Regionalgeschichte: Potentiale des historischen Raumbezugs [1 ed.]
 9783666317262, 9783525317266

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45 mm

 Nina Gallion / Martin Göllnitz / Frederieke Maria Schnack (Hg.) Die Herausgebenden Prof. Dr. Nina Gallion ist Professorin für Spätmittelalterliche Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Regionalgeschichte

Dr. Martin Göllnitz ist wissenschaftlicher Assistent an der Pro­ fessur für Hessische Landesgeschichte der Philipps-Universität Marburg.

Potentiale des historischen Raumbezugs

In der modernen Geschichtswissenschaft bietet die Auseinander­ setzung mit Regionen die Chance, jenseits der übergeordneten Zusammenhänge auf staatlicher oder globaler Ebene Einblicke in die Entwicklung kleinerer Räume und ihrer Positionierung zu aktuellen Ereignissen wie auch zu strukturellem Wandel zu erlangen. Um den aktuellen Stand und die Potentiale regional­ geschichtlicher Forschungen zu verdeutlichen, versammelt der Band Beiträge, die auf der Grundlage von Fallbeispielen Quellen, Methoden, Akteure und vergleichende Perspektiven beleuchten und deren Inhalte sich zeitlich vom Mittelalter bis in die Zeit­ geschichte erstrecken. Der geographische Schwerpunkt liegt auf dem nördlichen Deutschland und wird immer wieder in europäi­ sche Kontexte eingebunden.

ISBN 978-3-525-31726-6

9 783525 317266

Gallion / Göllnitz / Schnack (Hg.)  Regionalgeschichte

Frederieke M. Schnack ist wissenschaftliche Assistentin am Lehr­ stuhl für Mittelalterliche Geschichte und Historische Grundwis­ senschaften der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Regionalgeschichte Potentiale des historischen Raumbezugs

Herausgegeben von Nina Gallion, Martin Göllnitz und Frederieke Maria Schnack

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Oliver Auge zum 50. Geburtstag aus dem Kreis seiner Schüler*innen und Mitarbeiter*innen

Band 53 der Reihe „zeit + geschichte“ der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rekonstruktionszeichnung des Globussaals auf Schloss Gottorf zu Schleswig von 1650, © Felix Lühning Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-31726-2

Inhalt

Nina Gallion, Martin Göllnitz und Frederieke Maria Schnack Potentiale des historischen Raumbezugs. Einleitende Überlegungen zu ­Historiographie und Systematik der Regionalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Potentiale einer Perspektive des Raums Martin Göllnitz Beyond Ordinary Men? Perspektiven einer Polizeigeschichte als (regionale) ­Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Jan Ocker „Wer het mi min Karf mit Flesch stahln?“ Schleswig-Holstein als niederdeutsche Sprachregion im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . 55 Karen Bruhn, Thorge Petersen und Swantje Piotrowski Offen, vernetzt und grenzenlos. Zu den Chancen und Potentialen der Digital Humanities in der Regionalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Quellen der Regionalgeschichte Jelena Steigerwald Die Quellen der Regionalgeschichte. Bewerten, Ordnen und Verzeichnen als Wissensproduktion im Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Jens Boye Volquartz „Discordia inter hos de Holtzacia et de Ditmarcia“. Neubewertung der Fehde ­zwischen Holsteinern und Dithmarschern zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf Grundlage der schriftlichen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Julia Liedtke Aus Schleswig-Holstein an die Front. Ein Soldat aus Dithmarschen im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Marvin Groth Studieren trotz NS-Belastung? Entnazifizierungsakten in der britischen ­Besatzungszone und ihre regionalgeschichtlichen Auswertungspotentiale . . 201

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Inhalt

3. Räume in der Regionalgeschichte Stefan Magnussen Die Friesenburg. Ein identitätsstiftender Mythos der nordfriesischen ­Geschichtsschreibung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Frederic Zangel „dat slot to vemeren“. Bedeutung und Wahrnehmung der Burg Glambek im Spiegel der schriftlichen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Stefan Brenner Eine Zivilisierung des Raumes? Die mittelalterliche Ostsiedlung als ­Kultivierungsnarrativ bei Johann Friedrich Reitemeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Jann-Thorge Thöming „Feindobjekt ‚Schiene‘“. Schleswig-Holsteins Grenzübergänge im Visier der Stasi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Caroline Elisabeth Weber Friedhöfe als Gedächtnislandschaften der Regionalgeschichte. Die Traditionsstätte St. Jürgen auf dem Kieler Parkfriedhof Eichhof . . . . . . . 321 4. Handlungsspielräume in der Regionalgeschichte Franziska Hormuth Kaiserfern und königsnah? Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg zwischen ­Dänemark, Schweden und dem Reich (1296–1689) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Frederieke Maria Schnack In die Kirche, aus den Augen, aus dem Sinn? Abgeschichtete Söhne des Hauses Holstein-Schaumburg als Bischöfe und die Bedeutung ihrer ­Handlungsspielräume für die Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Tobias Pietsch Das Regierungsziel Herzog Ulrichs von Mecklenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Laura Potzuweit „So ward mit dem Tode der Gemahlin sein Haus einsam und blieb es während seines langen Lebens“. Beweggründe und Handlungsspielräume des Witwers Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg zwischen 1785 und 1829 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

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Knut-Hinrik Kollex Die Bedeutung von Handlungsräumen und deren Verlagerung am Beispiel von Matrosen- und Freikorpsbewegung 1918–1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 5. Akteure in der Regionalgeschichte Nina Gallion „Conrat Prünig erber und wis / bracht daher ein neuw fenlin mit fliß.“ Die Bedeutung der Tübinger Stadtelite im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . . 457 Katja Hillebrand Der Fall Heinrich Meyer. Amtsmissbrauch und Bestechung – ein mittelalterlicher Kriminalfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Jörg Mißfeldt Paul Johann Friedrich Boysen (1803–1886). Vom Dithmarscher Kirchspielvogt zum Bürgermeister in Hildesheim: Eine Beamtenkarriere zwischen ­Dänemark und Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Julian Freche Hanserezeption im Lübeck der Weimarer Republik? Akteure, Hintergründe und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Verzeichnis der beteiligten Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  545

Nina Gallion, Martin Göllnitz und Frederieke Maria Schnack

Potentiale des historischen Raumbezugs Einleitende Überlegungen zu Historiographie und Systematik der Regionalgeschichte

Einmal die Welt als Ganzes sehen und alle, auch entlegenste Regionen betrachten können – für Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf und sein adliges Umfeld wurde dieser Traum mit dem Gottorfer Globus Wirklichkeit.1 In Friedrichs Auftrag Mitte des 17. Jahrhunderts von seinem Hofgelehrten Adam Olearius2 konstruiert und von dem Limburger Büchsenmacher Andreas Bösch gebaut, zog der Hohlglobus mit seinem Durchmesser von drei Metern, der in seinem Innern, einem begeh- und drehbaren Planetarium, bis zu zwölf Personen buchstäblich nach den Sternen greifen ließ, am Gottorfer Hof die Blicke auf sich. Das im damaligen Europa als Attraktion bekannte Stück geriet sogar in den Fokus Zar Peters des Großen, der das Wunderwerk nach der Gottorfer Niederlage im Großen Nordischen Krieg von seinen dänischen Verbündeten als Geschenk erbat.3 Fortan erlaubte der Globus dem St. Petersburger Publikum Einsichten in die Topographie der Welt und den Sternenhimmel – auf Schloss Gottorf erinnert im Neuwerkgarten seit einigen

1 Zum originalen Gottorfer Globus siehe immer noch grundlegend Felix Lühning, Der Got­­t­or­ fer Globus und das Globushaus im ‚Newen Werck‘. Dokumentation und Rekonstruktion eines frühbarocken Welttheaters (Gottorf im Glanz des Barock 4), Schleswig 1997; ferner Ders., Das ganze Universum auf einen Blick – die Gottorfer Sphaera Copernicana von An­dreas Bösch, in: Nordelbingen 60 (1991), S. 17‒59; Ernst Schlee, Der Gottorfer Globus Herzog Friedrichs III. (Kleine Schleswig-Holstein-Bücher 41), Heide 1991. 2 Zu Adam Olearius siehe exemplarisch die Beiträge in Kirsten Baumann, Constanze Köster und Uta Kuhl (Hg.), Adam Olearius. Neugier als Methode, Petersberg 2017; Wolfgang Struck, „Persien in Persien suchen und nicht finden“. Adam Olearius und Paul Fleming auf der Reise nach Isfahan (1633–1639), in: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, hg. von Christof Hamann und Alexander Honold (Poiesis 5), Göttingen 2009, S. 23‒41; Elio Christoph Brancaforte, Visions of Persia. Mapping the Travels of Adam Olearius (Harvard Studies in Comparative Literature 48), Cambridge (Mass.) 2003; Hans-Georg Kemper, „Denkt, dass in der Barbarei/alles nicht barbarisch sei!“. Zur „Muscowitischen vnd Persischen Reise“ von Adam Olearius und Paul Fleming, in: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte, hg. von Xenja von Ertzdorff-Kupffer (Chloe 31), Amsterdam 2000, S. 315‒344; Dieter Lohmeier, Adam Olearius, in: Die Herzöge und ihre Sammlungen, bearb. von Uta Kuhl (Gottorf im Glanz des Barock 1), Schleswig 1997, S. 348‒353. 3 Vgl. dazu Engel P. Karpeev, Das Schicksal des Gottorfer Globus (1713–2002), in: Jahrbuch der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf 8 (2001/02), S. 10‒43.

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Jahren eine Nachbildung im Globushaus an die astronomischen, topographischen und technischen Leistungen des 17. Jahrhunderts.4 In einer Zeit, als insbesondere der Hochadel zwar bereits Beziehungen über ganz Europa hinweg pflegte, Reisen aber noch immer beschwerlich waren und Kenntnisse über einzelne Landschaften und Gegenden mitunter mühsam zusammengetragen wurden, bot der Globus die einzigartige Chance, neben dem Himmel auch gleich die Erde und hier je nach Interesse einzelne Landschaften und Orte wie durch ein Brennglas zu betrachten. Auch wenn in unserer heutigen Zeit ein Informationsaustausch meist spielend möglich ist, Kontakte einfach gehalten werden können und das Internet Recherchen zu fast allen Teilen der Erde erlaubt, ist das Erkenntnisinteresse an beispielhaft ausgewählten Regionen und die daraus resultierende Draufsicht auf einen definierten Raum unter vorab festgelegten Prämissen auch weiterhin ein Charakteristikum etwa der wissenschaftlichen Forschung. Gerade die Geschichtswissenschaft nutzt neben epochenspezifischen Ansätzen beziehungsweise in Verbindung mit ihnen nicht nur global-, sondern eben auch regionalgeschichtliche Untersuchungsdesigns.

Potentiale des historischen Raumbezugs Im wissenschaftlichen Fokus steht dabei der „Raum“, der seit der als spatial turn bezeichneten Wende eine neue Blüte erlebt.5 In den letzten Jahrzehnten sind Raum und Raumbildung auch in den Geschichtswissenschaften neu wahrgenommen worden, wodurch sich wie in anderen Disziplinen ein modernes Bewusstsein und Verständnis für Raumbildungsprozesse und vielfältige Raumfunktionen gebildet hat.6 Längst gelten Räume nicht mehr als von der Natur vorgegeben, sondern von 4 Zur Rekonstruktion siehe die Beiträge in Herwig Guratzsch (Hg.), Der neue Gottorfer Globus, Schleswig 32008. 5 International gesehen hatte wohl der US-amerikanische Geograph Edward W. Soja den größten Einfluss auf die Wiederentdeckung der räumlichen Perspektive in der Geschichts- sowie in den Kulturwissenschaften, weshalb er auch als Erfinder des sogenannten spatial turn gilt. Siehe Edward W. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London 1989, S. 39 (Überschrift: „Uncovering Western Marxism’s spatial turn“). Vgl. dazu auch Jörg Döring und Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raum? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Dens., Bielefeld 2008, S. 7‒45. 6 Vgl. exemplarisch Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. New Orientations in the Study of Culture, Berlin 2016, S. 211‒243; Michael North, Raumkonstruktion durch künstlerische Kommunikation. Die Ostsee in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Die Neuerfindung des Raumes. Grenzüberschreitungen und Neuordnungen, hg. von Alexander Drost und Michael North, Köln 2013, S. 53‒67; Riccardo Bavaj, Was bringt der „Spatial Turn“ der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 457‒484; Roland Lippuner und Julia Lossau, In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften, in: Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, hg. von Georg Mein und Markus Rieger-Ladich, Bielefeld 2004, S. 47‒64; Johannes Glückler, Neue Wege geographischen Denkens? Eine Kritik gegenwärtiger

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unterschiedlichen Akteur*innen, die sich in den Räumen bewegen, konstruiert. Die jüngere Forschung interessiert sich auch deshalb vermehrt für den Wandel und die Pluralität von Räumen, da diese, wie Michael North es jüngst pointiert formuliert hat, erst „die Komplexität der Welt ausmachen“.7 Nach Karl Schlögel, dem bekanntesten „Wiederentdecker des Raumes“ im deutschen Sprachgebiet, existieren neben den Naturräumen vor allem Geschichts-, Kommunikations- oder Erinnerungsräume, in denen sich zahlreiche politische, sprachliche, ethnische, religiöse, ökonomische und soziale Grenzen überlagern.8 Diese Grenzen erzeugen ihrerseits vielfältige Räume, die in sozialer, ökonomischer, politischer oder kultureller Hinsicht nicht mehr kongruent sind, was wiederum dazu führt, dass innerhalb dieser Grenzräume die einzelnen Grenzen je nach Akteur*in (Einzelperson, Gruppe, Staat) unterschiedlich wirken und perzipiert werden.9 In der Geschichtswissenschaft herrscht mittlerweile Konsens darüber, dass die Region als vorstellbarer Raum sowie deren interne Kohärenz neue Muster grenzüberschreitenden Handelns ermöglichen, wodurch Räume wiederentdeckt oder erst geschaffen werden.10 Mithin kann durch grenzüberschreitende Mobilität zum einen der Charakter einer Grenze infrage gestellt werden, zum anderen initialisieren insbesondere Identitätsbildungs- und Raumordnungsprozesse die Genese neuer Grenzen.11 In diesem Sinne muss eine moderne Beschäftigung mit Raumkonstruktionen und Grenzüberschreitungen stets aus regionaler und zugleich multidisziplinärer Perspektive erfolgen. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass die zahlreichen Konstruktionen von Handels-, Missions-, Herrschafts-, Kooperations- oder Konflikträumen aus sozialkonstruktivistischer Kontextsensibilität in einer „black box“ verschwinden.12

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Raumkonzeptionen und ihrer Forschungsprogramme in der Geographie, Frankfurt a. M. 1999; Jürgen Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43/3 (1998), S. 374‒397; Helmut Klüter, Raum als Element sozialer Kommunikation, Gießen 1986, S. 1‒10. Michael North, Wie mecklenburgisch war und ist die mecklenburgische Geschichte?, in: Köpfe. Institutionen. Bereiche. Mecklenburgische Landes- und Regionalgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, hg. von Anke John, Lübeck 2016, S. 41‒50, hier S. 41. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 68 f. Zum Zitat siehe Alexander Drost und Michael North, Die Neuerfindung des Raumes. Eine Einleitung, in: Die Neuerfindung des Raumes. Grenzüberschreitungen und Neuordnungen, hg. von Dens., Köln 2013, S. 9‒17. Vgl. dazu Drost/North, Neuerfindung, S. 9 f.; Martin Göllnitz u. a., Die Ostsee als Handlungsund Kulturraum: Eine Hinführung, in: Konflikt und Kooperation. Die Ostsee als Handlungsund Kulturraum, hg. von Dems. u. a., Berlin 2019, S. 9‒22, hier S. 10. Heiderose Kilper, Governance und die soziale Konstruktion von Räumen. Eine Einführung, in: Governance und Raum, hg. von Ders., Baden-Baden 2010, S. 9‒24, hier S. 15; Anna Amelina u. a., Methodological Predicaments of Cross-Border Studies, in: Beyond Methodological Nationalism. Research Methodologies for Cross-Border Studies, hg. von Ders. u. a, New York 2012, S. 3‒8. Drost/North, Neuerfindung, S. 9. Vgl. ferner die Beiträge in Norbert Götz, Jörg Hackmann und Jan Hecker-Stampehl (Hg.), Die Ordnung des Raums. Mentale Landkarten in der Ostseeregion, Berlin 2006. Helmuth Trischler, Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte: Koexistenz oder Konvergenz?, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22/4 (1999), S. 239‒256, hier S. 249.

