentönende Pallas hoffen und die Meere, wie befohlen, angehen, 75 ob sich irgendein Lob eines so großen Werkes durch Bezwingung der See erheben könne? Du allein entbrennst Gemüt und Geist, Ruhm, dich sieht er frisch und frei von Greisenalter am Ufer des Phasis stehen und die Jünglinge rufen. 21

Mit heu quid agat (1,71) wird die berühmte Entscheidungssituation des Aeneas vor Merkur aus dem vierten Gesang der Aeneis wörtlich zitiert. 22 In der Aeneis kommt die Erlebte Rede an zwei Stellen vor. Außer im vierten Buch noch einmal im neunten, in der Episode um die jugendlichen Krieger Nisus und Euryalus. Dazu (zu 9,399) bemerkt der erweiterte Servius-Kommentar: mire affectum suum poeta interposuit: Auf eigenartige Weise hat der Dichter sein Empfinden zwischen (Figur und Leser) gesetzt. Der spätantike Erklärer geht also davon aus, daß das Stilmittel der Erlebten Rede nicht dazu dient, den Leser in die Figur hineinschauen zu lassen, sondern vielmehr, das Eigenleben der Figur einzuschränken, sie unter Kontrolle zu halten. Im Falle des Aeneas sorgt der Erzähler dafür, daß seine Figur das tut, was von ihr erwartet wird. Das Schweigen des Aeneas ist gewissermaßen ein verordnetes Schweigen, eines das der Erzähler einer Figur auferlegt, um sie vor Anfechtungen zu bewahren. 23 Das ist im Falle Jasons anders: Wir haben hier keinen Helden vor uns, der vom Dichter zurückgehalten bzw. von einem Gott zur Räson gebracht wird, sondern einen kühl berechnenden Anführer, der Ruhm 20 21

22 23

Sauer (2011) 93 erkennt in der Gloria-Apostrophe ein Sich-Einschalten des Dichters. Tatsächlich überblendet der Dichter seine Worte mit Jasons Überlegungen. Übersetzungen der längeren Valerius-Zitate hier und im folgenden nach Dräger (2003). Sofern Drägers Text von dem hier zugrunde gelegten abweicht, wurden die Übersetzungen behutsam angepaßt. 4,283; vgl. 12,486, wo die Erlebte Rede auf den Halbvers heu, quid agat? beschränkt bleibt. Vgl. Perutelli (1979) 79: Der Dichter »si arroga il compito di assicurare la lealtà più completa di Enea nei confronti della sua missione«. Seine Absicht sei es, »oscurare gli impulsi individuali del protagonista«; Perutelli (1979) 82: »il sentire del personaggio si inserisce perfettamente nell’ordine del poema e trova perciò consonanza in quello di chi narra: allora il concentrarsi insieme delle due soggettività piò avere [. . . ] l’ovvio risultato di un potenziamento espressivo del personaggio.«

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gegen Gefahr abwägt. Sein Schweigen entspringt dem Kalkül, einen Konflikt mit den Gefährten und natürlich mit Pelias zu vermeiden. Die Erlebte Rede als Reaktion auf Pelias’ Ansinnen ist hier vermutlich erstmals 24 in derjenigen Funktion eingesetzt, die man aus dem Roman des 19. und 20. Jahrhunderts kennt, als Mittel der »stream-of-consciousness-technique«, 25 des In-die Figur-Hineinhorchens; in jedem Fall ist sie nicht, wie Perutelli für Vergil gezeigt hat, eine Strategie des Dichters, sondern ein Winkelzug des Protagonisten. Mit qua arte (1,66 f.) fragt sich Jason, auf welche Weise er nach Kolchis gelangen kann; die Seefahrt ist schließlich noch nicht erfunden. Sieht man die deliberativen Fragen als Reaktion auf die poetologisch aufgeladene Anweisung des Pelias, so mag man bei ars auch an die Kunst des Dichters denken, der die Fahrt beschreibt. Diese Konnotation erhält dadurch Gewicht, daß Jason ebenso wie Pelias Anspielungen an die Georgica einflicht, indem er in 1,69–70 auf die Landwirtschaft zu sprechen kommt. 26 Er übernimmt das vergilische Aszendenzmodell und spitzt es sogar noch zu. 27 Die komplementäre Stelle zu dieser Erlebten Rede ist eine secum-Rede Jasons – eine direkte Rede, jedoch mit geschlossenem Mund, also ein Innerer Monolog. Beim Anblick des Schiffes erwägt Jason, Acastus, den Sohn des Peleus, mit auf die Fahrt zu locken, damit der Vater dem Schiff notgedrungen gute Fahrt wünschen muß. Hier ist der Anstoß zu dem Inneren Monolog nicht die Anrede durch eine andere Figur, sondern der Blick auf das im Bau befindliche Schiff (1,149–55): 150

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Haec quamquam miranda viris stupet Aesone natus, at 28 secum: ›heu miseros nostrum natosque patresque! hacine nos animae faciles rate nubila contra mittimur? in solum nunc saeviet Aesona pontus? non iuvenem in casus eademque pericula Acastum abripiam? invisae Pelias freta tuta carinae optet et exoret nostris cum matribus undas.‹ Über dieses, wiewohl für die Männer Bewunderungswürdige, stutzt der Sohn Aesons. Bei sich aber sprach er: »Wehe, die – beide – erbarmenswerten Söhne und Väter von uns! Auf diesem Schiff lassen wir uns leichten Herzens gegen das Gewölk schicken? Wird allein gegen Aeson jetzt das Meer wüten?

Vgl. Auhagen (1998) 53–9 zum Auftreten der Erlebten Rede vor Valerius Flaccus. Der Begriff geht auf William James zurück, vgl. Neis (1965) 47; Antor (1998) 127 s.v. »Erlebte Rede«. Zu damnavit (1,70) bemerkt Langen (1896) 29 z. St. »damnavit poetice pro eo quod Vergilius simplicius dixerat Georg. 1,8: Chaoniam pingui glandem mutavit arista.« Verg. georg. 1,148 f. läßt die Landwirtschaft aus dem Versiegen der Urnahrung aus Eicheln erwachsen, Valerius unterstellt mit damnavit (1, 70) eine bewußte Entscheidung. Die Konjektur at von Heinsius ist dem in w überlieferten et vorzuziehen, da der Dichter einen Wechsel der Perspektive andeutet, vom Schiffsbauplatz in das Innere der Figur.

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Anfang ohne Ende Soll ich nicht den Jüngling Acastus in dieselben Schicksale und Gefahren fortreißen? Pelias soll ein sicheres Meer für den verhaßten Kiel wünschen und mit unseren Müttern die Wogen anflehen!«

Auch in diesem Fall wird der Plan keineswegs vor den Gefährten offengelegt, sondern der Anführer macht aus seinem Herzen eine Mördergrube. Wie unterschiedlich verhält sich Jason bei Apollonios Rhodios: Er bespricht alles mit seinen Gefährten, so sehr, daß man in ihm schon die demonstrative Abkehr vom archaischen Heldenideal und die Hinwendung zu einem demokratischen Lenker erkennen wollte. 29 Sein vornehmstes Kennzeichen ist die Çmhqan–h, eine gewisse Hilflosigkeit oder Abhängigkeit von den Gefährten. Er neigt zum Grübeln und muß nicht selten Ratlosigkeit bekennen. 30 Was ihn, jedenfalls in den Augen heutiger Leser, sympathisch macht, ist seine völlige Durchschaubarkeit, das Fehlen jeder Art von Arglist und schließlich seine diskrete Zurückhaltung. Auch bei Apollonios fährt Akastos auf der Argo mit, jedoch gänzlich aus eigenem Antrieb; als dieser sich in Begleitung des Argos dem Schiff nähert, »hielt Jason sich zurück, die beiden über alle Einzelheiten auszufragen« (diexerËesjai Èkasta / Ísqeto, 1,327 f.). Weshalb hat Valerius dies in so auffälliger Weise geändert? An der ersten Stelle erwägt Jason, das wankelmütige Volk anzustacheln und dessen Mitleid mit Aeson (miserantes Aesona, 1,72), also einen Affekt, zu instrumentalisieren. Zissos hat darauf hingewiesen, daß hier mit der Nennung von populus, tyrannus und patres drei politische Stände im Spiel seien. Zu deren letztgenanntem bemerkt er: »the existence of senators as a specific political body and a potential source of support against a single monarch« ließen einen »obvious Roman flavour« erkennen. 31 Weshalb unterläßt Jason den Versuch, offen gegen den Tyrannen zu rebellieren? Die Antwort schwingt in seiner Überlegung bereits mit (1,71 f.): Das Volk ist levis, unzuverlässig, das Mitleid mit Aeson war olim, hat sich abgeschwächt; mag es dem Tyrannen gegenüber zwar feindselig (infensus) eingestellt sein, hat es sich doch als antriebslos, geradezu lethargisch erwiesen, denn der Tyrann ist vetus, etabliert, man hat sich an ihn gewöhnt, er gilt als iam gravis et longus populis metus (1,23). Die Verbreitung von metus ruft nur ohnmächtigen Haß der Untergebenen hervor. »In this way, the poem offers a disconcertingly accurate picture of an atrophied senatorial class, no longer in possession of a stable power-base and thus ultimately impotent in its anger and resentment against a despotic ruler.« 32 Eine Rebellion wäre sinnlos. Die lähmende Wirkung der Diktatur hat sich breit gemacht. 33 29 30 31 32 33

Vgl. Anzinger (2007) 165 mit Forschungsdiskussion in Anm. 545. Vgl. Anzinger (2007) 166 f. Zissos (2003) 671. Zissos (2003) 672. Vgl. Tac. ann. 1,2: cum ferocissimi per acies aut proscriptione cecidissent, ceteri nobilium, quanto quis servitio promptior, opibus et honoribus extollerentur. ann. 1,7: At Romae ruere in servitium consules patres eques quanto quis inlustrior, tanto magis falsi ac festinantes vultuque composito, ne laeti excessu principis neu tristior〈es〉 primordio,

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Es sollten bis jetzt drei Dinge deutlich geworden sein: 1. Valerius bedient sich des Stilmittels der Erlebten Rede, das er von Vergil übernommen hat, wobei die Quelle durch das wörtliche Zitat heu quid agat unmißverständlich benannt ist. Er vermeidet es dadurch, Dialoge vollständig auszuführen, und schafft sich die Möglichkeit, aus der Figurenperspektive zu erzählen. 2. Während bei Vergil das Verstummen des Aeneas ein Mittel war, die Figur unter göttliche Lenkung zu stellen bzw. deren Disziplinierung durch den Erzähler zu erzwingen, gibt uns Valerius Einblick in Jasons Inneres und zeigt uns einen gewiegten, mit allen Wassern gewaschenen Anführer. Bei Vergil ist das Ausbleiben der Antwort ein Hinweis, daß Aeneas tatsächlich sprachlos ist. Bei Valerius kann man unterstellen, daß Jason irgendeine Antwort gegeben hat, der Erzähler sie aber nicht referiert, weil sie gegenüber dem, was Jason denkt, unwichtig ist. 3. Bei Apollonios haben wir Gesprächsszenen mit einem Anfang und einem Ende bzw. echte Gespräche, die für sich stehen. Valerius kennt dagegen Redeauszüge, die auf das Wesentliche konzentriert sind und die Handelnden charakterisieren. Er neigt zur »poetischen Verdichtung von Gesprächen«. 34 Typische Szenen des traditionellen Epos lösen sich im Fluß der Erzählung auf. Poetologische Implikation des Epenbeginns Die eigentümlich zerrissene Form der Gesprächsführung zeigt ein gegenüber früheren Epen gewandeltes Menschenbild. Sie hat aber möglicherweise noch eine über die in der Pelias-Rede gefundenen Metaphern hinausgehende poetologische Konnotation. Diese enthüllt sich im Vergleich zu Apollonios Rhodios und Vergil. Die erste direkte Äußerung Jasons ist ein Gebet an Juno und Pallas (1,81–90):

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›omnipotens regina,‹ inquit, ›quam, turbidus atro aethere caeruleum quateret cum Iuppiter imbrem, ipse ego praecipiti tumidum per Enipea nimbo in campos et tuta tuli nec credere quivi ante deam quam te tonitru nutuque reposci coniugis et subita raptam formidine vidi, da Scythiam Phasinque mihi tuque, innuba Pallas, eripe me! vestris egomet tunc vellera templis illa dabo, dabit auratis et cornibus igni colla pater niveique greges altaria cingent.‹ 35

lacrimas gaudium, questus adulatione〈m〉 miscebant. Agr. 3,1: subit quippe etiam ipsius inertiae dulcedo, et invisa primo desidia postremo amatur. Anzinger (2007) 157. Interpunktion nach Dräger (2003).

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Anfang ohne Ende »Allmächtige Königin, die ich, als stürmisch im dunklen Äther Iuppiter bläulichen Regen erregte, selbst durch den infolge jähen Wolkenbruchs angeschwollenen Enipeus auf die Felder und in Sicherheit brachte und nicht eher an eine Göttin glauben konnte, als ich in plötzlichem Grausen sah, daß du durch Donner und Wink deines Ehemannes zurückgefordert wurdest und weggerissen warst: Gib mir Scythien und den Phasis, und du, unverheiratete Pallas, entreiße mich! Dann werde ich eurem Tempel jenes Vlies geben, geben wird auch der Vater dem Feuer Nacken mit vergoldeten Hörnern, und schneeweiße Herden werden die Altäre umringen.«

Diese Anrufung entspricht strukturell der ersten Äußerung des Aeneas in der Aeneis, seinem verzweifelten Gebet im Seesturm (1,94–101). Inhaltlich lehnt es sich an Jasons entsprechendes Gebet an Apoll bei Apollonios Rhodios (1,411–24) an. In welcher Beziehung steht das Gebet bei Valerius zu den beiden Prätexten? Bei Apollonios handelt es sich um ein traditionelles Gebet, Jason beruft sich, ohne es explizit zu sagen, auf das Einschuhigen-Orakel, bei dem ihm Apollon »Vollendung und Ziel des Weges« (änusin ka» pe–raj+ Âdoÿo, 1,413) bedeutet habe. Der Gott gilt als Urheber (‚pa–tioc, 1,414) 36 der Fahrt. 37 In der üblichen Gebetsform wird aus Versprechung und Auftrag mit n‹n äge (1,415) ein Anspruch auf Erfüllung der Zusage begründet. Die Lobpreisung des Gottes in Epiklese und Aretalogie leitet aus den Fähigkeiten eine Verpflichtung ab, indem mit einem unausgesprochenen d‘nasai gàr 38 unterstellt wird, Apollon sei der einzige in Frage kommende Helfer. Im Sinne des do ut des verspricht Jason nach erfolgter Rückkehr ein Stieropfer. Das valerianische Gebet ist im Ton anders. Zwar wird Juno in einer ehrerbietigen Epiklese als omnipotens apostrophiert, 39 doch dann folgt keine auf die Göttin bezogene Aretalogie, sondern vielmehr ein Katalog von Jasons eigenen Verdiensten. Der Held verweist darauf, daß er es war, der einst Juno in Gestalt einer alten Frau durch den von der Schneeschmelze angeschwollenen Fluß Anauros getragen habe. Damit rückt er das Epitheton »allmächtig« ins Zwielicht. Bei Apollonios wird diese Geschichte von Hera erzählt (3,66–75) und als Prüfung der eŒnom–h 36 37 38

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Vgl. Ov. met. 1,2: nam vos mutastis et illa. Zu den anaphorischen Prädikationen im »Du-Stil« vgl. Norden (1913/1974) 149–55. Zum Typus dieser Gebetsformel und weiteren Belegen vgl. Norden (1915/1957) 157 zu Aen. 6,117 und Norden (1913/1974) 154. Bei Apoll. Rhod. 1,414 ist die Begründung im Sinne des »Du kannst das nämlich« in dem in Gebeten häufig anzutreffenden gàr angedeutet: aŒt‰c gÄr ‚pa–tioc Ípleu ÇËjlwn. Im Lichte dieser Tradition ist wohl auch im Prooemium der Argonautica in 1,13 die Überlieferung namque potes zu halten und mit Liberman (1997) in Vers 11 zu transponieren bzw. mit dem dort bezeugten Versanfang sancte pater auszutauschen. Herausgeber, die die ursprüngliche Reihenfolge belassen, sind gezwungen, das in w überlieferte namque potes aus syntaktischen Gründen in namque potest zu ändern. Vgl. Liberman (1997) 8 und 145 mit Anm. z. St. Das Beiwort gehört eigentlich Jupiter; Hershkowitz (1998) 166 vermutet dahinter eine Schmeichelei.

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der Menschen hingestellt. Nichts spricht in der bei Apollonios erstmals bezeugten Begebenheit dafür, daß Jason die Identität der ›Testperson‹ jemals erfuhr. Bei Valerius weiß er Bescheid und relativiert die Autorität Junos noch dadurch, daß er erklärt, sie erst durch Jupiters donnerndes Eingreifen erkannt zu haben. 40 Jason fühlt sich berechtigt, Ansprüche an Juno zu stellen. Pallas Athene wird am Schluß des Gebets noch beiläufig einbezogen. 41 Der valerianische Jason agiert selbstbewußter mit den Göttern als der apollonianische. 42 Dazu paßt auch, daß die Götter sofort reagieren und sich in Bewegung setzen, wie am Schnürchen gezogen. Bei Apollonios folgt auf Gebet und Opfer nur eine Prophezeiung des Idmon, das göttliche Wirken wird also allenfalls mittelbar kundgetan. Jasons Einfluß auf die Götter bei Valerius ähnelt dagegen dem Zugriff Caesars auf Fortuna bei Lucan. 43 Damit entfernt sich der flavische Autor nicht nur von Apollonios, sondern auch von Vergil. Zwar ist auch Aeneas’ erste wörtliche Rede ein Gebet, doch hat dieses keine unmittelbare Wirkung. Neptun stillt den Sturm, weil er sich über die Insubordination als solche ärgert (Aen. 1,124–41), nicht weil Aeneas klagt. Einen Unterschied zum vergilischen Modell schafft außerdem Jasons provokante Selbstgewissheit, die der Mutlosigkeit des Aeneas entgegengesetzt ist. 44 Wir halten also fest: Der erste Auftritt des Haupthelden der Argonautica ist ein abgebrochenes Gespräch, bei dem er äußerlich passiv bleibt, seine erste Rede ein Gebet, in dem er sich mit den Göttern im Bunde weiß. Letzteres entspricht strukturell, aber nicht inhaltlich der Seesturmklage in der Aeneis. Aeneas’ Ausruf o terque quaterque beati . . . (1,94–101) hat Wolfgang Kofler poetologisch gedeutet: Wenn nun hinter Aeneas tatsächlich die Figur des Dichters Vergil steht, ist es nicht verwunderlich, daß zu Beginn des Werkes auch er sich fragt, ob er wirklich in der Lage dazu ist, den ihm erteilten Auftrag auszuführen. Vielleicht äußert sich die erweiterte Bedeutung dieses Zweifels ja sogar in der Art und Weise, in der Aeneas seinen Todeswunsch formuliert, und wir dürfen unter den Iliacis [. . . ] campis (97), auf denen er so gerne gestorben wäre, nicht nur die Felder Ilions, sondern auch jene der Ilias verstehen. Denn hätte Homer seinen Aeneas im Kampf gegen Diomedes sterben lassen und auf die Rettung durch seine Mutter Aphrodite verzichtet, hätte dies in gewisser Weise auch seinen ›literarischen‹ Tod 40

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Der Duktus der Epiphanie ist weniger respektvoll geschildert als etwa die Begegnung des Aeneas mit seiner Mutter (Aen. 1,321–410). Üblicherweise überkommt den von einer Gottheit Heimgesuchten eine Ahnung (vgl. Aen. 1,327–29), Gewissheit erlangt er, wenn überhaupt, erst, wenn die Gottheit wieder entschwunden ist. Vgl. zum Charakter dieses Gebets Schubert (1991) 126. Bei Apollonios ist Juno »as much a wrathful goddess as a supportive one«; bei Valerius sieht sich Juno als Schutzgottheit Jasons: »Juno, by revealing herself in her true form to Jason, shows that she wants him to know who she is, because he is now special to her«, Hershkowitz (1998) 166 f. Zu Jasons Umgang mit den Göttern vgl. auch Lefèvre (1991). Lucan greift dabei möglicherweise Caesars eigene Propaganda auf, vgl. Walde (2012) 69. Die Verzagtheit des Aeneas hat schon antike Vergilerklärer zur Kritik herausgefordert, vgl. Serv. auct. Aen. 1,92.

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bedeutet: Vergil jedenfalls hätte die Figur für die römische Fortsetzung des Homerischen Gedichts nicht mehr aufgreifen können und wäre von seinem schwierigen Auftrag entbunden gewesen. 45

Es spricht manches dafür, daß Valerius, wie es für Vergil unterstellt wird, ebenfalls das Gebet am Anfang seines Epos poetologisch verstanden wissen wollte. Innerhalb des Textes verweist darauf das Widmungsversprechen des Jason: vestris egomet tunc vellera templis / illa dabo (1,88 f.). Da es sich nur um ein Vlies handelt, kann er es schwerlich auf zwei Tempel aufteilen. 46 Die Widmung kann also nur im übertragenen Sinne aufgefaßt werden: Mit den templa dürfte die epische Dichtung gemeint sein, mit dem Vlies deren Gegenstand. Die Tempelmetapher wurde bereits im Prooemium mit Bezug auf ein Epos verwendet, und zwar im Zusammenhang mit der Recusatio an ein historisches Epos: Der Dichter bedient sich dabei der geläufigen Formel, ein anderer könne das viel besser: ille . . . delubra . . . genti / instituet (1,15 f.). Ille bezieht sich, folgt man der Deutung von Lefèvre, 47 auf Domitian, der Tempel bezeichnet ein historisches Epos, das dieser auf die Eroberung Jerusalems durch Titus oder die Taten der Flavier insgesamt dichten werde. Es handelt sich also um eine geläufige, aber preziös formulierte Form der Zurückweisung eines dichterischen Auftrags. Gestützt wird die Annahme einer poetologischen Metapher durch die Parallele im Prooemium des dritten Georgica-Buches. Dort verspricht Vergil einen Tempel zu bauen, in dessen Mitte Caesar Octavian stehen wird (georg. 3,12–6). 48 Es kann nicht bezweifelt werden, daß diese Ankündigung als Vorausverweis auf ein Epos zu sehen ist. 49 Den Tempel als Chiffre für epische Dichtung hat man auch in der Aeneis erkennen wollen. Aeneas betrachtet vor dem Gang in die Unterwelt genau den von Daedalus errichteten Apollontempel und die daran angebrachten bildlichen Darstellungen (Aen. 6,9–41). Man hat den Tempel als Metapher für Vergils Epos, die mahnende Sibylle als »das literarische Gewissen des Aeneisdichters« (Kofler) gelesen. 50 Treffen die in diesen Beispielen genannten Deutungen zu, so gab es genug Vorläufer, die die Tempelmetaphorik Valerius’ Lesern hinreichend verständlich werden lassen. Sieht man nun hinter der Jason-Gestalt eine Selbstreferenz auf den Dichter, so ist das Gebet auch eine verklausulierte Bitte um Beistand für das beginnende Epos. Wie läßt sich das Gebet also auf poetologischer Ebene entschlüsseln? Es fällt auf, daß Jason seine Rettungstat in einem finsteren, unterwelthaften Ton schildert. Gerade der Abschluß der Juno-Begegnung, als er die Göttin subita raptam formidine (1,86) von ihrem Gatten Jupiter zurückgefordert sieht, rückt ihn in Par45 46 47 48 49 50

Kofler (2003) 134. Vgl. Zissos (2008) 131 zu 1,88–90: »curious, given the singularity of the fleece«. Vgl. Lefèvre (1971) 20–5. Dasselbe Motiv findet sich auch in Stat. Theb. 2,728–38, vgl. Lefèvre (1971) 30 f. Vgl. Lefèvre (1971) 25–9. Deremetz (1995) 158–61 deutet den Tempel als Symbol für ein Epos in alexandrinischem Stil; Kofler (2003) 134 f. schließt sich der poetologischen Deutung an, ohne der Einengung auf bestimmte literarische Leitlinien zu folgen.

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allele zu Orpheus, als dieser der in den Orcus entrissenen Eurydike hinterherblickt. Bei Vergil betritt Eurydike in der Unterwelt einen schattigen, furchteinflößenden Hain, caligantem nigra formidine lucum (georg. 4,468). Eurydike wird von Hades zurückverlangt, Juno von Jupiter: te tonitru nutuque reposci / coniugis (1,85 f.). Der Gott der Unterwelt und der Gott des Äthers verbreiten jeweils ähnlichen Schrecken. Die Flußüberquerung fand nicht am Anauros statt, 51 sondern Valerius verlegt sie, ohne dafür Vorbilder zu haben oder Nachahmer zu finden, an den Enipeus. Ebendort ereilte aber Eurydike der Schlangenbiß (georg. 4,368). Eine auffällige Vergil-Reminiszenz ist schließlich der Halbvers nec credere quivi (1,84), der die Begegnung des Aeneas mit Dido in der Unterwelt zitiert (6,463). Unmittelbar haben beide Szenen nichts miteinander zu tun, 52 zumal Valerius die hochdramatische Vergilanspielung beiläufig und für die Handlung fast funktionslos einsetzt. Offenbar ging es ihm bei dem Zitat nicht darum, Jasons Argumentation zu stützen, sondern er wollte durch ein Schlüsselzitat auf einen bestimmten Kontext verweisen, eben jene Begegnung von Aeneas und Dido (Aen. 6,450– 76). Diese wiederum zeigt aber Parallelen zur Orpheus-und-Eurydike-Geschichte im Aristäus-Finale der Georgica. 53 Der Gang in die Unterwelt macht aus Aeneas einen zweiten Orpheus: »Enea come Orfeo«. 54 Jason geht in seinem Gebet auf seine damalige Hilfe für Juno nur anspielend ein; er setzt voraus, daß die Adressatin sofort Bescheid weiß. Dieses merkwürdig elliptische Aufgreifen hat zu unterschiedlichen Erklärungen geführt 55 und die Überlegung genährt, Valerius beziehe sich vielleicht auf eine verlorene Version der Sage. Der Grund dürfte aber ein anderer sein. Valerius kam es vor allem darauf an, eine Konnotation zu Orpheus herzustellen. Innerhalb des Epos hat Orpheus eine Doppelfunktion; er ist sowohl Sänger als auch Argonaut, er ist Dichter und Protagonist in einem. In dieser Doppelfunktion erscheint auch Jason. Der Argonaut macht sich gewissermaßen zum Sprachrohr des Dichters, so als wolle er sagen: ›Ich vermag beides, Heldenhaftes zu tun und Heldenhaftes zu besingen.‹ Vordergründig verlangt Jason im Gebet eine Gegenleistung von Juno; auf poetologischer Ebene empfiehlt er sich als einer, der dem Orpheus ebenbürtig ist. Mit da Scythiam Phasinque mihi (1,87) bittet er als Argonaut um erfolgreiche Überfahrt, als poeta um ein Thema. 51 52

53

54 55

So bei Apoll. Rhod. 3,67 und nach schol. Pind. Pyth. 4,133. Zissos (2008) 130 zu 84–6 sieht »no particular referential significance«. Gegebenenfalls könnte man jedoch einen versteckten Vorausverweis auf die Medea-Geschichte unterstellen. Bocciolini Palagi (1990) 144: »Nell’episodio dell’incontro di Enea e Didone nell’Ade la suggestione del mito di Orfeo ed Euridice è comunemente riconosciuta«. Zu Verbindungen des Aristäusepyllions mit der Creusa-Geschichte im zweiten Aeneis-Buch vgl. Kofler (2003) 97–100. Bocciolini Palagi (1990) 149: »i passi in cui il ›motivo di Orfeo‹ emerge con maggiore evidenza appartengono al II e al VI libro«. Vgl. Zissos (2008) 128 f. zu 81–6.

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Anfang ohne Ende

Das Leitzitat nec credere quivi (1,84) wird durch ein zweites am Ende des Gebets, als Pallas Athene angerufen wird, ergänzt: eripe me! (1,88). Auch dieses verweist auf die Katabasis des Aeneas, in diesem Fall auf die Begegnung mit Palinurus, der Aeneas um Bestattung bittet: eripe me his . . . malis . . . / . . . namque potes (Aen. 6,365 f.). Die Ergänzung his malis würde auch auf Jasons Situation passen, ist gleichsam mitzudenken, 56 und Palinurus, der Steuermann, ist eine stimmige Referenzfigur. Auf poetologischer Ebene gewinnt die Vergilparallele schärfere Konturen, wenn man sie mit der wortgleichen Stelle im Prooemium vergleicht. Der Dichter bittet Vespasian mit folgenden Worten um Inspiration: tuque o pelagi cui maior aperti / fama . . . eripe me populis et habenti nubila terrae, / namque potes (1,7–11). 57 Wie bei Vergil folgt auf eripe me die Begründung namque potes. In beiden Fällen wird den Angesprochenen – Aeneas bzw. Vespasian – eine göttliche Kraft zugesprochen. Die Wiederholung des eripe me in Jasons Gebet liest sich im Lichte der beiden Parallelen ebenfalls wie eine Inspirationsbitte. Pallas möge ihn zu dichterischen Höhen ›entreißen‹. 58 Wenn man diese poetologische Deutung akzeptiert, dann ist es wohl auch kein Zufall, daß an beiden Stellen die Inspirationsbitte in das Themenfeld ›Wasser‹ eingebettet ist, im Prooemium mit Bezug auf die Britannienexpedition des Jahres 43, im Gebet mit Bezug auf die mythische Flußüberquerung. Im ersten Fall wird damit wie auch mit der sich anschließenden Erwähnung der Eroberung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 ein Epenstoff bezeichnet, den Valerius ablehnt. Vor diesem Hintergrund könnte man erwägen, ob der tumidus Enipeus (1,83) sowie der regenpeitschende, Dunkelheit verbreitende Jupiter (turbidus atro / aethere caeruleum quateret cum Iuppiter imbrem, 1,81 f.) nicht auch eine poetologische Konnotation haben. Man könnte in diesem Kontext auf Kallimachos 59 verweisen und die Worte als Ablehnung einer bestimmten Epenform interpretieren. Jasons Worte hätten damit einen doppelten, nämlich ›poetologischen‹ Boden. Die Doppelfunktion von Held und Sänger ist ja ebenfalls bereits im Prooemium angelegt, nämlich in der Erwähnung Domitians, der als ›Ersatzmann‹ für das abgelehnte historische Epos ins Spiel gebracht wird. Sueton (Dom. 2,2) und Tacitus (hist. 4,86,2) berichten übereinstimmend von Domitians studium litterarum bzw. poeticae studium, unterstellen dem späteren Princeps dabei jedoch taktische Motive. Er habe von seiner ambitio ablenken wollen. Wie auch immer man Domitians künstlerischen Ehrgeiz bewertete, vielleicht hatte Valerius bei der Konzeption seiner Jason-Gestalt Domitians zwiefältige Natur vor Augen – sowohl,

56 57

58 59

Langen (1896) 31 zu 1,88 ergänzt »periculis« und paraphrasiert: »quasi serva me«. Text nach Liberman (1997), der die Versanfänge von V. 11 (sancte pater) und Vers 13 (namque potes) vertauscht. Vgl. oben Anm. 38. Die Formulierung namque potes ist eine Übersetzung der Gebetsformel d‘nasai gàr. Vgl. auch Hor. carm. 3,25,1: Quo me, Bacche, rapis . . . . Vgl. Kall. aet. 1, 20Pf.: brontên oŒk ‚mÏn, ÇllÄ DiÏc.

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was die Dichtung als auch was die Verstellungskunst anging. 60 Das heißt nicht, daß man Domitian mit Jason gleichsetzen dürfte, wohl aber, daß Jason einen charakteristischen Typus des flavischen Zeitalters verkörpert. Das erste Auftreten Jasons im Epos ist ebenso unorthodox wie dasjenige des Aeneas bei Vergil, 61 und damit ist es ebenso charakteristisch. Wir haben es mit einem Helden zu tun, der vor Tyrannen aus Berechnung schweigt, ihnen gegenüber sogar die Kommunikation verweigert, der sich aber gegenüber den Göttern als Held und Dichter zeigt – und mitunter sogar bereit ist, die Götter zu manipulieren. 62 Er nimmt den Auftrag des Pelias an, will ihn aber anders ausführen, als dieser intendierte. Damit wiederholt er die Recusatio des Dichters im Prooemium. Auch dieser hatte den Auftrag, ein Epos zu schreiben, angenommen, aber ein anderes Epos verfaßt, als Vespasian es vermutlich wollte. In seinem Gebet an Juno und Pallas bittet der Held um Beistand bei der Fahrt, der Dichter um Inspiration. Auch hier haben wir es mit einer Wiederholung eines Teils des Prooemiums zu tun. Der epische Held erweist sich zugleich als Deuter des Geschehens. Sein Kennzeichen ist eher Reflexion als Kommunikation. Jasons Umgang mit Tyrannen Diesen Befund gilt es im Folgenden anhand einer weiteren Schlüsselszene im Epos zu überprüfen. In Kolchis trifft Jason auf eine ähnliche Situation wie in Jolkos. Auch dort erwartet ihn ein Tyrann, der von einem Orakel vorgewarnt wurde und somit auf Gegenwehr eingestellt ist. Jason wird empfangen und hält vor Aeetes eine Rede, in der er sein Anliegen vorträgt. Es scheint sich zunächst um eine typische Begrüßungsszene zu handeln. Als jedoch Jason geendet hat, bleibt Aeetes’ Antwort vorerst aus. Vielmehr nimmt der Leser an den Gefühlsaufwallungen des Königs teil, an seinem Zorn, seinen Plänen und seiner Niedertracht. Zudem vermag der Herrscher sein Inneres nur unzureichend zu verbergen, denn seine Miene verrät, was er denkt (5,519–22): 63 520

520 60

61 62 63

Talibus orantem vultu gravis ille minaci iamdudum premit et furiis ignescit opertis. ceu tumet atque imo sub gurgite concipit austros unda silens, trahit ex alto sic barbarus iras. Ihn, der mit solchen Worten bittet, bringt jener mit drohender Miene schwer in Bedrängnis schon die ganze Zeit (während er spricht) und entflammt in offener Raserei.

Vielleicht hängt es mit derselben Doppelfunktion Jasons zusammen, daß der Sänger Orpheus bei Valerius im Vergleich zum griechischen Vorbild nur eine untergeordnete Rolle spielt. Kofler (2003) 132, Anm. 412 referiert die Bemerkung Sainte-Beuves, Aeneas debütiere beinahe mit einem Ohnmachtsanfall. Vgl. die Arbeit von Lefèvre (1991). Vgl. Anzinger (2007) 193–96.

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Anfang ohne Ende Wie wenn eine Woge anschwillt und aus dem untersten Strudel die Südwinde schweigend in sich aufnimmt, so holt der Barbar aus der Tiefe seinen Zorn herauf.

Die Antwort, die er schließlich gibt, ist reine Verstellung. Valerius streicht den Gegensatz zwischen Denken und Reden unmißverständlich heraus. Aeetes fordert Beistand im Krieg gegen seinen Bruder Perses. Jason stimmt zu; doch seine Antwort fällt angesichts der Forderung höchst merkwürdig aus. Sie ist nämlich weniger an Aeetes gerichtet, als vielmehr ad se ipsum oder vielleicht an die eigenen Gefährten. Er klagt, daß den Mühen der Seefahrt nun auch noch diejenigen des Krieges obenauf gebürdet werden (5,542–46):

545

545

›ergo nec hic nostris derat labor arduus actis‹ excipit Aesonides ›et ceu nihil aequore passis additus iste dies? veniant super haec quoque fato bella meo? non hunc parva mihi caede dolorem quasque dedit luet ille moras.‹ »Also fehlte auch hier nicht unseren Taten die schwere Mühsal und wurde uns, als ob wir auf der Wasserfläche nichts erduldet hätten, dieser Tag hinzugegeben? Sollen auch noch diese Kriege obendrein zu meinem Schicksal hinzukommen? Nicht mit geringem Blutzoll wird mir jener diesen Schmerz und die Verzögerungen, die er verursachte, büßen!«

Auch hier haben wir es nicht mit einer echten Gesprächssituation zu tun, sondern die Kommunikation wird im Grunde nach Aeetes’ Antwort abgebrochen. Stattdessen blickt der Erzähler in seine Figuren hinein, gibt ihre Erwägungen in deliberativen Fragen wieder. Es spricht manches dafür, daß Jason hier eben gar nicht mehr zu Aeetes spricht; daß der Erzähler seine Antwort einfach unterschlagen hat, da sie nichts zur Sache tut. Wie im Falle von Jasons Reaktion auf Pelias, läßt sich auch an diesem Beispiel das Wiederaufgreifen einer dichterischen Inspirationsbitte sehen. In 5,217– 25 beginnt Valerius den zweiten Teil des Epos und nimmt genau das vorweg, was Jason an der zitierten Stelle erkennen muß. Wieder haben wir es mit einer poetologischen Überformung zu tun: Der Beginn der Handlung des zweiten Teils, weist auf dessen ›Prooemium‹ zurück; abermals sind Held und Dichter übereinander geblendet. Jasons zweite Audienz bei Aeetes ist nachgerade das Gegenteil von Kommunikation: Als er nach Bestehen des Kampfes das Vlies einfordert, muß er einen Wutausbruch des kolchischen Herrschers über sich ergehen lassen (7,35–77). Seine Reaktion darauf wird gar nicht berichtet, wohl aber diejenige Medeas. Ihr bleibt es vorbehalten, angesichts des ungerechten Verhaltens ihre Fassungslosigkeit zu offenbaren. 64 Valerius überspringt auch hier Zwischenschritte und verdichtet dadurch das Geschehen, entgeht epischer Breite. 64

Anzinger (2007) 157.

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Doch dürfte hinter dem Scheitern der Kommunikation nicht nur das eigentümliche Kunstwollen des Dichters, sondern auch ein Zug der Zeit stehen – nämlich die Erkenntnis, daß man mit Tyrannen gar nicht reden kann bzw. daß eine solche Kommunikation höchst einseitig verläuft. Oder anders ausgedrückt: Die Reaktion auf einen tyrannischen Befehl hat nicht ein Argument zu sein, sondern eine mechane. Nicht der orator, sondern der interpres ist gefordert. Zeitbezüge Jason beweist erstaunliche Gewandtheit im Umgang mit Tyrannen. Pelias hatte sich bei seinem Befehl zur Argofahrt auf einen vermeintlichen, im Traum erteilten Befehl des Ahnen Phrixus berufen und dabei, folgt man dem Text, gut geschauspielert und sein Mienenspiel beherrscht (1,38 f.): tum iuvenem tranquilla tuens nec fronte timendus / occupat et fictis 65 dat vultum et pondera dictis, wobei, so die nachgeschobene Erläuterung des Dichters, am Befehlscharakter der Aufforderung kein Zweifel bestehen konnte: hortatur . . . propior . . . iubenti (1,58). Jason wußte die Worte jedoch richtig zu deuten und ließ sich auf das ›Spiel‹ ein. Verstellung gehört seit jeher ebenso zum Tyrannengeschäft wie das stillschweigende, wenn auch widerwillige Mitspielen der Untertanen. Daß dies hier so reibungslos funktioniert, verweist auf eine langjährige Praxis. Jason scheint nichts anderes erwartet zu haben. Bei Aeetes ist Jason zwar zunächst inscius astus (5,541), rechnet also nicht mit dem sich entfaltenden Ausmaß an Bösartigkeit, doch geht er auch hier auf die Bedingungen des Spiels ein. Statt Kommunikation herrscht ein gegenseitiges Sich-Belauern. In der Tat ist Pelias’ und Aeetes’ Vorgehen nicht besonders originell, sondern entstammt dem aus der römischen Geschichte bestens bekannten Repertoire monarchischer Herrschaft. Diese Tradition beeinflußt aber auch den Dichter. Wie sich der Held in einer Mischung aus Schweigen und obsequium mit den tyrannischen Aufträgen arrangiert, so gilt das offenbar auch für dessen Sänger. Die poetologischen Anspielungen zeigen, daß Valerius sich mitunter selbstreferentiell in Jason spiegelt. Das mythologische Epos gewinnt unter der Hand historische Züge. Diese Beobachtung läßt sich durch einen Ausblick auf Tacitus untermauern. Taciteisches Flair Es soll nun nicht behauptet werden, daß Tacitus, dessen literarisches Debüt mindestens acht Jahre nach dem Erscheinen der Argonautica liegt, Valerius zum Vorbild hatte oder wie auch immer ›benutzte‹. Vielmehr soll gezeigt werden, daß beide als Zeitgenossen der flavischen Epoche und Kenner des Prinzipats aus Erfahrung den Typus des Tyrannen und die Strategien, wie ihm zu begegnen sei, ähnlich ein-

65

Zum Text vgl. Liberman (1997) 147 z. St.

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schätzten – wobei diese zeittypischen Merkmale vor allem durch ihre Zeitlosigkeit ins Auge stechen. In ähnlicher Weise wie Pelias Phrixus als Gewährsmann anführt, läßt Tacitus den Tiberius eine testamentarische Verfügung des Augustus vorschützen, als er die Ermordung des Agrippa Postumus anordnete (Tac. ann. 1,6). Auch er beabsichtigte damit die Beseitigung eines möglicherweise gefährlichen Prätendenten. Wie Pelias praktizierte auch Tiberius die Verstellung, und zwar bereits bei seiner Amtseinführung. 66 Ihm schien es aber noch an der nötigen souplesse zu fehlen, denn er stürzte durch sein Betragen die Senatoren bisweilen in Ratlosigkeit, was zu tragikomischen Szenen führen konnte: nitenti, ut sensus suos penitus abderet, in incertum et ambiguum magis implicabantur. at patres, quibus unus metus si intellegere viderentur, in questus lacrimas vota effundi (ann. 1,11). Die Senatoren vor Tiberius wußten wohl, daß sie den Vorspiegelungen des neuen Prinzeps durch ihr Verhalten zu entsprechen hatten, sie wußten nur noch nicht genau wie. Sowohl ihnen wie dem Monarchen fehlte noch die Übung. Bei Valerius spiegelt sich dagegen eine seit Jahren eingefahrene Routine wider. Jason verkörpert einen Typus, der sich an dieses Biotop oder besser Tyrannotop angepaßt hat. Sein Schöpfer Valerius hatte eben unter Domitian gelebt. Über dessen Bildungsbemühungen weiß Sueton (Dom. 20) zu berichten: praeter commentarios et acta Tiberi Caesaris nihil lectitabat. »Perhaps he borrowed a few leaves from these pages«, 67 darf man mit McGuire ruhig unterstellen. Auch die Alternative zum Aufstand, welche Jason in seiner Erlebten Rede erwägt, nämlich Gottvertrauen, ist eine Reminiszenz an bessere Zeiten, kommt für ihn aber nicht ernsthaft in Betracht: an socia Iunone et Pallade fretus / armisona speret magis et freta iussa capessat? (1,73 f.). War im vergilischen Vorbild die Erlebte Rede Ausdruck des Erschreckens über Aeneas’ eigene Schicksalsvergessenheit, ist sie hier ein Schritt zur Emanzipation von menschlichen und göttlichen Autoritäten. Diente die Einsamkeit des Aeneas, die Tatsache, daß bei der Merkurepiphanie keine Zeugen anwesend waren, dem Schutz des Helden vor Entlarvung seiner Schwäche, ist Jasons Verschlossenheit inmitten der Gefährten Zeichen seiner Stärke und Autonomie. Sie gibt ihm die Freiheit der Entscheidung. In seinen Erlebten und secum-Reden tritt er uns nicht als ein Zweifelnder oder – wie Aeneas – erschüttert und beschämt entgegen, sondern als jemand, der die Lage genau zu analysieren versteht. Überhaupt redet Jason in den ersten beiden Büchern bis zur Cyzicus-Episode wenig. 68 Vor der Abfahrt spricht er lediglich ein Gebet an Juno und Pallas (1,81– 90) und ein Gebet an Neptun (1,194–203), überredet Acastus zur Mitfahrt (1,164– 73) und hält eine Art ›Feldherrnrede‹ an seine Mannen (1,241–51). Abgesehen von dem ersten Gebet, in dem gutes Gelingen erfleht und die Weihung des Vlieses gelobt wird, sind die drei anderen Äußerungen durch das bedeutsam, was in ihnen 66 67 68

Vgl. Koestermann (1963) 106 zu 11,2. McGuire (1997) 151. Vgl. Anzinger (2007) 172 f.

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verschwiegen wird. Die Überredung des Acastus verschleiert die wahren Absichten, das Neptun-Gebet hat geradezu erpresserische Züge, und die Feldherrnrede deutet das vorangegangene Mopsus-Orakel kühn in Jasons eigenem Sinn. Man könnte überspitzt formulieren: Jason schweigt bevorzugt; wenn er spricht, verschleiert er die Wahrheit. Silke Anzinger kommt in ihrer verdienstvollen Dissertation über das »Schweigen im Römischen Epos« zu Jason und den Argonauten zu dem Ergebnis, daß dem Rezipienten ein Charakter enthüllt wird, »der sich von der kreativen Naivität des griechischen Vorgängers wie von der schicksalsgelenkten Passivität des Aeneas durch Energie und bewußte Planung unterscheidet, ein Charakter, der wie Odysseus einiges für sich behält«. 69 Gerade daß Jason verschweigt, was eigentlich zutage liegt und ausgesprochen werden müßte, daß er sogar in Gebeten Tatsachen manipuliert, ist das Signet einer Generation, der Verstellung zur zweiten Natur geworden ist. Tacitus bemerkt am Beginn des Agricola, seine Generation sei unter Domitian per silentium ins hohe Alter gelangt (3,2) und nennt die Fähigkeit zum tacere den hervorstechenden Besitz seiner Zeitgenossen (2,3) und bereits derjenigen unter Nero (6,3). Jason lockt schließlich die Aussicht auf Ruhm. Dieses Motiv hat man bisweilen gegenüber dem hohen Ethos, welches den Pflichtmenschen Aeneas antreibt, abgewertet. Indes dürfte man zu einem günstigeren Urteil gelangen, wenn man den valerianischen Hymnus auf den Ruhm – tu sola animos mentemque peruris, Gloria (1,76 f.) im Lichte einer Aussage über den Schwiegervater des Tacitus liest. Dort heißt es, der junge Agricola habe durch beharrliche Disziplin bei der Verwaltung der Provinz Britannia Freude am Ruhm erlangt: intravit . . . animum militaris gloriae cupido, ingrata temporibus quibus sinistra erga eminentes interpretatio nec minus periculum ex magna fama quam ex mala (Agr. 5,3). Dieselbe Erfahrung hatte auch der mythische Jason bei Valerius durchzumachen. Man möchte Ruhm erlangen, muß sich aber hüten, das nach außen zu zeigen. Nach dem Erringen eines Sieges in Britannien berichtet Tacitus folgendes (Agr. 39,1): Hunc rerum cursum, quamquam nulla verborum iactantia epistulis Agricolae auctum, ut erat Domitiano moris, fronte laetus, pectore anxius excepit. Man könnte statt Domitian Pelias oder auch Aeetes einsetzen. Phineus, Lycus, Laomedon, Amycus ergänzen die Galerie finsterer Despoten, »perhaps suggesting the ultimate depravity of a Roman monarch«, wie McDonald 70 in Bezug auf letzteren vermutet. Man sieht: Was auf den ersten Blick als ein moralisches Durchlavieren erscheint und gegenüber dem Ethos der Aeneis abfällt, umreißt in Wahrheit die Bedingungen des Ruhms unter dem Prinzipat. Obsequium und virtus sind keine Gegensätze mehr, sondern es gilt: posse etiam sub malis principibus magnos viros esse (Agr. 42,4). Die Verschlossenheit des Helden ist die Reaktion auf die Verschlagenheit der Tyrannen.

69 70

Anzinger (2007) 231. McDonald (1971) 61.

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»Anfang ohne Ende«: Bei Valerius werden Gespräche begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Das valerianische Epos schildert das Gespräch nicht als einen Austausch von Argumenten, sondern verwendet Gesprächsauszüge zur Charakterisierung der Figuren. Es kommt nicht auf die epische Darstellung an, sondern auf die Typik des idealen und des tyrannischen Führers. Vielleicht ist der Niedergang des Gesprächs im Epos das Komplement zum Niedergang der Beredsamkeit auf dem Forum in Zeiten des Prinzipats.

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Claudia Klodt (Bochum)

Die Exordialtechnik der Redner in Statius’ Thebais Statim iugulum video, hunc premo. M. Aquilius Regulus (Plin. epist. 1,20,14)

Der erste Satz einer Rede packt das Problem bei den Hörnern und überrumpelt das Gegenüber: So macht es jedenfalls Cicero, der das prooemium dazu nutzte, die summa rei, den Kern der Sache, und zwar so, wie er ihn interpretierte, vorzutragen und dabei seine Zuhörer sofort in die gewünschte Richtung zu lenken. 1 Der Anfang ist kein beliebiger Vorspann, sondern ihn gewinnt der Redner aus der Mitte des Falls (ex ipsis visceribus); er trägt den Samen des Ganzen in sich, er nimmt im Ansatz den Dreh- und Angelpunkt des Falles vorweg und er legt den Zugang (aditus) zu den Herzen der Richter. 2 Zur so gewonnenen Aufnahmebereitschaft oder besser Lenkbarkeit (dociles facere) muß die Aufmerksamkeit der Richter treten (attentos facere): Der Redner erzielt sie am sichersten, wenn er sie dazu bringt, persönlich an der Sache Anteil zu nehmen. Er kaschiert also sein Bestreben, sie auf 1

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Vgl. Heinze (1925) 203: »Cicero hat es immer wieder als die Hauptaufgabe des Proömiums betrachtet, das, was er als den eigentlichen Kernpunkt des Prozesses ansah, gleich zu Beginn den Richtern mit größtem Nachdruck einzuprägen, und oft genug in striktem Gegensatz zu dem, was der Ankläger als das Wesentliche hingestellt hatte«. Das bekannteste Beispiel ist Pro Caelio, wo Cicero seine Prozeßstrategie, den wegen Terrorakten angeklagten Caelius als unschuldiges Opfer einer gekränkten Exgeliebten hinzustellen, im prooemium durch unbestimmte Andeutungen über den »Einfluß einer Dirne« vorbereitet und damit seine Hörer überrascht und neugierig macht (Cic. Cael. 1). Um aufmerksame und aufnahmebereite Zuhörer zu haben, soll der Redner mit dem Kernpunkt (summa causae / rei) beginnen: Cic. inv. 1,23, vgl. part. 29; rhet. Her. 1,7; Quint. inst. 4,1,34. Das Stärkste muß am Anfang stehen (Cic. de orat. 2,314), die ersten Sätze müssen treffen (§ 315), und was sie sagen, muß den Prozeßkern betreffen (ex ipsis [var. lect. ipsius] visceribus causae sumenda sunt § 318; ex intima defensione deprompta; penitus ex ea causa, quae tum agatur, effloruisse § 319; principium aut rei totius, quae agetur, significationem habere debebit aut aditum ad causam et communitionem § 320); weswegen vor deren Formulierung der ganze Gegenstand durchdacht werden und überblickt sein muß (idcirco tota causa pertemptata atque perspecta, locis omnibus inventis atque instructis considerandum est, quo principio sit utendum § 318); der Anfang legt die Gesamtstrategie fest (ut ipsis sententiis, quibus proluserint, vel pugnare possint § 325). Einleitung und Rede müssen organisch verbunden sein, alles andere ist ein Fehler (§ 325; inv. 1,26; rhet. Her. 1,11). Vgl. Prill (1986) 97; Loutsch (1994) 81–83; Cerutti (1996) 12– 15.

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Die Exordialtechnik der Redner in Statius’ Thebais

die eigene Seite zu ziehen, indem er ihnen klarmacht bzw. vorspiegelt, es ginge um ihr Eigeninteresse (tua res agitur). 3 Denn die Zuhörer gewinnt, wer »den Eindruck macht, was im Interesse derer liegt, vor denen man spricht«, zu vertreten (quod sit utile ipsis, apud quos agamus, defendere), und wer zeigen kann, daß »der Sache ein Vorteil innewohnt« (in ea re, quam defendas, esse utilitatem): Das ist das Erste und Wirksamste für die Erregung sämtlicher Affekte, die der Redner in den Hörern im Dienste der von ihm vertretenen Sache und Person aktivieren muß. 4 Nicht die Person des Mandanten oder des Gegners steht im Vordergrund, sondern die des Richters (und zwar umso mehr, je problematischer der Fall liegt und 3

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Um die Aufmerksamkeit zu gewinnen, muß man den Hörern gleich zu Anfang zu verstehen geben, daß ihre eigenen Belange auf dem Spiel stünden: attentos . . . faciemus, si demonstrabimus ea, quae dicturi sumus, . . . ad eos, qui audient, . . . pertinere (Cic. inv. 1,23, vgl. rhet. Her. 1,7 de rebus, quae . . . pertineant . . . ad eos ipsos, qui audient); proponemus . . . coniuncta cum ipsis, apud quos res agitur (Cic. part. 30); praecipue tamen, si iudex . . . sua vice . . . commovetur (Quint. inst. 4,1,33). Einer der vier Ausgangspunkte zur conciliatio von benevolentia ist immer die persona iudicum / auditorum (rhet. Her. 1,8; Cic. inv. 1,22; apud quos agetur de orat. 2,321; Quint. inst. 4,1,6). Vgl. Loutsch (1994) 38–41; Cerutti (1996) 14. Das eindrücklichste Beispiel für die tua res agitur-Taktik ist das prooemium der actio prima in Verrem, da Cicero den Prozeß als Chance der Richter interpretiert, die damals anstehende Ausdehnung der Gerichtsbarkeit auf den Ritterstand zu vermeiden, wenn sie durch eine Verurteilung ihres Standesgenossen jeglichen Vorwurf der Bestechlichkeit und Standesjustiz ausräumten (Verr. I 1–3; vgl. Neumeister [1964] 42–43). Cic. de orat. 2,206–207 (Übers. Merklin [2 1981]) sentimus amorem conciliari, si id iure videamur, quod sit utile ipsis, apud quos agamus, defendere; enitendum est, ut ostendas in ea re, quam defendas, aut dignitatem esse aut utilitatem (nicht speziell zum prooemium, aber grundsätzlich zur conciliato iudicis animi. Es spricht Antonius). Der Mandant muß so aufgebaut werden, daß er »für die Richter wertvoll und nützlich« ist (pro eis, qui illis boni atque utiles sint, muß der Redner zu streiten scheinen, § 206) und daß er niemals den eigenen, sondern stets den Vorteil anderer verfolgt hat (§ 207; 210), während dem, gegen den der Redner Haß schüren will, möglichst eine »Tat, die für die Zuhörer selbst schädlich oder nutzlos ist«, anzulasten ist (nam si, quod ipsis, qui audiunt, perniciosum aut inutile sit, id factum augeas, odium creatur § 208); dies wirkt stärker, als wenn man ihm nur Unrecht gegen andere Bürger oder den Staat vorwirft. Auch Furcht ist weit größer, bezieht sie sich auf eine persönliche Gefahr (item timor incutitur aut ex ipsorum periculis aut ex communibus; interior est ille proprius § 209). Umgekehrt funktioniert es genauso (ibid.); viel läßt sich erreichen, indem man Hoffnung auf eigene Vorteile weckt (plusque proficit, si proponitur spes utilitatis futurae § 206). Mitleid schließlich fühlt der am meisten, der dazu gebracht wird, sich mit dem Verteidigten zu identifizieren (misericordia movetur, si is, qui audit, adduci potest, ut illa, quae de altero deplorentur, ad suas res revocet, quas aut tulerit acerbas aut timeat, ut intuens alium crebro ad se ipsum revertatur § 211). Auch Quintilian empfiehlt, am Eigeninteresse der Richter anzusetzen und dazu ihre Emotionen zu aktivieren (iudex . . . sua vice . . . commovetur, cuius animus spe, metu, admonitione, precibus, vanitate denique, si id profuturum credemus, agitandus est inst. 4,1,33).

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je größer die Machtbefugnis des Richtenden ist). 5 Auf seine Wahrnehmung ist die Charakterzeichnung (Ethopoiie) aller anderen Prozeßbeteiligten auszurichten, in Blickrichtung auf ihn ist der locus a personis im prooemium zu gestalten. 6 Die Einstellung der Richter, »was sie denken, meinen, glauben, erwarten, wünschen, wohin sie am leichtesten zu lenken sind«, das muß der Redner vorweg genauestens »erspüren«. 7 Diejenigen Züge in der Person der Richter, die für die eigene Sache günstig sind, kann der Redner herausgreifen und durch Lob verstärken. Denn die Entscheidung der Richter läßt sich lenken, indem »wir zwischen dem Lob, das wir spenden, und der Nützlichkeit für unsere Sache eine Verbindung herstellen«, d. h. wenn das Lob das im konkreten Fall gewünschte Verhalten – z. B. Strenge oder Milde, Unparteilichkeit oder Standesrücksicht – vorwegnimmt und voraussetzt. Dabei muß zwischen der Person des zu Vertretenden und der des Richters eine Gemeinsamkeit geschaffen werden, z. B. hinsichtlich des Status (»indem wir zugunsten von Hochgestellten auf den ihm selbst eigenen Rang verweisen«). 8 So 5

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Rhet. Her. 1,8 und Cic. inv. 1,22 haben zum locus ab auditorum persona nur einen kurzen Satz zu sagen, Cic. de orat. 2,186 bezieht sich nur auf Fälle, wo der Richter eine negative Grundeinstellung mitbringt oder der Fall schwierig liegt. Der zur Zeit der Alleinherrschaft schreibende Quintilian hingegen widmet der Person des Richters sieben Paragraphen (inst. 4,1,16–22) und geht darin auf das Problem eines Richters in eigener Sache und das der Furcht vor dem Richter ein. Bezeichnenderweise stammen die Hauptbeispiele aus Ciceros Praxis aus der Diktatur Caesars und Quasidiktatur des consul sine collega Pompeius (s.u. Anm. 8). Vgl. Neumeister (1964) 32–34 (»Die Notwendigkeit der Anpassung an den Hörer«): Das aptum beachten heißt eigentlich: die Hörer beachten. Die personae des Mandanten und seiner Gegner, die des Anklägers und Verteidigers, aus denen nach den antiken Regeln im prooemium Pluspunkte für die eigene Seite gewonnen werden sollen (rhet. Her. 1,8; Cic. inv. 1,22; Prill [1986]; Loutsch [1994] 31–40; 503–538; Cerutti [1996] 12–15 und passim), sind einzig in der Hinsicht von Bedeutung, insofern sie auf die Haltung des Richters Einfluß haben. Nur aus der Sicht auf ihn und sein Vorverständnis gelten auch die Einteilungen der Fälle in genus honestum, turpe, dubium, humile (rhet. Her. 1,5; Cic. inv. 1,20–21). Der Redner geht vor wie ein Arzt, der vor der Therapie eine Diagnose vornimmt; sic equidem . . . omni mente in ea cogitatione curaque versor, ut odorer, quam sagacissime possim, quid sentiant, quid existiment, quid expectent, quid velint, quo deduci oratione facillime posse videantur (Cic. de orat. 2,186). Ein kluger Redner paßt sich seinen Zuhörern an, vgl. auch Cic. orat. 24 und 123 (in Hinblick auf den Redestil): omnes enim, qui probari volunt, voluntatem eorum, qui audiunt, intuentur ad eamque et ad eorum arbitrium et nutum totos se fingunt et accommodant (§ 24); haec enim sapientia maxime adhibenda eloquenti est, ut sit temporum personarumque moderator. nam nec semper nec apud omnes nec contra omnes nec pro omnibus eodem modo dicendum arbitror (§ 123). Iudicem conciliabimus nobis non tantum laudando eum, . . . , sed si laudem eius ad utilitatem causae nostrae coniunxerimus, ut adlegemus pro honestis dignitatem illi suam, pro humilibus iustitiam, pro infelicibus misericordiam, pro laesis severitatem, et similiter cetera, »Den Richter werden wir nicht nur für uns gewinnen, wenn wir ihn loben,

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steht auch die dritte Aufgabe des prooemium, die captatio benevolentiae, bereits im Dienst der persuasio. Vor dem Hintergrund dieser Redetheorie für das exordium, die teils aus den antiken Rhetoriken, teils aus der modernen Analyse von Ciceros Redepraxis gewonnen wurde, möchte ich nun einige Figurenreden aus der Thebais des Statius auf ihre Anfänge und darin speziell auf die Anreden der angesprochenen Person hin untersuchen. Gegenstand sind solche Reden, durch die der Sprecher vom Angesprochenen etwas erreichen möchte, deren Ziel also in der Beeinflussung (persuasio) dieser Person besteht (also keine Klagen, Monologe u. ä.). 9 In den ausgewählten Fällen dreht es sich jeweils um eine Entscheidung für oder gegen den Einsatz von Waffengewalt. Zum einen ist nach der Anwendung der oben skizzierten Redetaktik für das prooemium – dociles, attentos, benevolos facere im Sinne von: Interpretation des Kernpunkts in Hinblick auf das Beweisziel, Appell an das Eigeninteresse der Zielperson, Ehrerbietung mit Bezug auf die erhoffte Entscheidung – in den Figurenreden zu fragen. Zum anderen sind die Redeanfänge daraufhin zu untersuchen, wie die Rede selbst und ihre Umstände (wer spricht zuerst, an

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(. . . ), sondern wenn wir zwischen dem Lob, das wir spenden, und der Nützlichkeit für unsere Sache eine Verbindung herstellen, indem wir zugunsten von Hochgestellten auf den ihm selbst eigenen Rang, zugunsten von Leuten aus dem Volk auf seine Gerechtigkeit, zugunsten von Unglücklichen auf sein Mitleid, zugunsten von Menschen, denen Unrecht angetan wurde, auf seine Strenge verweisen, und so auch in den übrigen Fällen« (Quint. inst. 4,1,16; Übers. Rahn [2 1988] außer für laesis, vgl. Loutsch [1994] 39 mit Anm. 93: »victime«). Cicero etwa rühmt die Unparteilichkeit des Diktators Caesar, Richter in eigener Sache über Deiotaros, dem ein Attentatsversuch angelastet wurde, oder auch die Rechtlichkeit des Pompeius, der im Miloprozeß das Forum mit Truppen besetzt hatte (Deiot. 5; Mil. 1–2; vgl. Loutsch [1994] 419–422; 533; Cerutti [1996] 145–146). Hier ergeben sich die engsten Parallelen zum statianischen Epos, zum einen, weil dieses die Zustände unter der Herrschaft eines Einzelnen spiegelt, zum anderen, weil auch beim Adressaten der Figurenreden die Rollen des Anklägers und des Richters zusammenfallen. Die Rhetoriken aus der republikanischen Zeit (Stellen o. Anm. 5) empfehlen nur generell, die Richter – ohne übertriebene Schmeichelei – an ihre zuvor gezeigte Beherztheit, Einsicht oder Milde zu erinnern, die gute Meinung (existimatio) über sie zu erwähnen und von der Erwartung, die an sie herangetragen wird (expectatio iudicii), zu sprechen. Zur konkreten Umsetzung der expectatio iudicii und der verwandten obiurgatio iudicis etwa in den caesarischen Reden, Verrinen, den Reden für Sex. Roscius, Cluentius und Milo vgl. Loutsch (1994) 531–537. In der Sprechakttheorie John Austins wären dies Direktiven. Dominiks formale Klassifizierungen in seiner einschlägigen Monographie (1994) sind hier nicht hilfreich, insofern auch z.B. eine Frage, eine Klage, ein Lob und anderes den Zweck, ein Anliegen durchzusetzen, erfüllen können. Gebete berücksichtige ich nicht (vgl. Dickey [2002] 22; die Worte des Amphiaraus an Pluto in der Unterwelt sind ein Plädoyer und kein Gebet: unrichtig Dominik [1994] 118). Für die Definition, was eine Rede im Epos formal konstituiert, halte ich mich an Highets (1972) (15–25) und Dominiks (1994) (6–23) Festlegungen. Das Material meiner Untersuchung konnten nur Reden von einiger Länge sein, da sonst kein Anfang abtrennbar wäre.

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wen wird zuerst das Wort gerichtet, werden andere Anwesende miteinbezogen?) zur Figurenzeichnung 10 eingesetzt werden. Auf vier wesentliche Unterschiede zwischen einer forensischen oder politischen Rede und einer Figurenrede im Epos ist vorab hinzuweisen. Sie betreffen erstens den Umfang, zweitens den Adressaten, drittens den Ort und viertens den Zweck. Erstens: Ein Sprecher in der Thebais hat für eine Rede durchschnittlich 13,4 Verse zur Verfügung, 11 Cicero etwa doppelt so viele Oxfordseiten. Ersterer muß also viel dichter formulieren. Das betrifft auch die Anfänge. Zweitens: Die typische Situation, daß der Redner zu einem (persönlich i. d. R. neutralen und indifferenten) Entscheidungsgremium spricht, das über eine Person oder Sache befindet, ist im Epos selten: Figuren wenden sich direkt aneinander. Die Emotionalität zwischen diesen unmittelbar Betroffenen ist höher. Statusgefälle, Geschlechterverhältnis, Verwandtschaft, persönliche Beziehung spielen nun eine Rolle. Damit hat die Anrede einen eigenen Stellenwert und besitzt eine bedeutende Variationsbreite im Gegensatz zu den unterschiedslos an iudices, patres conscripti oder Quirites gerichteten öffentlichen Reden. Drittens: Der Vortragsort einer öffentlichen Rede ist verhältnismäßig 12 indifferent. Im Epos hingegen ist das Umfeld wesentlich; mit dem Standort des Sprechers oder seinem Sichtfeld wird operiert. Viertens: Die selbständige öffentliche Rede will von ihrem Anliegen überzeugen und eine Entscheidung erwirken, die im Epos eingelegte Figurenrede soll die Handlung voranbringen und den Sprecher charakterisieren (hierzu verwendet der Dichter die zur Beeinflussung eines Entscheidungsgremiums entwickelte Affektenlehre), auch in der Hinsicht, wie er verbal mit anderen kommuniziert. Im Hinblick auf letzteres sind gerade Verletzungen der rhetorischen Norm oft ein probates Mittel. Die Figur spricht dann zwar schön (d. h. stilistisch gefeilt), aber nicht gut (d. h. nicht angemessen). Die ars oratoria ist demnach ein Hintergrund, aber kein Maßstab zur Bewertung von Reden im Epos.

I Antizipation Betrachten wir auf dieser Basis zunächst vier Anreden, mit denen Ermunterungen zu Krieg, Kampf und Heldentat eingeleitet werden. Sie folgen demselben formalen Schema: Zu einem Substantiv im Vokativ mit Attribut tritt ein erläuternder Relativsatz oder Einschub. In allen – das möchte ich zeigen – wird das Bezweckte in 10 11

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Hierzu einschlägig Frings (1991) und Helzle (1996) sowie Dominik (1994), 205–235. Zu den Charakteren in der Thebais s. auch Ten Kate (1955); Korneeva (2011). Dominik (1994) 6. Die längste Rede ist die Erzählung Hypsipyles (5,49–498 = 449 Verse), gefolgt von der Coroebus-Erzählung des Adrast (1,557–672 = 115 Verse) und der Vorstellung des thebanischen Heers durch Phorbas in der Teichoskopie (7,294–358, 363– 373 = 76 Verse). Die längste nicht-narrative bzw. nicht-deskriptive Figurenrede umfaßt 45 Verse (Plutos Anklage 8,34–79). Vgl. Dominik (1994) 277. Vgl. allerdings Römisch (1968); Pöschl (1975); Klodt (2014).

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der Anrede selbst vorweggenommen; der Anfang arbeitet auf das Ende hin. Bei allen ist eine scheinbar wenig spezifische, aussagearme Anredeform zielgerichtet zum Zweck konkreter Manipulation eingesetzt. I A Suggestion: Generische Formeln Ein Könner auf dem Gebiet der Rede ist der Thebanerkönig Eteocles. Mit blendender Rhetorik versucht er, seine schlechtere Sache zur besseren zu machen. Der bösere der Brüder, der durch seinen Vertragsbruch den Krieg primär verantwortet, muß ein fähiger Feldherr 13 und ein guter Redner sein, der seine Verbündeten und Truppen zu motivieren versteht. In seiner ersten Truppenansprache vor den versammelten Streitmächten in Buch 7, das thematisch um die Schuld am Kriegsausbruch kreist, konstruiert Eteocles einen ethischen Gegensatz zwischen den Bundesgenossen, die aus anderen Städten zu Thebens Schutz herbeigeeilt sind, und Polynices, der zum Angriff auf die eigene Heimat angerückt ist (7,381–386: hostis indigena). Hierzu muß er die Freiwilligkeit der Hilfeleistung an Theben und das Rechtsdenken der Verbündeten betonen: venere volentes erklärt er seinem in absentia angeredeten Bruder, aus freier Stücken seien die Bündnerheere hier; durch ihre Anwesenheit bezeugten sie ihm, dem nefandus und saevus (386; 388), Eteocles sitze zu Recht auf dem Thron (386–390). Diese Apostrophe des abwesenden Polynices am Ende der Rede zielt in Wirklichkeit natürlich auf die anwesenden Truppen und vereinnahmt diese für ein Ziel, das wie selbstverständlich zum gemeinsamen erklärt wird: die Verteidigung der etablierten Herrschaft gegen einen brutalen Aggressor. Damit deduziert Eteocles in einer Art petitio principii aus der Anwesenheit des Heers das, was er dem anwesenden Heer, das er zur Hilfe gerufen hat, 14 in Wirklichkeit erst dartun müßte, nämlich daß Recht und Moral auf seiner Seite sind. Der im Unrecht befindliche Eteocles setzt seine Rechtsposition voraus, statt sie darzulegen; anstatt an die Anwesenden das Wort zu richten, macht er sich zu ihrem Sprecher. Daß diese Taktik am Ende der Rede fruchten kann, bereiten der erste Satz und die Anrede vor. Nicht wolle er die Truppen anspornen, beginnt Eteocles, denn sie hätten ja aus eigenem Antrieb für die gerechte Sache das Panier ergriffen (377– 378): 13 14

Vgl. Kabsch (1968) 68–69 zu dieser Inkonsequenz der sonst negativ gezeichneten Eteoclesfigur. Theb. 7,233–236. Eteocles ruft, aber die Völker sind von Mars, also ihrer eigenen Kriegsbegier, motiviert bzw. durch die Gefahr der Nachbarschaft zum bedrängten Theben genötigt (7,234–239). Vgl. weiter Kabsch (1968) 71–74; 164; Dominik (1994) 144–145; 220 (»he [. . . ] maintains that his subjects and army support him [377 f], a claim that lacks any semblance of credibility«); Helzle (1996) 216–217. Zum Charakter des Eteocles, eines mit Verschlagenheit, Täuschung und Lügen hinterhältig und heuchlerisch agierenden Machtmenschen und eines egoistischen, einsamen und angstversehrten Tyrannen, vgl. Kabsch (1968) 67–74; Dominik (1994) 219–221.