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Vielmehr sind Handlungs- und Kulturräume also stets im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und kontextueller Determinierung zu analysieren.13 Diese Komplexität des Raumes oder besser gesagt dessen permanente Neuerfindung lässt sich recht eindrücklich am Beispiel der Regionalgeschichte, die im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht, vor Augen führen: So existiert nicht nur die „eine Region“, sondern viele Regionen, die immer wieder neu konstruiert werden und in erster Linie in den Köpfen der Menschen, sowohl in der historischen Vergangenheit als auch bei der Erforschung derselben, entstehen. Die im Einzelnen zu analysierende Region wird dabei räumlich stets neu je nach Erkenntnisinteresse, beleuchteter Zeit und behandelter Fragestellung konstituiert.14 An diesem Punkt unterscheidet sich der Zugriff der Regionalgeschichte von dem der Landesgeschichte oder der historischen Landeskunde, die ihre Untersuchungsgebiete an den Grenzen der (teil-)staatlichen Entitäten der heutigen Bundesrepublik Deutschland oder auch – in früheren Jahrhunderten – des Alten Reiches, des Deutschen Bundes oder des Kaiserreichs ausrichtet beziehungsweise ausgerichtet hat. Neben den zahlreichen Historischen Kommissionen,15 landesgeschichtlichen Verbänden und Vereinen sowie den von ihnen publizierten Zeitschriften und Reihen16 haben 13 Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018, S. 45 f. 14 Vgl. dazu in Auswahl Werner Freitag, Landesgeschichte als Synthese – Regionalgeschichte als Methode?, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 291‒305, hier S. 291 f. und 298 f.; Detlef Briesen, Region, Regionalismus, Regionalgeschichte. Versuch einer Annäherung aus der Perspektive der neueren und Zeitgeschichte, in: Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, hg. von Gerhard Brunn (Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen 1), Baden-Baden 1996, S. 151‒162, hier S. 156; Ernst Hinrichs, Regionalgeschichte, in: Landesgeschichte heute, hg. von Carl-Hans Hauptmeyer, Göttingen 1987, S. 16‒34, hier S. 22. 15 Die schon seit einigen Jahren Hochkonjunktur erfahrenden Historikerkommissionen, deren Anfänge sich bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen und die im staatlichen, öffentlichen oder privaten Auftrag aktuelle historische Konflikte oder Forderungen nach einer Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht mittels geschichtswissenschaftlicher Methoden klären und bewerten sollen, dürfen nicht mit den hier gemeinten Historischen Kommissionen verwechselt werden. Vgl. dazu Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino, Einleitung, in: Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung, hg. von Dens., Berlin 2018, S. 1–18; Marina Cattaruzza und Sascha Zala, Negotiated History? Bilateral Historical Commissions in Twentieth Century Europe, in: Contemporary History on Trial. Europe since 1989 and the Role of the Expert Historian, hg. von Harriet Jones, Kjell Östberg und Nico Randeraad, Manchester 2007, S. 123–143; Alexander Karn, Depolarizing the Past. The Role of Historical Commissions in Conflict Mediation and Reconciliation, in: Journal of International Affairs 60 (2006), S. 31–50; Oliver Rathkolb, Die späte Wahrheitssuche. Historikerkommissionen in Europa, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 445–453. Grundsätzlich mangelt es in der Forschung an Studien zu den landes- und regionalgeschichtlich forschenden Historischen Kommissionen. Siehe dazu demnächst Mathias Beer (Hg.), Landesgeschichte mit und ohne Land. Historische Kommissionen in West und Ost nach 1945 (im Druck). 16 Auf eine Nennung einzelner landes- und/oder regionalhistorischer Zeitschriften bzw. Schriftenreihen wird hier aus pragmatischen Gründen verzichtet, zumal selbst eine exemplarische Auswahl kaum den breiten Umfang derselben widerzuspiegeln vermag und darüber hinaus den

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nicht zuletzt universitäre Lehrstühle mit landesgeschichtlicher Denomination sowie fachwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaften wie die AG Landesgeschichte diesen Zugang institutionalisiert. In übergreifender Form versammeln auch die 1852 begründeten, vom Gesamtverein der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine herausgegebenen Blätter für deutsche Landesgeschichte Beiträge mit dieser räumlichen Untersuchungsausrichtung. Auf den ersten Blick entsteht anhand dieser knappen Ausführungen freilich der Eindruck zweier ähnlicher, aber einander unüberbrückbar entgegengesetzter Zugriffsweisen auf geschichtswissenschaftliche Fragestellungen.17 Tatsächlich etablierte sich der Begriff „Regionalgeschichte“ im Zuge größerer Paradigmenwechsel in den historischen Wissenschaften in den 1970er und 1980er Jahren, weckte in dieser Zeit viele Hoffnungen und ließ die bisherigen landesgeschichtlichen Forschungen ein Stück weit antiquiert erscheinen.18 Dies mag auch darin begründet sein, dass die Landesgeschichte in Deutschland als eine historische Disziplin entstanden ist, die sich überwiegend mit dem Mittelalter beschäftigt hat und die Neuere Geschichte und die Zeitgeschichte zumeist als missliebiges Stiefkind betrachtete, deren wissenschaftliche Beschäftigung weitgehend außen vor blieb.19 Folgt man Matthias Werners einzelnen räumlichen, thematischen wie epochalen Zuschnitten nicht gerecht wird. Denn neben den fachwissenschaftlichen Zeitschriften und Schriftenreihen existieren weiterhin zahlreiche heimatkundliche Jahrbücher, die allein für das deutschsprachige Gebiet hunderte Periodika umfassen. Vgl. dazu Rudi Mechthold, Landesgeschichtliche Zeitschriften 1800–2009. Ein Verzeichnis deutschsprachiger landesgeschichtlicher und heimatkundlicher Zeitschriften, Zeitungsbeilagen und Schriftenreihen (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderband 101), Frankfurt a. M. 2011, S. 9; mit Blick auf Open-Access-Journale und Blogs neuerdings Martin Göllnitz, An der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit? Fachjournale, Blogs und Soziale Medien in der Landesgeschichte, in: Landesgeschichte und public history, hg. von Arnd Reitemeier (Landesgeschichte 3), Ostfildern 2020, S. 197‒216. 17 Solche Perspektiven wurden in der älteren Fachliteratur zum Teil bewusst suggeriert. Vgl. bspw. Peter Steinbach, Territorial- oder Regionalgeschichte: Wege der modernen Landesgeschichte. Ein Vergleich der „Blätter für deutsche Landesgeschichte“ und des „Jahrbuchs für Regionalgeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 528‒540. 18 Zur Genese dieser Subdisziplin siehe u. a. Briesen, Region; Axel Flügel, Chancen der Regionalgeschichte, in: Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert), hg. von Edwin Dillmann (Saarland Bibliothek 11), St. Ingbert 1996, S. 25‒46; Ernst Hinrichs, Regionale Sozialgeschichte als Methode der modernen Geschichtswissenschaft, in: Regionalgeschichte. Probleme und Beispiele, hg. von Dems. und Wilhelm Norden (Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 6), Hildesheim 1980, S. 1‒20; Ders., Landes- und Regionalgeschichte, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hg. von Hans-Jürgen Goertz, Reinbek 32007, S. 611‒627; Wolfgang Köllmann, Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeptionen, in: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), S. 43‒50; Winfried Speitkamp, Grenzen der Landesgeschichte. Bemerkungen zu neuen Standortbestimmungen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 51 (2001), S. 233‒256. 19 Es würde hier den Rahmen sprengen, erneut die Entwicklung der Landes- und Regionalgeschichte als eigenständige Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft in extenso auszubreiten. Vgl. immer noch grundlegend Carl-Hans Hauptmeyer (Hg.), Landesgeschichte heute, Göttingen 1987; Peter Claus Hartmann, Landes- und Regionalgeschichte in Europa in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 148 (2012),

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konziser Studie zu den Wegen und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, so trat ein Wandel erst ab den 1970er Jahren ein, das heißt zu jenem Zeitpunkt, als die Regionalgeschichte, die sich in hohem Maße mit der Historiographie der Neuzeit und vor allem der Zeitgeschichte identifizierte, damit begann, die etablierte Landesgeschichte massiv herauszufordern.20 Nach Christoph Nonn warf diese neue „regionalgeschichtliche“ Strömung der „alten“ Landesgeschichte unter anderem vor, sich methodischen Innovationen zu verschließen und im Wesentlichen eine unkritische Traditionspflege im Sinne des Historismus zu betreiben.21 Im Mittelpunkt der Kritik stand die antiquarische Geschichtsbetrachtung, der viele traditionelle Landeshistoriker*innen verhaftet waren, und die mit einer von den Regionalhistoriker*innen favorisierten sozialhistorischen Problemgeschichte der Gegenwart kaum vereinbar erschien.22 Mittlerweile hat sich der Pulverdampf der Grabenkämpfe zwischen diesen beiden historischen Subdisziplinen aber längst verzogen und viele Differenzen wurden in den vergangenen 30 Jahren überbrückt. In der gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Forschung bedienen sich nun zunehmend auch genuine Landeshistoriker*innen einer regionalgeschichtlichen Methode, indem sie ihren Untersuchungsgegenstand nach der Fragestellung definieren und für Vergleiche plädieren – oder um es mit Joachim Schneider zu sagen: Sie möchten „weniger das Individuelle als vielmehr das Exemplarische eines Untersuchungsraumes herausstellen.“23 Generelle Weiterentwicklungen von landesgeschichtlichen Fragestellungen und Zugängen sowie eine insgesamt erweiterte, ausdifferenzierte Methodenvielfalt, in der besonders der schon genannte Vergleich an Konjunktur gewonnen hat, haben folg-

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S. 277–286; Reinhard Stauber, Regionalgeschichte versus Landesgeschichte? Entwicklung und Bewertung von Konzepten der Erforschung von „Geschichte in kleinen Räumen“, in: Storia e regione 3 (1994), S. 227‒260. Vgl. Matthias Werner, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit: Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. von Peter Moraw und Rudolf Schieffer, Ostfildern 2005, S. 252‒364. Christoph Nonn, Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Landeszeitgeschichte? Zu Problemen und Perspektiven einer Landesgeschichte der Moderne, in: Geschichte im Westen 21 (2006), S. 155‒171, hier S. 156. Vgl. dazu Freitag, Landesgeschichte; Hinrichs, Regionale Sozialgeschichte. Noch in den 2000er Jahren wurde der Landesgeschichte attestiert, sie sei zumindest teilweise „innovationsresistent“ und „prima vista völlig unverdächtig […], einen ‚cultural turn‘ der Geisteswissenschaften auch nur bemerkt zu haben“. Siehe zum Zitat Fritz Dross, Von der Erfindung des Rheinlands durch die rheinische Landesgeschichte. Eine Polemik, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), S. 13‒34, hier S. 14. Selbst Winfried Speitkamp kam nicht um die Diagnose umhin, die turns der vergangenen Jahrzehnte hätten die Landesgeschichte „in leichtes Schlingern versetzt, wenn auch nicht gerade ins Schleudern gebracht“. Siehe dazu Winfried Speitkamp, Stadt – Land – Fluss? Konfigurationen der Region – Perspektiven der Landesgeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 60 (2010), S. 127‒148, hier S. 129. Zit. n. Dominik Bartoschek, Landesgeschichte im 21.  Jahrhundert: Perspektiven  – Impulse – Probleme. Tagung zu Ehren von Alois Gerlich aus Anlass seines 80. Geburtstags, 29.09.2005–30.09.2005, in: H-Soz-Kult, 6.1.2006, www.hsozkult.de/conferencereport/id/ tagungsberichte-871 (14.11.2020). Vgl. auch Werner, Begrenzung, S. 364.

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lich in der jüngsten Zeit zu einem Nebeneinander beider Begrifflichkeiten sowie der mit ihnen verknüpften Ansätze geführt, wie Enno Bünz im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung „Forschen – Vermitteln – Mitmachen. 50 Jahre Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V.“ im Jahr 2010 betonte.24 In der landes- und regionalgeschichtlichen Wissenschaftsgemeinde werden die beiden Ansätze inzwischen oft sogar als komplementär verstanden, die gemeinsame Erkenntnisinteressen verfolgen, ohne dabei komplett identisch zu sein.25 Deutlich wird dies beispielsweise daran, dass an der Universität Augsburg der Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte gleich beide Zugriffe vereint. Insgesamt dominieren im deutschen Sprachraum aber auch weiterhin Lehrstühle mit landesgeschichtlichen Denominationen die universitäre Landschaft, neben denen vereinzelt explizit regionalgeschichtlich ausgerichtete Forschungszentren und Lehrstühle stehen, wie etwa die Professur für Europäische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz, die Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, deren Denomination freilich das Wort „Regionalgeschichte“ dezidiert mit dem Namen eines Bundeslandes verbindet, das Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Braunschweig, das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, der Arbeitsbereich für Europäische Regionalgeschichte an der Paris Lodron Universität Salzburg oder auch das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen. Obgleich der zeitweilig recht scharfe Antagonismus zwischen Landes- und Regionalgeschichte also selbst schon wieder historisch geworden ist und sich die erhitzten Gemüter glücklicherweise weitgehend beruhigt haben, sollte man die Konvergenz von klassischer Landes- und moderner Regionalgeschichte nicht überbetonen. Anders als etwa die klassische Landesgeschichte mit ihrer gewissermaßen starren Orientierung an Landesgrenzen richtet sich die Regionalgeschichte per se 24 Vgl. Enno Bünz, Wozu Landesgeschichte? Oder: Warum regionale Perspektiven in der Geschichte unverzichtbar sind, 28.6.2010, https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/texte/ aufsaetze/buenz-wozu-landesgeschichte.html (14.11.2020). 25 Vgl. exemplarisch Walter Rummel, Landes- und Regionalgeschichte  – Komplementärdisziplinen im gesellschaftlichen Umfeld, in: Methoden und Wege der Landesgeschichte, hg. von Sigrid Hirbodian, Christian Jörg und Sabine Klapp (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, S. 29‒40, hier S. 32‒37; Volker Rödel, De la Landesgeschichte à la Geschichtliche Landeskunde – L’élaboration d’un champ historiographique et son évaluation, in: Revue d’Alsace 133 (2007), S. 23‒36; Werner Freitag, Regionalgeschichte, Landesgeschichte, Bundeslandgeschichte. Zu den Möglichkeiten sachsen-anhaltinischer Landesgeschichtsforschung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Sachsen und Anhalt 24 (2002/03), S. 73‒82, hier S. 81; Carl-Hans Hauptmeyer, Zu Theorien und Anwendungen der Regionalgeschichte. Warum sind Überlegungen zur Theorie der Regionalgeschichte sinnvoll? Auf welche Weise läßt sich Regionalgeschichte anwenden?, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 21 (1997/98), S. 121‒130, hier S. 123. Kritik an dieser Perspektive äußert dagegen Rolf Schulte, Landes- oder Regionalgeschichte in der Schule?, in: Landesgeschichte an der Schule. Stand und Perspektiven, hg. von Oliver Auge und Martin Göllnitz (Landesgeschichte 2), Ostfildern 2018, S. 93‒107, hier S. 93.

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an den Bedürfnissen und Gegebenheiten der europäischen Regionalität aus und bedient sich recht flexibel der Wandelbarkeit des Regionsbegriffs, um sich und insbesondere ihrem – ebenso variablen – Zielpublikum die Historizität der geographischen Dimension bewusst zu machen und somit zugleich die Strukturbedingtheit und -bezogenheit dieser Historizität zu verdeutlichen.26 Mithilfe dieser gedanklichen wie methodischen Offenheit lässt sich letztlich die Teleologie des Raumes auflösen, wodurch deutlich wird, dass „Räume“ stets in den Köpfen der Menschen entstehen, ob nun in der historischen Vergangenheit oder bei der Erforschung derselben – bestenfalls erweisen sich die beiden, nach Ludwig Petrys Diktum auf jeweils eigene Weise „in Grenzen unbegrenzt“27 angelegten Raumkonstruktionen schließlich als kongruent.

Die Beiträge des Bandes Ziel des vorliegenden Bandes ist es daher nicht, den Gegensatz wieder aufleben zu lassen. Vielmehr soll exemplarisch anhand von Beiträgen, die sich zumeist im weitesten Sinne Räumen im Norden Deutschlands widmen und von dort aus Rückschlüsse auf vergleichbare Themen anderenorts erlauben, aufgezeigt werden, welche Potentiale der regionalgeschichtliche Zugriff bieten kann. Unterschiedliche zeitliche Perspektiven und verschiedene Methoden machen die Vielfalt geschichtswissenschaftlicher Ansatzpunkte und Fragestellungen vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte deutlich. Anhand von differierenden Zugängen von der Mikro- über die Lokalgeschichte bis hin zu Vergleichen demonstrieren die Aufsätze die Chancen der ganzen Breite regionalgeschichtlicher Untersuchungsmöglichkeiten und geben oftmals Einblicke in laufende Forschungsprojekte. Die bereits mehrfach angesprochenen „Potentiale einer Perspektive des Raums“ stehen sinngebend als eigene Sektion am Beginn und versammeln drei Beiträge, die ganz unterschiedliche Herangehensweisen demonstrieren: Am Beispiel der bundesrepublikanischen Polizei(en) zeigt zunächst Martin Göllnitz in programmatischer Weise für eine vergleichend orientierte Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte, was für ein Nutzen sich aus einer dezidiert am Raum orientierten Forschung ergibt. Denn obwohl die Polizei bei der Marginalisierung von Außenstehenden, bei der Stabilisierung des NS-Herrschaftssystems und der DDR-Diktatur, beim Umgang mit Jugendprotest oder bei der langsamen Integration von Frauen und Migrant*innen eine wesentliche Rolle einnahm und somit einige der wichtigsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt, erfährt die Polizeigeschichte im historischen Mainstream der allgemeinen und regionalen Zeitgeschichte nur 26 Vgl. dazu Oliver Auge und Martin Göllnitz, Wozu Landes- und Regionalgeschichte an der Schule? Einige Vorbemerkungen und Überlegungen, in: Landesgeschichte an der Schule. Stand und Perspektiven, hg. von Dens. (Landesgeschichte 2), Ostfildern 2018, S. 1‒16, hier S. 5. 27 Ludwig Petry, In Grenzen unbegrenzt. Möglichkeiten und Wege der geschichtlichen Landeskunde, in: Probleme und Methoden der Landesgeschichte, hg. von Pankraz Fried (Wege der Forschung 492), Darmstadt 1978, S. 280‒304.

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eine geringe Resonanz. In seinem Forschungsaufriss plädiert Göllnitz mit Blick auf das aktuelle Zeitgeschehen dafür, die staatspolitische wie gesellschaftliche Funktion und Bedeutung der Polizei mithilfe eines konstruktivistischen Ansatzes künftig verstärkt auf den Prüfstand zu stellen und außerdem soziologische, sozial- und kulturwissenschaftliche Theorieangebote in regionalhistorische Studien einzubeziehen. Anschließend geht Jan Ocker mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert der Bedeutung des Niederdeutschen für die Region des heutigen Schleswig-Holsteins nach und beleuchtet diese als niederdeutsche Sprachregion. Im Mittelpunkt seines Beitrags stehen zunächst Georg Wenkers Spracherhebungen von 1879/80, in denen Bögen mit 40 beispielhaften hochdeutschen Sätzen, die in die lokale niederdeutsche Mundart zu übersetzen waren, für rund 40.000 Schulorte ausgewertet wurden. Dabei entstanden 1.600 Sprachkarten, die jedoch nicht vollständig zur Publikation gelangten. Anschließend wird die Bedeutung des Niederdeutschen für Gesellschaft, Literatur und Wissenschaft in der Zeit von 1880 bis 1930 analysiert: Themen sind hier der Schulbesuch, der als zumeist rein hochdeutsche Angelegenheit einen kaum zu übertreffenden Kontrast zum familiären Alltag vieler mit dem Niederdeutschen aufgewachsener Kinder aufbaute, das auf das Ripener Privileg von 1460 zurückgehende, die ursprüngliche Formulierung allerdings verkürzende Schlagwort up ewig ungedeelt, Veröffentlichungen zur niederdeutschen Schreibsprache und literarische Werke sowie der Umgang mit dem Niederdeutschen in Forschung und Lehre an der Universität Kiel. Ein Abschnitt über Otto Mensings zwischen 1927 und 1935 veröffentlichtes Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch rundet schließlich den Beitrag ab. Karen Bruhn, Thorge Petersen und Swantje Piotrowski führen anhand des Kieler Gelehrtenverzeichnisses programmatisch die Chancen der Digitalisierung vor, die der vermeintlich im Kleinen agierenden Regionalgeschichte ein neues Fundament und über Methoden der Digital Humanities breite Anschluss- wie Vernetzungsmöglichkeiten zu ähnlich gelagerten Projekten anderenorts sowie mit Laienforscher*innen und der großen Gruppe von Schüler*innen und Studierenden verleihen. Verknüpft ist dies mit der generellen Frage, wie digital unsere Gesellschaft leben möchte und inwieweit sowie mit welchen Mitteln der Wissenstransfer in einer sich derzeit enorm wandelnden Medienlandschaft hieran angeschlossen werden kann. Die gesamtgesellschaftliche Relevanz solcher Überlegungen sowie einer breiten Präsentation regionalgeschichtlicher Forschungen wird unter anderem daran aufgezeigt, dass Ergebnisse aus der Arbeit des Kieler Gelehrtenverzeichnisses in der Öffentlichkeit der Landeshauptstadt zur kritischen Reflektion über Straßennamen und schließlich Umbenennungen geführt haben. Ein besonderer Blick muss exemplarisch auf die Quellen der Regionalgeschichte gerichtet werden, denn die Überlieferungslage ist ein maßgeblicher Faktor, wenn es darum geht, über zeitliche, räumliche und methodische Zuschnitte praktikable Untersuchungsdesigns mit umfassendem Erkenntniswert zu konzipieren. Diesem Thema widmet sich die zweite Sektion „Quellen der Regionalgeschichte“, die Jelena Steigerwald eröffnet, indem sie die archivarische Arbeit in den Mittelpunkt rückt, die als Scharnier zwischen der ungefilterten Gesamtüberlieferung und den späteren sys-

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tematisierten Beständen als wichtiger Basis (regional-)geschichtswissenschaftlichen Forschens fungiert. Thematisiert wird der Prozess der Auswahl und archivarischen Inwertsetzung von Quellen, wobei zuallererst die deutsche Archivlandschaft mitsamt ihren Verknüpfungen zwischen Archiven und Behörden reflektiert wird. Auf der Ebene darunter beleuchtet der Beitrag die Ordnungssysteme der Archive sowie Fragen der Erschließung und Auswahl der letztlich für Historiker*innen einsehbaren und ihre Arbeit maßgeblich bestimmenden Quellen. Wie wichtig ein immer wieder neuer, kritischer und qualifizierter Blick auf die teils schon lange bekannte Überlieferung ist, zeigt sich etwa im Beitrag von Jens Boye Volquartz, der anhand eines intensiven Quellenstudiums eine Neubewertung der Fehde zwischen Holsteinern und Dithmarschern im beginnenden 15. Jahrhunderts versucht. Mit einem Karten- und Quellenanhang wird die in der Forschung vielfach wenig hinterfragte Überlieferungslage systematisch auf die Aussagekraft der jeweiligen Zeugnisse hin überprüft. Im Ergebnis können verschiedene Überlieferungsgruppen und ihre Rezeption identifiziert und inhaltlich verzerrte Schilderungen offengelegt werden. Bereits an mittelalterlichen Quellenbeständen zeigt sich somit die Notwendigkeit eines genauen Blicks insbesondere auf chronikalische Zeugnisse und einer kritischen Bewertung der jeweiligen Zeugnisse in der Zusammenschau mit anderen Überlieferungsformen. Den Wert großer, gerade neuzeitlicher Quellenbestände und die Möglichkeiten, sich ihren Potentialen zu nähern, zeigen exemplarisch die beiden folgenden Beiträge auf: Im Mittelpunkt von Julia Liedtkes Aufsatz stehen Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg, die dem Blick zurück ins heimatliche Schleswig-Holstein ganz neue, auch mentalitätsgeschichtlich einzuordnende Einsichten abgewinnen. Konkret geht es um die Aufzeichnungen des Soldaten Hans Schröder, der aus Barlt in Dithmarschen stammte und über die Zeit ab seiner Einberufung im Frühjahr 1916 bis hin zu seiner Entlassung im Januar 1919 – womöglich auf der Basis von Notizen oder eines ersten, fortlaufend geschriebenen und heute verlorenen Tagebuches – einen nachträglichen Bericht samt selbstgezeichneten Landkarten verfasste. Die Quelle gibt detailliert Aufschluss über den Alltag der Soldaten in den Schützengräben und macht dabei deutlich, dass Schröder den Krieg als Gräuel gleichermaßen für die Angehörigen des Militärs und für die Zivilbevölkerung sah. Die vielfältigen eigenen Erlebnisse und Kontakte, von denen der Verfasser berichtet, werfen zudem ein Schlaglicht auf stereotypische Sichtweisen und sprachliche Ausdrucksformen, die in den 1920er Jahren auch im regionalen Rahmen in Schleswig-Holstein auftraten. In derselben Sektion beschäftigt sich Marvin Groth mit der Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone und nimmt hier explizit die Gruppe der Nachkriegsstudierenden an den Universitäten Hamburg und Kiel in den Fokus. Ausgehend von einem Blick auf die Forschungslage, werden im Beitrag die hauptsächlichen Quellengattungen rund um die Entnazifizierung vorgestellt, was der Autor mit Erläuterungen zu den grundsätzlichen Bedingungen ihrer belastbaren quantitativen Untersuchung verbindet. Groth schlägt sodann eine statistikbasierte Methodik vor, die anhand von mehreren Universitätsstandorten derselben Besatzungszone typologische Vergleiche ermöglichen soll, und führt das Potential dieses Analyseansatzes

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sogleich anhand verschiedener Datenreihen und einer repräsentativen Stichprobe zu Kieler Studierenden vor. Angeklungen ist bereits die in der Regionalgeschichte mögliche Vielfalt unterschiedlicher Raum- und Regionszuschnitte unabhängig von den Grenzen staatlicher und administrativer Entitäten. In diesem Sinne überrascht es nicht, dass die „Räume in der Regionalgeschichte“ eine weitere, nämlich die dritte Sektion des Bandes füllen. Hier geht es nicht nur um ganz reale Räume, mit ihnen verbundene Narrative, Grenzen und Übergänge, sondern etwa auch um Mythen. Letztere thematisiert Stefan Magnussen, indem er die bislang stets als historische Tatsache betrachtete Zerstörung der Friesenburg im Jahr 1416 sowie ihren Platz in der nordfriesischen Geschichtsschreibung untersucht. Mit einem detaillierten Blick auf die zeitgenössische Parallelüberlieferung analysiert er, wie es um die Tradierung der einzelnen Partien des Gesamtereignisses und die jeweiligen Wahrheitsgehalte bestellt ist. Indem so eine Schneise in das Dickicht von Übereinstimmungen und Widersprüchen der Quellen geschlagen wird, kann als neuer Deutungsvorschlag die These vorgestellt werden, dass es sich bei der Erzählung zur Friesenburg um einen Versuch handelt, das Potential des friesischen Widerstands gegen außenstehende Akteure mit einem identitätsstiftenden, fiktionalen Bericht und damit einem neu geschaffenen Mythos zu vergegenwärtigen. Die Friesenburg war folglich ein Produkt der friesischen Historiographie und existierte zu keinem Zeitpunkt – was zugleich ein nachdrückliches Schlaglicht auf die Macht von Mythen für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die Regionalgeschichte im Besonderen wirft. Ebenfalls mit einer Burg befasst sich Frederic Zangel, der die verfassungsmäßige Zugehörigkeit der Insel Fehmarn in Mittelalter und früher Neuzeit beleuchtet und dabei die Burg Glambek in den Mittelpunkt stellt. Mit zwei eigens erarbeiteten Karten wird die Geschichte der Burg anhand diplomatischer und chronikalischer Quellen chronologisch dargestellt, wobei deutlich wird, dass sie ein gewichtiger Zankapfel zwischen den dänischen Königen und den Grafen von Holstein-Schauenburg war. Die Herrschaft über die Burg ging meist mit der Kontrolle der gesamten Insel einher; Ambitionen zur Verteidigung beziehungsweise Eroberung und zum Ausbau der Anlage lassen sich verschiedentlich in den Quellen erkennen. Doch neben ihrer militärischen Bedeutung trat die Anlage auch als administrativer Stützpunkt und als Pfandobjekt in Erscheinung, was zusammengenommen in geostrategischer, herrschaftlicher und finanzieller Hinsicht die hohe Relevanz von Burgen in einem regionalen (Grenz-)Raum offenlegt. Um die Durchdringung eines Raums geht es auch – freilich aus gänzlich anderer Perspektive – in Stefan Brenners Aufsatz. Er untersucht die Forschungsgeschichte zur sogenannten Ostsiedlung und ihre Konstruktion als Kultivierungsnarrativ durch den Historiker und Juristen Johann Friedrich Reitemeier. Konkret wird nach einem biographischen Überblick zu Reitemeier dessen zweibändiges, 1801 beziehungsweise 1805 erschienenes Werk Geschichte der Preußischen Staaten vor und nach ihrer Vereinigung in eine Monarchie beleuchtet. Im Anschluss an einen Abschnitt zu den vorangegangenen historiographischen Vorstellungen zur sogenannten Ostsiedlung und zum Deutschen Orden geht es entsprechend explizit um Reitemeiers