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›non ego vos stimulare parem (nam liber in arma impetus, et meritas ultro iurastis in iras)‹,

noch könne oder müsse er ihnen Lohn in Aussicht stellen 15 (379–381); er spreche zu ihnen als Gleicher unter Gleichen (375–376, der Beginn der Rede): ›Magnanimi reges, quibus haud parere recusem, ductor et ipse, meas miles defendere Thebas, ...‹ »Hochgemute Könige, denen ich ohne Widerspruch Gehorsam leisten würde, als einfacher Soldat mein Theben zu verteidigen, obschon auch ich selbst ein Anführer bin, . . . «.

Die (aufgesetzte 16) Bescheidenheitsgeste 17 ist nicht bloß eine Verbeugung, sondern sie signalisiert sogleich: Wir haben alle dasselbe Ziel; Befehl, Zwang, Überzeugung sind unnötig. Die scheinbar unspezifische quasi-homerische Anrede (magnanimus entspricht dem formelhaften megàjumoc) ist tatsächlich wohlberechnet. Magnanimus, »kühn« und »tapfer«, 18 also kampfeswillig, geht auf die Freiwilligkeit. »Könige« – nicht ohne Grund wendet sich Eteocles an die Anführer und nicht an das Gesamtheer! – betont den Rang, erinnert die Angesprochenen aber auch an ihre Status- und Interessensgemeinschaft mit dem Sprecher, den sie, als reges den rex, tunlichst gegen einen Usurpator unterstützen sollten. 19 Dies nämlich steht als Fazit am Schluß der Rede, von Eteocles den Verbündeten selbst in den Mund gelegt (387–390): 15

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Die Übertragung der Dankesschuld auf die jeweiligen Gefolgschaften und auf die Götter in der zweiten Parenthese 380–381, ›referent superi vestraeque subacto / hoste manus‹, setzt affirmativ ein Interesse der Völker und die Sanktionierung durch die Götter voraus. Vgl. Dominik (1994) 144: »The stance of humility is scarcely credible in a figure like Eteocles, whose refusal to step down from the throne in violation of the agreement with his brother has precipitated the war in the first instance«. Eteocles gibt sich als ein besserer Agamemnon. Die Versicherung, sich den angeredeten Heerführern gern unterordnen zu wollen, ist ein Gemeinplatz in cohortationes: Smolenaars (1995) zu Stat. Theb. 7,375 f. »Magnanime, -i: (. . . ) Term of praise for military heroes and those who can plausibly be flattered as such (. . . ) Stat. Theb. 7,375« (Dickey [2002] 339). Zum Bedeutungsspektrum und zur Entwicklung des Worts in Rom vgl. weiter Knoche (1935). Es beinhaltet vor allem fortitudo, daneben – hier nicht relevant – liberalitas und patientia, »Großmut«, »Hochherzigkeit«. In der Thebais kommt magnanimus 18 Mal vor (Deferrari/ Eagan [1966] s.v.; Smolenaars [1994] zu 7,375), oft im Sinne von fortis (z.B. 3,349; 10,662, s.u.). 5,653 wird die non ignava pietas des magnanimus Lycurgus, der zur Rache an Hypsipyle schreiten will, der rein passiven Trauer der Eurydike um beider Sohn entgegengesetzt. In Verbindung mit reges verwendet Statius das Wort noch Theb. 2,733 und silv. 5,3,10, mit duces Theb. 3,55, mit parentes »Ahnen« Theb. 6,268. Zur Verwendung für Einzelpersonen vgl. Anm. 24. Das homerische Pendant bedeutet »mit großer Energie, kraftgeladen«: vgl. Nordheider (2004). Im Augenblick ist Eteocles’ Herrschaft gefährdet (meas Thebas 376), potentiell aber könnte es jeden der reges treffen.

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›venere volentes Aoniae populi, nec sum tibi, saeve, relictus. quid velit ista cohors et te sentire decebat: reddere regna vetant.‹ »Aus eigenem Antrieb sind Böotiens Völker hier. Und ich stehe hier nicht alleingelassen gegen dich, du Ungeheuer. Was dieses Heer hier will und wie auch du hättest urteilen müssen, ist dies: Es erklärt die Rückgabe der Herrschaft für unzulässig«.

Es geht also um die Wahrung der Herrschaft als solcher. Sie wird nicht gerechtfertigt (vielmehr wird nur des Gegners Angriff auf die eigene Heimat verurteilt), sondern ihre Rechtmäßigkeit wird aus der Präsenz der Verteidiger abgeleitet. Nun erst kommt die Masse der Heerscharen (Aoniae populi, cohors) in den Blick, damit deren optische Dominanz ihre argumentative Kraft entfalten kann (cerne, ubicumque . . . 386 »Sieh her, wo auch immer du stehst«; der Redner bzw. Dichter bringt den Ort ins Spiel). Die bloße Präsenz des Heeres aber erhält mithilfe von juristischem Vokabular (velle, sentire, vetare) die Stelle eines politischen Beschlusses oder eines Gesetzes. Eteocles unterstellt so, daß die militärischen Verbündeten ihn auch moralisch unterstützen. (Auch Cicero wendet diese Taktik der Interpretation des Verhaltens stummer Anwesender im Parteisinn an: Das bekannteste Beispiel ist cum tacent, clamant aus der ersten Catilinarie. 20 In derselben Weise hatte Eteocles bereits gegen die Rückgabeforderung des Gesandten Tydeus die ablehnende Haltung der anwesenden patres, die er diesen unterstellt, argumentativ eingesetzt.) 21

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Cic. Catil. 1,20–21 Egredere ex urbe, Catilina! . . . ecquid animadvertis horum silentium? patiuntur, tacent. quid expectas auctoritatem loquentium, quorum voluntatem tacitorum perspicis? . . . de te, autem, Catilina, cum quiescunt, probant, cum patiuntur, decernunt, cum tacent, clamant; 1,1 nihilne te . . . horum ora voltusque moverunt? 1,16; vgl. 4,1. Vgl. hierzu Pöschl (1975) 215–220; Römisch (1968) 48. Die Spannung der Zuhörer beim Miloprozeß deutet Cicero in Sympathie für Milo um (Mil. 3 nec eorum quisquam quos undique intuentis, unde aliqua fori pars aspici potest, et huius exitum iudici exspectantis videtis, non cum virtuti Milonis favet); bezeugtermaßen waren sie aber gegen Milo eingenommen (Asc. Mil. arg. xxv,21–23; 25–xxvi,1; 7 Clark ed. Cic. or. II eratque maxima pars multitudinis infensa non solum Miloni sed etiam propter invisum patrocinium Ciceroni. . . . Plancus . . . in Ciceronem quoque multitudinem instigavit. . . . populi a se alienatione: vgl. Pöschl (1975) 219. Eteocles interpretiert den Gesichtsausdruck der Ältesten in seinem Sinne: ›non parcit populis regnum breve; respice quantus / horror et attoniti nostro in discrimine cives. / hosne ego, quis certa est sub te duce poena, relinquam? / iratus, germane, venis. fac velle: nec ipsi, / si modo notus amor meritique est gratia, patres / reddere regna sinent‹ (2,446–451). Auch hier unterstellt Eteocles den Anwesenden, hier den patres, eine bestimmte Haltung (respice) und dahinterstehende Einstellung (Furcht vor Repressalien durch den neuen König als Vergeltung für die Parteinahme für den alten) und resultierende Beauftragung (kein Tolerieren eines Führungswechsels durch Volk und Rat), die alle keine Bestätigung durch den auktorialen Bericht erfahren (im Gegenteil hatte die Einschätzung der Lage durch einen ungenannten Thebaner 1,171–196 sogar Polynices

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Was die Rede bei den angeredeten Fürsten voraussetzt, enthüllt sie über Eteocles: Es geht ihm von Anfang bis Ende nur um die Macht. Was mit dem vorgeblichen Gehorsam (haud parere recusem) des ductor gegenüber anderen reges beginnt, endet mit der Weigerung der Herrschaftsübergabe (regna reddere), 22 die Nichtverweigerung am Anfang (haud recusem) führt zu einer als Zwang verkleideten Weigerung (vetant) am Ende. Die scheinbar bloß formelhafte Titulierung magnanimi reges, die den Auftakt bildet, steht dabei bereits im Dienst der suggestiven Zielgruppenlenkung. Wie Quintilian fordert, 23 ist das Lob der ›Richter‹ mit dem Nutzen für die eigene Seite verbunden, indem deren Rang zum Vorteil eines Ranghohen eingesetzt ist: Die respektvolle Anrede appelliert an die Solidarität mit dem Standesgenossen. Dies kann funktionieren, weil die Zielgruppe, auf die die Taktik zugeschnitten ist, passend ausgewählt wurde: Eteocles richtet seine Ansprache an die Anführer, nicht an das Heer. Aus dem Blickwinkel der Figur ist diese Entscheidung ein Bestandteil ihrer Redetaktik, in der Sicht auf die Figur ein Mittel der Zeichnung des hochmütigen, egozentrischen Königs. Ein zweites Mal finden wir ein generisches Substantiv plus magnanimus planvoll als Anrede eingesetzt in einer hortatio an einen individuellen Kämpfer. In Buch 10 begibt sich Virtus in der Gestalt Mantos zu Menoeceus, der mit der Verteidigung der Stadt beschäftigt ist. Sie will von ihm erreichen, daß er sich gemäß des Götterspruchs für die Rettung Thebens selbst opfert. Ihre Rede verherrlicht euphemistisch den Selbstmord, den sie fordert, als Chance für überdimensionalen Ruhm und erklärt ihn zum unbezweifelbaren Willen der Schicksalsmächte und einhelligen Wunsch des Volkes (664–670). Sie schließt mit einer Warnung, sich den verheißenen Platz unter den Sternen (664–665) nicht von Haemon, dem Bruder, wegschnappen zu lassen (671). Ihre zunächst ganz konventionell-formelhaft erscheinende Anrede an Menoeceus legt den formbaren jungen Mann bereits mit den ersten Worten auf ein bestimmtes Verhaltensmuster fest (662–664): ›Magnanime o iuvenis, quo non agnoverit ullum certius armifero Cadmi de semine Mavors, linque humiles pugnas, non haec tibi debita virtus.‹ »Hochgemuter Jüngling – kein anderer wird für Mars zweifelsfreier von der Kriegersaat des Cadmus abstammen –, laß die unbedeutenden Kämpfe, nicht diese Art von Tapferkeit gebührt dir«.

Das facettenreiche Heldenepitheton magnanimus zielt hier auf die Bestimmung zu Höherem und die Begierde nach dem Ruhm des Tapferen. Es steht antithetisch

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leicht bevorzugt: Frings [1991] 36–37; vgl. auch 2,481). Eteocles stilisiert sich als Ausführender eines imperativen Mandats. Zu den analogen lautlichen Figuren vgl. Helzle (1996) 216. Regnum reddere zieht sich leitmotivisch durch die Reden des Eteocles und an ihn. ›Nec . . . patres / reddere regna sinent‹ (ebenfalls am Redeschluß) behauptet er Tydeus gegenüber, der ihm entgegnet: ›reddes . . . / reddes‹ (2,449–53). Vom Volk heißt es: ›reddere regna iubent‹ (10,583): Smolenaars (1994) zu 7,390. Vgl. o. Anm. 8. Honesti in Gegensatz zu humiles meint Leute von Stand.

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zu humiles, (»hoch«/»adlig« – »niedrig«/»gewöhnlich«). Es nimmt die Charakterisierung der Figur durch den Autor an früherer Stelle auf. 24 Der Zusatz (662b– 663), der ein Patronymikon vertritt, scheint die Erfüllung der heldischen Norm zu preisen, daß der Sproß den Vorfahren Ehre macht und nicht aus der Art schlägt. 25 Doch das Lob enthält 26 eine versteckte Drohung, daß Menoeceus die Anerkennung des Stammvaters durch Fehlverhalten riskieren würde und an einen anderen verlieren könnte, 27 und damit eine Mahnung, seine Abstammung unter Beweis zu stellen – wie es Menoeceus selbst von seinen jungen Kameraden verlangt hatte 28 (8,600–603): ›Pudeat, Cadmea iuventus, terrigenas mentita patres! quo tenditis,‹ inquit ›degeneres? meliusne iacet pro sanguine nostro hospes Atys?‹ »Schämt euch, ihr Krieger des Cadmus! Erdentsproßte Väter habt ihr euch erlogen! Wohin flieht ihr, aus der Art Geschlagene?« rief er. »Soll besser Atys, ein Fremder, für unser Blut sterben?«

In der Anrede zeigen sich der Adelsstolz und die diesbezügliche Empfindlichkeit des Spartensprößlings und ebenso eine Art von Rangstreitigkeit mit dem künftigen Cousin Atys. Auch zum Bruder wird ein Konkurrenzverhältnis aufgebaut. (Anders als bei Euripides fällt Haemon nicht als der Ältere und als Verlobter Antigones grund24

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8,357, da Menoeceus bereits am Dirce-Tor steht, wo ihn Virtus finden wird, heißt es: culmina magnanimus stipat Dircaea Menoeceus. Creon wird später klagen: ›O nisi magnanimae nimius te laudis inisset / ardor‹ und Rache an den Argivern ›per superos magnumque Menoecea‹ schwören (12,72–73 und 103, Anfang und Ende seiner Rede). Magnanimus heißen außer Menoeceus noch Maeon (3,82), der ebenfalls sich tapfer das Leben nimmt, die verwegenen Recken Tydeus (4,112; 6,827) und Capaneus (9,547; 11,1 mit Ganiban [2007] 147–148), der starke Theseus (12,795) sowie Domitian (12,814); außerdem die Thebaner Pholus (2,564) und Aepytus (10,399). Vgl. Dewar (1991) 161 zu 9,547. Positiv: Telemach – Odysseus – Laertes Od. 24,505–514. Negativ: Agamemnon zu Tydeus Il. 4,70 ff. Es enthält ferner für den Leser die Identifizierung des Menoeceus mit der Person, die das Orakel meint. Tiresias hatte verkündet: ›Martius inferias et saeva efflagitat anguis / sacra: cadat generis quicumque novissimus exstat‹ (10,612–613) »Die Schlange des Mars fordert eine Totenspende und ein grausames Opfer: Fallen soll der jüngste lebende Sproß des Geschlechts, wer immer es sei«. Darauf paßt der iuvenis, dessen SpartenAbstammung außer Zweifel steht. Zum Mythos vgl. Williams (1972) 104 zu 10,612. Agnoverit, von Williams (1972) 111 zu 10,662 als Potentialis (Konj. Perf.) aufgefaßt, ist eher Futur II: Nach erbrachter Leistung wird Mars den Sproß erkannt haben. Menoeceus kontrastiert den mangelnden Einsatz der Thebaner mit dem des jungen Atys aus Cirrha (8,556), dem Verlobten seiner Cousine Ismene. Die Abstammung aus dem Spartenadel ist Menoeceus sehr wichtig (vgl. auch in der Rede der Mutter 10,804–809): Heinrich (1999) 177–178.

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sätzlich aus.) 29 In den Katalogen der Thebais steht Menoeceus mit einer bezeichnenden Ausnahme immer vor Haemon; 30 in der Einleitung zum Auftritt der Virtus läßt Statius die Brüder Seite an Seite kämpfen, aber Menoeceus, den er auch mit einer Apostrophe auszeichnet, hat ein Prä (10,650–655): sed neque te indecorem sacris dignumque iuberi talia Dircaea stantem pro turre, Menoeceu, invenit; inmensae reserato limine portae sternebas Danaos, pariter Mavortius Haemon. sed consanguinei quamvis atque omnia fratres, tu prior. Doch dich fand sie als nicht unwürdiges Opfer und tauglich für eine solche Weisung, Menoeceus, da du vor dem Wehrturm standest; beim gewaltigen Stadttor, das entriegelt offenstand, hiebst du die Danaer nieder, und in gleicher Weise der Marssproß Haemon. Aber obwohl ihr aus demselben Blut wart und in allem Brüder, warst du doch vorn.

Virtus trifft auf eine Prädisposition bei Menoeceus, und die nutzt sie aus (671): ›i, precor, accelera, ne proximus occupet Haemon!‹ »Geh, bitte, und mach schnell, damit hinter dir Haemon nicht plötzlich dir zuvorkommt und deinen Platz einnimmt!« 31

treibt sie mit ihren letzten Worten Menoeceus an: Vom anderen »Marssproß« droht Gefahr! Im weiteren Verlauf bestätigt sich Menoeceus’ Charakter: Er wird den Bruder mit einer Lüge vor dem Vater herabsetzen (Menoeceus erfindet eine Verwundung Haemons, um den Vater loszuwerden, der sich seiner Heldentat in den Weg zu stellen droht 32); er wird seinem Opfertod eine lange Rede vorausschicken (sein 29 30

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Vgl. Eurip. Phoin. 944–946; Ganiban (2007) 140. Der Dichter läßt Menoeceus der Reihenfolge nach vor Haemon rangieren im Katalog (7,250–252) und bei der Kriegseröffnung (7,641–644); Menoeceus und Haemon stehen dort jeweils am Versende und bilden Anfangs- bzw. Endpunkt der Aufzählung; Menoeceus ist jeweils der erste genannte Thebaner. Er führt den Katalog der ›kleinen Helden‹ im Flußkampf an (9,267). Bei der Verteilung der Tore bildet magnanimus Menoeceus den Schlußpunkt (8,357; Haemon, hier vor Menoeceus, 354), da das Dirce-Tor auch den Ausgangspunkt seiner Heldentat markieren wird (10,651). Haemon darf in einer Aristie gegen Tydeus (8,456–535) und noch einmal kurz gegen Theseus (12,747–751) antreten. Er überlebt als einziger Krieger aus dem thebanischen Königsgeschlecht (die Lanzen des Tydeus bzw. Theseus verfehlen ihn). Creon hatte Eteocles sarkastisch vorgeschlagen, Haemon das Duell gegen Polynices bestreiten zu lassen (11,290). Mavortius nennt ihn Statius schon in der Androktasie 7,644. Hier treffen die beiden Bedeutungen von occupare, »überraschen«, »überrumpeln« und »sich bemächtigen«, »in Beschlag nehmen«, zusammen. Er erfindet also eine Schwäche des angeblich tödlich getroffenen Bruders. Bei Euripides täuscht Menoikeus den Vater, er wolle sich noch von seiner Ziehmutter Jocaste verabschieden (Phoin. 986–988). Vgl. Ganiban (2007) 141.

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euripideisches Vorbild tötet sich wortlos 33); und von Jupiter wird er nicht Thebens Rettung, sondern »für sich selbst den höchsten Platz unter den Sternen fordern«, summis apicem sibi poscit in astris (782). 34 Die Göttin Virtus, der Statius die Züge einer Furie gegeben hat, 35 reizt Menoeceus zu einer selbstzerstörerischen Tat, die Theben im Endeffekt gar nichts, den Eltern aber unendliches Leid bringen wird. 36 Als Personifikation wird sie in ver33

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Eurip. Phoin. 1090–1092 (Botenbericht). Die Worte des Menoikeus an den Chor, in denen er seine Lüge rechtfertigt und den Sinn seiner Tat erklärt (991–1018), sind notwendig, um zu verhindern, daß die Frauen Kreon seine wahre Absicht verraten. – Eine weitere Vorlage war die devotio des P. Decius Mus. Doch Menoeceus’ Tat ist weder swthr–a noch pietas: Ganiban (2007) 138. Auch der Gehorsam des Menoeceus, ›sequimur, divum quaecumque vocasti, / nec tarde paremus‹ 10,680–81, der sich an dem des Aeneas gegenüber Merkur orientiert (›sequimur te, sancte deorum, / quisquis es, imperioque iterum paremus ovantes‹ Verg. Aen. 4,576–577: Ganiban [2007] 139), macht aus dem Thebaner keinen pius Aeneas, sondern einen, der, wie Aeneas, Leid bringt über die, die ihn lieben. Vgl. Ganiban (2007) 142. Menoeceus fordert ein, was Virtus versprochen hatte (›astra vocant, caeloque animam, plus concipe, mittes‹ 665) und wofür er den Göttern schon gedankt hatte (762–763). Verräterisch ist spiritus olim / ante Iovem et summis apicem sibi poscit in astris (781–782). Olim meint »schon längst«, während die Leiche noch aufgefangen wird (780–781). Zu ergänzen ist stetit o. ä., aber olim bezieht sich auch auf das zweite Prädikat poscit. Zur Ruhmredigkeit des Menoeceus aber vgl. o. Anm. 33. Euripides’ Menoikeus handelt aus jugendlich-naivem, aber echtem Idealismus ohne Gedanken an Ruhm: Müller-Goldingen (1985) 152–161, bes. 155; 161; Mastronarde (1994) 391– 392. Er fürchtet nur »die Schmach der Feigheit« (994; 999; 1004), keinen Konkurrenten (Wißmann [1997] 316–318). Schetter (1960) 102–103; Dominik (1994a) 52–53; Feeney (1991) 381–385, bes. 383; Fantham (1995) 3–5 (sie vergleicht Vergils Diren und Allecto); Ganiban (2007) 142– 144. In der Thebais ist virtus eine hochproblematische Tugend: Ripoll (1998) 318–348; 361–367. Virtus »überkommt« Menoeceus wie Allecto den Turnus erst mit Worten, dann durch physische Infiltration (Verg. Aen. 7,406 ff). Er ist fortan von furor getrieben: Schetter (1960) 12–13. Beide Gottheiten stacheln ihren Jüngling durch einen Rivalen auf. Nach dem Tod des Menoeceus tobt die Schlacht unvermindert weiter, und Capaneus ersteigt, den Menoeceus verhöhnend, die Mauer genau dort, wo dieser sich herabgestürzt hatte (10,845–847). Zwar wendet sich nach Capaneus’ Tod das Schlachtglück zugunsten der Thebaner (11,40–44), doch es kommt zum Zweikampf der Brüder. Erst nach diesem fliehen die nunmehr führerlosen Argiver (11,757–761): »Statius’ narrative presents Menoeceus’ devotio as entirely outside the causal chain resulting in Thebe’s defeat of the Argives« (Heinrich [1999] 190). Alsbald aber überzieht Theseus Theben unter seinem neuen Tyrannen Creon (11,648–664, bes. 660 incipit . . . datis abolere Menoecea regnis) mit Krieg (die Verzweiflung darüber in Theben 12,692–708, bes. 696 flentemque Menoecea cernit) und besiegt es: Ganiban (2007) 139. Mutter und Vater klagen bitterlich über den Verlust des Sohns (10,793–825, bes. 802–804 ›tu, saeve Menoeceu, / tu miseram ante onmes properasti extinguere matrem. / unde hic mortis amor?‹; 12,72–92 ›O nisi magnanimae nimius te laudis inisset / ardor . . . ‹), den Creon vom Selbstopfer abzubringen versucht hatte (10,690–718, bes. 711–712 ›haec pietas, hic verus honos; ibi gloria tantum / ventosumque decus titulique in morte latentes‹ mit Ripoll [1998] 219–221).

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gilisch-ovidischer Manier schließlich sich selbst physisch dem Jüngling ins Herz senken. 37 Doch ihre Rede ist erfolgreich, weil sie den Hebel am wunden Punkt ansetzt: nicht bei Vaterlandsliebe und Ehre, sondern – ganz nach der tua res agitur-Regel – bei der persönlichen Ruhmbegier und bei der Rivalität mit dem Bruder Haemon. Schon mit ihren ersten Worten, magnanime iuvenis, zielt Virtus auf den heldischen Ehrgeiz und auf das Konkurrenzdenken des jungen Sparten. I B Affirmation: Situationsbezogene Eulogie In den beiden bisher betrachteten Fällen ging die (per se stereotype) Anredeformel von einer (generisch oder individuell) grundsätzlich vorauszusetzenden, konstant vorhandenen Eigenschaft der Angeredeten aus. Kommen wir nun zu zwei Beispielen, wo die Anrede das konkrete Verhalten der Zielperson in einer bestimmten Situation aufnimmt, um durch das Lob dieser Tat der Person nahezulegen, dieses Verhalten erneut zu zeigen und sich so des Lobes würdig zu erweisen. Die cohortatio des Eteocles in Buch 10 richtet sich an die einfachen Soldaten. 38 Anders als in Buch 7 braucht er hier die Adressaten nur in dem, was sie ohnehin tun, zu bestätigen (rex firmat euntes 20) und so den Müden Kraft zu geben. Ansatzpunkt ist ihr Stolz auf den Erfolg – und ihre Habgier. 39 Auf Argiverseite sind vier der sieben Anführer gefallen, was den Thebanern Mut macht, so daß sie das Argiverlager mit einem eigenen Lager und Wachfeuern umgeben (so wie die Trojaner das Griechenlager am Ende des 8. Buches der Ilias), um einen Abzug der Feinde zu verhindern (11–20). Hierzu ermuntert sie der König (seine Mahnrede entspricht damit der des Hektor an die Trojaner): 40 Das Warten bis zum sicheren Sieg am kommenden Tag sei nur mehr kurz (21–23); die gefährlichen Griechenführer seien tot, nur noch die ungefährlichen übrig (24–32); nicht aus Angst vor 37 38

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672–673 sic ait, et magna cunctantis pectora dextra / permulsit tacite seseque in corde reliquit mit Schetter (1960) 13 Anm. 10. Die Rede richtet sich nicht an die zwei namentlich genannten Anführer der Aktion, Meges und Lycus (vgl. die folgende Anm.), sondern an alle Thebaner (Labdacidas 36); nur sie kann die Anrede »Sieger über die Griechen« meinen. Die in der Schlacht erfolgreicheren Thebaner wollen die dezimierten Argiver am Entkommen hindern und tun dies trotz ihrer großen Erschöpfung. Eteocles muß sie nur anfeuern: inde animus Tyriis, . . . ultro / hostilem servare fugam; . . . dux noctis opertae / sorte Meges ultroque Lycus. iamque ordine iusso / arma, dapes ignemque ferunt; rex firmat euntes 15–18 und sic ille truces hortatibus implet / Labdacidas, iuvat exhaustos iterare labores 35–36. Umgehend errichten sie den Feuerring um das Argiverlager (37–42). Ihr Interesse an Beute, das Eteocles (34) unterstellt, wird nur indirekt vom Autor bestätigt, nämlich durch den Vergleich mit dem hungrigen Wolfsrudel, das den Schafstall umstellt (42–48). Il. 8,497–541. ›Ite age et obsessis vigilem circumdate flammam‹ (33), »Auf denn und entzündet Wachfeuer rings um die Belagerten!« ist die Essenz der Eteocles-Rede. Juhnke (1972) 141–143 sieht auch einen Bezug zur Troerberatung Il. 18,239–313, da Hektor sich dem Rat des Polydamas widersetzt, sich aufgrund von Achills Wiedereintritt in den

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dem Feind müsse man wachen, sondern um die errungene Beute zu bewachen (in manibus merces 29; nulli ex hoste metus; praedam adservatis opesque / iam vestras 34–35). Der Sieg ist nach Eteocles also nur noch eine Frage der Zeit und ohne jede Mühe und Gefahr zu erringen (in der Unverschämtheit seiner Zuversicht geht Eteocles in puncto Hybris weit über sein homerisches Pendant hinaus). 41 Die Anrede gleich zu Anfang der cohortatio knüpft an den bisherigen Erfolg an und nimmt den noch ausstehenden bereits kühn vorweg (21–23): ›Victores Danaum – neque enim lux crastina longe nec, quae pro timidis intercessere, tenebrae semper erunt –, . . . ‹ »Griechenbesieger (denn bis zum morgigen Tag ist es nicht lange, noch dauert die Nacht ewig, deren Einbruch die Feiglinge vorerst gerettet hat), . . . «.

Die Anrede scheint zunächst einen schon erreichten Status zu meinen, die Fortsetzung aber macht klar, daß dieser erst erreicht werden muß. Die sich anschließende Parenthese bagatellisiert die Hürde, die zum Erreichen des Ziels noch zu überwinden ist. Lob und Ansporn sind in den ersten zwei Worten vereint. Verwandt ist die Taktik der Bittrede Euadnes an Theseus im 12. Buch. Den Helden packt Euadne bei seinem Kriegerstolz. Die Sprecherin der Witwen der gefallenen Argiver will den Athenerfürst, der soeben erst vom Amazonenfeldzug heimgekehrt ist, zu einer eiligen Strafexpedition gegen Creon bewegen: Die Leichen verwesen schon. Ihre kluge Bittrede, 42 in der sie Creon zum Monster und Athen zum Beschützer der Menschheit und Garanten der humanitas stilisiert sowie die Dringlichkeit des Eingreifens beschwört (546–586), hat zum Ziel, daß Theseus tatsächlich und umgehend aktiv wird; eine bloße Verurteilung Creons, der keine Taten folgten, würde den Frauen nichts nützen. Deshalb beginnt Euadne (und indem sie öffentlich das Wort nimmt, wagt sie sich als Frau über ihre Grenzen hinaus) 43 (546–547):

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Kampf in die Stadt zurückzuziehen, durch das Motiv der durch einen Gott vorzeitig heraufgeführten Nacht, die in den Reden eine Rolle spielt (Theb. 10,1–3 und 21–22; Il. 18,239–340 und 267–268). Vgl. Helzle (1996) 222. Er vergleicht Lucan. 7,745–746, wo Caesars Hybris in seiner Truppenansprache vor Pharsalus den Sieg und die Plünderung vorwegnimmt. Eteocles’ Verharmlosung und Herabsetzung der verbliebenen drei Führer entstellt die Wahrheit grob. Zum Aufbau vgl. Dominik (1994) 79–80. Zum Ansatzpunkt bei Theseus’ Einsatz für die Menschlichkeit vgl. Bessone (2011) 167–170. Ausa ante alias Capaneia coniunx 545. Ihre audacia verbindet sie wesensmäßig mit dem Gatten, der ebenfalls gern Grenzen übertritt – die zwischen Mensch und Gott. Das Adjektiv Capaneia (statt des Genitivs) weist auf diese Wesensähnlichkeit; vgl. Pollmann (2004) 121–122; 220. Wie in den Hiketiden des Euripides, wo sie sich auf der Bühne tötet, agiert sie auch in der Thebais in einer Sonderrolle jenseits der Geschlechternormen, indem sie, was Frauen eigentlich verwehrt ist, in der Öffentlichkeit das Wort ergreift und

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›Belliger Aegide, subitae cui maxima laudis semina de nostris aperit Fortuna ruinis, ...‹ »Kriegerischer Sohn des Aigeus, dem Fortuna aus unserem Sturz gewaltige Möglichkeiten, unverhofften Ruhm zu gewinnen, eröffnet, . . . «.

Gemäß der tua res agitur-Regel, dem Angeredeten, möglichst gleich zu Anfang, den eigenen Vorteil vor Augen zu stellen, lockt sie Theseus mit der Aussicht auf persönlichen Prestigezuwachs, den sie als erstes anführt, vor dem eigenen in der Folge geschilderten Unglück. Die Anrede an Theseus ist ungewöhnlich. Das gilt nicht für das Patronymikon, das hier wohl an die Menschennatur und Menschlichkeit des Helden appelliert (er ist eben nicht »vom Fels gezeugt und vom Meer geboren«); 44 wohl aber für das Adjektiv belliger. 45 Im Mythos ist Theseus der Bezwinger verschiedener Unholde und Monster, der Frauenräuber, der Überwinder der Unterwelt, der Kämpfer in der Saalschlacht mit den Kentauren, in manchen Sagenvarianten sogar ein Teilnehmer an der Kalydonischen Eberjagd und dem Argonautenzug, er ist auch der Schützer des Herakles und des Oidipus; aber er ist wesentlich Einzelkämpfer, nicht Feldherr und Kriegsheld. 46 Erst Statius macht den Amazonenzug zu einem regelrechten

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so politisch aktiv wird. Vgl. Seidensticker (1995) 156–157; Mendelsohn (2002) 161–170 (zu Aithra); 197–216 (zu Euadne); Kim On Chong-Gossard (2008) 213–227. Vgl. Pollmann (2004) 220: »hinting at Theseus’ noble but human (!) origin«. Im Mythos ist Theseus entweder Sohn des Aegeus (so noch Theb. 12,769) oder des Neptun: vgl. Theb. 12,588 Neptunius heros mit Pollmann (2004) 232; Theb. 12,665 und 730 Neptunius bzw. aequoreus Theseus. A geÿdhc ist Theseus schon Il. 1,265. – Die spätere Anrede ›inclute Theseu‹ (555) wirbt für das Engagement des Hochgestellten für andere Hochgestellte: die praeteritio ›mitto genus clarosque patres‹ (555) stellt den Adel der gefallenen Thebaner gleichwohl heraus (Pollmann [2004] 223). Ein bei Statius häufiges, sonst aber seltenes Wort. Es nimmt Adrasts Anrede des Theseus in Eurip. Hik. 113, kall–nike, auf (so Pollmann [2004] 220), gibt ihr aber eine neue Richtung; »sieggekrönt« ist rückwärts-, »kriegerisch« hingegen vorwärtsgewandt. Belliger bezeichnet in der Thebais ein aktives, initiatives Kriegführen (z.B. 7,383 in der Ansprache des Eteocles für einen Aggressor von außen, um Polynices die Kriegsschuld anzulasten) in pointiertem Gegensatz zu etwas Passivem wie einem Knaben (10,28) oder toten Kriegern (12,717). Ein attisches Analogon zu Herakles. Theseus befreit als Zivilisationsbringer die Welt von diversen Ungeheuern. Dazu zählen auch die Kentauren und die Amazonen, die die patriarchalische Ordnung bedrohen. Die Kämpfe gegen diese Halbmenschen bzw. Frauen sind keine regelrechten Kriege, sie erwachsen auch nicht aus politischen Ursachen (sondern jeweils aus einem Frauenraub). In der Kunst sind lange nur die Einzelabenteuer dargestellt (z.B. umlaufend auf attischen Schalen und auch in der römischen Wandmalerei; dort und auf den Sarkophagen eine Konzentration auf Ariadne und Hippolytos); erst die Monumentalkunst im 5. Jh. interpretierte den Kentauren- und Amazonenkampf propagandistisch als Sinnbild der Perserkriege (z.B. die Parthenonmetopen); doch ist auf diesen Kampfdarstellungen Theseus als Person nicht auszumachen (vgl. Steuding [1924]

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Feldzug. 47 Euadnes belliger geht scheinbar auf diesen gerade erfolgreich beendeten Amazonenkrieg, den Theseus mit einem Triumph feiert, tatsächlich aber auf den Krieg gegen Theben, zu dem sie Theseus motivieren und mobilisieren will. Belliger legt Theseus auf eine neue Rolle fest. Der euripideische Theseus hatte das Bittgesuch zunächst klar abgelehnt und erst den Vorstellungen seiner Mutter Aithra nachgegeben. 48 Euadne, die den Part sowohl des Bittstellers Adrast als auch der Ratgeberin Aithra aus den Hiketiden übernimmt, wendet die Warnung der Mutter, Theseus riskiere, als unkriegerisch und feige dazustehen, 49 ins Positive, wenn sie ihn mit »Krieger« anredet. Die Chance, Ruhm für Athen zu gewinnen, die Aithra anspricht, wird zur Chance für persönlichen Ruhm. 50 Euadne packt dabei den Stier, ganz in ciceronischer Weise, sofort bei den Hörnern. Denn sie kennt das zögerliche Verhalten des Theseus aus seiner literarischen Vergangenheit, wie die Bedenken der Argiverinnen vor dem Zug nach Athen beweisen: Würde das Volk von Athen ihrem Gesuch stattgeben? 51 Das bezweifelt eine von ihnen, Argia,

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717; 723; 748; Brommer [1982] 107–109; 116–118; Neils [1994] bes. 943–944; 950– 951). Theseus kämpft in seiner Jugend allein und mit seiner Körperkraft, in gereiftem Alter als »humanitarian ruler« (Neils [1994] 922) gegen die Bösen. Im Kämpferkollektiv erscheint er erst als Identifikationsfigur des demokratischen Athen (Mills [1997] 36– 37). Vgl. Herter (1973) 1151–1152. In der griechischen Sage resultiert der Kampf mit den Amazonen ursprünglich aus dem Raub ihrer Königin durch Theseus, später ist er ein Verteidigungskampf gegen eine Invasion Athens durch die Amazonen (Mills [1997] 30– 33). Statius aber läßt Theseus nach Thrakien ziehen (12,163–164; 519–528; 592–593; 579; 612 mit Pollmann [2004] 129; 213). Eurip. Hik. 334–345. Eurip. Hik. 314–319: »Man wird auch sagen: Furchtsam zogst du dich zurück, / obwohl du einen Ruhmeskranz für deine Stadt / gewinnen konntest, hast es mit der wilden Sau / zwar aufgenommen – leichte Mühe! –, aber jetzt, / da du auf Helme und auf Lanzenspitzen schauen / und kämpfen solltest, als Feigling dich erwiesen!« (Übers. Ebener [1979]). Die Mutter kann so sprechen, die Fremde nicht. Theseus macht sich Aithras Argumente in der Folge zu eigen (337–345); vgl. Wißmann (1997) 184–196; Mendelsohn (2002) 169; 172; Storey (2008) 39–41. Eurip. Hik. 314–323. Vgl. Ripoll (1998) 221–222. Aufschlußreich ist auch Euadnes Wunsch ›nec sacer invideat paribus Tirynthius actis‹ (584), der auf die mythologische Konkurrenz der beiden größten Einzelhelden der griechischen Sage geht, das Verhältnis jedoch umkehrt: Herakles war natürlich der größere und daher der von Theseus potentiell beneidete. ›Ambire . . . / his placet, Actaeae si quid clementia gentis / adnuat‹ (12,174–176). Ein flüchtiger Thebaner hatte ihnen zu diesem Schritt geraten: ›aut vos Cecropiam (prope namque et Thesea fama est / Thermodontiaco laetum remeare triumpho) / imploratis opem?‹ (163–165). Die langsame demokratische Entscheidungsfindung ist ein Kritikpunkt auch in Argias Rede (an bello proceres, an dexter haruspex / adnuat 211–212, s.u.). Er nimmt Theseus’ Beharren auf der Ratifizierung seines Beschlusses durch das Volk und seine Kritik an Adrasts Kriegserklärung trotz ungünstiger Sehersprüche auf (Eurip. Hik. 349–353; 229–232). Vgl. Pollmann (2004) 139–140. Der statianische The-

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besonders: Sie will den Beschluß des Theseus und seines Rats nicht abwarten 52 (12,209–212): ›Anne . . . expectem, quaenam sententia lenti Theseos, an bello proceres, an dexter haruspex annuat?‹ »Soll ich etwa warten, wie sich der zögerliche Theseus entschließt, ob der Adelsrat, ob ein wohlgesinnter Opferschauer den Krieg gutheißen?«

Euadnes belliger läßt Theseus gar keine Wahl. Im Schlußbild zeichnet sie ihn als Triumphator aus wiederholten Kriegen und als Feldherrn eines nie geschlagenen Athen (585–586): ›semper et in curru, semper te mater ovantem cernat, et invictae nil tale precentur Athenae.‹ »Immer möge dich auch die Mutter auf dem Triumphwagen, immer bei der Siegesfeier erblicken, und Athen, stets siegreich, möge nie bitten müssen wie wir«.

Anfang und Ende der Rede schließen sich so zum Kreis, und Theseus, der sich in seiner neuen Identität als Heerführer sonnen darf, wird so zur Hilfeleistung verpflichtet. Tatsächlich wird der Geschmeichelte umgehend zum Krieg gegen Creon schreiten: ohne jede Konsultation irgendeines Gremiums oder Priesters, in einer aus persönlicher Eitelkeit getroffenen Blitzentscheidung, indem er sich, wie in Euadnes Vorgabe, als Weltsittenwächter und als unbesiegter Kriegsheld in die Brust wirft. 53 Als echter, starker Mann, als der er sich ja beweisen will, würdigt Theseus die Bittstellerin selbst und die anderen Frauen, die ihn mit ihren Tränen

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seus entscheidet, wie ein römischer Kaiser, selbst, doch im Einklang mit seinem Volk (12,611–643): Kabsch (1968) 164. Zur statianischen Theseusgestalt vgl. Kabsch (1968) 161–165; Morton Braund (1996) 12–16 (ein ›guter Kaiser‹); Ripoll (1998) 176–178; 221–222; 425–451; 495–502; Pollmann (2004) 37–43; Heslin (2008) 120–128; Bessone (2011) 26–29; 128–199 (mit Forschungsüberblick 128–132). Züge eines Gewaltherrschers sehen hingegen z.B. Ahl (1986) 2894–2898; Dominik (1994) 223; Coffey (2009). Sein affektbestimmtes Handeln und seine mythische Vergangenheit problematisieren Hershkowitz (1994) 144–147; Hershkowitz (1998) 296–301; McNelis (2007) 160–177. Vgl. Reussner (1921) 32: »Hic poeta memor est Theseos Euripidi, qui a matre aegre commovetur ut supplicantibus adsit, cum Statius ipse mores eius ita converterit, ut minime lente se praebeat«; Pollmann (2004) 139–140. Generell zum Bewußtsein ihrer eigenen literarischen Vergangenheit, das statianische Figuren oftmals an den Tag legen, vgl. Feeney (1991) 343. Scham, Mitleid und Zorn motivieren ihn zu handeln (rubuit Neptunius heros / permotus lacrimis; iusta mox concitus ira 588–589, von Bessone [2011] 167–170 als Ausdruck von a d∏c und m®nic interpretiert), desgleichen Eitelkeit. Denn daß die Greuel überhaupt in Theben passieren konnten, erklärt er mit seiner Abwesenheit im Amazonenkrieg und Creons falscher Annahme, er sei dort besiegt worden (591–594); daß er nach diesem

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gerührt haben, keiner Erwiderung. 54 Sein Bescheid, der in der Entsendung des Boten Phegeus nach Theben mündet, richtet sich vielmehr an den abwesenden ›Herausforderer‹ Creon (593–596): ›victumne putasti Thesea, dire Creon? adsum, nec sanguine fessum crede sitit meritos etiamnum haec hasta cruores. nulla mora est.‹ »Hieltest du Theseus für besiegt, Creon, du Frevler? Hier bin ich, und, glaub mir, nicht müde vom Blutvergießen! Noch immer dürstet mein Speer nach schuldigem Blut! Es gibt kein Zögern!«

Die maskulin-martialische Sprache, mit der er seine neue Identität affirmiert, wäre für die Kommunikation mit Frauen ungeeignet. Wie Eteocles bedient er sich einer Apostrophe, um sich selbst vor den Anwesenden in ein bestimmtes Licht zu rükken.

Zwischenfazit I Vier Reden wurden nun auf den zielgerichteten Einsatz einer konventionellen Anrede hin untersucht. Es sind zwei cohortationes, eine hortatio und eine einer hortatio verwandte supplicatio, 55 anders gesagt Anfeuerungsreden eines männlichen Sprechers an ein Heer und zweier Frauen an je einen einzelnen Helden. Die Anrede besteht jeweils aus Substantiv mit Attribut im Vokativ, die ein Relativsatz bzw. Einschub erläutert. 56 Der Sprecher trifft auf unterschiedliche Voreinstellungen der

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Krieg zu erschöpft sein könnte für einen neuen, weist er entschieden zurück (594–595). Umgehend (nulla mora est 596) wird der Bote mit der Forderung entsandt, für Erholung bleibt keine Zeit (599–610), sofort (continuo 611) sammelt sich erneut das Heer. Statius’ Theseus handelt affektisch; Pollmann (2004) 232–233; Ganiban (2007) 223. Euadne hatte gewartet, bis Theseus die Frauen nach ihrem Begehr gefragt hatte, und hatte ihren Mut zusammennehmen müssen (543–545 atque ubi tardavit currus et ab axe superbo / explorat causas victor poscitque benigna / aure preces, ausa ante alias Capaneia coniunx). Bei Euripides spricht Theseus durchaus mit seiner Mutter Aithra (Hik. 98–109; 286–345: Anrede und auch Antwort), wenngleich beide eine politische Beratung durch eine Frau als nicht als selbstverständlich sehen (293–302, vgl. 40–41); s.o. Anm. 43. Dominik (1994) klassifiziert die beiden Heeresansprachen als cohortationes und die Reden der Virtus und der Euadne als »deliberative speeches« (vgl. den statistischen Anhang S. 275–304). Diese Form der Anrede – Substantiv mit Attribut durch Zusatz erweitert – praktizieren auch Adrast gegenüber Hypsipyle (4,753–754 ›Diva potens nemorum – nam te vultusque pudorque / mortali de stirpe negant –‹) und Amphiaraus gegenüber Pluto (8,91–93 ›o cunctis finitor maxime rerum, / at mihi, qui quondam causas elementaque noram, / et sator‹).

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Adressaten. Die Thebaner in Buch 10 brauchen nur in dem bestärkt zu werden, was sie bereits tun. Menoeceus muß in die Richtung gedrängt werden, in die er aufgrund seines Charakters tendiert. Theseus muß dazu gebracht werden, seine euripideische Bedenklichkeit fallen zu lassen und sich neu als Kriegsheld zu bewähren. Den Verbündeten in Buch 7 muß eingeredet werden, sie stünden moralisch auf der Seite des vertragsbrüchigen Eteocles (hier tut die Rede so, als sei eine positive Grundeinstellung vorhanden). Die Redetaktik aber ist jeweils ähnlich. Zweimal nimmt die Anrede ein noch ausstehendes, bezwecktes Verhalten vorweg, indem sie dieses mit einem bereits bewiesenen verknüpft (und durch das Lob möglicher Erschöpfung entgegenwirkt): Eteocles’ Victores Danaum und Euadnes Belliger Aegide. Und zweimal wird mittels des formelhaften epischen Epithetons magnanimus eine bestimmte innere Haltung vorausgesetzt und suggeriert: der Verteidigungswille der Alliierten gegen die Bedrohung der Königsmacht durch die verbündeten reges und die Tugendliebe und Ruhmbegier des jungen Menoeceus. Alle vier Reden appellieren gleich zu Anfang an das Eigeninteresse und den Stolz der Angeredeten. Eteocles stellt einem Kollektiv den eigenen Vorteil vor Augen (wobei er im ersten Fall eine Interessensgemeinschaft konstruiert), Virtus und Euadne packen ein Individuum bei seiner Eitelkeit.

II Perversion Die im ersten Teil betrachteten Reden instrumentalisierten eine ehrerbietige Anrede. Die Anreden der im zweiten Teil zu untersuchenden Reden unterlassen die Ehrerbietung, ja verkehren sie in ihr Gegenteil – obwohl sie den Angeredeten, der die Entscheidungshoheit besitzt, in ihrem Sinne zu beeinflussen suchen. Es geht um Frieden oder Krieg. Im einen Fall ist der Affront Kalkül, im anderen Unvermögen. II A Demaskieren: Verkehrung von Ehrerweisung in Beschämung Wie eine neutrale, unsentimentale Anrede mit stärkster emotionaler Wirkung eingesetzt werden kann, zeigt die Rede der Jocaste im Lager der Argiver vor Theben in Buch 7. Die alte Königin (erprobt als Schlichterin in vielen Tragödien) hat sich ins Lager der Feinde auf eine schwierige Mission begeben. 57 Das Argiverheer liegt 57

Mediatorin ist sie bei Stesichoros (Fragment Lille 76abc) hinsichtlich der Erbteilung zwischen den Brüdern, im sophokleischen Oidipus zwischen Oidipus und Kreon (631–710) und in den Phoinissen des Euripides und des Seneca zwischen Polyneikes und Eteokles (435–637 bzw. 387–664). In den zwei Phoinissen-Dramen spricht sie mit Eteokles und Polyneikes zugleich. Bei Euripides hat sie, da die Argiver vor Theben stehen, ein Treffen zu dritt im Palast arrangiert, sie kann zuerst mit Polyneikes alleine sprechen. Sie begegnet ihm mit dem Respekt einer Frau vor einem Mann und mit aller Liebe einer Mutter, umarmt den Langvermißten voller Wiedersehensglück. Bei Seneca wird sie von Anti-

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nach langer Vorbereitung und weitem Marsch angriffsbereit vor Theben, Jocaste aber will Polynices dazu bewegen, auf militärische Aktion zu verzichten und den Konflikt diplomatisch zu lösen. Als Mutter liebt sie den Sohn und ist zugleich tief von ihm enttäuscht und verletzt. Um dieses eigentlich hinderliche Dilemma im Sinne der Affektlenkung rhetorisch fruchtbar zu machen, läßt Statius sie, in umgekehrter Weise wie seinen Eteocles und ähnlich wie andere weibliche Figuren, 58 zum Mittel eines doppelten Adressaten greifen. Im ersten, längeren Teil ihrer Rede, der Polynices dazu bringen soll, mit ihr zu Verhandlungen nach Theben zu gehen, macht sie mit der Autorität einer Mutter dem Sohn heftige Vorwürfe, daß er die eigene Heimat und Familie mit Waffen anzugreifen imstande sei (497– 519a), wobei sie als Respektsperson Forderungen stellt (›si verba tamen monitusque tuorum, / dignaris . . . / genetrix iubeoque rogoque‹ 504–506). Im zweiten, kürzeren, worin sie das Argiverheer bittet, Polynices mit ihr gehen zu lassen (519b–527a), läßt sie ihre Mutterliebe durchscheinen, die sie als Garantie dafür, daß Polynices nichts geschehen werde, ins Feld führt (›si vobis hic parvo in tempore carus / – sitque precor –, quid me, oro, decet quidve ista, Pelasgi, / ubera?‹ 522–524). 59 Der implizite Adressat dieser zweiten Botschaft ist der mithörende Sohn, dem sie so mit der Strenge u n d mit der Güte einer Mutter begegnen kann.

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gone auf das Schlachtfeld geschickt, wo die Heere bereits Aufstellung bezogen haben, um das Schlimmste zu verhindern. Sie fordert von den Söhnen Respekt vor der Autorität und dem Leid einer Mutter, erreicht mit ihren egozentrischen Vorhaltungen aber überhaupt nichts, die Söhne begegnen ihr lieblos. Statius macht aus der einen Begegnung mit beiden Söhnen zwei mit je einem (mit Polynices im Argiverlager 7,470–539; mit Eteocles in Theben vor dem Bruderzweikampf 11,315–353, analog zum vergeblichen Versuch, die Brüder vom Zweikampf abzuhalten, bei Euripides Phoin. 1259–1282 und 1427–1459). Von Seneca übernimmt er die Verlagerung des Mediationsgesprächs aus der Stadt heraus, läßt seine Jocaste aber viel diplomatischer agieren. Vorbild des Treffens im Lager war auch die Begegnung Coriolans mit seiner empörten, seinen Liebesbekundungen schroff begegnenden Mutter Veturia im Lager der Volsker vor Rom (Liv. 2,40,1–12). Zur statianischen Jocaste vgl. Reussner (1921) 16–18; Soubiran (1969); Vessey (1971); Vessey (1973) 270–282; Smolenaars (1986); Smolenaars (1994) 213–217 und 410–413; Smolenaars (2008); Frings (1991) 106–135; Hershkowitz (1994) 130– 133; Ganiban (2007) 159–167; Augoustakis (2010) 62–68 (mit Literatur S. 62 Anm. 68); McAuley (2016) 321–344. Für Eteokles ist das Heer der erste und der Hauptadressat und der (abwesende) Polynices der Nebenadressat. Atalante (4,318–340), die den Sohn Parthenopaeus von der Teilnahme am Kriegszug abhalten will und zuletzt dem Heer vorwirft: ›vos autem hunc ire sinetis, / Arcades, o saxis nimirum et robore nati?‹ (339–340), hat es wie Jocaste gemacht. Euadne vergißt das Volk von Athen in ihrer Bittrede an Theseus ebenfalls nicht (12,562 ›ubi estis, Athenae?‹; 569–571 ›properate, verendi / Cecropidae; vos ista decet vindicta, priusquam / Emathii Thracesque dolent‹ usw.). Vgl. Frings (1991) 108; 112: die »befremdliche Distanz« in Jocastes Rede an Polynices steht »im Widerspruch« zu den in der Rede an die Argiver gezeigten »Gefühlen für den Sohn«.

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Die kluge Disposition der Rede kann hier nicht im Ganzen analysiert werden, 60 ich gehe nur auf die Anrede ein. Zwei Worte genügen Jocaste, dem Sohn, der mit einem fremden Heer seine Vaterstadt belagert, die Unerhörtheit seines Vorhabens, die Tiefe des ihr angetanen Leids und die Unhaltbarkeit seiner eigenen Position deutlich zu machen. Sie nennt ihn: rex Argive. Den Beglückten, der sie unter wiederholten »Mutter! Mutter!«-Gestammel stürmisch an seine Brust gerissen hat (matrem, / matrem iterat 494–495), stößt sie kalt zurück, 61 von dem Sohn, der sich ihr entfremdet hat, distanziert sie sich. Den Gefühlvollen nennt sie einen Heuchler, indem sie ihm die Worte quasi im Mund herumdreht (493–499, die Entsprechungen sind im Text markiert). 62 Sein Verhalten raptam lacrimis gaudentibus implet solaturque tenens, atque inter singula ›matrem, matrem‹ iterat, nunc ipsam urguens, nunc cara sororum pectora (493–496). Er reißt sie an sich, läßt Tränen der Freude auf sie fließen, tröstet, umarmt sie, kann nur einzelne Wörter hervorbringen und ruft dazwischen immer wieder »Mutter, Mutter!« und zieht bald sie, bald die lieben Schwestern stürmisch an seine Brust.

wird von Jocaste folgendermaßen interpretiert: ›quid molles lacrimas venerandaque nomina fingis, rex Argive, mihi? quid colla amplexibus ambis invisamque teris ferrato pectore matrem?‹ (497–499) »Was weinst du erlogene gefühlvolle Tränen und erweist mir heuchlerisch in deiner Anrede Respekt, Argiverfürst? Was legst du mir berechnend deine Arme um den Hals und zerkratzt mit deiner eisenbewehrten Brust die Mutter, die du haßt?«

Fremd steht Polynices vor Jocaste, rex statt natus – an keiner Stelle redet sie ihn als »Sohn« an. Dies ist besonders auffällig vor dem Hintergrund, daß sie sich selbst wiederholt emphatisch als »Mutter« bezeichnet und Polynices gegenüber

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Eine strukturelle und psychologische Analyse der Rede gibt Frings (1991) 108–115, eine stilistische Dominik (1994) 266, eine quellenanalytische Smolennaars (1994) 410–413. Im Gegensatz zur euripideischen Figur, die von Freude überwältigt den Sohn in die Arme schließt, seine Brust, seine Wangen und sein Haar an sich fühlen will (Phoin. 299–317; vgl. Müller-Goldingen [1985] 72–77; Frings [1991] 112). Statius’ Jocaste sieht und fühlt nur den harten Helm und Panzer des Polynices. Die Panzerung (sub galea 492; ferrato pectore 499) schafft einen motivischen Kontrast zu Jocastes mehrfach erwähnter entblößter Mutterbrust und ihrem Mutterleib (genas et bracchia planctu / nigra 475–476; pectore nudo 481; utero 485; viscera 522; ubera 524). Von ihrer Mutterliebe spricht sie Polynices gegenüber nur wie von einem Fehler (503–504; 514–515). Erst am Ende ihrer Rede und gegenüber den Argivern ›umarmt‹ sie als Mutter den Sohn: ›adnuite, aut natum complexa . . . / hic moriar‹ (526–527). Kontrastive Bezüge sind lacrimae, pectora, matrem, matrem / nomina und tenens / teris. Vgl. Frings (1991) 113: Jocastes Worte kennzeichnet »bittere Ironie«.

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dem Heer sehr wohl als »Sohn«. 63 Die normalerweise ehrende, hier aber distanzierende Anrede rex ist für den Sohn vernichtend. Dasselbe gilt für den adjektivischen Zusatz. Etnonymika sind normalerweise Höflichkeitsformeln (so wie Jocastes Anreden der anderen Argiverfürsten, Argolici proceres, Inachidae, Pelasgi), insbesondere im Singular (so wie Tydeus zu Parthenopaeus puer inclute bellis / Arcas). 64 Allerdings wird ein Ethnikon im Singular nie gegenüber einem Angehörigen eines eigenen Volks benutzt. 65 Aus dem Mund der Mitbürgerin klingt es verstörend, grenzt den Angeredeten aus dem Staatsverband aus. Jocastes bitterer Sarkasmus 66 rex Argive verurteilt Polynices’ Vorgehen als Hochverrat, trennt ihn von sich durch eine unüberwindliche Wand. II B Ignorieren: Fehlen und falsche Reihenfolge von Anreden Die Friedensadvokatin Jocaste zeigt sich als ausgezeichnete Diplomatin. Es bedarf übernatürlicher Mächte (nämlich der Furie Tisiphone), den Erfolg ihrer Worte zu vereiteln. 67 Ihr Gegenbild (und ihr Gegenspieler in der obigen Szene) ist der Kriegstreiber Tydeus. Im Kontrast zu ihr ist er ein sehr schlechter Redner. Als der Haudegen ohne rhetorische Ausbildung und diplomatische Erfahrung und bar

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›rogat impia belli / mater; in his aliquod ius execrabile castris / huic utero est‹ (483–485) ›hostem, / quem peperi; . . . natum / sub galea‹ (490–492); ›sua credite matri / viscera!‹ (521–522); ›quid . . . decet . . . ista . . . / ubera?‹ (523–524); ›natum complexa . . . moriar‹ (526–527) sagt sie zu den Argiverführern. Gegenüber Polynices nennt sie sich mater und genetrix, bekennt: ›peperi nefas‹ (499; 503; 506; 511; 514). Jocaste: 7,490; 520; 523. Tydeus: 8,743–744. Vgl. auch 4,610 (Teiresias zum Geist des Laios): ›Tyriae dux inclute Thebes‹. Dickey (2002) 206–208. Die Ausnahme ist Romane, was auch ein Römer zu einem Römer sagen kann. Als Beispiele solcher ehrerbietiger Anreden nennt Dickey Verg. Aen. 10,598 vir Troiane und Ov. met. 14,135 virgo Cumaea. Aus der Thebais wäre noch 1,430 iuvenis Thebane (Dichterapostrophe an Polynices) sowie in Bezug auf Götter 1,293; 2,735; 7,282 und 7,779 zu nennen. Vgl. Dickey (2002) 208: »The one apparent exception, Jocasta’s bitter address to her exiled son Polynices as rex Argive ›Argive king‹ (Stat. Theb. 7,498), seems from the use of the (literally inapplicable) title rex to be a sarcastic imitation of politeness and therefore to confirm rather than refute the theory that ethnic adjectives form polite addresses«. Schon durch die Benutzung eines geographischen Adjektivs im Singular an sich macht Jocaste deutlich: ›Du gehörst nicht zu meinem Volk‹. Polynices selbst aber versteht sich als Cadmeius heros (7,492, auktorial). Die Gegenrede des Tydeus läßt das von ihren Worten erweichte Griechenheer zwar wieder dem Krieg zuneigen (559–563), doch den Ausschlag gibt die Aktion der Furie, die bewirkt, daß zwei zahme Tiger wild werden und ins Lager der Griechen einbrechend drei Männer töten, was deren Kamerad rächt, den wiederum ein Thebaner zur Rache für die getöteten Tiger tötet; damit sind die Gespräche im Griechenlager gescheitert (564– 627).

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jeder Selbstbeherrschung in Buch 2 vor Eteocles tritt, um den Thron für seinen Freund Polynices zu fordern, ist der Mißerfolg vorprogrammiert (389–396): constitit in mediis (ramus manifestat olivae legatum) causasque viae nomenque rogatus edidit, utque rudis fandi pronusque calori semper erat, iustis miscens tamen aspera coepit: ›Si tibi plana fides et dicti cura maneret foederis, ad fratrem completo iustius anno legatos hinc ire fuit teque ordine certo fortunam exuere et laetum descendere regno.‹ Er trat in die Mitte (ein Olivenzweig wies ihn als Gesandten aus) und nannte, danach gefragt, den Grund seines Kommens und seinen Namen; und, 68 ungeübt in diplomatischer Rede und mit seiner steten Neigung zum Aufbrausen, begann er in einer Mischung von durchaus gerechtfertigten Punkten und Unverschämtheiten: »Wenn du ohne Falsch zu deinem Wort stündest und dir der beschworene Vertrag unverändert am Herzen läge, dann wäre es korrekter gewesen, daß, da das Jahr um ist, von hier Gesandte zu Deinem Bruder unterwegs wären und daß du gemäß der abgemachten Reihenfolge deinen Rang abträtest und ohne Murren die Herrschaft abgäbest«.

Tydeus fängt also mit Vorwürfen an und fährt dann fort mit Schadenfreude: Nun sei es an Eteocles, auf die Annehmlichkeiten des Königsstatus zu verzichten und ein Leben als Verbannter in Armut und Not zu fristen, wie zuvor der von ihm verspottete Polynices (397–399). Statt zu erwartender eigener Vorteile stellt Tydeus dem Angeredeten also die Nachteile vor Augen, die diesem aus dem geforderten Verhalten erwachsen würden – eine Umkehrung des tua res agitur-Prinzips und dementsprechend völlig kontraproduktiv. Tydeus, der Gesandte am Hof eines fremden Königs, ist auch keineswegs in der Position, dem Herrscher Thebens Vorschriften und Vorhaltungen zu machen (ganz anders als Jocaste gegenüber ihrem Sohn Polynices). Sein beleidigender Auftritt verletzt das aptum. Ohne jede Einleitung 69 beginnt er unmittelbar mit Vorwürfen (»Wenn Du nicht dein Wort gebro68

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Das »und« (utque) ist explikativ, wie coepit und V. 423 inciperes beweisen. Die Nennung des eigenen Namens beinhaltet die direkte Rede des Tydeus zwar nicht – der Leser soll sich unter edidit etwa vorstellen, daß Tydeus sagt: »Ich heiße Tydeus und komme aus Argos, um für meinen Schwager Polynices die Herrschaft über Theben zu fordern« –, wohl aber die causae viae. Nach einer Art ›Betreff‹ beginnt die eigentliche Rede mit Vers 394 (vgl. Frings [1991] 32). Immerhin wartet Tydeus hier noch ab, bis man ihn zu reden auffordert: vgl. Mulder (1954) 244 zu 2,389–409: »Tydeus primo civiliter agens«; ibid. zu 2,390: »rogatus: non ipse prorumpens«. Vgl. o. Anm. 68; Dominik (1994) 224: »he rudely dispenses with the customary ingratiatory references«. Tydeus kann auch nicht abwarten, bis der König zuende gesprochen hat (Dominik a. a. O.: »the Argive hero violently interrupts the regent’s speech to threaten him«): non ultra passus et orsa / iniecit mediis sermonibus obvia: ›reddes‹ / ingeminat, ›reddes‹ (451–453). Er bricht seine Erwiderung formlos ab, wobei er seine letzten Worte schon im Hinausrennen ruft (›haec praemia morum / ac sceleris, violente, feres! nos poscimus annum! / sed moror‹ haec audax etiamnum in limine retro / vociferans, iam

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chen hättest, müßte ich jetzt nicht hier sein«), gönnt dem König nicht einmal eine Anrede. (Genauso wird er sich später gegenüber König Lycurgus verhalten). 70 Das Fehlen einer dem Gegenüber Respekt erweisenden Titulierung demonstriert bereits zur Genüge das diplomatische Unvermögen des Tydeus. 71 Hier ist der Bock zum Gärtner gemacht, die Friedensmission in Theben ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die auktoriale Aussage des Statius über seine Figur, rudis fandi 72, flankiert von der Einschätzung des Eteocles, »Du tobst«, 73 bestätigt nichts so sehr wie deren Fauxpas im Elementaren, dem Weglassen der Höflichkeitsformel der Anrede: »Vor Wilden hättest du mit mehr Mäßigung und Respekt begonnen«, ›parcior eloquio et medii reverentia aequi / inciperes‹. 74

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tum impulsa per agmina praeceps, / evolat (465–469). Den Ölbaumzweig des Gesandten wirft Tydeus weg (478–479). Die Situation ist anders, da Gefahr im Verzug ist. Doch den König, dessen Identität Tydeus kennt (4,778; 5,39; 5,656–657), kann er unmöglich mit ›vesane, . . . / quisquis es‹ (5,663–664) anreden und dabei gleichzeitig der Sklavin des Lycurgus, Hypsipyle, ihre königliche Abstammung bestätigen (675–676), womit er Lycurgus obendrein ärgert, denn der hatte diese zur Unwahrheit erklärt (658–660). Vgl. Mulder (1954) 244 zu 2,389–409: »nulla honorifica appellatione praemissa«; 245 zu 2,393: »ira inflammatus appellationem omnem honorificam omittit legatus«; Vessey (1973) 143 »he plunges into his speech without any respectful term of address or any reference to Eteocles’ royal status«; Dominik (1994) 224: »He is entirely unmindful of Eteocles’ position in failing to address him in a respectful manner«. In seiner Erwiderung auf Eteocles’ Antwort nennt Tydeus ihn ironisch bone rex (2,460) beschimpft ihn violente (2,466). In seiner Herausforderung während der Schlacht redet er ihn wiederum ironisch an: ›Aoniae rex o iustissime gentis‹ (8,677). Tydeus hätte Eteocles als Bruder seines Schwagers anreden und so gleich zu Anfang das Konfliktpotential dämpfen können. 391. Zutreffend Frings (1991) 32 gegen Ahl (1986) 2873: Nicht im Rhetorisch-Formalen weist die Tydeusrede Mängel auf, sondern »Tydeus’ Ungeschicklichkeit liegt vielmehr in der provokanten Aggressivität, die erfolglos bleiben muß«. Zur Szene insgesamt vgl. Frings’ aufschlußreiche Analyse S. 29–38 sowie Ahl (1986) 2873–2876. Zum Charakter des Tydeus vgl. Ten Kate (1955) 83–86 (als Redner); Vessey (1973) 143–145; 149 (Tydeus’ Unbeherrschtheit im Kontrast zur Selbstkontrolle der schlauen Verstellungskünstler Eteocles und später Polynices); Dominik (1994) 84–85; 223–225. Schon Eurip. Hik. 901–908 führt Tydeus als Mann der Tat und nicht des Wortes vor (o÷k ‚n lÏgoic ™n lamprÏc 902, ähnlich 308; vgl. Hom. Il. 4,400). ›Torvus et illum / mente gerens (ceu saepta novus iam moenia laxet / fossor et hostiles inimicent classica turmas) / praefuris, in medios si comminus orsa tulisses / Bistonas aut refugo pallentes sole Gelonos, / parcior eloquio et medii reverentior aequi / inciperes. neque te furibundae crimine mentis / arguerim: mandata refers‹ 417–424. Wie im Krieg und wie bei unzivilisierten Völkern »tobt« der »wilde« Tydeus also. Rhetorisch viel geschickter ›entschuldigt‹ Eteocles das inakzeptable Verhalten des anderen, indem er es auf einen Dritten schiebt, und hält es ihm so vor. Gleichzeitig ärgert er Tydeus durch die Herabstufung unter Polynices. 422–423, die Worte des Eteocles, vgl. die vorige Anm.

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Auch der einleitende Konditionalsatz pervertiert die Usancen der rhetorischen Höflichkeit. Ciceros Reden beginnen oft mit einem si-Satz, um der Souveränität der richterlichen Entscheidung Respekt zu zollen (›Wenn jemand von euch, ihr Richter, der Meinung ist, daß . . . , dann hat er ganz recht‹; ›Wenn ihr euch verständlicherweise wundert, mich hier zu sehen, so laßt mich erklären: . . . ‹). 75 In dieser Weise beginnt in der Thebais der vorsichtige Amphiaraus seine Bittrede an den cholerischen Unterweltsherrscher Pluto 76 (8,90–91) ›Si licet et sanctis hic ora resolvere fas est manibus, o cunctis finitor maxime rerum,‹ »Wenn es gestattet ist und die Seelen heiliger Männer hier das Wort nehmen dürfen, o du für alle größter Beender des Seins, . . . «

und hat damit Erfolg, ebenso wie sein ovidischer Vorgänger Orpheus, der, bei Ovid ganz Rhetoriker, zu Pluto und Proserpina nach einer ähnlichen Verbeugung vor deren Allmacht beginnt 77 (Ov. met. 10,19–20): ›si licet et falsi positis ambagibus oris vera loqui sinitis: . . . ‹ »Wenn es gestattet ist und ihr erlaubt, daß ich ohne Umschweife und Trug die Wahrheit sage: . . . «.

Tydeus verpackt in den anfangstypischen si-Satz Unverschämtheiten, konstatiert Unaufrichtigkeit und Fehlverhalten beim Gegenüber, anstatt, wie es am Redebeginn üblich ist, die eigene Ehrlichkeit und lautere Absicht zu erklären. Er provoziert, anstatt zu vermitteln. Die Ungeschliffenheit und Übereiltheit des Tydeus manifestiert sich erneut bei der Rückkehr nach Argos in Buch 3. 78 Gerade tagen Adrast und seine Edlen; Tydeus brüllt schon von weitem in das Versammlungslokal: »Krieg! Krieg« (345– 350):

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Klodt (1992) 90–91 zu Cic. Rab. Post. 1 Si quis est, iudices (mit zehn ähnlichen Stellen): »Cicero beginnt seine Reden häufig mit si (. . . ). Nicht selten stellt er . . . im ersten Satz eine bestimmte, von anderen (den Richtern oder außenstehenden Personen) herangetragene Meinung an den Anfang (. . . ). Er vermeidet so, die Richter mit seiner eigenen Meinung zu überfahren, und erweckt der Form nach den Eindruck, auch und vor allem andere Auffassungen des Falles gelten zu lassen und die seinige nicht als die alleingültige vorauszusetzen, während er inhaltlich mit dem ersten Satz in Wirklichkeit bereits die Weichen für seine spezielle Interpretation stellt«. Frings (1991) 98 vergleicht Cic. S. Rosc. 127 si per vos, iudices, licitum erit (keine Anfangsstellung). Der Anfang (V. 17–18) enthält die Anrede: ›O positi sub terra numina mundi, / in quem recidimus, quicquid mortale creamur‹. Die Parallele sah Helm (1892) 65–67 und nach ihm Frings (1991) 98. Zu Ovids Redekünstler Orpheus vgl. z.B. Anderson (1982); Neumeister (1986); Von Albrecht (2000) 90–110. Vgl. zur Szene in Argos Frings (1991) 39.

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utque introgressus portas (et forte verendus concilio pater ipse duces cogebat Adrastus) improvisus adest, iam illinc a postibus aulae vociferans: ›arma, arma, viri, tuque optime Lernae ductor, magnanimum si quis tibi sanguis avorum, arma para!‹ Und, zum Stadttor herein (es traf sich, daß der ehrwürdige Vater Adrast selbst die Fürsten versammelt hatte), stand er auf einmal da, schon vom Palasttor her laut rufend: »Waffen, Waffen, ihr Männer, und du, großer Anführer von Argos, rüste, wenn in dir das Blut der kühnen Ahnen fließt, zum Krieg!«.

Tydeus hätte natürlich zuerst sein durch den Überfall der Fünfzig arg ramponiertes Äußeres in Ordnung bringen und saubere zivile Kleidung anlegen sowie geduldig und bescheiden um Zulassung zur Versammlung und formelle Redeerlaubnis bitten müssen. 79 Stattdessen schreit der impulsive Mann, wie schon beim Verlassen des thebanischen Hofs, im Laufen über den Platz, fällt dem König (wie schon dem Eteocles) ins Wort 80 und mit seinem Anliegen, Krieg (arma mit geminatio) 81, ohne jede Einleitung 82 ins Haus. Der König, dessen Würde Statius mit dem Zusatz verendus 83 unterstreicht, muß als erster angeredet werden; er darf auch nicht implizit mit der Drohung »Wenn du kein Feigling bist, deiner Ahnen unwert« unter Druck gesetzt werden. Der Haudegen aber wendet sich zunächst an die untergebenen Fürsten, die er in ihrer Eigenschaft als potentielle Krieger »Männer« (viri) 84 nennt, dann an Adrast, wobei er den vom Autor als friedlichen pater eingeführten Herrscher als »Heerführer« (ductor) der Argolis 85 und als »kühn« (magnanimus) tituliert.

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Ebenso hätte Tydeus auf dem Heimweg nicht unautorisiert bereits in den Städten für den Krieg werben dürfen (3,336–344). Dominik (1994) 224: »He can scarcely restrain himself as he bursts in upon the royal council and without even the customary formalities to urge war upon the city«. Zu seinem Verhalten in Theben s.o. Anm. 69. Die ganze Einlassung des Tydeus (348–365) ist durch diese Redefigur geprägt (3 × arma; bello – bello; nunc o nunc – nunc; dum – dum – dum: Snijder (1968), 155 zu 3,348. Sie zeigt seine Ungeduld und seine Penetranz. Vgl. Dominik (1994), 143: »In dispensing with the prooemium and proceeding immediately to the propositio and partitio, Tydeus shows his impetuous and violent nature«. Überliefert ist verendos und verendus. Snijder (1968) 154 zu 3,345 argumentiert für letzteres: »an epithet for Adrastus; cf. l. 681; 702«. Vgl. auch 1,538–539. »Viri can be applied to any group of men (. . . ), but it is particularly used to armies« Dickey (2002) 191; vgl. 292–293, wo als weitere typische Beispiele auch Theb. 2,535 und 620 angeführt sind. Pater ist ein Ehrentitel (vgl. pater Aeneas): Mulder (1954) 151–152 zu 1,199. Da der erfahrene Staatsmann Adrast das Ungestüm des auf sofortigen Krieg drängenden Tydeus dämpft, heißt er wiederum pater (3,387). Ductor ist militärischer als rex: Mulder (1954) 111 zu 1,133 »ductor notione militari adhibetur« mit Hinweis auch auf 10,235; 12,323

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Tydeus redet in der Thebais fast immer als erster. 86 Er hat die meisten Reden, spricht nach Adrast insgesamt die meisten Verse, jedoch immer nur kurz. Er wird am häufigsten nach Polynices und Eteocles angeredet. 87 Vielfach drängt er sich vor, unterbricht den anderen, platzt mit seinen Worten heraus und überschreitet seine Grenzen. Seine Äußerungen sind aggressiv und arrogant. Kriegshetze sowie Herausforderung und Verhöhnung von Gegnern sind seine typischen Redeformen und -ziele. Seine unsensiblen, unbeherrschten, massiv gegen das aptum verstoßenden Worte sind wesentlich mitverantwortlich für den Ausbruch und die brutale Eskalation des Kriegs. Für ihn gilt: Si tacuisses!

Zwischenfazit II Die im zweiten Teil betrachteten Reden, die in deliberativem Kontext für Krieg bzw. Frieden werben, gehören zwei antipodisch angelegten Charakteren. Der Kriegstreiber Tydeus ist ein inkompetenter Redner, die Friedensadvokatin Jocaste eine versierte Rednerin. Beide verletzen in der Anrede das aptum, aber in verschiedener Weise. Jocastes rex Argive führt Polynices unbarmherzig sein Unrecht vor Augen, legt Distanz zwischen Mutter und Sohn. Doch die Kälte der Autoritätsperson bekommt ein Gegengewicht in der Mutterliebe, die Jocaste gegenüber den Argivern bekennt. Die Wirkung ist von der Sprecherin berechnet. Tydeus

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und Ach.1,733. »Lerneisch« (Lerna ist der Name eines Flusses, eines Sees und einer Stadt bei Argos) ist ein übliches Synonym für »argivisch«: Mulder (1954) 258 zu 1,432. Erst in 3,362 redet Tydeus Adrast als Schwiegervater an. Unklar bei seinem ersten Auftritt, wo Polynices und er kaum reden und sehr bald zuschlagen (1,410–412 paulum alternis in verba minasque / cunctantur, mox ut iactis sermonibus irae / intumuere satis, . . . ) und dann von Adrast verhört werden (1,447–450 mixto clamore obliqua tuentes / incipiunt una; ›Rex o mitissime Achivum, / quid verbis opus? ipse undantes sanguine vultus / aspicis!‹), doch den Fragen Adrasts antwortet er als erster von beiden (1,452–467; 2,173–188 visique inter sese ordine fandi / cedere. sed cunctis Tydeus audentior actis / incipit: ›. . . ‹ / sic interfatus), ruft in den Wald hinein nach den im Hinterhalt verborgenen Thebanern (2,535 ac prior; 2,547), mischt sich ungefragt ein, als Lycurgus Hypsipyle strafen will, bedroht ihn und muß von Adrast zurückgehalten werden (5,663–664 ac simul infrendens: ›Siste hunc, vesane, furorem, / quisquis es‹); er gibt jedoch keine Ruhe (5,671–672 sed non sedato pectore Tydeus / subicit), was dann beinahe zur gewaltsamen Eskalation des Konflikts führt. Die diplomatische Lösung, zu der Jocaste Polynices und die Argiver schon überzeugt hat, verhindert er durch sein ungefragtes Dazwischentreten (7,538 occupat; 7,611–612 et praeceps tempore Tydeus / utitur). Vgl. Loesch (1927) 66; 71–72; Dominik (1994) 224. Vgl. die Statistik bei Dominik (1994) 13; 15; 223–225; 312; 323–324. Die Erzählung Hypsipyles bleibt hier außer Betracht. Zieht man bei Adrast noch die Coroebuserzählung ab, so bleiben 190,5 Verse für seine Reden im eigentlichen Sinne. Die Reden des Tydeus umfassen 186,5 Verse. Tydeus spricht 24 Mal, er wird 39 Mal angeredet. Mit 7,8 Versen gehören seine Reden zu den kürzesten (nur der brutale Capaneus und der tumbe Hippomedon sprechen noch kürzer).

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hingegen spricht so, als wolle er sein Ziel gar nicht erreichen. (Tatsächlich steht seine Aufgabe als Gesandter, Krieg zwischen Argos und Theben zu vermeiden, im Widerspruch zu der ihm wesenseigenen Kriegslust.) Sein Auslassen der Anrede, seine falsche inhaltliche Füllung des konventionellen einleitenden si-Satzes führen seine Unfähigkeit als Redner vor. Die Umgebung nutzt Jocaste zu ihrem Vorteil durch Einbeziehung der Wirkung ihrer Worte an die Umstehenden auf Polynices. Tydeus vernachlässigt sie; 88 er redet oder vielmehr schreit aus weiter Entfernung sein Publikum an.

Ergebnisse Die Analyse der Anreden und exordia verschiedener Reden hortativen Charakters in der Thebais hat gezeigt, daß die Strategien, die die antike Rhetorik für das prooemium empfiehlt bzw. die sich aus Ciceros Redepraxis herausschälen lassen, sich dort wiederfinden: Person und Interessen des Angeredeten stehen von Anfang an im Fokus. Die Anrede stellt ein Identifikationsangebot dar, der Angeredete soll durch Schmeichelei geködert und so in die gewünschte Richtung dirigiert werden. Die herausgestellte Qualität ist das Verbindungsglied zwischen dem Interesse des Angeredeten und dem Anliegen des Sprechers. Das Verletzen dieser Regel, sofern nicht durch eine kalkulierte Gegenmaßnahme aufgefangen, bezeichnet einen schlechten Redner. Die herausgearbeiteten rhetorischen sowie poetischen Strategien seien im Einzelnen kurz aufgelistet: 1. Die Anredeformel arbeitet bereits auf das Redeziel hin, indem sie das bezwekkte Verhalten manipulativ vorwegnimmt (Eteocles, Virtus, Euadne). 2. Eine erfolgreiche Argumentation nimmt vom Eigeninteresse, von der Eitelkeit und möglichst vom Selbstbild des Gegenübers ihren Ausgang (Eteocles, Virtus, Euadne). Das Eigeninteresse kann auch suggestiv vorgespiegelt werden (Eteo88

Was die Umstehenden betrifft, so bezieht sie Tydeus im ersten Teil seiner Rede (2,393– 409) gar nicht ein, im zweiten (453–467) droht er ihnen mit den Schrecken des bevorstehenden Krieges, den ihr König heraufbeschworen habe (›tu merito; ast horum miseret, quos sanguine viles / . . . / proicis excidio, bone rex‹ 458–460, de facto eine Kriegserklärung, die den Köder aufnimmt, den Eteocles schlau gelegt hatte, da er in seiner Antwort aus dem ruppigen Auftreten des Gesandten auf Kriegsgelüste des Bruders schließt [418–419; 424–426] und so der der Gegenseite ›den schwarzen Peter zuschiebt‹). Dieser Versuch, dem König seine Untertanen zu entfremden, ist eher ungeschickt, er bringt diese vielmehr gegen Tydeus selbst auf (479–481). Eteocles hatte die Umstehenden viel geschickter zu seinem Vorteil in seine Argumentation integriert, indem er so tat, als sei er bei seiner Weigerung auf das Wohl seines Volkes bedacht, das den Herrschaftswechsel fürchte (446–451 ›. . . non parcit populis regnum breve; respice quantus / horror et attoniti nostro in discrimine cives. / hosne ego, quis certa est sub te duce poena, relinquam? / . . . fac velle: nec ipsi, / . . . patres / reddere regna sinent‹, vgl. o. Anm. 21).

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cles). Das Selbstbild kann gegen die literarische Tradition aufgebaut werden (Euadne). Die Diskrepanz zwischen tatsächlichem und unterstelltem Interesse der Angeredeten verrät den Heuchler und Egoisten (Eteocles). 3. Die Anrede eines abwesenden Dritten (Apostrophe) ist ein Weg, dem eigentlichen Zielpublikum etwas mitzuteilen, was sich in direkter Anrede verböte (Eteocles, Theseus). Worte an anwesende sekundäre Adressaten berechnen deren Wirkung auf den primären Adressaten mit ein (Jocaste). 4. In bestimmten Konstellationen ist Schonungslosigkeit am Platz und zielführend (Jocaste), normalerweise jedoch deplaziert und kontraproduktiv (Tydeus). Reverenz ist der Weg zum Erfolg (Amphiaraus). Mangel an Beherrschung hingegen führt ins Unheil (Tydeus). 5. Ohne Einleitung, ohne Aufforderung und vom falschen Platz aus mit der Rede zu beginnen, verrät den impulsiven, unausgebildeten Sprecher (Tydeus).

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Jan Telg genannt Kortmann (Münster)

Tag und Nacht als Anfangs- und Endpunkte in Silius Italicus’ Punica 1 ™moc d+örigËneia fành ˚ododàktuloc >H∏c 2 (als sich frühgeboren nun Eos mit Rosenfingern emporhob): Morgengrauen und Abenddämmerung – seit Homer sind diese im antiken Epos mythisch eingebetteten und nicht selten formelhaft 3 dargestellten Zeitabschnitte zunächst strukturelle Ordnungselemente im Verlauf der Erzählung. Oft sind sie gleichbedeutend mit einer Zäsur, mit dem Anfang oder Ende von Handlungen. Tag und Nacht werden seit jeher einerseits mit lebendiger Tätigkeit, andererseits mit stiller Ruhe in Verbindung gebracht. Doch wohnt dem Epos eine sehr viel profundere Bedeutung von Tag und Nacht inne: Neben atmosphärischen Effekten und dem Aufzeigen exzeptioneller Sachverhalte können durch Handlungsstopp und -aufnahme zur passenden und unpassenden Zeit psychologische Dispositionen der Handlungsträger herausgestellt und epische Figuren charakterisiert werden. Nach einer kurzen Einführung in die Materie richtet sich das Augenmerk dieser Untersuchung speziell auf die Aufnahme und Funktion von Tag und Nacht bei Silius Italicus. 4 Sein Epos Punica über den Zweiten Punischen Krieg handelt vom Kampf der Römer gegen ihren geradezu übermenschlich erscheinenden Widersacher Hannibal. Es bietet innerhalb seiner 17 Bücher reichlich Raum, zahlreiche Elemente aus dem Fundus epischer Tradition zu nutzen – und es profitiert durch die Ausformung neuer Qualitäten dieser Elemente. Dies ist im speziellen Fall von Tag und Nacht anhand des siebten und des zwölften Buches der Punica herauszustellen. In letzterem bedeutet der Marsch Hannibals auf Rom nicht nur einen Aus1 2 3

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Ich danke Christiane Reitz, Claudia Schindler, Joachim Latacz und Raymond Marks für die wertvollen Hinweise und Anmerkungen. Vgl. Hom. Il. 1,477; 24,788; Od. 2,1; 3,404. 491; 4,306. 431. 576; 5,228; 8,1; 9,152. 170. 307. 437. 560; 10,187; 12,8. 316; 13,18; 15,189; 17,1; 19,428. Zu formelhaften Versen in Ilias und Odyssee s. James (1978) 153–64. Nachteinbruch und Tagesbeginn, Sonnenunter- und Sonnenaufgang, werden als typisches Bauelement des antiken Epos auf verschiedene Art und Weise umschrieben. Die Formelhaftigkeit wandelte sich zunehmend zum dynamischen und kreativen Mischen und Neuordnen der Elemente. Für eine (nicht vollständige) Sammlung von Tag- und Nachtwechsel sei auf Brauneiser (1944) 1–27 verwiesen. Jüngst hat sich Sacerdoti (2014) des Themas Schlaf und Schlaflosigkeit bei den flavischen Epikern angenommen.

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nahmezustand für die Römer, sondern genauso einen Sonderfall für den punischen Feind. 5 Dieser Umstand wird narrativ auch durch den ganz eigenen Charakter und die beachtliche Funktion deutlich, die die drei Nächte und Tage einnehmen, in denen sich das kritische Geschehen vor den Toren der Stadt abspielt.

Tag- und Nachtwechsel als formal-strukturelle Gliederung Richard Heinze hat Sonnenaufgänge für das antike Epos als »Marksteine im Fortschritt der Ereignisse« 6 bezeichnet (Heinze [1976] 345): Innerhalb des narrativen Kontinuums der jeweiligen Epen sind Tag- und Nachtwechsel neben dem Schauplatzwechsel die häufigsten und deutlichsten Szenenabschlüsse und -beginne. 7 Sie kennzeichnen als kompositorische Klammer Anfang oder Ende von Sinnabschnitten und leiten wiederholt ein Buch eines Epos ein oder schließen ein Buch ab. 8 Die Markierung von Tagesanbrüchen ist zumeist ›Startsignal‹ für bedeutsame 5

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Zur besonderen Funktion des zwölften Buches in der Makrostruktur des Epos, das zugleich als Endpunkt wie auch als Anfang (»turning-point«) gelten kann, vgl. Tipping (2004) 351–63; Telg genannt Kortmann (in Arbeit) in Kapitel I. Brauneiser (1944) 44 konstatiert in Bezug auf Homer: »Tag und Nacht, Morgen und hereinbrechender Abend sind die äußeren Stützen, in die Homer die Einzelerlebnisse einspannt.« Vgl. auch Arend (1933) 99–105. Das Drama nimmt oft die Einheit eines Tages an. Die Dramenhandlung beginnt so nicht selten mit dem Sonnenaufgang, vgl. Sen. Oed. 1–5; Herc. f. 123 f.; Ag. 53–6; Thy. 120 f. In der epischen Großform erstreckt sich die Dauer der Handlung naturgemäß über zahlreiche Tage, die an neuralgischen Punkten entsprechend akzentuiert werden. Zum Tag als Zeiteinheit des Dramas vgl. Schwindt (1994) und Heil (2013) 55–9; 216–18. Aufgrund ihrer Prominenz sind Buchanfänge und -enden die vielleicht nachhaltigsten Beispiele von Tag- und Nachtwechsel. Schon bei Homer beginnen viele Bücher mit dem frühen Morgen (Il. 8; 11; 19; Od. 3; 5; 8; 16) und enden mit der Nacht oder Ruhe (Il. 1; 7; 9; Od. 1; 5; 6; 7; 14; 16; 19), vgl. Van Sickle (1984) 127–32. Im Folgenden werden einige hervorstechende Beispiele angeführt: Das dritte Buch von Vergils Aeneis endet mit der Nachtruhe aller, um den Rezipienten am Anfang des vierten erfahren zu lassen, dass einzig die Königin Dido in Liebeskummer wacht: nec placidam membris dat cura quietem (Verg. Aen. 4,5). Buch 11 der Aeneis wird eingeleitet mit Oceanum interea surgens Aurora reliquit (11,1) und endet mit dem Einbruch der Nacht, die eine sofortige Kampfaufnahme vor Laurentum verhindert (912–15). Selbst in einem Epos wie den Metamorphosen, an dem sich heterogen Geschichte an Geschichte reiht, lässt Ovid es sich nicht nehmen, das achte Buch mit einem Sonnenaufgang zu beginnen (8,1 f.), das neunte mit einem neuen Tag und der Kurzzusammenfassung eines neuen Ereignisses enden zu lassen (9,795; zum Ende eines Buches mit dem Sonnenaufgang als Hinweis auf neue Aktion vgl. Van Sickle [1984] 129 und 131). An herausragender Stelle, vor der Schlacht von Pharsalos, spielt Lucan mit der Konvention und lässt sein sechstes Buch mit einem beginnenden neuen Tag enden, den die Nacht noch solange aufhält, bis er sich dann erst zu Beginn des siebten Buches tatsächlich vollzieht (Lucan. 6,828–30 und 7,1– 6). In den Argonautica des Valerius Flaccus begegnet der Usus häufiger (hierzu Gärtner

Jan Telg genannt Kortmann

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Ereignisse. 9 Silius führt die Praxis dieser ›äußeren Funktion‹ fort: Zu Beginn des fünften Buches wird der Hinterhalt Hannibals am Trasimenischen See beschrieben, der nachts vorbereitet und bei Morgengrauen vorangekündigt wird (Sil. 5,1– 58). Am Ende von Buch 5 beendet die nächtliche Dunkelheit das Gefecht: finemque dedere / caedibus infusae subducto sole tenebrae (und die hereinbrechende Dunkelheit – die Sonne hatte sich entzogen – machte dem Schlachten ein Ende, 5,677 f.). Die Folgen der Schlacht offenbaren sich mithin zu Beginn des sechsten Buches mit der aufgehenden Sonne des nächsten Tages: iam, Tartessiaco quos solverat aequore Titan in noctem diffusus, equos iungebat Eois litoribus, primique novo Phaethonte retecti Seres lanigeris repetebant vellera lucis, et foeda ante oculos strages propiusque patebat insani Mavortis opus. (Sil. 6,1–6) Schon spannte Titan die Pferde, die er, selbst bei Nachteinbruch verblasst, im Meer bei Tartessos (vom Zaum) gelöst hatte, an östlichen Küsten an, und die Serer, nachdem sie die ersten waren, die der neu aufsteigende Phaethon offenbarte, pflückten aufs Neue Fasern von ihren Baumwollbäumen, und da: Entsetzliches Blutbad stand vor Augen und deutlicher noch lag offen das Werk des wahnhaft rasenden Mavors.

Allein durch solch strukturelle Kriterien konstituieren sich Tag und Nacht als Anfangs- und Endpunkte. Doch sind die Wechsel nicht rein technischer Natur: Es lässt sich eine über die äußere Funktion hinausgehende Einbettung in den

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[1998]): Das zweite Buch endet damit, dass freundschaftliche Unterredungen am Hofe des Cyzicus über zwei Tage und nox plurima andauern (2,663 f.), der Beginn des dritten Tages bringt dann die Abfahrt der Argonauten in den ersten Versen des dritten Buches (3,1 f.). Auch zum Ende von Buch drei wird die Nacht eingeführt (3,726–31). Buch fünf wiederum startet mit der Beschreibung eines neuen Tages (5,1 f.) und endet mit einer Nacht (5,690–95). Ebenso beendet eine Nacht Buch sechs, die die Schlacht gegen Perses unterbricht (6,752–54). In Statius’ Thebais endet das dritte Buch mit dem Beginn eines Tages, eines Tages, der derart betont im Folgenden den Aufmarsch zum Krieg bringen wird (3,720 f.). Das fünfte Buch endet mit dem Nachteinbruch (5,753). Buch zehn – in diesem geht es um einen nächtlichen Streifzug der Argiver – beginnt mit der hereinbrechenden Nacht (10,1–4). Ein Nacht- und Tagwechsel findet zwischen Buch elf (11,761) und zwölf statt (12,1–8). Auch in seiner unvollendeten Achilleis beginnt das zweite und letzte erhaltene Buch mit dem Anbruch des Morgens (2,1–4). Wie generell oft im Epos mit seinem hohen Anteil an militärischen Aktionen so sind dies in den Punica vornehmlich Schlachten, die dort insofern eine Vielzahl sind, als sie durch historische Fakten des Krieges vorgegeben sind: so vor der Schlacht am Ticinus Sil. 4,88 f.; auch angedeutet, wenn auch zeitlich verschoben, vor der Schlacht am Trebia in 4,480–82; am Trasimenus 5,53–6; bei Cannae 9,178–83. Vgl. Burck (1984) 91 f.; zur epischen Konvention im Allgemeinen Brauneiser (1944) 44–70 und 184 f. mit einigen Beispielen; ebenso Heinze (1976) 345 f. und 366–69.

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Tag und Nacht als Anfangs- und Endpunkte in Silius Italicus’ Punica

Inhalt feststellen. 10 Die Nacht erhält oft einen substantiellen Charakter: 11 In der Antike ist sie in einem solchen Ausmaß dunkel und undurchsichtig, wie es heute bei nahezu ständiger Illumination kaum noch nachvollziehbar ist. Sie fungiert als Stimmungserzeuger und führt nicht selten die Bedeutung von etwas Mystischem und Undurchsichtigem mit sich, auch von etwas Furchterregendem, Unheilvollem. Dies überträgt sich auf die Handlung in ihr, die selten Gutes verheißt. 12 Man beachte, wie die geradezu drohenden Verse Sil. 5,36 f. kontextualisiert sind: atrae noctis amictu / squalebat pressum picea inter nubila caelum (vom Mantel der schwarzen Nacht bedrückt starrt wie in Trauerkleidung der Himmel zwischen pechschwarzen Wolken). Die drückende Düsterkeit der Nacht wird noch bis ins Morgengrauen funktionalisiert und so die Niederlage der Römer am Trasimenus vorbereitet. Vice versa evoziert der morgendliche Sonnenaufgang oft ein positives Gefühl und deutet etwa auf Erfolg oder Wohlergehen hin. 13

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Zur inhaltlichen Bewertung dieses Beginns von Buch 6 der Punica und weiterführend s. Fröhlich (2000) 80–6. Gíslason (1937) 17 bestimmt für Vergil gegenüber Homer: »Er schildert die Nacht nie um ihrer selbst willen, sondern immer verfolgt er damit eine bestimmte künstlerische Absicht. Häufig werden gerade im nächtlichen Dunkel die bedeutendsten Fortschritte der Handlung vorbereitet« (vgl. Gíslason [1937] 10–8). Gärtner (1998) 204 legt für die Argonautica fest, »daß Valerius Tageszeiten – wie Apollonios – einsetzt, um große Abschnitte zu markieren, daß er darüber hinaus aber bemüht ist, den Einschnitt, den die Nacht darstellt, sinnvoller zu setzen, und daß er die Bedeutung der Nacht hervorhebt . . . «. Weiter konstatiert sie: »Sehr ausführliche Darstellungen sind in der Regel nur bei wichtigen Einschnitten und Wendepunkten des Geschehens zu finden sowie bei Buchanfängen und -enden. Ferner sind sie meist durch die Formulierung, immer aber durch ihren Stimmungs- oder Symbolgehalt mit der Erzählung verknüpft« (219). Zur Begrifflichkeit vgl. Dyer (1974). Bei Silius lässt sich als Beispiel anführen, wie Solimus auf dem Kampffeld in der Nacht nach seinem Bruder sucht (Sil. 9,90–5). Diese Suche endet letztlich fatal: Wegen der Dunkelheit kann Solimus seinen eigenen camouflierten Vater nicht vom Feind unterscheiden und tötet ihn vorschnell. Die Episode wird in 9,66 düster eingeleitet: necnon et noctem sceleratus polluit error; das Ende erfolgt mit dem Tagesbeginn in 9,179 f. sensimque abeuntibus umbris / conscia nox sceleris roseo cedebat Eoo. Vgl. ferner die Einleitung des Hinterhalts gegen Tydeus in Stat. Theb. 2,527–35 oder die Tötung der Männer durch die Lemnierinnen bei Nacht in Theb. 5,195–205. Zum Erzeugen von Stimmungsbildern am Beispiel von Valerius Flaccus vgl. Gärtner (1998), speziell 205–11; am Beispiel von Vergil Gíslason (1937) 10–8; auch Brauneiser (1944) 109–17 und Strobl (2002) 231–47. Gärtner (1998) 206 z.B. schreibt (zu Val. Fl. 2,34–40), Valerius Flaccus ließe »seine Vorliebe für die besondere Stimmung der Nacht in Verbindung mit der Psyche des Menschen deutlich werden, wobei hier ihr furchterregender Charakter einfühlsam dargestellt ist.« Als Gegensatz erscheine der Morgen in »einer Aura des Friedens und der Sicherheit«. Zur symbolischen Funktion der Nacht s. auch Becker (2013) 583 f.

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Die Nacht unterbricht physische Aktivität Nachtruhe ist oft universeller Natur. 14 Die Nacht wird als Zeit des Schlafes und Erholung benötigt, um körperliche Kräfte wiederherzustellen: nox, somni genetrix (Sil. 15,612). Im episch-militärischen Bereich bringt sie dem Heer eine (meist kurze) Regenerationsphase. 15 Gewaltige Anstrengungen fordern ihren Tribut. Zudem konnten taktisch geführte Schlachten nicht bei Nacht geschlagen werden. 16 Somit korreliert im Textverlauf das Ende einer Schlacht häufig mit dem Einbruch der Nacht. Nach den großen Schlachten in den Punica erfolgt zum definitiven Abschluss ein Nachteinbruch; 17 auch verhindert die Nacht die aktive Belagerung oder gar Eroberung einer Stadt, so vor Capua in 13,254 f. et, ni caeca sinu terras nox conderet atro, / perfractae rapido patuissent milite portae (und wenn nicht die dunkle Nacht die Länder in ihren schwarzen Schoß gebettet hätte, hätten die Pforten offen gestanden, gebrochen vom Ansturm der Soldaten). Das Wachen und die Tätigkeit bei Nacht werden besonders akzentuiert. 18 Man kann aus unterschiedlichsten Gründen wach und tätig sein, sozusagen die ›Nacht 14 15

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Ein prägnantes Beispiel aus Ovids Metamorphosen: homines volucresque ferasque / solverat alta quies (7,185 f.). Vgl. Hom. Il. 2,386 f.; Sil. 15,809 f.; für den »disziplinierten« Schlaf s. Strobl (2002) 98: »Im militärischen Bereich ist Schlafbedürfnis nur dann gerechtfertigt, wenn es aus einem Zustand der völligen Erschöpfung resultiert«; auch 138–40 und 195 f. Der italische Stamm der Hirpini ›verdient‹ sich den Schlaf durch körperliche Betätigung am Tage, vgl. Sil. 8,572 somnique labore parantur. Vgl. etwa Dowden (2010) 112: »[N]ight battle is very special and only undertaken when one is faced by especially insurmountable difficulty«; 117: »The night battle is [. . . ] not a pitched battle for which both sides prepare, but an attempt to gain the advantage by surprise«; Hanson (1989) 33 f.: »Nor were night engagements an option. At times the sheer daring of an attack after darkness could bring results, but more commonly it ended in chaos, misdirection, and disorder in the ranks«. Am Ticinus in 4,478 f.; am Trasimenus in 5,677 f.; bei Cannae in 10,537–39; am Metaurus 15,809 f. Außerdem auffallend z.B. in Verg. Aen. 11,912–15; Stat. Theb. 8,159–61 fortius incursant Tyrii, sed Vesper opacus / lunares iam ducit equos; data foedere parvo / maesta viris requies et nox auctura timores. In der Historiographie etwa in Sall. Iug. 60; Caes. Gall. 2,6; Liv. 44,4,6. S. auch Brauneiser (1944) 71–8. Zur ›Rahmung‹ s.o. 255, Anm. 9. Strobl (2002) 77: »Hier sei zu betonen, dass Vergil die Handlung in seiner Aeneis nicht hauptsächlich auf die Tageszeit beschränkt, doch bei jenen Ereignissen, die sich in der Nacht, nach Anbruch der Schlafenszeit abspielen, wird darauf verwiesen, dass sie trotz der Zeit der Ruhe, des Schlummers stattfinden«. Gärtner (1998) 219 bemerkt eine Zunahme der Bedeutung von Nachtszenen: »Erstaunlich häufig sind die Nachtschilderungen. Bei Homer hat die Nacht selten besonderen Stimmungswert. Sie steht vorwiegend als Schluß- oder Ruhepunkt und stellt eine ›Caesur des Geschehens‹ dar [. . . ]. Bei Vergil ereignen sich wichtige Dinge recht häufig bei Nacht.« Osmun (1962) 31 hat die Nachtszenen in der Aeneis in bestimmte Kontexte gerückt und fasst zusammen: »Basically night scenes are used for 1) visions and supernatural manifestations, 2) erotic sce-

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zum Tage machen‹. 19 Im ersten Buch der Punica findet bei Hannibals Belagerung der Stadt Sagunt mit dem Ende des Tages auch das Kriegshandwerk sein Ende, was jedoch nicht bedeutet, dass die Handlung ruht, denn in dieser Extremsituation agieren die eingeschlossenen Stadtbewohner: nox tandem optatis terras pontumque tenebris condidit et pugnas erepta luce diremit. at durae invigilant mentes molemque reponunt, noctis opus. (Sil. 1,556–59) Endlich bedeckte Nacht die Länder und das Meer mit ersehnter Dunkelheit und mit dem entrissenen Licht nahm sie auch die Möglichkeit zu kämpfen. Doch die Seelenstarken wachen und bauen das Bollwerk wieder auf, eine Aufgabe für die Nacht.

Die Bedrängten nutzen die willkommene Kampfpause der Nacht zur materiellen Wiederherstellung ihrer Verteidigung. Die vigilantia ist ein Schlagwort. Hier offenbart sich bereits die topische Antithese solcher Szenen ›viele ruhen – wenige wachen‹ (s. u. 260–64). Kriegerische Operationen des Nachts werden in der Historiographie, besonderes aber in den Epen sehr ambivalent dargestellt. 20 Bei Silius begegnen nächtliche Aktionen zum Beispiel prominent am Ende des 15. Buches. Das punische Heer von Hannibals Bruder Hasdrubal trifft auf die römischen Legionen unter den Befehlshabern Nero und Livius, die es schließlich in der Schlacht am Metaurus schlagen werden. Die Ereignisse rund um die Schlacht schließen ausführliche Illustrationen wiederholter nächtlicher Aktionen der Soldaten ein. In Sil. 15,547–76 eilt Neros Heer des Nachts zu Livius’ Unterstützung gegen Hasdrubal. Diesen Eilmarsch initiierte Neros Traumerscheinung der personifizierten Tellus Latiae, die den Römern beisteht. 21 Selbst nach dem Sieg über Hasdrubal brechen die Römer hastig nondum remeante die (Sil. 15,811) auf.

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nes, 3) scenes of danger and 4) magic. They excite terror, intensify pathos and amorous longings, and suggest mystery and the unknown«. Zu fröhlichem Wachen in Form von Gelagen und ähnlichem vgl. Brauneiser (1944) 81– 5. Zu nächtlichen Feiern in epischer Dichtung Sacerdoti (2014) 22–6. Sie oszillieren in Geschichtswerken zwischen hinterhältigem Überfall und Mittel mit großem taktischen Nutzen. Vgl. beispielsweise die römische Attacke auf Arpi in Liv. 24,46 oder Scipios Überraschungsangriff auf Syphax in 30,5,2–6,9 (korrespondierend Sil. 17,88–108); Marcius’ Plan in Liv. 25,38,16 f.; auch Thuk. 7,44,1 ‚n d‡ nuktomaq–¯, õ mÏnh dò stratopËdwn megàlwn Ín ge tƒde tƒ polËm˙ ‚gËneto, p¿c än tic saf¿c ti ¶dei. Caesar hebt den Gewinn nächtlicher Operationen hervor: Gall. 5,11; 6,43,6; 7,18,2; 24,2; 26,2; 36,7; 45,1. Vgl. auch Sall. Iug. 21,2; 37,4. Auf der anderen Seite werden militärische Nachtoperationen ebenso als voreilig und unüberlegt bewertet: Paulus beschwert sich in Sil. 8,337 f. über seinen kriegslüsternen Kollegen Varro: incedere noctis, / quae tardent cursum, tenebras dolet. Dessen außerordentlicher Übermut deutet auf die folgende schwere Niederlage bei Cannae. Zum Einfluss von Göttern, speziell auch zur Tellus Latiae, s.u. 265, Anm. 49.

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Ein weiterer Grund für Märsche und Aktionen des Nachts oder noch vor Tagesanbruch ist der Nutzen, den die Nacht 22 für gebotene Geheimhaltung hat: Neros Heer trifft zur Unterstützung der Römer im Kampf gegen Hasdrubal bei Nacht ein, obscuro noctis opacae (Sil. 15,591). Obwohl Nacht den heimlichen Plan in Dunkelheit verbarg, bleibt dies Hasdrubal dennoch nicht verborgen (601 f.). Um Lautlosigkeit bemüht, versucht er die nächtliche Flucht: Nox, somni genetrix, mortalia pectora curis purgarat, tenebraeque horrenda silentia alebant. erepit suspensa ferens vestigia castris et muta elabi tacito iubet agmina passu. (Sil. 15,612–15) Die Nacht, des Schlafes Schöpferin, hatte die Herzen der Sterblichen von Sorgen befreit, und Dunkelheit nährte die schauerliche Stille. Da kroch er auf Zehenspitzen aus dem Lager und befiehlt dem Heer, stillschweigend und leisen Schrittes herauszuschleichen. 23

Die Dunkelheit verhindert jedoch eine Orientierung und der mögliche Vorteil durch die Nacht wird ins Gegenteil verkehrt: inque errore viae tenebrarum munus ademptum (und durch den Irrweg war das Geschenk der Dunkelheit [den Puniern] genommen, 15,625). Wie die Tellus Latiae den Römern nachts beistand, so trägt sie nun ihren Teil dazu bei, die Punier in Verwirrung zu setzen. Alsbald verrät das Tageslicht ihre Flucht: lux surgit panditque fugam (626). Hasdrubal wird an dieser Stelle somit einmal mehr als Hannibals ›kleiner Bruder‹ charakterisiert, der ihn nachzuahmen sucht. 24 Doch dessen mit göttlicher Macht konkurrierende Stärke, dessen Verbindung zur Dunkelheit und dessen Fähigkeiten in der Nacht kann Hasdrubal nicht erreichen: 25 So scheitert er mit seiner Nachtunternehmung kläglich. Derartige nächtliche Massenoperationen sind in Betracht der allein schon recht seltenen Nachtaktionen im Epos nochmals exzeptionell: Erfolgt nächtliche Aktion, dann sind es oft Expeditionen oder Kommandomissionen Einzelner: 26 Überdies 22 23

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Vgl. die Bezeichnung als nox . . . arcanis fidissima in Ov. met. 7,192. Auch Livius 27,45,7–47,11 berichtet, dass die Unternehmungen um die Schlacht am Metaurus bei Nacht geschahen. Dort wird der Fokus aber nicht in dem Maße auf die Darstellung der Nachtzeit gelegt, vgl. Burck (1984) 88–91. Vgl. etwa Sil. 15,639 f. venisse probemus / germanum Hannibalis und 742 f. me magna secundum / Carthago putat Hannibali. Ich danke Raymond Marks für den Hinweis, der an dieser Stelle sehr überzeugend ist, vgl. auch Marks (2008) 78 f. (78 »Hasdrubal’s portrayal as a ›second Hannibal‹ «) und Marks (2005) 98 mit Anm. 91 mit weiterer Literatur; auch Stocks (2014) 170–78. Zu Hannibals Verbindung zur Nacht s.u. 264–67. Vgl. etwa die stilbildende Dolonie im zehnten Buch von Homers Ilias, fortgesetzt in der Nisus und Euryalus-Episode bei Vergil (Aen. 9,176–445) und der mörderischen Expedition der Argiver im zehnten Buch von Statius’ Thebais. Auch die nächtlichen Operationen Hannibals im siebten Buch der Punica haben in ihr ein Vorbild (s.u. 266 f.). Ob diese nach heutigem moralischem Maßstab hinterhältigen Angriffe damals verurteilt oder eher bewundert wurden, bleibt unklar, vgl. Dowden (2010) 118: »[I]t would be better to say that there is something special and risqué about night expeditions. In a way, they are more

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finden wenige, aber bedeutsame Kämpfe nachts statt. Auch hier sind sie jedenfalls besonders betont, aber eben keine geordneten, geplanten oder gar strategisch durchorganisierten Schlachten. Das eigentlich Gefechtspezifische bleibt aus: so in der Nyktomachie im zweiten Aeneis-Buch 27 oder im fatalen Kampf der Argonauten gegen den befreundeten Cyzicus im dritten Buch von Valerius Flaccus’ Epos, den man in der irreführenden Dunkelheit für den Feind hielt. 28

Die Nacht unterbricht psychische Beschäftigung Mehrfach klang es bereits an: Die Nacht ist für die, die nur wenig den Verlauf der Geschichte bestimmen können oder wollen, eine Zeit der Seelenruhe. Schlaf wird dankbar angenommen und man wird durch dieses natürliche ›Seelennarkotikum‹ von kleineren Sorgen befreit: 29 omnia somni / condiderant aegrisque dabant oblivia curis (alles hatte Schlaf umhüllt und brachte den schmerzlichen Sorgen Vergessen, Sil. 4,723 f.). Auch die anthropomorphen Götter schlafen, Hypnos oder Somnus gilt als der »Allbezwinger« 30. Andererseits bedeutet die Nacht für Einzelne, bei denen diverse Ereignisse nachwirken oder die sich erheblich mit dem

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heroic because they are so difficult« (vgl. auch Nestors Anrede an die Helden zur Meldung einer Nachtexpedition in Hom. Il. 10,204f. und deren Unterstützung durch Athene in 10,482). Der Hinterhalt, der zu Tydeus’ Monomachie in Stat. Theb. 2,482–743 führt, findet nachts statt. Zu antiken »Kommandounternehmen« (auch zur Begrifflichkeit) s. Harter-Uibopuu (2002). Zur Bewertung vgl. Dowden (2010) 115: »[I]n fact it is nearer a night slaughter than a night battle«. Bei Apollonios Rhodios findet sich diese Nachtepisode bezeichnenderweise nicht, was die zunehmende Bedeutung von Nachtzeiten in der Entwicklung des antiken Epos verdeutlicht, vgl. Gärtner (1998) 209. Strobl (2002) 135 (zum Sorgenlöser und heilsamen Schlaf s. 135–42). Für die Befreiung von Sorgen in der Nacht gibt es neben den besprochenen Stellen zahlreiche weitere Belege; exemplarisch Lucr. 4,907 f. nunc quibus ille modis somnus per membra quietem / inriget atque animi curas e pectore solvat, auch Verg. Aen. 4,528; Ov. met. 8,83 f.; 10,368 f.; Stat. Theb. 1,339–41; 8,215–17. Dass dies eine trügerische Zuflucht sein kann, zeigt Cicero in div. 2,150: perfugium videtur omnium laborum et sollicitudinum esse somnus. So zum Beispiel Hom. Il. 24,4 f. ’pnoc . . . / pandamàtwr; auch 14,233 ìUpne änax pàntwn te je¿n pàntwn t+ Çnjr∏pwn. Vgl. Wöhrle (1995), besonders 9 f. und 91. Zugleich ist das Bild vom Schlaf ein durchaus zwiespältiges: Schon bei Homer wird der Schlaf als mel–frwn oder glukÃc ’pnoc bezeichnet (Il. 2,34. 71); vgl. Ov. met. 8,823 f. Auch bei Silius wird er oft positiv beschrieben, beispielsweise 6,96 f. quae postquam properata, sopor sua munera tandem / applicat et mitem fundit per membra quietem. Eine Ambivalenz äußert sich etwa in seiner Stellung als Bruder des Todes; vgl. etwa die recht umfassende und facettenreiche Anrede in Sen. Herc. f. 1065–76. Verderblich ist zum Beispiel sein Einfluss auf Palinurus in Verg. Aen. 5,835–71.

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Kommenden des folgenden Tages oder generell der Zukunft auseinander zu setzen haben, meist eine Verstärkung geistiger Aktivität. 31 Ein häufiges Stichwort sind curae. 32 Bei Valerius Flaccus heißt es gewissermaßen in einem Aphorismus: mens incensa tenebris (Val. Fl. 7,5). 33 Vielsagend findet sich im Anschluss an die Stelle in Buch 13, als Capua kurz vor der Eroberung steht (s. o. 257), der Gegensatz zwischen Belagerern und Belagerten: sed non in requiem pariter cessere tenebrae. / hinc sopor impavidus, qualem Victoria novit; / at Capua . . . (doch nicht ließ auf gleiche Weise die Dunkelheit sie zur Ruhe kommen: Auf der einen Seite war tiefer, angstfreier Schlaf, wie ihn Victoria kennt; auf der anderen Seite aber Capua . . . , 13,256–58). 34 Oft wird der Gegensatz durch at intensiviert, was ein Umschwenken des Rezipientenblickes auf eine lokal und emotional gegensätzliche Situation erwirkt. 35 Prominent wird in Verg. Aen. 4,1 mit at regina der Blick auf die wachende Dido eingeleitet (auch 529 at non . . . Phoenissa). 36 Handlung bei Nacht, physische Aktivität geht meist von wenigen aus (s. o. 259 f.), psychische hingegen hebt häufiger noch den Gegensatz in Bezug auf nur eine Person hervor. So ist das pflichtgemäße Wachen des Heerführers ein 31

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Zuweilen heben Dichter ihre eigene Schlaflosigkeit hervor: Ein immer wieder herangezogenes Beispiel ist das Kurzgedicht an den Schlaf Stat. silv. 5,4; vgl. Sacerdoti (2014) 26–9; Gibson (1996); vgl. ferner Woodman (1974). Für eine Übersicht der Gründe Strobl (2002) 190–230. Für einige Stellen auch Brauneiser (1944) 85–109. Oft sind die Wachenden unglücklich Liebende, etwa Dido in Buch 4 der Aeneis; Medea in Val. Fl. 8,1–3. So findet sich das Motiv vielfach in der Elegie wieder: In Ov. am. 1,2,3–5 wird zum Beispiel die Schlaflosigkeit als Symptom des Verliebtseins bestimmt. Vgl. u.a. Verg. Aen. 4,531; 9,224 f.; Ov. met. 7,634; 8,83 f.; 10,368 f.; 11,624; Lucan. 2,239 f.; Stat. Theb. 3,1–5. 415 f.; 8,259; Sil. 10,330 (u. zit. 263); 15,612 f. (o. zit. S . . . ). Vgl. auch Ov. met. 8,81 f. curarum maxima nutrix / nox und Stat. Theb. 8,161 nox auctura timores. Es ist ein typischer Gegensatz bei Erfolgen und Zuversicht auf der einen und Misserfolgen und düsterer Vorahnung auf der anderen Seite, vgl. Hom. Il. 8,485–88. Eine eindrucksvolle Gegenüberstellung in nächtlichen Kampfpausen findet sich in Stat. Theb. 8,159–372: Dort wird mehrfach zwischen der niedergeschlagenen Seite der Argiver und den feiernden Kontrahenten der Thebaner gewechselt; so etwa 215–19 iam fessis gemitu paulatim corda levabat / exhaustus sermone dolor; nox addita curas / obruit et facilis lacrimis inrepere somnus. / at non Sidoniam diversa in parte per urbem / nox eadem . . . In Theb. 7,450–73 war die Situation noch gegensätzlich: Dort verbringt Theben in Anbetracht der Ankunft des Feindes eine unruhige Nacht, während die vom Marsch ermüdeten Argiver schlafen. Nach Brauneiser (1944) 201 kann man es als homerisches at-Motiv bezeichnen. Vgl. auch Sil. 1,558, s.o. 258. Am Ende des dritten Buches der Aeneis schlafen Karthager und Aeneaden. In Verg. Aen. 4,522–32 findet sich dann ein beachtlicher Aufbau von der universellen Beschreibung ruhender und schlafender Welt im Gegensatz zur einsam wachenden Dido. Es ist gar eine doppelte Betonung, denn in 4,553–55 wird ein erneuter Gegensatz aufgenommen, nun zum friedlich schlafenden Aeneas; vgl. zu diesen Gegensätzen auch Anzinger (2007) 316–42.

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Topos in der antiken Literatur. 37 Vigilantia und curae gelten als Tugenden eines guten Anführers. Dieser findet oft als einziger keinen Schlaf, gerade wenn er sich in Entscheidungsnot und Extremsituationen befindet: impatiens somni ductor (Val. Fl. 1,296). Sacerdoti (2014) 15 definiert es als »a ›positive‹ sleeplessness, characterized by an anxiety of reality control but also desired and sustained by the requirements of efficiency«. 38 Die Heroen der Epen vermögen gemäß ihrer Stärke die Naturgesetze des Schlafes zu überwinden. 39 Eine Stelle in Lucans Epos vom Bürgerkrieg verdeutlicht diesen Umstand und den Gegensatz von einfachem Volk und Anführer. So heißt es in Lucan. 5,504–6 solverat armorum fessas nox languida curas, / parva quies miseris, in quorum pectora somno / dat vires fortuna minor: Die ermüdeten Soldaten schlafen ein (befreit von curae). Wilhelm Ehlers (1973) übersetzt die Verse 5,505 f. treffend: »jene kleine Pause wenigstens für Unbedeutende, deren minderer Rang dem Schlaf gestattet, ihre Brust zu übermannen« – ein Gegensatz zu ihrem nimmermüden Anführer Caesar (508–12). Das Wachbleiben allein also vermag schon einzelne Wachende zu charakterisieren. Der Topos dient gleichermaßen zur Isolierung und Hervorhebung: »Never 37

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Vgl. Schmit-Neuerburg (1999) 143–55; Strobl (2002) 195 f. und 199–202; Sacerdoti (2014) 14–20; Leeman (1985) 213 hat den Topos in seinem Beitrag »the lonely vigil« angeführt: »[F]irst I want to point out the ›topological‹ character of many of these passages. They fit into a tradition of formal characteristics: the contrast between a world asleep and someone awake and all alone is elaborated upon according to more or less fixed patterns developed within a literary tradition«. Vgl. schon Hom. Il. 2,24 f. (zit. in Anm. 46). Der Anführer mag dabei auch als gutes Vorbild der Nachtwache fungieren, wie es in Hom. Il. 10,180–89 dargestellt ist. Häufig findet man den sorgenden Aeneas wachend; vgl. u.a. Verg. Aen. 1,305; 10,217; auch in 8,29 f. ist Aeneas erst späte Ruhe vergönnt; vgl. ebenso Diomedes in 8,19; die Troianerfürsten in Verg. Aen. 9,224–27 cetera per terras omnis animalia somno / laxabant curas et corda oblita laborum: / ductores Teucrum primi, delecta iuventus, / consilium summis regni de rebus habebant; Cato in Lucan. 9,590 somni parcissimus ipse est; für weitere Stellen s. auch Matthews (2008) zu Lucan. 5,508–10. Die vigilia von realen Persönlichkeiten zu loben, erscheint ganz ähnlich. Dowden (2003) 150 konstatiert: »Wakefulness is in principle a supererogatory and commendable activity which distinguishes great, almost heroic, men (whose biographies we read) from ordinary people. It is a hallmark in particular of their ambition and their leadership«. Den Topos des sorgenvoll wachenden Anführers gibt es seit Homer: Zeus (Il. 2,1–4), Hermes (Il. 24,677–81), Agamemnon (Il. 10,1–4), Achilles (Il. 24,1–13) oder Odysseus (in Od. 20,1–54 formuliert Athene die Bürde des Wachens: Çn–h ka» t‰ fulàssein / pànnuqon ‚gr†ssonta [52 f.], vgl. ebenso 20,83–7). Die Gründe der Schlaflosigkeit bei Homer führt Gibson (1996) 459 an: »Thus from the Homeric poems there seem to be two paradigms for insomnia: the kind induced by the simple desire to effect a desired course of events, and the more problematic dwelling of a person’s thoughts on a situation which does not admit of resolution.« Vgl. etwa Hom. Od. 12,279–85, wo Eurylochos Odysseus kritisiert, der als vor Kraft strotzender und immer wacher Heros seinen müden Kameraden kaum Ruhe gönnt. Odysseus hat angeblich neun oder gar siebzehn Tage auf der Fahrt gewacht, vgl. Hom. Od. 10,28–33 bzw. 5,271–78 (Dowden [2003] 145).

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is man so poignantly aware of his solitude as when he is awake while all around him, man and beast, are asleep. The gift of an evening’s reflection may turn into a tortured vigil« (Leeman [1985] 213). Das eigentliche Ende ist nicht das Ende. 40 In Silius’ Punica nimmt das narrative Mittel des Wachens eine hervorragende Rolle ein. 41 Während Hannibal nach der siegreichen Schlacht von Cannae den Truppen Ruhe gewährt, wacht er und verachtet die aufgezwungene nächtliche Untätigkeit. Der Gegensatz wird typischerweise durch at und sed eingeleitet. Diese Einstellung des punischen Heerführers, die später vor Rom nochmals zum Tragen kommt (vgl. u. 268 f.), zeigt eine kontrastive Verknüpfung von physischer und psychischer Aktivität: Die Psyche kann insofern nicht ruhen, als Hannibal im Augenblick körperlich untätig sein muss: at Poenus, per longa diem certamina saevis caedibus emensus, postquam eripuere furori insignem tenebrae lucem, tum denique Martem dimisit tandemque suis in caede pepercit. sed mens invigilat curis noctisque quietem ferre nequit. stimulat dona inter tanta deorum optatas nondum portas intrasse Quirini. proxima lux placet. (Sil. 10,326–33) Aber der Punier – er hatte den Tag über das lange Gefecht hinweg mit wütendem Schlachten verbracht –, nachdem nun die Dunkelheit seiner Raserei den denkwürdigen Tag entrissen hatte, da erst lässt er vom Kriegswerk und schont endlich die Seinen vom Blutvergießen. Doch sein Geist wacht sorgenvoll und Nachtruhe kann er nicht ertragen. Es quält ihn, dass er bei solcher Freigiebigkeit der Götter noch nicht die Pforten des Quirinus betreten hat, was er so begehrt. Er will das nächste Tageslicht.

Hannibal sehnt den folgenden Tag frühestmöglich herbei. Erst dann hat er die Gelegenheit, erneut effektiv zu handeln und gegen seinen Gegner Rom zu ziehen. Für den Schlaflosen gilt häufig der Morgen als Befreiung. Petra Strobl widmete in ihrer Monographie über Somnus den Sorgen von Feldherren ein eigenes Unterkapitel. Darin führt sie zu Silius’ Hannibal aus: »Im Allgemeinen scheinen sich Hannibals Gedanken zu jeder Tages- und Nachtzeit mit dem Gegner auseinander zu setzen« (Strobl [2002] 201). 42 Auch wenn dies eine vereinfachte Darstellung

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Es bleibt zu erwähnen, dass die Erzählung in der Nacht bei Schlafenden oder Halbschlafenden durch Traumbilder nicht stehenbleiben muss, s. Grillone (1967) und Brauneiser (1944) 78–81. Sacerdoti (2014) 17 legt fest: »[O]f the three Flavian poets, Silius develops this theme the most«. Der bei Strobl (2002) 202 angegebene Verweis zur Betonung dieser Charaktereigenschaft Hannibals auf Sil. 7,154 f. ist insofern unglücklich, als die Schlaflosigkeit Hannibals dort weder direkt nach dem Alpenüberstieg noch ohne direkten Feindkontakt stattfindet, wie Strobl es erscheinen lässt, sondern in Konfrontation zu einem wahrhaft ernstzunehmenden Gegner Fabius Maximus.

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ist, erkennt man einen charakteristischen Unterschied in den speziellen curae Hannibals zu beispielsweise den fürsorglichen curae eines Aeneas. 43

Die nächtliche Aktivität von Silius’ Hannibal Das siebte und das zwölfte Buch nehmen im Handlungsverlauf der Punica allein bereits insofern signifikante Rollen ein, als es die wenigen Krisensituationen sind, in denen sich Hannibal während seines (zunächst) massiven Siegeszuges im Feindesland befindet. Um diese darzustellen, werden unter anderem Nachtbeschreibungen beziehungsweise die Darstellung von Tag und Nacht funktionalisiert. Die Lage wird nicht zuletzt im Wachen des Puniers erkennbar. Schon Hannibals erstes Erscheinen in den Punica zeigt ihn noch als Knaben nachts in einer besonderen Situation: Prophetische Alpträume schütteln ihn, die seine Zielorientiertheit visualisieren, die auch nachts und sogar im Schlaf anhält: iamque aut nocturno penetrat Capitolia visu aut rapidis fertur per summas passibus Alpes. saepe etiam famuli turbato ad limina somno expavere trucem per vasta silentia vocem ac largo sudore virum invenere futuras miscentem pugnas et inania bella gerentem. (Sil. 1,64–9) Und in nächtlicher Vision dringt er bereits in das Capitolium oder aber er marschiert rasenden Schrittes über die Alpengipfel. Oft auch gerieten die Diener in Entsetzen aufgrund eines wilden Schreis, der durch die tiefe Stille drang und ihren Schlaf an seiner Schwelle unterbrochen hatte, und sie fanden ihn schweißgebadet, wie er als Mann zukünftige Schlachten schlug und noch nur im Traumbild Kämpfe focht.

Im weiteren Verlauf des ersten Buches wird Hannibal charakterlich fest mit dem Wachen verbunden: nec cetera segnis / quaecumque ad laudem stimulant, somnumque negabat / naturae noctemque vigil ducebat in armis (er war nicht untätig in allen übrigen Dingen, die zum Ruhm aufrufen, und Schlaf verweigerte er der Natur und in Waffen durchwachte er die Nacht, Sil. 1,244–46). 44 Er drängt 43

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Markus Schauer hat dies unter dem Oberbegriff »Führungsstil« für Aeneas aufgezeigt; vgl. Schauer (2007) 230–33. Er betont, »daß in der Darstellung des sorgenvollen Aeneas auch Unentschlossenheit, Unsicherheit und Hilflosigkeit mitschwingen, so daß aus dem vorsorgenden mitunter auch ein schwankender und zögernder Anführer wird« (232). Dies entspricht Hannibals Charakteristik in Liv. 21,4,6 f. vigiliarum somnique nec die nec nocte discriminata tempora. id quod gerendis rebus superesset quieti datum; ea neque molli strato neque silentio accersita; multi saepe militari sagulo opertum humi iacentem inter custodias stationesque militum conspexerunt. Vgl. auch Catilina in Sall. Catil. 5,3 corpus patiens . . . vigiliae supra quam cuiquam credibile est. Dass diese Charaktereigenschaft als Feldherrntugend und Zeichen der virtus galt, zeigt auch die Rede der Virtus an Scipio in Sil. 15,109 f.: stramine proiectus duro patiere sub astris / insomnes noctes frigusque famemque domabis.

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zu handeln, ist ingenio motus avidus (Sil. 1,56) und verweigert Schlaf gar wider die Natur: solusque nequit perferre quietem (Sil. 4,44). 45 Wiederholt nutzt er die Nacht als Verbündete; so die alta silentia noctis in Sil. 5,2, um seinen Hinterhalt am Trasimenischen See vorzubereiten (vgl. o. 255). Es verdient besondere Erwähnung, wenn der punische Heerführer einmal vermeintlich zur Ruhe kommt, etwa als in Spanien Sagunt erobert ist, und weitere Kriegshandlungen zeitlich wie lokal zunächst fern sind: tandem sollicito cessit vis dura labori, / belligeramque datur somno componere mentem (endlich gab seine unbändige Energie der Anstrengung nach, und es war dem Unruhigen vergönnt, sein Kriegergemüt dem Schlaf hinzugeben, Sil. 3,161 f.). 46 Jupiter aber, der die Römer durch ein Aufeinandertreffen mit Hannibal prüfen will, schickt Merkur, um die Kriegslust des schlafenden Puniers zu reizen. Er mahnt apodiktisch an die Feldherrentugend vigilantia: »turpe duci totam somno consumere noctem, / o rector Libyae« (»es ist eine Schande für einen Anführer, Lenker Libyens, die ganze Nacht im Schlaf aufzubrauchen«, Sil. 3,172 f.): 47 Krieg, so Merkur weiter, sei eben dann, wenn der Kommandeur wache: »vigili stant bella magistro«. Prätext ist die Szene der Aeneis, in der Merkur Aeneas zur Eile mahnt, Karthago zu verlassen, »potes hoc sub casu ducere somnos . . . ?« (Aen. 4,560) und »heia age, rumpe moras« (569). Unverkennbar spiegelt sich hier ebenso der Aktionismus von Lucans Caesar in der Parallele Lucan. 5,409 f. wider: turpe duci visum rapiendi tempora belli / in segnes exisse moras (dem Heerführer schien es schändlich, dass die Zeit für rasche Kriegsführung in träger Verzögerung verging) 48 Es kommt im Epos nicht selten vor, dass ein schlafender Anführer eine göttliche Eingabe erhält und durch sie geweckt wird, um eine günstige Gelegenheit möglichst schnell oder überhaupt nutzen zu können. 49 45 46

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Vgl. hierzu auch Sil. 10,330 f. (o. zit. 263). In 3,198 f. wird deutlich, dass Hannibal selbst in dieser Situation nicht fest schlief: neque enim sopor ille nec altae / vis aderat noctis. Auch in Capua, als sich die Punier zu allzu viel Schlaf und allerlei nächtlicher Feierlichkeit hinreißen lassen, donec laeta virum solvit convivia somnus (11,368), ist Hannibal zunächst dem Schlaf und Feiern nicht völlig ergeben: Schon lange vor dem Sonnenaufgang ist er wieder beschäftigt (371 f.); in 11,420–23 erliegt er dann ebenfalls den Lockungen des Luxus. Nachempfunden ist dies dem Traum Agamemnons in Hom. Il. 2,24 f. oŒ qrò pann‘qion e’dein boulhfÏron ändra / ≈ lao– t+ ‚pitetràfatai ka» tÏssa mËmhle (s.o. Anm. 41). Dort ist Caesar indes zunächst nicht aufgrund der Nacht, sondern aufgrund des Winterwetters gezwungen zu verharren. Zu Lucans Caesar als Aktionist und ›Nachtmensch‹ vgl. Radicke (2004) 113–15 und 121. Juno weckt Hannibal vor der Schlacht am Trasimenus in der Gestalt des Seegottes in Sil. 4,732 »pelle moras. brevis est magni Fortuna favoris«; die Tellus Latiae mahnt den Konsul Nero in 15,548 zur Eile »rumpe atque expelle quietem« und 556 »surge, age, fer gressus« (s. hierzu auch o. 258 f.). In Sil. 8,207–9 findet die von Juno gesandte Nymphe Anna Hannibal typisch wachend vor: ille virum coetu tum forte remotus ab omni / incertos rerum eventus bellique volutans / anxia ducebat vigili suspiria voce. Sie weist ihn, der von Fabius auf die harte Probe gestellt wurde (s.u. 266 f.) und somit cura aegrescente (212) wacht, an: »eia, age, segnes / rumpe moras« (214 f.).

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Das Gegenstück ist hingegen seltener: Hannibals Wachen und Tatendrang nach der Schlacht bei Cannae ist bereits beschrieben worden; er will direkt am nächsten Tag zum Marsch auf Rom ansetzen. Doch wird das dadurch verhindert, dass Juno Somnus sendet, der Hannibal Schlaf bringt, 50 und somit einen Einhalt seines Tuns. Die Gottheit beschwört zudem einen Traum herauf, der vor Jupiters Zorn warnt. So kommt es, dass Hannibal hier noch den Marsch auf Rom unterlässt (Sil. 10,326– 71). Zuvor, im siebten Buch der Punica, befindet sich Hannibal in einem enervierendem Katz- und Mausspiel mit dem römischen General Fabius. Schon hier sucht er, die Nacht zu seinem Vorteil zu nutzen: nunc nocturna parat caecae celantibus umbris / furta viae (nun plant er geheime nächtliche Märsche, da unbemerkt sie die Finsternis verbirgt, 7,135 f.). Die Lage ändert sich nicht, was ihn – nach den anhaltenden Erfolgen zuvor – schlaflos über die Situation nachsinnen lässt (7,154–56). Fabius gelingt es schließlich sogar, die punische Armee einzukesseln. Eindrucksvoll nimmt Silius den epischen Topos der aufgrund existentieller Sorgen wachenden Anführer auf: cuncta per et terras et lati stagna profundi condiderat somnus, positoque labore dierum pacem nocte datam mortalibus orbis agebat. at non Sidonium curis flagrantia corda ductorem vigilesque metus haurire sinebant dona soporiferae noctis. (Sil. 7,282–87) Alles sowohl über die Länder als auch über die Wasser der weiten See hatte der Schlaf zur Ruhe gebracht, und der Erdkreis verbrachte, da man nun das mühevolle Tagwerk beiseitegelegt hatte, den Frieden, den die Nacht den Sterblichen gewährte. Doch nicht ließen das von Sorgen brennende Herz und die Ängste, die einen Menschen wach halten, es zu, dass der sidonische Führer die Gaben der schlafbringenden Nacht erfuhr.

Zunächst ist es eine typische universelle Ruhebeschreibung der Nacht, dann zeigt sich – im Gegensatz (at) – der von Sorgen malträtierte Feldherr Hannibal. 51 Joy Littlewood verweist in ihrem Kommentar zum siebten Buch der Punica unter anderem auf das Modell von Homers Agamemnon in Ilias 10. 52 Dort besucht der sorgenvoll schlaflose Heerführer seinen Bruder Menelaos, um Rat zu halten; hier sucht Hannibal nachts seinen Bruder Mago auf. Er findet diesen im Halbschlaf: nec degener ille / belligeri ritus taurino membra iacebat / effultus tergo et mulcebat tristia somno (und Mago lag ganz und gar nach Art des Kriegers ausge50

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Eine typisch mythische Zeichnung: Sil. 10,354–56 quatit inde soporas / devexo capiti pennas oculisque quietem / inrorat, tangens Lethaea tempora virga; vgl. Palinurus in Verg. Aen. 5,854–57. Vgl. das Modell der karthagischen Ahne Dido in einer schlaflosen Nacht, das durch at gekennzeichnet ist (s.o. 261); s. auch die Einleitung Littlewoods (2011) xxii sq. Vgl. Littlewood (2011) zu 7,282–84 und 285 f. Desweiteren vergleicht sie Pompeius in Lucan. 8,161 und Cato in Lucan. 2,239 f. Sie verweist ferner auf Diomedes in Verg. Aen. 8,19. Zur Episode in Punica 7 s. auch Littlewood (2013b).

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streckt auf einer Stierlederdecke und suchte, die schlimme Situation durch Schlaf zu lindern, Sil. 7,291–93). Es entwickelt sich ein Krisengespräch, in dem Mago sich zunächst nach Hannibals Wachen erkundigt: »quae te cura vigil fessum, germane, fatigat?« (Bruder, welche wachrüttelnde Sorge lässt dir ermatteten keine Ruhe?, 302); Hannibal antwortet: »Fabius me noctibus aegris, / in curas Fabius nos excitat« (»Fabius rüttelt mich zu Sorgen auf in langer, kummervoller Nacht«, 305 f.). Die Situation ist prekär, Fabius ein starker Gegner. 53 Sie fassen einen Plan und alarmieren die punischen Unterführer, die dort der Reihe nach ebenfalls in einer besonderen Art von Schlaf- oder Wachzustand erscheinen: Acherras ist pervigil (7,341) und ein Mann, der nur wenig Schlaf benötigt; 54 Maraxes befindet sich in einem bellantem somnum (7,329) – er kämpft im Schlaf weiter. Im Zuge dieses Zustands lässt Silius Mago geradezu metapoetisch eine Sentenz formulieren, die für die Aktivitätsverteilung bei Nacht und Tag im Epos allgemeingültige Wirkung besitzt: »tenebris, fortissime ductor, / iras compesce atque in lucem proelia differ . . . « (»bei Dunkelheit, tapferer Führer, zähme deinen Zorn und schieb’ die Kämpfe auf ins Tageslicht«, 7,329 f.). Der Kampf also gehöre dem Tag, die Nacht sei zu nutzen, und zwar ad fraudem occultamque fugam (7,331): Die Nachthandlung wird fortgesetzt und mündet in der List Hannibals, sich die Dunkelheit und die menschliche Vorstellung von Schrecknissen in der undurchsichtigen Nacht zu Nutze zu machen (7,318 f.). Er lässt Fackeln an die Hörner von Rindern binden. In Bewegung gebracht, ermöglichen diese seinem Heer schließlich durch die beim römischen Gegner einsetzende Panik den Ausbruch aus dem Kessel. 55 Auch hier wird deutlich: Hannibal und die Nacht passen zusammen. Als ›Nachtmensch‹ bleibt er möglichst auch in ihr aktiv und im ganz konkreten Sinn ein ausgeprägter Handlungsträger – er agiert ebenfalls dort, wo andere aufhören und ruhen. Das nutzt er nicht selten zu seinem Vorteil. 56 Zugleich untermalt die Verbindung zur Dunkelheit das düstere Bild des punischen Heerführers: »Silius represents Hannibal as a creature of darkness« (Littlewood [2011] lxxiv). 57

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Fabius wird selbst später im sehr positiven Sinne als vigil charakterisiert (7,377). Sil. 7,339 f. cui parca quies minimumque soporis / nec notum somno noctes aequare. Um den Plan zu verwirklichen, müssen sie eilen, dum caeca silentia dumque / maiores umbrae (Sil. 7,350 f.). In der Quelle Liv. 22,16,5–17,7 spielt sich die Anekdote zwar natürlich als genuiner Bestandteil der List ebenfalls nachts ab. Details, wie die Unterredungen und der Schlaf der Punier, hebt Livius indes nicht hervor. Die Nacht verhindert dort ein Gefecht: nox aequato timore neutros pugnam incipientes ad lucem tenuit (22,17,7; vgl. die oben zitierten Worte Magos aus Sil. 7,330). Vgl. dagegen seinen Bruder Hasdrubal in Buch 15 der Punica, s.o. 259. Vgl. auch Littlewood (2013a) 203–15; sie konstatiert: »Patterns of darkness and light accentuate Punica’s ethical judgements« (215).

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Hannibal und die Nächte vor Rom Sowohl Hannibals Haltung als auch die Situation für Hannibal vollziehen einen Wandel vom siebten zum zwölften Buch: Von defensiv zu offensiv; aber paradoxerweise zugleich von stark zu schwach. Der punische Heerführer verzweifelt am Versuch, die verbündete Stadt Capua aus der Umklammerung der Römer zu befreien. Im letzten Drittel des zwölften Buches entschließt er sich – nunmehr eigentlich aus der Not – auf Rom zu marschieren. Schon auf dem Weg nach Rom ist Hannibals unwirscher Drang erkennbar: non expectato, Titan dum gurgite lucem / spirantis proferret equos, impellit in agmen / voce manuque viros (er treibt ohne zu warten, bis Titan aus der Meerestiefe seine Licht schnaubenden Pferde zum Vorschein kommen lässt, die Männer mit Stimme und Geste in Kolonne, Sil. 12,508–10). Hannibal lässt sein Heer vor Ungeduld – non expectato – noch vor Sonnenaufgang losmarschieren 58 und wird nach dem anschließenden Eilmarsch drei Nächte und drei Tage vor Rom stehen, die auf besondere Art und Weise akzentuiert werden und die Erzählung strukturieren. 59 In dieser zugespitzten Situation vor Rom sind große Teile der Passage durch Hannibal fokalisiert. Man erlebt seinen Misserfolg mit ihm. In der Nacht kommt er vor Rom an. Dass er es vermag, die Naturgesetze des Schlafs außer Kraft zu setzen, wird nochmals deutlich, hier erneut im Gegensatz zu seinen Truppen, die dem Schlaf nachgeben (müssen). So gewährt er dem Hauptheer nach dem intensiven Gewaltmarsch gezwungenermaßen die nötige Ruhe: Poenus . . . ad somnos vix totam cursibus actae / indulsit pubi noctem (der Punier gewährte seiner Streitmacht kaum die ganze Nacht zum Schlaf, obwohl sie im Eilmarsch vorangetrieben worden waren, Sil. 12,558 f.). Selbst sammelt er ohne Rast einen Expeditionstrupp und reitet noch vor Tagesanbruch vor die Tore der Stadt. Die persönliche Dynamik Hannibals wird vor Rom auf eine neue Stufe gehoben und durch seine allgemeine Einstellung zum Schlaf expliziert: vigil ipse nec ullam / ad requiem facilis credensque abscedere vitae / quod sopor eripiat tempus . . . (unterdessen wacht er selbst und ist für keine Ruhe zugänglich. Im festen Glauben, die Zeit ginge verloren, die der Schlaf dem Leben entreiße . . . , 12,559–61). Ipse hat hier adversativen Sinn, gerade so wie die typische Konstruktion mit at – Hannibal im Gegensatz 58

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Silius hält sich zwar an die historischen Überlieferungen eines Aufbruchs vor Tagesanbruch bei Livius und Polybios (vgl. Liv. 26,7,10; Pol. 9,5,7); jedoch lässt der Erzähler der Punica den Abmarsch nach Rom weniger rational-taktisch (um einen Überraschungseffekt gegen die Römer zu erhalten) als vielmehr emotional begründet erscheinen (durch die Gier, das Endziel Rom zu erreichen: In 12,513 gibt Hannibal Romam petis als Devise aus). Zur Bedeutung der Dreizahl s. Laroche (2002) 295–302 in Bezug auf die Aeneis; Telg genannt Kortmann (in Arbeit) in Kapitel V.4. Ganz im Gegensatz zu der Erzählung in den Punica nehmen Tag und Nacht in Silius’ Hauptquelle Livius 26,10,3–11,7 so gut wie keine narrative Funktion ein. Sie zeigen dort lediglich auf, dass die Situation vor Rom sich über mehrere Tage erstreckte.