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Intentionen und das von ihm vermittelte Bild von den Vorgängen im mittelalterlichen Baltikum. Als erwiesen sieht Reitemeier an, dass der Zuzug von Siedlern aus dem Reich und die Begründung der Landesherrschaft des Deutschen Ordens eine Kultivierung im betreffenden Gebiet bewirkt hätten. In seinem Werk paaren sich auf eindrückliche Weise aufklärerische Perspektiven auf den hochmittelalterlichen Migrationsprozess mit nationalistischen, weshalb Brenner Reitemeiers Position zwischen verschiedenen historiographischen Deutungsrichtungen einordnet. Die beiden abschließenden Beiträge der Sektion beschäftigen sich mit Fragen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Jann-Thorge Thöming rückt die spezifischen Grenzräume in den Mittelpunkt, die an den Transitbahnhöfen zwischen Schleswig-Holstein und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) entstanden und von der Staatssicherheit mit großem Misstrauen betrachtet wurden. Ein einleitender Abschnitt zum zeithistorischen Kontext des Grenzraums und des DDR-Regimes öffnet den Blick auf die nach Westen und speziell in Bezug auf den schleswig-holsteinischen Raum gerichteten Handlungskonzepte der im Januar 1970 gegründeten Hauptabteilung VI, wobei im Eisenbahnverkehr insbesondere die Bahnhofsmission in Büchen in den Fokus der Spionagearbeit rückte. Der Beitrag untersucht den Umgang der DDR mit dieser Institution, wobei etwa die Anwerbung von informellen Mitarbeitern, ihre Instruktion und die Kommunikation mit ihnen thematisiert werden. Der Anstieg der Überwachungsaktivitäten ab 1984 wird genauso beleuchtet wie ihr Ende mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung und bietet damit einen breiten Einblick in das regional- und grenzgeschichtlich relevante Thema. Um einen ganz anderen Raum geht es hingegen bei Caroline Elisabeth Weber, die am Beispiel der Traditionsstätte St. Jürgen auf dem Kieler Parkfriedhof Eichhof Friedhöfe als Gedächtnislandschaften der Regionalgeschichte hinterfragt. Den inhaltlichen Ausgangspunkt des Beitrags bildet ein Projektseminar, in dessen Rahmen die Autorin an der Universität Kiel im Sommersemester 2017 gemeinsam mit Bachelor- und Masterstudierenden die Geschichte der Traditionsstätte und der hier zu findenden Grabsteine aufarbeitete und ein Konzept zur öffentlichkeitswirksamen Präsentation auf dem Friedhof entwickelte. In diesem Sinne steht nicht nur ein neues Bündel an regionalgeschichtlichen Fragen etwa rund um die Kieler Stadtgeschichte und die Erinnerungskultur im Mittelpunkt des Beitrags, sondern dieser thematisiert auch Möglichkeiten des Wissenstransfers in die Gesellschaft, um insbesondere regional relevante Forschungsergebnisse aus dem vielzitierten Elfenbeinturm hinaus- und in die Öffentlichkeit hineinzutragen. Ganz im Zeichen der „Handlungsspielräume in der Regionalgeschichte“ und ihrer epochal übergreifenden Einsatzmöglichkeiten steht die vierte Sektion: Das Potential dynastiegeschichtlicher Untersuchungen28 zeigt Franziska Hormuth auf, 28 Dazu etwa Oliver Auge, Dynastiegeschichte als Perspektive vergleichender Regionalgeschichte. Das Beispiel der Herzöge und Grafen von Schleswig und Holstein (Anfang 13. bis Ende 17. Jh.), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 135 (2010), S. 23‒45, hier insb. S. 26.

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die die Dynastie der Herzöge von Sachsen-Lauenburg und ihr Changieren zwischen Dänemark, Schweden und dem römisch-deutschen Reich im späten Mittelalter behandelt. Jene Fürstenfamilie wird exemplarisch für diejenigen Dynastien untersucht, die aufgrund der Lage ihres Herrschaftsgebiets am Rande des Reichs mitunter enge Kontakte zu auswärtigen Mächten hatten und ihre Politik auch daran ausrichteten. Klar wird hier, dass die Könige und Kaiser des Reiches schon allein aufgrund der Randlage des lauenburgischen Fürstentums eher eine zwar vorhandene, aber weiter entfernte Bezugsgröße darstellten, während die dänischen und schließlich auch die schwedischen Monarchen deutlich regionalere, nähere Referenzmächte waren. Indem sich die Dynastie beispielsweise über ihr Konnubium oder Erbverbrüderungen an die Hegemonialmächte des Ostseeraums annäherte, konnte sie Verbindungen zwischen Dänemark, Schweden und dem Reich herstellen und gleichsam als informelle Brücke für diese dienen. Dynastisch argumentiert auch Frederieke Maria Schnack, die sich mit dem spätmittelalterlichen Haus Holstein-Schaumburg beschäftigt und hier insbesondere die Möglichkeiten der für die Geistlichkeit bestimmten Söhne und ihre Rückwirkungen auf die Dynastie untersucht. Im Mittelpunkt stehen acht Personen aus verschiedenen Zweigen der Familie, die entweder Bischöfe wurden oder aber berechtigten Anspruch auf ein solches Amt erheben konnten. Der Blick auf das familiäre Umfeld der abgeschichteten Männer und ihr Zusammenwirken mit ihrer Dynastie zeigt, dass die Geistlichen zwar nicht mehr an der dynastischen Nachfolge teilnahmen, aber dennoch teils recht enge persönliche und politische Verbindungen zu den Familienmitgliedern pflegten. Insbesondere dann, wenn das betreffende episkopale Hochstift in direkter Nachbarschaft zum familiären Herrschaftsbereich lag, lassen sich umfassende Kooperationen finden; umgekehrt konnte eine größere räumliche Entfernung zur Aufgabe eines geistlichen Amtes führen, wenn der Prälat unaufschiebbare dynastische Verpflichtungen wie eine Vormundschaft übernehmen musste. Diese engen Kontakte lassen es geraten erscheinen, bei einem auf die Untersuchung fürstlicher Handlungsspielräume abzielenden Fokus die abgeschichteten Personen der jeweiligen Dynastie zumindest nicht ganz außen vor zu lassen. Tobias Pietsch orientiert sich mit seinem Beitrag in Richtung Nordosten, indem er die Regierungsziele Herzog Ulrichs von Mecklenburg aufzeigt, der mit 48 Regierungsjahren und einer programmatischen Ausgestaltung seiner Herrschaft als einer der bedeutsamsten mecklenburgischen Fürsten gelten darf. Seine Bemühungen um das Gemeinwohl, verknüpft mit einem eingehenden Studium der Lehren Martin Luthers, resultierten im Erlass zahlreicher Ordnungen, mit denen er nicht nur das Staats-, sondern auch das Kirchenwesen seines Herrschaftsgebietes zu verbessern gedachte. Ferner betätigte sich der Fürst intensiv auf dem Terrain der Jurisdiktion und füllte seine Herrschaft somit in vielen Teilen höchstpersönlich und mit großem Einsatz aus. Insbesondere in der langen Dauer seines Wirkens und den vielfältigen Herausforderungen, die das endende 16. Jahrhundert stellte, lassen sich die Handlungsspielräume eines Herzogs auf verschiedensten Gebieten exemplarisch nachvollziehen.

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Ebenfalls um eine Fürstenpersönlichkeit geht es im Aufsatz von Laura Potzuweit: Sie bedient sich einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive und beleuchtet am Beispiel des Herzogs Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg die Motive eines Witwers. Nach nicht einmal viereinhalb Jahren Ehe verlor dieser Fürst seine erst 20-jährige Frau Friederike Elisabeth Amalie Auguste von Württemberg-Mömpelgard im Spätherbst 1785 kurz nach der Totgeburt des dritten Sohnes. Seine anschließende 44-jährige Witwerschaft und die Frage nach ihren Folgen für das politische wie auch persönliche Wirken des Fürsten ist in der Forschung – kein Einzelfall für die Neuzeit, aber auch nicht für ähnlich gelagerte Fälle im Mittelalter – bislang noch nicht behandelt worden. Nach einem Blick auf die Ehe des Herzogspaares stehen verschiedene mögliche Motivationen für das langfristige Dasein Peter Friedrich Ludwigs als Witwer zur Diskussion, etwa die Zuneigung zur verstorbenen Ehefrau, die vorhandene Nachkommenschaft und die Finanzen, womit sich ein Untersuchungsspektrum für weiterführende Analysen eröffnet. Verknüpft wird dies schließlich mit der Frage, ob der Witwerschaft ein Einfluss auf die Handlungsspielräume des Fürsten zugesprochen werden kann. Den Blick auf einen anderen zeitlichen wie räumlichen Fokus eröffnet KnutHinrik Kollex, der sich der Matrosen- und Freikorpsbewegung im Umfeld des Kieler Matrosenaufstands von 1918 annimmt und mit der Verlagerung von Handlungsorten eine dezidiert raumgebundene Handlungsstrategie betrachtet. In zwei großen Kapiteln werden beide Bewegungen samt den ihnen immanenten räumlichen Aktionen und ihren Auswirkungen auf die jeweilige Durchsetzungskraft behandelt. In dieser schlaglichtartigen Gegenüberstellung wird deutlich, dass die im November 1918 zwar sehr wirkmächtige Matrosenbewegung kaum langfristige politische Auswirkungen hatte. Ihre Ausbreitung von der Provinz in die Hauptstadt verlief linear, wobei – anders als in der Freikorpsbewegung – keine räumliche Projektionsfläche entstand. Eine weit deutlichere Stilisierung und romantisierende Umdeutung eines Raumes, in diesem Fall des Baltikums, lässt sich dagegen bei den Freikorpskämpfern erkennen, die ihre Energie zudem auf eine Weiterführung ihres Kampfes, nunmehr gegen die Republik, verwandten. Es zeigt sich, dass das Untersuchungskonzept der Handlungsspielräume weiterführende Erkenntnisse zu den großen politischen Bewegungen des ausgehenden Kaiserreichs und der beginnenden Weimarer Republik hervorbringen kann und dass der dezidierte Fokus auf die mit dem Untersuchungsgegenstand verknüpften Regionen Aussagen über die Wirkmächtigkeit dieser Phänomene, ihre (Selbst-)Stilisierung und ihre Bedeutung als Projektionsflächen ermöglicht. Hier klingt bereits die Bedeutung der Untersuchung von Akteuren und Akteursgruppen unter regionalgeschichtlichen Prämissen an. Explizit widmet sich den „Akteuren in der Regionalgeschichte“ noch einmal die abschließende Sektion, an deren Beginn sich Nina Gallion mit der Stadtelite der württembergischen Stadt Tübingen im ausgehenden Mittelalter und im frühen 16. Jahrhundert beschäftigt. Die städtische Führungsgruppe zeichnete sich dabei durch eine Reihe von Charakteristika aus, die unter anderem die Partizipation am Stadtregiment, eine hochgradige verwandtschaftliche Vernetzung untereinander und wirtschaftlichen Wohlstand ein-

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schließt. Die sozialgeschichtliche Untersuchung wendet sich dabei dezidiert von dem in der Forschung lange Zeit rezipierten Konzept der „Ehrbarkeit“ ab, das für die württembergischen Stadteliten eine Sonderstellung konstruieren wollte. Davon kann aber keine Rede sein, begegnen urbane Führungsgruppen mit ähnlichen Spezifika doch allerorts. Der Abstecher nach Süddeutschland nivelliert also zum einen regionale Unterschiede, was die grundsätzliche Zusammensetzung führender städtischer Gruppierungen angeht. Zum anderen unterstreicht er aber am Tübinger Beispiel die enge Verflechtung zwischen Regionen und den in ihnen lebenden Menschen, die von ihrem räumlichen Umfeld beeinflusst wurden und es ihrerseits beeinflussten. So konnte die Tübinger Stadtelite aufgrund der günstigen Entwicklung und Vorrangstellung ihrer Heimatstadt auch auf territorialer Ebene politisch teilhaben, was insbesondere an der Biographie des Tübinger Vogts Konrad Breuning, einem wichtigen Protagonisten seiner Zeit, deutlich wird. Danach untersucht Katja Hillebrand einen Kriminalfall aus dem spätmittelalterlichen Norden des Reiches: Gegenstand ihres Beitrags ist der Predigermönch Heinrich Meyer, Prior des Hamburger Dominikanerkonvents und Provinzial, dessen Machenschaften am Vorabend der Reformation nach heutigen Wertmaßstäben als „Amtsmissbrauch und Bestechung“ zu charakterisieren wären. Weitgehend ohne Einschränkung durch ein Unrechtsbewusstsein agierte dieser Geistliche inmitten der in der Ordensprovinz Saxonia besonders heftig geführten Differenzen zwischen den Konventualen, denen er angehörte, und den Observanten, die um Reformen in der Umsetzung der Ordensinhalte rangen. Meyer missachtete hierbei anscheinend bewusst Vorgaben aus der höchsten Leitungsebene des Ordens sowie generelle rechtliche Regeln, bemühte sich gezielt um Destabilisierung und konnte mithilfe seines persönlichen Netzwerkes offenbar wiederholt verhindern, dass seine Verstöße geahndet wurden. Das Verhalten dieses Akteurs wirft ein Schlaglicht auf die Situation des Dominikanerordens am Ende des Mittelalters und die letztlich nicht mehr zu klärenden Streitpunkte in der Saxonia. Jörg Mißfeldt nähert sich der Sektion von einer anderen Seite, indem er die Beamtenlaufbahn des Paul Johann Friedrich Boysen im Spannungsfeld zwischen Dänemark und Preußen hinterfragt. Der chronologisch aufgebaute, verschiedene Funktionen des Akteurs beleuchtende Beitrag zeigt die realpolitischen Möglichkeiten eines regionalen Verwaltungsbeamten im 19. Jahrhundert auf. Vom einzelnen Akteur ausgehend, erlaubt der Beitrag aber auch einen Einblick in die Gesellschaft der in Rede stehenden Räume Dithmarschen und Hildesheim sowie in die jeweiligen Eigenheiten, die dann das Wirken eines Verwaltungsbeamten betrafen. Zugleich eröffnet er räumlich wie politisch eine viel größere Perspektive, da Boysens Wirken nicht nur im Hinblick auf sein unmittelbares Umfeld beleuchtet, sondern zugleich in die großen Konfliktlinien zwischen Dänemark und Preußen sowie in den Kontext der schleswig-holsteinischen Erhebung eingeordnet wird. Indem mit Boysen gezielt ein Akteur mit einem ausgesprochen vielfältigen Wirkungsradius in den Mittelpunkt des Beitrags gestellt wird, zeigt sich die Relevanz eines regionalgeschichtlichen Zugriffs, da exemplarisch ein Lebensweg im Spannungsfeld nicht nur von Verwaltung und Politik, sondern auch zwischen widerstreitenden politi-

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schen wie nationalen Positionen untersucht wird und so vergleichbare Erkenntnisse darüber zutage treten, wie administratives Personal die Geschicke Norddeutschlands im 19. Jahrhundert maßgeblich mitprägen konnte. Mit einer Analyse der Hanserezeption im Lübeck der Weimarer Republik beendet Julian Freche die fünfte Sektion und schließt damit zugleich den Band. Neben möglichen Motiven und Strategien thematisiert der Autor vor allem auch jene Akteure und Akteursgruppen, die in die regionale Hanserezeption involviert waren. Deutlich wird hierbei, dass sich zwar eine durchaus positive Aufnahme der Hanse in jener Zeit auch für Lübeck nachweisen lässt, ihr aber politische Spannungen einen teils sehr deutlichen Stempel aufdrückten. Wurden von sozialistischer Seite zumeist die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der spätmittelalterlichen hansestädtischen Gesellschaft kritisiert, ging es Rednern aus dem nationalistischen Lager eher darum, die Verdienste der Hanse als Institution und ihrer einzelnen Protagonisten, der Kaufleute, für das damalige Reich und damit – so die unreflektierte zeitliche Übertragung – für Deutschland zu betonen. Einzelne Personen, darunter auch national Gesinnte und Kaufleute, taten sich eher schwer damit, sich selbst oder andere aus ihrem Umfeld als Hanseaten zu bezeichnen. Unter Rückgriff auf zeitgenössische Quellen stellt der Autor in diesem Zusammenhang die spannende These zur Diskussion, dass vermutlich gar keine explizite Benennung als Hanseat nötig war, da schon einzelne Attribute eine Beschreibung als hanseatisch evozierten. Zudem ist den Entwicklungen ab dem Ersten Weltkrieg Rechnung zu tragen, die angesichts der vielen Veränderungen im lübeckischen Raum und seiner Gesellschaft offenbar für Zurückhaltung bei der Verwendung des Begriffs des Hanseaten sorgten – mit dem Hinweis auf die in dieser Hinsicht noch nicht untersuchte Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet der Beitrag zugleich eine weitere Forschungsperspektive.