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zu seinen Soldaten. Er ist der Heros der Punica, der Übermenschliches zu leisten imstande ist, doch immer Sterblicher bleibt. Seine Fähigkeiten hat sein Heer jedoch nicht, und Hannibal allein kann sein Ziel nicht erreichen. Man meint gar philosophische Ansätze erkennen zu können, wie sie etwa bei Seneca zu finden sind; dass durch Schlaf die Lebenszeit, nämlich die Zeit etwas zu bewirken, eingeschränkt werde. 60 Geradezu dämonisch wirkt Hannibals direkt anschließende Expedition vor die Stadttore, die durch seine diabolische Freude und die Panik der Römer geprägt ist, als er sogar mit der Lanzenspitze an das Stadttor klopft (563– 73). 61 Bei Anbruch des zweiten Tages lässt er sein Heer zum Kampf aus dem Lager strömen, sobald die Nacht vom Himmel vertrieben, vom ersten Sonnenlicht das Meer errötet und Aurora wieder zu Aufgaben ruft: atque ubi nox depulsa polo primaque rubescit / lampade Neptunus revocatque Aurora labores / effundit rupto persultans agmina vallo (574–76). 62 Auf der Gegenseite werden die Römer von ihren Familien angstvoll verabschiedet, als gingen sie in einen Kampf ohne Wiederkehr (587–99). Nur durch einen plötzlich einsetzenden, durch Jupiter ausgelösten Sturm wird Hannibal schließlich aufgehalten; der Sturm bringt eine solche Dunkelheit, dass die Hand nicht mehr vor Augen gesehen werden kann. Eine Schlacht ist – als ob Nacht wäre – nicht mehr möglich: caelumque tenebris / clauditur, et terras caeco nox condit amictu (und der Himmel verschließt sich in Düsternis, und Nacht birgt die Erde unter ihrem dunklen Umhang, 612 f.). Der Sturm wird als nox bezeichnet, ist eine Nacht. 63 Hannibal selbst verkennt den göttlichen Ursprung des Sturms und versucht, auch seine Männer von der vermeintlichen 60

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Vgl. Sen. epist. 8,1; 88,41; 117,32; auch Strobl (2002) 74. Erich Burck verweist mit Recht auf den Tatendrang von Lucans Caesar (Burck [1978] 21); vgl. die Charakteristik in Lucan. 2,656–58 Caesar in omnia praeceps, / nil actum credens, cum quid superesset agendum, / instat atrox; ferner auch Caesars nächtliche Expedition in 5,504–10. Zum verbreiteten Gedanken, durch übermäßiges Schlafen Zeit zu vergeuden, vgl. auch Plaut. Rud. 923 nam qui dormiunt libenter, sine lucro et cum malo quiescent; Ter. Adelph. 693 credebas dormienti haec tibi confecturos deos? Zur Notwendigkeit des Schlafes in der Antike s. Wöhrle (1995) 63–77. Obschon die Expedition vor die Tore in den Punica nachts stattfinden musste, werden während des Erkundungsritts selbst keine konkreten Hinweise auf eine Nachtzeit mehr gegeben; vgl. aber die Rahmung mit Nacht (12,558–62) und Tagesanbruch (574 f.). Man beachte die inhaltliche Einbettung des Sonnenaufgangs (vgl. o. 256): Die labores mögen zunächst konventionell erscheinen (vgl. u.a. Verg. Aen. 11,182 f. und Fröhlich [2000] zu Sil. 6,3 f.), können aber als eine Ankündigung von kriegerischen Geschehen und damit zusammenhängenden durchzustehenden Mühen geltend gemacht werden. In der Episode ist also die Idee der Aktion am Tag bzw. des Aktionsverlustes durch Schlaf entweder implizit oder explizit formuliert; vgl. neben den labores noch den usus vitae in 12,649 und Hannibals Maxime in 559–61. Wenn auch diese Bezeichnung nicht unüblich ist (vgl. u.a. Verg. Aen. 1,89; 3,195. 198; Ov. met. 14,471; Lucan. 5,627), so nimmt sie hier eine ganz besondere Funktion ein (s.u. 272).

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Profanität zu überzeugen. Die Römer dagegen erkennen, dass Jupiter selbst sie beschützt hat. Sie beten bis in die Nacht hinein und ruhen dann vertrauensvoll (646 f.). Hannibal verlässt die Bildfläche dieses Tages bereits zuvor mit Drohungen gegen Rom und verschiebt die (Kampf-)Handlung auf den folgenden Tag: »sed non te crastina nobis / lux umquam eripiet« (»doch nie und nimmer wird dich mir das morgige Tageslicht entreißen«, 12,634 f.). Dabei heizt er seine Wut noch vor der Nacht von neuem an: resuscitat iras (632) – man darf folglich davon ausgehen, dass er auch in der kommenden Nacht wenig Schlaf erlangt. 64 Der zweite Tag bricht an: vitae rediit mortalibus usus (und für die Sterblichen war die Möglichkeit, das Leben zu nutzen, wieder zurück, 12,649). Prompt tritt Hannibal auf. Auch die Römer verweigern sich nicht der Schlacht, nun offensichtlich zuversichtlicher (650 f.). Die Schlachtreihen stehen sich gegenüber – und ein göttlicher Sturm verhindert erneut einen Kampf. Die Wiederholung wird zum narrativen Medium. Hannibal bleibt uneinsichtig und erklärt seinen Leuten leidenschaftlich, dass das Unwetter keinen göttlichen Ursprung habe, und er tut dies bis zum Nachteinbruch: sic pectora flammat, / donec equum Titan spumantia frena resolvat (auf die Weise suchte er solange die Herzen zu entflammen, bis Titan den schäumenden Zaum der Pferde löste, 680 f.). Hannibal wacht anschließend. Es enthüllt sich nun das so typische nächtliche Szenario der Verarbeitung und der Zukunftssorge in der alliterativen Wendung in 12,682 nec nox composuit curas (und die Nacht legte seine Verzweiflung nicht bei). 65 Es sind die curae, die wie so oft wörtlich als Grund des Wachseins angegeben werden. Dieses Wachbleiben wird in der Aufnahme eines einzigartigen und auf Hannibal zugeschnittenen Ereignisses unterstrichen, das seine generelle Gefährlichkeit wie auch seine gegenwärtige Haltung enthüllt: eine grimmige Form der curae. Denn der allmächtige Schlafgott Somnus, der selbst die Götter bezwingt, wagt es nunmehr tatsächlich nicht, sich dem Wütenden zu nähern nec . . . Somnusve frementem / ausus adire virum (682 f.). Hannibal ist in seinem aktuellen Zustand selbst für göttliche Gestalten bedrohlich. 66 Nicht nur normaler Schlaf, auch göttlich herbeigerufener erreicht ihn nicht: In Buch 10 kam der von Juno gesandte Somnus noch an den damals siegreichen Hannibal heran. 67 Dessen Wahn zeigt sich auch am nächsten Morgen, an Tag drei vor Rom: 64 65

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Vgl. dagegen Magos für die Nacht geltende Worte an Maraxes in 7,330 iras compesce (s.o. 267). Componere ist ein Verb des Beendens (vgl. Van Sickle [1984] 135). Seine Verneinung lässt Hannibal in der Nacht allein die Sorgen, die durch den Misserfolg erlangte, fortsetzen. Vgl. dagegen die allumfassende Darstellung in Stat. Theb. 3,415 f. nox subiit curasque hominum motusque ferarum / composuit. Hierzu Marks (2005) 195 mit Anm. 84. Zu Hannibal als Götterantagonisten s. Fucecchi (1990), Chaudhuri (2014) 231–55 und Telg genannt Kortmann (in Arbeit) in Kapitel III.1.b. S.o. 266. Eine intertextuelle Steigerung erfährt die Hannibalfigur vor dem Hintergrund der epischen Vorlagen Hom. Il. 14,231–353 und Ov. met. 1,668–721 dadurch, dass Juno

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Der Ausbruch all der in der Untätigkeit der Nacht aufgestauten verzweifelten Wut geschieht zeitgleich mit dem Sonnenaufgang redeunt cum luce furores (12,683). Zumal die Römer nun eigentlich Hannibals nächtlichen Handlungsraum genutzt und noctu (688) unbemerkt Hilfstruppen aus Rom entsandt haben. Letztlich will der rasende Punier noch gewaltsamer vorgehen. In die Rolle des Götterverächters wird er auch sonst versetzt, doch ist sie selten so drastisch formuliert: Er wird als ein zweiter Salmoneus, ein sagenhafter Nachahmer Jupiters, beschrieben. 68 An diesem Tag aber greift seine Unterstützerin Juno ein und zeigt ihm endlich die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens auf, indem sie ihm die ganze Riege von Göttern offenbart, die im deutlichen Abbild einer Gigantomachie gegen ihn vorgehen. 69 Allen voran opponiert der stürmende Jupiter. Als Hannibal das realisieren muss, zeigt er sich (zumindest kurzfristig) beeindruckt und zieht ab. Im zwölften Buch geht Hannibals Wachen also weit über die üblichen curae eines Heerführers hinaus. Er ist bei drei Nachtbeschreibungen dreimal wach; zweimal explizit. Mit den fortdauernden und immer gleichen Rückschlägen geht ein signifikanter emotionaler Prozess einher, den der punische Heerführer durchläuft: Hannibal wacht zunächst aus kämpferischem Drang. Sein ungeduldiges Agieren in der ersten Nacht bleibt jedoch ohne seine Streitmacht und ohne Aussicht auf erfolgreichen Nachtkampf unvollkommen. Die zweite Nacht nach dem bislang nur als rein zufällig wahrgenommenen Unwetter ist für ihn Aufschub – bis zum ersehnten Morgen bleibt er notgedrungen untätig. Die Klimax wird im Wachen der dritten Nacht erreicht: Hannibal ist nun der verzweifelte Anführer, der sich selbst des Vorhabens nicht mehr sicher scheint, sich aber sodann – anders als die Modelle der Prätexte – in einen höchstaggressiven furor steigert. 70 Im episodenhaften Charakter der Erzählung besticht ein zusätzliches Merkmal: Der Sturm, der an jedem Tag Hannibal von der Eroberung abhält, macht fortwährend den Tag zur Nacht und verhindert so einen Kampf auf doppelter Ebene: Bei schwerem Unwetter ist ein Kampf kaum durchführbar, bei zusätzlich hervorgehobener nachtgleicher Sicht ist er unmöglich. – Es wird betont, dass der Gegner nicht gesehen wird: instat tempestas oculis, hostique propinquo / Roma latet (da befällt Sturm die Augen, und für den schon nahen Feind liegt Rom

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in Sil. 10,343–50 sagte, dass Somnus weder Jupiter noch Argus einschläfern müsse, sondern ›nur‹ Hannibal; eben jenen Hannibal, an den Somnus – anders als bei Jupiter oder Argus bei den Vorgängern – im zwölften Buch keine Annäherung mehr wagt. Vgl. Sil. 12,684 f. und 699 f. mit Verg. Aen. 6,585–94. Die Darstellung ist eine Kontrastimitation davon, wie Venus in der Iliupersis Vergils dem Aeneas die Götter aufdeckt, die gegen Troja vorgehen, vgl. Sil. 12,701–28 mit Verg. Aen. 2,588–623. Zur Gigantomachie vor Rom s. Telg genannt Kortmann (in Arbeit) in Kapitel III.1.b. Eine Klimax von gestörtem Schlaf findet sich etwa auch bei Vergils Dido – dort ist es eine Steigerung des Liebeswahns, die sie wachen lässt: Zunächst wacht sie, weil sie in Liebe entbrennt (Verg. Aen. 4,1–5), dann steigert sich die Liebe (80–3), schließlich wird sie durch Aeneas enttäuscht, von Alpträumen gequält (460–73) und bleibt in ihrer letzten Nacht ohne jeden Schlaf (529–32).

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nun verborgen, Sil. 12,614 f.). In 12,655 heißt es beim zweiten Sturm coepit dies fugere. 71 Es finden sich also Nachtbeschreibungen innerhalb der Sturmbeschreibungen an den Tagen. 72 Die Naturgesetze sind durch die göttliche Sturmmacht außer Kraft gesetzt. Diese künstlich hervorgerufene Nacht bedeutet nach den literarischen Konventionen wie eine reale Nacht ein Ende aktiven Handelns. Hannibal drängt es aber, des Nachts (d. h. auch während des Sturms) zu agieren, ohne diesen Drang in die Tat umsetzen zu können. Jedesmal, wenn sich die Schlachtreihen notgedrungen auflösen und in ihre Lager zurückkehren, klart der Himmel direkt und mirakulös wie in typisch epischen Szenarien eines anbrechenden neuen Tages auf; so besonders eindringlich am letzten Tag: redditur extemplo flagrantior aethere lampas / et tremula infuso resplendent caerula Phoebo (sogleich ist wieder da glänzender noch am hohen Aether das Sonnenlicht, und, als Phoebus in es einströmte, strahlt flirrend wider das Himmelsblau, 12,731 f.; 732 ist ein ›goldener Vers‹). 73 Dieses letzte Aufklaren ist zugleich positives Stimmungsbild römischer Hoffnung bei einer endgültigen Bannung der Gefahr und steht auch, wie jedes Aufklaren vor Rom, der Düsterheit und der Dunkelheitsverbindung der Hannibalfigur entgegen, wenn er aufgehört hat vorzudrängen. 74 Der jeweilige echte Morgen vor Rom hingegen kehrt die Konvention um. Er bedeutet spiegelbildlich für Hannibal neue Hoffnung, einen neuen Anlauf. Dieser benötigt die crastina . . . / lux (634 f.), den kommenden Tag mit seinem Licht. 75 Für die Römer bedeutet der Tag zunächst

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Vgl. die nox aus dem ersten Sturm in Sil. 12,613 (o. zit. 269). S. auch Marks (2005) 198. Vgl. z.B. Verg. Aen. 8,170 et lux cum primum terris se crastina reddet oder den Thesaurusartikel ThLL 7,1,1506,32–56 s.v. infundo. Dort werden die jeweiligen Schlagworte einem Sonnenaufgang bei Tagesanbruch zugeordnet. Man kann den tatsächlichen Sonnenaufgang in 12,648 gegenüberstellen: attollens rutilantem lampada Titan. Vgl. auch das Aufklaren an den anderen Tagen vor Rom in Sil. 12,637 f. ecce serenato clarum iubar emicat axe, / purgatusque nitet discussis nubibus aether und 665 f. laeta serenati facies aperitur Olympi. Zum heilbringenden Sonnenaufgang s.o. 256. Vgl. etwa das Gleichnis Sil. 7,727–29; auch das Erreichen Latiums durch die Troer in Verg. Aen. 7,25–30 oder die rettende Ankunft des Aeneas beim Lager der bedrohten Trojaner mit dem Sonnenaufgang in Verg. Aen. 10,257; vgl. ferner Brauneiser (1944) 181 f. Insofern können die Szenarien der echten Morgen vor Rom durchaus kontextuell bedrohlich wirken, wenn sich das Meer blutrot färbt und Aurora labores zurückbringt (12,574 f.); wenn Titan (ein Fingerzeig auf Hannibals titanische Ambition) den Abendstern mit dem recht drastischen Verb obruere vertreibt (648 f.). Die nachtgleiche Dunkelheit im ersten Sturm legt sich hingegen geradezu sanft und willkommen auf die Erde: terras caeco nox condit amictu (613). Zur weiteren Einbettung s. Telg genannt Kortmann (in Arbeit) zu den Stellen. Vgl. auch den Aufschub der Eroberung Capuas in 13,254 ni caeca sinu terras nox conderet atro (s.o. 257). Vgl. dagegen das Szenario mit dem düster-bedrückenden amictu in Sil. 5,36 f. (s.o. 256).

Jan Telg genannt Kortmann

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Bedrohung und sowohl die echte Nacht als auch die künstliche ›Nacht‹, der Sturm, Rettung. 76 Hannibal sucht, seinem Charakter entsprechend, als ein geradezu manischer Aktionist und ein im wahrsten Sinne des Wortes gigantischer Antagonist Naturgesetze außer Kraft zu setzen und über die Grenzen des Menschlichen hinauszuwachsen; auch im Wachen. In Buch 12 kommt dies in Verbund mit dem epischen Topos vom Ende und Anfang der Handlung bei Nachteinbruch bzw. dem Tagesbeginn pointiert zum Vorschein. Dass der Heerführer in der Nacht sein gewohntes Werk nicht fortsetzen kann, liegt an seinem Heer. Es bleibt menschlich und zu schwach, um das von Göttern verteidigte Rom zu gefährden. Der wachende Hannibal wird isoliert, man erfährt ausschließlich von ihm, sein Heer wird zur Nebensache. Sogar Rom wird zur Nebensache, zum Hintergrund einer epischen Gigantomachie. Die Gestaltung von Tag- und Nachtwechseln geschieht so betont, so bedeutungsvoll und geradezu stakkatohaft wie sonst nirgends im antiken Epos. Mit der zusätzlichen Komponente der ›falschen‹ Nacht am Tage durch die Stürme und einem damit verbundenen anschaulichen Spiel mit Dunkelheit und Sicht ist auch dies ein Umstand, der die Tage vor Rom exponiert. Nimmt man die inhaltliche Bedeutung von Sonnenaufgängen und -untergängen hinzu, von positivem und düsterem Stimmungsbild, dann kann man im steten Wechsel von Tag und Nacht ein Abbild der kritischen Phase für Rom zwischen Existenzangst, Bangen und schließlich Hoffnung erkennen. Der ›Aufgang‹ der Sonne am Tage nach dem letzten Sturm veranschaulicht mit dem Abzug Hannibals den Umschwung zum römischen Erfolg im Hinblick auch auf den gesamten Krieg und das Epos. Die Hannibalfigur wird unter verschiedenen Aspekten des traditionellen Bildes des Wachenden beleuchtet. Diese ›Spotlights‹ entsprechen zwar (einzeln) zumeist der epischen Tradition, variieren sie jedoch schon für sich, und gemeinsam hieven sie Hannibal hier in ein einzigartiges Rampenlicht. Entgegen Leemans Meinung zu Silius, »there are no attempts at an ›updating‹ of the topos« 77, finden sich eben doch Neuerungen in der Darstellung des einsamen Wachenden. Silius nimmt die epischen Konventionen von Nacht und Tag, von Ende und Beginn der Handlungen und vom wachenden Feldherrn auf und formt sie schöpferisch um. Der Tag- und Nachtwechsel mit täglichem Showdown vor Rom gibt der Handlung auf eine in der epischen Dichtung einzigartige Art und Weise Schwung. Um zusammenzufassen: Der Tag bringt Handlung. Das Ende des Tages ist auf der einen Seite das Ende (oder die Pause) vom Fortschritt des Geschehens auf der Handlungsebene. Dieses Ende bedeutet jedoch nicht immer auch eine Unterbre76 77

In der Episode Hannibal ad portas wird demnach die oft negative symbolische Bedeutung der Nacht (s. Becker [2013] 583 f.) revidiert. Leeman (1985) 221. Dass er an gleicher Stelle die Punica als »monstruos« bezeichnet und Silius die Begabung abzusprechen scheint, sagt viel über die an dieser Stelle oberflächliche Betrachtung aus, ebenso wie der Umstand, dass er lediglich zwei Passagen der Punica anführt, die den Topos des einsamen Wachenden aufnehmen (7,282–87; 8,164– 67).

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chung der Darstellung, und die bemerkenswerte Zeichnung des Charakterbildes kann im Nicht-Ende noch erweitert werden. 78

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Ein interessantes Gedankenspiel zu den zwei Nächten der Passage Hannibal ad portas, in denen Hannibal sorgenvoll wacht, betrifft die Divergenz von Erzählzeit und erzählter Zeit: Hannibals Wachen wird entweder nur angedeutet oder kurz erklärt. Sonstiges wird dem Rezipienten verschwiegen. Hannibal hingegen muss die gesamte Nacht hindurch warten, die für den Rezipienten nur eine kurze narrative Notiz bedeutet, für ihn aber, wie man sich vorstellen kann, genügend Zeit bietet, um seine Sorgen reifen zu lassen und sich zuletzt in wütende Raserei zu steigern.

Jan Telg genannt Kortmann

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Raymond Marks (University of Missouri)

A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica There have been many studies of the macrostructure of Silius Italicus’ Punica, but little consensus on the matter has been reached. 1 As the difficulties the Punica presents in this regard are considerable, this is not necessarily surprising. For one, there is the number of books, 17, which, as an odd number, precludes a division of the epic into halves and, as a prime number, precludes any sort of division that ascribes equal length to all of its parts. 2 To make matters worse, there is the possibility that Silius originally planned his epic to comprise 18 rather than 17 books but changed that plan after he had already composed a significant portion of it. 3 Another complicating factor is the absence of a single hero whose actions may be consistently followed from beginning to end and as such may ensure structural integrity throughout. This does not rule out, of course, the possibility of arranging the epic’s material around the multiple heroes it has, but identifying structural patterns on that basis has proved difficult as well. 4 Challenges also arise when one considers other kinds of trends in the epic, such as thematic or motival (e. g., vic1

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Martin (1946), Wallace (1958), Niemann (1975) 3–36, Burck (1979) 260–70, Kißel (1979) 211–18, Ahl/Davis/Pomeroy (1986) 2505–11, Küppers (1986) 176–92, Delarue (1992), Braun (1993), Fröhlich (2000) 18–58, 397–401, von Albrecht (2006) 114–19, Gärtner (2010), Stürner (2011). The allure of dividing the Punica into parts of equal length (e.g., halves, hexads, et al.) has proved irresistible to most researchers of its macrostructure, but it need not be assumed that this should be the case. See, e.g., von Albrecht (2006) 119 and Stürner (2011) 157–62 on ancient precedents for works whose parts (books, poems, etc.) are odd in number; cf. Wenskus (2010). For a recent discussion of the question, see Stürner (2011) 148–51, 162. The character that receives the most sustained attention is Hannibal, but he virtually disappears for a significant portion of it, books 13–16. Identifying parts according to major Roman characters, usually Fabius, and Scipio (e.g., Kißel [1979] 213–17, Delarue [1992]), has also proved difficult because of their inconsistent narrative presence in them. Fabius, for example, comes and goes in books 1–2, but is less conspicuous throughout than Hannibal, and while he is the central character of book 7, he makes only occasional appearances thereafter in the epic. As for Scipio, he makes a handful of brief appearances until the Nekyia in book 13, but because book 14 is dedicated to Marcellus’ Sicilian campaign, continuity in his story is only achieved in books 15 and 16, though it is interrupted in the former by the battle at the Metaurus, and in book 17 he receives less attention than Hannibal does.

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A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica

tory/defeat, walls, civil war) or locational (e. g., abroad, domestic, Spain, Cannae, Sicily). This is because these trends do not always (or in all respects) coalesce into neatly discrete, extended narrative units: a unit may contain digressions, may intersect or overlap with other units, or may itself be a part of a larger unit, all of which make it difficult to ascertain its integrity and its relative importance in the poem. 5 And even when one discerns a series of contiguous units, divisions between them sometimes do not coincide neatly with divisions between books; this makes the task of describing structural patterns quite difficult, as one’s tendency, rightly or wrongly, is to do so in terms of book-divisions rather than in terms of units whose divisions fall within books. These observations serve as healthy reminders that we should not be too categorical in our thinking about the epic’s structure, but they need not discourage us from considering it altogether. In this paper I take up the question of the Punica’s macrostructure, but I do so with modest expectations: I present what amounts to a preliminary step in that direction rather than a fully developed theory. My point of departure is the epic’s proem, and my contention is that it offers important clues, heretofore overlooked, about the poem’s structure. That Silius’ proem should convey such information is not in itself remarkable. Proems tend to contain much programmatic material, and sometimes that includes information regarding a work’s structure; a famous instance of this is, of course, arma uirumque, the opening words of the Aeneid. What is more, it is already acknowledged that Silius sets forth in his proem a major motival trend in the epic, namely, the moenia-motif, and thereby distingushes between two major phases in the war, the first in which Rome defends her walls, both metaphorically and literally (books 1–12), and the second in which Rome breaches the walls of Carthage, again, both metaphorically and literally (13–17). 6 But Silius, I argue, also prepares us for other structural possibilities, and he does so by inviting us to look for a middle or, rather, »middles« in his epic. Specifically, he not only anticipates the conclusion of the aforementioned first phase of the moenia-motif in book 12 as a middle, but raises the possibility of other middles, including the battle of Cannae in books 9–10 and the division between books 10 and 11. Of these possibilities I consider the last to be of particular structural importance, and this is because on the cusp of the division between books 10 and 11, precisely, the beginning of book 11, we encounter a medial proem 5

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I am aware that my use of the term »digression« is not unproblematic. Some portions of the text, such as the Falernian aetiology in Pun. 7.162–211, seem to fall neatly under this rubric, but in other cases, such as Silius’ account of the events leading up to and including the battle at the Metaurus (Pun. 15.493–823), the matter is less clear-cut. Do we view these events as digressive from the prevailing Scipionic narrative, by which they are surrounded, or as integral to it? I should also make it clear that, to my mind, the coexistence of multiple structural patterns does not diminish our appreciation of the epic. Kißel (1979) 211–18 and Delarue (1992) offer structural analyses that include multiple patterns. On this, see pp. 281–83 below.

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that signals a division of the war, i. e. the war proper between Rome and Carthage as recounted in books 4–17, into two seven-book halves (4–10, 11–17). In support of this reading I examine the proem’s relation to the medial proems in book 7 of Virgil’s Aeneid and book 3 of Apollonius’ Argonautica. 7 To begin, let us turn to the first sixteen lines of the Punica:

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Ordior arma, quibus caelo se gloria tollit Aeneadum patiturque ferox Oenotria iura Carthago. da, Musa, decus memorare laborum antiquae Hesperiae, quantosque ad bella crearit et quot Roma uiros, sacri cum perfida pacti gens Cadmea super regno certamina mouit quaesitumque diu, qua tandem poneret arce terrarum Fortuna caput. ter Marte sinistro iuratumque Ioui foedus conuentaque patrum Sidonii fregere duces, atque impius ensis ter placitam suasit temerando rumpere pacem. sed medio finem bello excidiumque uicissim molitae gentes, propiusque fuere periclo, quis superare datum: reserauit Dardanus arces ductor Agenoreas, obsessa Palatia uallo Poenorum, ac muris defendit Roma salutem. (Pun. 1.1–16)

I begin my song of the arms by which the fame of the Aeneadae raises itself to the sky and fierce Carthage is made to endure Oenotrian authority. Muse, allow me to recall the glorious exploits of ancient Hesperia and the great and many men Rome bred for war when the Cadmean people, betraying a sacred pact, incited a struggle for rule and it was long in doubt on which citadel Fortune would eventually place the head of the world. Three times with unpropitious war Sidonian leaders broke a treaty, sworn in Jupiter’s name, and their agreements with the senate, and three times the impious sword urged them to violate and dishonor a peace they had agreed upon. But in the middle war both peoples strove to annihilate and put an end to each other, and those to whom it was given to prevail were closer to extreme peril: a Dardanian leader opened the gates of the Agenorean city, the Palatine was besieged by a wall of Carthaginians, and Rome used her walls to keep herself safe.

Silius leaves no room for doubt that these lines mark a beginning. They contain the distinguishing features of a poetic proem, such as an invocation of the Muse, an announcement of the poem’s subject matter, and references to literary models, and ordior (»I begin«) is even the first word. 8 Silius also conveys this idea when identifying his models, as he alludes extensively to »beginnings« in their works; 7 8

For an overview of medial proems in ancient literature, see Conte (1992). The proemial character and function of these lines are well recognized; so, e.g., von Albrecht (1964) 16–24, Küppers (1986) 22–60, Laudizi (1989) 57–70, Tipping (2004) 347–51, Marks (2005a) 67–72, Tipping (2010) 1–7. There is, nevertheless, some question about what constitutes the proem; on this, see Küppers (1986) 23–45 and Laudizi (1989) 57–8, 60–4, who argue that it extends to line 37.

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A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica

the proem of Virgil’s Aeneid is especially well represented, but there are also allusions to the preface of Livy’s third decade, the proem of Apollonius’ Argonautica, and the proem of Lucan’s Bellum Civile. After the proem, he continues to evince a preoccupation with beginning his epic and establishing the fact thereof: tantarum causas irarum odiumque perenni seruatum studio et mandata nepotibus arma fas aperire mihi superasque recludere mentes. iamque adeo magni repetam primordia motus. (Pun. 1.17–20) It is right for me to explain the causes of such great anger, the hatred they nurtured with constant zeal, and the hostilities they handed down to their descendants and to reveal the intentions of the gods. And so, I shall now go back to the origins of this great conflict.

The verbs aperire and recludere and the noun primordia emphasize this point, as do allusions to the Aeneid’s proem and to the beginning of Lucan’s discussion of the causes of civil war in Bellum Civile 1. 9 The beginning of the Aeneid, I might add, continues to be a relevant intertext immediately hereafter: just as Virgil, after his proem, turns his attention to the history of Carthage, Juno’s love of the city, and her hostility toward the Trojans (Aen. 1.12–33), so Silius turns his attention to these things, save that her hostility is now directed against Romans rather than Trojans (Pun. 1.17–37). 10 And should one press on still further into the first book, one encounters a significant amount of preliminary material, much of which accounts for Hannibal’s enmity toward Rome and appointment as leader in Spain (Pun. 1.38–270), before reaching the first action in the epic, the Carthaginian’s siege of Saguntum, which is itself prefaced by an account of the city’s origins (Pun. 1.271–95). The beginning-ness of Silius’ epic is without question; it cannot stop starting. All of this might appear to suggest that Silius does not follow the example of Homer or Virgil, who begin their epics in medias res. But this is not the case; for the war he recounts is, in fact, a »middle,« i. e. the »middle war« (medio bello, 12), the second, fought between Rome and Carthage. That our poet is situating his epic in the middle and as a »middle« is also suggested by allusions to the medial proem of Aeneid 7, in which Virgil announces the theme of the epic’s second half, the war in Italy:

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nunc age, qui reges, Erato, quae tempora, rerum quis Latio antiquo fuerit status, aduena classem cum primum Ausoniis exercitus appulit oris, expediam, et primae reuocabo exordia pugnae. tu uatem, tu, diua, mone. dicam horrida bella, dicam acies actosque animis in funera reges, Tyrrhenamque manum totamque sub arma coactam

For Silius’ allusions to literary models and predecessors in lines 1–20, see the studies cited in n. 8 above. See Küppers (1986) 31–3.

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Hesperiam. maior rerum mihi nascitur ordo, maius opus moueo. (Aen. 7.37–45)

Come now, Erato. I shall disclose who the kings were in ancient Latium, what the times were like, what the state of affairs was when the foreign army first landed on Ausonian shores, and I shall recount the origins of the first clash. You, goddess, you, make your poet remember. I shall tell of horrible wars. I shall tell of battles, kings courageously driven to death, the Tyrrhenian host, and all of Hesperia compelled to fight. A greater course of events is being produced; I begin a greater work.

In bella (4) Tipping detects a reminiscence of horrida bella (Aen. 7.41) and compares lines 4–5 (quantosque . . . uiros) with Aen. 7.43–4 (totamque . . . Hesperiam). 11 But there are still other connections between the two passages. Virgil’s indirect questions in Aen. 7.37–8 (qui reges . . . status) bear comparison with lines 4–5 too, and Latio antiquo (Aen. 7.38) and the temporal clause (cum) in Aen. 7.39 have counterparts in antiquae Hesperiae (4) and the temporal clause (cum) in line 5, respectively. We also hear an echo of Aen. 7.40 (primae . . . pugnae) four lines after Silius’ proem: magni repetam primordia motus (Pun. 1.20). Along these lines, we might further observe that in the first two words of the Punica, ordior arma, Silius reproduces Virgil’s arma, but does not reproduce his predecessor’s uir. It has been argued by many, including me, that the avowedly martial content of the Punica justifies the poet’s choice of arma, replete with the Iliadic overtones Virgil lends to the word, and that the absence of a corresponding uir is due both to the lack of a coherent Odyssean/travel narrative in the epic and to there being many heroes rather than one, unifying hero. 12 But arma uirumque refer not only to major themes in Virgil’s epic, but to the parts to which those themes correspond: an Odyssean first half (Aeneid 1–6) and an Iliadic second (Aeneid 7–12). Silius’ inclusion of arma and omission of uir, therefore, are consistent with his allusions to the medial proem of Aeneid 7 and with medio bello in line 12 in that they suggest that he is picking up the story of the Punic Wars in medias res, that is, not at a point such as where Virgil began the Aeneid, the beginning of the Odyssean/uir portion (first half) of his epic, but at a point such as where Virgil begins the Iliadic/ arma portion (second half). 13 The beginning of the Punica thus figures itself not simply as a beginning, but as a beginning of and in a »middle«. But what about the Punica’s structure? Does the proem anticipate major parts or phases in it, as, say, Virgil’s does with arma uirumque in the Aeneid? Many readers, including me, have argued that it does, specifically, in lines 14–6 where Silius elaborates on Livy’s claim that those who won the war were closer to peril 11 12

13

Tipping (2004) 348 and (2010) 3, where he also compares lines 4–5 with Aen. 7.643–44: quibus Itala iam tum / floruerit terra alma uiris, quibus arserit armis. So, e.g., von Albrecht (1964) 21, 180, Kißel (1979) 30, Ahl/Davis/Pomeroy (1986) 2520, Küppers (1986) 46, 50, 54–55, Laudizi (1989) 65, Tipping (2004) 347–49, Marks (2005a) 67–8, Tipping (2010) 2–4. Of course, the Aeneid itself begins in medias res and picks up Aeneas’ story at a point that recalls where Homer picks up Odysseus’ story, likewise in medias res, in Odyssey 5.

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(propiusque . . . datum, 13–4). The first event in the epic to which he looks forward here (reserauit . . . Agenoreas, 14–5) is Carthage’s defeat at the end of the war. Although a knowledgeable reader may well pause to recall that Carthage was never taken by siege, as this statement implies, we get Silius’ point, that final victory for Rome will be secured on Carthaginian soil, and might reasonably infer that Zama, the site of the last major battle in the war, will feature prominently at the poem’s end. This, in fact, turns out to be the case: toward the end of book 17 Rome defeats Carthage at Zama in a battle evocative of a siege, and immediately thereafter the gates of Carthage are opened to the Roman leader Scipio (cf. reserantur protinus arces / Ausonio iam sponte duci, 17.618–19: Straightaway, the city now willingly opens its gates to the Ausonian leader). 14 The second event in the epic that Silius anticipates (obsessa . . . salutem, 15–6) is Hannibal’s failed siege of Rome at the end of book 12. That Silius is identifying here a moment of structural significance in the poem is clear from his use of the moenia-motif (uallo, muris) and the way in which it plays off the reference to Carthage’s surrender in 14–5. For from the beginning of the epic Hannibal is obsessed with taking Rome and breaching her walls, and Silius attentively follows the Carthaginian’s path toward that goal by figuring the various obstacles in his way as prefigurations of Rome such that Hannibal, in a sense, »pre-plays« his assault on Rome in victories leading up to that event, such as at Saguntum in books 1–2 or Cannae in 9–10, or in his crossing of the Alps in 3. His failure to take Rome marks, then, the end of a major phase in the epic, after which it is Rome that breaches the walls of her enemies, including Capua (book 13), Syracuse (14), New Carthage (15), and, as is indicated in lines 14–5 of the proem, Carthage herself (17). The proem thus anticipates, from the Roman perspective, a defensive phase in the war (books 1– 12) and then an offensive phase (13–17). 15 That the epic is structured around these two events, the defense of Rome and the fall of Carthage, is further suggested by the fact that they are given in reverse chronological order, just as the two halves

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For the battle of Zama as a siege of Carthage herself, see Marks (2005a) 194–200. Also, note that Silius alludes to a sentence in Livy’s preface to his third decade, which is divided between lines 7–8 and 13–4: quaesitumque diu qua tandem poneret arce / terrarum Fortuna caput . . . propiusque fuere periclo, / quis superare datum (≈ adeo uaria fortuna belli ancepsque Mars fuit ut propius periculum fuerint qui uincerunt, Liv. 21.1.2). It is possible that a reader might infer from these echoes (and correctly, it turns out) that Silius concludes his account of the Second Punic War with Scipio’s triumphal procession in Rome (Pun. 17.625–54), just as Livy does at the end of his account of the war (Liv. 30.45). For Silius’ use of the moenia-motif in the epic, see von Albrecht (1964) 24–46. On the proem anticipating Hannibal’s siege of Rome (12) and the defeat of Carthage (17) as structural points of reference, see, e.g., von Albrecht (1964) 24, 28–9, 32, 39, Küppers (1986) 60, Tipping (2004) 351–54, Marks (2005a) 68–72, and Tipping (2010) 11–3. Also, see the structural analyses cited in n. 31 below.

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of the Aeneid are identified through arma uirumque, the second half (arma) being mentioned before the first (uirum). Although there is not mathematical symmetry in such a division, Tipping argues that book 12 qualifies as a middle in that it is a »formal« middle or center, that is, the climax and turning-point in the moenia-motif in the poem. 16 This interpretation is reasonable enough, but to his analysis I should add that in the proem Silius may give us reason to read the defense of Rome as a middle too. The key moment is in line 12: medio finem bello. As I noted above, medio bello is often read to mean »the middle (i. e. second) war« of the Punic Wars. This makes sense given Silius’ repeated emphasis on there being three wars in the preceding lines (ter . . . ter, 8, 11) and sed at the beginning of line 12, at which point he begins to clarify what set apart the »middle« war from the others. But the meaning »middle« for medio might blur into another, common meaning of the adjective: »in the middle of«. That is, medio bello can mean not only »in the middle war«, but »in the middle of the (middle) war.« If we consider this possibility in connection with the entire thought of which it is a part, which emphasizes how both peoples strove to bring about an end (finem) to each other and how the eventual victors in the war, the Romans, were closer to peril (13–4) when Hannibal attacked their city (15–6), we are justified, I think, in looking for some sort of end or closure »in the middle of the war« and for identifying that point with Rome’s defense of her walls in book 12. But let us press our interpretation of medio finem bello a little further and consider the possibility that Silius is referring to something along the lines of a middle or, rather, an end in the middle in a more strictly mathematical sense. 17 If so, we are naturally led to the battle of Cannae, which begins in book 9, the central book of the epic, and is flanked by book 8, in which events leading up to the battle are recounted, and book 10, in which the battle ends. More than one reader has pointed out the centrality of Cannae and these »Cannae books« in the epic and has noted that Silius gives a chronologically unbalanced treatment of the war so as to situate this event at its center. 18 It is also frequently observed that Rome’s defeat 16 17

18

This idea, which is derived from von Albrecht (see citation in n. 15 above), is developed extensively by Tipping (2004); cf. Tipping (2010) 104–6. This possibility is invited by the other use of medio bello in the epic, when Fabius and the Roman embassy approach Saguntum, conveying the senate’s demand that Hannibal cease from hostilities: hos ut depositis portum contingere uelis / allatum Hannibali consultaque ferre senatus / iam medio seram bello poscentia pacem . . . (Pun. 2.11–3). Medio bello may simply indicate that when the embassy arrives, the war in Saguntum is already under way, which, of course, it is, and be rendered somewhat vaguely as »in the midst of the war«. But the fact that the phrase occurs so near the beginning of book 2, and thus almost at the half-way point of Silius’ Saguntine narrative, which spans books 1 and 2, suggests to me that medio may be a structural cue, indicating that we are in »the middle of (Silius’ account of) the war (i.e. siege of Saguntum)«. Silius takes ten books (1–10) to cover four years of the war (219–216 BCE) – and three of those books are dedicated to Cannae in 216 (8–10) – but takes only seven books (11–

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in the battle is the low-point in her fortunes in the epic; they improve, however, with Hannibal’s enervating stay at Capua in 11, a fact immediately confirmed in book 12, where Rome repeatedly gets the better of the Carthaginian and continues to do so until she wins the war in the epic’s final book. As such, Cannae better qualifies as an instance of Rome’s being almost destroyed or, in the words of the proem, of her being »closer to peril,« than Hannibal’s assault on Rome in book 12 does. And yet, the battle brings out the best in Rome and marks the height of her moral greatness (so, e. g., Pun. 9.340–53, esp. 351–52: nam tempore, Roma, / nullo maior eris: For you, Rome, will never be greater). As such, it is a kind of moral victory and thus satisfies the second criterion (victory) of the Livian paradox. 19 In all of these ways, Cannae is another »end in the middle« to which Silius’ proem looks forward, even though the battle is not expressly mentioned there. But there is still another possibility. If we read bello in line 12 to refer to the war proper between Rome and Carthage, which is recounted in books 4–17, rather than to the entirety of the Punica, in which sense »war« is metonymic of the epic as whole and is inclusive of Hannibal’s siege of Saguntum in 1–2 and his journey to Italy in 3, then we might expect the »end in the middle of the war« (medio finem bello) to come at the division between books 10 and 11, the first half of the war covering 7 books (4–10) and the second 7 books as well (11–17). It turns out, in fact, that there is such a division where we expect to find it. Here I call your attention to the opening of book 11: nunc age, quos clades insignis Iapyge campo / uerterit ad Libyam populos Sarranaque castra, / expediam (Pun. 11.1– 3: Come now. I shall disclose which peoples were led to join the cause of Libya and the Sarranian camp by the singular defeat on the Iapygian plain). In these lines Silius identifies not only a beginning, but a medial beginning and thus retroactively identifies the end of the previous book not only as an end, but as a medial end. This reading is suggested by the poet’s allusive engagement with the opening lines of the »second proem« in Aeneid 7. Here, again, are the first four lines of that proem:

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17) to cover the rest of the war, a span of about fifteen years (216/215–202/201 BCE); so, e. g., Niemann (1975) 23–4, Kißel (1979) 213, Ahl/Davis/Pomeroy (1986) 2505, Fucecchi (2006) 311, Stürner (2011) 150–51. For Cannae as the middle of the epic, see the structural analyses cited in n. 30 below. See Ahl/Davis/Pomeroy (1986) 2506, who read lines 12–14 of the proem as anticipating Cannae in precisely these ways. It should also be noted that while Silius’ use of the moenia-motif in lines 15–6 may be literally applicable to Rome’s defense in book 12, it is also metaphorically applicable to the battle of Cannae in books 9–10, as one can see in Silius’ figuration of the consul Paulus as a city or city-walls; on this, see Cowan (2011) 89–93. Although Paulus is slain in the battle, it is consistent with the logic of compensatory sacrifice, evident here and elsewhere in the epic, that Rome is ultimately spared when her physical walls are attacked by Hannibal in book 12; for Paulus, according to this logic, serves as a surrogate victim whose fall ensures that Rome stands. In this sense too, then, the statement muris defendit Roma salutem (16) is as applicable to Cannae as to Rome. For Paulus as sacrificial victim, see Marks (2005b).

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nunc age, qui reges, Erato, quae tempora, rerum quis Latio antiquo fuerit status, aduena classem cum primum Ausoniis exercitus appulit oris, expediam, et primae reuocabo exordia pugnae. (Aen. 7.37–40)

The formula nunc age . . . expediam (with an intervening indirect question or questions) is used several times by Lucretius to signal a new direction of didactic inquiry (DRN 2.62–6, 495–97, 738–39), a usage paralleled once in Virgil’s Georgics (4.149–50). 20 But Virgil also uses it twice in the Aeneid (6.756–59, 7.37– 40), 21 and of these the latter, quoted above, is especially relevant; for it too comes at a moment of structural significance in its epic, being the opening lines of the medial proem with which Virgil prefaces the second half of the Aeneid. What further recommends this case of allusion is that Silius previously alluded to these lines in the proem at the beginning of the Punica, as we saw above; in doing so he establishes a link between these two moments in his text on both formal grounds (as proems) and intertextual grounds (as instances of allusion to Virgil’s medial proem). But the allusion to Virgil’s medial proem also invites consideration of an allusion to the medial proem in the Argonautica of Apollonius of Rhodes: e  d+ äge n‹n, >Erat∏, parà j+ —staso, ka– moi Ínispe, Ínjen Ìpwc ‚c >Iwlk‰n Çn†gage k¿ac >I†swn Mhde–hc Õp+ Írwti. sà gÄr ka» K‘pridoc a⁄san Ímmorec, Çdm®tac d‡ teoÿc meled†masi jËlgeic parjenikàc; tƒ ka– toi ‚p†raton o÷nom+ Çn®ptai. (Ap. Rh. 3.1–5) Come now, Erato. Be at hand, and tell me next how Jason, by dint of Medea’s love, brought the fleece back to Iolkos. For you partake of Cypris’ share and charm unwedded maidens with your cares; for that reason a lovely name is attached to you.

Because Virgil’s nunc age already renders Apollonius’ äge n‹n, it cannot be said for certain that Silius’ nunc age establishes a connection with Apollonius’ proem, whether directly or through Virgil’s mediation, or a connection with Virgil alone. But when we consider the similarity between what follows in both Silius’ and Apollonius’ poems, it becomes clear that such a connection between them is supported. Apollonius invokes Erato to anticipate the love-affair between Jason, who arrived at Colchis at the end of the previous book, and Medea. This gets under way immediately after the medial proem: Athena and Hera visit Aphrodite and ask her to have her son Eros make Medea fall in love with Jason; Aphrodite agrees and entrusts Eros with this task (Ap. Rh. 3.6–166); a short while later, when Jason arrives at Aeetes’ palace, Eros appears, shooting Medea with an arrow that makes her burn with love for the hero (Ap. Rh. 3.275–98). In the Punica, we encounter a similar sequence of events. Among the cities that join the Carthaginan cause 20 21

Also cf. (without age) nunc . . . expediam in DRN 4.633–34, 6.239–45, 639–41, 680–82, 1090–93. Also cf. (without age) Aen. 11.314–15.

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after Cannae (cf. Pun. 11.1–3) is Capua, where Hannibal spends a hedonistic winter (Pun. 11.267–482). During this time, Venus devises a plan to enervate the Carthaginians: she instructs her Cupids to shoot them with their arrows so as to soften their martial spirits; the Cupids obediently execute the plan, making the Carthaginians, above all Hannibal, burn with a desire for wine, food, song, and sleep (Pun. 11.385–482). 22 Apollonius’ influence on this episode in the Punica is evident in other details as well. The sarcastic humility with which Venus compares herself to Juno is a reworking of Aphrodite’s humble response to Hera’s request for assistance in the Argonautica: eat improba Iuno / et nos (nec mirum, quid enim sumus?) acta secundis / despiciat. ualet illa manu, ualet illa lacertis (Pun. 11.390–92: Let wicked Juno go and, carried away by good fortune, despise us. And that is no surprise. For what are we compared to her? Her hand is strong; her arms are strong) ≈ PÏtnia jeà, m† to– ti kak∏teron ällo pËloito / K‘pridoc, e  dò seÿo lilaiomËnhc Çjer–zw / £ Ípoc öË ti Írgon, Ì ken qËrec a—ge kàmoien / öpedana– (Ap. Rh. 3.79–82: Revered goddess, let nothing be more wretched than Cypris if I disregard your wish either in word or in deed, whatever these feeble hands of mine might toil at). Just as Hannibal attends a banquet when he is wounded by Venus’ Cupids (Pun. 11.410–82), so Medea, immediately after being struck by Eros’ arrow, attends a banquet where she becomes increasingly enamored of Jason (Ap. Rh. 3.299–470, esp. 451–70). The Carthaginians, whose breasts burn when struck by the Cupids’ arrows, bear comparison with Medea when she is struck: sentit flammiferas pubes Maurusia pennas, / et pariter fusis tepuerunt pectora telis (Pun. 11.412–13: The Maurusian youth feel the flame-bearing arrows, and their breasts together grew warm once the arrows were shot) ≈ bËloc d+ ‚neda–eto ko‘r˘ / nËrjen Õp‰ krad–˘, flog» e“kelon (Ap. Rh. 3.286– 87: The arrow, like a flame, burned the girl deep in her heart). Before sitting down to eat and drink, the Carthaginians enjoy a warm bath, just as the attendees of Aeetes’ banquet do: mollitae flammis lymphae languentia somno / membra fouent (Pun. 11.418–19: Waters, softened by flames, soothe their limbs weary with sleep) ≈ aŒto– te liaroÿsin ‚faidr‘nanto loetroÿc (Ap. Rh. 3.300: And they cleansed themselves in warm baths). 23 The effect of the Cupids’ arrows on Hannibal recalls the effect of Eros’ on Medea: patrias paulatim decolor artes / exuit occulta mentem uitiante sagitta (Pun. 11.422–23: Little by little his complexion faded, and he cast aside the manners of his forefathers, as the hidden arrow ruined his mind) ≈ toÿoc Õp‰ krad–˘ e lumËnoc a“jeto làjr˘ / ofiloc óErwc; ÅpalÄc d‡ metetrwpêto pareiàc / ‚c qlÏon, ällot+ Íreujoc, Çkhde–˘si nÏoio (Ap. Rh. 3.296–98: Thus, destructive Eros, wrapped around her heart, burned secretly; her 22

23

Matier (1989) and Cowan (2003) 40 n.59 and n.61 briefly note this thematic parallel between Silius and Apollonius, but do not expand on it. They (and others) focus, rather, on Virgil’s influence on Silius’ banquet scenes; so, Matier (1983) 75–6, Burck (1984) 15–8, 22–3, Cowan (2003) 37–41, 53–8, Littlewood (2014) 275–76. But also cf. Liv. 23.18.12 (balinea); so, Burck (1984) 23.

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soft cheeks changed color, now pale, now red, from the anguish in her mind). 24 And, perhaps as a final hint, Teuthras next sings a song (Pun. 11.432–82) in which he refers to Orpheus when he was a member of the Argonauts (Pun. 11.469–72). As is clear, in the opening lines of Punica 11 we have not only an allusion to Virgil’s medial proem, but to Apollonius’, and even if we at first consider Silius’ debt to Apollonius only through the referentiality of Virgil’s own text to him, we soon learn that Silius’ debt is more direct and extensive than that and that what is missing in Silius’ medial proem, but present in Apollonius’, namely, the expectation of Venus’ intervention, should be supplied by allusion. 25 What makes a connection with the Argonautica in Silius’ medial proem all the more likely is that, like the allusion to Virgil’s, it takes us back to the proem at the beginning of the Punica, where Apollonius was given a conspicuous honor: the first word of his epic, ÇrqÏmenoc, is rendered in the first word of Silius’, ordior. 26 It is also significant that the Cupids’ wounding of Hannibal and the Carthaginians at Capua is figured as a military operation, a kind of siege of their persons, by which to render them unwarlike (Pun. 11.397–409, 411, 415–17; cf. 481–82). This brings the event in line with the expectation raised by the Livian paradox and its elaboration through the moenia-motif in lines 12–16 of the proem, that in the middle of the war (medio bello) the threat to Rome’s walls will end (finem) and, thereafter, Carthage’s walls will, instead, be imperiled. As I suggested above, it could be said that with Rome’s defeat at Cannae in book 10 we have witnessed that end. But, as we can also see in the Cupids’ assault on the hearts and minds of Hannibal and his men at Capua, the threat to Carthage’s »walls« begins in the very next book, that is, on the other side of the war’s medial axis, the division between books 10 and 11. And this is precisely what the medial proem at the beginning of book 11 indicates, that we have reached the mid-way point in the war. 27 We may expect, then, that this siege and breach of Carthage’s metaphorical walls mark the beginning of a new stage in the epic’s development that will eventually lead to a siege and breach of Carthage’s physical walls at its end. The proem at the beginning of Punica 11 thus indicates a mid-way point has been reached, and, as I proposed above, the division it signals is between two seven-book units. The fact that the war proper between Rome and Carthage is 24 25

26

27

Also, cf. Pun. 11.396: Tyriam pubem tacitis exurite telis. Insofar as the allusion to Virgil’s medial proem activates our recognition of the allusion to Apollonius’, to which Virgil’s itself alludes, we might consider this an instance of »double« or »window allusion«. For more on this technique in Flavian poetry, see Cowan (2014). Note that the Homeric klËa Çndr¿n (Il. 9.189) and Apollonius’ reworking of it, palaigenËwn klËa fwt¿n (Ap. Rh. 1.1), find correspondence in Silius’ proem as well: gloria Aeneadum (Pun. 1.1–2); decus laborum antiquae Hesperiae (3–4). I wonder whether Livy’s statement that Capua was Hannibal’s Cannae (Capuam Hannibali Cannas fuisse, 23.45.4) prompted Silius to accentuate this contrast by juxtaposing Cannae and Capua on either side of the war’s medial axis.

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covered in books 4–17 encourages us to view these books as a discrete narrative unit in the epic (i. e. set apart from the »pre-war« books, 1–3), and that this unit may be further subdivided into two seven-book units is suggested by the thematic coherence of each, Hannibalic victory being a unifying theme of the first (4–10), Roman victory a unifying theme of the second (11–17). This division is also supported by Silius’ program of allusion to Lucan’s Bellum Civile. As I have argued elsewhere, the civil war between Caesar and Pompey in that epic, from its beginning in book 1 to the death of Pompey in book 8, is replayed on an allusive level twice in the Punica, and both »replays« coincide with the very subdivisions I outlined above: in books 4–10 Rome is associated with the defeated and suffering in civil war, a trend that ends with Paulus’ death and the city’s Pompey-like defeat at Cannae in 10; then, in books 11–17 Carthage and her allies experience their own kind of »civil war«, a trend that culminates at the end of the war with Carthage in defeat resembling the decapitated Pompey. 28 All of this points to a division of the epic into two parts, a »pre-war« phase (1–3) and a »war« phase (4–17), and to the second part being further subdivided at its middle into two parts, each 7 books in length (4–10, 11–17). 29 This is not to say that there are not other structural patterns at work in the epic at the same time and that there are not other »middles« within them. Indeed, one cannot deny that the battle of Cannae occupies a central place in the epic, as was seen above, and this leads to various structural possibilities including a 7–3– 7 arrangement, which regards the Cannae books as a whole as the »middle« (1– 7, 8–10, 11–17), or, if the epic was originally planned to include 18 books, a 9– 9 arrangement (1–9, 10–[8]). 30 Other structural arrangements, based on Cannae’s centrality, are, of course, possible, as well as many ways of subdividing the units within them. As we have also seen, it cannot be denied that Hannibal’s siege of Rome in book 12 is a significant moment around which Silius organizes his epic and that Rome’s final victory in book 17 stands in structural relation to it. This too invites certain kinds of patterns, such as a 12–5 arrangement (1–12, 13–17) or, if further subdivided, perhaps 6–6–5 (1–6, 7–12, 13–17) or, should we suppose

28 29

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See Marks (2008) and (2010). I previously proposed this structural arrangement in Marks (2005c) 531–32, 534–35. But similar arrangements had already been proposed by Juhnke (1972) 214 (i.e. 1–10, 11– 17) and Niemann (1975) 3–36 (i.e. 1–2, 3–10, 11–17). Küppers (1986) 176–92 arrives at a similar pattern, but divides books 11–17 into two parts, giving the following arrangement: 1–3, 4–10, 11–13.380, 13.381–17.654. The 7–3–7 pattern (with varying subdivisions in the heptads) has proved popular: so, Ahl/ Davis/Pomeroy (1986) 2505–11, von Albrecht (2006) 114–19, Fucecchi (2006) 312–13, Wenskus (2010), Stürner (2011). For the division of the epic into two 9-book halves, see Wallace (1958) and Delarue (1992); cf. Kißel (1979) 215–16. Braun (1993) offers a structurally different way of situating Cannae in the middle of the epic: 1–8, 9–10, 11– 17.

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an 18-book plan, three hexads, 6–6–6 (1–6, 7–12, 13–[18]). 31 Of course, other structural arrangements in the epic are possible. 32 All of this is to recommend that we not be too categorical in our thinking about the macrostructure of the Punica; multiple patterns are not only possible, but likely, and they need not be mutually exclusive. What is more, such structural complexity need not hinder or interfere with our appreciation of the epic, but may enrich it; for by outfitting the epic with multiple structural patterns Silius is able to bring out multiple emphases that would be less easily differentiated and appreciated as such, had he arranged his material around a single, overriding organizational principle. For example, the centrality of Cannae amplifies the significance of the event as a transitional event not only in the war – it is Rome’s last major defeat –, but in the course of Roman history; as the poet’s allusions to civil war and reflections on Rome’s future there (e. g., Pun. 9.340–53, 10.657–58) make clear, it marks, for better or worse, a seminal moment in the city’s evolution into a world-empire. 33 As we move beyond Cannae, from book 10 to book 11, we encounter another »middle«, the one I have focused on in this paper, which, differently, helps us to grasp the turn or shift from Roman defeat to Roman victory and to appreciate its underlying moral basis: after Rome achieves a moral victory in defeat at Cannae, Hannibal, at the height of his military success, succumbs to the vices of Capua and begins his and Carthage’s slide toward final defeat in the war. Then at the end of book 12 we reach still another »middle«, Hannibal’s siege of Rome. His failure there marks the end of his long-standing dream of taking the city and his threat to her walls and in doing so both caps off the defensive phase of the war for Rome and looks ahead to the offensive phase that continues for the rest of the epic. Moreover, Jupiter’s role as defender of Rome on that occasion and the celebration of his »triumph« at its end, among other details, anticipate the emergence of Scipio, the most conspicuous Roman leader in the offensive phase, who is not only the son of the god, but the executor of his divine will on earth and himself celebrates 31

32

33

For the division of the epic into three hexads, see Martin (1946), Burck (1979) 260–70, and Delarue (1992). Kißel (1979) 213–17 considers a hexadic arrangement, but does not insist on an 18-book plan; hence, a 6–6–5 pattern is possible too. He also takes seriously the structural significance of book 12 and on that basis sees another pattern (i.e. 1–2, 3– 12, 13–17) at work in the epic. Consider, e. g., Fröhlich (2000) 18–58, 397–401, who divides the epic into three pentads separated by single books (i.e. 5–1–5–1–5). But one might view this as a variant on patterns that emphasize the structural significance of book 12, as that book (along with book 6) is singled out in this arrangement. Gärtner (2010) focuses on moments of structural significance rather than on macrostructural units per se, but from his analysis one discerns a division of the epic into two parts (1–13, 14–17), with the first being further subdivided and leading to the following arrangement: 1–7, 8–13, 14–17. For civil war allusions at Cannae, see Marks (2010) 135–39 with further literature cited there. For Cannae and Rome’s imperial future, see, e.g., Ahl/Davis/Pomeroy (1986) 2505–11, Fucecchi (1999) 336–42, Tipping (2004), Marks (2005) 252–56, 268–69, Tipping (2007), Tipping (2010) 35–9.

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A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica

a triumph in the Punica’s final episode. And as Scipio’s status as proto-princeps takes shape in that phase of the epic as well, Jupiter’s defense of Rome becomes, in retrospect, a turning-point with significant, long-term political consequences; for, after protecting Rome, Jupiter, in effect, hands over the reins of war and the city’s governance to his son and thereby initiates a new phase in the city’s development, a phase that will see her become an imperial power and a city ruled by one man. 34 As I suggested above, these emphases would be less clearly differentiated, were there not several structural arrangements at work in the Punica at the same time. We may wish, then, to think of the epic in terms of macrostructures rather than in terms of a single, unifying macrostructure and, with that, to consider the possibility that there are several »middles« rather than just one.

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This is, broadly, the argument of my book, Marks (2005a).

Raymond Marks

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Gärtner, Thomas: Überlegung zur Makrostruktur der Punica, in: Florian Schaffenrath (Hg.): Silius Italicus. Akten der Innsbrucker Tagung vom 19.–21. Juni 2008 (Studien zur klassischen Philologie 164), Frankfurt a.M. 2010, 77–96. Juhnke, Herbert: Homerisches in römischer Epik flavischer Zeit. Untersuchungen zu Szenennachbildungen und Strukturentsprechungen in Statius’ Thebais und Achilleis und in Silius’ Punica (Zetemata 53), München 1972. Kißel, Walter: Das Geschichtsbild des Silius Italicus (Studien zur klassischen Philologie 2), Frankfurt a.M. 1979. Küppers, Jochem: Tantarum causas irarum. Untersuchungen zur einleitenden Bücherdyade der Punica des Silius Italicus (UaLG 23), Berlin 1986. Laudizi, Giovanni: Silio Italico: Il passato tra mito e restaurazione etica, Galatina 1989. Littlewood, R. Joy: Loyalty and the Lyre: Constructions of Fides in Hannibal’s Capuan Banquets, in: Antony Augoustakis (ed.): Flavian Poetry and Its Greek Past (Mnemosyne Suppl. 366), Leiden; Boston 2014, 267–85. Marks, Raymond: From Republic to Empire: Scipio Africanus in the Punica of Silius Italicus (Studien zur klassischen Philologie 152), Frankfurt a.M. 2005. (= Marks [2005a]) Marks, Raymond: Per vulnera regnum: self-destruction, self-sacrifice and devotio in Punica 4–10, Ramus 34.2, 2005, 127–51. (= Marks [2005b]) Marks, Raymond: Silius Italicus, in: John Miles Foley (ed.): A Companion to Ancient Epic, Oxford 2005, 528–37. (= Marks [2005c]) Marks, Raymond: Getting Ahead: Decapitation as Political Metaphor in Silius Italicus’ Punica, Mnemosyne 61, 2008, 66–88. Marks, Raymond: Silius and Lucan, in: Antony Augoustakis (ed.): Brill’s Companion to Silius Italicus, Leiden; Boston 2010, 127–53. Martin, Josef: Die Punica des Silius Italicus, WJA 1, 1946, 163–65. Matier, K. O.: The Poetic Sources of Silius Italicus with Particular Reference to Book Eleven, AClass 26, 1983, 73–82. Matier, K. O.: Silius Italicus 11.385–438, Latomus 48, 1989, 193. Niemann, Karl-Heinz: Die Darstellung der römischen Niederlagen in den Punica des Silius Italicus, Bonn 1975. Stürner, Ferdinand: Zwischen Tradition und Innovation: Zur Struktur der Punica des Silius Italicus, WJA N.F. 35, 2011, 147–66. Tipping, Ben: Middling Epic?: Silius Italicus’ Punica, in: Stratis Kyriakidis/Francesco de Martino (eds.): Middles in Latin Poetry, Bari 2004, 345–70. Tipping, Ben: Haec tum Roma fuit: Past, Present, and Closure in Silius Italicus’ Punica, in: Stephen J. Heyworth/Peter J. Fowler/Stephen J. Harrison (eds.): Classical Constructions. Papers in Memory of Don Fowler, Classicist and Epicurean, Oxford 2007, 221– 41. Tipping, Ben: Exemplary Epic. Silius Italicus’ Punica, Oxford 2010. Wallace, Malcom V. T.: The architecture of the Punica. A Hypothesis, CPh 53, 1958, 99– 103. Wenskus, Otta: Diskussionsbeitrag: Die Siebzehn als kritische Zahl, in: Florian Schaffenrath (Hg.): Silius Italicus. Akten der Innsbrucker Tagung vom 19.–21. Juni 2008 (Studien zur klassischen Philologie 164), Frankfurt a.M. 2010, 97–8.

Helen Kaufmann (Oxford)

Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike 1. Einleitung Im Nachwort zur Essaysammlung Classical Closure erwähnt Deborah Roberts (1997) 251 eine Szene aus dem Marx Brothers-Film Animal Crackers: Dort sitzt Chico am Klavier, spielt immer wieder die gleiche Notensequenz und sagt, »I can’t think of the ending«, worauf Groucho antwortet: »I can’t think of anything else«. Das spätantike mythologische Epos könnte man auf eine ähnlich gegensätzliche Art beschreiben: Die Dichter scheinen nicht zu wissen, wie sie die Gattung zu Ende bringen können, während manche klassischen Philologen 1 jedes einzelne Epos als Zeichen des nahenden Endes lesen und nicht warten können, bis die Gattung endlich stirbt. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, ob – und falls ja, wie – die Enden der spätantiken mythologischen Epen auf das kurz bevorstehende Ende der Gattung hinweisen, also: Sieht man den Enden der letzten mythologischen Epen an, dass sie (in der Antike) die letzten solchen Epen sind? Geht man von einem Endpunkt der Spätantike um 600 2 aus, können die letzten spätantiken mythologischen Epen ins 6. Jahrhundert datiert werden. Weil die meisten Datierungen umstritten sind, sind für diese Studie alle überlieferten Exemplare des 5. und 6. Jahrhunderts ab Claudian untersucht worden. Es sind dies die folgenden Epen: 3 – Claudians Raub der Proserpina, die lateinische und die (wohl auch von ihm verfasste) griechische Gigantomachie (um 400) 1 2

3

Z.B. Martin West: Rez. zu Livrea (1968), Gnomon 1970, 657–61 (hier: 657 f.) über Kolluthos; Hollis (2006) 155 f. über Dracontius. Der Endpunkt der Spätantike wird unterschiedlich definiert, z.B. mit Justinians Tod (Alexander Demandt: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diokletian bis Justinian 284–565 n. Chr., München 2 2007), Heraclius’ Tod (Stephen Mitchell: A History of the Later Roman Empire AD 284–641. The Transformation of the Ancient World, Malden, MA 2007) oder allgemein dem Ende der römischen Vorherrschaft im Mittelmeerraum um den Beginn des 7. Jh. (Philip Rousseau: A Companion to Late Antiquity, Malden, MA 2009). Zu den Datierungen von Nonnos, Musaios und Kolluthos vgl. Miguélez Cavero (2008) 15–29, zu jenen von Dracontius Kaufmann (2006) 15, von Claudian Gruzelier (1993) xvii–xx und der Orphischen Argonautika Vian (1987) 46.

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Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike

– die Orphischen Argonautika (1. Hälfte des 5. Jh.) – Nonnos’ Dionysiaka (5. Jh. [Mitte?]) – Dracontius’ Orestie, Raub der Helena (Romul. 8) und Medea (Romul. 10) (um 500) – Musaios’ Hero und Leander (Ende 5./Anfang 6. Jahrhundert) – Kolluthos’ Raub der Helena (Ende 5./Anfang 6. Jahrhundert)

2. Abgeschlossene Enden Bereits aus einer oberflächlichen Untersuchung der Enden der oben aufgezählten Epen ergibt sich ein Kontrast zwischen Claudians Epen, die abbrechen, und allen anderen, deren Enden wohlausgeführt, bisweilen gar besonders betont sind. Im Folgenden sollen diese abgeschlossenen Enden genauer beschrieben werden. Zuerst gilt es jedoch zu definieren, was ein ›abgeschlossenes Ende‹ (›closure‹) ist. Wie Fowler (1997) 5 festhält, ist das (mehr oder weniger abgeschlossene) Ende eines Werkes nicht als solches gegeben, sondern ein Rezeptionsprodukt. Das bedeutet, dass man statt zwischen offenen und abgeschlossenen Werkenden eher zwischen Interpreten, die ein Ende als offen, und solchen, die es als abgeschlossen lesen, unterscheiden sollte. Dennoch lassen sich werkimmanente Kriterien finden, die es wahrscheinlicher machen, dass ein Ende als abgeschlossen gelesen wird, zum Beispiel: 1. Die zugrundeliegenden Geschichten werden bis zu einem inhaltlich natürlichen Endpunkt erzählt. Inhaltlich natürliche Endpunkte sind beispielsweise Tod, Apotheose, Heimkehr oder Heirat. 2. Auf den narrativen Endpunkt folgt ein Epilog. 3. Das Ende bezieht sich auf den Anfang, z. B. mit einer Ringkomposition. 4. Das Ende deutet den Mythos. Je mehr Kriterien erfüllt werden, desto abgeschlossener ist ein Ende. Die hier untersuchten Epen erfüllen mit Ausnahme von Claudians Werken mindestens zwei Kriterien. Deshalb werden Claudians Epen nach der Diskussion der einzelnen Kriterien in den anderen spätantiken Epen gesondert behandelt. 2.1 Abschluss durch einen inhaltlich natürlichen Endpunkt Das erste Kriterium, den Abschluss durch einen inhaltlich natürlichen Endpunkt, erfüllen alle untersuchten Epen. In den Orphischen Argonautika kehrt Orpheus nach einer langen Hin- und Rückfahrt, dem Raub des Goldenen Vlieses und den von Kirke empfohlenen Sühneopfern nach Hause in die Höhle seiner Mutter zurück (OA 1369–76) (siehe dazu weiter 2.3.). In Nonnos’ Dionysiaka wird Dionysos in den letzten 5 Versen des 48. Buches zum Gott:

Helen Kaufmann

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ka» je‰c ÇmpelÏeic patr∏ion a jËra ba–nwn patr» sÃn eŒ∏dini mi®c Íyause trapËzhc, ka» brotËhn metÄ daÿta, metÄ protËrhn q‘sin o“nou oŒrànion p–e nËktar ÇreiotËroisi kupËlloic, s‘njronoc >ApÏllwni, sunËstioc u…Ëi Ma–hc. (48,974–78) Der Gott der Reben kam in den väterlichen Himmel und hatte mit seinem wohlduftenden Vater an einer Tischgemeinschaft teil; nach dem mit den Menschen geteilten Mahl und dem bisherigen Genuss des Weines trank er himmlischen Nektar in edleren Bechern, Apolls Thron und des Maiasohnes Haus teilend.

Die Apotheose trennt Dionysos von Mahlzeiten mit Wein, wie sie üblich sind bei den Menschen (brotËhn metÄ daÿta, metÄ protËrhn q‘sin o“nou), unter denen er bisher Wohl- und Heldentaten vollbracht hatte. Das vorher Erzählte wird demnach durch die Apotheose endgültig abgeschlossen. 4 Als Apotheose, wenn auch als negative, lässt sich auch Medeas Abgang bei Dracontius beschreiben, denn nachdem sie Kinder, Kreon, Kreusa und Jason umgebracht hat, entschwindet sie auf einem Wagen in die Lüfte (wie bei Seneca) (Romul. 10,564–69). 5 Inhaltlich natürliche Endpunkte weisen zudem die beiden Kurzepen über den Raub der Helena auf: Helena und Paris treffen in Troja ein, und der Raub wird durch ihre Hochzeit abgeschlossen – diese ist bei Dracontius ausformuliert (Romul. 8,638– 47), aber auch bei Kolluthos angedeutet (Koll. 390: Â numf–oc ¢gage n‘mfhn). Am Ende von Dracontius’ Orestie ist Orestes freigesprochen und kehrt zusammen mit Elektra, Iphigenie und Pylades nach Mykene zurück (Orest. 958–62). Schließlich liegen bei Musaios Hero und Leander, die sich nur heimlich nachts treffen konnten, und das auch nur, wenn Leander durch die Meerenge schwamm, am Ende beide tot am Strand (Mus. 342 f.). Die untersuchten Epen zeigen demnach eine Vielfalt von natürlichen Enden: Heimkehr, Apotheose, Tod, Heirat und Freispruch. 2.2 Epilog Epiloge finden sich nur bei Dracontius, dafür in all seinen Kurzepen: zweimal in Form eines Gebetes und im Raub der Helena in Form einer negativen Ansprache an das Brautpaar Paris und Helena. Sowohl in der Orestie als auch in der Medea bittet der Dichter am Schluss die Götter um Erbarmen. Di, quibus imperio est facilis concessa Tonantis aeris et pelagi terrae caelique potestas, vos Pietas miseranda rogat, vos mitis Honestas, vos bona Simplicitas, Affectus sanguinis orat, vos Genus humanum, Consortia sancta cruoris, Stemmata vos generis, Cognatio iuncta precatur: crimina Lemniadum sat erant, Danaeia facta, quae thalamos fecere rogos, et facta Thyestis 4 5

Vgl. Chuvin (2006) 263–68 zur Vorbereitung auf das abrupte Ende. Vgl. Kaufmann (2006) 437–39 und auch Stoehr-Monjou (2013).

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Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike

innumerumque nefas, quod sit narrare pudoris; ecce Mycenaea triplex iam scaena profanat Graiugenum famam: vestro iam parcite mundo atque usum scelerum miseris arcete Pelasgis. (Orest. 963–74) Götter, denen auf Befehl des gütigen Jupiter die Macht über Luft, Meer, Erde und Himmel übergeben wurde: Euch bittet der beklagenswerte Respekt, die milde Ehrbarkeit, die gute Einfalt, die Zuneigung unter Blutsverwandten fleht Euch an, das Menschengeschlecht, die heiligen Blutsverwandtschaften, die Familienzweige und die damit verbundene Verwandtschaftlichkeit fleht Euch an: Die Verbrechen der Lemnierinnen, die Untaten der Danaiden, die ihre Hochzeitsgemächer in Scheiterhaufen verwandelten, Thyests Vergehen und das unzählige Unrecht, das zu erzählen man sich schämt, waren genug; siehe, schon schändet die dreifache Bühnenhandlung von Mykene den Ruhm der Griechen: Schont deshalb jetzt Eure Welt und haltet die Verübung von Verbrechen von den unglücklichen Griechen fern.

Hier lässt der Dichter eine Reihe von Personifikationen zu Wort kommen, die das menschliche, vor allem familiäre, Zusammenleben repräsentieren, und bittet gemeinsam mit diesen die Götter darum, Griechenland in Zukunft von Familientragödien zu bewahren (vestro iam parcite mundo / atque usum scelerum miseris arcete Pelasgis). 6 Durch den Vergleich der Morde an Agamemnon und Klytaimnestra mit den familieninternen Mordtaten der Lemnierinnen und Danaiden wird der Mythos der Orestie auf eine allgemeine Ebene gehoben. Außerdem ergreift der Dichter Partei gegen die Mordtaten und urteilt so im Nachhinein über die handelnden Personen. All dies trägt dazu bei, dass das Ende der Orestie als deutlich abgeschlossen wahrgenommen wird. Im Epilog von Romul. 10 wird Medeas Geschichte in jene Thebens eingereiht und als falsch verstandener Götterkult gedeutet (siehe dazu 2.4.), und die Ansprache an das Brautpaar im Epilog von Romul. 8 beschließt nicht nur den Raub der Helena, sondern schließt auch den (noch bevorstehenden) Trojanischen Krieg als quasi-natürliche Konsequenz des Ehebruchs mit ein (siehe dazu 2. 3.). 2.3 Bezug des Endes auf den Anfang Dass sich das Ende auf den Anfang bezieht, zum Beispiel, indem es eine im Proömium gemachte Ankündigung erfüllt, lässt sich ebenfalls in den meisten untersuchten Epen nachweisen. In den Orphischen Argonautika kehrt Orpheus am Ende allein in seine Höhle zurück. ka– ˚+ o… m‡n pl∏ontec ‚ÙktimËnhn ‚p+ >IwlkÏn j‹non; ‚g∞ d+ …kÏmhn ‚p» Ta–naron önemÏenta, Ófra ken Íntoma ˚Ëxw Çgakleitoÿc basile‹sin o— t+ ära nerter–wn berËjrwn klhÿdac Íqousin. Ínjen d+ Ârmhje»c ‚s‘jhn qion∏dea Jr§khn Leib†jrwn ‚c q¿ron, ‚mòn ‚c patr–da gaÿan; 6

Vgl. Simons (2005) 349.

Helen Kaufmann

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äntron d+ e sepËrhsa periklutÏn, Ínja me m†thr ge–nat+ ‚n» lËktroic megal†toroc O àgroio. (OA 1369–76) Während sie eilends nach dem wohlgebauten Iolkos segelten, kam ich zum windreichen Tainaros, um den sehr berühmten Königen, die die Schlüssel zu den unteren Tiefen haben, Opfer darzubringen. Als ich von dort aufbrach, eilte ich ins schneereiche Thrakien zum Land der Leibethrer, in mein Heimatland. Ich betrat die weitherum bekannte Höhle, wo meine Mutter mich im Bett des großherzigen Oiagros geboren hatte.

Mit Höhle und Eltern stellt Orpheus einen direkten Bezug zum Anfang her, denn dort berichtete er, wie Jason ihn in seiner Höhle aufsuchte (75: ôn–ka d+ e c äntron polu†raton e sepËrhse, als er [Jason] aber die liebliche Höhle betreten hatte) und zur Mitfahrt auf der Argo aufforderte. Dabei spricht Jason ihn namentlich als Sohn der Kalliope und des Oiagros an (77: >Orfe‹ KalliÏphc te ka» O àgrou f–le ko‹re: Orpheus, du lieber Sohn der Kalliope und des Oiagros). Vor der zweiten ausdrücklichen Erwähnung der Höhle (110) erzählte Orpheus, wie ihn seine Mutter vom Umherirren erlöste und nach Hause, wohl in die eben erwähnte Höhle, einlud (103–5: ka– m+〈Çp+〉 Çlhte–hc te ka» ‚x o“strou ‚sàwse / m†thr ômetËrh ka– ˚+ e c dÏmon ¢gagen ÅmÏn / Ófra tËloc janàtoio k–qw metÄ g†ra lugrƒ: Meine Mutter erlöste mich vom Umherziehen und vom Stachel [des Wahnsinns] und führte [mich] in mein Haus, damit ich mit leidvollem Alter die Vollendung des Todes erlange). Orpheus hat sich also bereits vor der Argonautenfahrt in seine Geburtshöhle zurückgezogen; dass er dort geboren wurde, erfahren wir aber erst, als er nach der Fahrt dorthin zurückkehrt. 7 Die Schlussverse erwähnen somit nicht nur den geographischen Schlusspunkt von Orpheus’ Reise, sondern auch den biographischen Anfangspunkt seines Lebens in Ergänzung zu seiner (hauptsächlich aus Werktiteln bestehenden) Biographie am Anfang des Epos (9–49). Diese biographischen Bezüge bilden einen zweiten, äußeren Ring um jenen der Höhle herum. Auch das Ende von Dracontius’ Romul. 8 ist als zwei ineinanderliegende Ringe komponiert. Im Epilog erscheint zuerst das Motiv der Fackel, die Troja anzünden wird. 8 ite pares sponsi, iam somnia taetra probastis matris et ornati misero flammastis amore ostensam sub nocte facem, qua Troia cremetur, qua Phryges incurrant obitum sine crimine mortis. (Romul. 8,648–51) Geht, ihr beiden Brautleute (Paris und Helena), schon jetzt habt ihr die schrecklichen Träume einer Mutter bestätigt und geschmückt mit elender Liebe habt ihr die Fackel angezündet, die ihr (Hecuba) nachts erschien, durch die Troja brennen muss und die Trojaner den Untergang erleiden, ohne ein todeswürdiges Verbrechen begangen zu haben.

Bekanntlich träumte Hecuba, als sie mit Paris schwanger war, sie würde eine Fackel gebären, und Paris wurde zur Verhinderung dieser angekündigten Feuersbrunst auf dem Ida ausgesetzt. Bei Dracontius setzt die Geschichte zwar erst ein, 7 8

Vgl. Schelske (2011) 112–15 zu Orpheus’ Höhle und 17 f. zur Ringkomposition. Vgl. Bretzigheimer (2010) 378.

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Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike

als Paris schon erwachsen ist, aber Helenus erinnert an Hecubas Traum, als Paris in Troja auftaucht, und warnt vor dessen Aufnahme: haec est illa tuo fax, mater, prodita somno, quae simul incendet Troiam regnumque parentum in sortem dabit illa nurus. (Romul. 8,122–24) Dies ist die Fackel, Mutter, die dir im Schlaf offenbart wurde, die zugleich Troja anzünden wird, wenn jene Schwiegertochter (in spe) das Königreich unserer Vorfahren als Mitgift geben wird.

Bereits in dieser Prophezeiung stellt Helenus einen Bezug zwischen der Fackel und Paris’ Hochzeit mit Helena her, der dann im Epilog aufgenommen wird, wo die Unglücksfackel explizit mit der Hochzeitsfackel gleichgesetzt wird und der Epilog selbst als (negative) adlocutio sponsalis, d. h. als im Epithalamium gebräuchliche Anrede des Brautpaars, formuliert ist. Die Hochzeit schließt thematisch den Raub der Helena ab, während die Form der Anrede dem Erzähler erlaubt, sich von den Protagonisten zu distanzieren. Schließlich bezeichnet der allerletzte Vers den Untergang Trojas zusammenfassend als Preis für den Ehebruch und stellt so den Bezug zum bereits im Proömium erwähnten Ehebruch (Romul. 8,3–6) her wie auch zur Leitfrage des Kurzepos nach der Ursache des Trojanischen Kriegs (Romul. 8,29 f.): 9 crimen adulterii talis vindicta sequatur (Romul. 8,655: Solche Rache soll dem Verbrechen des Ehebruchs folgen). Als Ringkompositionen sind ferner auch Nonnos’ Dionysiaka, Kolluthos’ Raub der Helena und Musaios’ Hero und Leander gelesen worden. 10 2.4 Interpretation des Mythos Vom Schluss eines literarischen Werkes werden allgemein Interpretationshinweise erwartet, und es gibt wohl kein episches Ende, das nicht als Interpretationshinweis verstanden wurde. Hier geht es jedoch um Interpretationen, die vom Erzähler über 9 10

Vgl. Simons (2005) 277 f. In Nonnos’ Dionysiaka sind verschiedene Ringe identifiziert worden: von Schmiel (1993) zwischen Auras Erwähnung im Proömium (1,26) und ihrer Geschichte in 48 (238–947), von Shorrock (2001) 10–3 zwischen mehreren Ähnlichkeiten am Anfang und Ende: Athene (1,8–10 und 48,952–73), Hermes (48,978 und diàktoron in 1.1 – letzteres meint allerdings einen Blitz), die übel endenden Bräute Semele (1,1–3) und Ariadne (48,970) und die auf telËw basierenden Ausdrücke ômitËleston (1,5) und teletaÿc / ÊyitËleston (48,966/968). Bei Musaios gibt es klare Bezüge zwischen den im Proömium genannten Endpunkten, dem Auslöschen der Lampe und Leanders Tod (14 f. Çll+ äge moi mËlponti m–an sunàeide teleutòn / l‘qnou sbennumËnoio ka» ÊllumËnoio Leàndrou), und dem Eintreffen dieser Ereignisse (329 f.) in der zweitletzten Szene des Epos (zur letzteren siehe 2.4.). Bei Kolluthos ist eine Verbindung zwischen den Schleiern der Nymphen (2–4), Hermiones (328 f.) und Kassandras (391 f.) (Harries [2006] 545 f.) wie auch zwischen Hermiones aitiologischen Fragen und jenen im Proömium (Paschalis [2008] 138–40) festgestellt worden.

Helen Kaufmann

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die Köpfe der handelnden Personen hinweg ausgesprochen werden und sich, in der Art eines Epilogs, direkt an die Rezipienten zu richten scheinen. Beispiele dafür sind der in 2.3. diskutierte Schlussvers von Romul. 8 sowie auch der Epilog von Dracontius’ Medea und das Ende von Musaios’ Hero und Leander. Im Epilog der Medea reiht Dracontius Medeas Mordtaten als krönenden Abschluss in die von Greueltaten geprägte Geschichte Thebens ein, denn in Theben, nicht in Korinth, finden diese bei Dracontius statt. blanda Venus, lascive puer, Semeleie Bacche, parcite vos saltem Thebis, quibus auctor origo aut suboles praeclara fuit: tibi mater, Iacche, Thebana de stirpe † tartara tibi diones† Harmoniam nupsisse ferunt: pro munere Thebae et pro tot meritis sic funera tanta merentur? crimen erit genuisse deos! iam Creta Tonantem depositum nutrisse neget, iam Delos in undas fluctuet et paveat partus meruisse deorum, te Venerem freta vestra negent, abiuret Amores Cyprus et Idalium pigeat coluisse Dionen, Vulcanus Lemno, Iuno spernatur ab Argis, Gorgone terribilis Pallas damnetur Athenis, sit〈que〉 nefas coluisse deos, quia crimen habetur religionis honos, cum dat pro laude pericla. (Romul. 10,587–601) Verführerische Venus, freizügiger Junge, Semelesohn Bacchus, schont ihr wenigstens Theben, das einen außerordentlichen Gründer und Ursprung und eine (ebensolche) Nachkommenschaft hatte: Du, Iakchos, hast eine Mutter thebanischer Abstammung, man berichtet, dass † . . . Dione† Harmonia heiratete: Verdient Theben für (diese) Funktion und so viele Auszeichnungen denn so große Katastrophen? Zum Vorwurf wird es gereichen, Götter in die Welt gesetzt zu haben! Bald mag Kreta leugnen, dass es den ausgesetzten Donnerer aufgezogen hat, bald mag Delos in den Fluten treiben und (weitere Folgen davon) fürchten, dass sie sich durch die Geburt von Göttern verdient gemacht hat. Dich, Venus, mag euer Meer verleugnen, den Amores mag Zypern abschwören und Idalion mag es reuen, Dione verehrt zu haben, Vulcanus mag von Lemnos, Juno von Argos verachtet werden, Pallas, die mit (dem Haupt der) Gorgo Schrecken verbreitet, mag von Athen verflucht werden; 〈und〉 es soll ein Frevel sein, Götter zu verehren, da die Ehrung einer Religion als Verbrechen angesehen wird, wenn sie statt Preis Katastrophen bringt.

Auf die historische Einbindung von Medeas Taten folgt eine vorwurfsvolle Ansprache an Venus, Cupido und Bacchus, die Theben als Stadtgottheiten besser hätten beschützen sollen. Aus dem Folgenden wird allerdings klar, dass die Bitte an die Götter um Schutz angesichts des Wesens dieser Götter sinnlos ist, denn es ist gerade die Götterverehrung, die zu Greueltaten führt. Dies hilft, die vorliegende Mythenversion zu verstehen, denn bei Dracontius ist Medea in erster Linie Priesterin der Menschenopfer fordernden Diana. Als Jason sie für Kreusa verlassen will, will Medea wieder zu Diana zurückkehren und bietet ihr als Wiedergutmachung fünf Menschenopfer an: ihre Kinder, Jason, Kreon und Kreusa. Erst im Epilog aber

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Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike

wird der Mythos als (euhemeristische) Kritik an den Göttern interpretiert: sit〈que〉 nefas coluisse deos, quia crimen habetur / religionis honos, cum dat pro laude pericla. 11 Weniger explizit ist Musaios’ Hinweis zur Interpretation. Im Proömium von Hero und Leander wird das Auslöschen der Lampe und der Tod des Leander als ›ein und dasselbe Ende‹ (m–an . . . teleut†n, 14) genannt. Dieses Ende tritt auch ein (329 f.), bildet aber nicht den Schluss, denn darauf folgt noch Heros Entdeckung von Leanders Leiche am Strand und ihr Selbstmord. ¢luje d+ örigËneia ka» oŒk “de numf–on ìOmhron bzw. tÄ metÄ t‰n ìOmhron oder o… mej> ìOmhron lÏgoi findet sich nur in einer Handschriftengruppe, in Homerscholien und bei Eustathios. 2 Doch ist selbst dieser Titel eigentlich irreführend, da das Werk zwar an die Ilias anschließt, aber zugleich vor der Odyssee gelesen werden kann 3 und somit vielmehr ›Zwischenhomerisches‹ bringt. Wie zeigt sich nun das Werk einem Rezipienten, der – zunächst rein formal – von einem Epos zu Beginn ein Proömium zumindest mit Themenangabe und Bitte um göttliche Inspiration und am Ende einen Epilog, eine Sphragis oder doch eine Markierung und einen inhaltlichen Abschluss erwartet? 4

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Aristot. poet. 1459a17–24; das betrifft ebenso die Definition von Anfang und Ende in poet. 1450b27–31; vgl. auch dessen Beurteilung der Kyprien und der Kleinen Ilias in poet. 1459a37–1459b7. Vgl. hierzu Büttner, oben 61–78. Vgl. Vian I, VII f. u. 12; Baumbach/Bär (2007) 1. In drei Handschriften sind die Posthomerica zwischen die homerischen Epen gebunden; man nutzte sie also später, um die ›Lücke‹ zu füllen. – Die Odyssee wird im Folgenden weniger im Vordergrund stehen; in den Posthomerica wird jedoch durch Prolepsen auf sie als ›Fortsetzung‹ verwiesen; s.u. 333; vgl. ferner 8,122–27, wo der Tod des Antiphos durch den Kyklopen angekündigt wird, der in der Odyssee nicht von Odysseus selbst erzählt wird, sondern (in der erzählten Zeit) als Analepse in 2,19 f. zu lesen ist, wodurch aber gleichzeitig auf die entsprechende Leerstelle in Od. 9,344 vorausverwiesen wird. Kennzeichen für Ende bzw. Schluss sind bekanntlich schwerer zu fassen; vgl. grundlegend Smith (1968); Fowler (1989) u. (1997); dazu s.u.

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Ohne Anfang und Ende?

Am Anfang lesen wir (Quint. Smyrn. 1,1): 5 Efij+ Õp‰ Phle–wni dàmh jeoe–keloc ìEktwr . . . Als von dem Peleussohn der gottgleiche Hektor bezwungen war . . .

und am Ende (Quint. Smyrn. 14,657 f.): äll˘ d+ älloc —kanen, Ìp˘ je‰c ™gen Èkaston, Ìssoi Õp‡r pÏntoio lugrÄc Õpàluxan ÇËllac. Alle (= Griechen) gelangten zu einem anderen Ort, wohin jeden Einzelnen ein Gott führte, die auf dem Meer entkommen waren den heillosen Stürmen.

Wir sehen auf den ersten Blick also nichts Anfangs- und Endspezifisches, zumindest nicht das, was mit den Konventionen des antiken Epos vertraute Leser erwarten, und somit deutlich markierte Leerstellen. Umgekehrt findet sich durchaus ein Proömium, allerdings in der Form eines Binnenproömiums in 12,306–13 vor dem Katalog der Insassen des Hölzernen Pferdes. Und ebenso lässt sich bei den einzelnen Szenen, Büchern und Buchgruppen eine gezielte Verteilung von Anfangs- und Endmarkierungen feststellen. Gerade dies gibt aber den Hinweis, dass der Rezipient die besondere Gestaltung von Anfang und Ende des Epos deuten soll. Die Frage ist nur: wie? Im Folgenden soll daher zunächst auf das ›fehlende Proömium‹ bzw. die Anfangspassage eingegangen werden, wobei das Binnenproömium ebenfalls gestreift wird, und dann auf das Werkende, daneben auf die eben erwähnten Anfangs- und Endmarkierungen innerhalb des Werkes. Heute muss man nicht mehr widerlegen, dass Quintus Smyrnaeus »der schlechteste Dichter des Altertums« war. 6 Es soll vielmehr versucht werden, das Thema der Tagung zur Erklärung der Posthomerica heranzuziehen. 7 Es geht dabei um die Frage, ob, wie und warum die Erwartungen des Rezipienten an Anfang und Ende erfüllt oder auch nicht erfüllt werden; selbstverständlich sind diese bei jedem Leser anders; die Überlegungen beschränken sich daher auf die Erwartungen, die bei einem mit der antiken Kultur vertrauten Rezipienten entweder durch externe Faktoren wie etwa Gattungskonventionen oder unabdingbare Bestandteile der Mythen erweckt oder durch interne Faktoren wie inter- und intratextuelle Verweise, Form, Struktur und andere Gestaltungselemente gelenkt sein können.

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Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen von mir; zu Quintus s. Gärtner (2010). So der mit Fragezeichen versehene Titel von Schmidt (1999). Verwiesen sei hierzu vor allem auf Bär (2007) u. (2009), Carvounis (2007), Maciver (2012a) und Schmitz (2007).

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1. Der Anfang Mit dem Proömium fehlen dem Rezipienten der Posthomerica zunächst nicht nur der Topos des Musenanrufs, 8 sondern auch die dort üblichen Informationen zum Thema (quid), dessen Begründung und Bedeutung und ggf. zum Erzähler, seiner Dichtung (quale) und zu Rezipienten. Es lässt sich jedoch zeigen, dass die am Anfang des Werkes stehenden Verse diese Lücke füllen. 9 Die Posthomerica sind das einzige erhaltene narrative Epos der Antike ohne Proömium. 10 Die Aithiopis könnte eine Parallele bieten; in den Iliasscholien (T Il. 24,804a) sind folgende Verse überliefert: ≥c o— g+ Çmf–epon tàfon ìEktoroc; ™lje d+ >Amaz∞n, óArhoc jugàthr megal†toroc ÇndrofÏnoio (So kümmerten die sich um die Bestattung Hektors; es kam aber die Amazone, des Ares Tochter, des hochherzigen, männertötenden); vgl. P. Lit. Lond. 6: wc oi g amfie. pon . tafo[n] Ektoroc hlje d Amazw. [n] otrhr[h] jugathr eueidhc Penjesil . 〈e〉ia (So kümmerten die sich um die Bestattung Hektors; es kam aber die Amazone, der Otrere Tochter, die schöne Penthesileia; mit Crönerts Lesart >Otr†rhc); doch sind diese Verse wohl nicht eigentlich Teil der Aithiopis, sondern geplant (und der letzte Vers der Ilias [24,804] am Ende abgeändert: ≥c o— g+ Çmf–epon tàfon ìEktoroc …ppodàmoio), um das Werk als eine Fortsetzung der Ilias lesen zu können. 11 Die Frage ist für das Verständnis der Anfangsverse der Posthomerica durchaus wichtig; denn zum einen ist gerade der Schlussvers der Ilias von großer Bedeutung (s.u.), zum anderen könnten die Übergangs- oder Anfangsverse der Aithiopis als Anregung für einen proömiumslosen Beginn gedient haben – gerade wenn man die Aithiopis als dezidiertes Fortsetzungsepos versteht –, und schließlich könnte auch die antike Diskussion über diese Passagen in den Versen der Posthomerica reflektiert werden. Doch kann man davon ausgehen, dass die Ilias mit dem traditionellen Ende in 804 für die Posthomerica und deren Rezipienten den Prätext bildete; über den Anfang der Aithiopis lässt sich auf Grund des Überlieferungsstandes nur spekulieren, und es ist umstritten, ob und wenn ja in welcher

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Zu diesem »festen Bestandteil poetischer Exordialtopik« vgl. Schindler (2012), hier: 191. Grundlegend Bär (2007) 32–40; aufgegriffen und erweitert (2009) 138–66; vgl. ferner Baumbach (2007) 107–9; Maciver (2012a) 27–38. Auf proömiale Elemente verzichteten lediglich Verfasser didaktischer Epen wie Nikander und Dionysios Periegetes; bei beiden gibt es jedoch eine deutlich erkennbare Eingangspassage, beide nennen das Thema, Nikander zudem eine Widmung; dass der Aspekt der göttlichen Inspiration fehlt, mag bei einem Lehrgedicht nicht verwundern, da sich der ›Lehrer‹ auf sein Wissen beruft und daher nicht auf göttliche Hilfe angewiesen ist; vgl. Bär (2009) 138 f. Vgl. West (2003) 115; Rengakos (2015) 312 f.; später sah West (2011) 81, 428–30 und (2013) 136 f. in Il. 24,803 das ursprüngliche Ende und in 804 den Rest eines Übergangs zur Aithiopis, den jemand bei der Teilung der Epen fälschlicherweise der Ilias zuwies; vgl. dens. etwas anders (2015) 103: »the alternative ending is actually the original opening of the Aethiopis, which [. . . ] was composed from the start as a continuation of the Iliad«.

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Ohne Anfang und Ende?

Form Quintus die Kyklischen Epen noch las und sie für seine Leser als Prätext erkennbar waren.

Der Verzicht auf ein Proömium wird zumeist mit dem direkten Anschluss an die Ilias erklärt, wobei argumentiert wird, die Funktion der Fehlstelle sei der Hinweis auf eben diese direkte Anknüpfung. 12 Bisweilen erkannte man dann in den Anfangsversen einen Proömiumscharakter, da das Aufgreifen des letzten Ereignisses der Ilias und die Betonung der Achilleusgestalt die Posthomerica als Fortsetzung exponiere. 13 Betrachten wir die Verse im Einzelnen:

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Efij+ Õp‰ Phle–wni dàmh jeoe–keloc ìEktwr ka– · purò katËdaye ka» ÊstËa gaÿa keke‘jei, dò tÏte Tr¿ec Ímimnon ÇnÄ Priàmoio pÏlha deidiÏtec mËnoc öÃ jras‘fronoc A ak–dao; ö‘t+ ‚n» xulÏqoisi bÏec blosuroÿo lËontoc ‚ljËmen oŒk ‚jËlousin ‚nant–ai, ÇllÄ fËbontai  lhd‰n pt∏ssousai ÇnÄ ˚wp†ia puknà; ≥c oÀ ÇnÄ ptol–ejron ÕpËtresan Óbrimon ändra, mnhsàmenoi protËrwn ÂpÏswn Çp‰ jum‰n “aye j‘wn >Ida–oio per» proqo¨si Skamàndrou, öd+ 〈Âp〉Ïsouc fe‘gontac Õp‰ mËga teÿqoc Ólessen, ìEktorà j+ ±c ‚dàmasse ka» Çmfe–russe pÏlhi, ällouc j+ oœc ‚dàixe di+ Çkamàtoio jalàsshc, ÂppÏte dò tÄ pr¿ta fËren Tr∏essin Ólejron. T¿n o— ge mnhsjËntec ÇnÄ ptol–ejron Ímimnon; Çmf» d+ ärà sfisi pËnjoc Çnihr‰n pepÏthto ±c ¢dh stonÏenti kataijomËnhc pur» Tro–hc. Ka» tÏte Jerm∏dontoc Çp+ eŒrupÏroio ˚eËjrwn ¢luje Penjes–leia je¿n ‚pieimËnh e⁄doc, . . . Als von dem Peleussohn der gottgleiche Hektor bezwungen war und ihn das Feuer des Scheiterhaufens verzehrt hatte und die Knochen die Erde barg, da blieben nun die Troer in des Priamos Stadt, weil sie die treffliche Kraft des kühnsinnenden Aiakosenkels fürchteten; wie wenn im Gehölz Rinder einem furchtbaren Löwen nicht entgegenlaufen wollen, sondern fliehen und sich scharenweise im dichten Gesträuch verkriechen: so zitterten diese in der Stadt vor dem starken Mann, da sie all derer gedachten, denen er zuvor das Leben entriss, als er wütete rings um die Mündung des idaiischen Skamandros,

So z.B. Keydell (1963) 3. Schenk (1997) 377; vgl. Vian I, 3: »Préambule (v. 1–17), servant de transition avec l’Iliad et d’introduction générale«. Relativ allein steht Appel (1994) mit seiner ›Einzelliedtheorie‹ und seiner daraus abgeleiteten Annahme, dass Quintus daher nicht an die Ilias habe anknüpfen wollen, denn dann »wäre es ihm leicht gewesen, das besser zu handhaben« (6).

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und all derer, die er auf der Flucht unter der großen Mauer zugrunde richtete, und wie er Hektor bezwang und rings um die Stadt schleifte, und der anderen, die er niedermachte über das unermüdliche Meer hin, als er zu Beginn den Troern Verderben brachte. Derer freilich gedachten diese und blieben in der Stadt. Um sie schwebte also schmerzliches Leid, als ob schon durch jammervolles Feuer Troia in Flammen stünde. Und damals kam von des breitströmenden Thermodon Fluten Penthesileia und hatte an sich die schöne Gestalt von Göttern, . . .

Zunächst wird deutlich, dass die eigentliche Handlung erst mit dem Auftritt Penthesileias beginnt (18 f.), wobei efij+ (1) und ka» tÏte (18) die vorherigen Verse als Beschreibung der Umstände markieren und analeptisch auf die Ilias zurückverweisen. 14 Eine reine Fortsetzung könnte darauf verzichten und wie in der Geschichtsschreibung als historia continua mit einer Art metÄ d‡ ta‹ta beginnen oder wie für die Kyklischen Epen charakteristisch mit aŒtÄr Ípeita fortfahren. 15 Gleichzeitig wird der Leser durch einen solchen Anfang sofort als wissender Leser miteinbezogen. 16 Wie hier mit Konvention und Lesererwartung gespielt wird, zeigen bereits die ersten Verse. Wir lesen keine Themenangabe wie das homerische m®nin oder ändra oder bei Apollonios Rhodios palaigenËwn klËa fwt¿n, die dann aufgezählt werden. 17 Dass man in dieser Zeit ein Proömium lesen konnte, das die Erwartungen an die Gattungskonventionen erfüllte, beweist Triphiodors Epyllion über die Zerstörung Troias: 18

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TËrma polukm†toio metaqrÏnion polËmoio ka» lÏqon >Arge–hc …pp†laton Írgon >Aj†nhc, aŒt–ka moi spe‘donti polÃn diÄ m‹jon Çneÿsa Ínnepe, KalliÏpeia, ka» Çrqa–hn Írin Çndr¿n kekrimËnou polËmoio taqe–˘ l‹son Çoid¨. Das nach langer Zeit erfolgte Ende des mühevollen Krieges und den Hinterhalt, das Pferdewagenwerk der Griechenhelferin Athene,

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Zum Einsatz von Ana- und Prolepsen bei Quintus s. Schmitz (2007), hier: 74; vgl. Bär (2009) 145; Maciver (2012a) 29 f. Dieses Gestaltungsmittel der Kyklischen Epen war so auffällig, dass es schließlich verspottet wurde; vgl. Pollianos (wohl 2. Jh. n.Chr.) AP 11,130,1 f.: toÃc kukl–ouc to‘touc toÃc »aŒtÄr Ípeita« lËgontac / mis¿, lwpod‘tac Çllotr–wn ‚pËwn (Die Dichter der Kyklischen Epen, die immer »und dann« sagen, hasse ich, die Diebe fremder epischer Dichtung). – Zur ›Fortsetzung‹ in der griechischen Geschichtsschreibung und dem Verhältnis zum Epischen Kyklos vgl. Fantuzzi/Tsagalis (2015b) 19–21. Vgl. Bär (2009) 139: »Aus narratologischer Sicht handelt es sich um einen sog. »etischen« Textbeginn, d.h. einen Lektüreeinstieg, der davon ausgeht bzw. suggeriert, dass sich der Leser im Referenzfeld des Texts bereits auskennt, wodurch von Beginn weg ein implizites ›wir-Gefühl‹ zwischen Rezipient und Text (bzw. Erzähler) zustande kommt.« Dies stellt ebenso einen Verweis auf Homer dar; vgl. Il. 9,189 (Gesang des Achilleus); Od. 8,73. Vgl. hierzu Ferrari (1962) 11 f.; Gerlaud (1982) 103 f.

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Ohne Anfang und Ende? das nenne mir sofort, der ich mich eifrig mühe, und lass die Zügel schießen mit langer Rede, Kalliopeia, und den alten Streit der Männer, da der Kampf entschieden ist, löse nun los (= eröffne) in schnellem Gesang.

Wir lesen das Thema, das Ende des Krieges – in schöner Verschränkung – (tËrma polukm†toio metaqrÏnion polËmoio 1; Çrqa–hn Írin Çndr¿n kekrimËnou polËmoio 4 f.), sowie das Hauptereignis, das Hölzerne Pferd (2), das Anliegen des Erzählers (moi spe‘donti 3) und einen Musenanruf (4). Die Homerbezüge (Ínnepe; Írin 4) und Neuerungen sind offensichtlich. Erwähnt sei der für ein Epyllion kennzeichnende Gegensatz von Stofffülle (polÃn diÄ m‹jon 3) und kurzer Erzählform (taqe–˘ l‹son Çoid¨ 5) sowie der nachdrückliche Hinweis, den langwährenden Krieg zu Ende geführt zu haben bzw. den Streit der Männer ›aufzulösen‹; darin ist vielleicht der Anspruch mitzuhören, die epische Tradition gewissermaßen abgeschlossen zu haben. Das Verhältnis zu Quintus ist unsicher; i. d. R. setzt man Triphiodor nach diesem an; dann könnte das Proöm zugleich eine Gegenposition in der Darstellungsweise kennzeichnen. 19 In den Posthomerica dagegen signalisiert bereits das erste Wort (efij+) einen Rückblick, keine Ankündigung von etwas Neuem. 20 Für den wissenden Leser wird dies durch Õp‰ Phle–wni durch einen Bezug auf Phlhàdew im ersten Vers der Ilias überdeutlich markiert – mit einer Abweichung in der Wortbildung, die Bär zu Recht als Zeichen für gleichzeitige Übernahme und Abgrenzung von der homerischen Tradition deutet. 21 Ebenso verweist das am Ende von Vers 1 stehende ìEktwr auf den letzten Vers der Ilias (24,804: √Wc o— g+ Çmf–epon tàfon ìEktoroc …ppodàmoio.) 22, was durch Vers 2, der die Bestattung des Helden betrifft, noch ausgeweitet wird. 23 Dass Hektor von Achill im 22. Buch der Ilias getötet wird, 19

20 21

22 23

Diese Darstellungsweise wird kurz vor Ende des Epyllions in einer deutlichen Schlussmarkierung noch einmal aufgegriffen (664–67): pêsan d+ oŒk ãn Ígwge mÏjou q‘sin Çe–saimi / krinàmenoc tÄ (codd.; kaj+ Graefe, Dub.) Èkasta ka» älgea nukt‰c ‚ke–nhc; / Mousàwn Ìde mÏqjoc, ‚g∞ d+ âper —ppon ‚làssw / tËrmatoc ÇmfiËlissan ‚piya‘ousan Çoid†n (Das gesamte Durcheinander der Schlacht dürfte ich wohl nicht besingen können, in genauer Unterscheidung der einzelnen Ereignisse und der Leiden jener Nacht; dies ist die Aufgabe der Musen, wie ein Pferd aber werde ich den Gesang lenken, welcher umfahrend die Wendemarke berührt). Zur Anspielung auf Quintus vgl. Gerlaud (1982) 103; Maciver (2012a) 29; Miguélez-Cavero (2013). – Das könnte umgekehrt freilich ähnlich gelten. Zum auffälligen Anfang eines Epos mit einer Konjunktion und der eher ungewöhnlichen Voranstellung des Nebensatzes vgl. Maciver (2012a) 29 f. Bär (2009) 145 f.; gleichzeitig ist dies jedoch ein Verweis auf Il. 22,38–76, wo Priamos seinen Sohn bittet, nicht allein gegen Achill zu kämpfen, damit er nicht schnell dem Schicksal folge – Phle–wni dame–c (40); vgl. Maciver (2012a) 32. Zum letzten Vers der Ilias s.o. 315 f. Homerisch gespielt wird weiter dadurch, dass in Il. 1,1 der Name Achill – durch ein Patronymikon verstärkt – an der gleichen Stelle steht wie der – durch das Epitheton jeoe–keloc verstärkte – Name Hektor bei Quintus, wobei letzteres Epitheton in der Ilias ausschließlich für Achill verwendet wird; vgl. Bär (2009) 146 f.; Maciver (2012a) 31. –

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wusste jeder; der kundige Leser konnte jedoch aus der Abmachung zwischen Priamos und Achill in 24,660–70 entnehmen, dass nach den dort vereinbarten neun Tagen Totenklage, der Bestattung und dem Totenmahl am zehnten Tag und der Errichtung eines Grabhügels am elften, nun der zwölfte Tag sein muss, für den Priamos die Wiederaufnahme des Kampfes versprochen hatte. 24 Doch wird in den folgenden Versen die Erwartung des Iliaslesers getäuscht, denn die Troer nehmen den Kampf nicht auf. Wenn dabei als Grund die Furcht vor dem kühnsinnenden Aiakosenkel genannt wird, greift das dessen zentrale Rolle in der Ilias auf, kündigt aber zugleich an, dass die Figur auch für das folgende Werk bestimmend sein wird; 25 nicht nur in seinen Siegen über Penthesileia (1) und Memnon (2), seinem Tod (3), den Leichenspielen (4), dem Streit um seine Waffen (5), sondern ebenso in den folgenden Büchern durch seinen Sohn und Nachfolger Neoptolemos (bes. 6– 9), bis er schließlich am Ende (14) grollend im Traum seinem Sohn die Opferung der Polyxena aufträgt – und somit noch einmal für die Troer ›furchtbar‹ ist. Ferner wird seiner Taten in mehreren Rückblicken gedacht; bei den Leichenspielen besingt Nestor die Heldentaten Achills (4,144–70), und ein unbekannter Sänger rekapituliert diese bei der Siegesfeier der Griechen am Ende des Epos (14,121– 41). Nach dieser Einleitung (1–4) werden die Troer in ihrer Furcht vor Achill mit ängstlichen Rindern verglichen (5–7), die vor einem Löwen fliehen. Das Gleichnis ist fast auffällig geläufig und lässt den Leser ein homerisches Werk erwarten. Doch ist die Stellung wiederum bemerkenswert. 26 In keinem Epos findet sich so früh ein Gleichnis, 27 erst recht nicht in einem Proömium; dafür steht in den homerischen Epen ein Gleichnis in den anderen Büchern oft am Anfang, um ein Stimmungsbild der Situation zu vermitteln. Unhomerisch liest man also zu Beginn des Werkes ein Gleichnis statt eines Musenanrufs, gleichzeitig aber gibt sich das Buch – als Fortsetzungsbuch der Ilias gelesen – durch die Stellung dieses Gleichnisses ganz homerisch. 28 In dem So-Teil wird noch einmal die Furcht der Troer aufgegriffen, doch erfolgt durch ein participium coniunctum eine entscheidende Erweiterung, denn nun wird die Furcht begründet: mnhsàmenoi (9). Eine Erinnerung als Analepse ist im Epos üblich. An dieser Stelle übernimmt sie aber m. E. eine doppelte Funktion. Zum einen bietet sie die Möglichkeit, im Folgenden die Hauptereignisse der Ilias (und darüber hinaus) zu rekapitulieren, und zwar fokussiert aus der Sicht der betroffenen Troer. 29 Dabei ist festzustellen, dass die Ereignisse gleichsam rückwärts in den Sinn kommen (13 f.) und dabei die Grenzen der Ilias nach

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Maciver (2012a) 31 f. vermutete ferner, dass durch dàmh (1) ebenfalls auf den Schlussvers der Ilias verwiesen werde, nämlich auf …ppodàmoio. Vgl. Bär (2009) 145. Vgl. Bär (2009) 141 f. Vgl. Bär (2009) 151–57; Maciver (2012a) 130–2. In der Ilias steht das erste 2,87–90, in der Odyssee 4,335–39. So völlig überzeugend Bär (2009) 151 f. Vgl. Bär (2009) 141; Maciver (2012a) 32.

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Ohne Anfang und Ende?

vorne (= zeitlich früher) überschreiten, wodurch diese gewissermaßen einverleibt wird. Das Erinnern wird nach diesem Rückblick nochmals genannt: mnhsjËntec (15). Dies zeigt eine Vorliebe für Ringkompositionen. 30 Allerdings ist die Betonung der Erinnerung ein Verweis auf einen Proömiumstopos; doch ist es sonst der Erzähler, der an etwas erinnern, d. h. in der Zukunft erzählen will, wie bei Apollonios Rhodios (mn†somai 1,2), oder es sind die Musen, die darum gebeten werden, wie im Musenanruf vor dem Schiffskatalog in der Ilias (mnhsa–aj+ 2,492) oder bei Vergil im Proömium (Musa, mihi causas memora 1,8); hier dagegen lässt der Erzähler durch die Erinnerung der Beteiligten den Inhalt der vorausgegangenen Dichtung über den Troianischen Krieg Revue passieren. 31 Dass hierbei nicht nur die Ilias gemeint ist, wird unter anderem daran erkennbar, dass zwar das Hauptereignis, der Tod Hektors, noch einmal erwähnt wird (s. o. 1; 12), nun aber in einer Variante, die gezielt von der Homers abweicht; denn wir lesen, dass Achill Hektor um die Stadt schleift, während er in der Ilias Hektors Leichnam vor, aber nicht um die Stadt, später zu den Schiffen und schließlich um das Grab des Patroklos schleift (22,395–404. 463–65; 24,14–21). Quintus’ Version kennen wir von anderen Autoren; 32 worauf er sich direkt bezieht, ist aber nicht zu bestimmen. Dass er damit auf kyklisches Material i. A. verweist, wird auch durch 13 f., vor allem durch tÄ pr¿ta deutlich, 33 womit der Stoff der Kyprien aufgerufen wird. Das soll aber nicht heißen, dass diese Epen noch vorhanden waren oder als Prätext vorausgesetzt werden konnten; m. E. war lediglich die Kenntnis um diese und ihren Inhalt wichtig. Vers 15 schließt durch Rückbezüge auf die Verse 9 und 3 Kreise, und die Einleitung könnte nun enden. Vers 16 scheint die Stimmung der Troer resümierend zusammenzufassen: Schmerzliches Leid schwebt folglich um sie, allerdings schließt sich noch ein irrealer Vergleichssatz an: »als ob schon durch jammervolles Feuer Troia in Flammen stünde«. Der Vergleichspunkt ist das Leid, doch liegt 30 31

32 33

Vgl. Bär (2009) 163. Etwas anders gewichtet bei Bär (2009) 143 f.: »Vergleichbares gilt auch und ganz besonders für den Ausdruck mnhsàmenoi protËrwn in Q.S. 1,9, insofern als das Erinnern [. . . ] ja die eigentliche Hauptfunktion des epischen Erzählers bzw. der ihn unterstützenden Musen ist. Die Musen gelten bei und seit Hesiod als Töchter der personifizierten Mnemosyne [. . . ]. Das Verb mnhsêsjai und seine Verwandten sind also mit dem Appellativum Mo‹sai sowohl inhaltlich als auch etymologisch klar verknüpft. Somit können wir Quintus’ mnhsàmenoi protËrwn auf metapoetischer Ebene als (strukturelles und inhaltliches) Substitut für die zu erwartenden, jedoch nicht vorhandenen Musen zu Beginn der Posthomerica auffassen.« Eur. Andr. 107 f.; Verg. Aen. 1,483 f. Ob dies auf die Kyklischen Epen zurückgeht, ist unklar. Vgl. Vian I 12; Gärtner (2005) 42 f.; Bär (2009) 158 f. Mit tÄ pr¿ta wird selbstverständlich das Proömium der Ilias aufgegriffen (1,6); vgl. Bär (2009) 162 f.: »Mit diesem Bezug spinnt Quintus einerseits einen weiteren intertextuellen Faden zum Ilias-Proömium und lädt dadurch die einleitenden Verse proömial auf. Andererseits besitzt der Ausdruck für sich genommen eine implizite poetologische Qualität, insofern als er das Moment des Erinnerns bzw. des Suchens nach den Anfangsgründen [. . . ] als Movens epischen Erzählens in den Vordergrund stellt.«

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nun durch die Erwähnung der brennenden Stadt eine Prolepse auf das Ende des Krieges vor, d. h. hier wird die proömiale Ankündigung des Hauptereignisses bzw. der Folge des Hauptereignisses in einen Vergleich verbannt. Schaut man auf die Versenden, gelangt man mit Hektor (1) vom Ende der Ilias zu Troia (17), dem – für den Leser wohl zu erwartenden – Ende dieses Epos. 34 Diese Verbindung wird noch dadurch verstärkt, dass Quintus hier auf die Ilias-Passage zurückdeutet, wo das Verhalten der Troer, die die Schleifung Hektors mitansehen müssen, wie folgt geschildert wird (22,408–11):

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æmwxen d+ ‚leeinÄ patòr f–loc, Çmf» d‡ lao» kwkutƒ t+ e“qonto ka» o mwg¨ katÄ ästu. tƒ d‡ màlist+ är+ Íhn ‚nal–gkion, ±c e  âpasa óIlioc ÊfruÏessa pur» sm‘qoito kat+ äkrhc. Und zum Erbarmen wehklagte sein Vater, und rings das Volk Erhob schrilles Geschrei und Wehklage durch die Stadt. Es war dem am meisten ähnlich, als ob die ganze Hügelstadt von Ilios verschwelte herab vom Gipfel. (Übers. Schadewaldt)

Auch in der Ilias wird man dabei an den späteren Brand Troias denken; bei Quintus ist dies aber durch ¢dh – als ob schon – explizit markiert. Quintus scheint sich mit seinem fehlenden Proömium spielerisch zweifach den aristotelischen Forderungen zu widersetzen: Sein Anfang folgt notwendig etwas anderem, 35 und sein Thema wird gezielt nicht direkt angegeben und der Leser somit in Spannung gehalten. 36 Dieser erkennt durch die Einleitungsverse die Fortsetzung der Ilias und erwartet eine Erzählung bis zur Eroberung Troias, doch bleibt die Spannung, ob diese wirklich erzählt und bis wohin der bekannte Stoff weitergeführt wird. Gleichzeitig wird durch den Verzicht auf ein Proömium und den überdeutlichen Anschluss an die Ilias, das Iliasproömium auch zum Proömium der Posthomerica. Bekanntlich wird das dort angekündigte Motiv vom Zorn des Achill (1,1) am Ende der Ilias zu einem Abschluss gebracht, es wird aber ebenfalls deutlich, dass der Plan des Zeus (1,5) weitaus größere Dimensionen hatte, d. h. den 34

35 36

Vgl. Bär (2009) 141: »Das persönliche Schicksal des größten troischen Helden präfiguriert das kollektive Schicksal ganz Trojas, es hat – narratologisch gesprochen – die Funktion einer mise-en-abyme.« Gegen Aristot. poet. 1450b27 f.: Çrqò dË ‚stin Á aŒt‰ m‡n mò ‚x Çnàgkhc met+ ällo ‚st–n (Anfang ist das, was selbst nicht notwendig nach etwas anderem ist). Gegen Aristot. rhet. 1415a12 f.: ‚n d‡ lÏgoic ka» Ípesi deÿgmà ‚stin to‹ lÏgou, —na proeid¿si per» o› [Æ] Â lÏgoc ka» mò krËmhtai ô diànoia (In den Reden und in den Epen gibt es einen Hinweis auf das Thema, damit man weiß, worüber die Rede handelt, und die Gedanken nicht in Spannung gehalten werden). Vgl. Conte (1992) 147: »If the inauguration of poetic discourse is an act regulated by a literary ceremony, the empirical function which this act at the same time fulfills is to inform the public of the song’s object – its quid – by serving as a periphrastic substitute for the title itself, or a plot-summary of the contents. [. . . ] the most characteristic function of the proem, the only necessary and constant one.«

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Ohne Anfang und Ende?

gesamten Stoff des Kyklos umfasste. 37 So bleibt das Ende gleichzeitig offen: »The Iliad is notable, however, for not narrating either of the conclusive events toward which its plot moves, the death of Achilles and the fall of Troy. Instead, it stops after recounting an event, the death of Hector, in which both of those outcomes are implicit: as Thetis tells him, Achilles’ death is fated to follow Hector’s (Il. 18.95– 96), and it is clear that Troy can no longer stand without its greatest defender.« 38 Hektors Tod repräsentiert innerhalb der Ilias somit das Ende Achills und das Ende des Troianischen Krieges; seine Auslösung und Bestattung bieten »a sense of closure«. 39 Daher bringen die Posthomerica in gewisser Weise in einer Weiterführung diese Motive nun zum ›Abschluss‹. Es wurde bereits erwähnt, dass wir ein Binnenproömium im zwölften Buch lesen, vor einem Katalog der Insassen des Hölzernen Pferdes (12,306–13):

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To‘c moi n‹n kaj+ Èkaston ÇneiromËn˙ sàfa, Mo‹sai, Íspej+ Ìsoi katËbhsan Ísw poluqandËoc —ppou; Õmeÿc gÄr pêsàn moi ‚n» fres» j†kat+ Çoid†n, pr–n moi 〈Ít+〉 Çmf» pareiÄ katask–dnasjai “oulon, Sm‘rnhc ‚n dapËdoisi periklutÄ m®la nËmonti tr»c tÏson ìErmou äpwjen Ìson boÏwntoc Çko‹sai, >ArtËmidoc per» nh‰n >Eleujer–˙ ‚n» k†p˙, o÷re o÷te l–hn qjamalƒ o÷j+ ÕyÏji pollƒ. Die nennt mir nun Mann für Mann auf meine Frage genau, ihr Musen, alle die hineinstiegen in das vielfassende Pferd. Ihr nämlich legtet mir in den Sinn den gesamten Gesang, bevor sich mir noch über die Wangen ausbreitete der Flaum, als ich in Smyrnas Ebenen weithin berühmte Schafe hütete dreimal so weit vom Hermos entfernt, wie man einen Rufenden hört, bei der Artemis Tempel im eleutherischen Garten auf einer Anhöhe, weder besonders niedrig noch sehr hoch.

Die viel behandelte Stelle kann hier nicht ausführlich besprochen werden. 40 Wichtig erscheint in unserem Zusammenhang Folgendes: Im Binnenproömium trägt der Erzähler die Topoi nach, die der Leser zu Beginn des Werkes erwartet hätte: den Musenanruf 41 und die Bitte um Antwort auf Fragen, den Grund für den

37

38 39 40 41

Der Scholiast (D) führt zu Il. 1,5 Di‰c d+ ‚tele–eto boul† den in den Kyprien berichteten Mythos an, dass Zeus sich der Erde, die durch die übergroße Masse der Menschen bedrückt wurde, erbarmte, und um sie zu entlasten, den Troianischen Krieg entstehen ließ; die Kämpfer fielen um Troia, und des Zeus Wille erfüllte sich (frg. 1,6 f.). Murnaghan (1997) 36. Murnaghan (1997) 36. Grundlegend Bär (2007) 40–61; Bär (2009) 72–8; vgl. ferner Maciver (2012a) 33–8. Durch den Musenanruf wird dieser Katalog als der wichtigste markiert; dies ist insofern interessant, als die Anzahl und Namen der Insassen des Hölzernen Pferdes in der antiken Literatur unterschiedlich angegeben werden; Quintus bietet mit 30 Namen den längsten

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Anruf, nämlich die Musenweihe, und schließlich eine wie auch immer zu verstehende Angabe zum Dichter und seiner Dichtung selbst. Die intertextuellen Bezüge sind überdeutlich: zum Musenanruf vor dem Schiffskatalog im zweiten Buch der Ilias, 42 zur Musenweihe bei Hesiod 43 und schließlich zur Apoll- bzw. Musenweihe bei Kallimachos (ait. fr. 1–4 Asper) 44. Diese Verse markieren, dass in den Posthomerica die frühgriechischen Texte durch die alexandrinische Brille gelesen werden; die Verse werden gleichsam zu einer programmatischen Leseanleitung der intertextuellen Bezüge. 45 Die rätselhafte Höhenangabe im Schlussvers ließe sich als Stilhöhe deuten; die Wahl der Mitte wäre ein Ausdruck der Bescheidenheit. 46 Hier konnte der Leser demnach den seit dem Hellenismus vertrauten zweiten Aspekt eines Proömiums wiederfinden, den programmatischen. 47 Erwähnt sei

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46 47

Katalog; er scheint auf die unterschiedlichen Angaben zu verweisen, wenn er für seine Sammlung die Bürgschaft der Musen anführt; vgl. Gärtner (2005) 174; Maciver (2012a) 34. Il. 2,484–93: óEspete n‹n moi Mo‹sai, >Ol‘mpia d∏mat+ Íqousai – / Õmeÿc gÄr jea– ‚ste, pàrestË te, “stË te pànta, / ômeÿc d‡ klËoc o⁄on Çko‘omen oŒdË ti “dmen – / o— tinec ôgemÏnec Dana¿n ka» ko–ranoi ™san; / plhjÃn d+ oŒk ãn ‚g∞ muj†somai oŒd+ Ênom†nw, / oŒd+ e“ moi dËka m‡n gl¿ssai, dËka d‡ stÏmat+ e⁄en, / fwnò d+ ärrhktoc, qàlkeon dË moi ™tor ‚ne–h, / e  mò >Olumpiàdec Mo‹sai Di‰c a giÏqoio / jugatËrec mnhsa–aj+ Ìsoi Õp‰ óIlion ™ljon / ÇrqoÃc afi nh¿n ‚rËw n®àc te propàsac (Sagt mir nun, Musen! die ihr die olympischen Häuser habt – denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wisst alles, wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts –: Welches die Führer der Danaer und die Gebieter waren. Die Menge freilich könnte ich nicht künden und nicht benennen, auch nicht, wenn mir zehn Zungen und zehn Münder wären und die Stimme unbrechbar, und mir ein ehernes Herz im Innern wäre, wenn nicht die olympischen Musen, des Zeus, des Aigishalters, Töchter, mir ins Gedächtnis riefen, wie viele nach Ilios gekommen. Die Führer aber der Schiffe will ich nennen und die Schiffe allesamt [Übers. Schadewaldt]). Hes. theog. 22–5: a— n‘ poj+ Aqaio– (Von Troia aus stachen die Achaier in See, nachdem sie den Kampf vollendet hatten). Zum Gedankenspiel vgl. Schmidt (1999) 147 f. Schmidt (1999) 148.

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Werfen wir den Blick zunächst auf den ersten Teil des Buches. Er beginnt wie folgt:

5

10

5

10

Ka» tÏt+ Çp+ >Wkeanoÿo jeÄ qrusÏjronoc >H∞c oŒran‰n e sanÏrouse, Qàoc d+ ÕpedËxato N‘kta. OÀ d‡ b–˘ Tro–hn eŒerkËa d˘∏santo >Argeÿoi ka» kt®sin Çpe–rona lh–ssanto, qeimàrroic potamoÿsin ‚oikÏtec, o— te fËrontai ‚x ÊrËwn kanaqhd‰n ÊrinomËnou Õetoÿo, pollÄ d‡ dËndrea makrÄ ka» ÂppÏsa f‘et+ Óresfin aŒtoÿc sÃn pr∏nessin Ísw forËousi jalàsshc; ≥c Danao» pËrsantec Õpa» pur» Tr∏ion ästu kt†mata pànta fËreskon ‚uskàrjmouc ‚p» n®ac. Und damals stieg vom Okeanos die goldenthronende Göttin Eos zum Himmel empor; das Chaos aber nahm die Nacht auf. Die aber zerstörten mit Gewalt Troia, das wohlummauerte, die Argeier, und unermesslichen Besitz erbeuteten sie, sie glichen Winterströmen, die aus den Bergen stürzen mit Getöse, wenn der Regen hereinbricht; viele große Bäume und alles, was in den Bergen wächst, zusammen mit den Berggipfeln selbst tragen sie in das Meer: so zerstörten die Danaer mit Feuer die troische Stadt und trugen alle Besitztümer zu den leichtspringenden Schiffen.

Nur nebenbei sei auf die typische Markierung eines Buchanfangs durch den Morgen verwiesen. Wichtig ist mir allerdings zu zeigen, wie eng die Bezüge zum Anfang des Epos sind – deutliche Hinweise für den Leser, dass die Dinge nun auf das Ende zulaufen. Nach einer einleitenden Zeitangabe folgt eine Darstellung der Zustände in Troia; doch während im ersten Buch die Troer in der Stadt sind und sich vor Achill fürchten, sind nun die Griechen in der Stadt und zerstören diese. In beiden Büchern folgt ab Vers 5 ein Gleichnis; auf die Funktion des Gleichnisses in Buch 1 wurde schon eingegangen. Hier sind es entsprechend die Griechen, die verglichen werden, und zwar mit Winterströmen aus den Bergen, die bei Regen herabstürzen und Bäume mitsamt Berggipfeln in das Meer tragen. Das Gleichnis selbst ist wieder ganz homerisch. 56 Es erhält jedoch eine proleptische Funktion, wenn man auf das Werkende blickt, denn dort werden zahlreiche Elemente aus dem Gleichnis aufgegriffen, wenn die Götter Poseidon, Zeus und Apoll die Mauern und Türme des Griechenlagers zerstören (14,632–58):

635

56

Ìc ˚a tÏt+ Çkamàtoisi per» fres» pàgqu mega–rwn te–qesi ka» p‘rgoisin ‚usjenËwn >Arge–wn, oœc Íkamon Tr∏wn stuger®c 〈Írum+〉 Ímmen Çut®c, ‚ssumËnwc màla pêsan Çnepl†mmure jàlassan Ìssh Çp+ EŒxe–noio katËrqetai Ennosiga–˙. OŒd‡ m‡n oŒd+ Ida–wn ÊrËwn màla pànta ˚Ëejra e c Èna q¿ron ägeske, katËkluse d+ Írgon >Aqai¿n. † Ka» tÏssh † d‡ jàlassa ka» e sËti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . kelàdontec qe–marro– t+ Çlegein‰n ÇexÏmenoi Di‰c Ómbr˙, toÃc mËlan o⁄dm+ ÇnËerge polustÏnou >Amfitr–thc pÏnton ‚seljËmenai, pr»n te–qea pànt+ Çmaj‹nai ÇrgalËwc Dana¿n. AŒt‰c d+ ära gaÿan Ínerje ˚®xe Poseidàwn, ÇnÄ d+ Íblusen äspeton ’dwr  l‘n te yàmajÏn te; b–˘ d+ ‚lËlixe kratai¨ S–geon, öiÏnec d‡ mËg+ Íbraqon ‚k d‡ jemËjlwn Dardan–h; ka» äiston Õpobr‘qiÏn t+ ‚kal‘fjh Èrkoc ÇpeirËsion, kated‘seto d+ Índoji ga–hc makrÄ diistamËnhc. Yàmajoc d+ Íti fa–neto mo‘nh, qassamËnou pÏntoio, kat+ Çktàwn ‚rido‘pwn, nÏsfi d+ ‚p+ a gialoÿsi katektàjh. >AllÄ tÄ mËn pou Çjanàtwn ‚tËlesse kak‰c nÏoc; oÀ d+ ‚n» nhus»n >Argeÿoi pl∏eskon Ìsouc diÄ qeÿma kËdassen; äll˘ d+ älloc —kanen, Ìp˘ je‰c ™gen Èkaston, Ìssoi Õp‡r pÏntoio lugrÄc Õpàluxan ÇËllac. der (= Poseidon) richtete nämlich damals in seinem unermüdlichen Sinn seine Missgunst auf die Mauern und Türme der starken Argeier, die sie gebaut hatten zum Schutz gegen der Troer schrecklichen Angriff, und überflutete eilig das ganze Meer, das vom Euxeinos bis zum Hellespontos reicht, und schleuderte es gegen die Gestade von Troia. Zeus ließ es von oben regnen, womit er einen Gefallen erwies dem überaus berühmten Ennosigaios. Und Hekaergos war wahrlich nicht ohne Mühe, sondern führte von den idaiischen Bergen alle Flüsse zu einem Ort und überflutete das Werk der Achaier. † Und so gro߆ das Meer und noch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . die brausenden und Winterströme, schrecklich angeschwollen durch des Zeus Regen, die die schwarze Woge der tosenden Amphitrite abhielt, ins Meer zu kommen, bevor alle Mauern der Danaer vernichtet waren auf schreckliche Weise. Er selbst aber zerbrach die Erde von unten, Poseidon, und ließ unendlich viel Wasser hervorsprudeln und Schlamm und Sand. Mit gewaltiger Kraft erschütterte er Sigeon. Es dröhnten aber laut die Gestade und von Grund auf Dardanien, und unsichtbar und völlig vom Meer überspült wurde der ungeheure Schutzwall, er versank in der Erde, die sich weit auftat. Allein Sand war noch zu sehen, als das Meer zurückwich, unten an den dröhnenden Steilküsten,

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und er erstreckte sich fern hin am Gestade. Aber das vollbrachte wohl der Unsterblichen Unwille. In ihren Schiffen aber segelten alle Argeier, die der Sturm zerstreut hatte: Alle gelangten zu einem anderen Ort, wohin jeden Einzelnen ein Gott führte, die auf dem Meer entkommen waren den heillosen Stürmen.

Die Bezüge des Gleichnisses zum Buch- bzw. Werkende sind deutlich und hier im Druckbild markiert. Umgekehrt greift der So-Teil in 14,9 (≥c Danao» pËrsantec Õpa» pur» Tr∏ion ästu) den proleptischen Vergleich zu Beginn des ersten Buches in den Versen 16 f. (Çmf» d+ ärà sfisi pËnjoc Çnihr‰n pepÏthto / ±c ¢dh stonÏenti kataijomËnhc pur» Tro–hc) als erfüllt auf. Zu Beginn des ersten und letzten Buches wird demnach jeweils auf die Zerstörung Troias bzw. des Griechenlagers vorausgewiesen – die Dinge werden zum Abschluss gebracht. Auch die Analepse zu Beginn des Epos, in der die Taten des Achill in den Kyprien und der Ilias in Erinnerung gerufen werden, wird im 14. Buch aufgegriffen. Bei dem Festschmaus danken die Griechen zunächst den Göttern, weil sie ›ein großes Werk zu Ende gebracht hatten‹ (‚pe» mËga ¢nusan Írgon 104) – m. E. zugleich poetologisch bzw. als ›closural allusion‹ zu verstehen. 57 Gerühmt werden dann die Insassen des Pferdes – ein Rückverweis auf das Binnenproömium in Buch 12 – und Sinon. Abschließend wird noch einmal das Ende des Krieges betont (polËmoio makr‰n tËloc 117) und somit auf ein mögliches Ende des Epos verwiesen 58 – doch zugleich das Sequel angekündigt, denn Zeus verweigert einigen die Heimkehr (117–20): 59

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›>Hn‘samen polËmoio makr‰n tËloc; öràmej+ eŒrà k‹doc Âm¿c dh–oisi mËga ptol–ejron ·lÏntec; Çllà, Ze‹, ka» nÏston ‚eldomËnoic katàneuson.‹ √Wc Ífan; Çll+ oŒ pêsi patòr ‚p» nÏston Íneuse.

120

»Wir haben den langen Krieg zu Ende gebracht; wir haben weithin Ruhm erlangt, da wir neben den Feinden eine große Stadt einnahmen. Auf, Zeus, nicke uns, die wir dies wünschen, auch die Heimkehr zu!« So sprachen sie; aber nicht allen nickte der Vater die Heimkehr zu.

Schließlich besingt einer der Griechen die Geschehnisse des Troianischen Krieges ab der Versammlung in Aulis, die Heldentaten Achills vor dem eigentlichen 57 58

59

Vgl. Smith (1968) 172–82. Deutlich wird dies daneben durch den für das Epos generell sinngebenden Topos des Ruhmes. Dass dieser am Anfang und Ende eine zentrale Rolle spielt, zeigen die Argonautika des Apollonios Rhodios (klËa fwt¿n 1,1; ‚p» klutÄ pe–raj+ …kànw / ÕmetËrwn kamàtwn 4,1775 f.). Der Bezug darauf ist für den Leser ein weiterer Hinweis, hier ein mögliches Ende zu erwarten. S.o. Anm. 50 zur Prolepse in 4,56–61; bei dem Leser wird hierdurch Empathie erweckt, da er ja weiß, dass sich der Wunsch nicht erfüllen wird; weil man die Erwartungen der Figuren in diesen Versen nachvollzieht, werden jene zu ›secondary focalizers‹ (nach de Jongs Terminologie); zur Funktion vergleichbarer Prolepsen auch bei Homer vgl. Schmitz (2007) 68 u. 70.

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Ohne Anfang und Ende?

Kampf um Troia – das ist der Stoff der Kyprien –, die Taten der Griechen nach dem Groll des Achill (metÄ m®nin >AqillËoc 14,132) 60, die Schleifung Hektors durch Achill – das ist der Stoff der Ilias (s. oben zum Anfang) –, Penthesileia, Memnon, Eurypylos, Neoptolemos, Paris/Philoktet, das Hölzerne Pferd, die Zerstörung Troias – das ist der Stoff der Aithiopis, der Iliupersis und der Kleinen Ilias –, und sogar den Festschmaus – wir sind nun nach einem Überblick von den Kyprien im Lied bei der erzählten Zeit selbst angekommen. Das Lied im Lied könnte man als mise-en-abyme bezeichnen, allerdings bietet es eine Alternative zu dem vorliegenden Epos selbst, und zwar durch eine andere Stoffauswahl und vor allem durch ein alternatives Ende – nämlich das Fest, einen für die Griechen erfreulichen Abschluss. Doch das Epos geht weiter, und durch 14,120 sind wir nach wie vor gespannt, ob die Heimfahrt in der Erzählung ihren Platz haben wird. Wieder greift also ein Erzählbaustein im 14. Buch eine Ankündigung im ersten Buch auf und schließt sie ab, lässt aber zugleich durch eine Prolepse das eigentliche Ende spannend bleiben. Ähnlich verhält es sich mit der Traumerscheinung des Achill, als dieser seinem Sohn die Opferung der Polyxena aufträgt. Von seinem Aussehen heißt es (14,181 f.): Ísth Õp‡r kefal®c o› u…Ëoc, oŸoc Íhn per zw‰c ‚∏n, Ìte Trws»n äqoc pËle, qàrma d+ >Aqaioÿc. Er trat zu Häupten seines Sohnes, so wie er war, als er noch lebte, als er den Troern Leid war, Freude aber den Achaiern.

Hier liegt wieder ein Rückbezug auf den Anfang von Buch 1 vor, wo vom Leid der Troer (pËnjoc 16) wegen der Furcht vor Achill ausführlich die Rede war. Ferner sollen sich nun die Griechen seiner Taten erinnern (210–12): 210

e“ gË ti jumƒ mËmnhnj+ Ìss+ ‚mÏghsa per» Priàmoio pÏlha öd+ Ìsa lhisàmhn pr»n Tr∏ion ofidac …kËsjai, . . .

210

Wenn sie sich in ihrem Gemüte erinnern, wie sehr ich mich um des Priamos Stadt abmühte und wie viel Beute ich machte, bevor ich troischen Boden erreichte, . . .

Wie die Troer sich zu Beginn zweimal erinnerten, und zwar an Achills Taten direkt um Troia und an die zuvor (9–14), sollen es nun die Griechen in der gleichen Reihenfolge tun. Zugleich wird das Sturmmotiv eingeleitet; denn Achill droht Sturm an, wenn ihm nicht Polyxena geopfert und Trankspenden dargebracht würden (216–22). Das Motiv vom Groll des Achill vor der Abfahrt der Griechen ist Bestandteil des Mythos. Beachtenswert ist jedoch, wie dies hier eingefügt wird, um die oben erwähnte Vereinnahmung des Iliasproömiums weiterzuführen und somit auch die Ilias mitabzuschließen. Denn als Grund für die Anweisung an die Griechen gibt Achill selbst an (14,215 f.): ‚pe– sfisi q∏omai Ímphc / mêllon Ít+ 60

Auffällig ist, wie hier in der Themenangabe mit dem Incipit der Ilias gespielt wird.

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£ t‰ pàroc Brish–doc (weil ich ihnen sehr grolle, mehr noch als zuvor wegen Briseis). 61 Der erste Teil des 14. Buches weist somit durch das Spiel mit Ana- und Prolepsen eine enge Verzahnung mit dem Anfang und dem Ende des Werkes auf. Der zweite Teil ist auffällig: Ein Epos hat zumeist einen Seesturm; doch sind fast 300 Verse Sturm geradezu monströs und sicher nicht einfach durch aemulatio zu erklären. Ferner ist ein Seesturm am Ende sonst nicht zu finden. In der Regel markieren Seestürme Eckpunkte. Ohne auf die Frage nach dem Verhältnis zur Aeneis einzugehen, sei zumindest darauf verwiesen, dass dort die Handlung mitten im Seesturm einsetzt und dieser als Antizipation des Ganzen gesehen werden kann – vom Chaos zum Kosmos. 62 Wenn hier das Epos mit einem Sturm endet, könnte der – auch ohne direkten Bezug zur Aeneis – eine vergleichbare Bedeutung – ebenfalls vom Chaos zum Kosmos –, durch seine Stellung aber eine andere Funktion haben. Der Teil beginnt mit einer typischen Eposformel, nämlich einem Beinahegeschehen 63 (14,419–21): 420

Ka– n‘ ken >Argeÿoi k–on Aj†nh.

420

Und nun wären die Argeier zu Hellas’ heiligem Boden alle durch die Tiefe des Meeres gekommen ohne Leid, wenn ihnen da nicht die Tochter des lautdonnernden Zeus gezürnt hätte, Athene.

Natürlich kennt der Leser den Stoff der Nostoi. 64 Doch die Formel reizt zu einem schönen Gedankenspiel, wie man sich das Ende der Posthomerica ausmalen könnte. Zudem wird Empathie für die Figuren erweckt. 65 Wieder spielt Quintus mit der Erwartung des Rezipienten, was das Ende betrifft. Die Ilias beginnt mit dem Groll eines Menschen, die Posthomerica enden mit dem Unwillen einer Gottheit. 66 Zugleich wird an den Beginn der Odyssee erin61

62 63 64

65 66

Bei Triphiodor findet sich ebenfalls ein, wenngleich sehr knapper, durch Wortwahl und Wortstellung allerdings überdeutlicher intertextueller Bezug (686 f.): o… d‡ Poluxe–nhc ‚pit‘mbion aŸma qËantec / m®nin …lassÏmenoi tejneiÏtoc A ak–dao (Die aber vergossen der Polyxeine Blut auf dem Grab, um den Groll des toten Aiakosenkels zu besänftigen). – Den Bezug auf die Ilias durch m®nin las man in den Posthomerica bereits in 14,132; s.o. Anm. 60. Vgl. z.B. Pöschl (1977). – Ich möchte hier freilich keine eindeutig politische Deutung nahelegen. Vgl. Nesselrath (1992). Der Leser wurde durch die Warnung des Kalchas, dem die Griechen allerdings durch das Einschreiten der Schicksalsgöttin Aisa nicht glauben, zudem auf die Katastrophe bei den Kapherischen Felsen verwiesen (14,360–65). S.o. Anm. 59. Zur Interpretation grundlegend Carvounis (2007) 242–47 mit weiterführenden Literaturhinweisen.