Abschließende Bemerkungen Der vorliegende Sammelband erschließt sich somit durch einen raumbasierten Zugang, verstanden als Beziehungsgeflecht von Ideen, Orten, Objekten, Personen und Praktiken, der die enge Verbindung von transnationalen, regionalen und lokalen Kontexten analysiert, wodurch hoffentlich die Notwendigkeit einer nachhaltigen, interdisziplinär betriebenen und transnational gedachten Regionalgeschichtsschreibung augenfällig wird. Im selben Maße, wie der Band somit eine Fülle von Themen versammelt und ganz verschiedene regionalgeschichtliche Potentiale aufzeigt, ist er natürlich auch ein Werk vieler Personen. Allen Autor*innen sind wir zu großem Dank verpflichtet – natürlich insbesondere für die Bereitschaft, ihre Beiträge fristgerecht beizusteuern und damit einen Einblick in laufende Forschungen zu geben, aber nichtsdestoweniger für die vielen Anregungen, Hinweise und Überlegungen zur Konzeption des Bandes. Insgesamt will dieser einen Einblick in die große inhaltliche wie methodische Vielfalt regionalgeschichtlichen Arbeitens geben und zeigen, dass nicht nur mediävistische, neuzeitliche und zeitgeschichtliche Zugriffe von einem spezifischen, mitunter auch vergleichenden Blick auf Region(en)

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profitieren können. Natürlich können die hier versammelten Aufsätze keinen systematischen Überblick über regionalhistorische Themen vom frühen Mittelalter bis zur aktuellen Gegenwartsgeschichte oder raumbasierte Methoden liefern; das wollen sie aber auch gar nicht. Vielmehr ist es das Anliegen der Herausgeber*innen und Autor*innen, auf bestehende thematische wie methodische Forschungslücken aufmerksam zu machen, derzeit in Bearbeitung befindliche Vorhaben vorzustellen und künftige Studien anzustoßen. Gleichwohl lassen die Beiträge in der Zusammenschau bereits den Konstruktcharakter von Regionalität und Raum erkennen, der wiederum einen weiteren zentralen Aspekt des vorliegenden Bandes spiegelt. Kurzum: Der jeweils zu untersuchende Raum ist auf keinen Fall beliebig auszuwählen, sondern es muss sich dabei stets um eine durchdachte, an die jeweilige Fragestellung angepasste und exemplarisch angelegte Raumkonstruktion handeln. Schließlich liegen die Potentiale regionalgeschichtlicher Forschung in erster Linie darin, dass ausgehend von einem begründet ausgewählten, klar umrissenen Raum Ergebnisse mit allgemeiner Aussagekraft herausgearbeitet werden können und in diesem Untersuchungssetting auch eine große Varianz von Methoden angewandt sowie auf ihren Nutzen hin überprüft werden kann. In diesem Sinne will der Band beispielsweise die Chancen von institutionen-, sprach-, mentalitäts-, verfassungs-, kultur-, dynastie- und kirchengeschichtlichen Zugängen demonstrieren und im weitesten Sinne am Beispiel Norddeutschlands zeigen, wie verschiedene Untersuchungs- und Raumkonzeptionen ganz unterschiedliche, in ihrer Varianz die Vielfalt geschichtswissenschaftlichen Forschens betonende Ergebnisse hervorbringen können. Die Verbindung zu den Digital Humanities mit ihrem facettenreichen Set sowohl an Auswertungsmöglichkeiten für große Quellenkorpora als auch an Präsentationsmöglichkeiten der daraus hervorgehenden Resultate weist dezidiert auf die Anknüpfbarkeit des regionalgeschichtlichen Arbeitens an derzeitige IT-Standards und ihre Bedeutung für die gesamte geschichtsinteressierte Öffentlichkeit weit jenseits des universitären Elfenbeinturms hin.29 So vielschichtig die Potentiale regionalgeschichtlichen Arbeitens auch sein können – ohne weitreichende Unterstützung und Förderung von verschiedenster Seite hätten sie nie den Weg zwischen zwei Buchdeckel gefunden. Die redaktionelle Unterstützung von Herrn Jan Ocker und Herrn Kai Wittmacher hat die Bearbeitung der englischsprachigen Abstracts sehr erleichtert, wofür wir herzlich Danke sagen. Bei der Redaktion haben uns außerdem Anna Eickenberg, Florian Kehm, Heidrun Ochs und Nathalie Wachowski unterstützt. Florian Kehm, Helena Knuf und Katharina Nierula haben die verdienstvolle Aufgabe auf sich genommen, das Orts- und das Personenregister zu erstellen. Vielmals danken möchten wir zudem Frau Laura 29 Zu der esoterisch anmutenden Gesellschaftsferne und weltlichen Unberührtheit, die die Metapher des „Elfenbeinturms“ suggeriert, auf der einen sowie zur Interdependenz von Öffentlichkeit und Hochschule auf der anderen Seite siehe neuerdings Martin Göllnitz und Kim Krämer, Hochschule im öffentlichen Raum. Bemerkungen zu Historiographie und Systematik, in: Hochschulen im öffentlichen Raum. Historiographische und systematische Perspektiven auf ein Beziehungsgeflecht, hg. von Dens. (Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz, N. F. 17), Göttingen 2020, S. 7‒26.

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Potzuweit für ihre organisatorische Hilfe bei der Durchführung des Vorhabens. Außerdem gebührt dem Vandenhoeck & Ruprecht Verlag ein Wort aufrichtigen Dankes für die kompetente und verlässliche Zusammenarbeit bei Satz und Druck, insbesondere Herrn Daniel Sander, der die Drucklegung mit fachkundiger Beratung begleitet hat und uns stets mit Rat zur Seite stand. Nicht zuletzt gilt unser aufrichtiger herzlicher Dank den Alumni und Freunden der CAU e. V., der Brunswiker Stiftung und der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, ohne deren finanzielles Engagement die Drucklegung des Bandes nicht realisierbar geworden wäre. Der eingangs genannte Gottorfer Globus offerierte Herzog Friedrich  III. von Schleswig-Holstein-Gottorf und seinen Zeitgenossen die Möglichkeit, die Welt als Ganzes zu sehen und je nach Interesse unterschiedlich große Räume in den Blick zu nehmen. Zwar wird dieser Band ersteres nicht einlösen können – dafür ist wohl kein Buchumfang erschöpfend –, aber stattdessen erlaubt er den Leser*innen, durch ganze 21 Brenngläser auf unterschiedliche Raumzuschnitte und verschiedenste Themen wie Zeiträume zu blicken und so die Potentiale des regionalgeschichtlichen Blicks auf die Welt respektive ihre Vergangenheit zumindest exemplarisch zu erkunden.

1. Potentiale einer Perspektive des Raums

Martin Göllnitz

Beyond Ordinary Men? Perspektiven einer Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte

Abstract The police played an important role in marginalizing outsiders, in stabilizing the Nazi terror regime and the East German dictatorship, in dealing with youth protest or in the slow integration of women and migrants. Although the police thus reflect some of the most important developments of the 20th century, the recent history of the police has not yet been adequately researched. However, its existence in the shadow of the historical mainstream does not do justice to the social, political and cultural significance of the police. In light of recent events in Europe and the United States of America, it seems indispensable that we broaden our understanding of the police force(s), especially in the area of recent, regional contemporary history. In this context, it is particularly important to analyse the function of the police in state politics and society using a constructivist approach. For this reason, the article uses selected perspectives to argue for the inclusion of sociological, social and cultural science theories. At the same time, the article makes clear that police history can be quite sexy for modern research.

Egal ob Charlie Chaplin, Donald Duck, Gaston, Phileas Fogg, die Sex Pistols, Herbert Marcuse oder Alfred Hitchcock – sie alle vereint die Tatsache, dass jeder von ihnen berechtigte Gründe hatte oder hat, sich von der Polizei fernzuhalten.1 Doch selten war die Kritik am exzessiven Verhalten von Polizist*innen so deutlich zu hören wie in den vergangenen Jahren. Der Tod des US-Amerikaners George Floyd, aber auch die Ereignisse vom 30. April 2009 in Regensburg, in deren Verlauf der Berufsfachschüler Tennessee Eisenberg bei einer Auseinandersetzung mit Polizeibeamten durch zwölf Schüsse sein Leben verlor, führen vor Augen, dass Begegnungen mit der Polizei prägend sein können, im schlimmsten Fall sogar tödlich enden.2 Ob und 1 Vgl. dazu und zum Folgenden Georg Seeßlen, Das Ende des Good Cop, in: Zeit-Online (15.6.2020), https://www.zeit.de/kultur/film/2020-06/polizei-filme-darstellung-polizeigewalt (17.9.2020). 2 Für den deutschen Raum, auch mit Bezug zum Fall Eisenberg, siehe grundlegend Alf Lüdtke und Michael Sturm, Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert – Perspektiven, in: Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, hg. von Alf Lüdtke, Herbert Reinke und Michael Sturm (Studien zur Inneren Sicherheit 14), Wiesbaden 2011, S. 9–42, hier S. 9–12; ferner Rafael Behr, Gewalt und Polizei. Ambivalenzen des innerstaatlichen Gewaltmonopols, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), H. 21–23, S. 24–28. Zum Tod von George Floyd siehe

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wie ein Mensch in eine demokratische Gesellschaft hineinwächst, hängt jedoch zumindest teilweise von den Erfahrungen ab, die er oder sie mit der Polizei gemacht hat. Zunehmend etablieren sich daher gesellschaftliche Diskurse über polizeiliche Praktiken in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, die nachhaltige Kontroll- und Sanktionsmechanismen gegenüber Polizist*innen beziehungsweise polizeiliches Verhalten zum Ziel haben. So fordert etwa Amnesty International seit längerem die „Einrichtung unabhängiger Polizeibeschwerdemechanismen“3 zur Verhinderung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die deutsche Polizei. Auf internationaler Ebene veranstaltet dagegen die #BlackLivesMatter-Bewegung seit 2013 regelmäßig Proteste gegen die Tötung von People of Color durch Polizist*innen und benennt lautstark die strukturellen Probleme der staatlichen Exekutive in den USA, vor allem Racial Profiling, Rassismus und die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt.4 Obgleich in westeuropäischen Demokratien wie Deutschland nur ein verhältnismäßig geringer Teil des individuellen Kontakts mit der Polizei von Gewalt oder Rassismus geprägt ist, so birgt doch jede Gleichgültigkeit, Gehässigkeit, jedes Vorurteil oder jede Bedrohung zugleich das Potential, für die Beziehung von Subjekt und Gesellschaft respektive Staat toxisch zu werden. Zusätzlich wird das Vertrauen in die Polizeibehörden in hohem Maße belastet, wenn einzelne Polizist*innen durch ihr Fehlverhalten, Versagen oder durch Korruption bundesweit und regional Schlagzeilen machen.5 Immerhin gelten sie in ihrer Funktion als Vertreter*innen des staatlichen Gewaltmonopols als Garant*innen für die öffentliche Sicherheit im Inneren Evan Hill u. a., 8 Minutes and 46 Seconds. How George Floyd Was Killed in Police Custody, in: The New York Times (31.5.2020), https://www.nytimes.com/2020/05/31/us/george-floydinvestigation.html (17.9.2020); zum Fall Tennessee Eisenberg vgl. Katja Auer, Fall Tennessee Eisenberg. Schocken statt schießen, in: Süddeutsche Zeitung (28.5.2015), https://www.sueddeutsche.de/bayern/fall-tennessee-eisenberg-schocken-statt-schiessen-1.934304 (17.9.2020). 3 Amnesty International, Täter unbekannt. Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland, Bonn 2010, S. 108 f. 4 Ganz offenbar handelt es sich dabei um kein US-amerikanisches Problem, wie ein RassismusSkandal bei der Essener Polizei deutlich macht, der zeitgleich zur Verschriftlichung des vorliegenden Beitrages öffentlich wurde. Mindestens 29 Polizeibeamte, 25 von ihnen gehörten bis zu ihrer Suspendierung dem Polizeipräsidium Essen an, hatten in fünf WhatsApp-Chatgruppen hetzerische, rassistische Aufnahmen sowie Bilder vom Hitlergruß, von Hakenkreuzen und Reichsflaggen geteilt. Dieser Skandal ist aber nur der neueste Fall in einer ganzen Serie: In Frankfurt a. M. wurde 2018 ein riesiges rechtsextremes Netzwerk innerhalb der Polizeibehörde enttarnt, im Folgejahr flog eine Chatgruppe auf, in der Dutzende aktive wie ehemalige Münchener Polizisten u. a. antisemitische Nachrichten geteilt hatten. Im Februar 2020 mussten in Baden-Württemberg sieben Polizeischüler suspendiert werden, weil sie über einen Messenger-Dienst nationalsozialistische, antisemitische und frauenfeindliche Äußerungen ausgetauscht hatten. Siehe dazu auch Christian Parth, Rechtsextreme Chatgruppen. Nur ein weiterer Stich in eine Blase, in: Zeit-Online (16.9.2020), https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/rechtsextreme-chatgruppen-polizei-rassismus-problem-nrw (17.9.2020). Siehe für weitere Hintergrundinformationen den Schwerpunkt „Achtung, Polizei“, in: Zeit-Online, https://www.zeit.de/schwerpunkte/polizei/index (17.9.2020). 5 Laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2019 haben die Deutschen das größte Vertrauen in die Polizei, Universitäten und Ärzte. Trotz eines Vertrauensverlustes von fünf Prozentpunkten zum Vorjahr führte die Polizei das Ranking mit einem Vertrauenszuspruch von 78 Prozent an.