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Ohne Anfang und Ende?

nert. Dort diskutieren die Götter (1,26–95) die Theodizeefrage. Zeus verteidigt die Götter gegen den Vorwurf der Menschen, Urheber deren Unheils zu sein, jene seien vielmehr selbst wegen ihres Frevels daran schuld. Am Ende der Posthomerica dagegen klagt Athene in dem einzigen Gespräch zwischen Zeus und einer anderen Gottheit in diesem Epos darüber, dass die Menschen sich nicht mehr um die Götter kümmerten, da einer Untat keine Strafe folge. Da ein Guter oft größeres Leid erfahre als ein Schlechter, ehre keiner mehr das Recht. Wenn sie nicht den Frevel der Achaier wegen der Untat des Aias gegenüber Kassandra strafen dürfe, wolle sie den Olymp verlassen und nicht mehr des Zeus Tochter genannt werden (427–42). Die Steigerung zu den Niedergangsszenarien bei Hesiod und Arat ist greifbar; bei Hesiod verlassen Aidos und Nemesis die Menschen wegen deren Unrecht und gehen zum Olymp (erg. 197–201); bei Arat ist es Dike selbst, die im bronzenen Zeitalter die Welt zugunsten des Himmels verlässt (133–36). Hier dagegen soll die göttliche Ordnung selbst aufgelöst werden, da Gerechtigkeit offensichtlich nicht einmal mehr im Himmel existiert und Athene daher diesen und sogar die göttliche Familie überhaupt verlassen will. Gegen Ende der Posthomerica scheinen die Menschen eine Grenze überschritten zu haben, was selbst die göttliche Ordnung gefährdet. 67 Wenn Zeus Athene zur Wiederherstellung der Ordnung seinen Donnerblitz gibt, wird der Leser durch die Bezüge zu Hesiod darauf verwiesen, dass Zeus mit diesem Werkzeug gerecht über Menschen und Götter herrscht. 68 D. h. es geht hier um die Wiederherstellung dieser Ordnung. Es folgt nun der Sturm, in dem die Bestrafung des Aias einen zentralen Raum einnimmt. Leider kann dies nicht ausführlich behandelt werden. 69 Festgehalten sei, dass Aias durch Vergleiche und generelle Zeichnung als Gigant bzw. Titan erscheint und seine Bedrohung für die gerechte Ordnung dadurch weiter ausgemalt wird. 70 Dass die Ordnung durch seinen Tod wiederhergestellt ist, 71 wird auch durch die Tatsache veranschaulicht, dass die Götter gemeinsam handeln, wie durch Poseidons zunehmendes Eingreifen deutlich gemacht wird. Nun werden Frevler wieder bestraft, d. h. wenn Menschen leiden, sind sie selbst schuld an ihrem Leid – die Odyssee könnte einsetzen. Doch geht der Seesturm in einem allgemeinen Teil (14,590–631) noch weiter; wieder findet sich in den Gedanken eines Beteiligten eine (für den Leser zu erkennende) Prolepse. Denn angesichts des Sturmes fühlt sich mancher an den Regen des Deukalion erinnert, der das Land zum Meer machte (14,602–4). Mit einem Rückverweis auf das Regengleichnis zu Beginn des Buches (14,5–8), das die Griechen als Sieger charakterisierte, wird nun ihr Untergang ausgemalt und die spätere vollständige Auslöschung ihrer Spuren vor Troia (14,632–55) ange67 68 69 70 71

Vgl. Carvounis (2007) 247. Hes. theog. 139–41; 503–5; 514–17; vgl. Carvounis (2007) 247. Vgl. hierzu Carvounis (2007) 248–55 mit weiterführenden Literaturhinweisen. Vgl. z.B. 14,550: Titan; 14,582–85: Enkelados. In Aias’ Tod könnte man daher eine Entsprechung zu dem Tod wichtiger Figuren in den Büchern 5 und 10 erkennen; s.o. 325 f.

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kündigt. Gleichzeitig wird durch die Sintflut der Aspekt der Bestrafung auf dem Meer vertieft. Und Deukalion lässt daran denken, dass man den Sturm überleben kann. Der Sturm tobt weiter. Als letzte Einzelepisode darin wird von Nauplios erzählt (611–28), ein Beispiel dafür, wie die Götter nun für Rache und Strafe sorgen; denn auf dessen Bitte an Poseidon, die Griechen wegen seines Sohnes Palamedes untergehen zu lassen, gewährt ihm Poseidon dies zumindest zum Teil – eine Anzahl der Griechen überlebt durch die Hilfe einer Gottheit. Athene allerdings freut sich über die Katastrophe, leidet aber schon mit Odysseus (14,630 f.): 630

äqnut+ >Oduss®oc pinutÏfronoc, o’nek+ Ímelle pàsqein älgea pollÄ Poseidàwnoc Âmokl¨;

630

sie litt wegen Odysseus, des klugsinnigen, weil er viele Leiden erdulden sollte durch des Poseidon Drohung;

Jetzt könnte die Odyssee wirklich folgen mit pollÄ d+ Ì g+ ‚n pÏnt˙ pàjen älgea Án katÄ jumÏn (1,4). Doch Poseidon hat noch anderes im Sinn. Zuvor müssen sämtliche Spuren der Griechen getilgt werden. Es schließt sich die oben schon einmal angesprochene eigentliche Schlussszene an. 72 Die Zerstörung der Mauern um das Griechenlager war schon in der Ilias als Prolepse eingefügt worden. Im siebten Buch klagt Poseidon über den Frevel beim Mauerbau, da die Griechen ihm nicht geopfert hätten; zudem hat er persönliche Gründe, denn er fürchtet, die Mauer könne berühmter werden als die von Apoll und ihm selbst gebaute vor Troia; Zeus verspricht daraufhin die Zerstörung der Mauer nach der Abfahrt der Griechen (7,446–63); entsprechend wird in einer späteren Prolepse von der angekündigten Zerstörung durch Poseidon und Apoll zusammen mit Zeus ausführlicher berichtet (12,3–35). 73 Quintus hat demnach nicht nur Prolepsen aus der Ilias aufgegriffen und als erfüllt dargestellt, er hat im ganzen zweiten Teil des letzten Buches gezeigt, wie die großen Freveltaten der Menschen bestraft werden und die Ordnung wiederhergestellt ist. 74 Und am Ende steht nach der Zerstörung Troias mit der Zerstörung des Griechenlagers ein eindrucksvolles Bild: Der Troianische Krieg ist beendet, vielleicht sogar poetologisch zu verstehen, er ist auserzählt. 75 In jedem Falle aber 72 73 74 75

Vgl. Carvounis (2007) 254–57. Die intertextuellen Bezüge der Schlussszene der Posthomerica i. E. auf diese Homerverse sind offensichtlich. Vgl. Carvounis (2007). Recht weit in ihrer Deutung ging Carvounis (2007) 257: »A sequel to the Iliad, Quintus’ epic does not end with the fall of Troy or with the individual fates of the Greek heroes who fought in the Trojan War; the Posthomerica ends with the transition from the race of the heroes who fought in Troy to the following race already heralded in Athena’s speech to Zeus. The final scenes of Quintus’ Posthomerica thus show the process through which the Trojan War becomes an event of a bygone past that is celebrated in epic.« Zurückhaltender James (2004) XXXI: »It could be claimed that the unity of this last part

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Ohne Anfang und Ende?

ist es erneut eine markierte Fehlstelle, nur anders, am Anfang fehlte das Proömium, nun fehlt Troia samt Griechenlager. Die letzten Verse des Epos (655–58) erwähnen zwar die Rückfahrt der Griechen, die dem Sturm entkamen, und schließen in dieser Zusammenfassung der Nostoi den Troischen Kyklos ab (gerade wenn man »closural allusions« 76 mithört), sind jedoch so knapp und allgemein, dass sie den Wunsch nach einer ausführlichen Darstellung in einer Fortsetzung geradezu nahelegen. Schließlich sei ein Eposschluss angeführt, auf den diese Verse Bezug zu nehmen scheinen, nämlich der Schluss der Argonautika des Apollonios Rhodios (1775–81): 1775

1780

1775

1780

¢dh gÄr ‚p» klutÄ pe–raj+ …kànw ÕmetËrwn kamàtwn, ‚pe» o÷ n‘ tic ÷mmin äejloc afitic Çp+ A g–nhjen ÇnerqomËnoisin ‚t‘qjh, oŒd+ ÇnËmwn ‚riwla» ‚nËstajen, ÇllÄ Èkhloi gaÿan Kekrop–hn parà t+ AŒl–da metr†santec EŒbo–hc Íntosjen >Opo‘ntià t+ ästea Lokr¿n, Çspas–wc ÇktÄc Pagash–dac e sapËbhte. Schon erreiche ich nämlich das berühmte Ende eurer Mühen, da euch nun keine Aufgabe wieder zuteil wurde, als ihr von Aigina abfuhrt, und sich auch keine Sturmwinde erhoben, sondern ruhig vorbeifahrend am Kekropischen Land und Aulis innerhalb Euboias und den Opuntischen Städten der Lokrer habt ihr froh die Pagaseischen Küsten betreten.

Auch hier lesen wir, nach einer Anrede des Dichters an seine Helden (1773–75), eine stark geraffte Zusammenfassung der restlichen Heimreise. Der Bezug wird durch den Kontrast verstärkt, denn während bei Apollonios die Ruhe und das Fehlen von Sturmwinden ausdrücklich betont sind, wird die Rückfahrt der Griechen in den Posthomerica durch Stürme behindert und die Griechen gelangen gerade nicht nach Hause, sondern dahin, wohin ein Gott jeden führt. Und während die Argonauten an Euboia und den Städten der Lokrer vorbeifahren, ereilt in den Posthomerica Aias, den König der Lokrer (14,424. 585 f.), bei Euboia (14,422) der Tod im Sturm. Das letzte Wort der Argonautika e sapËbhte hat hohe ›abschließende‹ Bedeutung, wohingegen die Posthomerica mit dem vorletzten Wort Õpàluxan nur scheinbar schließen und mit dem letzten Wort ÇËllac auf die Nostoi bzw. die Odyssee deuten. 77 Durch den Bezug auf den Epilog der Argonautika werden die

76 77

is marred by an inorganic appendage, the wreck of the Greek fleet in the second half of book 14. But this is surely better seen in the positive light of an ironic coda: finally the Greeks suffer collectively for the offense of Lokrian Ajax no less than the Trojans for the offense of Paris.« Hier z.B. —kanen (657), Õpàluxan (658). Man könnte hier u. U. von ›false closure‹ sprechen; doch ist mir der Begriff zu unbestimmt; zur Kritik an diesem Begriff vgl. Dunn (2013) bes. 17–20.

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Schlussverse der Posthomerica schillernd: Der Bezug als solcher markiert sie als Ende, der Kontrast lässt den Schluss jedoch offen erscheinen. 3. Schluss Ohne Anfang und Ende? Die Posthomerica haben Anfang und Ende, nur anders als es ein an Gattungskonventionen gewöhnter Leser erwarten mag. Es ließ sich zeigen, wie die Anfangsverse proömiale Funktionen übernehmen und wie das Werk zugleich auf mehreren Ebenen an die Ilias ›anschließt‹. Das letzte Buch dagegen, das zunächst wie eine Art Anhang nach dem erwarteten Schlusspunkt erscheinen mag, verbindet kunstvoll ein Ende, das durch Rückbezüge zum Anfang und die Erfüllung zahlreicher inter- und intratextueller Prolepsen geprägt ist, mit der gleichzeitigen Ankündigung einer Fortsetzung und entspricht damit dem Konzept der Eingangsverse. Das Epos zeigt sich als ›Inter-Text‹ und ist gerade durch die Verweise auf vorausgehende und nachfolgende Epen in sich geschlossen. Literaturangaben 1. Textgrundlagen Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch. Ed. Hermann Beckby. Bd. 3. Buch IX–XI, München 2 1965. Apollonii Rhodii Argonautica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Hermann Fränkel, Oxford 1961. Aristotelis Ars rhetorica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit William D. Ross, Oxford 1959. Aristotelis De arte poetica liber. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Rudolf Kassel, Oxford 1965. Hesiodi Theogonia. Opera et Dies. Scutum. Edidit Solmsen, Friedrich. Fragmenta selecta. Ediderunt Reinhold Merkelbach/Martin L. West, Oxford 2 1983. Homeri Opera. Recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt David B. Monro/ Thomas W. Allen Tom. I. Iliadis libros I–XII continens, Oxford 3 1920. Tom. II. Iliadis libros XIII–XXIV continens, Oxford 3 1920. Homeri Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Thomas W. Allen Tom. III. Odysseae libros I–XII continens, Oxford 2 1917. 2 Tom. IV. Odysseae libros XIII–XXIV continens, Oxford 1919. Tom. V. Hymnos, Cyclum, Fragmenta, Margiten, Batrachomyomachiam, Vitas continens, Oxford 2 1946. Kallimachos. Werke. Griechisch und deutsch. Hrsg. u. übers. v. Markus Asper, Darmstadt 2004. Quintus de Smyrne. La suite d’Homère. Texte établi et traduit par Francis Vian. Tome I. Livres I–IV, Paris 1963. (Vian I) Tome II. Livres V–IX, Paris 1966. (Vian II) Tome III. Livres X–XIV, Paris 1969. (Vian III)

336

Ohne Anfang und Ende?

Trifiod∏rou >Il–ou âlwsic. Triphiodor: Die Einnahme Ilions. Ausgabe mit Einführung, Übersetzung und kritisch-exegetischen Noten Uwe Dubielzig (Classica Monacensia 15), Tübingen 1996.

2. Sonstige Ausgaben, Kommentare und Sekundärliteratur Appel (1994) Appel, Włodzimierz: Grundsätzliche Bemerkungen zu den Posthomerica und Quintus Smyrnaeus, Prometheus 20, 1994, 1–13. Baumbach (2007) Baumbach, Manuel: Die Poetik der Schilde. Form und Funktion von Ekphraseis in den Posthomerica des Quintus Smyrnaeus, in: Manuel Baumbach/Silvio Bär (eds., in collaboration with Nicola Dümmler): Quintus Smyrnaeus. Transforming Homer in Second Sophistic Epic (Millenium-Studien 17), Berlin; New York 2007, 107–42. Baumbach/Bär (2007) Baumbach, Manuel/Bär, Silvio: An Introduction to Quintus Smyrnaeus’ Posthomerica, in: Manuel Baumbach/Silvio Bär (eds., in collaboration with Nicola Dümmler): Quintus Smyrnaeus. Transforming Homer in Second Sophistic Epic (Millenium-Studien 17), Berlin; New York 2007, 1–26. Baumbach/Bär/Dümmler (2007) Baumbach, Manuel/Bär, Silvio (eds., in collaboration with Dümmler, Nicola): Quintus Smyrnaeus. Transforming Homer in Second Sophistic Epic (Millenium-Studien 17), Berlin; New York 2007. Bär (2007) Bär, Silvio: Quintus Smyrnaeus und die Tradition des epischen Musenanrufs, in: Manuel Baumbach/Silvio Bär (eds., in collaboration with Nicola Dümmler): Quintus Smyrnaeus. Transforming Homer in Second Sophistic Epic (Millenium-Studien 17), Berlin; New York 2007, 29–64. Bär (2008) Bär, Silvio: Quintus of Smyrna and the Second Sophistic, HSPh 105, 2010, 287–316. Bär (2009) Bär, Silvio: Quintus Smyrnaeus Posthomerica 1. Die Wiedergeburt des Epos aus dem Geiste der Amazonomachie. Mit einem Kommentar zu den Versen 1–219 (Hypomnemata 183), Göttingen 2009. Carvounis (2007) Carvounis, Aikaterini: Final Scenes in Quintus of Smyrna, Posthomerica 14, in: Manuel Baumbach/Silvio Bär (eds., in collaboration with Nicola Dümmler): Quintus Smyrnaeus. Transforming Homer in Second Sophistic Epic (Millenium-Studien 17), Berlin; New York 2007, 241–57. Conte (1992) Conte, Gian Biagio: Proems in the Middle, in: Francis M. Dunn/Thomas Cole (eds.): Beginnings in Classical Literature (YClS 29), Cambridge 1992, 147–59. Dunn (2013) Dunn, Francis M.: Ethical Attachments and the End of Sophocles’ Oedipus the King – Or: Why I don’t Want to Write about ›False Closure‹, in: Farouk Grewing/Benjamin Acosta-Hughes/Alexander Kirichenko (eds.): The Door Ajar. False Closure in Greek

Ursula Gärtner

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Ohne Anfang und Ende?

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Thomas Haye (Göttingen)

Die Herculeia des Giovanni Mario Filelfo (1426–1480) 1. Einführung Wer sich mit der lateinischen Epik im Italien des 15. Jahrhunderts beschäftigt, 1 wird – ob er will oder nicht – den Dichter Giovanni Mario Filelfo nicht ignorieren können. 2 Geboren wird dieser im Jahre 1426 in Konstantinopel als Sohn des berühmt-berüchtigten Gelehrten Francesco Filelfo. Das abenteuerliche Leben des menschlich schwierigen Vaters beschert ihm eine schwere Kindheit. Als er fünfzehn Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. In der Adoleszenz zeigt er sich »begabt, aber verwahrlost« 3. Immerhin verdankt er dem Vater eine exzellente Ausbildung sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen; eine moralische Fundierung gelingt ihm hingegen zeit seines Lebens nicht: Als Ausreißer, Lebemann und womanizer produziert er zahlreiche gesellschaftliche Skandale, fast pausenlos leidet er unter Geldnot und verbringt sogar eine gewisse Zeit im Gefängnis. Auf der ständigen Suche nach einem Gönner oder einer Anstellung führt er ein unstetes Wanderleben und verdingt sich als Lehrer in den Bereichen Grammatik, Poesie und Rhetorik sowie der griechischen Sprache. Zu den vielen Stationen seines einschüchternden, ja geradezu beängstigenden Itinerars zählen die Städte Savona, Marseille, Genua, Turin, Paris, Venedig, Bologna, Modena, Ferrara, Verona, Bergamo, Ancona, Tolentino, Urbino und Mantua. Ein so gehetztes Leben fordert 1

2

3

Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu den neulateinischen Epen (insbesondere Italiens) nenne ich nur: Heinz Hofmann: Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur, in: Jörg Rüpke (Hg.): Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 4), Stuttgart 2001, 130–82; Antonio Belloni: Il poema epico e mitologico (Storia dei generi letterari italiani), Mailand o. J. (1908–1911); Kristen Lippincott: The Neo-Latin Historical Epics of the North Italian Courts: an Examination of ›courtly culture‹ in the Fifteenth Century, Renaissance Studies 3,4 (1989) 415– 28. Zur Person vgl. einführend: Franco Pignatti: Art. Filelfo, Giovanni Mario, in: Dizionario Biografico degli Italiani 47, 1997, 626–31; zum literarischen Werk vgl. L. Agostinelli/ G. Benadduci (= Benaducci): Biografia e bibliografia di Giovan Mario Filelfo, Tolentino 1899. V. R. Giustiniani: Art. F.[ilelfo], Giovanni Mario, in: Lexikon des Mittelalters 4 (2002) 445 f., hier 445.

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Die Herculeia des Giovanni Mario Filelfo (1426–1480)

seinen Tribut: Giovanni Mario stirbt bereits im Alter von nur 54 Jahren, ein Jahr vor seinem betagten Vater. Giovanni Mario Filelfo ist der vielleicht fruchtbarste Dichter, manche würden unter Verwendung einer literalen Metathese auch sagen: der furchtbarste Dichter der italienischen Renaissance. Zu seinem literarischen Œuvre zählen ungefähr 270 namentlich bekannte Schriften bzw. Textgruppen. 4 Interessant ist hierbei nicht nur die rekordverdächtige Zahl, sondern auch die texttypologische Zusammensetzung des Gesamtwerkes. Über Letztere gibt am Besten die Elegie De voluminum suorum numero Auskunft, welche Filelfo im Jahr 1471, d. h. im Alter von knapp 45 Jahren, komponiert hat. Hier zählt er sämtliche bis dahin von ihm verfasste Schriften auf, sortiert nach lateinischer Poesie, griechischer Poesie, Prosa und Volgare. 5 Einleitend rühmt sich Filelfo, mehr Gedichte geschrieben zu haben als Ovid und Vergil. 6 Tatsächlich dürfte sein Œuvre eine sechsstellige Zahl von Versen umfassen – wobei man allerdings zum Vergleich berücksichtigen sollte, dass der Vater Francesco Filelfo kaum weniger produktiv gewesen ist (und immerhin allein zehntausend Satirenverse komponiert hat). Unter Giovanni Marios Schriften findet man zwar zahlreiche Gelegenheitsgedichte (Epigramme, Satiren, Briefe), 7 das prägende Element ist jedoch die Epik. Es dürfte innerhalb der europäischen Literaturgeschichte keinen zweiten Poeten geben, der sich im selben Maße wie Filelfo im epischen Genre betätigt hat. 8 Gerade hierin gelingt es ihm zumindest quantitativ, aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters Francesco herauszutreten, welcher mit seiner in den Jahren 1451– 1463 entstandenen Sfortias lediglich ein einzelnes, zudem unvollendetes Epos komponiert hat. 9 Anders der Sohn: Ihm wird die Epenproduktion zu einer zweiten Natur. Das Attribut »episch« bezieht sich allerdings bei manchen seiner Werke primär auf den Umfang: Filelfo neigt dazu, das Sprachmaterial und den Motivschatz des römischen Epos zu nutzen, um kurze historische Episoden aufzublähen und durch pagane Mythologie oder exemplarisch genutzte antike Geschichte anzureichern. So entstehen carmina deducta, welche primär darauf abzielen, einen zeitgenössischen Herrscher zu glorifizieren und dabei auch die literarische Kompetenz des Autors herauszustellen. Beeindruckend ist das Tempo der Produktion: 10 Fer4 5

6

7 8 9 10

Bibliographie bei Agostinelli/Benadduci (1899) 29–74. Ediert bei Agostinelli/Benadduci (1899) 31–4; vgl. Jeroen De Keyser: Gian Mario Filelfo’s ›Lost‹ Writing against Poggio Bracciolini, Humanistica Lovaniensia 58, 2009, 401–6, hier 401. Vgl. vv. 17–20: Versibus explicui jam multa volumina nostris: / Me brevior Naso, meque Maro brevior. / Sitve mihi id laudi dandum, accusentve futuri, / Haut liquet, ingenii sunt tamen arma mei. Ed. Agostinelli/Benadduci (1899) 31. Nicht wenige Gedichte sind noch unediert; einige werden überliefert in Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 85.4.1. Aug 2o . Zu einigen seiner Epen vgl. Belloni (1908–1911) 107–10 u. 354. Vgl. zuletzt Lippincott (1989) 422. Vgl. Hofmann (2001) 147.

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tiggestellt wird im Jahre 1461 die Felsineis, 11 1464 die Martias, ebenfalls 1464 die Herculeia, vor 1471 die Cosmias, ferner 1474 die Laurentias und schließlich 1476 die Amyris. Am Rande des Genres bewegen sich zudem der Dentraretos, ein epischer Tugendkatalog zum Lobe Francesco Sforzas (vollendet 1458), ferner die panegyrische Minerva auf den Markgrafen Wilhelm von Montferrat (1465) sowie die aitiologische Raguseis (1470).

2. Die Herculeia: Entstehung, Überlieferung und Widmung Innerhalb der Gruppe epischer Texte nimmt die noch unedierte Herculeia eine prominente Position ein. 12 Ihre Entstehung ist vor dem Hintergrund einer mäzenatischen Politik zu sehen, mit der das Geschlecht der Este seinen rasanten politischen Aufstieg durch eine intensive Kulturförderung zu stützen sucht. 13 In diesem Kontext zeigen sich verschiedene Ansätze zeitgenössischer Poeten, die Markgrafen bzw. Herzöge Borso (1413–1471), 14 Ercole I. (1471–1505) 15 und Alfonso I. (1505–1534) 16 in lateinischen Epen zu glorifizieren. Am Bekanntesten ist die nach 1460 begonnene und bis 1496 weitergeführte Borsias des Tito Vespasiano Strozzi (1425–1505). 17 Über seine nur wenige Jahre später begonnene Herculeia notiert Filelfo in dem genannten Kataloggedicht De voluminum suorum numero (vv. 33 f.): 18 Factaque sex decimis sunt artibus Herculeja / Carminibus totidem 11

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15 16

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18

Vgl. Pignatti (1997) 628; Agostinelli/Benadduci (1899) 53, Nr. CCXX; das Widmungsexemplar wird überliefert in Piacenza, Bibl. Com. Passerini-Landi, Land. 42; vgl. auch Hofmann (2001) 147. Eine Edition des Textes ist in Vorbereitung. Vgl. Marianne Pade/Lene Waage Petersen/Daniela Quarta (eds.): La corte di Ferrara e il suo mecenatismo 1441–1598. The Court of Ferrara and its Patronage. Atti del convegno internazionale Copenaghen maggio 1987 (Renæssancestudier 4), Kopenhagen 1990; Giuseppe Papagno/Amedeo Quondam (eds.): La corte e lo spazio: Ferrara estense, Vol. I–III (Biblioteca del Cinquecento 17), Rom 1982; Edmund G. Gardner: Dukes and Poets in Ferrara. A Study of the Fifteenth and Early Sixteenth Centuries, London 1904. Vgl. Thomas Haye: Borso d’Este (1413–1471) und die Idee einer panegyrischen Borsias in der zeitgenössischen lateinischen Dichtung: der Liber de laudibus Borsi des Alberto von Vercelli, Journal de la Renaissance 5, 2007, 243–66. Vgl. Werner L. Gundersheimer: The Patronage of Ercole I d’Este, Journal of Medieval and Renaissance Studies 6, 1976, 1–18. Vgl. Thomas Haye: Die Alphonsias des Francesco Rococciolo (ca. 1470–1528): Poetische Variationen zum Problem der politischen Treue, Neulateinisches Jahrbuch 7 (2005) 83–119. Walther Ludwig (Hg.): Die Borsias des Tito Strozzi. Ein lateinisches Epos der Renaissance. Erstmals herausgegeben, eingeleitet und kommentiert (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen, Reihe 2, Texte 5), München 1977, 17–20 (zur Entstehung des Werkes). Ed. Agostinelli/Benadduci (1899) 32.

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Die Herculeia des Giovanni Mario Filelfo (1426–1480)

crevit ad astra decus. Im gleichnamigen Epos werden somit die Taten des Herkules in sechzehn Büchern dargestellt. Tatsächlich ist das Werk so umfangreich, dass man zu Recht von einer Herkules-Leistung des Autors sprechen kann. Es dürfte sich um eines der längsten lateinischen Epen der italienischen Renaissance handeln. Filelfo hält sich in den Jahren 1463–1464 in der Stadt Modena auf, welche damals von Ercole d’Este (1431–1505) verwaltet wird. Dieser ist ein Halbbruder der ferraresischen Markgrafen Leonello (1441–1450) und Borso (1450–1471). Ercole wird 1431 in Ferrara geboren. Im Alter von vierzehn Jahren sendet man ihn zusammen mit seinem leiblichen Bruder Sigismondo zur Ausbildung an den Hof des Königs Alfons V. von Neapel. Diesem und seinem Sohn Ferrante dient er bis 1460 als Soldat. Im Jahre 1463 ruft Markgraf Borso seine beiden Halbbrüder zurück und ernennt Ercole zum Gouverneur von Modena, Sigismondo zum Verwalter von Reggio. Als sich Filelfo in diesem Jahr nach Modena begibt, hat der 33jährige Ercole somit gerade erst die Amtsgeschäfte aufgenommen. In der Stadt angekommen, vollendet Filelfo zunächst seine Martias für Federico da Montefeltro. Anfang 1464 präsentiert er zudem in Ferrara dem Herzog Borso ein – in den Quellen nicht namentlich genanntes – Werk und erhält am 3. März des Jahres zum Dank ein Geldgeschenk: ». . . a messer Mario Filelfo che apresentò una operetta scrita in uno librezolo qui a Ferara«. 19 Bei dem genannten »kleinen Buch« handelt es sich jedoch definitiv nicht um die Herculeia, sondern um ein schmächtigeres Werk (möglicherweise um die Glicefila). 20 Denn die Herculeia wird erst einige Monate später vollendet, und sie wendet sich auch nicht an Borso, sondern ist ganz auf Ercole zugeschnitten. Der imposante Text wird unikal überliefert in dem autographischen Codex Modena, Biblioteca Estense, lat. 322 (alpha W. 5, 8), welchen Filelfo dem damaligen Gouverneur Ercole als Widmungsexemplar überreicht hat. 21 Es ist außerordentlich bedauerlich, dass bei diesem Exemplar gerade der Anfang des Werkes fehlt. Der überlieferte Text beginnt auf fol. 1r innerhalb des ersten Buches mit dem unscheinbaren Vers Quod si nostra nequit te flectere forte ruina / . . . Der erhaltene Teil dieses ersten Buches umfasst nur 409 Verse, und der Vergleich mit den folgenden 15 libri legt die Vermutung nahe, dass mehr als die Hälfte des ersten Buches verloren ist. Immerhin wurde der Schluss des Werkes gerettet: Der Text endet auf fol. 283r; die letzten Zeilen der Seite sind unbeschrieben. Insgesamt handelt es sich bei diesem Autograph trotz der klar erkennbaren Dedikationsfunktion um einen erstaunlich schmucklosen Codex: Der Haupttext ist 19 20 21

Vgl. Giulio Bertoni: Guarino da Verona fra letterati e cortigiani a Ferrara (1429–1460), Genf 1921, 126 f., das Zitat hier 126. Letztere Vermutung bei Bertoni (1921) 126 f. Verzeichnet bei Agostinelli/Benadduci (1899) 54, Nr. CCXXII; vgl. Domenico Fava: La Biblioteca Estense nel suo sviluppo storico, Modena 1925, 85; Paul Oskar Kristeller: Iter Italicum. Vol. I. Italy, London; Leiden 1965, 370.

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in rötlich-brauner Tinte geschrieben, hingegen erscheinen die Überschriften sowie die ersten Zeilen der praefationes und libri in eindeutig roter Farbe. Einige Wörter und Buchstaben sind später mit schwarzer Tinte nachgezeichnet oder korrigiert worden. Dabei zeigt die Qualität der Fehler, dass der Text eine Abschrift des (verlorenen) Werkmanuskripts darstellt. Die endgültige, durchkorrigierte Fassung des Codex enthält nur noch wenige Versehen. Bei den argumenta und Buchanfängen vermisst man die Initialen (sie sollten sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt von einem Kalligraphen oder Illustratoren eingetragen werden). Zudem sind am Rande des Textes einzelne Inhaltsangaben, Eigennamen und Sacherklärungen notiert. Als abschließendes Parergon liest man auf fol. 283v ein von Filelfo verfasstes Gedicht, das sich gegen potentielle Neider und Kritiker richtet: 22 Marii Philelfi in invidos et detractores Quisquis es, in nostros qui niteris, impie 23, versus Crimen obire, nefas comprime, vane 24 etenim. Quisquis es, ignotus reliquisque tibique, poetam Lege verere, suos qua coluere patres. Nam magnum est tempus viridi cinxisse corona, Quae praebet veras posteritatis opes. Et siquid 25 libris librarius intulit amplis, In vatem vitii nil statuisse potes.

Das Gedicht weist ein bekanntes Argumentationsmuster auf: Der erfolglose Neider möge gemäß alter Tradition seine negativen Affekte zügeln, stattdessen dem Dichter Filelfo den gebührenden Respekt erweisen. Denn mit dem Erwerb der Dichterkrone habe dieser den einzig wahren Ruhm und Reichtum, nämlich das Lob der Nachwelt, erlangt. Das letzte Distichon ist, wie so oft bei Filelfo, nicht sehr luzide formuliert. – Versteht man den librarius als ›Bibliothekar‹, so lautet die recht ungewöhnliche Aussage: Wenn das Buch des Dichters erst einmal in die Bibliothek des Widmungsnehmers Ercole Eingang gefunden habe, werde es über jede Kritik erhaben sein. Übersetzt man das Wort librarius hingegen mit ›Schreiber‹, so ergibt sich die eher konventionelle Botschaft: Falls der Schreiber beim Abschreiben einen Fehler gemacht haben sollte, so sei dies nicht dem Autor Filelfo anzulasten. Die zweite Deutung ist jedoch weniger plausibel, da der Modeneser Codex ein Autograph darstellt. Denn auf derselben Seite folgt unmittelbar darauf

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Bei diesem und den folgenden Zitaten wird die Graphie des Modeneser Codex beibehalten. Nur zwischen u und v wird differenziert, zudem die e caudata aufgelöst. Die Interpunktion folgt der deutschen Rechtschreibung; sofern die Zeichensetzung der Handschrift einen abweichenden Sinnzusammenhang herstellt, wird dies vermerkt. Die Großund Kleinschreibung ist normalisiert. Darüber von derselben Hand geschrieben: o (zur Verdeutlichung des Vokativs). Die Zeichensetzung der Handschrift und das Fehlen eines erläuternden o belegen, dass hiermit ein Adverb, kein Vokativ gemeint ist. In der Handschrift korrigiert aus siquis.

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der Authentifizierungseintrag: Ma.(= Marius) Phil.(= Philelfus) manu propria. 26 Hieran schließt sich eine Notiz zur Widmung an: Liber dono datus illustri Herculi Aestensi quarto Kalendas Iunias 1464. Filelfo hat sein Autographon somit am 29. Mai 1464 dem Prinzen übergeben. Hiermit enden die Parerga. Fol. 284r–285v des Codex sind liniiert, aber unbeschrieben. 3. Umfang und Inhalt Die sechzehn hexametrischen libri stellen ein mythologisches Epos dar, in dessen Mittelpunkt die Person und die Taten des antiken Heros Herkules stehen. Als typische Elemente der Gattung begegnen Reden, Kämpfe, Seereisen, Personenbeschreibungen, Unterweltszenen, Exkurse, epische Vergleiche und panegyrische Passagen. Jedem einzelnen Buch sind kurze hexametrische argumenta (zu je 6 Versen) sowie umfangreiche distichische praefationes vorangestellt. Letztere bestehen jeweils aus 84 Versen und ergeben in der Summe einen Meta-Text, der gleichsam über dem mythologischen Epos schwebt. Die libri hingegen erzählen die geschlossene Lebensgeschichte von der Geburt des Helden bis zu seinem Tode und der anschließenden Verehrung. Der erhaltene Text setzt auf fol. 1r bei den letzten Worten einer Rede ein, die Juno (Saturnia) an Pluto richtet. Die Göttin befindet sich in der Unterwelt und bittet darum, dass Schlangen den neugeborenen Herkules töten mögen. Es folgt sodann eine umfangreiche Beschreibung des Heros. Dieser besiegt die entsandten Schlangen (Ende des Buches fol. 7v). 27 Buch 2 (fol. 9v–26r) behandelt u. a. die Heldentaten in der Jugend, 28 Buch 3 (fol. 27v–44v) den kretischen Stier, Buch 4 (fol. 46v–62v) die Hydra und den nemeischen Löwen, Buch 5 (fol. 64v–81r) das Goldene Vlies, Buch 6 (fol. 83r– 99v) die Kentauren, Buch 7 (fol. 101v–118r) die Harpyien, Buch 8 (fol. 120r– 136v) die Skythen, Buch 9 (fol. 138r–155r) Busiris und die Rosse des Diomedes, Buch 10 (fol. 156v–173r) die Äpfel der Hesperiden, Buch 11 (fol. 175r–191v) die Rinder des Geryon, Buch 12 (fol. 193v–210r) Cerberus, Buch 13 (fol. 211v– 228v) die Heimkehr und den Tod des Herkules, Buch 14 (fol. 230r–247r) seine Bestattung sowie die Trauer der Eltern, Buch 15 (fol. 248v–265r) die Vergöttlichung des Heros (mit einer Beschreibung des Paradieses), schließlich behandelt Buch 16 (fol. 267r–283r) die Nachfahren und ideellen Nachfolger des Herkules sowie den Heldenkult (u. a. durch Herkules-Spiele). 29 26 27 28 29

Ein solcher Hinweis auf Autographie findet sich auch in anderen Filelfo-Handschriften; vgl. Agostinelli/Benadduci (1899) 51. Hier und im Folgenden werden nur die Folio-Zahlen der libri genannt, d.h. ohne Berücksichtigung der argumenta und praefationes. Die folgende Übersicht ist extrem gerafft. Jedes der Bücher behandelt weitere Themen und Sagen. Auf fol. 266v lautet die Überschrift zum argumentum des sechzehnten Buches: in ultimum Herculeiae librum. Auch hierin zeigt sich, dass am Ende des Werkes kein Buch fehlt.

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Während also in den libri das Leben und die Taten des Herkules verherrlicht werden, bieten die praefationes neben zahlreichen poetologischen und konzeptionellen Aussagen eine umfangreiche Panegyrik auf den Widmungsnehmer Ercole. Dabei versucht Filelfo die beiden Texte über die Namensidentität der zwei Akteure miteinander zu verknüpfen: Der mythologische Text soll dem jungen Gouverneur von Modena als Fürstenspiegel und ethisches Lehrepos dienen; der antike Heros wird deshalb als Vorbild und Ansporn gezeichnet. Der Prinz, so die Prognose, wird den mythischen Helden nicht nur imitieren, sondern sogar übertreffen. Da Ercole kein regierender Fürst ist, somit bislang nur wenige Heldentaten vorweisen kann, zielt Filelfos Panegyrik auf die Zukunft, sie beruht auf einem Versprechen des Dichters. Diese Konzeption ist erkennbar, auch wenn sich weder die Widmungsvorrede zum Gesamtwerk noch die praefatio des ersten Buches erhalten hat. Von diesem Buch werden, wie bereits erwähnt, nur 409 Verse überliefert. Alle folgenden libri bestehen jeweils aus ungefähr tausend Versen (nur das letzte ist etwas kürzer). 30 Erhalten haben sich 15 argumenta (zu je 6 Versen, d. h. insgesamt 90 Verse), 15 praefationes (zu je 84 Versen, d. h. 1260 Verse) sowie fünfzehneinhalb libri (insgesamt 15.419 Verse). In der Summe werden somit 16.769 Verse tradiert. Diese einschüchternde Zahl steigt weiter an, wenn man das Verlorene hinzurechnet: Vom ersten Buch fehlen das argumentum (6 Verse), die praefatio (84 Verse) sowie die erste Buchhälfte (vermutlich knapp 600 Verse), d. h. insgesamt ungefähr 690 Verse. Selbst ohne die – möglicherweise in Prosa gehaltene – Widmungsvorrede lässt sich somit eine Gesamtsumme von ca. 17.450 Versen errechnen. Wieviel am Anfang verloren ist, lässt sich anhand des Erhaltenen abschätzen. Dass innerhalb des überlieferten Teiles keine Lage ausgefallen ist, bestätigen bereits die Reklamanten, welche sich am unteren Rand des jeweils letzten Blattes befinden. Der anfängliche Textverlust wird aus der Lagenstärke deutlich: Der erste Faszikel umfasst nur 7 Blätter, alle folgenden hingegen weisen je 10 Blätter auf. Beim ersten Faszikel dürften somit 3 Blätter verloren gegangen sein. Da die Liniierung einer jeden Seite 30 Zeilen vorsieht, können auf den fehlenden Blättern maximal 180 Verse eingetragen gewesen sein. Es ist undenkbar, dass das erste Buch tatsächlich so schmächtig gewesen sein sollte, zumal da von den 180 Versen bereits 84 auf die praefatio entfallen müssen. Zusätzlich zu den ersten drei verlorenen Blättern der fragmentarisch erhaltenen Lage muss also noch eine komplette weitere Lage ausgefallen sein. Diese konnte mit vermutlich ebenfalls 10 Blättern maximal 600 Verse enthalten. Eine solche Zahl passt gut zu der oben angestellten Rechnung: Von den fehlenden ca. 600 Versen des ersten Buches entfallen 180 Verse auf die drei fehlenden Blätter des verstümmelten zweiten Faszi-

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Die Verszahlen im Einzelnen: Buch 1: erhalten 409; Buch 2: 1002; Buch 3: 1004; Buch 4: 999; Buch 5: 1005; Buch 6: 1006; Buch 7: 1002; Buch 8: 1001; Buch 9: 1001; Buch 10: 1003; Buch 11: 1003; Buch 12: 1001; Buch 13: 1005; Buch 14: 1002; Buch 15: 1001; Buch 16: 975.

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kels. Die verbleibenden 420 Verse, ferner die praefatio zum ersten Buch (84 Verse) und das argumentum zum ersten Buch (6 Verse), d. h. insgesamt 510 Verse, finden im verlorenen ersten Faszikel Platz. Und es bleiben in ihm sogar noch 90 Zeilen übrig. Hiervon sind die Überschriften zur praefatio, zum argumentum und zum ersten Buch sowie die jeweils dazugehörenden Leerzeilen abzurechnen, welche in den anderen Büchern in der Summe mindestens 12 Zeilen umfassen. Es verbleiben somit immer noch 78 Zeilen. Es ist anzunehmen, dass auf ihnen eine – vielleicht in Prosa gehaltene – Widmungsvorrede zum gesamten Werk gestanden hat. Man kann nur darüber spekulieren, warum Filelfo sein Epos in 16 Bücher gegliedert hat. Möglicherweise wünschte er mit dieser Zahl die Metamorphosen des Ovid zu übertreffen; oder er wollte das vergilische Trikolon (3 mal 4 Bücher in der Aeneis) durch eine Quadrupelstruktur (4 mal 4 Bücher) ersetzen. 31 Jedenfalls nimmt er nicht nur mit dieser Buchzahl, sondern auch mit der Verszahl innerhalb der bis 1500 verfassten lateinischen Epik eine Spitzenstellung ein. Doch wieviel Zeit benötigt man, um 17.500 Verse zu komponieren? Wie seine Epenproduktion beweist, konnte Filelfo wie Lucilius auf einem Bein stehend in kurzer Frist große Textmengen hervorbringen – und dabei weisen seine Verse eine deutlich höhere handwerkliche Qualität auf als die des römischen Satirikers. Sie sind zwar routiniert und selten originell, aber technisch professionell hergestellt, d. h. sie weisen keine prosodischen Verstöße oder sprachlichen Verrenkungen auf. Es ist denkbar, dass Filelfo sein Werk innerhalb eines einzigen Jahres zustandegebracht, dabei allerdings nicht wenige Verse, Halbsätze und Junkturen aus seinen anderen Gedichten wiederverwertet hat.

4. Die poetologischen und metathematischen Aussagen in den praefationes und im Epilog Parallel zur Herkules-Sage der hexametrischen libri erzählen die distichischen praefationes ihre eigene Geschichte. Dabei dürfte die Wahl des Versmaßes insbesondere durch Claudian beeinflusst sein, welcher vielen seiner hexametrischen Werke bzw. einzelnen Büchern dieser Werke ebenfalls distichische praefationes voranstellt. 32 Auch in sprachlicher Hinsicht sowie in der Handhabung des Götterapparates hat Claudian das Epos des Filelfo – ebenso wie viele andere Epen der

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So heißt es in der praefatio zum fünften Buch (fol. 63r): Sed maiora canit tibi quintus . . . Vgl. die distichischen praefationes zu den beiden Büchern In Rufinum (18 bzw. 20 Verse), zum zweiten Buch von In Eutropium (76 Verse), zum Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti (22 Verse), zum Panegyricus de tertio consulatu Honorii Augusti (18 Verse), zum Panegyricus dictus Manlio Theodoro consuli (20 Verse), zum dritten Buch von De consulatu Stilichonis (24 Verse), zum Panegyricus de sexto consulatu Honorii Augusti (26 Verse), zu De bello Gothico (18 Verse) und zu De raptu Proserpinae (12 Verse; zudem vor dem zweiten Buch 52 Verse).

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Renaissance – intensiv geprägt. 33 Und schließlich dürfte auch die pseudo-claudianische Laus Herculis (carm. min. app. 2) für Filelfo ein thematisches Vorbild gewesen sein. 34 Bei Filelfo ist jede der Vorreden explizit an Ercole adressiert. So ist die poetische praefatio zum zweiten Buch überschrieben: Ioannis Marii Philelfi doctoris, equitis et poetae in secundum Herculeiae carmen praefatio ad magnificum Erculem Estensem, illustrem atque inclytum principem (fol. 7v). Hieraus ergibt sich im Übrigen eindeutig, dass der Titel des Werkes (sc. das Wort Herculeia) als Singular zu verstehen ist (wohl zu ergänzen: Musa). Im Text der praefatio erläutert Filelfo die Wahl seines Gegenstandes: Unter den großen Figuren der Vergangenheit habe sich allein Herkules von Jugend an um virtus, d. h. um ein moralisch vorbildliches Handeln, bemüht; nur er könne einer korrumpierten Gegenwart als ethisches Modell dienen. 35 Der Autor folgt damit den Spuren der Mytheninterpretation, wie sie seit der Spätantike begegnet. Sodann bezieht er das gewählte Objekt auf den Widmungsnehmer: Auch Ercole d’Este solle wie sein Namensvetter weiterhin nach Tugend streben, denn so werde er ebenfalls Ruhm und himmlischen Lohn erreichen. 36 Die praefatio schließt mit einem auktorialen Bezug: Filelfo widme dem Fürsten dieses Epos als Dank für die Gastfreundschaft; Ercole solle nun das zweite Buch durchlesen, welches ihm die passende moralische Unterweisung vermittle. 37 Auch aus diesem Schluss wird ersichtlich, dass sich der Autor zur Zeit der Widmung am Modeneser Hof des Prinzen aufhält. Die praefatio des dritten Buches (fol. 26r) greift die Frage der Themenwahl und des Widmungsnehmers erneut auf: Viele Zeitgenossen würden sich darüber 33

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Vgl. Siegmar Döpp: Claudian und lateinische Epik zwischen 1300 und 1600, Res publica litterarum 12, 1989, 39–50. Claudian wird in der Renaissance vor allem wegen seiner eindeutigen Panegyrik geschätzt; zu diesem Potential vgl. Claudia Schindler: Per carmina laudes. Untersuchungen zur spätantiken Verspanegyrik von Claudian bis Coripp (BzA 253), Berlin; New York 2009, 59–172. Zum Text vgl. Sophie Guex: Ps.-Claudien, Laus Herculis. Introduction, texte, traduction et commentaire (Sapheneia 4), Bern u.a. 2000. Praefatio 1, fol. 7v: 〈M 〉agna quidem antiquis memini mihi lecta libellis / Atque voluminibus praelia multa ducum. / Sed quibus et virtus primis crevisset ab annis / Et foret insignis cum pietate fides, / Hos ego nec legi nec, si pia fata tulissent, / Crediderim humano saemine (!) in orbe satos. Fol. 8r: Solus at Alcides mihi commemorandus in omnis / Apparet gentes, dignus honore dato. Fol. 8v: Dignus es Herculeis igitur me iudice coeptis, / Degeneras nusquam nomine magnanimo. / Perge modo, et qua coepta via est, tua fata sequaris, / Caelicolae accedas ad bona summa Iovis, / Ut tua posteritas cuncto memorabilis aevo / Sit, velut Herculeis laudibus ora replent. / Fac inter multos non frustra habuisse canatur / Estensem nomen Herculis Herculeum. Fol. 9r: Sic ego te Herculeis hospes pro munere factis / Dono libens magno, quod tibi conveniat. / Ergo, age, mente meum placida percurre secundum, / Quandoquidem sic, sic Hercule plenus eris. / Ille tibi ingenium viresque modumque ministret / Cunctaque det tanto nomine digna viro.

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wundern, dass Filelfo erstens über Herkules dichte und zweitens ein solches Werk dem Fürsten Ercole widme. Denn es gebe doch andere Herrscher, die den Dichter Filelfo großzügiger entlohnen würden, wenn er sie – sc. im Rahmen eines zeitgeschichtlich-panegyrischen Epos – verherrliche. 38 Doch der Autor beteuert, dass er nicht nach weltlichem Besitz, sondern nach ewigem Ruhm strebe. 39 Mit einer solchen Motivation grenzt er sich zudem explizit von den beiden Archegeten der griechischen bzw. der römischen Epik ab: Vergil und Homer hätten auch aus Eigennutz gedichtet; er selbst hingegen verfolge keine materiellen Interessen, sondern wolle lediglich einen charakterlich vorbildhaften Menschen verherrlichen. 40 Gemeinsam sei ihnen (d. h. den drei Poeten Homer, Vergil und Filelfo) nur das Ziel der Verherrlichung wahrer Geschichte. Er, Filelfo, ziehe es allerdings vor, arm, doch ruhmreich zu sterben. Er wolle nicht irgendeinen Fürsten größer machen, als dieser eigentlich sei – nur um Geschenke zu erbetteln. 41 Dies ist eine bemerkenswerte Absage an den Inhalt und die Motivation der – von vielen italienischen Zeitgenossen geübten – panegyrischen Epik, und die Absage ist umso bemerkenswerter, als Filelfo in den 1460er Jahren wie kaum ein Anderer an den Höfen der Fürsten antichambriert und ihnen sein musisches Talent andient. Man darf vermuten, dass der Dichter hier die Not zur Tugend werden lässt: Der recht junge Ercole steht im Jahre 1463 noch nicht an der Spitze des Hauses Este und er hat trotz seiner neapolitanischen Jahre auch noch keine außergewöhnlichen militärischen Taten vorzuweisen. So unternimmt Filelfo ein poetisches Ausweichmanöver und konzentriert sich ganz auf den Charakter des Widmungsnehmers. Hier hat er freie Hand, da dessen moralische Konstitution kaum überprüfbar und das Lob zudem überwiegend in der Zukunft angesiedelt ist. Im Übrigen endet auch diese dritte praefatio mit einer Aufforderung: Ercole solle das folgende Buch lesen und das dargestellte Vorbild imitieren. So werde er durch Moral zur gloria gelangen.

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Fol. 26r: 〈M 〉irantur plerique meum, mi clare, laborem, / Princeps, Herculeam quod tibi canto manum. / Sicque putant aut esse alios, qui praemia vati / Reddere te possint commodiora suo, / Aut alios, qui regna tenent, fudere tyrannos / Et quorum nomen sydera summa petit. Fol. 26r: Nec norunt, quid agam, quae sit mihi causa canendi / Parta, quod officium nostra Talia subit. / Non moritura peto fortunae munera caecae, / Sed quibus aeternus splendeat ore color. Fol. 26v: Ergo Maro nummis, meritis productus Homerus, / Ille sibi cecinit, ille sibi et reliquis. / Hic ergo Augustum Troiana ab (in der Handschrift korrigiert aus: sub) origine finxit, / Hic veros meminit parte ab utraque duces. / Est eadem ratio, cur dem tibi carmina nostra, / Dissimilis multo sit mea Musa licet. / Non auro moveor, regem qui laudibus ullum / Exornare velim, sed probitate viri. / Malo suis vivat codex auctoribus, auro / Quam mea si Clyo corruat undelibet. Fol. 27r: Herculis arma canens (vgl. Verg. Aen. 1,1) non regem ad dona poposci, / Qui poterat larga me satiasse manu. / Nec volui quemquam maiorem reddere, quam sit. / Nam quis erit fructus verus utrique? Mihi?

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In der praefatio zum vierten Buch wiederholt Filelfo die bisher geäußerten Gedanken: Er jage nicht dem Geld nach, sondern strebe nach Ruhm 42 – ebenso wie der antike Heros Herkules und wie der junge Fürst Ercole. Autor, Widmungsnehmer und dargestelltes Objekt sind somit durch die gemeinsame Motivation eng miteinander verbunden. Die praefatio zum fünften Buch markiert eine erste Zäsur: Bisher seien bereits große Siege des Herkules besungen worden, doch nun folgten noch größere. 43 – Damit deutet sich an, dass Filelfo die sechzehn Bücher seines Epos in Vierergruppen strukturiert. – Sodann wendet sich der Dichter an Ercole: Dieser imitiere in seinem täglichen Verhalten das heroische Vorbild. Es folgt ein umfangreiches Lob auf den jungen Fürsten und seine Familie: Sein Vater sei der große Nicolò III., das Haus der Este gehe auf den römischen Kaiser Otho zurück und sei mit den fränkischen Königen verwandt, ruhmreich seien auch seine Brüder (d. h. insbesondere der regierende Herzog Borso). 44 Sodann lässt Filelfo auch einige konkrete Heldentaten des Widmungsnehmers einfließen: Der König von Aragon (sc. Alfonso) und die Stadt Neapel könnten bezeugen, dass Ercole schon als Jüngling (wie sein Namensvetter Herkules) ein großartiger Soldat gewesen sei. 45 In der praefatio zum sechsten Buch lässt Filelfo weitere moralische Ermahnungen folgen (fol. 81v–82v). Er erwähnt wiederum Ercoles Erfolge in Neapel und Kalabrien, zudem konstatiert er, dass sich der Ruhm des Fürsten bereits bis nach England und Indien verbreite. Auch in der praefatio zum siebten Buch fordert er Ercole auf, seinem Namensvetter nachzueifern (fol. 99v–101r). Die praefatio zum achten Buch (fol. 118r–119v) lobt u. a. König Alfonso und Ercoles Bruder Sigismondo. 46 In der praefatio zum neunten Buch ermuntert der Dichter (unter Ver42 43

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Fol. 44v: 〈Q〉uidquid agant alii, nos nil nisi laude refertum / Affectamus. Ad hoc est mihi quique labor. Fol. 63r: 〈Q〉uanvis magna canat tenus hac mea Musa trophea / Hercule de magno, sunt graviora tamen. / . . . / Sed maiora canit tibi quintus et apta triumphis / Bella tuis, Martis arma relata manu. Vgl. Verg. ecl. 4,1. Fol. 63r: Unus eum sequeris virtute et laudibus aequis, / Si tua spectentur quottidiana satis. / Nam nihil incestum, nihil accusabile nixus / Inter utrumque viges arma togamque sacer. / A teneris tecum est virtus comes unguibus; illa, / Quidquid agis, tuto sustinet alma gradu. / Nicoleo cretus, quo nil illustrius orbis / Aedidit, ex ortu magnus es, ante, tuo. / Nam quem fama latet, pietas quem summa parentis, / Clare, tui, Alcide, quem tua diva parens? / Quem genus Estense aut quem antiqua Salvetia, cuius / Nomen ab insigni culmine regis erat? / Nam si vera refert scriptorum caetus, Othonis / Induperatoris id genus e genere est. / At patriae stirpis Francorum insignia reges / Signa ferunt, vinclis quod duo iuncta novis. Fol. 63v: Rex ut Aragonius testis tibi et ipsa futura est / Parthenope, vivus, non moriturus eris. / . . . / Magnus et es, si, quis fueris, quaeratur in urbe / Parthenope, cum nondum (!) tibi barba fuit. Fol. 64r: Ille tulit Creta, Latio tu praemia laudis. / Alcide certe dignus es ergo novo. Fol. 118v: Praesertim in tanto regum splendore quid ausus / Cum fratre a magnis destituisse viris? / Alphonsus laudis spes et lux una Latinae / Te tenero dudum nutriit ingenio. /

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wendung zentraler Motive der Aeneis) den Widmungsnehmer, an den Taten des Herkules abzulesen, wie sich ein gerechter Herrscher verhalten soll. 47 Die praefatio zum zehnten Buch bietet eine weitere Parallelisierung: Wie Herkules im Sturm nach Hesperien gesegelt sei, 48 ebenso unerschrocken habe Ercole die gefährliche Seereise von und nach Süditalien bewältigt. 49 In der praefatio zum elften Buch (fol. 173v–174v) wird betont, dass Herkules bzw. Ercole größer sei als der antike Feldherr Caesar. Die praefatio zum zwölften Buch (fol. 191v–193r) enthält weitere panegyrische Motive. Die Vorrede zum dreizehnten Buch (fol. 210r–211v) erläutert den Tod des Herkules. In der praefatio zum vierzehnten Buch (fol. 228v–230r) spricht Filelfo über das Phänomen der Trauer. Die poetische Einleitung zum fünfzehnten Buch (fol. 247r–248v) ermuntert Ercole erneut zur Imitation des heroischen Vorbildes und prophezeit ihm, dass er ähnlich große Leistungen wie sein Vater und sein Bruder Borso vollbringen werde. 50 Die praefatio zum sechzehnten Buch holt programmatisch weiter aus und verkündet, dass Ercole sogar noch Größeres erreichen werde als sein Vorbild Herkules. Doch bestehe die Gefahr, dass diese Taten ohne eine entsprechende literarische Würdigung ruhmlos blieben. Wenn nicht die griechischen und römischen Epiker (Homer, Lucan, Statius) gedichtet hätten, wären die Taten der damaligen Helden und Heroen völlig unbekannt. 51 Ebenso sei auch erst dadurch, dass er, Filelfo,

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. . . / Inde etiam frater similis patrisque tuique / Magna Sigismundus praemia parturiet. Fol. 136v: 〈S〉i graviora cupis magnis magis apta triumphis / Bella videre, vide, quae sibi nonus habet. / Hic et regales animos et digna videbis / Arma viro, quo nil dignius orbe satum est. / Vincere nam multis commune, at parcere solis / Convenit Herculeis viribus et meritis. / Haec est vera quidem victoria: ponere fraenos / Ingenio et diram stringere mente manum. Fol. 155r: Non maris errore est, non territus ille periclis, / Navalis non hunc nausea detinuit. Fol. 155v: Namque ubi Parthenopem (!) rediens ad nostra ruebas / Moenia, te pelagi contulit orbe furor. / Rursus, ubi et bellis agitandus et usque periclis / Venisti ad Calabros, pontus uterque furens. / Nec te terribiles potuerunt perdere fluctus, / Perdidit haud animos unda timenda tuos. Fol. 248v: Ergo patris fratrisque tui similisque tuorum / Ante diem caelo praemia digna paras. Fol. 265v: At nisi te vatum memorabit fama tuorum, / Vana tuus tandem regna triumphus habet. / Nonne vides, quantas Caesar res (Konj. Haye; Hs.: rex) maximus egit? / Quid, si (Konj. Haye; Hs.: nisi) doctiloqui cultus obiisset opus? / Quis nunc Cadmeas nobis cantaverit arces, / Quas septem fingunt constituisse viros, / Quis vel in Argivos fieret cantator Achaeos, / Quis vel in hos, quorum copia magna, duces, / Ni foret altiloqui commissum munus Homeri? / Ille fuit Graiae maximus historiae (vielleicht eine Anspielung auf Martial 14,191,2: Homer als Sallust der Griechen). / Quod si nostra petis, si, quae gessere Latini, / Invenies uno funera mille die. / Sed nisi magna forent veteris monumenta sepulchri, / Nemo foret priscis insidiosus equis. / . . . / Haec nisi scriptores cecinissent singula, nemo / Vivus in hoc saeclo vel sine morte foret.

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über Herkules geschrieben habe, dieser dem Vaterland zurückgegeben worden 52 – trotz des Fehlens eines griechischen Herakles-Epos zweifellos eine starke Übertreibung, die Filelfo aber benötigt, um sein eigenes Anliegen voranzutreiben. Er könne es durch seine Poesie erreichen, dass Ercole ebenso verehrt werde wie sein mythisches Vorbild. Durch seine vera relligio, d. h. durch den christlichen Glauben, welcher dem antiken Helden versagt geblieben sei, ziehe der Prinz mit jenem Heros gleich. 53 Ercole solle daher die Dichter bei sich aufnehmen, da nur sie ihm Unsterblichkeit verschaffen könnten. 54 Filelfo bedient sich hier einiger bekannter Topoi, um seinen eigenen Wert als Autor und sein damit verbundenes gesellschaftliches Kapital hervorzuheben. Wenn Ercole eines Tages sterbe, werde die Herculeia vom Ruhm des Prinzen künden. 55 In den letzten Versen der praefatio verkündet der Autor (fol. 266v): Nunc autem ne longa nimis sit nostra Talia, Factura est finem longa voluminibus. Tu modo, quo gentes iustas deus excipit, illo Lumine me placido factaque prisca legas.

Im ersten Distichon ist bemerkenswert, dass Filelfo hier das Ende seines Epos ankündigt – zumal da Buch 16 erst noch folgt. Man mag hierin nur eine Prolepsis sehen, doch vielleicht kann man das Wort finem auch als Hinweis darauf verstehen, dass die poetischen Vorreden auf einer Metaebene angesiedelt sind und in der Summe einen weitgehend selbstständigen Text ergeben. Denn tatsächlich schließt hier dieser aus sechzehn Vorreden bestehende Metatext. Das zweite Distichon wendet sich an Ercole und bitte um gnädige Aufnahme des Textes. Am Ende des sechzehnten Buches findet man keinen klar markierten Epilog, vielmehr geht die Beschreibung innerhalb dieses Buches harmonisch fließend in einen langen, funktional epilogischen Abschnitt über. Hier erläutert Filelfo einleitend, dass gemäß einem römischen Gesetz nur solche Personen den Namen Herkules tragen dürften, die aufgrund ihrer Leistungen seiner auch würdig seien. Dieses 52

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Fol. 266r: Hi memorant reges, res gestas, arma, trophea / Et quidquid magno milite maius adest. / Quid quod et extinctum merui revocare poeta / Alcidem et patriae restituisse suae? / Nam nisi me recitante legant, quae bella, quot hostes / Vicerit is, laus est non nisi vana viro. / Nam quod concludant brevibus tot ficta Camoenis, / Invidia hoc forsan fecit iniquus honos. / Me duce, qui fuerint varia de gente triumphi, / Herculeae quae sint res, meminisse queant. / Quem velut a tenebris revocavi et luce redemi / Perpetua et feci, non moriturus agat. Fol. 266r: Sic te magnanimo non Hercule laude minorem / Conficiam, voti relligione parem. / Namque ubi defecit virtus sanctissima menti / Herculeae, est vera relligione tibi. Fol. 266r: Utque repletus agis tamen Herculis, excipe vates / Perpetuo caros, qui tibi fata negent. / Fata negent, vivasque diu referendus ad axem / Sydereum, postquam marmore tectus eris. Fol. 266v: Tunc et opus nostrum veteri narrabitur aevo / Et nostrum populi carmen ubique legent.

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Gesetz gelte noch heute. Hieraus entwickelt sich der Bezug zum Widmungsnehmer Ercole (fol. 276r): Aspice in Aestensem, quicumque vetusta sequutus Nostra legis, meditare animo, quid in Hercule magno Esset atrox tantum, tantum memorabile, quantum Non sit in Aestensi: Non hic minor aere togaque, Non pietate minor, fidei non artibus ullis. Quem qui nosse cupit, videat, quo Marte iuventus Huius ducta fuit teneris spectabilis annis, Quando ab Aragonio dilectus rege superbis (fol. 276v) Principiis adeo multos tulit orbe triumphos.

Bemerkenswert ist hier zunächst die erstmalige Hinwendung zum anonymen Leser. Diesem wird verdeutlicht, dass Ercole dem antiken Heros aufgrund seiner in Neapel vollbrachten Taten gleichkomme, ja ihn eigentlich sogar noch übertreffe, da ihm die negativen Eigenschaften des Herkules fehlten. Nach weiteren Rühmungen und Ermahnungen geht der Autor sodann zu einer Kritik an den zeitgenössischen Fürsten über: Diese seien räuberisch und untereinander zerstritten – ein Umstand, der sich insbesondere auf den von Papst Pius II. proklamierten Kreuzzug gegen die Türken negativ auswirke. Zugleich schwingt eine Bewunderung für den Sultan mit, welcher, wenn er nur Christ wäre, der größte Herrscher sein könnte (mit diesem Thema kündigt sich bereits die wenige Jahre später komponierte Amyris an). 56 Alle Gläubigen müssten dem zum Kampf entschlossenen Pontifex helfen. 57 Die Erwähnung des unmittelbar bevorstehenden Kreuzzuges verschafft dem Autor die Gelegenheit, jene Fürsten und Städte zu nennen, welche sich an dem Unternehmen beteiligen (so etwa Francesco Sforza und die Venezianer). 58 Mit einem solchen ›Völkerkatalog‹ unterstreicht er wiederum die Zugehörigkeit der Herculeia zur epischen Gattung. Natürlich lobt Filelfo in diesem Kontext auch

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Fol. 280v: Volve oculos, quocumque velis: vix nostra sacerdos / Damna dolet magnus, qui tandem bella paravit / In Turcos. Si facta fides mihi conscia veri / Posse capi Turcum. Qui quo praestantior illis / Est, quibus atra viris et dira ruina minatur, / Hoc illi, Mahomette (über dem Wort: o), tuo vel honore minores / Dissimilesve tibi, qui nil nisi sanguine tentas / Effuso aut salvis populis regnare per orbem. / O utinam te nostra fides hauxisset ab istis / Perfidiae insidiis! Quot te sequerentur et armis / Et gentes virtute, toga, . . . / . . . Imbibe sanctam, / Turce, fidem Lyphasque caput corpusque lavato / Omne tuum, efficiere alter vel Caesare maior. / Unde audes nunc tanta, miser, unde impius esse / Pergis in hos, quos vera fides et iusta tuetur? Fol. 280v: Sed fiat manifesta fides, ut in arma sacerdos / Illa volet summus. Pius est. . . . Fol. 280v: Non is solus erit, metuat (vor Korrektur: metuant) quem Turcus; at illum / Concomitatur opus certe ad mirabile magno / (fol. 281r) Principis anguigeri pubes sanctissima cultu (am Rand: laus ducis Mediolani) / Armorum et summo comitatu et classe superba / Tum Veneti, quorum metuenda potentia ponto.

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Herzog Borso, welcher zur Unterstützung zwei Verwandte entsende. 59 Allerdings würden trotz der gewaltigen Rüstungsanstrengungen der Christenheit die Truppen des türkischen Sultans weiterhin in der Überzahl sein. 60 Denn viele andere christliche Mächte nähmen an der Expedition aus verschiedenen Gründen nicht teil: 61 Florenz und Siena hielten sich zurück. Die beiden miteinander verfeindeten Condottieri Federico da Montefeltro und Sigismondo Malatesta belauerten sich und warteten ab. Die Florentiner weigerten sich, ihre Flotte zur Unterstützung der gegnerischen Venezianer einzusetzen. König Ferrante I. von Neapel sei noch vom vorherigen Krieg geschwächt und schrecke vor weiteren Verlusten zurück. Ludwig XI. von Frankreich und Herzog Philipp III. von Burgund hätten geeignete Führer im Kampf gegen die Türken sein können, doch der Kampf mit den Engländern halte sie zurück. Kaiser Friedrich III. strebe zwar nach Höherem, habe jedoch Probleme mit den Ungarn. Doch trotz so vielfältiger Zwistigkeiten unter den Mächten des christlichen Abendlandes (Filelfo spricht in einer lucanischen Formulierung von einem civile bellum) solle das Kreuzzugsunternehmen mutig begonnen werden. 62 Allerdings klagt der Dichter angesichts der erwähnten Missstände über die moralische Depravation der Zeit und die Verachtung der Tugend. Der finale Abschnitt des Epilogs ist wiederum der Gegenfigur Ercole gewidmet: Jeder Leser könne durch die Herculeia die rechte Lebensweise erlernen – so

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Fol. 281r: Alcide cum frater habet nam Borsius inter / Iusticiaeque animique decus pietate refertum / Pectus et a magno descendens culmine regum. / Quae sunt regis, agit. Dux est Mutinae (Konj. Haye; Mutinaeque Hs.) Regiique / Ferrariaeque heros. Nil formidabile magno / Esse duci poterit. Raynaldum mittit in acres / Alberthumque viros, fratres, quibus inclytus audet / Borsius eximia Turcos pietate subire / Bellarique truces, . . . Fol. 281r: . . . Certe alta potentia rebus / Est commissa novis, quanta (!) non altior ulla / Ante fuit, quam nostra queant memorare futuris / Tempora, sed certe minor est (das Wort über der Zeile hinzugefügt) classisque ducumque / Concursus, quam bella petant, quam divus Amyras / Tentat in oppressos magna impietate gementes. Fol. 281r: Quid faciunt reliqui, quos fama Latina coronat? / Quidve Fluentini? Vel Sena vetusta? Vel orbis (fol. 281v) / Italiae reliquus? Federycus prospicit alti / Vota Sigismondi. Venetos sunt saepe conati / Forte Fluentini torvo decernere vultu, / Quos videant se nolle mari committere classes. / Parthenope nondum renovata e sanguine fuso (am Rand: rex Ferdinandus) / Vel nova damna timet. Ludovicum saecla vocabant / Francorum regem nostra haec, qui magnus et armis / Divitiisque virisque ferum (vor Korrektur: ferrum) perverteret hostem. / Allobrogumque ducem voluit res tanta cieri / Et bellis et pace virum pietate Philippum / Insigni. Sed fata vetant, non annuit altus / Iuppiter. A gelidis ad bella novata Brytannis / Detinuere manus causasque (nach Korrektur) tulere tacendi. / At magnus, qui nunc potitur (!) diademmate sacro, / Induperator eo vel non contentus honore, / Quem dedit omnificus nutu deus, aut velit ultra, / Forte aliquid maius, rigidos spectare coactus / Pannonios (vor Korrektur: Parmenios) requiescit adhuc proprioque vagatur / Sanguine nec miseros cernit nec inania facta. Fol. 281v: Pergite io, o miseri, vastosque revolvite fluctus / In pelago! Nihil esse puto, quod honoribus istis / Obsistat quandoque magis discordia quam, quod / Cuncta animos hominum domitat civileque bellum / Semper ubique parat . . .

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wie der charakterlich vorbildliche Prinz sie bereits erlernt habe. 63 Das Werk bietet somit einen moralischen Kompass, der bedeutsam ist insbesondere für Personen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen. Wenn Ercole seinem Bruder Borso eines Tages nachfolge, werde Italien seinen inneren und äußeren Frieden finden, so dass ein Goldenes Zeitalter beginnen könne (fol. 282v; literarisches Vorbild ist wiederum Vergils vierte Ekloge). Anschließend stellen die letzten Verse des Epos noch einmal grundsätzlich fest, dass die Herkulesse der Gegenwart (gemeint sind vor allem die gleichnamigen Fürsten) jenen Herkules des heidnischen Mythos aufgrund ihres christlichen Fundamentes an Tugendhaftigkeit sogar noch übertreffen könnten. 64 Und zwei wohl von Filelfo stammende Randglossen erläutern: Hodie per Christum meliores fieri possunt quam olim boni viri bzw. Omnes Hercules Herculis similes boni. Mit diesem Gedanken endet das Werk. Es wird deutlich, dass ein solches Finale die erzählte Geschichte nicht abschließt, sondern eine Zukunftsperspektive eröffnet. So ist es auch zu erklären, dass das Epos nicht etwa mit dem Tode des Herkules endet, sondern mit dem Gedanken der Glorifizierung aller Herkulesse. Die Tradition einer ›herkulischen‹ Lebensweise kennt keinen Abschluss, sondern kann von jeder neuen Generation fortgesetzt werden. Wir wissen nicht, was Filelfo in der verlorenen Widmungsvorrede gesagt hat, und deshalb ist es unmöglich, eine direkte Korrespondenz zwischen den beiden extremen Positionen des Epos, d. h. zwischen seinem Beginn und seinem Finale, zu ermitteln. Allerdings besitzen wir – neben der Schlusspartie – eine alternative Quelle, die als Ersatz für den verlorenen Anfang dienen kann. Es ist nämlich zu vermuten, dass der Dichter in der Dedikationsvorrede in kurzen Zügen angedeutet hat, was in den folgenden praefationes breit ausgeführt wird. Der Argentinier Jorge Luis Borges hat in seiner berühmten Erzählung »Die Bibliothek von Babel« festgestellt, dass zwar ein kleiner Teil dieser imaginären Bibliothek von Menschenhand physisch vernichtet werden kann, aber das Verlorene durch Vergleich rekonstruierbar ist: »jedes Exemplar ist zwar einzig, unersetzlich, aber da die Bibliothek total ist, gibt es immer einige Hunderttausende unvollkommener Faksimiles: Werke, die nur in einem Buchstaben oder Komma voneinander abweichen. 65 In diesem Sinne kann auch Filelfos Widmungsvorrede zur Herculeia aus den erhaltenen 15 praefationes rekonstruiert werden. 63

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Fol. 282r: Quod si forte petis, quae sit tibi vita tenenda, / Quis modus, Herculea discas (Konj. Haye; discam Hs.) de laude, velut nunc / Hoc didicit virtutis opus, qui nomine eodem / Herculis est decoratus. . . . Fol. 283r: Nunc autem . . . / Plura sciunt populi; quae quo tractare requirant / Mitius et maiore animos pietate gubernent / Relligioque viros sit concomitata benigna / Mente satos, hoc maius erit, quod fata parare / Instituant hac arce, deus qua constat habendus / Alcides, quaque ille nequit consistere sede, / Herculis hac similes possint committere votum. Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel. Erzählungen, in: Fritz Rudolf Fries (Hg.): Ausgewählte Werke, Bd. 1, Berlin 1987; hierin 142–52 die Erzählung »Die Bibliothek von Babel«, das Zitat 148.