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eines demokratischen Staates.6 Legitimitäts- und Akzeptanzprobleme der Polizei berühren somit immer auch die Rolle, Wahrnehmung und Identität eines Staates und vice versa. Oder anders gewendet: Wer dem Staat nicht vertraut, der bringt auch der Polizei kein Vertrauen entgegen; und wem die Polizei nicht trauen kann, der kann sich nur schwer als Teil einer demokratischen Gesellschaft begreifen. Und wer sich gewaltbereit gegenüber Polizeibeamt*innen verhält, zum Beispiel bei Fußballspielen, Demonstrationen oder Einsätzen in urbanen „Problemvierteln“, stellt letztlich auch die Autorität der Staatsmacht infrage. Die Polizei befindet sich folglich in einer ambivalenten Position, die Der Spiegel bereits im Jahr 1981 mit dem überspitzten Vergleich „Schläger oder Prügelknaben“7 pointiert auf den Punkt brachte und die Georg Seeßlen jüngst in einem lesenswerten Essay auf Zeit-Online folgendermaßen charakterisierte: „Der Polizist ist einerseits die letzte Bastion von Ordnung und Gerechtigkeit, Zuflucht im Krisenfall, letzte Rettung in einer unendlich suggestiven, bösartigen und unaufgeklärten Welt. Andererseits ein echter Spielverderber, Verkörperung von Autorität und Schikane. Der Polizist ist eine Gestalt, die immer klarmacht, dass etwas mit der Welt nicht stimmt.“8 Die Polizei als Institution und Personenverband sowie konkrete polizeiliche Praktiken spiegeln somit in hohem Maße politische und gesellschaftliche Diskurse wider, die ihrerseits Einfluss auf Struktur und Ausformung sowie Aufgaben und Selbstverständnis der Polizei haben. Auch legt die Polizeiarbeit beziehungsweise ihre Wahrnehmung ein beredtes Zeugnis über den inneren Zustand einer Gesellschaft, die politische Verfasstheit und die Herrschaftsordnung eines Landes ab, da in ihr der soziale und politische Wandel einer Gesellschaft wie in einem Brennglas gebündelt wird.9 Demnach sind sie keinesfalls „gesichtslose Agenten“, die von einer Position jenseits der Gesellschaft agieren und das „Gesetz“ beziehungsweise die Interessen einer herrschenden Klasse oder, um es mit Donald Trump zu sagen, eines politischen Establishments mechanisch gegenüber den zivilen Staatsbürger*innen durchsetzen.10

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Vgl. den Artikel o. V., Weiterhin großes Vertrauen in Universitäten trotz Verlusten, in: Forschung & Lehre (8.1.2019), https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/weiterhin-grosses-vertrauen-in-universitaeten-trotz-verlusten-1391/ (17.9.2020). Vgl. dazu Sabine Mecking, Mehr als Knüppel und Knöllchen. Polizeigeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Ders. (Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung), Wiesbaden 2020, S. 1–25, hier S. 3; Martin H. W. Möllers und Robert Chr. van Ooyen, Bundeskriminalamt, Bundespolizei und „neue“ Sicherheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48 (2008), S. 26–32. Vgl. dazu das Cover „Polizei: Schläger oder Prügelknabe“, in: Der Spiegel (23.11.1981), https:// www.spiegel.de/spiegel/print/index-1981-48.html (17.9.2020). Seeßlen, Good Cop. In den Wechselbeziehungen von Gesellschaft, Staat und Polizei macht auch Klaus Weinhauer das besondere wissenschaftliche Interesse in Bezug auf die Geschichte der Polizei nach 1945 aus. Vgl. Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003, S. 11. Lüdtke/Sturm, Polizei, S. 12.

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Vielleicht ist in der ambivalenten Rolle der Polizei und deren gesellschaftlicher Relevanz auch der Grund zu erblicken, weshalb eine breite Öffentlichkeit fast manisch das mediale Bild des Good und Bad Cop konsumiert,11 ob in Romanen wie der bekannten schwedischen Kurt Wallander-Reihe, in amerikanischen Spielfilmen wie Dirty Harry (1971) und Stirb Langsam (bislang fünf Filme seit 1989) oder TV-Serien wie Großstadtrevier (seit 1986) und Babylon Berlin (seit 2017).12 Neuerdings erfreuen sich überdies die sogenannten True-Crime-Podcasts wie My Favorite Murder (seit Januar 2016), Zeit Verbrechen (seit April 2018) oder Mordlust (seit Juli 2018) einer enormen Beliebtheit. Das große Interesse an Kriminalfällen, skurrilen Ermittlern und einer auf schmalem Grat wandernden Darstellung von Polizeikultur vermittelt fast schon den Eindruck, dass ein metaphorisches Cop Land in der Alltagskultur des 20. und 21. Jahrhunderts allgegenwärtig ist. Dass derart auf ein Massenpublikum zugeschnittene Medienformate darüber hinaus auch regionale Besonderheiten der Polizei aufgreifen, thematisieren und erfolgreich vermarkten können, beweist die im deutschsprachigen Raum äußerst populäre Kriminalfilm-Reihe Tatort, in der seit 1970 über 1.100 Filme erschienen sind und zu der auf lokaler Ebene sogar Public-Viewing-Events organisiert werden13 – natürlich passend zu den in der jeweiligen Region oder Großstadt ermittelnden Kriminalisten: Während in Kiel vor allem Kriminalhauptkommissar Klaus Borowski das Fernsehherz höher schlagen lässt, gelten sein Kollege Frank Thiel und der Rechtsmediziner Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne fast schon als Markenzeichen der 11 Zu den Leitbildern sowie einer maskulinen Subkultur in der Polizei siehe grundlegend Rafael Behr, Cop Culture – der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Wiesbaden 22008. 12 Zum Genre des Kriminalromans siehe exemplarisch Dorothee Kimmich und Philipp Alexander Ostrowicz (Hg.), Poetics of Crime – Die Poetik der Kriminalliteratur, Künzelsau 2018; Luc Boltanski, Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, Berlin 2013; Martin Priestman, Crime Fiction. From Poe to the Present, London 22013; Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart 42009; Lee Horsley, Twentieth-Century Crime Fiction, Oxford (NY) 2005; Jochen Vogt, Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München 1998. Zu den Genres des Polizeifilms und der Polizeiserie siehe in Auswahl Ruth McElroy (Hg.), Contemporary British Television Crime Drama. Cops on the Box (Routledge Advances in Television Studies 7), London 2017; Mareike Jenner, American TV Detective Dramas. Serial Investigations, Houndmills 2016; Cecile Sandten, Gunter Süß und Melanie Graichen (Hg.), Detective Fiction and Popular Visual Culture (Chemnitzer Anglistik, Amerikanistik Today 4), Trier 2013; Manuela M. Brandstätter, Kriminalserien und Unterhaltung. Eine genretheoretische Analyse deutscher und amerikanischer Formate (New Media in Creativity, Content and Entertainment 2), Frankfurt a. M. 2011; Michael Flintrop, Der Action-Cop als populäres Filmgenre. Versuch einer Bestimmung, München 2010; Georg Seeßlen, Copland. Geschichte und Mythologie des Polizeifilms, Marburg 1999. 13 Zur Tatort-Filmreihe existiert mittlerweile eine breite Forschungsliteratur. Vgl. u. a. Judith Früh, Tatort als Fernsehgeschichte. Historiografien und Archäografien eines Mediums, München 2017; Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger, Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im „Tatort“, Bielefeld 2014; Hendrik Buhl, Tatort. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe (Alltag, Medien und Kultur 14), Kon­stanz 2013; Dennis Gräf, Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher (Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 1), Marburg 2010.

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Stadt Münster, und die fiktiven Kriminalkommissare Lessing und Dorn gehen am liebsten vor einem Weimarer Publikum auf die Verbrecherjagd.14 Nun mag die Entscheidung der verantwortlichen Akteure bei ARD, ORF und SRF, abwechselnd unterschiedliche Kriminalpolizist*innen an verschiedenen Schauplätzen ermitteln zu lassen, in erster Linie mit den föderalen Strukturen der ARD, dem Wunsch nach Abwechslung und dem nicht zu unterschätzenden Marketingfaktor des Lokalkolorits zusammenhängen.15 Doch im Konzept des Tatorts offenbart sich zugleich ein wesentliches Charakteristikum deutscher Polizeiorganisation, das im Rahmen der traditionellen Sonntagabendunterhaltung nur selten Erwähnung findet: Aufgrund des politischen Mehrebenensystems der Bundesrepublik Deutschland (BRD) liegt die Zuständigkeit für die Polizei einzig bei den Bundesländern, sieht man von der zahlenmäßig kleineren Bundespolizei, dem Bundeskriminalamt und der Polizei beim Deutschen Bundestag einmal ab.16 Alle 16 Bundesländer haben ihre eigene Polizei, mit jeweils individuellen Strukturen (so gibt es in Hessen seit 2004 eine Ordnungspolizei) und zum Teil eigenen Bezeichnungen (beispielsweise Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt oder Bayerisches Landeskriminalamt). Dass ein uniformierter Bereitschaftspolizist, ein Wasserschutzpolizist, eine Kriminalistin im Landeskriminalamt oder eine Dozentin an einer Polizeihochschule sich überdies kaum mehr als die Berufsbezeichnung teilen, verstärkt diesen Eindruck zusätzlich.17 Sabine Mecking betont daher zu Recht, „die Polizei oder den Polizisten gibt es nicht“ und es sei treffender, „im Plural von Polizeien zu sprechen“.

Quo vadis, Polizeiforschung? An den erwähnten Eckpunkten – Polizei als Spiegelbild gesellschaftlichen Wandels, Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols im Inneren und Objekt eines öffentlichen sowie medialen Interesses – lässt sich ablesen, dass die Polizei als Institution und Personenverband eine hohe gesellschaftliche Relevanz besitzt und folglich auch die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit derselben. Aufgrund ihrer föderalen Struktur eröffnet besonders ein regional- oder landesgeschichtlicher Zugriff auf die deutsche Polizei somit ein Themenfeld, in dem sich historische Forschung und Gegenwartsanalyse im Sinne einer Problemgeschichte der Gegenwart 14 Vgl. insb. Christine Hämmerling, Sonntags 20:15 Uhr – „Tatort“. Zu sozialen Positionierungen eines Fernsehpublikums (Göttinger Studien zur Kulturanthropologie und zur Europäischen Ethnologie 5), Göttingen 2016. 15 Siehe Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger, Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe Tatort im historischen Verlauf, Paderborn 2014. 16 Hermann Groß, Polizei(en) und Innere Sicherheit in Deutschland. Strukturen, Aufgaben und aktuelle Herausforderungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), H. 21–23, S. 4–10; Bernhard Frevel und Hermann Groß, „Polizei ist Ländersache!“ – Politik der Inneren Sicherheit, in: Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, hg. von Achim Hildebrandt und Frieder Wolf, Wiesbaden 2008, S. 67–88. 17 Siehe dazu und zum folgenden Zitat Mecking, Knüppel, S. 2.

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miteinander verknüpfen lassen und im Horizont kultur-, politik- und sozialwissenschaftlicher Theorieangebote diskutiert werden können. Doch bevor die Perspektiven einer Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte in den Fokus rücken, sollen zunächst die bisherigen Entwicklungen, thematischen Schwerpunkte und konkreten Untersuchungsobjekte der polizeigeschichtlichen Forschung in ihren Konturen nachgezeichnet werden. Und obgleich der vorliegende Beitrag mit seinem Blick auf die Polizei als Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols im Inneren eines Staates an Überlegungen der Historischen Sicherheitsforschung anschließt, wonach der Begriff der Inneren Sicherheit im Kontext der „guten Policey“ des frühneuzeitlichen Staates entstanden ist,18 so beschränkt sich die Analyse doch vorrangig auf Arbeiten zur deutschen Polizeigeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihren Platz in der Geschichtsschreibung der BRD hat die Polizeigeschichte erst spät gefunden, wobei verstärkt die neue Täterforschung der späten 1980er Jahre erste Impulse setzte. Bis dahin hatte die deutsche Zeitgeschichte der Polizei keine größere fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt, was der internen Vergangenheitsbewältigung deutscher Polizeibehörden enormen Vorschub leistete.19 Den Startschuss einer apologetischen Vergangenheitsdeutung, der es in erster Linie Angehörigen der Kriminalpolizei ermöglichen sollte, sich entlastender Narrative im Zuge ihrer bundesrepublikanischen Rehabilitierung zu bedienen, gab Der Spiegel im Jahr 1949: Der Gründer und damalige Chefredakteur Rudolf Augstein beauftragte mit Bernd Wehner einen Abteilungsleiter des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA), eine 30-teilige Artikelserie über die deutsche Kriminalpolizei (Kripo) zu verfassen, die in einem schnoddrigen Kasinoton jene Lesart etablierte, wonach es in den Spitzenpositionen der Reichskriminalpolizei „keine ergebenen Nationalsozialisten“ gegeben habe.20 In der Folgezeit bemühten sich vor allem Wehner und Walter Zirpins, ein weiterer ehemaliger Angehöriger des RKPA, um eine nachträgliche Interpretation ihrer Behörde.21 Mithilfe einer weitgehend fiktiven Tradition unbeirrter Rechtsstaatlich18 Vgl. Werner Conze, „Sicherheit, Schutz“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1984, S. 831–862. 19 Vgl. zur „Frühgeschichte“ der deutschen Geschichtsschreibung über die Polizei insb. Ralph Jessen, Polizei und Gesellschaft. Zum Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung, in: Die Gestapo – Mythos und Realität, hg. von Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 1995, S. 19–43; Herbert Reinke, Polizeigeschichte in Deutschland. Ein Überblick, in: Die Deutsche Polizei und ihre Geschichte. Beiträge zu einem distanzierten Verhältnis, hg. von Peter Nitschke (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e. V. 2), Hilden 1996, S. 13–26; Martin Hölzl, Legenden mit Langzeitwirkung. Die deutsche Polizei und ihre NS-Vergangenheit, in: Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat, hg. von Florian Dierl u. a., Dresden 2011, S. 90–101. 20 Bernd Wehner, Das Spiel ist aus – Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei. 9. Fortsetzung, in: Der Spiegel (1.12.1949), S. 22–28, hier S. 22. 21 Vgl. u. a. Walter Zirpins, Die Entwicklung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung in Deutschland, Hamburg 1955; Bernd Wehner, Dem Täter auf der Spur. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei, Bergisch Gladbach 1983.

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keit und unpolitischer Professionalität trugen sie in hohem Maße dazu bei, dass aus einer „Institution der Verfolgung“ allmählich eine „verfolgte Unschuld“ wurde.22 Die heiklen Aspekte der Kripogeschichte fielen hingegen unter den Tisch. Die Kriminalpolizei stellte mit dieser Verklärung ihrer Geschichte während des NS-Regimes freilich keine Ausnahme dar, auch anderen polizeilichen Vergangenheitspolitikern war an einer entlastenden Darstellung deutscher Polizeibehörden gelegen.23 Eine Beteiligung der Polizei an den Verbrechen des Nationalsozialismus wurde in diesen Studien nicht einmal am Rande erwähnt. Mithilfe dieser „Meistererzählungen“ deutscher Polizeigeschichte versicherten sich die Akteure ihrer „Eigen-Geschichte“24 und positionierten sich so gegenüber der Politik und der Gesellschaft, indem sie sowohl die Vergangenheit neu deuteten als auch Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen artikulierten. Noch 1992 bemerkte Alf Lüdtke, die Polizeigeschichte in Deutschland führe weitgehend ein Schattendasein, der es an kritischen Studien mangele und die von „rühmende[n] Selbstdarstellung[en]“ geprägt sei.25 In den Fokus der zeithistorischen Forschung geriet die Geschichte der deutschen Polizei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Beginn der 1990er Jahre. Zunächst sensibilisierte eine anlässlich des 38. Historikertages an der Universität Bochum im Jahr 1990 organisierte Sektion zur Polizeigeschichte ein wissenschaftliches Publikum für das Themenfeld. Am Anfang standen dabei noch Studien, deren zeitlicher Schwerpunkt sich auf die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg konzentrier-

22 Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeption und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 34), Hamburg 1996, S. 10; Ders., Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus, München 2002, S. 170. 23 Vgl. exemplarisch Paul Riege, Kleine Polizei-Geschichte, Lübeck 1959; Hans-Joachim Neufeldt, Jürgen Huck und Georg Tessin, Zur Geschichte der Ordnungspolizei 1936–1945 (Schriften des Bundesarchivs 3), Koblenz 1957; Friederike Wieking, Die Entwicklung der weiblichen Kriminalpolizei in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (Kleine Polizei-Bücherei 23/24), Lübeck 1958; Robert Harnischmacher und Arved Semerak, Deutsche Polizeigeschichte. Eine allgemeine Einführung in die Grundlagen, Stuttgart 1986; Heinrich Lankenau, Polizei im Einsatz während des Krieges 1939–1945 in Rheinland-Westfalen, Bremen 1957. Mit dem letztgenannten Autor befasst sich kritisch Christoph Spieker, Traditionsarbeit. Eine biografische Studie über Prägung, Verantwortung und Wirkung des Polizeioffiziers Bernhard Heinrich Lankenau 1891–1983 (Villa ten Hompel Schriften 12), Essen 2015. Zum Teil besaßen die hier genannten Vergangenheitspolitiker hohe SS-Ränge und waren während des NS-­Regimes bei der Ordnungspolizei bzw. im Reichskriminalpolizeiamt angestellt. 24 Der Terminus zielt auf die Notwendigkeit der Selbsthistorisierung sozialer Beziehungen zum Zweck der Legitimationserhöhung und zur Stiftung von kollektiver Identität. Vgl. Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 272018. 25 Alf Lüdtke, Einleitung. „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Aspekte der Polizeigeschichte, in: „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Dems., Frankfurt a. M. 1992, S. 7–33, hier S. 22. Ferner Hans-Gerd Jaschke, Geschichte der deutschen Polizei vor und nach 1945. Kontinuitäten und Brüche, in: Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte. Dokumentation einer Kolloquienreihe, hg. vom Bundeskriminalamt (Polizei + Forschung, Sonderband), Köln 2008, S. 37–61, hier S. 48 f.

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te.26 Doch infolge der Publikation von Christopher R. Brownings wegweisender wie vielzitierter Arbeit Ordinary Men27 begann die Zeitgeschichte, sich intensiver mit der Thematik und den Jahren zwischen 1918/19 und 1945 zu befassen. Aufbauend auf ersten Untersuchungen zur Polizei in der Zwischenkriegszeit, die ab 1987 die Schutzpolizei sowie einzelne regionale Aspekte in den Blick genommen hatten,28 unterstrichen nachfolgende Forschungen verstärkt das Ausmaß der polizeilichen Verstrickung in die Verbrechen des NS-Regimes. Im gesamten europäischen NS-Herrschaftssystem hatten Polizisten Ghettos bewacht, Einzel- und Massenerschießungen durchgeführt und an den Deportationen in die Vernichtungslager maßgeblich mitgewirkt. Auf diese Weise waren sie am Tod von mindestens 3,6 Millionen der etwa sechs Millionen Holocaust-Opfer beteiligt.29 In den nun nach und nach veröffentlichten Studien zur Polizei des NS-Staates wurde aus praktischen Erwägungen oftmals hinsichtlich der Polizeiorganisationen30 differenziert, das heißt

26 Siehe u. a. Ralph Jessen, Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 91), Göttingen 1991; Elaine Glovka Spencer, Police and the Social Order in German Cities. The Düsseldorf District, 1848–1914, DeKalb 1992; Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914 (Politik- und Gesellschaftsgeschichte 39), Bonn 1995; Alf Lüdtke und Herbert Reinke, Crime, Police, and the „Good Order“. Germany, in: Crime History and Histories of Crime. Studies in the Historiography of Crime and Criminal Justice in Modern History, hg. von Clive Emsley und Louis A. Knafla (Contributions in Criminology and Penology 48), Westport 1996, S. 109–137. Den internationalen Forschungsstand spiegeln Clive Emsley und Barbara Weinberger (Hg.), Policing Western Europe. Politics, Professionalism, and Public Order, 1850–1940 (Contributions in Criminology and Penology 33), New York 1991; Clive Emsley, The Policeman as Worker: A Comparative Study c. 1800–1940, in: International Review of Social History 45 (2000), S. 89–110. 27 Christopher R. Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992. Die deutsche Ausgabe erschien ein Jahr später: Ders., Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993. Zu Browning und seiner wegweisenden Studie siehe neuerdings die Beiträge in Thomas Pegelow Kaplan, Jürgen Matthäus und Mark W. Hornburg (Hg.), Beyond „Ordinary Men“. Christopher R. Browning and Holocaust Historiography, Paderborn 2019. 28 Wiederum in Auswahl: Helmut Fangmann, Udo Reifner und Norbert Steinborn, „Parteisoldaten“. Die Hamburger Polizei im „3. Reich“, Hamburg 1987; Norbert Steinborn, Militärs auf Abruf. Zur Rolle und Entwicklung der Hamburger Polizei 1919–1952, in: Hamburger Zustände. Jahrbuch zur Geschichte der Region Hamburg 1 (1988), S. 13–63; Peter Leßmann, Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Düsseldorf 1989; Richard Bessel, Militarisierung und Modernisierung: Polizeiliches Handeln in der Weimarer Republik, in: „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. 1992, S. 323–343. 29 Vgl. dazu Wolfgang Curilla, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939– 1945, Paderborn 2011, S. 851. 30 Zur Organisationsgeschichte der Polizei im NS-Staat, allerdings mit bisweilen unreflektierten Wertungen, vgl. Friedrich Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn 1999; ferner Peter Nitschke, Polizei im NS-System, in: Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland, hg. von Hans-Jürgen Lange (Studien zur Inneren Sicherheit 1), Opladen 2000, S. 51–63.

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nach Schutz- beziehungsweise Ordnungspolizei31 oder nach Kripo32 und Politischer Polizei beziehungsweise Geheimer Staatspolizei33 (Gestapo). Im Jahr 1936 wurden die Kripo und Gestapo überdies im Hauptamt Sicherheitspolizei34 (Sipo) zusammengeführt. 31 Wiederum in Auswahl: Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Klaus-Michael Mallmann, Vom Fußvolk der „Endlösung“. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), S. 355–391; Stefan Klemp, Freispruch für das „Mord-Bataillon“. Die NS-Ordnungspolizei und die Nachkriegsjustiz (Studien zum Nationalsozialismus 5), Münster 1998; Christopher R. Browning, Nazi Policy, Jewish Workers, German Killers, Cambridge 2000; Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn 2006; Ders., Judenmord. 32 Zur Kripo im NS-Regime siehe immer noch grundlegend Wagner, Volksgemeinschaft; Ders., Kriminalpolizei und „innere Sicherheit“ in Bremen und Nordwestdeutschland zwischen 1942 und 1949, in: Norddeutschland im Nationalsozialismus, hg. von Frank Bajohr (Forum Zeitgeschichte 1), Hamburg 1993, S. 239–265; Ders., „Vernichtung der Berufsverbrecher“. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei bis 1937, in: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 1, hg. von Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann, Göttingen 1998, S. 87–110; für lokale Studien vgl. u. a. Thomas Roth, Die Kölner Kriminalpolizei. Organisation, Personal und „Verbrechensbekämpfung“ eines lokalen Kripo-Apparates, in: Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus, hg. von Harald Buhlan und Werner Jung (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 7), Köln 2000, S. 299–369; Ders., Verwaltung und Vorurteil. Muster polizeilichen Alltagshandelns im Nationalsozialismus am Beispiel der Kölner Kriminalpolizei, in: Kölner Jahrbuch 32 (2000), S. 164–175. 33 Zur Gestapo siehe in Auswahl: Robert Gellately, The Gestapo and German Society. Enforcing Racial Policy 1933–1945, Oxford 1990; Martin Faatz, Vom Staatsschutz zum Gestapo-Terror. Politische Polizei in Bayern in der Endphase der Weimarer Republik und der Anfangsphase der nationalsozialistischen Diktatur (Studien zur Kirchengeschichte der neuesten Zeit 5), Würzburg 1995; Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann (Hg.), Die Gestapo – Mythos und Realität, Darmstadt 1995; Dies. (Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000; Eric A. Johnson, Der nationalsozialistische Terror. Gestapo, Juden und gewöhnliche Deutsche, Berlin 2001; Jan Ruckenbiel, Soziale Kontrolle im NS-Regime. Protest, Denunziation und Verfolgung. Zur Praxis alltäglicher Unterdrückung im Wechselspiel von Bevölkerung und Gestapo, Siegen 2003; Carsten Dams und Michael Stolle, Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, München 2008; mit lokalem Bezug siehe u. a. Holger Berschel, Bürokratie und Terror. Das Judenreferat der Gestapo Düsseldorf 1935–1945 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 58), Essen 2001; Michael Stolle, Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich (Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 6), Konstanz 2001; Bastian Fleermann, Hildegard Jakobs und Frank Sparing, Die Geheime Staatspolizei in Düsseldorf 1933–1945. Geschichte einer nationalsozialistischen Sonderbehörde im Westen Deutschlands (Kleine Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf 1), Düsseldorf 2012; Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann und Roland Maier (Hg.), Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2012; Thomas Grotum (Hg.), Die Gestapo Trier. Beiträge zur Geschichte einer regionalen Verfolgungsbehörde, Köln 2018. 34 Vgl. zur Sipo exemplarisch Ruth Bettina Birn, Die höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986; George C. Browder, Foundations of the Nazi Police State. The Formation of Sipo and SD, Lexington 1990; Jens Banach, Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn

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Weiterhin liegen vor allem Untersuchungen zur lokalen Polizei, das heißt für einzelne Städte und Polizeipräsidien, vor, wobei Arbeiten zu Berlin oder dem Ruhrgebiet und damit zur preußisch geprägten Polizei den Forschungsstand dominieren.35 Ab den späten 1990er Jahren widmete sich die polizeihistorische Forschung, die hinsichtlich sozial-, alltags- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen36 früh eine methodische Aufgeschlossenheit bewiesen hatte, zunehmend den wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen zwischen Polizei und Gesellschaft, allerdings zumeist innerhalb des Themenkomplexes der Störung von „Ruhe und Ordnung“37, weniger im Sinne der Historischen Sicherheitsforschung. Zunächst interessierte in erster Linie die Institution und das Verhalten der Polizei vor dem 1998; Ronald Rathert, Verbrechen und Verschwörung. Arthur Nebe. Der Kripochef des Dritten Reiches (Anpassung, Selbstbehauptung, Widerstand 17), Münster 2001; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Ruth Bettina Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten, Paderborn 2006; Andreas Strippel, NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas. Rassenpolitische Selektion der Einwandererzentralstelle des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (1939–1945), Paderborn 2011. 35 Wiederum in Auswahl: Stephan Linck, Der Ordnung verpflichtet. Deutsche Polizei 1933– 1945. Der Fall Flensburg, Paderborn 2000; Herbert Reinke, „Großstadtpolizei“. Städtische Ordnung und Sicherheit und die Polizei in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918), in: Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, hg. von Martin Dinges und Fritz Sack (Konflikte und Kultur 3), Konstanz 2000, S. 209–239; Harald Buhlan und Werner Jung (Hg.), Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 7), Köln 2000; Stefan Goch (Hg.), Städtische Gesellschaft und Polizei. Beiträge zur Sozialgeschichte der Polizei in Gelsenkirchen (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte 12), Essen 2005; Carsten Dams, Klaus Dönecke und Thomas Köhler (Hg.), Dienst am Volk? Düsseldorfer Polizisten zwischen Demokratie und Diktatur (Forum Polizeigeschichte 1), Frankfurt a. M. 2007; Daniel Schmidt, Schützen und Dienen. Polizisten im Ruhrgebiet in Demokratie und Diktatur 1919–1939 (Villa ten Hompel Schriften 9), Essen 2008; Thomas Roth, „Verbrechensbekämpfung“ und soziale Ausgrenzung im nationalsozialistischen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen Machtübernahme und Kriegsende (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 15), Köln 2010; Joachim Schröder (Hg.), Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus (Veröffentlichungen des Bayerischen Polizeimuseums 1), Essen 2013. 36 Vgl. u. a. Jessen, Industrierevier; Lüdtke, Aspekte; Ders., „Gemeinwohl“, Polizei und „Festungspraxis“. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen 1815–1850 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 73), Göttingen 1982; Herbert Reinke, „… hat sich ein politischer und wirtschaftlicher Polizeistaat entwickelt“. Polizei und Großstadt im Rheinland vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der zwanziger Jahre, in: „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. 1992, S. 219‒242; Ders., „Ordnung, Sicherheit und Hilfe“. Die Anfänge der Volkspolizei in den sächsischen Großstädten Leipzig und Dresden 1945– 1947, in: Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, hg. von Gerhard Fürmetz, Herbert Reinke und Klaus Weinhauer (Forum Zeitgeschichte 10), Hamburg 2001, S. 51–70; Weinhauer, Schutzpolizei. 37 Vgl. insb. Bernd-A. Rusinek, „Ordnung“ – Anmerkungen zur Karriere eines Begriffs, in: Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung, hg. von Christoph Spieker und Alfons Kenkmann (Villa ten Hompel Schriften 1), Essen 2001, S. 104–109.

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Hintergrund veränderter politischer und normativer Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Praktiken, doch schon bald rückte die Polizei als Trägerin des Wandels beziehungsweise als Akteurin in politischen und gesellschaftlichen Austausch- und Aushandlungsprozessen in den Mittelpunkt. Dieser erweiterte Fokus hatte zur Folge, dass nun auch verstärkt nach der Bedeutung von Polizistinnen,38 der weltanschaulichen Schulung oder politischen Bildung von Polizeibeamt*innen39 38 Vgl. u. a. Ursula Nienhaus, Himmlers willige Komplizinnen – Weibliche Polizei im Nationalsozialismus 1937 bis 1945, in: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, hg. von Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann und Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt a. M. 1999, S. 517–539; Dies., „Nicht für eine Führungsposition geeignet“. Josephine Erkens und die Anfänge weiblicher Polizei in Deutschland 1923–1933, Münster 1999; Dies., „Für strenge Dienstzucht ungeeignete Objekte …“. Weibliche Polizei in Berlin 1945–1952, in: Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, hg. von Gerhard Fürmetz, Herbert Reinke und Klaus Weinhauer (Forum Zeitgeschichte 10), Hamburg 2001, S. 129–153; Dirk Götting, Die „Weibliche Kriminalpolizei“. Ein republikanisches Reformprojekt zwischen Krise und Neuorientierung im Nationalsozialismus, in: Die Polizei im NSStaat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, hg. von Wolfgang Schulte (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e. V. 7), Frankfurt a. M. 2009, S. 481–510; Bettina Blum, Weibliche Polizei – soziale Polizei? Weibliche (Jugend)Polizei zwischen Demokratie und Diktatur 1927–1952, in: Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, hg. von Wolfgang Schulte (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e. V. 7), Frankfurt a. M. 2009, S. 511–537; Dies., Polizistinnen im geteilten Deutschland. Geschlechterdifferenz im staatlichen Gewaltmonopol vom Kriegsende bis in die siebziger Jahre (Villa ten Hompel Schriften 11), Essen 2012; Dies., „Frauliche Sonderaufgaben zum Nutzen des Volksganzen“? Weibliche (Kriminal-)Polizei 1927 bis 1952, in: Polizei, Verfolgung und Gesellschaft im Nationalsozialismus, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 15), Bremen 2013, S. 77–89; Dies., Die Geschichte der Frauen in der Polizei im 20. Jahrhundert. Von der Polizeifürsorgerin zur Kriminalbeamtin, in: Oranienburger Schriften (2015), H. 1, S. 120–129; Elisabeth Kohlhaas, Weibliche Angestellte der Gestapo. Tätigkeiten, biografische Profile und weltanschauliche Formierung, in: Polizei, Verfolgung und Gesellschaft im Nationalsozialismus, hg. von Herbert Diercks (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 15), Bremen 2013, S. 136–146. 39 Zur weltanschaulichen Erziehung siehe u. a. Jens Banach, Die Rolle der Schulen der Sicherheitspolizei und des SD, in: Fürstenberg-Drögen. Schichten eines verlassenen Ortes, hg. von Florian von Buttlar, Stefanie Endlich und Annette Leo (Reihe Deutsche Vergangenheit 106), Berlin 1994, S. 88–96; Jürgen Matthäus, Ausbildungsziel Judenmord? Zum Stellenwert der „weltanschaulichen Erziehung“ von SS und Polizei im Rahmen der „Endlösung“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 677–699; Ders., Konrad Kwiet und Jürgen Förster (Hg.), Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt a. M. 2003; Sven Deppisch, Täter auf der Schulbank. Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust (Veröffentlichungen des Bayerischen Polizeimuseums 2), Baden-Baden 2017; Hans-Christian Harten, Die weltanschauliche Schulung der Polizei im Nationalsozialismus, Paderborn 2018. Zur politischen Bildung nach 1945 siehe Wolfgang Schulte, Politische Bildung in der Polizei. Funktionsbestimmung von 1945 bis zum Jahr 2000, Frankfurt a. M. 2003; Alfons Kenkmann, „Unterricht im Lehrrevier?“ Veränderungen in der berufsbezogenen Bildung 1950–1970, in: Kontrapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnisse, hg. von Sabine Mecking und Stefan Schröder, Essen 2005, S. 271–284.