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Recht geschickt hat Filelfo in seinem Werk den Herkules-Mythos mit der Ercole-Panegyrik verknüpft. Dabei ist zumindest der stoffliche Zugriff nicht grundsätzlich neu. So hat es schon vor Filelfo eine Reihe mythologischer, in der Regel aus Ovids Metamorphosen gespeister Epen gegeben: 66 Zu nennen sind etwa Maffeo Vegios Vellus aureum (1431) oder Basinio Basinis Meleagris (1445; gewidmet dem Markgrafen Leonello d’Este). Zudem arbeiten nahezu alle zeitgeschichtlichpanegyrischen Epen des 15. Jahrhunderts mehr oder minder intensiv mit mythologischen Elementen. Eine entsprechende Mischung findet man etwa auch in der für Federico da Montefeltro geschriebenen Martias, die Filelfo am 17. März 1464 in Modena vollendet hat. 67 Dass er im ersten Buch dieses Epos die Kindheit und Jugend des Federico »in Analogie zu den Taten des Hercules« 68 erzählt, ist eine thematische und konzeptionelle Parallele zu der ungefähr zeitgleich entstandenen Herculeia. Und doch ist diese einem anderen Texttyp zuzuweisen: Das Werk ist ein epischer Fürstenspiegel, durch den Ercole sowohl unterwiesen als auch glorifiziert werden soll. Aber wie rühmt man einen Fürsten, der bisher wenig geleistet hat? Indem Filelfo die Taten des mythischen Herkules darstellt, spiegelt er sie zugleich auch auf Ercole. Seine Panegyrik ist als Bestätigung, Ansporn und Versprechen gemeint. Und deshalb wohnt dem Ende dieses Epos ein Anfang inne: Mit dem in den letzten Büchern beschriebenen Tode des Heros ist die ruhmreiche Geschichte nicht etwa abgeschlossen, sondern sie muss und wird fortgeschrieben werden durch dessen Namensvetter. Das Finale des Herkules-Epos ist somit auch der Auftakt zu einem noch zu schreibenden Ercole-Epos, zu einer zweiten Herculeia. Diese soll entstehen, falls Filelfo als Dichter durch den Fürsten entsprechend gefördert wird. Doch die Hoffnung des Autors erfüllt sich nicht. Noch im Jahr 1464 zieht Filelfo – offenbar ohne Aussicht auf Unterstützung durch Ercole – nach Mailand weiter. Als der Modeneser Prinz im Jahre 1471 endlich die Nachfolge seines Bruders Borso antritt und den Herzogstitel von Ferrara erhält, befindet sich der Dichter in Ancona und verfasst dort als Auftragsarbeit seine Amyris zu Ehren Mohammeds. Obwohl Ercole als duca ein großzügiger Förderer zahlreicher Künstler und Literaten gewesen ist, hat er offenbar nie mehr den Kontakt zu Giovanni Mario Filelfo gesucht.

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Vgl. Hofmann (2001) 143 f. Vgl. Heinz Hofmann: Die Martias des Giovanni Mario Filelfo, Neulateinisches Jahrbuch 7, 2005, 131–49; H. Hofmann: Text- und Interpretationsprobleme im ersten Buch der Martias von Giovanni Mario Filelfo, in: Miraculum eruditionis: Neo-Latin studies in honour of Hans Helander (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Latina Upsaliensia 30), Uppsala 2007, 125–40. Hofmann (2007) 126.

Claudia Schindler (Hamburg)

Anfang als Ende, Ende als Anfang Der Schluss der Aeneis und die frühneuzeitlichen Aeneis-Supplemente

Über wohl kein anderes Ende eines antiken Werkes hat die Forschung so intensiv und so kontrovers diskutiert wie über den Schluss der Aeneis. 1 Abgesehen von dem schon in der Spätantike aufgeworfenen moralischen Problem, ob Aeneas, der mit Turnus einen Gegner töte, der ihm mit einer deutlichen Demutsgeste seine Unterwerfung signalisiere, überhaupt den Beinamen pius verdient habe, 2 beur-

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Die Literatur zum Schluss der Aeneis ist kaum mehr zu übersehen. Für ältere Darstellungen vgl. Werner Suerbaum: Hundert Jahre Vergilforschung. Eine systematische Arbeitsbibliographie mit besonderer Berücksichtigung der Aeneis, ANRW II 31,1, 1980, 256–58. (Literatur bis 1975); W. Suerbaum: Vergils Aeneis. Beiträge zu ihrer Rezeption in Gegenwart und Geschichte (Auxilia), Bamberg 1981, 49–52. Neuere Darstellungen (Auswahl): Viktor Pöschl: Der Zweikampf zwischen Aeneas und Turnus, in: Friedrich Krizinger u.a. (Hgg.): Forschungen und Funde. Festschrift Bernhard Neutsch, Innsbruck 1980, 349–55; Karl Galinsky: The Anger of Aeneas, AJPh 109, 1988, 312–48; HansPeter Stahl: The Death of Turnus: Augustan Vergil and the Political Rival, in: Kurt A. Raaflaub/Mark Toher (eds.): Between Republic and Empire. Interpretations of Augustus and His Principate, Berkeley 1990, 174–211; W. S. M. Nicoll: The death of Turnus, CQ 51, 2001, 190–200; Stefan Freund: Der Tod des Turnus und Homer. Überlegungen zum Schluss von Vergils Aeneis, in: Vergil und das antike Epos. Festschrift für Hans Jürgen Tschiedel. In Verbindung mit Volker M. Strocka und Raban von Haehling hrsg. von S. Freund und M. Vielberg (Altertumswissenschaftliches Kolloquium. Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben 20), Stuttgart 2008, 67–84; Michael C. J. Putnam: The Humanness of Heroes. Studies in the Conclusion of Virgil’s Aeneid, Amsterdam 2011, 102–17. Lact. inst. 5,10: quid quod bonus Aeneas haud aspernanda precantis trucidavit? adiuratus enim per eundem patrem et spes surgentis Iuli, nequaquam pepercit, furiis accensus et ira. quisquamne igitur hunc putet aliquid in se virtutis habuisse, qui et furore tamquam stipula exarserit et manium patris per quem rogabatur oblitus iram frenare non quiverit? nullo igitur modo pius, qui non tantum non repugnantes, sed etiam precantes interemit. Vgl. dazu Suerbaum (1981) 108 f.; Cornelia Renger: Aeneas und Turnus. Analyse einer Feindschaft, Frankfurt a.M. u.a. 1985, 49; Antonie Wlosok: Der Held als Ärgernis. Vergils Aeneas, WJA 8, 1982, 9–21; Antonie Wlosok: Zwei Beispiele frühchristlicher ›Vergilrezeption‹. Polemik (Lact. div. inst. 5,10) und Usurpation (Or. Const.

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Anfang als Ende, Ende als Anfang

teilte man den Schluss der Aeneis vor allem in ästhetischer Hinsicht als defizitär. Soll jener Vers, in dem der Lebenshauch des Turnus mit einem Seufzer ins Schattenreich fährt und Rezipienten aller Epochen mit einem ganzen Bündel an unbeantworteten Fragen allein lässt, 3 tatsächlich das Ende des vergilischen Epos sein? Hätte der Erzähler nicht wenigstens ein paar erklärende Worte anfügen oder den Abschluss des Werkes mit einer Sphragis markieren sollen? Dass sich schon in Donats Vergil-Vita der Hinweis findet, dass Vergil seine Aeneis nicht vollendet habe, 4 gab den Spekulationen über das geplante oder tatsächliche Ende

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19–21), in: Viktor Pöschl (Hg.): 2000 Jahre Vergil, 63–86; Jochen Walter: Pagane Texte und Wertvorstellungen bei Lactanz (Hypomnemata 165), Göttingen 2006, 123. Eine Verurteilung des Aeneas in der Schlussszene sehen Michael C. J. Putnam: The Poetry of the Aeneid. Four Studies in Imaginative Unity and Design, Cambridge, Mass.; London 1965, 194–201; Kenneth Quinn: Virgil’s Aeneid, London 1968, 271–76. Auch Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Äneis, Berlin; New York 3 1977, 83 spricht davon, dass Aeneas »gegen Turnus schuldig« werde. Die moralischen Aspekte der Tötung des Turnus diskutiert bereits Juan Luis de la Cerda: P. Vergilii Maronis Bucolica et Georgica, argumentis, explicationibus, notis illustrata, auctore Io. Ludovico de la Cerda Toletano, Bd. 3, Lyon 1617, 783, unter dem Stichwort »Aeneas defenditur ab caede Turni«. Vgl. z.B. William A. Camps: An introduction to Virgil’s Aeneid, Oxford 1969, 51: »The Aeneid at its end leaves the reader with a strong feeling that much still remains to be told.« Diskin Clay: Lucretius and Epicurus, Ithaca; London 1983, 251, hält das Ende der Aeneis für »grim and unresolved« und nimmt an, dass es nach dem Vorbild des Endes von Lucrezens De rerum natura gestaltet sei. Donat vit. Verg. 39 f.: Egerat cum Vario, priusquam Italia decederet, ut siquid sibi accidisset, Aeneida combureret; at is facturum se pernegarat; igitur in extrema valetudine assidue scrinia desideravit, crematurus ipse; verum nemine offerente nihil quidem nominatim de ea cavit. Ceterum eidem Vario ac simul Tuccae scripta sua sub ea condicione legavit, ne quid ederent, quod non a se editum esset. Edidit autem auctore Augusto Varius, sed summatim emendata, ut qui versus etiam inperfectos sicut erant reliquerit; quos multi mox supplere conati . . . Vor allem in der deutschsprachigen Forschung hält sich die Auffassung von der »unfertigen« Aeneis hartnäckig: Zur NichtVollendung der Aeneis bzw. zu einer antiken Revision des Werkes Otto Zwierlein: Die Ovid- und Vergil-Revisionen des Iulius Montanus in tiberischer Zeit, Band I: Prolegomena, Berlin; New York 1999. Von einer Unfertigkeit der Aeneis geht auch Thomas Baier: Geschichte der römischen Literatur, München 2010, 18, aus. Konkret zur Schlussszene der Aeneis Gabriele Thome: Vorstellungen vom Bösen in der lateinischen Literatur, Begriffe, Motive, Gestalten, Stuttgart 1993, 137 Anm. 324: »Aber auch der ›ketzerische‹ Standpunkt vom vorläufigen Ende der Aeneis im Sinne des Unfertigen kann hierbei zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden.« Einen Überblick über die verschiedenen Positionen bietet James J. O’Hara: The Unfinished Aeneid?, in: J. Farrell/M. C. J. Putnam (eds.): A Companion to Vergil’s Aeneid and Its Tradition, Malden; Oxford 2010, 96–106, zum Schluss der Aeneis 103–5. Bereits für Hans Kern: Supplemente zur Aeneis aus dem 15. und 17. Jahrhundert, Beilage zum Jahresberichte des K. Neuen Gymnasiums in Nürnberg für das Schuljahr 1895/96, Nürnberg 1896, 4, steht jedoch fest, dass die Aeneis mit dem Tod des Turnus enden sollte; dies ist bis heute communis opinio der

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der Aeneis ebenso Nahrung wie die Tatsache, dass der ›offene‹ oder ›unfertige‹ Schluss der Aeneis nicht der aristotelischen Konzeption eines ›vollendeten‹ Epos entspreche: Zu viele Handlungsstränge der Aeneis blieben offen, zu viele Ankündigungen uneingelöst. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass schon im fünfzehnten und siebzehnten Jahrhundert verschiedentlich versucht wurde, Vergils tatsächlich oder vermeintlich unvollendetes Epos durch die Anfügung eines oder mehrerer Bücher fortzusetzen und die offenen Handlungsstränge abzuschließen. 5 Bislang sind vier solche frühneuzeitlichen Fortsetzungen in lateinischer Sprache bekannt. 6 Ein Fragment von 89 Versen blieb die früheste Fortsetzung der Aeneis, der nur in einem einzigen Codex vorhandene liber tertius decimus Aeneidos des Pier Candido Decembrio von 1419. 7 Ungleich wirkungsreicher sollte das Supplementum libri duodecimi Aeneidos von Decembrios Landsmann Maffeo Vegio sein, 8 das dieser 1427/8 während seines Studienaufenthaltes in Pavia verfasste 9 und das in zahlreichen Handschriften bezeugt ist. Es findet sich als ›dreizehntes Buch‹ bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein in diversen Aeneis-Ausgaben, 10

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Forschung: Reinhold F. Glei: Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil (BAC 7), Trier 1991, 230. Die volkssprachlichen Aeneas-Dichtungen des Mittelalters, wie der Roman d’Eneas und der Eneasroman des Heinrich von Veldeke folgen insofern einer anderen Tradition, als es sich um Neugestaltungen des antiken Stoffes handelt. Einen ersten Überblick bieten Kern (1896) (mit Textbeispielen); Paul Gerhard Schmidt: Neulateinische Supplemente zur Aeneis. Mit einer Edition der Exequiae Turni des Jan van Foreest, in: J. Ijsewijn/E. Keßler (eds.): Acta conventus Neo-Latini Lovaniensis, Proceedings of the First International Congress of Neo-Latin Studies, Louvain 1971 (= Humanistische Bibliothek I 20), München 1973, 517–55; Hans-Ludwig Oertel: Die Aeneissupplemente des Jan van Foreest und des C. Simonet de Villeneuve (Noctes Neolatinae 1), Hildesheim al. 2001, 1–3. Das »Mittelsupplement« des Ludwig Bertrand Neumann (1726–1777), das die Heldenschau des sechsten Buches bis zu den Habsburgern weiterführt, folgt anderen literarischen Prinzipien und bleibt deshalb aus den Betrachtungen ausgeklammert. Edition: Kern (1896) 14–7; Sonja Eckmann: Das Aeneis-Supplement des Pier Candido Decembrio – die pessimistische Stimme der Aeneis?, Neulateinisches Jahrbuch 4, 2002, 55–88. Eckmanns Versuch, aus den 89 Versen Decembrios eine ›pessimistische‹ AeneisInterpretation herauszulesen, kann meiner Ansicht nach nicht überzeugen. Edition: Bernd Schneider: Das Aeneis-Supplement des Maffeo Vegio, Weinheim 1985; Maffeo Vegio, Short Epics, ed. and translated by Michael C. J. Putnam, with J. Hankins, Cambridge, Mass.; London 2004. Zur Biographie und Werk Vegios vgl. Anne Cox-Brinton, Maphaeus Vegius and his Thirteenth Book of the Aeneid. A Chapter of Vergil in the Renaissance, Stanford 1930, 5– 23; Schneider (1985) 12–8. Vgl. Craig Kallendorff: In Praise of Aeneas. Virgil and Epideictic Rhetoric in the Early Italian Renaissance, Hannover; London 1989, 100. Auch in der Aeneis-Ausgabe von Edith und Gerhard Binder (Stuttgart 2008) ist das Supplement enthalten (Hinweis von Julia Winnacker).

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Anfang als Ende, Ende als Anfang

wurde mehrfach übersetzt 11 und von Sebastian Brant mit einer Serie von sechs Holzschnitten illustriert. 12 Um 1650 entstand mit den Exequiae Turni des Niederländers Jan van Foreest 13 die umfangreichste Ergänzung der Aeneis. Sie ist wiederum nur in einer einzigen Handschrift bezeugt, die erstmals 1973 von P. G. Schmidt ediert wurde, 14 und umfasst zwei Bücher und etwa 1180 Hexameter. Die späteste frühneuzeitliche Aeneis-Ergänzung schließlich ist das 1698 in Paris im Druck erschienene Supplementum ad Aeneida seu Aeneidos liber decimus tertius des Franzosen C. Simonet Villeneuve (Villanova), deren Umfang von 827 Hexametern ziemlich genau dem durchschnittlichen Umfang eines Aeneis-Buches entspricht. 15 Fortsetzungen berühmter Werke der Weltliteratur sind eine sehr spezifische Literaturform. Das Phänomen ist keinesfalls auf das Fortschreiben der Aeneis oder anderer antiker Werke 16 beschränkt und wurde in den modernen Philologien immer wieder untersucht. 17 Während im Bereich der Klassischen beziehungsweise Neulateinischen Philologie für derartige Werke für gewöhnlich der Begriff ›Supplement‹ verwendet wird, gebraucht die Literaturwissenschaft der Neueren Philologien daneben teils synonym die Begriffe ›Folgetext‹, ›completion‹, ›continuation‹ oder ›sequel‹. 18 Samuel Chew trennte zwischen der Ergänzung eines fragmentarischen, unvollständigen oder als unvollständig geltenden Werkes und der Fortführung eines Werkes, das zwar an sich vollständig ist, jedoch mit unabge-

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Vgl. Putnam/Hankins (2004) xxiii. Zu den englischen Übersetzungen von Vegios Supplement vgl. Margaret Tudeau-Clayton: Supplementing the Aeneid in Early Modern England: Translation, Imitation, Commentary, IJCT 4, 1998, 507–25. Vgl. Cox-Brinton (1930) 40–51. Zu seiner Person und den zeitgeschichtlichen Kontexten vgl. Kern (1896) 19–21; Oertel (2001) 19–47. Edition: Schmidt (1973); Oertel (2001). Edition: Oertel (2001). Zu dem Supplement, seinen Besonderheiten und seinen historischen und literarischen Kontexten vgl. Claudia Schindler: Das Aeneis-Supplement des Claude Simonet de Villeneuve – ein Anti-Supplement?, in: Martin Korenjak/Simon Zuenelli (Hgg.): Supplemente antiker Literatur (Pontes VIII), Freiburg i.Br. u.a. 2016, 39– 58. Zu den neulateinischen Prosa-Supplementen vgl. Paul Gerhard Schmidt: Supplemente lateinischer Prosa in der frühen Neuzeit. Rekonstruktionen zu lateinischen Autoren von der Renaissance bis zur Aufklärung (Hypomnemata 5), Göttingen 1964. Vgl. z.B. Helge Nowak: Completeness is all. Fortsetzungen und andere Weiterführungen britischer Romane als Beispiel zeitübergreifender und interkultureller Rezeption (Sprache und Literatur 39), Frankfurt a.M. al. 1994 (mit einer grundlegenden theoretischen Einführung); Heinz Klüppelholz: Die Innovation als Imitation. Zu Fortsetzungen französischer Romane des 18. Jahrhunderts (Analecta Romanica 54), Frankfurt a.M. 1995; William H. Hinrichs: The Invention of Sequel. Expanding Prose Fiction in Early Modern Spain, Woolbridge 2011. Zur Terminologie vgl. Nowak (1994) 27 f.

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schlossenen Handlungssträngen zur Fortsetzung einlädt. 19 Wie die Aeneis-Ergänzungen zu klassifizieren sind, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Ergänzung von Villeneuve will zwar nach eigener Aussage des Autors das nach aristotelischen Kategorien als Epos ›unvollständige‹ Gedicht Vergils zu Ende führen, 20 doch ist die Seriosität dieser Angabe schwer einzuschätzen, da gerade Villeneuves Fortsetzung sehr eigenwillig ist und die generischen Vorgaben einer Fortsetzung geradezu zu unterlaufen scheint. 21 Maffeo Vegios dreizehntes Buch der Aeneis wird zwar immer als ›Vervollständigung‹ par excellence angesehen, 22 doch vermerkt Vegios Biograph, dass Vegio seine Ergänzung nicht geschrieben habe, weil er die Aeneis für unvollständig hielt, sondern um sein poetisches Talent unter Beweis zu stellen; darin sei er dem Beispiel des Quintus Smyrnaeus gefolgt. 23 Jan van Foreest schließlich macht in der Einleitung zu seinen Exequiae Turni deutlich, dass er die Aeneis keinesfalls für defizitär halte und sein Werk nicht als Lückenfüller verstanden wissen wolle. 24 Zumindest Vegio und Foreest lassen sich also eher der zweiten Kategorie zuordnen. Ich werde in dem vorliegenden Beitrag den Begriff ›Supplement‹ als Oberbegriff für die unterschiedlichen Ergänzungstypen beibehalten. Mit der Unterscheidung zwischen der Ergänzung eines fragmentarischen Werkes und der Ergänzung eines vollständigen Werkes, das Möglichkeiten zur Fortschreibung eröffnet, ist ein weiterer Punkt verbunden, der dazu angetan ist, die Aeneis-Supplemente zu einem Zankapfel poetologischer Diskussionen zu machen. Da Supplemente sich so eng an das Werk des Vorgängers anlehnen, dass sie ohne dieses nicht verständlich sind, gelten sie der älteren Forschung als wenig kreativ, als epigonal oder gar als parasitär. Es trifft sie das Verdikt von »Plagiat« und »piracy«, das sie mit anderen Bearbeitungen von Literaturwerken teilen. 25 Jürgen von Stackelberg bringt für die Ergänzungen der 1669 erschienenen Lettres portugaises das mit sämtlichen Romansupplementen verbundene Unbehagen auf den Punkt: Durch die Ergänzung würden die »Wunden«, die der Autor des »ori19

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Samuel C. Chew: Byron in England. His Fame and After-Fame, London 1924, 44: »Such continuations are a fairly frequent phenomenon in literature, some are efforts to complete an unfinished work, others are sequels to work that, though complete in themselves, bear continuing«. Oertel (2001) 126–28. Vgl. Schindler (2016) 42–5. Vgl. z.B. Schneider (1985) 19: »Man darf annehmen, dass Maffeo meinte, mit seinem Supplement die Handlung der Aeneis nach dem von Vergil selbst noch beabsichtigten Plan, den zu verwirklichen ihn sein Tod hinderte, zu Ende zu führen.« Vita (Maxima Bibliotheca Patrum, 26,632; zitiert bei Schneider [1985] 19 Anm. 39): non quasi imperfectum esse Maronis opus putaret, sed ut in Poeticis ingenium ad quae ferebatur, exerceret idque exemplo Quinti Smyrnaei qui Homero paraleipÏmena lib. 14 addere est ausus. Vgl. Emma Buckley: Ending the Aeneid? Closure and Continuation in Maffeo Vegio’s Supplementum, Vergilius 52, 2006, 110. Foreest, Praefatio: Oertel (2001) 58. Harry M. Paull: Literary Ethics. A Study in the Growth of the Literary Conscience, London 1928, 45.

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ginalen« Textes »schlagen« wollte, »mit einem Pflästerchen versehen«, »Illusionen«, die der Autor »dem Leser rauben« wollte, würden »wieder aufgebaut, seine Beunruhigung wieder in Ruhe zurückverwandelt,« die Supplement-Verfasser hätten »somit bereits mit Erfolg die Rezepte, mit deren Hilfe man ein emanzipatorisches Kunstwerk in Konsumliteratur verwandelt«, gekannt und verwendet. 26 Mit anderen Worten: Indem das Supplement die sogenannten »Unbestimmtheitsstellen« 27 des Prätextes auffülle, »verderbe« es ihn – eine Haltung, die z. B. Oertels Bewertung von Maffeo Vegios Aeneis-Supplement prägt, wenn er davon spricht, dass das »humane Weltgedicht Vergils« bei Vegio »auf ein epideiktisches Ziel« »verengt« würde. 28 Doch kann man auch anders urteilen und die Weiterführung eines berühmten Literaturwerkes als wesentlichen Teil des Rezeptionsprozesses betrachten. Abgesehen davon, dass die imitatio eines berühmten Werkes in der Poetik der Renaissance einen hohen Stellenwert hat, 29 können Weiterführungen zum Ruhm und zur Nachwirkung eines Autors beitragen. Sie sind Gradmesser für die Popularität eines Werkes. 30 Das Konkretisieren von Unbestimmtheitsstellen sei, so Roman Ingarden, eine »mitschöpferische Tätigkeit des Lesers« 31 und vom Autor eines literarischen Werkes durchaus intendiert, der ja Dinge bewusst unausgesprochen lasse, um den Leser zu Kreativität zu animieren. Wenn nun ein Rezipient die von ihm imaginierten Ergänzungen der Unbestimmtheitsstellen schriftlich fixiere, leiste er damit eine »produktive Rezeption«. 32 Der »schöpferische Verrat«, den der Ergänzer an dem Vorgängerwerk begehe, sei also durchaus etwas Positives. Gerade bei zeitversetzter und zeitübergreifender Rezeption könne die Weiterführung des Prätextes die Vorlage beleben oder verjüngen, 33 sie könne die 26

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29 30 31 32 33

Jürgen von Stackelberg: Literarische Rezeptionsformen. Übersetzung-Supplement-Parodie, Frankfurt a.M. 1972, 132. Zwar trennt von Stackelberg (119) die lateinischen Supplemente ausdrücklich von den Romansupplementen, weil es zu ihrer Abfassung »nicht nur einer außerordentlichen Belesenheit und sehr guter lateinischer Sprachkenntnisse, sondern auch eines ganz anderen Verhältnisses zur Literatur, als wir es heute haben« bedürfe. Grundsätzlich unterscheiden sich die literarischen Mechanismen eines lateinischen Supplements jedoch nicht von einer nationalsprachlichen Ergänzung. Terminologie von Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, 50–5. Oertel (2001) 18. Weitere negative Urteile über Vegios Supplement bei Kallendorf (1989) 101. Neutraler formuliert es O’Hara (2010) 105: »Vegio’s supplement makes everything clear; Vergil’s poem does not.« Vgl. Buckley (2006) 111. Vgl. Klüppelholz (1995) 16 f. Ingarden (1968) 52. Zum Begriff vgl. Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie, München 1977, 147–53. Hans-Robert Jauß: Der Text der Vergangenheit im Dialog mit der Gegenwart (Klassik – wieder modern?) (1977), in: Hans-Robert Jauß (Hg.): Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982, 787–812; 806: »verjüngende[n] Rezeption«; Nowak (1994) 30 f.

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Rolle eines »Kommentars« 34 oder einer »literarischen Replik« übernehmen. Auch die neulateinischen Aeneis-Supplemente lassen sich somit nicht nur als ›epigonale Weiterführungen‹, sondern als kreative Neugestaltungen und als Kommentare zur Aeneis lesen. Es ist dabei nicht erstaunlich, dass sie, genau wie wissenschaftliche Kommentare und Deutungen eines Textes, zeitgebunden sind, den Wert- und Normvorstellungen ihrer Zeit folgen, die Lektüreerfahrungen der zeitgenössischen Interpretationsgemeinschaft 35 reflektieren und die Uneindeutigkeiten des Vergiltextes im Sinne der zeitgenössischen Norm vereindeutigen wollen. So wurde zum Beispiel in der Vegio-Forschung der letzten Jahre intensiv diskutiert, inwieweit Vegios dezidiert ›positive‹ Profilierung des Aeneas als das Resultat einer kritischen, ›pessimistischen‹ Lektüre des Werkes und Vegio als ein Vertreter der »TwoVoices-Theorie« avant la lettre gelten könne. 36 Dabei drohte aus dem Blick zu geraten, dass seine Deutung des Geschehens schlicht und einfach zeitgenössischer Aeneis-Interpretation entspricht. 37 Im Rahmen eines Sammelbandes über Anfänge und Enden antiker Epik ist eine Betrachtung der Supplemente aus mehreren Gründen interessant: Es ist ja der Form der Ergänzung immanent, dass sie ein gesetztes Werkende eben nicht akzeptiert und danach strebt, dieses Ende in der ein oder anderen Weise aufzulösen: »Jeder Autor eines Folgetextes postuliert grundsätzlich eine neue Einheit aus seinem und dem ursprünglichen Text«. 38 Zugleich stellt das Infragestellen des ursprünglich gesetzten Endes den Ergänzer immer vor die Aufgabe, einen neuen Abschluss zu definieren. Indem das ursprüngliche Werkende beseitigt oder zumindest in seiner Valenz zurückgestuft wird (etwa vom Ende des Gesamtwerkes zum »niederrangigen« Ende eines Einzelbuches), reorganisiert der frühneuzeitliche Ergänzer zudem den antiken Prätext – und sei es nur dadurch, dass er dessen ursprüngliche Strukturprinzipien durch das Hinzufügen von weiteren Büchern in Frage stellt. Zudem macht es das Handlungskontinuum zwingend erforderlich, nicht nur die aus dem Prätext übernommenen Handlungsstränge abzuschließen, sondern neue zu eröffnen, die möglicherweise dann ihrerseits wieder unabgeschlossen bleiben. Im Falle der frühneuzeitlichen Aeneis-Supplemente kommt außerdem hinzu, dass die beiden späteren Supplemente von Foreest und Ville34 35

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Nowak (1994) 36. Zum Phänomen der ›Interpretationsgemeinschaft‹ (interpretative community) vgl. Stanley Fish: Is there a Text in This Class?: The Authority of Interpretive Communities, Cambridge, Mass.; London 1980. Vgl. Craig Kallendorf: The Other Virgil. Pessimistic Readings of the Aeneid in Early Modern Culture, Oxford 2007, 42, der »on some level a recognition of ambiguity and complexity« vermutet. Vgl. Thorsten Burkard: Kannte der Humanismus den anderen Vergil? Zur two-voicesTheorie in der lateinischen Literatur der frühen Neuzeit, in: Thorsten Burkard/Markus Schauer/Claudia Wiener (Hgg.): Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der frühen Neuzeit, Berlin u.a. 2010, 43. Nowak (1994) 54.

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neuve sich nicht nur mit der Aeneis, sondern auch mit dem allgemein bekannten und seinerseits zum ›Klassiker‹ avancierten Supplement von Maffeo Vegio und dessen Interpretation der Aeneis auseinandersetzen, sodass sich ein komplexer Rezeptionsprozess ergibt. Zu dem intertextuellen Bezug auf den Prätext Aeneis kommt der Bezug auf Vegios Supplementum libri duodecimi Aeneidos, im Rahmen dessen nicht nur Vergils ›Intention‹ sichtbar gemacht, sondern auch Vegios Deutung des Vergil-Textes hinterfragt und revidiert werden soll. Ich möchte im Folgenden auf der Grundlage der bis hierher skizzierten Annahmen die Eröffnungsszenen der drei Supplemente von Vegio, Foreest und Villeneuve betrachten. 39 Dabei wird sich zeigen, dass die Eröffnungsszenen der Supplemente trotz eines gemeinsamen Ausgangspunktes und mancher struktureller Ähnlichkeiten die Ereignisse der Aeneis sehr unterschiedlich interpretieren und so die Interpretationsrichtung des gesamten Supplements bereits ouvertürenartig vorgeben. Das Supplementum libri duodecimi Aeneidos von Maffeo Vegio ist nicht nur das früheste und wirkungsreichste, sondern mit 630 Versen die kürzeste der hier betrachteten Aeneis-Ergänzungen. Die Eröffnungsszene des Supplements ist demgegenüber mit 48 Hexametern relativ umfangreich. Sie lässt sich in drei Teile gliedern, die nach dem Prinzip der wachsenden Glieder arrangiert sind: Der Erzähler rekapituliert in den ersten drei Versen äußert knapp den Tod des Turnus und zeigt den siegreich über der Leiche stehenden Aeneas (1–3); dann gilt sein Blick den Latinern, die starr vor Schrecken sind, die Waffen niederlegen und sich dem Aeneas bedingungslos unterwerfen (4–22). Den Abschluss des Abschnittes bildet eine Rede des Aeneas, mit der dieser eine erste Einschätzung der Ereignisse gibt (23–48). Die Eröffnungssequenz ist in mehrfacher Hinsicht programmatisch für Vegios Supplement. Unübersehbar ist das Bestreben des frühneuzeitlichen Dichters, das überlieferte Ende der Aeneis durch die Fortsetzung aufzuheben. Der Buchbeginn ist niederschwellig. Ein Proömium mit Exordialtopik, expliziter Themenangabe und Musenanruf fehlt. Stattdessen fügt der Dichter die Supplement-Handlung ohne Leerstelle direkt an den vergilischen Prätext an, indem er kurz das Ergebnis des zwölften Buches in Erinnerung ruft: Turnus ist tot, Aeneas steht als Sieger über der Leiche. Sprachliche Reminiszenzen verstärken die Verbindung. Der Beginn des ersten Verses Turnus ut extremo devictus Marte profudit / effugientem animam (13,1 f.) zitiert den Beginn des zwölften Aeneis-Buches Turnus ut infractos adverso Marte Latinos / defecisse videt (12,1 f.). 40 Buchanfänge mit temporalen Konjunktionen wie ut, postquam oder interea sind zudem typisch für epische Mittelbücher. 41 Die Wendung effugientem animam (13,2) nimmt den letzten Aeneis-

39 40 41

Das frühe Supplement von Pier Candido Decembrio bleibt aufgrund seines geringen Wirkungshorizonts aus der Betrachtung ausgeklammert. Vgl. Buckley (2006) 113. So z.B. Aen. 3,1 postquam; 5,1 interea; 8,1 ut.

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Vers vitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras (12,952) wieder auf. 42 Auch die eigentliche Szene entwickelt sich als Replik auf verschiedene Elemente des vergilischen Prätexts: Die Reaktion der Latiner, die ihre Speere in den Boden rammen, sich auf ihre Schwerter stützen und ihre Schilde ablegen, ist ebenso komplementär zu jener Szene zu Beginn des Zweikampfs im zwölften Buch, wo sich die Troer und die Rutuler entrüsten (12,704–7), wie das anschließende Stiergleichnis, das ebenfalls auf das Stiergleichnis am Beginn des Zweikampfes zwischen Turnus und Aeneas (12,715–24) Bezug nimmt. 43 Weder formal noch inhaltlich besteht also ein Einschnitt zwischen dem zwölften Buch der Aeneis und dem 13. Buch von Maffeo Vegio. Ort, Zeit und Personen sind unverändert; der Beginn des Supplements erfüllt somit alle Erwartungen, die der Rezipient an eine Fortsetzung stellt. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch genau diese Kontinuität als die Basis für einen radikalen Neuanfang. So sehr nämlich Vegio auf der Ebene der histoire das Aeneis-Geschehen fortzusetzen scheint, so sehr bemüht er sich zugleich, den Abschluss des Handlungsstrangs »Aeneas kämpft gegen Turnus« zu markieren. Die Eröffnungsszene enthält eine ganze Reihe von Begriffen aus dem Wortfeld »Ende«: 44 Bereits im ersten Vers ist die Rede vom extremus Mars (13,1), die Latiner bitten nicht nur um Vergebung, sondern auch um requiem finemque malorum (13,12). Vegios Aeneas selbst spricht von ultima meta furoris (13,30 f.) und von suprema dies (13,33). Auch die Aktionen der Latiner deuten darauf hin, dass sie einen Schlussstrich unter die Ereignisse der Vergangenheit zu ziehen bereit sind: Sie legen ihre Waffen nieder und verurteilen die Kampfhandlungen (scuta . . . deponunt; proelia damnant: 13,9). Das anschließende Stiergleichnis verdeutlicht den Einschnitt noch einmal auf der Bildebene: In den ersten drei Versen (sicut acerba duo quando in certamina tauri / concurrant, largo miscentes sanguine pugnam, / cuique suum pecus inclinat [13,13–5]) rekapituliert der Dichter mit wörtlichen Anklängen den Zweikampf der Stiere im zwölften Buch der Aeneis. 45 Die Verwendung von Vergangenheitstempora (cesserit [13,15], favebant [13,16]) weist jedoch im Folgenden

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Zur Imitationstechnik Vegios vgl. Schneider (1985) 21 f. Vgl. Richard F. Thomas: Virgil and the Augustan reception, Cambridge 2001, 281 f.; Buckley (2006) 119. Buckley (2006) 114. Verg. Aen. 12,715–24: ac velut ingenti Sila summove Taburno / cum duo conversis inimica in proelia tauri / frontibus incurrunt, pavidi cessere magistri, / stat pecus omne metu mutum, mussantque iuvencae / quis nemori imperitet, quem tota armenta sequantur; / illi inter sese multa vi vulnera miscent / cornuaque obnixi infigunt et sanguine largo / colla armosque lavant, gemitu nemus omne remugit: / non aliter Tros Aeneas et Daunius heros / concurrunt clipeis, ingens fragor aethera complet. Das Vorbild für dieses Gleichnis ist der Kampf der Stiere im dritten Buch der Georgica (georg. 3,219– 23): pascitur in magna Sila formosa iuvenca: / illi alternantes multa vi proelia miscent / vulneribus crebris; lavit ater corpora sanguis, / versaque in obnixos urgentur cornua vasto / cum gemitu; reboant silvaeque et longus Olympus.

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darauf hin, dass dieser Kampf nun beendet ist und das Ergebnis feststeht. Gegen die Vergangenheit mit ihrem Kämpfen und dem favor, den die Latiner dem Turnus hatten zuteilwerden lassen, setzt der Erzähler des Supplements mit nunc und der Verwendung des Präsens den Neuanfang programmatisch ab: nunc sese imperio subdunt victoris et ultro, / quamquam animum dolor altus habet, parere fatentur (13,17 f.). Dass Ende und Neuanfang sich nach der Darstellung des Supplement-Dichters wechselseitig bedingen, zeigt sich schließlich in der Rede des Aeneas, die auf das Stiergleichnis folgt. Bevor Aeneas nämlich mit großzügiger Geste die Herausgabe von Turnus’ Leichnam verkündet, weist er in direkter Apostrophierung des toten Turnus und mit deutlich subjektiver Wertung auf die Ereignisse der zweiten Aeneishälfte zurück: 46 Wie konnte Turnus es nur wagen, die Trojaner, die doch eine von Jupiter aufgegebene Mission erfüllten, aus Italien vertreiben zu wollen (13,23–7)? Turnus, so fährt Aeneas dann fort, habe gegen das Recht und Treueversprechen verstoßen, er habe das Bündnis gebrochen und so die Trojaner in Aufruhr versetzt (contra iura fidemque / Iliacam rupto turbasti foedere gentem: 13,31 f.). Am Schluss der Rede nimmt Aeneas diesen Gedanken in positiver Wendung noch einmal auf: Er schwört, niemals aus freien Stücken die Waffen ergriffen haben, sondern lediglich zur Verteidigung der Seinen: ego sidera iuro, / numquam acies, numquam arma libens in proelia movi / sed vestris actus furiis defendere toto / optavi, et licuit, Troianas robore partes (13,45–8). Durch die Verwendung der Perfektformen crevit (13,24), turbasti (13,32), movi (13,46) und optavi (13,48) kennzeichnet er die Geschehnisse nochmals als abgeschlossen. Zugleich nimmt er durch die Bewertung von Turnus’ Verhalten als dementia (13,24), durch die Berufung auf die monita summi Tonantis (13,25), den Hinweis auf das ruptum foedus (13,32) und die (letztlich von Turnus’ Kriegswahn aufgestachelten) furiae (13,47) der Latiner eine klare Schuldzuweisung an Turnus vor: Dieser habe durch sein wahnwitziges Unterfangen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war (nequicquam: 13,27), seinen Tod selbst verschuldet. Die Interpreten machen darauf aufmerksam, dass Vegio dem Aeneas diese Schuldzuweisung in den Mund lege, um ihn durch die Verurteilung des Turnus von jeglichen Ambivalenzen zu befreien und als ›tugendhaften‹ Helden zu zeigen. 47 Tatsächlich setzt der frühneuzeitliche Vergil-Ergänzer alles daran, Aeneas als unbescholtenen Helden darzustellen: Er führt ihn ein als magnanimus Aeneas (13,3) und merkt an, dass Aeneas seine Rede ohne negative Emotionen, placido ore (13,23), vorträgt 48 – ein Auf-

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Zu den Parallelen zwischen dieser Rede und Aeneas’ Rede auf den toten Lausus (Aen. 10,825–30) vgl. Kallendorf (1989) 112 f. Vgl. Kallendorf (1989) 114 f.; Putnam/Hankins (2004) xxf. Für Ben Hijmans: Aeneia virtus. Vegio’s Supplementum to the Aeneid, CJ 67, 1971/2, 144–55, durchzieht der Antagonismus zwischen dem ›tugendhaften‹ und für ›Frieden‹ stehenden Aeneas und dem für Krieg und »insanity« stehenden Turnus das gesamte Supplement. Vgl. Kallendorf (1989) 110; Thomas (2001) 282.

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treten, das in völligem Kontrast zu dem von furor getriebenen Helden am Schluss des zwölften Buches steht. Aus dem affektgesteuerten Monster am Ende der Aeneis wird in Vegios Fortsetzung ein Aeneas, der die Situation rational und von überlegener Warte aus analysiert. Dazu passt, dass Aeneas seinen Rückblick auf die Ereignisse in Latium durch Appelle ergänzt, die er an Turnus und die Latiner richtet. Bemerkenswert ist dabei die explizit ›didaktische‹ Ausrichtung der Ausführungen: Turnus soll postum »lernen« (disce: 13,28), Jupiter zu ehren und die Befehle der Götter zu befolgen, die Latiner sollen »lernen« (discite: 13,45), sich im Krieg auf die richtige Seite zu schlagen (melioribus uti / . . . auspiciis: 13,44 f.). Die Ereignisse, auf die der Sprecher hier zurückblickt, bekommen so die Funktion von Beispielen, die auch späteren Generationen Richtlinien für angemessenes Handeln liefern sollen. Sie sind, wie es Aeneas selbst formuliert, exempla sub aevum / venturum (13,33 f.). In seiner Schrift De educatione liberorum et eorum claris moribus wird Vegio selbst auf die Exemplarität des Aeneas (und auch der Dido) hinweisen. 49 Doch bereits hier, zu Beginn des Supplements, wird die Erzählung der Aeneis zu einem abgeschlossenen historischen Raum umgedeutet und auf die Ebene eines Lehrstückes gehoben; 50 der Aeneas des Supplements erscheint insbesondere zu Beginn der Fortsetzung in einer merkwürdigen Zwischenposition: Er ist Protagonist, Historiker und alter Ego des historischen Autors zugleich. Sein Gestus ist der eines ›Lehrers‹, der seinen ›Schülern‹ die Exemplarität der in der Aeneis geschilderten Ereignisse vor Augen führen möchte. Dabei ›liest‹ Aeneas die Ereignisse der Aeneis so, wie Vegios zeitgenössische Interpretationsgemeinschaft sie rezipieren soll. Es ist vielleicht nicht ganz abwegig zu vermuten, dass diese Historisierung des AeneisGeschehens und der didaktische Appell sich nicht nur an die innerliterarischen Adressaten, sondern auch an die außertextlichen Rezipienten von Vegios Supplementum richten. Diesem außertextlichen Rezipienten nun wird eine Interpretation der zweiten Aeneis-Hälfte angeboten: Der Krieg in Latium und die Niederlage der Latiner ist eine Mahnung zur Gottesfurcht. Das Kriegsgeschehen wird als einseitiger Verstoß gegen den Götterwillen gedeutet, Aeneas verhält sich gut, richtig und tugendhaft. Ende und Neuanfang haben in diesem Kontext eine Schlüsselfunktion: Indem nämlich die Latiner und Rutuler im weiteren Verlauf des 13. Buches die Appelle des pius Aeneas umsetzen und damit zeigen, dass sie dessen Autorität akzeptieren und tatsächlich aus ihrem Fehlverhalten zu ›lernen‹ imstande sind, werden sie ihrerseits zu exempla eines vorbildlichen Verhaltens und lassen erkennen, dass die Exemplarität der Aeneis umsetzbar ist. Vegios Supplement ist somit nicht nur insofern ein ›Abschluss‹ der Aeneis, als in ihm wichtige offene Hand-

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Vegio: De educatione II,18: Nam cum Virgilius sub Aeneae persona virum omni virtute praeditum, atque ipsum nunc in adversis, nunc in prosperis casibus demonstrare voluerit, ita per Didonem feminas etiam . . . admonere studuit. Vgl. Kallendorf (1989) 102 f. Insofern unterscheiden sich die disce/discite-Appelle von Aen. 12,435 und 6,620, die Kallendorf (1989) 113 als Parallelen anführt.

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lungsstränge zu Ende erzählt werden, sondern auch insofern, als es die Aeneis als abgeschlossenen historischen Raum markiert. Der Vergil-Ergänzer Vegio benötigt ein deutlich gekennzeichnetes Ende, um Turnus’ Tod und die Kriege in Latium als exemplum herausstellen zu können, gegen das er den Neuanfang positiv spiegeln kann. Weitaus weniger eindeutig ist der Beginn der Exequiae Turni des Jan van Foreest, das um 1648 seine uns vorliegende Form bekam. 51 Mit 45 Hexametern hat die erste Szene seines 13. Buches beinahe exakt denselben Umfang wie die Eröffnungsszene von Vegios Gedicht. Inhaltliche und strukturelle Analogien zu dem früheren Supplement sind unverkennbar: Wie Vegios Supplement eröffnet Foreests Exequiae das Bild des über Turnus’ Leiche stehenden Aeneas (1–5); wie bei Vegio wird die Handlung durch ein ausführliches Gleichnis illustriert (6–11), und wie im früheren Supplement endet die Eröffnungsszene bei Foreest mit einer Rede des Aeneas, die die letzten neunzehn Verse des Abschnittes umfasst (27–46). Dass die Eröffnungsszene von Vegios Supplement so deutlich als Prätext erkennbar ist, auf dem die Eröffnungsszene von Foreests Exequiae rezipiert werden soll, lässt die Unterschiede zwischen den beiden Szenen umso klarer hervortreten. Zunächst einmal ist die Perspektive, aus der Foreests Erzähler das Geschehen betrachtet, eine andere als bei Vegio. Hatte Vegios Erzähler sich nämlich nach einem kurzen Blick auf den siegreichen Aeneas sogleich den besiegten Latinern zugewandt, so bleibt der Blick des Erzählers in Foreests Supplement während der gesamten Eröffnungsszene auf Aeneas gerichtet. Gegenüber Vegios Darstellung, die lediglich die wichtigsten Fakten – Turnus ist tot, Aeneas ist Sieger – rekapituliert, hat Foreest die Darstellung stark emotionalisiert. Während Vegio Turnus’ Tod beschreibt, indem er den unkörperlichen Teil, die entweichende Seele (effugientem animam: 13,2), in den Blick nimmt, wertet Foreest bereits im ersten Vers seines Supplements die Tötung des Turnus als caedes und hebt auf die Körperlichkeit der im Staub hingestreckten entseelten Leiche (corporis exanimi porrectam in pulvere molem: ET 13,2) ab. Und während Vegio zu Beginn der Szene keinerlei Aussagen über den emotionalen Zustand des magnanimus Aeneas macht und sich durch den Schwenk auf die besiegten Latiner der Aufgabe entzieht, zu Aeneas’ Kriegs-furor Stellung nehmen zu müssen, zeigt Foreest einen Aeneas, der sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befindet: Aeneas misst Turnus’ Körper mit zornerfülltem Blick (lumine . . . torvo: ET 13,3) und lässt seine Augen unruhig über den Leichnam schweifen: totamque pererrat / turbidus (ET 13,3 f.) – ganz ähnlich hatte Vergil nicht nur im siebten Buch die Bewegung von Allectos Schlange in Amatas Körper, 52 sondern auch im vierten Buch den Blick beschrieben, mit dem die enttäuschte Dido Aeneas mustert. 53 Aeneas wird also mit Dido 51 52 53

Zur Entstehungsgeschichte des Gedichts vgl. Oertel (2001) 49–53. Verg. Aen. 7,374 f.: penitusque in viscera lapsum / serpentis furiale malum totamque (sc. Amatam) pererrat. Verg. Aen. 4,362 f.: totumque (sc. Aenean) pererrat / luminibus tacitis, et sic accensa profatur.

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und mit Amata, den beiden am stärksten von ihren Affekten geleiteten AeneisProtagonistinnen, auf eine Stufe gestellt. Im Folgenden erklärt der Erzähler dann, was Aeneas zunächst in diesem emotionalen Ausnahmezustand verharren lässt: Es ist der balteus des Pallas, dessen Anblick Aeneas daran hindert, seine Zorneswallungen zu beruhigen: irarum prohibet subsidere fluctus (ET 13,6). Das Wort fluctus gibt das Stichwort für das Gleichnis des vom Sturm aufgewühlten Meeres, das selbst nach dem Abflauen der Winde unruhig hin- und herwogt (ET 13,6– 11) und so zunächst, anders als das Stiergleichnis bei Vegio, die Kontinuität von Aeneas’ furor unterstreicht. Dass das Gleichnis als ›Eröffnungsgleichnis‹ auf den Seesturm im ersten Aeneis-Buch rekurriert, 54 lässt diese Ausrichtung umso klarer hervortreten: Während dort der Sturm jedoch durch das Eingreifen Neptuns dicto citius (Aen. 1,142) besänftigt wird und Neptun bei heiterem Himmel wieder seine Bahnen ziehen kann, wirkt das Toben der Elemente in Foreests Gleichnis noch lange nach. Schließlich fügt der Erzähler einen weiteren auktorialen Kommentar an, in dem er noch einmal auf Aeneas’ Seelenzustand eingeht: Obgleich mit Turnus’ Tod Pallas gerächt und seine Manen und sein gerechter Zorn besänftigt sind, sieht Aeneas vor seinem inneren Auge immer noch Pallas, Euander und das verwaiste Haus: inque oculis errant Pallas, Evander et omnis / orba domus (ET 13,13 f.). Dass dieser Vers unüberhörbar die Worte in Erinnerung ruft, mit denen Vergil Aeneas’ Reaktion auf die Nachricht von Pallas’ Tod geschildert hatte, 55 zeigt noch einmal, dass der Aeneas von Foreests Supplement diese Todesnachricht noch nicht bewältigt hat. Van Foreest präsentiert dem Rezipienten im ersten Teil der Eröffnungsszene also einen Helden, der in demselben emotionalen Ausnahmezustand gefangen ist, in dem der Dichter der Aeneis ihn am Schluss des zwölften Buches zurückgelassen hatte. Anders als Vegio, der bei aller Kontinuität der Handlung sein 13. Buch explizit als Neuanfang inszeniert, verwischt Foreest in seiner Darstellung des Aeneas furens die Buchgrenze. Die Tötung des Turnus führt zunächst keine Veränderung in der Psyche des trojanischen Helden herbei. Dass dieses bruchlose Fortschreiben der Aeneis-Handlung programmatisch für Foreests Fortsetzung ist, zeigt sich im zweiten Teil der Eröffnungsszene, der zwar als Wende, nicht jedoch als Abschluss oder Neuanfang markiert ist. In dem Sturmgleichnis ist diese Wende bereits angedeutet: Nachdem der Wind – das Kampfgetöse – sich gelegt hat, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch das Meer – das aufgewühlte Gemüt des Aeneas – beruhigt. Im Folgenden schildert der Dichter zunächst ex negativo, wie Aeneas seine Fassung wiedergewinnt. Grundlage für das Nachlassen des Zorns ist Aeneas’ moralische Integrität, seine prisca pietas, die nicht vollständig aus seinem Herzen gewichen sei: sed non prisca viri 54

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Vgl. Florian Schaffenrath: Die Gleichnisse in Jan van Foreests Aeneissupplement im Kontext neulateinischer Epik, HL 60, 2011, 268. Die beiden Gleichnisse Aen. 2,416 f. und georg. 3,196–201 sind m.E. weniger einschlägig. Verg. Aen. 10,515–17: Pallas, Euander, in ipsis / omnia sunt oculis, mensae, quas advena primas / tunc adiit, dextraeque datae . . .

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pietas e corde recessit (ET 13,16). Der Kriegs-furor ist für Foreest eine temporäre Erscheinung; er kommt zwar nicht ohne Weiteres zur Ruhe, vermag aber die Grundqualitäten des Helden nicht dauerhaft zu verdrängen. Die pietas des Aeneas stellt Foreest also nicht in Frage – eine Haltung, die der zeitgenössischen AeneisInterpretation im bereits erwähnten Aeneis-Kommentar des Jesuiten Luis de la Cerda entspricht. 56 Signifikant ist jedoch der Auslöser für das Nachlassen des Zorns: Während Aeneas den leblosen Körper des Turnus betrachtet, kommt ihm Hektors von Achill geschändete Leiche in den Sinn: tum simul exanimi percussus imagine mentem / Hectoris, ut lacerum bigis raptabat Achilles (ET 13,24 f.). Ob diese Erinnerung durch Turnus’ Hinweis auf seinen Vater Daunus am Ende der Aeneis, der ja durch Turnus’ Tod einen ähnlichen Verlust erleiden muss wie Priamus, ausgelöst wird, 57 bleibt offen. Deutlich ist in jedem Fall der Verweis auf das zweite Aeneis-Buch, wo Hektor dem Aeneas als Traumgesicht begegnet und zur Flucht aus Troja mahnt. 58 Turnus und Hektor gleichen sich insofern, als ihre leblosen Körper nichts mehr mit den strahlenden Helden zu tun haben, die sie zu Lebzeiten einmal waren. 59 Durch die Erinnerung an Hektor verkehren sich die Parameter: Aeneas sieht in dem toten Turnus nicht mehr den von seiner Hand getöteten Feind, sondern seinen Landsmann, der von Achill in einem Übermaß von Rachezorn geschändet wurde. Er wird nicht mehr von Zorn, sondern von Mitleid affiziert und legt gegenüber Turnus eine christliche misericordia an den Tag, die Vegios Aeneas erst viel später zeigen wird. 60 Seine pietas besteht nicht primär in seinem untadeligen Verhalten, sondern in seiner Fähigkeit zur Empathie. Während Vegios Aeneas keine Gemütsregung zeigt, reagiert Foreests Aeneas mit Tränen und Klagen: effudit lacrymas oculis hasque ore querelas (ET 13,26). Die Rede, die Foreest Aeneas halten lässt, steht ebenfalls in deutlichem Kontrast zu der Rede von Vegios Aeneas. Zwar leitet auch sie zur Herausgabe von Turnus’ Leiche über, die Foreests Aeneas ähnlich wie Vegios Aeneas ankündigen wird. Ihr literarisches Modell ist jedoch die Rede, die Aeneas im elften Buch der Aeneis vor dem gefallenen Pallas hält. 61 Wiederum verwandelt die intertextuelle Referenz den Gegner in einen Verbündeten: Turnus ›wird‹ gewissermaßen zu Pal-

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Vgl. de la Cerda (1617) 784: »cum et dignior vita Aeneas interfector iudicetur propter egregias praestantesque virtutes.« Verg. Aen. 12,934–36: Dauni miserere senectae / et me, seu corpus spoliatum lumine mavis / redde meis. Zu den Bezügen auf die Ilias in der Turnusrede vgl. Freund (2008) 75–7. Verg. Aen. 2,270–79. Hinweis bei Oertel (2001) 237. Verg. Aen. 2,274–76: ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo / Hectore qui redit exuvias indutus Achilli / vel Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis! Foreest, Exequiae 13,20–3 . . . corde volutat / attonito, quantum Turno mutatus ab illo, / inclusus medijs qui quondam moenibus hostis / bis pepulit totis turbantibus agmina castris. Vegio 13,471–73: et secum Turni casus miseratus acerbos / qui haud parva spe ductus ovans in proelia tantos / civisset motus, durisque arsisset in armis. Verg. Aen. 11,42–58, vgl. Oertel (2001) 88 f.

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las. Und während in Vegios Rede Aeneas das Fehlverhalten des Turnus brandmarkt und ihm und den Latinern die alleinige Kriegsschuld zuweist, beginnt Foreests Aeneas seine Rede mit einer Würdigung des Turnus, indem er seinen einstigen Widersacher als großen Helden anspricht, der nur durch ein Zuviel an eigener Tapferkeit zu Tode gekommen sei: non te mea dextra peremit / sed tua te virtus (ET 13,29 f.). Im Folgenden malt Foreests Aeneas dann in einer Reihe hypothetischer Perioden sogar aus, wie ein alternatives Szenario ohne bewaffnete Auseinandersetzung hätte aussehen können: Hätte Turnus seine virtus mäßigen können, dann hätte Aeneas ihn sogar zum Teilhaber an seiner Herrschaft machen und seinen Ruhm mit ihm teilen können: Ausonij pars magna fores et gloria regni (ET 13,31). Viel besser wäre es gewesen, wenn er Lavinia nicht über Turnus’ Leiche, sondern aufgrund des Vertrags mit Latinus erhalten hätte: contingere debuit illa / ex pacto soceri Divisque iubentibus ipsis (ET 13,40 f.). Und schließlich wünscht sich Aeneas sogar, das Geschehene ungeschehen machen zu können: O utinam possem raptam tibi reddere vitam! (ET 13,42). Die Herausgabe von Turnus’ Leiche und Waffen, die Foreest am Ende seiner Rede ankündigt, ist wie bei Vegio ein Signal für Versöhnung und Neuanfang, doch unter veränderten Vorzeichen: Nicht mehr als großmütige Geste des Siegers, sondern als Eingeständnis eines Irrwegs und als Bestreben, das durch Kriegs-furor angerichtete Unheil zu kompensieren. Anders als Vegio, der Aeneas zum souveränen Lehrmeister der Latiner stilisiert hatte, der kraft seiner göttlichen Legitimation den Gang der Geschichte vorgeben kann, lässt Foreest Aeneas, nachdem dessen temporärer Kriegs-furor nachgelassen hat, selbst einen Erkenntnisprozess durchlaufen. Aus der Erinnerung an seinen getöteten und geschändeten Landsmann Hektor heraus zeigt Aeneas Empathie für den getöteten Widersacher und stuft die Ereignisse der zweiten Aeneis-Hälfte als dramatische Fehlentwicklung ein. Die Verursacher dieser Fehlentwicklung bleiben unbenannt, die Frage nach der Kriegsschuld unbeantwortet. Und noch etwas kommt hinzu: Wenn Aeneas seine eigene Unschuld an den Ereignissen mit den Worten invitum tibi me congressum, iamque potitum / sic thalamis sponsae (ET 13,39 f.) beteuert, so erinnert dies an die Worte, mit denen er im sechsten Buch der Aeneis seine Unschuld gegenüber Dido beteuert hatte (invitus, regina, tuo de litore cessi: Aen. 6,460 62). Zumindest auf intertextueller Ebene stellt sich hier die Frage, inwieweit Aeneas wirklich keine Verantwortung für die Entwicklungen in Latium trägt. Die Anspielung auf die unversöhnliche Dido des sechsten Aeneisbuches gibt der Überlegung Raum, inwieweit und unter welchen Umständen überhaupt eine Versöhnung zwischen Trojanern und Latinern möglich ist. In jedem Fall muss der Rezipient zu der Erkenntnis gelangen, dass die Tötung des Turnus kein Abschluss und keine Grundlage für einen Neuanfang ist, sondern dass sie bei einem grundsätzlich integren Menschen wie Aeneas allenfalls die Erkenntnis initiieren kann, dass es bessere Alternativen gegeben hätte. Diese Erkenntnis wird im weiteren Verlauf der Exequiae Turni einen Prozess in Gang setzen, der über viele Stufen und

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Dies ist der einzige Beleg für invitus an der Versspitze in der Aeneis.

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nicht ohne Rückschläge zum Frieden und somit zu einem tatsächlichen Abschluss führt. Foreests Supplement profiliert sich so bereits mit seiner ersten Szene für Protagonisten und Rezipienten als Studie darüber, wie langwierig der Weg vom furor des Krieges zum Frieden ist und wie schwierig es sein wird, die im Krieg geschlagenen Wunden zu heilen – ein Anliegen, das sein gesamtes Gedicht durchzieht und wohl auch die aktuelle Situation um 1648, dem Jahr des Westfälischen Friedens, spiegelt. 63 Einen vollkommen anderen Weg als Vegio und Foreest beschreitet Simonet de Villeneuve (Villanova) in dem jüngsten der drei betrachteten Vergil-Supplemente, dem 1698 gedruckten Aeneidos decimus tertius liber. Mit nur sechzehn Versen ist die Eingangsszene dieses Supplements erheblich kürzer als die beiden zuvor besprochenen. Zwei Dinge fallen bei ihrer Betrachtung unmittelbar ins Auge. Die Situation, mit der Villeneuve sein 13. Buch beginnen lässt, ist dieselbe wie in den Fortsetzungen von Vegio und Foreest. Ohne Proömium zeigt das Supplement wiederum Aeneas an der Leiche des Turnus, indem es kurz noch einmal den Schluss des zwölften Buches rekapituliert: Viderat Aeneas Turnum jam Marte secundo / sanguine rorantem Stygiasque innasse paludes (1 f.). Thema der Eröffnungsszene von Villeneuves Supplement ist, ähnlich wie bei Vegio und Foreest, die Frage, was mit der Leiche des Turnus geschehen soll. Die Ausrichtung der Szene ist jedoch vollkommen anders. Die Kriegsschuld sowie die Frage, ob Turnus verdientermaßen zu Tode gekommen sei, spielt bei Villanova ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob oder wie sein Tod zu rechtfertigen ist; eine zentrale Unbestimmtheitsstelle der Aeneis bleibt somit offen. Überhaupt scheint Villanova den Anschluss an das Ende des zwölften Buches geradezu zu verweigern. Sein Aeneas wirkt an den Ereignissen merkwürdig unbeteiligt. Bereits das Verbum viderat, mit dem Villeneuve das Supplement eröffnet, distanziert ihn vom Geschehen. Aeneas ist nicht mehr Akteur, sondern nur noch passiver Betrachter. Seine Haltung ist gänzlich unemotional. Die Gerundivkonstruktion mactandus dextra Turnus (5) entpersonalisiert die Ereignisse. Turnus musste sterben. Weshalb und unter welchen Umständen er zu Tode kam, wird nicht gesagt; mactandus deutet auf einen diffusen höheren Plan, der jedoch nicht explizit gemacht wird. Auch sonst konterkariert das Verhalten von Villeneuves Aeneas das der Aeneas-Figuren von Foreest und Vegio. Anstatt sich als souveräner Held zu profilieren, der über weitere Aktionen autark entscheidet, vertraut Villeneuves Aeneas auf Hilfe von außen. Er lässt Ascanius und die Trojaner herbeiholen, um ihnen mitzuteilen, dass er unentschlossen sei, was mit Turnus’ Leiche zu geschehen habe: 64 vario mens fluctuat aestu . . . lecta stipante caterva / reddamus Rutulis? 63 64

Vgl. zu den aktuellen Bezügen des Supplements Oertel (2001) 72–9. Der Kontrast zum Beginn des 11. Buches (11,12–28), den Oertel (2001) 159, als Vorbild für den Beginn von Villanovas Supplement anführt, könnte nicht größer sein: Hier erscheint der Held nach seinem Sieg über Mezentius nicht unsicher, sondern triumphierend; er trifft die Anordnungen und verfügt, was als nächstes zu geschehen habe, ohne seine Gefährten nach ihrer Meinung zu fragen.

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Mandemus corpora terrae? (3–7). Die Wendung fluctuat aestu ist in der Aeneis insgesamt dreimal belegt. 65 Sie bezieht sich auf den verzweifelten Zorn der von Aeneas verlassenen Dido (irarum fluctuat aestu: Aen. 4,532), dann auf Aeneas, der zunächst angesichts des drohenden Krieges in Latium von Unsicherheit gequält wird (magno curarum fluctuat aestu: Aen. 8,19). Die Formulierung vario . . . fluctuat aestu, die Villanova verwendet, findet sich allein im zwölften Buch (12,486); auch hier ist sie auf Aeneas bezogen, der des von Iuturna entführten Turnus nicht habhaft werden kann. Der Versschluss fluctuat aestu begegnet in der Aeneis also stets in der Autorenrede und wird verwendet, um die Verzweiflung des Protagonisten in einer ernsten, objektiv schwierigen Situation zu beschreiben. In Villanovas Supplement hingegen ist die Wendung Teil der Figurenrede des Aeneas. Dieser artikuliert somit vor seinem Sohn und den Trojanern ein Gefühl, das in der Aeneis dem Rezipienten vom allwissenden Erzähler mitgeteilt worden war. Dabei ist die Situation am Beginn des Supplements mit den Situationen in der Aeneis nicht vergleichbar: Von dem toten Widersacher geht keine Gefahr mehr aus. Auch das Problem, vor dem Aeneas steht (soll man Turnus’ Leiche zurückgeben oder vor Ort bestatten?), ist zwar für den weiteren Handlungsverlauf interessant, wirkt aber im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die die Protagonisten des vergilischen Epos in Unruhe versetzt hatten, eher wie ein Luxusproblem. Villanovas Aeneas erscheint so bereits zu Beginn des Supplements als schwache Persönlichkeit, die, nachdem das Ziel ihrer Mission endlich erreicht ist, nicht zu entscheiden vermag, wie sie mit ihrem Sieg umgehen soll. Doch damit nicht genug: Nachdem im Folgenden Ascanius das Wort ergriffen und den Vorschlag gemacht hat, dem Toten zuerst die gebührenden Ehren zu erweisen und ihn dann den Rutulern zurückzugeben, antwortet Aeneas ihm, dass dies doch eigentlich genau das sei, was er sich auch schon gedacht habe: quam tua dicta juvant, animus venit omnibus idem! (16). Diese Aussage ist vollends dazu angetan, den Rezipienten zu verunsichern, denn ihr Informationsgehalt ist nicht einzuordnen. Hat Aeneas seine Gefährten tatsächlich befragt, um Konsensualität herzustellen, oder versucht er, seine eigene Schwäche zu kaschieren, indem er Konsensualität vorgibt? 66 Man weiß es nicht. Aeneas wirkt also in der ersten Szene von Villanovas Supplement weniger wie ein strahlender Held denn wie die Karikatur eines Helden, wenn er sich in einer Frage, die die Aeneas-Figuren früherer Supplemente ohne Zögern selbst entschieden hatten, von seinem Sohn beraten lässt und anschließend versucht, seine Schwäche durch Konsensualität zu überspielen. Doch auch Villanovas Ascanius ist 65 66

Belege nach: Library of Latin Texts, online (Brepols). Man fühlt sich an die japanische Zeichentrick-Serie Wickie und die starken Männer (Chiisana Baikingu Bikke, 1972–1974) nach dem Kinderbuch Vicke Viking von Runer Jonsson erinnert: Dort geraten die Wikinger regelmäßig in schwierige, oftmals auch gefährliche Situationen, aus denen sie sich nur durch die Kreativität und den Einfallsreichtum des kleinen Wickie befreien können. Und ebenso regelmäßig weist Wickies beschränkter Vater Halvar, nachdem er den Rat seines Sohnes Wickie eingeholt hat, darauf hin, dass er selber schon einen ähnlichen Gedanken gehabt habe.

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eine ambivalente Figur: Zwar spricht er seinen Vater mit großem Respekt als dux maxime Teucrum (9) an. Angesichts der Tatsache, dass Aeneas sich zuvor gerade nicht als dux maximus erwiesen hatte, wirkt diese Anrede aber merkwürdig deplatziert. Ascanius bescheinigt seinem Vater weiterhin große pietas (10) und deorum / relligio (10 f.) und ruft so die Bezeichnung des Aeneas als insignem pietate virum zu Beginn der Aeneis auf (Aen. 1,10). Der Rat, den er seinem Vater erteilt, widerspricht nicht den Geboten der pietas: Man soll dem Toten zunächst die gebührenden Ehren erweisen und dann beschließen, ihn den Rutulern zurückzugeben. Dann jedoch stellt sich heraus, dass Ascanius mit seiner Empfehlung durchaus utilitaristische Hintergedanken verbindet: Die ehrenvolle Behandlung von Turnus’ Leichnam, so führt er nämlich aus, werde die Manen besänftigen, die ob des vergossenen Blutes zürnen: hac pietate tua flectentur sanguine Manes (13). Dass es nicht eben ein Beweis von pietas ist, dass der pius Aeneas dies nicht selbst bedenkt, sei nur am Rande bemerkt. Vor allem wird Turnus’ Bestattung den Ruhm von Aeneas’ pietas bei seinen Nachkommen festigen und so zu seinem Nachruhm beitragen: hoc pietatis opus tollent ad sydera nati (14). Gerade in seiner pointierten Schlussstellung zeigt dieses Argument, wie wichtig für Aeneas und Ascanius die Imagepflege zu sein scheint: Mehr noch als um pietas geht es darum, die Tradierung der pietas zu gewährleisten. Villanova führt also bereits in der ersten Szene seines Supplements zwei Protagonisten vor, die sämtliche Erwartungen unterlaufen, die man sowohl nach der Aeneis-Lektüre als auch nach der Lektüre von Vegios Aeneis-Supplement an sie stellt. 67 Wie hat man diese offensichtlichen Inkonsistenzen zu erklären? Die Beurteilung des Supplements wird dadurch erschwert, dass über die Person Villanovas und den Entstehungskontext des Gedichts nur wenig bekannt ist. 68 Hans-Ludwig Oertel sieht in dem Liber decimus tertius einen Beitrag zur ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. 69 Er zeigt, wie Villanova in dem Supplement die Kritik aufgreift, die Perrault in seinen Parallèles des anciens et des modernes en ce qui regarde les Arts et les sciences, die zwischen 1688 und 1697 erschienen, an der Aeneis geübt hatte. 70 Villanova vertrete die ›Modernes‹ aber auch insofern, als er »typische Themen der barocken Dichtung vorführen [. . . ] und – nicht zuletzt – auf Zeitfragen anspielen« wollte. 71 Gewiss verweisen die zahlreichen Anachronsimen, wie die Beschreibung eines Banketts mit Feuerwerk, auf Villanovas eigene Zeit. Interessanter sind jedoch die Anspielungen auf Zeitfragen, die Oertel in dem Supplement vermutet. Da es Philipp, dem Herzog von Orleans und Bruder von 67

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Kern (1896) 34 zieht in Betracht, »das Supplement als eine Satire auf die Perraultsche Richtung« anzusehen, doch werde dies durch die »ernst gemeinten Worte der Einleitung« verhindert. Vgl. Oertel (2001) 117; Schindler (2016) 39 f. Vgl. Oertel (2001) 122. Vgl. Oertel (2001) 138. Oertel (2001) 137. Zum Verhältnis des Supplements zur ›Querelle‹ vgl. Schindler (2016) 50–2.

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Ludwig XIV. gewidmet ist, wirft Oertel die Frage auf, ob es sich bei dem Gedicht möglicherweise um einen Schlüsselroman handelt, in dem unter einer antiken Maskierung Personen der Zeit gerühmt oder kritisiert werden. 72 Wenngleich diese These insofern zu modifizieren ist, als die von Oertel vorgeschlagene Identifizierung der Supplement-Protagonisten mit zeitgenössischen Persönlichkeiten nicht aufgeht, 73 so ist es aber keinesfalls ausgeschlossen, bereits den Beginn von Villanovas Supplement als eine Art Zerrspiegel absolutistischer Amtsführung zu lesen, bei der die eigene Repräsentation wichtiger ist als die Belange des Staates und der Herrscher zwar als dux maximus firmiert, in seinen Entscheidungen aber komplett von seinen Beratern abhängt, die wiederum in ihren Vorschlägen den Willen des Herrschers zu ahnen versuchen. Auch wenn diese Interpretation nicht beweisbar ist, so erweist doch die Eingangsszene bereits Villanovas Supplement als das innovativste und kühnste der drei Aeneis-Supplemente, da es die Unbestimmtheitsstellen der Aeneis ganz bewusst entweder überhaupt nicht oder in einer dezidiert unvergilischen Art und Weise auffüllt.

Mehrfach zitierte Literatur 1) Texte Oertel, Hans-Ludwig: Die Aeneissupplemente des Jan van Foreest und des C. Simonet de Villeneuve (Noctes Neolatinae 1), Hildesheim al. 2001. Maffeo Vegio, Short Epics, ed. and translated by Michael C. J. Putnam, with James Hankins, Cambridge Mass.; London 2004. Schneider, Bernd: Das Aeneis-Supplement des Maffeo Vegio, Weinheim 1985.

2) Kommentare, Sekundärliteratur Buckley, Emma: Ending the Aeneid: Closure and Continuation in Maffeo Vegio’s Supplementum, Vergilius 52, 2006, 108–37. Cox-Brinton, Anne: Maphaeus Vegius and his Thirteenth Book of the Aeneid. A Chapter of Vergil in the Renaissance, Stanford 1930. De la Cerda, Juan Luis: P. Vergilii Maronis Bucolica et Georgica, argumentis, explicationibus, notis illustrata, auctore Io. Ludovico de la Cerda Toletano, Bd. 3, Lyon 1617. Freund, Stefan: Der Tod des Turnus und Homer. Überlegungen zum Schluss von Vergils Aeneis, in: Vergil und das antike Epos. Festschrift für Hans Jürgen Tschiedel. In Verbindung mit Volker M. Strocka und Raban von Haehling hrsg. von Stefan Freund und Meinolf Vielberg (Altertumswissenschaftliches Kolloquium. Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben 20), Stuttgart 2008, 67–84. Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968. Kallendorf, Craig: In Praise of Aeneas. Virgil and Epideictic Rhetoric in the Early Italian Renaissance, Hanover; London 1989. 72 73

Vgl. Oertel (2001) 144 f. Vgl. Schindler (2016) 54–8.

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Kern, Hans: Supplemente zur Aeneis aus dem 15. und 17. Jahrhundert, Beilage zum Jahresberichte des K. Neuen Gymnasiums in Nürnberg für das Schuljahr 1895/96, Nürnberg 1896. Klüppelholz, Heinz: Die Innovation als Imitation. Zu Fortsetzungen französischer Romane des 18. Jahrhunderts (Analecta Romanica 54), Frankfurt a.M. 1995. Nowak, Helge: Completeness is all. Fortsetzungen und andere Weiterführungen britischer Romane als Beispiel zeitübergreifender und interkultureller Rezeption (Sprache und Literatur. Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik 39), Frankfurt a.M. al. 1994. O’Hara, James J.: The Unfinished Aeneid?, in: Joseph Farrell/Michael C. J. Putnam (eds.): A Companion to Vergil’s Aeneid and Its Tradition, Malden; Oxford 2010, 96–106. Schindler, Claudia: Das Aeneis-Supplement des Claude Simonet de Villeneuve – ein AntiSupplement?, in: Martin Korenjak/Simon Zuenelli (Hgg.): Supplemente antiker Literatur (Pontes VIII), Freiburg i.Br.; Berlin; Wien 2016, 39–58. Schmidt, Paul Gerhard: Neulateinische Supplemente zur Aeneis. Mit einer Edition der Exsequiae Turni des Jan van Forest, in: Jospeh Ijsewijn/Eckhard Keßler (eds.): Acta conventus Neo-Latini Lovaniensis, Proceedings of the First International Congress of Neo-Latin Studies, Louvain 1971 (= Humanistische Bibliothek I 20), München 1973, 517–55. Suerbaum, Werner: Vergils Aeneis. Beiträge zu ihrer Rezeption in Gegenwart und Geschichte (Auxilia), Bamberg 1981. Thomas, Richard F.: Virgil and the Augustan Reception, Cambridge 2001.

Carla Piccone (Göttingen, Torino)

Quid primum . . . canam quaeve ultima narrem? Riflessioni sulla struttura della Felsinais di Marco Girolamo Vida

Nel suo Iter italicum Paul Oskar Kristeller si sofferma brevemente sul manoscritto vaticano Chig. J. VI. 232 e, dopo averlo datato al XVI sec., ci informa del fatto che esso riporta una storia di Bologna in sei libri 1 priva di alcune pagine corrispondenti all’inizio e alla fine di ogni libro, tagliate da una mano sconosciuta in un’epoca per noi impossibile da definire. I danni subiti dal codice ricordati da Kristeller hanno fatto sì che siano andati irrimediabilmente perduti l’indicazione del titolo dell’opera in esso tradita, il nome del suo autore, eventuali ragguagli sulla sua persona e l’indicazione di un possibile dedicatario del testo. L’assenza di elementi paratestuali così importanti ha fatto sì che il manoscritto in questione cadesse nell’oblio per secoli, per essere riscoperto e portato all’interesse della comunità scientifica in anni recenti da Thomas Haye. Un’analisi dell’opera riportata nel nostro codice ha permesso allo studioso di individuare il suo titolo in Felsinais e di attribuire questo scritto a Marco Girolamo Vida. 2 Al fine di collocare cronologicamente e culturalmente questa personalità, basterà in questo contesto ricordare che Vida nasce a Cremona intorno al 1485 da una nobile famiglia decaduta. 3 Dopo essersi formato a Mantova, all’epoca importante centro di studi virgiliani, 4 presso Francesco Vigilio 5, dal 1505 è di nuovo nella sua città natale, dove prende i voti e studia filosofia e teologia. Nonostante allo 1

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Per una breve descrizione del manoscritto, Paul Oskar Kristeller: Iter Italicum. A Finding List of Uncatalogued or Incompletely Catalogued Humanistic Manuscripts of the Renaissance in Italian and Other Libraries, vol. 2: Orvieto to Volterra. Vatican City, Leiden 1977, 485. A riguardo, Haye (2011) 123–38. Sulla biografia di Vida, oltre all’ampia trattazione offerta in Di Cesare (1964) 1–39, basterà qui ricordare i contributi più recenti a riguardo: Rolfes (2001) 15–25; Gardner (2009) VIII–IX; Haye (2011) 133–34; Von Contzen/Glei et alii (2013) 9–11, Pappe (2013) 9– 10. Introduttivo su questo tema Vito Salierno: Marco Gerolamo Vida. Umanista cremonese del ’500, L’Esopo 14 (1992) 44–5. Su questa figura e sul suo interesse per i classici, Franco Pignatti: Francesco da Mantova, in DBI 49 (1997) 792–93, spec. 792.

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Riflessioni sulla struttura della Felsinais di Marco Girolamo Vida

stato attuale delle nostre conoscenze non sia possibile ricostruire le sue vicende biografiche tra il 1505 e il 1509, l’allusione a specifici eventi storici contenuta nella Felsinais permette di collocare la sua composizione proprio in questo lasso di tempo, per la precisione tra il maggio del 1508 e il maggio del 1509. 6 Nel 1510 il nostro autore è certamente a Roma attivo alla corte di Giulio II, dedicatario di una Iulias andata perduta databile al 1511. 7 La presenza di Vida presso la curia romana sotto i pontificati di Leone X e di Clemente VII, negli anni di massima fioritura del Rinascimento in Vaticano, è ben attestata e a questa fase della sua vita risale la composizione delle sue opere più significative, individuate dalla critica nell’Ars poetica 8 e nella Christias, epos unanimemente ritenuto il suo capolavoro, in cui il racconto evangelico della vita di Cristo viene proposto in stile virgiliano. 9 Nel 1534 diventa vescovo di Cremona e poi di Alba, dove muore nel 1566. A pochi anni di distanza dalla sua morte, egli verrà ritenuto nostri temporis princeps poetarum da Giulio Cesare Scaligero, che lo inserirà nel canone dei migliori poetae recentiores insieme a Sannazaro, Pontano e Fracastoro 10; inoltre, l’umanista ferrarese Lilio Gregorio Giraldi arriverà a definirlo Vergilius christianus. 11 Sulla base dei dati finora raccolti, la Felsinais sembrerebbe essere un’opera giovanile di una delle personalità più significative del Rinascimento italiano, al momento ancora inedita e conseguentemente non ancora esaminata dalla critica. È nostra intenzione accostarci allo studio di questo testo, provando, dopo aver tentato di definire i concetti di »inizio« e »fine«, ad utilizzare queste idee come categorie interpretative atte ad nucleare le caratteristiche strutturali dell’opera presa in esame. Tenendo conto dei risultati così acquisiti, passeremo ad indagare se e sulla base di cosa questo scritto di Vida possa essere in qualche misura ritenuto una sorta di continuazione dell’epica antica. Prima di accostarci all’esame di questi aspetti, ci sembra necessario tratteggiare a grandi linee il contenuto della Felsinais.

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Per un esaustivo esame di questo aspetto, mi permetto di rimandare all’introduzione che precederà l’editio princeps della Felsinais a cui sto attualmente lavorando. A riguardo, Rolfes (2001) 19 con relativa bibliografia; Pappe (2013) 9. Il testo è edito e brevemente commentato da Williams (1976) e Pappe (2013). In anni recenti Gardner (2009) ha offerto una traduzione della Christias, corredandola di una breve introduzione e di un agile commento; Von Contzen, Glei et alii (2013) hanno approntato una nuova edizione critica del testo, che viene debitamente tradotto e dettagliatamente commentato. Sul canone offerto da Giulio Cesare Scaligero nella sua poetica, Walther Ludwig: Julius Caesar Scaligers Kanon neulateinischer Dichter, in: W. Ludwig (Hg.): Litterae neolatinae. Schriften zur neulateinischen Literatur (Humanistische Bibliothek, Reihe 1; Abhandlungen 35), München 1989, 220–41, spec. 224 e 231–32, da cui riporto la citazione. Girardi arriva ad ipotizzare perfino una somiglianza fisica tra Vida e Virgilio, sottolineando in questo modo la grandezza del suo contemporaneo; a riguardo, Di Cesare (1964) 1.

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Essa è costituita da circa 5400 esametri ripartiti in sei libri: il primo si apre con il racconto di un concilio, in cui la trabeata senectus di Bologna discute della triste situazione in cui versa la città, vessata da anni dal malgoverno di Giovanni Bentivoglio. Lo stesso argomento viene trattato in un dialogo tra San Pietro e Dio, che decide di inviare un messaggero a Giulio II al fine di informarlo del fatto che il suo compito sarà quello di liberare la città dal tyrannus. Il mattino successivo, durante un concilio divino, l’indovino Bromia, dopo essere caduto in trance, rivelerà le grandi gesta a cui il papa è destinato. A questo punto iniziano i preparativi per la guerra, il cui racconto trova spazio nel secondo libro. In questo contesto vengono passati in rassegna gli alleati di Giovanni Bentivoglio e quelli di Giulio II, che, una volta radunate le truppe, si dirige verso Bologna. L’andamento di questo viaggio è oggetto di narrazione nel terzo libro; in esso è inserita, inoltre, un’analessi, in cui un narratore diegetico ripercorre gli eventi che hanno portato alla conquista del potere da parte dei Bentivoglio. Dopo questo excursus riprende la narrazione del viaggio verso la città e vengono evidenziate le difficoltà legate all’attraversamento degli Appennini. La trattazione di questo tema continua nel quarto libro, in cui Giulio II organizza una gara di corsa per motivare i suoi soldati; a questo avvenimento segue la descrizione del progressivo avvicinamento delle truppe papali a Bologna. Successivamente, nel quinto libro, vengono dettagliamente ricordate le fasi dell’assedio che vede opposte truppe bolognesi e francesi, alleate del papa. Dopo la conquista della città il papa può finalmente celebrare il suo trionfo, narrato nel sesto libro della Felsinais, che termina con un invito ad intraprendere una crociata contro i Turchi. 12 L’assenza nel manoscritto vaticano dei fogli contenenti i primi e gli ultimi versi di ogni libro dell’opera vidiana non permette di condurre un’analisi a livello infratestuale della stessa 13, non consente, cioè, di verificare se nel proemio e nella conclusione del nostro testo sia ravvisabile la presenza di topoi specifici 14 e se e come tradizione e innovazione convivono in essi. Inoltre, risulta impossibile stabilire la 12

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Per un esame delle vicende narrate nella Felsinais, Von Pastor (1926) 723–25; Adriano Sorbelli: I Bentivoglio. Signori di Bologna, Bologna 1969, 135–40; De Benedictis (2004); Angela De Benedictis, Lo »stato popolare di libertà«: pratica di governo e cultura di governo, in: Ovidio Capitani (ed.): Storia di Bologna, vol. 2, Bologna 2007, 899–950, spec. 933–43; Andrea Gardi: Lineamenti della storia politica di Bologna: da Giulio II a Innocenzo X, in: Adriano Prosperi (ed.): Storia di Bologna, vol. 3, Bologna 2008, 3–59, spec. 3–7. Deduco questa possibilità ermeneutica da Fowler (1989) 82–8, da cui riprendo la terminologia. Oltre all’invocazione alle Muse, nell’esordio possono trovare spazio in testi composti tra l’Antichità e il Rinascimento una pluralità di temi, quali la rivendicazione della novità dei contenuti, la volontà di trasmettere il proprio sapere, l’indicazione del dedicatario del testo, mentre nella conclusione si ravvisano nello stesso arco di tempo la presenza di particolari formule che la segnalano; sull’invocazione alle Muse, Ernst Robert Curtius: Letteratura europea e Medioevo latino (Paperbacks Classici 1), Firenze 2002, 255–73; sulla topica dell’esordio e della conclusione, ibidem, 104–6.

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Riflessioni sulla struttura della Felsinais di Marco Girolamo Vida

tipologia di relazioni che potrebbero intercorrere l’esordio e la conclusione di ogni libro; non è, infine, possibile verificare l’esistenza di un secondo prologo né valutare le conseguenze che la sua presenza nell’opera avrebbe sia a livello strutturale che contenutistico. 15 Se volessimo ritenere la Felsinais parte di una collezione di scritti e condurre così un’analisi a livello supertestuale, 16 dovremmo rivolgere la nostra attenzione alla Iulias, presumibilmente incentrata, come l’opera vidiana da noi esaminata, sulla figura di Giulio II 17 e di pochi anni successiva ad essa. 18 Proprio per le loro caratteristiche i due testi potrebbero costituire all’interno dell’ampia produzione letteraria vidiana una piccola unità e, pertanto, lo scritto presumibilmente più recente, la Iulias, potrebbe mostrare in sezioni più o meno prominenti allusioni o riprese di quello più antico, la Felsinais. 19 Tuttavia, il fatto che in un caso non possediamo importanti sezioni di testo e la constatazione che nell’altro oggetto di analisi dovrebbe essere uno scritto andato perduto rendono impossibile un qualunque tentativo di analisi in questo senso. Queste osservazioni mosterebbero, dunque, che la Felsinais non si presta ad essere indagata servendosi dei concetti di »inizio« e »fine« colti nell’accezione di »esordio« e »conclusione« dell’intera opera o di singoli libri. Questo stato di cose ci impone, di conseguenza, di trovare altri approcci interpretativi. È ragionevole supporre che, nel momento in cui il giovane Vida si appresta a scrivere la Felsinais, influenzato dalla sua solida formazione classica e dalle sue letture, si sia posto il problema di quali criteri seguire nella stesura di un testo di ampio respiro. Egli offre una risposta compiuta a queste questioni nell’Ars poetica, composta una ventina d’anni dopo il testo oggetto della nostra analisi e pubblicata a Roma nel 1527. È, dunque, a questo scritto di carattere teorico che dovremmo rivolgere la nostra attenzione. Nel suo secondo libro Vida, pur riconoscendone la difficoltà (2,13), si propone di trattare dell’inventio e della dispositio (2,11–2). 20 Dopo aver spiegato le modalità in cui all’inizio della sua opera un poeta dovrebbe introdurre il tema da trattare 15

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Il caso più noto è rappresentato dal secondo proemio dell’Eneide (7,37–45), su cui Alessandro Fo/Filomena Giannotti (edd.): Publio Virgilio Marone, Eneide, Torino 2012, 718 con relativa bibliografia. Sul »supertextual grouping of works«, Fowler (1989) 82–4. Su Giulio II oggetto di celebrazione da parte di poeti a lui coevi, Thomas Haye: Papst Julius II. (1503–1513) als Gegenstand lateinischer Poesie. Francesco Rococciolos Iulonice und die Tradition der panegyrischen Renaissance-Epik, WS 125, 2012, 165–87, spec. 165–67. Per qualche scarna notizia sulla Iulias, Di Cesare (1964) 3 e Rolfes (2001) 19. Il caso esemplare è quello della sphragis finale delle Georgiche, il cui ultimo verso è una citazione del primo verso della prima Egloga; a riguardo, Fowler (1989) 83–84 ed Hardie (1997) 144–45. Per una panoramica sul contenuto dell’Ars poetica di Vida, Borsetto (1990) 32–54, Pappe (2013) 10–2; per una panoramica sulle ricerche condotte su questo scritto, Rolfes (2001) 11–4.

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ed essersi soffermato sull’invocazione alle Muse, il nostro autore scrive (2,51– 61): 21

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Ergo, age, quae vates servandi cura fatiget ordinis intentos operi, cum carmine aperto rem tempus narrare, loco ut disposta decenti omnia sint opere in toto nec meta laborum usque diffideat ingressibus ultima primis. Principio invigilant non expectata legenti promere suspensosque animos novitate tenere atque per ambages seriem deducere rerum nec, quacumque viam suadet res gesta, sequuntur. Plerumque a mediis arrepto tempore fari incipiunt, ubi facta vident iam carmine digna.

Partendo dal presupposto che sia necessario trovare una dispositio adatta e sostenendo che l’inizio della vicenda narrata non deve mai essere in contraddizione con la sua fine, Vida cerca di chiarire come realizzare all’atto pratico questi principi. 22 Prendendo le mosse da concetti di evidente derivazione oraziana (Ars, 143–50) ben noti in epoca rinascimentale, 23 il nostro poeta consiglia di inserire nella narrazione degli eventi ambages al fine di dare al lettore l’impressione di una fine imminente, destinata invece ad essere continuamente procrastinata. 24 Questo modus operandi ha sul fruitore dell’opera letteraria l’effetto di suspendere animos, circostanza che lo porterà a non abbandonare la lettura e a portarla fino in fondo. 25 Stando a quanto emerge da questi versi, un testo letterario dovrebbe essere costituito da più episodi, che presentano a livello narrativo un inizio, uno sviluppo e una fine. Essi dovrebbero essere combinati ed intrecciati l’uno all’altro in modo tale da formare una composizione, il cui inizio e la cui fine non devono risultare in contraddizione l’uno con l’altra. In questo modo essa risulterebbe essere una costruzione coerente ed unitaria, al contempo in grado di generare attesa nel lettore, tenendo così alta la sua attenzione. A questo punto, tendendo presente il fatto che intendiamo riferire i concetti di »inizio« e »fine« all’avvio e alla conclusione di singoli episodi che compongono 21 22 23

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Riporto, con qualche modifica nell’interpunzione, il testo dell’edizione dell’Ars poetica pubblicato da Pappe (2013). Su questi versi, Leroux (2008) 280–81. Già Orazio sulla scorta dell’Iliade e dell’Eneide consiglia nella sua Ars Poetica (146– 50) di iniziare un testo letterario con il racconto in medias res delle vicende narrate ed evidenzia la necessità di coinvolgere il lettore; per un esame di questi versi, Charles Oscar Brink (ed.): Horace, On Poetry, Cambridge 1971, 216; Cave (1990) 211–12; Leroux (2008) 272–74. Per alcuni cenni relativi ai commenti all’Ars oraziana composti a cavallo tra XV e XVI sec., Blänsdorf (1980) 99–100 con relativa bibliografia. Vida chiarisce ulteriormente questo concetto, paragonando nella sua Ars poetica (2,64– 73) la lettura di un testo letterario ad un lungo viaggio in mare. Sul concetto di suspendere animos in Orazio, Quintiliano e Vida, Cave (1990) 211–14.

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un testo letterario, spostiamo nuovamente la nostra attenzione sulla Felsinais, concentrandoci sul suo macrotesto. I primi due libri dell’opera vidiana ripercorrono gli avvenimenti che hanno portato il papa a muovere guerra contro i Bentivoglio e presentano gli eserciti coinvolti in queste vicende; il terzo e il quarto sono incentrati sul racconto del viaggio che porta le truppe papali da Roma a Bologna; infine, gli ultimi due sono dedicati al racconto delle battaglie vere e proprie e al successivo trionfo di Giulio II. Come mostra lo schema sottostante, la Felsinais risulterebbe organizzata in tre sequenze dell’estensione di due libri ciascuna, a cui sulla base del contenuto potremmo attribuire i titoli di »preparazione della guerra«, »esercito in movimento«, »svolgimento della guerra«.

Ognuna delle tre sequenze individuate contiene, dunque, il racconto di tre diverse azioni iniziate e concluse. Inoltre, la loro successione rende conto dell’ordine cronologico in cui gli eventi si sono svolti; pertanto, questa prima ripartizione dei libri della Felsinais fornirebbe quello che viene definito tempo della storia. Il primo libro, dedicato al racconto del malgoverno dei Bentivoglio e alla rappresentazione delle preoccupazioni che esso genera in cielo e sulla terra, sembra trovare una continuazione e conclusione nel quarto, in cui vengono tratteggiate le primissime fasi della battaglia sotto le mura di Bologna, intese quale conseguenza delle scellerate azioni politiche della famiglia in essa dominante; la presentazione delle truppe di entrambe le parti contenuta nel secondo libro va a completarsi e a concludersi nel quinto, in cui vediamo gli eserciti in azione; infine, se il terzo libro narra il viaggio delle truppe papali verso la città emiliana è il sesto che chiarisce con la rappresentazione di Bologna conquistata e pacificata e con il racconto del trionfo papale per le sue strade le sue conseguenze. Come mostra lo schema seguente, questa seconda ripartizione del testo è costituita, come la precedente, da tre coppie di libri, il cui contenuto potrebbe essere riassunto dalle formule »antefatto – inizio della guerra«; »presentazione degli eserciti – battaglia«; »viaggio – conquista di Bologna«:

In questo modo ognuna delle tre coppie presenta nello spazio di due libri la causa di un’azione e il suo effetto. Pertanto, anche in questo caso ogni coppia di libri presenta vicende ben definite, di cui è facilmente individuabile a livello narrativo un inizio e una fine. Gli antefatti relativi alla guerra contro Bologna narrati nel primo libro della Felsinais trovano, inoltre, il loro completamento nel racconto del trionfo papale nel sesto; gli avvenimenti raccontati nel secondo, abbiamo visto, trovano la loro

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naturale conclusione in quelli contenuti nel quinto ed, infine, l’intero racconto del viaggio delle truppe papali da Roma a Bologna è riferito nel terzo e nel quarto libro. Anche in questo caso, la Felsinais risulta ripartita in tre coppie di libri, che sembrano organizzarsi intorno a tre nuclei tematici, individuabili, come mostra la seguente tabella, in »causa – effetto della guerra«, »svolgimento della guerra«, »viaggio«.

Alla base di questa ripartizione ci sarebbe l’opposizione tra azioni in potentia, contenute nella prima triade, e azioni in actu, oggetto di narrazione nella seconda. Pertanto, sembrerebbe che Vida introduca una varietà di episodi nella prima parte dell’opera, per poi portarli a conclusione nella seconda. Sulla base di queste osservazioni, la Felsinais si configurerebbe, dunque, come una Ringkomposition ed è proprio il riconoscimento di questa struttura nel testo ad evidenziare il fatto che i libri 1–6 e 2–5 trattano tematiche propriamente guerresche o ad esse strettamente legate; proprio per gli argomenti in essi trattati, potremmo definire questi libri iliadici. Al centro dell’opera è collocata, invece, la coppia di libri 3–4, dedicata, come abbiamo visto, al racconto di un viaggio, nel cui ambito trovano spazio l’organizzazione di una gara di corsa e un’analessi, in cui un narratore diegetico ripercorre le vicende a seguito delle quali i Bentivoglio sono saliti al potere a Bologna. Questi elementi non possono che richiamare alla mente noti episodi narrati nei primi sei libri dell’Eneide e prima ancora nell’Odissea. Proprio per queste caratteristiche potremmo definire questa sezione, collocata al centro dell’intera Felsinais, odissiaca. Le strutture individuate all’interno del testo vidiano esaminato evidenziano, dunque, che nello sviluppo di alcuni episodi importanti nella sua economia, nell’individuazione di rapporti di causa – effetto degli avvenimenti narrati, nella presentazione di azioni prima in potentia e poi in actu sono ben individuabili una fase iniziale ed una fase finale introdotte e portate a conclusione non in un unico libro, bensì in punti diversi dell’opera. La Felsinais sembra essere costituita, pertanto, da più filoni tematici che, come fili intrecciati, si avviluppano l’uno con l’altro, rappresentando così nella loro diversità uno specifico aspetto di un tema comune, individuabile nel nostro caso in »guerra di Giulio II contro Bologna«. Disponendo la materia nelle modalità finora descritte, Vida offre una sua organizzazione per ambages, con la conseguenza di ritardare la conclusione e di generare una suspensio animi nel suo lettore. Inoltre, in questa sua varietà tematica l’opera

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non mostra contraddizioni interne, presenta la risoluzione di tutti i conflitti e nulla sembrerebbe essere stato lasciato in sospeso. 26 In virtù di queste caratteristiche la Felsinais risulterebbe dunque essere un testo coerente ed unitario. Vida, lettore di Virgilio fin dall’infanzia, potrebbe aver dedotto quest’organizzazione della materia per ambages dall’Eneide, in cui la critica ha da lungo tempo identificato strutture molto simili a quelle descritte. 27 Inoltre, il fatto che il nostro autore condensi i dodici libri che costituiscono il poema virgiliano in sei, in cui sono ben riconoscibili una parte iliadica ed una parte odissiaca, lascia supporre che egli si rapportasse al testo antico così come Virgilio si era rapportato nella composizione del suo epos ai poemi omerici. Vida sembrerebbe, dunque, consapevolmente operare come una sorta di novus Vergilius, concordemente con il gusto dell’epoca che faceva del poeta antico non solo un modello insuperato di stile e di decorum, ma anche oggetto di venerazione. 28 Questo atteggiamento nei confronti della poesia virgiliana si traduce nella Felsinais da un lato nell’organizzazione macrostrutturale, dall’altro nella ripresa di singoli episodi, che vengono estrapolati dal loro contesto originario ed adattati al racconto di vicende contemporanee al poeta, in cui personalità a lui ben note assurgono al ruolo di protagonisti. Per queste sue caratteristiche l’opera vidiana rientra a buon diritto in quell’ampia produzione coeva afferente al genere epico, 29 in gran parte inedita, che nasce dalla necessità del poeta umanistico di avvicinarsi a chi è in grado di garantire la propria sussistenza e, quindi, ai detentori del potere, che vengono così celebrati in questi testi a tema storico, in cui è ravvisabile una forte componente panegirica. 30

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Per una definizione del concetto di »closure«, Fowler (1989) 78. Sulla struttura dell’Eneide rimangono ancora valide le affermazioni di Richard Heinze: Virgils epische Technik, 5 1972, 436–41 e 446–58, su cui Worstbrock (1963) 69–73; cfr., inoltre, ibidem, 33–69; Coleiro (1983), 76–93; Hardie (1997) 142–51. Sulla ricezione di Virgilio tra il XIV e inizio del XVI sec., Worstbrock (1963) 11–6; David Scott Wilson-Okamura: Virgil in the Renaissance, Cambridge 2010, spec. 124– 34; su Virgilio in quanto rappresentante di una felix aetas destinata alla degenerazione e sulla teoria vidiana della letteratura, Di Cesare (1964) 40–86; Borsetto (1990) 34–7; Rolfes (2001) 153–64; Pappe (2013) 18–21. Per una panoramica sul genere epico in epoca rinascimentale, J. Ijsewijn: Companion to Neo-Latin Studies, vol. 2: Literary, Linguistic, Philological and Editorial Questions, Leuven 2 1998, 24–37; Heinz Hofmann: Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur, in: Jörg Rüpke (Hg.): Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 4), Stuttgart 2001, 130–82; cfr. anche Siegmar Döpp: Claudian und die lateinische Epik zwischen 1300 und 1600, Res publica litterarum 12 (1989) 39– 50. Sulla produzione epica di Vida e sulle diverse fasi in essa individuabili, Von Contzen, Glei et alii (2013) 15–23. Le dinamiche esistenti in età rinascimentale tra poeta e mecenate nel XVI sec. sono ben indagate in Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien, N.F. 4), Köln 2003, spec. 23–35; 38–90.

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A distanza di una ventina d’anni dalla composizione della Felsinais, Vida si servirà delle strutture ora descritte per offrire una narrazione della vita di Cristo nei sei libri della Christias; 31 contemporaneamente alla stesura di quest’opera egli si dedica alla composizione dell’Ars poetica, in cui sembra teorizzare quanto via via va sperimentando a livello pratico nel suo epos biblico. In questo sforzo di teorizzazione l’autore fa propri molti principi esposti da Orazio nell’Ars poetica, illustrandoli con esempi tratti dall’Eneide, concordemente con l’uso di alcuni commenti al testo oraziano a lui contemporanei, certamente a lui noti già negli anni della sua formazione. 32 Questo stato di cose lascerebbe supporre che Vida fin dalla gioventù avesse elaborato sulla base dei suoi studi e delle sue letture una serie di regole e di principi da seguire nella stesura di un testo epico, che avrebbero trovato una loro prima realizzazione pratica nella Felsinais. Nel corso degli anni Vida sembra non abbandonare la riflessione su queste tematiche, che mostrerà i suoi frutti più maturi e meglio riusciti nella Christias e nell’Ars poetica. Questa nostra ricostruzione mostrerebbe, dunque, che il nostro autore dopo una prova poetica giovanile ha continuato nei venti anni successivi a meditare su certe questioni ed idee, evidenziando, per quanto allo stato attuale delle ricerche possiamo valutare, una certa linearità nello sviluppo della concezione del testo poetico. Rivolgiamo nuovamente la nostra attenzione alla Felsinais e per la precisione ai personaggi che agiscono in essa. Un’analisi del suo contenuto evidenzia che le azioni in essa narrate sono costruite da un lato attorno agli eserciti coinvolti nella guerra, protagonisti indiscussi del secondo e del quinto libro, 33 dall’altro intorno alla figura di Giulio II, che compare, assumendo un ruolo di primo piano, nel primo libro, nell’intera sezione odissiaca del nostro testo e nella sua conclu-

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Per un esame della struttura della Christias, Von Contzen, Glei et alii (2013) 24–33, spec. 30–3. Questo procedimento sembrerebbe essere riconoscibile nel commento ad Orazio di Antonio Mancinelli, che ha goduto, a seguito della sua pubblicazione avvenuta nel 1493, di un’ampia diffusione; su questo aspetto, Blänsdorf (1980) 99–100. Allo stato attuale delle ricerche i rapporti tra Ars poetica e testi epici vidiani sono stati indagati dalla critica in maniera assai marginale. Solo studi futuri su questo tema potranno definire meglio le relazioni tra le diverse opere vidiane. Il secondo libro della Felsinais contiene un vero e proprio catalogo degli alleati del papa, che offre a Vida l’occasione per introdurre una dotta ekphrasis sulle città dell’Italia centrale che all’inizio del Cinquecento appartenevano allo Stato della Chiesa. Ad esso va a contrapporsi la rappresentazione degli alleati del tyrannus Bentivoglio, descritti come montanari rozzi e contadini intellettualmente limitati che, senza alcuna preparazione militare, si improvvisano soldati. Inoltre, sempre nel secondo libro, due dei figli di Giovanni Bentivoglio, Annibale ed Ermes, per ingannare l’attesa che precede l’arrivo delle truppe papali, inscenano una finta guerra sotto le mura delle città, descritta nei minimi dettagli non senza una certa ironia. A questa finta guerra si oppone quella vera, narrata con dovizia di dettagli nel quinto libro. Mi propongo di trattare esaurientemente questi temi in un prossimo contributo.

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sione. Pertanto, la scelta del nostro autore di collocare il personaggio del papa in sezioni prominenti della sua opera può essere letto come l’intento di sottolinearne l’importanza.

Sulla base di questa premessa, è ora nostra intenzione concentrarci sulla figura di Giulio II, al fine di chiarire se la Felsinais possa essere considerata una sorta di continuazione dell’Eneide. Nel primo libro, durante un concilio divino, compare Bromia, [. . . ] obscuro nomine vates, / interpres superum et venturi praescius aevi (Fels. 1,281–82) e a lui Dio chiede di superum clausas recludere mentes (1,290) e di rivelargli gli avvenimenti del prossimo futuro (1,291–92). Di fronte a questa richiesta l’indovino va in trance 34 e si esprime in questi termini (1,288–90): Ingentem video super arva ligustica quercum surgere, paulatimque novas attollere frondes.

La menzione della quercia contenuta in questi versi allude allo stemma dei Della Rovere, su cui è rappresentato, con evidente richiamo al nome della famiglia in questione, proprio questo albero. 35 Inoltre, il fatto che la quercus menzionata dall’indovino si trovi su arva ligustrica, su »campi liguri«, sembra alludere ad Albissola, la città della Liguria in cui Giulio II è nato. La descrizione della visione continua in questi termini (1,315–21): Ecce autem – rapite arma, viri! – descendit ab alto vertice Dardanias fracturus cuspide turres, sed nusquam galeam video, non exit in auras fraxinus et nullo pectus thorace tenetur. Tergeminum diadema caput, tegit alba capillos vitta, piae sua signa cruces.

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Questa circostanza non può non richiamare alla memoria il trance della Sibilla descritto nel sesto libro dell’Eneide. L’analisi comparata di Fels. 1,293–302 e di Verg. Aen. 6,45– 51 non ha evidenziato nessuna ripresa letterale del testo virgiliano. Tuttavia, mentre nell’Eneide la Sibilla va in trance e rivela ad Enea il destino che aspetta lui e la sua stirpe, nella Felsinais troviamo un indovino che svela le grandi azioni a cui il papa è destinato. La somiglianza contenutistica tra i due passi lascerebbe supporre che Vida abbia rielaborato in questo contesto un’immagine che un dotto lettore della sua epoca avrebbe potuto facilmente associare al passo virgiliano. L’immagine della quercia riferita alla figura di Giulio II è ben attestata anche in molti versi composti a sostegno o a sfavore della spedizione contro Bologna; su questo aspetto, Rospocher (2007) 125–27 con relativa bibliografia.

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Bromia vede scendere dall’albero una figura destinata a grandi azioni di carattere militare, ma priva di armi: essa è dotata unicamente di bende, della tiara e di una croce. L’indovino allude, dunque, a Giulio II, che, fin dalla sua prima apparizione nella Felsinais, è associato alle tematiche della pace e della guerra, veri e propri Leitmotive nel nostro testo. Le predizioni di Bromia continuano e l’indovino rivela (1,321–24): . . . Prius arma domi, prius arma fatiga Itala perfidiamque prius disrumpe tuorum. Iam movet arma. Tremens vulsa compage laborat mundus et Adriacis ebullit Thetys in undis.

Giulio II non porterà guerra solo a Bologna, non limiterà la sua azione militare solo all’Italia, ma coinvolgerà in essa il mondo intero. In questo modo Vida, sostenendo la necessità da parte della chiesa di muovere guerra, introduce l’annoso tema della guerra giusta, strettamente connesso a quello dell’incrementum ecclesiae. 36 Bromia conclude i suoi vaticini, sostenendo che (1,382–83): Tandem bella silent, fiunt laeta ocia, rebus compositis. Mundus mansura in gaudia migrat.

Le guerre scatenate da Giulio II sarebbero, dunque, lo strumento che permette di ottenere la pace e farebbero del papa un auctor pacis: il pontefice è, dunque, guerriero e pacificatore allo stesso tempo. 37 Questa pace ritrovata è il presupposto che permette l’avvio di una nuova aurea aetas, a cui Vida allude ripetutamente nella Felsinais. Il poeta chiama, dunque, in causa un motivo letterario molto celebre e variamente declinato nel corso dei secoli 38 e lo associa alla politica espansionistica del pontefice, presentandola così come una risposta al desiderio di pace ben diffuso nella società italiana all’inizio del Cinquecento. 39 Passiamo ora ad esaminare alcuni brani tratti dal sesto libro della Felsinais. Nella sua sezione iniziale Vida si sofferma a descrivere Bologna (6,33–7): Haud secus ingentes postquam pax urbe pavores egit, Avesaeis redierunt pristina terris ocia, securas mentes et gaudia laetum vulgus habet. Cives curarum ignara voluptas ambit nec tota moeret locus ullus in urbe. 40 36 37 38

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Sul tema dell’incrementum ecclesiae, Rospocher (2007) 124. Su Giulio II guerriero e pacificatore, Rospocher (2007) 132–36. Per una panoramica sulla diffusione di questo topos, basterà in questa sede rimandare a Ernst H. Gombrich: Renaissance and Golden Age, JWCI 24, 1961, 306–9 e a Gustavo Costa: La leggenda dei secoli d’oro nella letteratura italiana, Bari 1972, che esamina le sue varie declinazioni nell’ambito della letteratura italiana dalle origini a Tasso. Sull’associazione di Giulio II all’età dell’oro, Rospocher (2007) 123–29. L’aggettivo Avesaeis, qui concordato con terris, sembrerebbe derivare dall’italiano »Avesa«, nome di un fiume che scorre nei pressi di Bologna. Pertanto, esso sarebbe da intendere nell’accezione di »relativo all’Avesa« e, dunque, per estensione »bolognese«.

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Dopo alcuni giorni di duro combattimento, la città è stata presa dalle truppe papali e finalmente la pace ha potuto fare ritorno in città. Tuttavia, in questa atmosfera idilliaca (119–21): Parietibus serras, invisi insigne tyranni, abradunt. Fulva frondosa cacumina glande auricomae tollunt tecta in sublima quercus.

Torna in questo contesto la menzione della quercia contenuta nello stemma dei Della Rovere, che, all’indomani della conquista della città da parte del papa, viene sostituita alla sega, emblema dei Bentivoglio. 41 In una Bologna pacificata che riconosce, quindi, il suo potere, il pontefice può celebrare il suo trionfo e partecipare al successivo banchetto, durante il quale il giovane Brochio, [. . . ] cava resonos testudine nervos / intendens [. . . ] digitoque pererrans / Threicias crispante fides [. . . ] (6,432–34), 42 canterà le sue lodi. In questo contesto il cantore si esprime in questi termini (6,501–3): Tu potes Ausonias armis accendere gentes et totum ingenio trahere in bella aspera mundum et non effuso reges abolere cruore.

E sostiene (6,483–84): Ferrea terrarum te praeside saecula fiunt aurea. Tu potes immites frenare tyrannos.

Il contenuto del primo passo menzionato, in cui viene nuovamente riproposto il tema dell’incrementum ecclesiae, va a completarsi e a chiarirsi nel secondo, in cui Giulio II, in quanto auctor pacis, è l’unico in grado di dare l’avvio ad una nuova aurea aetas. Quanto previsto da Bromia nel primo e quanto cantato da Brochio nell’ultimo libro della Felsinais mostrano un’evidente corrispondenza; inoltre, la loro collocazione nel testo esaminato vuole certamente sottolineare che quanto in un primo momento era stato solo previsto si è effettivamente realizzato. Vida nella sua trasposizione letteraria della guerra bolognese del 1506 interpreta, dunque, gli eventi 41 42

Sui valori simbolici e sulle implicazioni di questo modus operandi, De Benedictis (2004) 156 con relativa bibliografia. Il racconto del banchetto, durante il quale un giovane passa in rassegna le gesta di Giulio II, richiama inevitabilmente alla memoria quello narrato nel primo libro dell’Eneide (695–756), durante il quale viene siglato un patto di amicizia tra Troiani e Cartaginesi e in cui Didone, già innamorata di Enea, gli chiede di ripercorrere le vicende che ha vissuto a partire dalla caduta di Troia fino al suo arrivo sulle coste africane; per un’analisi strutturale di Verg. Aen. 1,723–56, Marco Fernandelli: Banchetto a teatro e teatro a banchetto: presenze nello Ione di Euripide nel libro I dell’Eneide, Orpheus 23, 2002, 1–28, spec. 3– 12. Una lettura comparata del racconto virgiliano e di quello vidiano ha mostrato come la loro struttura sia profondamente diversa e come, di conseguenza, il poeta rinascimentale sviluppi questo tema, già presente nell’epica classica, in maniera completamente autonoma.

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narrati, facendo propri concetti ed idee mutuati dall’ideologia propagandistica del pontificato. Lo stesso modus operandi è ben osservabile in opere di altri poeti organici al potere contemporanei al nostro autore: è il caso dell’orazione De aurea aetate dell’oratore papale Egidio da Viterbo 43 o dei panegirici di Giovanni Michele Nagonio. 44 Rivolgiamo ora la nostra attenzione alla descrizione del trionfo, a cui è dedicata una lunga sezione dell’ultimo libro della Felsinais (6,143–408). Un confronto tra le fonti storiche che si soffermano in maniera dettagliata su questo evento e quanto Vida scrive a riguardo 45 evidenzia che il poeta non ripercorre dettagliatamente le vicende, ma il suo interesse si appunta unicamente su due aspetti, identificabili nella composizione del corteo trionfale (6,161–265) 46 e nella figura del papa. Dopo aver riconosciuto la nobiltà sul volto del pontefice, il suo nobile aspetto ed averlo paragonato a Giove (272–92), il nostro poeta si esprime in questi termini (366–74): Nempe ut victor ovans non hic tua moenia lustrat, sed qualem decet ire patrem. Non nulla virorum ante triumphales series captiva iugales visitur ire. Sonant nullae post terga catenae, non regum exuviae, non praemittuntur onusto 43

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Il testo di questa orazione, preceduta da una breve presentazione del suo autore e da una panoramica sul suo contenuto, è pubblicata in John O’Malley: Fulfillment of the Christian Golden Age under Pope Julius II: Text of a Discurse of Giles of Viterbo, 1507, Traditio 25, 1969, 265–338. Sulla figura di Nagonio, Paul Gwynne: Poets and Princes. The Panegyric Poetry of Johannes Michael Nagonius (Medieval and Renaissance Court Cultures 1), Turnhout 2012; rimando, inoltre, alla sezione finale del mio Il manoscritto Torino BN F V 5 tra letteratura e potere: la costruzione della figura di Giovanni Michele Pingonio, SM 55, 2014, 759–99, spec. 790–97. Una dettagliata descrizione del trionfo è fornita sia dallo storico bolognese Fileno delle Tuate nella sua Istoria di Bologna sia dal cerimoniere del papa Paride Grassi; i due testi sono editi rispettivamente in Fortunato, Bruno (ed.): Fileno dalla Tuata, Istoria di Bologna, Bologna 2005, tomo II, 487–89 e in Frati, Luigi (ed.): Le due spedizioni militari di Giulio II tratte dal diario di Paride Grassi bolognese, maestro delle cerimonie della cappella papale, Bologna 1886, 84–96, di cui fornisce una breve sintesi Von Pastor (1924) 739–40. Ulteriori fonti storiche relative a questo evento sono elencate in Bonner Mitchell: Italian Civic Pageantry in the High Renaissance (Biblioteca di Bibliografia Italiana 89), Firenze 1979, 15–7. Per un’analisi a riguardo, De Benedictis (2004) 141–44 e Muir (2005) 269. Vida si sofferma lungamente sulla descrizione della composizione del corteo papale. Aperto da fanti e cavalieri, ad esso prendono parte anche i senatores di Bologna, seguiti da francescani, domenicani, carmelitani, certosini, geronimiti e benedettini. In questo contesto l’autore si sofferma non senza una certa ironia su una lite scoppiata tra francescani e benedettini relativamente alla posizione occupata dai rappresentanti dei due ordini nell’ambito del corteo trionfale, alludendo molto probabilmente alle dispute che per secoli li hanno contrapposti.

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quadrupedum tergo captivae pondera gazae. Verum, o si liceat, si non arcana deorum iussa vetent, cuperet veniam concedere victis et profugos revocare duces ac reddere sceptra.

Le schiere di prigionieri, le catene, le spoglie dei re e il bottino di guerra sono elementi propri del trionfo antico, i cui tratti precipui erano noti all’inizio del XVI sec. grazie alla conoscenza del trentesimo libro dei Libri ab urbe condita di Livio e per via delle rielaborazioni in chiave letteraria offerte da Petrarca nei Trionfi e da Boccaccio nell’Amorosa visione. 47 Il trionfo di Giulio II viene così collocato in un’atmosfera classicheggiante, in cui il pontefice assurge al ruolo di imperator. Ciononostante, egli rinuncia a mostrare prigionieri, catene e bottino di guerra e si mostra disponibile a perdonare i nemici di un tempo; per questi suoi atteggiamenti il papa è al contempo anche pater. In questi versi sembrano, dunque, convivere due figure: quella dell’imperator, la cui politica espansionistica è dettata dalla volontà di pacificare il mondo per dare origine ad una nuova età dell’oro, a cui va a sovrapporsi quella del pater, pronto all’esercizio della pietas nei confronti dei vinti. L’immagine di Giulio II che ci restituisce questi versi è, in sostanza, quella di un pius imperator. Il pontefice non mostra la sua pietas unicamente nei confronti dei suoi nemici, ma anche e soprattutto nei confronti delle sue truppe. Significativi in questo senso sono alcuni episodi narrati nella sezione odissiaca della Felsinais, in cui durante il difficile valico degli Appennini, egli non solo sostiene moralmente il suo esercito (4,20–7), ma decide di condividere la fatica con i suoi fanti rinunciando al cavallo (3,804); infine, superate le difficoltà, mostrerà graditudine nei confronti di quanti sono periti nell’impresa (4,205). Nei libri della Felsinais che lo riguardano, Giulio II è dunque rappresentato quale valente imperator, al contempo pius e iniziatore e fondatore di una nuova aurea aetas. Queste caratteristiche non possono che richiamare la figura di Enea così come è presentata nell’Eneide: anch’egli è guida del suo popolo, fatto ben evidente fin dalla caduta di Troia narrata nel secondo libro; è un abile guerriero, come mostra il dodicesimo libro; è il pius per antonomasia, come evidenzia il suo rispetto per gli dei e la sottomissione al loro volere che pervade tutto il testo virgiliano; infine, egli è l’auctor, l’»iniziatore«, della stirpe romana, fatto più volte predetto nel corso del

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A riguardo, Roy Strong: Art and Power. Renaissance Festivals 1450–1650, Woodbridge 1984, 44; nell’ambito dei numerosissimi studi dedicati alle caratteristiche e ai significati del trionfo rinascimentale, basterà in questa sede rimandare a Elvira Garbero Zorzi: L’ingresso trionfale e il banchetto d’onore, in: E. Garbero Zorzi/Sergio Romagnoli (edd.): Scene e figure del teatro italiano, Bologna 1985, 63–80; Maria Antonietta Visceglia: La città virtuale. Roma e le sue cerimonie in età moderna (La corte dei papi 8), Roma 2002, 17–51; Muir (2005) 252–93.

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poema (Creusa 2,776–89; Apollo 3,94–8; Anchise 5,724–39; Sibilla 6,83–97) ed effettivamente realizzato con il matrimonio con Lavinia. 48 Come è noto, Virgilio menziona espressamente Augusto in due punti del suo epos, nel sesto (792–807) e nell’ottavo libro (675–81; 712–23). Questi passi restituiscono la figura di un imperator guida del suo popolo (6,789–807 e 8,678); di un valente guerriero, come dimostra, ad esempio, la battaglia di Azio (6,794–807; 8,678–81; 714–28); di un pius, in quanto fondatore di templi (6,69–74; 8,715–19), restauratore della pace e fautore della gloria di Roma (6,794–807; 8,720–28). 49 Un dotto lettore della Felsinais all’inizio del Cinquecento avrebbe associato senza alcuna difficoltà la figura del pontefice così come viene presentata nella Felsinais con quella di Enea cantata da Virgilio, consapevole che in quest’opera l’intenzione del suo autore era quella di Augustum laudare a parentibus, come afferma Servio (Aen., prooem., p. 4,11). 50 Di conseguenza, nel poema umanistico sembra che Vida ponga sullo stesso piano tre diversi personaggi, Enea, Augusto e Giulio II, dotati delle stesse caratteristiche e rappresentanti degli stessi valori. In questa prospettiva Enea diventa il primo rappresentante della stirpe che ha fondato Roma; Augusto ha il merito di aver portato questa civiltà al colmo del suo splendore; Giulio II ha ora il compito di rifondare una nuova aurea aetas, risultando così l’erede naturale di Enea e di Augusto. In quanto tale, a lui spetta l’onore e l’onere di una renovatio imperii, concetto che la propaganda papale fa proprio e che percepisce come conseguenza dell’aurea aetas. 51 L’analisi dell’Ars poetica vidiana ha permesso di attribuire ai concetti di »inizio« e »fine« l’accezione di »avvio« e »conclusione« in riferimento ai singoli episodi che compongono un testo letterario. Partendo da questo presupposto, abbiamo considerato queste nozioni vere e proprie categorie ermeneutiche e, in quanto tali, hanno mostrato come la Felsinais sia costituita da una serie di episodi, che, nella loro diversità, costituiscono un’opera unitaria, senza contraddizioni interne e dotata di una conclusione, in cui tutte le tensioni vengono risolte e in cui nessuna questione viene lasciata aperta. Nelle modalità in cui i vari episodi che compongono il testo vidiano si intersecano tra loro e si distribuiscono all’interno dei vari libri ci è sembrato di riconoscere una forte somiglianza con le strutture che la critica ha identificato nell’Eneide, opera di cui il nostro autore per via della sua formazione può vantare una conoscenza assai approfondita. Forte, dunque, della 48 49 50

51

Su queste caratteristiche di Enea, Coleiro (1983) 81–4. Sulla sovrapposizione del personaggio di Enea con Augusto, Coleiro (1983) 81–4. Per l’edizione di riferimento del commento di Servio all’Eneide, Georg Christian Thilo (ed.): Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, vol. 1: Aeneidos librorum I–V commentarii, Leipzig 1881. Sul concetto di renovatio imperii, Rospocher (2007) 129–32, il quale evidenzia come, oltre all’associazione con le figure di Enea ed Augusto ravvisabile nella Felsinais, Giulio II fosse spesso paragonato a Giulio Cesare nei panegirici a lui dedicati dagli intellettuali che ruotavano intorno alla curia romana; questo paragone viene ripreso in chiave negativa da Erasmo da Rotterdam e da Ulrich von Hutten.

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Riflessioni sulla struttura della Felsinais di Marco Girolamo Vida

sua padronanza del poema virgiliano, Vida autore attinge alle conoscenze del Vida lettore; così facendo, il poeta rinascimentale fa ricorso alla propria memoria letteraria, dando l’avvio ad un procedimento in cui vecchio e nuovo si fondono e il nuovo assume sulla base del vecchio nuove funzioni. 52 Nell’ipotesto virgiliano l’autore della Felsinais sembra aver cercato, dunque, un tessuto di relazioni che gli permettesse di generare un analogon. Per arrivare a questo risultato è condizione necessaria che egli non si rapportasse all’Eneide come a un esemplare immutabile, ma come una sorta di matrice generativa da cui estrapolare convenzioni e norme proprie del genere; il testo virgiliano offre, quindi, la struttura generativa, da cui deriva il nostro ipertesto. 53 Come ha mostrato l’analisi relativa alla figura di Giulio II, Vida riempie la struttura della sua opera mutuata, come abbiamo visto, dall’Eneide, con il racconto di eventi a lui contemporanei, in cui il testo antico è continuamente evocato. Con questo procedimento il poema virgiliano si carica di nuovi significati e funzioni, che permettono la decodificazione del senso profondo della Felsinais. L’ideologia sottesa al poema antico sembra essere adattata da Vida ai suoi tempi e alle sue esigenze e, pertanto, la sua opera può essere ritenuta una sorta di continuazione concettuale del poema virgiliano. Da questi procedimenti di ripresa ed innovazione dell’epos virgiliano nasce, dunque, un poema di carattere storico dallo spiccato carattere panegirico, tipologia di testo che tanta fortuna conobbe tra XV e XVII sec.

Bibliografia Blänsdorf, Jürgen: Das Neue in der Kunsttheorie Gerolamo Vidas, in: Gerhard Schmidt/ Manfred Tiez (Hgg.): Stimmen der Romania. Festschrift für W. Theodor Elwert zum 70. Geburtstag, Wiesbaden 1980, 89–102. Borsetto, Luciana: Il furto di Prometeo. Imitazione e scrittura nei Poeticorum libri di Marco Girolamo Vida, in: Luciana Borsetto (ed.): Il furto di Prometeo. Imitazione, scrittura, riscrittura nel Rinascimento (Contributi e proposte 9), Alessandria 1990, 25–57. Cave, Terence: Suspendere animos: pour une histoire de la notion de suspense, in: Gisèle Mathieu-Castellani/Michel Plaisance (éds.): Les commentaires et la naissance de la critique littéraire, Paris 1990, 211–18. Coleiro, Edoardo: Tematica e struttura dell’Eneide di Virgilio, Amsterdam 1983. Conte, Gian Biagio/Barchiesi, Alessandro: Imitazione e arte allusiva. Modi e funzioni dell’intertestualità, in: Guglielmo Cavallo (ed.): Lo spazio letterario di Roma antica, vol. 1: La produzione del testo, Roma 1989, 81–114. 52

53

Sulla memoria letteraria dei poeti e sull’economicità dell’arte allusiva, Conte/Barchiesi (1989) 81–8, su cui cfr. anche Gian Biagio Conte: Memoria dei poeti e sistema letterario (La nuova diagonale 96), Palermo 2012. Sulle modalità che portano alla nascita di un nuovo testo, partendo da un »ModelloEsemplare«, Conte/Barchiesi (1989) 93–6.

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De Benedictis, Angela: Una guerra d’Italia, una resistenza di popolo. Bologna 1506, Bologna 2004. Di Cesare, Mario: Vida’s Christiad and Virgilian Epic, New York 1964. Fowler, Don P.: First Thoughts on Closure: Problem and Prospects, MD 22, 1989, 75–122. Gardner, James (ed.): Marco Girolamo Vida, Christiad (The I Tatti Renaissance Library 39), Cambridge, Mass. 2009. Hardie, Philipp: Closure in Latin Epic, in: Deborah H. Roberts/Francis M. Dunn/Don Fowler (eds.): Classical Closure. Reading the End in Greek and Latin Literature, Princeton 1997, 139–62. Haye, Thomas: Die Felsinais des Marco Girolamo Vida – Das verschollene Epos nach 500 Jahren wiederentdeckt, NLJb 13, 2011, 123–38. Leroux, Virginie: Poétique du debut, poétique de la fin de l’épopée, d’Aristote à Jules-César Scaliger, in: Bruno Bureau/Christian Nicolas (éds.): Commencer et Finir. Débuts et fins dans les littératures grecque, latine et néolatine. Actes du colloque organisé les 29 et 30 septembre 2006 par l’Université Jean Moulin-Lyon 3 et l’ENS-LHS (Collection du Centre d’études romaines et gallo-romaines. Nouvelle série 31), vol. 1, Lyon 2008, 269– 90. Muir, Edward: Ritual in Early Modern Europe (New Approaches to European History 33), Cambridge 2 2005. Pappe, Jean (ed.): Marco Girolamo Vida, De arte poetica – Poétique (Cahiers d’Humanisme et Renaissance 111), Genève 2013. Rolfes, Susanne: Die lateinische Poetik des Marco Girolamo Vida und ihre Rezeption bei Julius Caesar Scaliger (BzA 149), München 2001. Rospocher, Massimo: Propaganda e opinione pubblica: Giulio II nella comunicazione politica europea, Annali dell’Istituto storico Italo-Germanico 33, 2007, 59–99. Von Contzen, Eva/Glei, Reinhold F./Polleichtner, Wolfgang/Schulze Roberg, Michael (Hgg.): Marcus Hieronymus Vida, Christias, Bd. 1: Einleitung, Edition, Übersetzung (BAC 91), Trier 2013. Von Pastor, Ludwig: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 3: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance von der Wahl Innozenz’ VIII. bis zum Tode Julius’ II., Abt. 1, Freiburg 1926. Williams, Ralph G. (ed.): The De arte poetica of Marco Girolamo Vida, New York 1976. Worstbrock, Franz Josef: Elemente einer Poetik der Aeneis. Untersuchungen zum Gattungsstil vergilianischer Epik (Orbis antiquus 21), Münster 1963.

Index locorum Achilles Tatios 1,4,4f. 307 Anthologia Palatina 11,130,1f. 15552 , 31715 Apollonios Rhodios 1,1–22 200 1,1–4 82 1,1 28726 , 32958 1,22 82 1,23 107 1,228 107 1,278–82 12420 1,292f. 12426 1,327f. 206 1,547–58 12734 1,896f. 1206 1,901–3 201 3,1–5 285 3,79–82 286 3,286f. 286 3,296–98 286f. 3,300 286 3,1061f. 1206 3,1069–71 1206 4,413–15 208 4,1773–81 83, 185 4,1775–81 334 4,1775f. 32958 Aratos 1f. 84 14 8518 Aristoteles EN 1112b31–b32 69 1139a31–a35 69 poet. 1447b16 47 1449b36–1450a7 71 1450a25–a29 636 1450b21–b37 64f.

1450b27f. 32135 1451b6–b9 72 1451b11–b15 68 1459a17–a30 47 1459a17–a24 61f. 1459a27–b7 155 1459b31–1460a5 63 1460a5–a11 63 1462b13–b14 63 rhet. 1415a12f. 32136 Catull 5,7–13 163 6,13 163 7,1–6 164 50,16 162 51,13–6 162 64,1f. 8621 Cicero Cael. 1 2211 Catil. 1,1 22820 1,20f. 22820 div. 2,150 26029 inv. 1,20–2 2236 1,23 2212 , 2223 Mil. 3 22820 orat. 24 2237 123 2237 de orat. 2,186 2237 2,206–11 2224 2,314–25 2212 part. 30 2223 Rab. Post. 1 24575

396 Verr. 1,1–3 2223 Claudian carm. min. 53,125–28 301 rapt. Pros. 1,42–7 307 1,269–72 301 2 praef. 49–52 301 2 praef. 50–2 308 3,155–58 301f. Coripp Ioh. praef. 15f. 2239 Dracontius Orest. 958–62 295 963–74 295f. Romul. 1,1 308 8,3–6 298 8,15f. 308 8,19–23 308 8,19–21 1522 8,22–7 15f. 8,29f. 298 8,122–24 298 8,297f. 16 8,326 16f. 8,638–47 295 8,648–51 297 8,655 298 10,1–16 307 10,16–9 307 10,20–5 307 10,564–69 295 10,587–601 299f. Euripides Bacch. 10 86 12 86 229f. 8725 680–82 87 1148–52 88 Phoen. 299–317 24161 1090–92 23233

Index locorum Suppl. 113 23545 314–23 23648 334–45 23649 901–8 24472 Jan van Foreest Exequiae Turni 1–45 368–72 Hesiod cat. frg. 1,14–22 15037 theog. 1 82 22–5 32343 34 85 36 82 Homer Il. 1,1 309 2,24f. 26547 2,484–93 106f., 32342 2,651 41 5,62f. 309 6,431f. 128 6,441–46 13669 7,166 41 8,485–88 26134 8,497–541 23340 9,186–89 39 9,189 28726 22,82–9 136 22,408–11 321 24,201 73 24,203 133 24,804 1110 , 315, 318 Od. 1,4 333 1,337–39 39f. 1,351f. 40 2,337–80 136f. 6,149–54 307 8,153–55 308 8,461f. 1206 8,489f. 308 12,78 107 12,279–85 26239 20,52f. 26238

Index locorum Homerische Hymnen 2,1 82 10,45–52 152f. Horaz ars 147f. 1418 , 199 149f. 200 carm. 2,20,21–4 13568 3,25,1 21258 3,30,1 14516 3,30,6 14516 3,30,7f. 14617 Kallimachos ait. frg. 1,20 21259 4,1f. 32344 1,1–6 14412 Hec. frg. 1 86 hymn. 3,4 8518 4,4–6 8518 4,188–90 95 5,57f. 86 6,24 86 6,31f. 86 Kolluthos 8f. 30939 49–51 307 101–30 307 127 307 390 295 394 309 Lactanz inst. 5,10 3572 Livius 21,1,2 28214 21,4,6f. 26444 22,16,5–17,7 26755 23,45,4 28727 30,45 28214 Lucan 1,67–9 20f. 1,70 113

1,126 184 1,183–85 186 1,205 18552 1,699–72 113 2,656–58 26960 3,16 114 3,75f. 113 5,176–82 113 5,409f. 265 5,504–6 262 6,611 114 6,828–30 2548 7,1–6 2548 7,342–82 111f. 7,687f. 186 7,776–824 186 9,1–18 171 9,590 26237 9,949f. 18036 ; 18244 9,950 176f. 9,980–86 186 9,999 176 10,1–19 177 10,445f. 18552 10,536 183 Lucrez 4,907f. 26029 Maffeo Vegio Suppl. Aen. 1–48 364–68 Moschos Eur. 1 85 Meg. 1–3 90 60 9136 74f. 9136 88 9136 Musaios 14 300 92–8 307 135–40 307 291f. 300 329f. 300 335–43 300 342f. 295

397

398 Nonnos Dion. 15,399–416 307 24,322–24 302 24,327 302 25,1–270 302 25,8f. 308 48,1–89 307 48,974–78 295 Orphische Argonautica 9–49 297 75 297 77 297 98–100 308 103–5 297 858f. 308 1369–76 296f. Ovid met. 1,1–4 144 1,452 148 1,748–51 151 2,531–35 149 2,601f. 159 3,96–8 158f. 4,571–76 159 4,609–11 152 6,1–145 302 7,185f. 25714 8,1f. 2548 9,278f. 159 9,795 2548 10,17f. 24577 10,19f. 245 11,1–66 11 11,751–54 149 11,758 152 12,7 109 13,399–428 26 13,399–407 24f. 14,449f. 2656 15,871–79 144f. Paulus Silentiarius Hag. Soph. praef. 1–80 304 praef. 81–134 304 921–1029 304

Index locorum Ambon 1–4 304f. 297–302 305 302–4 305 Petron 115,5 199 Plinius epist. 1,20,14 221 Properz 1,6,5 12633 1,8,1–4 13253 Prudentius psych. 891f. 304 908–15 304 Quintilian inst. 4,1,16–22 2235 4,1,16 2238 4,1,33 2223 , 2224 7,10,11 1418 Quintus Smyrnaeus 1,1 314 1,1–19 316–322 1,16f. 329 4,56–61 32550 12,306–13 322–24 14,1–10 327 14,9 329 14,104 329 14,117–20 329f. 14,132 330 14,181f. 330 14,210–12 330 14,215f. 330f. 14,419–21 331 14,630f. 333 14,632–58 327–29 14,657f. 314 Rhetorica ad Herennium 1,5 2236 1,8 2223 , 2236

Index locorum Schol. Hom. Il. 24,894 315 Schol. Pers. 6,9–11 146 Seneca Ag. 53–6 2547 clem. 1,8,6 20111 Herc. f. 123f. 2547 1065–76 26030 Oed. 1–5 2547 Thy. 120f. 2547 Silius Italicus 1,1 281, 287 1,1–16 279–84 1,4f. 281 1,7f. 28214 1,13f. 28214 , 283 1,12–6 287 1,12–4 28419 1,12 280f., 283 1,14–6 281f. 1,15f. 283, 28419 1,17–20 280 1,17–9 20 1,20 19, 281 1,38–270 280 1,56 265 1,64–9 264 1,244–46 264 1,271–95 280 1,556–59 258 2,11–3 28317 3,161f. 265 3,172f. 265 4,44 265 4,88f. 2559 4,478f. 25717 4,480–82 2559 4,723f. 260 4,732 26549 5,1–58 255 5,36f. 256, 27275 5,53–6 2559 5,677f. 255, 25717

6,1–6 255 6,96f. 26030 7,135f. 266 7,154f. 26342 7,162–211 2785 7,282–87 266 7,291–93 266f. 7,302–6 267 7,329–31 267 7,341 267 7,435f. 19 7,472–75 26f. 8,207–15 26549 8,337f. 25820 8,572 25715 9,66 25612 9,178–83 2559 9,179f. 25612 9,340–53 289 9,351f. 284 10,326–71 266 10,326–33 263 10,537–39 25717 10,657f. 289 11,1–3 284 11,267–485 286f. 11,368–72 26546 11,390–92 286 11,410–82 286f. 12,387–92 116f. 12,508–10 268 12,558–61 268f. 12,574–6 269 12,574f. 27275 12,612f. 269 12,613 27275 12,614f. 271f. 12,632–35 270 12,648f. 27275 12,649–51 270 12,655 272 12,680–83 270f. 12,701–28 27169 12,731f. 272 13,254f. 257 13,254 27275 13,256–58 261 15,493–823 2785 15,548–56 26549 15,591 259 15,612–15 259 15,625f. 259

399

400 15,639f. 25924 15,742f. 25924 17,618f. 282 17,625–54 28214 Simonet de Villeneuve Suppl. Aen. 1–16 372–75 Statius Ach. 1,3–7 15 1,34f. 109f. 1,467–82 110 1,496 110 1,784 111 1,785–87 110 1,792f. 110f. 2,1–4 2558 Theb. 1,1–7 12f. 1,16f. 13 1,410–12 24786 1,447–50 24786 1,452–67 24786 2,173–88 24786 2,389–96 243–45 2,397–99 243 2,417–24 24473 2,422f. 244 2,446–51 22821 , 24888 2,451–53 24369 2,458–60 24888 2,465–69 24369 2,535 24786 3,345–50 245–47 3,720f. 2548 4,32–8 107f. 4,145 108 4,339f. 24058 4,753f. 23856 5,658–60 24470 5,663f. 24470 , 24786 5,671f. 24786 5,675f. 24470 5,753 2548 7,220f. 17 7,233–39 22614 7,243–373 105 7,375f. 227, 229 7,377f. 226f. 7,380f. 22715

Index locorum 7,381–90 226 7,386 228 7,387–90 227–29 7,483–85 24263 7,490–2 24263 7,493–99 241 7,497–527 239–42 7,504–6 240 7,521f. 24263 7,522–24 240 7,523f. 24263 7,526f. 24263 7,538 24786 7,611f. 24786 8,90f. 245 8,91–3 23856 8,159–61 25717 8,215–19 26134 8,357 23024 8,600–3 230 10,1–4 2548 10,15–8 23339 10,20 233 10,21–35 233f. 10,35f. 23339 10,445–48 91 10,612f. 23026 10,650–55 231 10,662–64 229f. 10,671 231 10,672f. 232 10,680f. 23233 10,711f. 23236 10,782 232 10,802–4 23236 11,82 116 11,660 23236 11,761 2548 12,1–8 2548 12,1 1211 12,72f. 23024 12,163–5 23651 12,174–76 23651 12,209–12 237 12,211f. 23651 12,441f. 12 12,543–45 23854 12,545 23443 12,546–86 234–37 12,562 24058 12,569–71 24058 12,585f. 237

Index locorum 12,588f. 23753 12,593–96 238 12,611–43 23651 12,696 23236 12,808f. 22f. 12,816f. 21f. Sueton Dom. 2,2 212 20 216 Tacitus Agr. 3,1 3,2 5,3 39,1 42,4 ann. 1,2 1,7 1,11

20733 217 217 217 217 20633 20633 216

Theokrit eid. 17,1 84 17,9–12 84f. 17,3f. 85 18,1–3 85 24 92f. 24,1–4 85 25 88–90 25,1 88 25,3 88 26 86–88 26,1f. 86 26,25f. 87 26,27–30 87f. Tibull 1,1,55 12633 Tryphiodor 1–5 317f. 664–67 31819 686f. 33161 691 32653 Valerius Flaccus 1,7–11 212 1,15f. 210

1,22f. 201 1,23 206 1,26 202 1,30 202 1,38f. 215 1,40–57 202f. 1,40f. 202f. 1,51 203 1,58 215 1,66–78 203–5 1,71f. 206 1,73f. 216 1,76f. 217 1,81–90 207–13 1,149–55 205f. 1,255f. 12734 1,336–40 12317 2,216–19 112 2,570–73 10 2,663f. 2548 3,1f. 2548 3,726–31 2548 4,558–614 114f. 4,623–25 114 5,1f. 2548 5,217–24 19 5,519–22 213f. 5,541 215 5,542–46 214 5,576–606 105 5,690–95 2548 6,33f. 107 6,36f. 107 7,5 261 Vergil Aen. 1,1 278, 281, 283 1,8 20, 320 1,12–33 280 1,94–101 209f. 1,279 21 1,456 1829 1,640–42 112 2,198 108 2,634–80 121–28 2,634–38 12110 2,635f. 12527 2,638–49 121–24 2,638–40 122 2,650 124 2,654 124

401

402

Index locorum 2,657–70 125f. 2,657 128 2,666 128 2,673f. 12631 2,675–78 127f. 2,679–86 128 2,704 128 2,776–89 137, 391 2,789 116 3,94–8 391 3,376–80 114f. 3,710–18 11 4,1 261 4,5 2548 4,305f. 125, 126 4,309–14 13358 4,314 124 4,316 134 4,318f. 134 4,331f. 12425 4,337–39 12425 4,541f. 1624 4,560–69 265 4,576f. 23233 5,327–30 12940 5,724–39 391 6,83–97 17f., 391 6,365f. 212 7,37–45 18, 280f. 7,37–40 285 7,40 19 7,321f. 18 7,643f. 28111 7,645f. 107 8,558–84 122 8,560–71 12213 8,572–77 12214

9,148–50 108f. 9,176–223 129–37 9,179–83 13254 9,182 13047 9,184–96 13045 9,194f. 138 9,195f. 130 9,197 130f. 9,198 130 9,199–206 131–34 9,200 138 9,204 135 9,207–18 134–36 9,211 138 9,212 138 9,218 135 9,219f. 13671 9,223 136 9,224–27 26237 9,242f. 13876 9,287–92 13672 9,359–66 138 9,465–67 138 9,481–97 137 10,1 19f. 11,1 2548 11,912–15 25717 12,715–24 36545 12,938 1417 12,946f. 119 ecl. 6,3–5 14413 10,75 1725 georg. 1,40 203 4,468 211

christine schmitz jan telg genannt kortmann angela jöne (Hg.)

schmitz telg gen.

schmitz · telg gen. kortmann · jöne (Hg.) Anfänge und Enden     as antike und nachantike Epos bietet sich aufgrund    seiner diachronen Ausprägung und narrativen Großform in besonderer Weise für eine vergleichende Untersuchung über Anfänge und Enden an, und zwar unter makro-/mikrostrukturellen und thematischen Aspekten. Anfänge und Enden eines Epos bilden darüber hinaus bevorzugte Orte für metapoetische Reflexionen als Teil der Neuinszenierung. Neben einem Überblick über die Genese, Enden und Neuanfänge des antiken und modernen Versepos sowie einer Deutung der aristotelischen Formel »Anfang – Mitte – Ende« werden in den hier vorgelegten Beiträgen narrative Modellierungen epischer Bauformen, die sich mit Anfang und Ende beschäftigen, ebenso behandelt wie das (bisweilen als nicht wirklich abgeschlossen empfundene) Finale und seine Fortsetzungen in Form von Korrekturen oder auch Ergänzungen. Anfangend mit den homerischen Epen über das hellenistische (Klein-)Epos und das lateinische Epos augusteischer, neronischer, flavischer und spätantiker Zeit enden die Fallbeispiele mit neulateinischen Epen. Im Fokus der Untersuchungen steht die Frage, welche Potentiale die dynamische Gattung des Epos in der Modellierung von Anfängen und Enden als markanten Punkten innerhalb einer größeren narrativen Struktur entfaltet.

kortmann jöne (Hg.)

Anfänge und

Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos

Enden

Anfänge und Enden

Universitätsverlag

isbn 978-3-8253-6762-6

win t e r

Heidelberg