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sowie der Entwicklung und Rolle der Polizei in den beiden deutschen Nachfolgestaaten40 gefragt wurde. Zeitgleich wuchs ab Mitte der 2000er Jahre sukzessive der Handlungsdruck auf deutsche Ermittlungsbehörden, sich kritisch mit ihrer Vergangenheit während des NS-Regimes und der NS-Belastung des eigenen Personals auseinanderzusetzen.41 40 Zur bundesrepublikanischen Polizei siehe exemplarisch Klaus Weinhauer, Staatsbürger mit Sehnsucht nach Harmonie? Gesellschaftsbild und Staatsverständnis in der westdeutschen Polizei der sechziger Jahre, in: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, hg. von Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37), Hamburg 2000, S. 444–470; Gerhard Fürmetz, Herbert Reinke und Klaus Weinhauer (Hg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969 (Forum Zeitgeschichte 10), Hamburg 2001; Patrick Wagner, Die Resozialisierung der NS-Kriminalisten, in: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, hg. von Ulrich Herbert (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 1), Göttingen 2002, S. 179–213; Erwin B. Boldt, Die verschenkte Reform. Der Neuaufbau der Hamburger Polizei zwischen Weimarer Tradition und den Vorgaben der britischen Besatzungsmacht 1945–1955 (Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte 12), Münster 2002; Stefan Noethen, Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in Nordrhein-Westfalen 1945–1953 (Villa ten Hompel Schriften 3), Essen 2003; Ders., Die Bonner Polizei 1945–1953, in: „Kurzerhand die Farbe gewechselt“. Die Bonner Polizei im Nationalsozialismus, hg. von Norbert Schloßmacher (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 66), Bonn 2006, S. 371–410. Zur Volkspolizei der DDR siehe Richard Bessel, Polizei zwischen Krieg und Sozialismus. Die Anfänge der Volkspolizei nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Christian Jansen, Lutz Niethammer und Bernd Weisbrod, Berlin 1995, S. 517–531; Ders., Grenzen des Polizeistaats. Polizei und Gesellschaft in der SBZ und frühen DDR, 1945–1953, in: Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, hg. von Dems. und Ralph Jessen, Göttingen 1996, S. 224–252; Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968 (Zeithistorische Studien 23), Köln 2003; Ders., In den Grenzen der Parteiöffentlichkeit. Polizei und Skandal in der staatssozialistischen Diktatur, in: Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, hg. von Martin Sabrow, Göttingen 2004, S. 194–211; Wolfgang Schulte (Hg.), Die Deutsche Volkspolizei der DDR. Beiträge eines Seminars an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e. V. 22), Frankfurt a. M. 2018. 41 Siehe u. a. Dieter Schenk, Die braunen Wurzeln des BKA, Frankfurt a. M. 2003; Bundeskriminalamt (Hg.), Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte. Dokumentation einer Kolloquienreihe, Köln 2008; Ders. (Hg.), Der Nationalsozialismus und die Geschichte des BKA. Spurensuche in eigener Sache, Köln 2011; Imanuel Baumann u. a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011; Constantin Goschler und Michael Wala, „Keine neue Gestapo“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015; Martin Hölz, Gutachten über die NS-Vergangenheit der ersten sechs Behördenleiter des Landeskriminalamtes NordrheinWestfalen, 8.12.2019, https://lka.polizei.nrw/sites/default/files/2019-12/191211_Gutachten %20 lang.pdf (17.9.2020). Des Weiteren begünstigte der öffentliche Druck die Erstellung zahlreicher Wander- und Dauerausstellungen zu regionalen Polizeibehörden bzw. -präsidien. Siehe die Übersicht bei Michael Sturm, Zwischen Apologetik, Traditionsbildung und kritischer Reflexion. Der Gebrauch von „Geschichte“ in der Polizei der Bundesrepublik, in: Oranienburger Schriften (2015), H. 1, S. 23–37, hier S. 24 f.

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Dieser knappe Überblick des inzwischen recht großen Spektrums geschichtswissenschaftlicher Studien zur deutschen Polizei des 20. Jahrhunderts macht deutlich, dass vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, eines geographisch-administrativen Bezugs (Polizeireviere, Länder- und Bundespolizeien) sowie hinsichtlich der diversen Polizeisparten (Schutz-, Kriminal- und Politische Polizei) mit äußerst unterschiedlicher Gewichtung geforscht wird.42 Schon deswegen kann die Geschichte der deutschen Polizei in Demokratie und Diktatur keineswegs als „ausgeforscht“ gelten. So liegen eindeutige Schwerpunkte auf der Geschichte der Schutz- und politischen Polizeien, vor allem während der Kaiserzeit und des NS-Regimes, wohingegen Arbeiten zur historischen Entwicklung der Kriminalpolizei43 bislang eine Minorität bilden und die Geschichte der Polizeien in der Weimarer Republik insgesamt nur geringe Aufmerksamkeit erfahren hat. Aber auch Gesamtdarstellungen zur Geschichte des RKPA und der Ordnungspolizei zwischen 1933 und 1945 stehen noch immer aus.44 Fast gänzlich unerforscht ist zudem die Ermittlungsarbeit von Kriminalisten, die sich gegen jene Kollegen (Kriminalbeamte und Ordnungspolizisten) richtete, die sich am Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas und der Verfolgung Homosexueller45 sowie Sinti und Roma46 beteiligt oder wissentlich den Tod von KZ42 Vgl. dazu auch Herbert Reinke, „Restauration“ oder „Ein neuer Anfang“. Zur Polizeigeschichte und -geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der Bundesrepublik, in: Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte. Dokumentation einer Kolloquienreihe, hg. vom Bundeskriminalamt, Köln 2008, S. 143–159, hier S. 144 f. 43 Der Autor des vorliegenden Beitrags arbeitet derzeit an der Universität Marburg an seiner Habilitationsschrift „Eine Elite der alten Sherlock Holmes? Deutsche Kriminalisten in der frühen Bundesrepublik“. In Anlehnung an die Historische Sicherheitsforschung untersucht er die kriminalpolizeilichen Akteure bzw. Akteursgruppen mithilfe kulturwissenschaftlicher und soziologischer Theorien und vergleicht die Landeskriminalämter in Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz sowie das Bundeskriminalamt während der Adenauer-Ära. 44 Einen ersten Überblick bietet Stefan Klemp, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz – Ein Handbuch (Villa ten Hompel Schriften 5), Essen 2005; sowie neuerdings Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei im westlichen Europa 1940–1945, Leiden 2020. 45 Siehe u. a. Burkhard Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich, Paderborn 1990; KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 5), Bremen 1999; Ralf Bogen, „Vorkämpfer im Kampfe um die Ausrottung der Homosexualität“, in: Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, hg. von Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann und Roland Maier, Stuttgart 2013, S. 305–321; Matthias Gemählich, „Zum Schutz der Volksgemeinschaft“. Die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung in Nürnberg, in: Invertito 19 (2017), S. 140–154; Alexander Zinn, „Aus dem Volkskörper entfernt“? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2018. 46 Siehe u. a. Joachim S. Hohmann, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Rassismus (Studien zur Tsiganologie und Folkloristik 4), Frankfurt  a. M. 1991; Michael Zimmermann, Ausgrenzung, Ermordung, Ausgrenzung. Normalität und Exzeß in der polizeilichen Zigeunerverfolgung in Deutschland (1870–1980), in: „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. 1992,

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Häftlingen, die im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung47 inhaftiert worden waren, in Kauf genommen hatten. Die strafrechtliche Ermittlungsarbeit gilt rückblickend als völlig unzureichend, wofür zumindest teilweise auch die zuständigen Kriminalbeamten verantwortlich zeichneten, indem sie beispielsweise die Ermittlung im Sande verlaufen ließen, nur einseitig Befragungen durchführten oder ihre ehemaligen Kollegen sogar öffentlich in Schutz nahmen.48 Es erstaunt daher

S. 344–370; Ders. (Hg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 3), Stuttgart 2007; Marc von Lüpke-Schwarz, „Zigeuner nach Aussehen“. Die Duisburger Kriminalpolizei und die Verfolgung der Sinti und Roma, in: Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung, hg. von Karola Fings und Ulrich Friedrich Opfermann, Paderborn 2012, S. 117–137; Joachim Schröder, Die „Dienststelle für Zigeunerfragen“ der Münchner Kriminalpolizei und die Verfolgung der Sinti und Roma, in: Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur, hg. von Matthias Bahr und Peter Poth, Stuttgart 2014, S. 141–152. 47 Siehe insb. Patrick Wagner, Das Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder. Die Kriminalpolizei und die „Vernichtung des Verbrechertums“, in: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 6), Berlin 1988, S. 75–100; Ders., Feindbild „Berufsverbrecher“. Die Kriminalpolizei im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus, in: Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, hg. von Frank Bajohr, Werner Johe und Uwe Lohalm (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 26), Hamburg 1991, S. 226–252; Ders., Volksgemeinschaft; Ders., Vernichtung. 48 Siehe u. a. Stephan Linck, Fahndung nach Kriegsverbrechern. Die Field Security Section (FSS) in Schleswig, in: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte 33/34 (1998), S. 141–152; Martin Hölzl, Grüner Rock und weiße Weste. Adolf von Bomhard und die Legende von der sauberen Ordnungspolizei, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2001), S. 22–43; Kerstin Freudiger, Die blockierte Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, in: NS-Täter in der deutschen Gesellschaft, hg. von Joachim Perels und Rolf Pohl (Diskussionsbeiträge 29), Hannover 2002, S. 119–135; Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 13), Darmstadt 2008; Klaus-Michael Mallmann und Andrej Angrick (Hg.), Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen. Wolfgang Scheffler zum Gedenken (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 14), Darmstadt 2009; Andreas Mix, Erfolgsstory oder Skandalgeschichte? Die strafrechtliche Aufarbeitung der Polizeiverbrechen, in: Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat, hg. von Florian Dierl u. a., Dresden 2011, S. 78–89; Annette Weinke, Die Zentrale Stelle Ludwigsburg. Versöhnung durch Aufklärung von NS-Verbrechen?, in: Verständigung und Versöhnung nach dem „Zivilisationsbruch“? Deutschland in Europa nach 1945, hg. von Corine Defrance und Ulrich Pfeil (L’Alle­ magne dans les relations internationales 9), Bruxelles 2016, S. 465–480; Kerstin Hofmann, „Ich hatte nie davon gehört, daß man die Juden vernichten will.“ Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg und die Grenzen der Strafverfolgung, in: Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie, hg. von Dirk van Laak und Dirk Rose, Göttingen 2018, S. 73–91.

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ebenso wenig, dass die Rolle der ermittelnden Kriminalisten, deren Aufgabe sie im Polizeiapparat selbst ausgrenzte, bislang nie systematisch aufgearbeitet wurde.49 Problematisch ist vielfach auch der gewählte Zugang der Forschungsarbeiten, da die einzelnen Polizeisparten zumeist getrennt betrachtet werden, wodurch der Blick auf bestimmte Formen der Kooperation oder Zuarbeit verstellt wird – die es aber zweifelsfrei gegeben hat, etwa zwischen Gestapo und Kripo oder vonseiten der Ordnungspolizei gegenüber der Gestapo.50 Zusätzlich mangelt es an Vergleichs- und Transferuntersuchungen, die beispielsweise die Praxeologie verschiedener Polizeireviere (zum Beispiel auf kommunaler, regionaler oder Landesebene) beziehungsweise -sparten (zum Beispiel uniformierte und nicht-uniformierte) analysieren. Denkbar wären zudem Studien, die sich den Länder- (zum Beispiel preußisch und nicht-preußisch) oder Bundespolizeien (zum Beispiel im Hinblick auf internationale Kooperationen wie Europol und Interpol)51 in einer historisch oder geographisch vergleichenden Perspektive nähern. Methodische Herangehensweisen wie die gerade geschilderten setzen allerdings voraus, dass die bundesrepublikanischen Polizeien künftig verstärkt in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rücken, da wissenschaftliche Vorarbeiten zum Gros der Länderpolizeien nach wie vor ein Desiderat darstellen. Damit zusammenhängend sind weiterhin die Vorstellungen und Bestimmungen der vier alliierten Besatzungsmächte in Bezug auf den Wiederaufbau des deutschen Polizeiwesens nach 1945, die konkrete Praxis der polizeilichen Ent- und Renazifizierung sowie die Umsetzung von diversen Polizeireformen seit der Gründung der BRD kritisch zu hinterfragen.52 Denn gegenwärtig sind es noch 49 Vgl. dazu insb. Bernhard Daenekas, Verbrechen deutscher Polizeieinheiten im Zweiten Weltkrieg – aus der Sicht eines Ermittlungsbeamten, in: Archiv für Polizeigeschichte 4 (1993), S. 21–24; Willi Dreßen, Probleme und Erfahrungen der Ermittler bei der Aufklärung von NSGewaltverbrechen, in: Archiv für Polizeigeschichte 5 (1994), S. 75–83. 50 Vgl. beispielhaft Linck, Ordnung. 51 Das Europäische Polizeiamt (Europol) ist eine Polizeibehörde der Europäischen Union mit Sitz in Den Haag, deren Aufgabe die Koordination der Zusammenarbeit der nationalen Polizeibehörden Europas im Bereich der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität ist und die den Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeibehörden fördern soll. Die International Criminal Police Organization (Interpol) ist ein Verein zur Stärkung der Zusammenarbeit nationaler Polizeibehörden mit Sitz in Lyon, die 1923 in Wien gegründet wurde und derzeit 194 Mitgliedsstaaten umfasst. Zu internationalen Polizeikooperationen vgl. exemplarisch Jens Jäger, Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880–1933, Konstanz 2006; Hein Hoebink, Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit von Nordrhein-Westfalen, Belgien und den Niederlanden, in: Geschichte im Westen 30 (2015), S. 63–84; Jonas Campion, Laurent López und Guillaume Payen (Hg.), European Police Forces and Law Enforcement in the First World War, Cham 2019. 52 Siehe einführend, wenn bislang auch nur kursorisch: Erika S. Fairchild, German Police. Ideals and Reality in the Post-War Years, Springfield (Ill.) 1988; Herbert Reinke und Gerhard Fürmetz, Polizei-Politik in Deutschland unter alliierter Besatzung, in: Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland, hg. von Hans-Jürgen Lange (Studien zur Inneren Sicherheit 1), Opladen 2000, S. 67–86; Stefan Noethen, Polizei in der Besatzungszeit – Vorstellungen und Einflüsse der Alliierten, in: Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, hg. von Hans-Jürgen Lange (Studien zur Inneren Sicherheit 4), Opladen 2003, S. 77–90.

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immer überwiegend juristische und sozialwissenschaftliche Analysen, die Auskunft über die Polizeien und deren Arbeitsweise in der jüngeren Vergangenheit geben.53

Polizeigeschichte: Außeruniversitäre Forschung oder fachwissenschaftliche Subdisziplin? Zunächst ist zu konstatieren, dass die Polizeiforschung im Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der allgemeinen Zeitgeschichte54 beziehungsweise der Landeszeitgeschichte55 nach 1945 nur eine geringe Resonanz erfährt. Dies erstaunt, handelt es sich doch bei der deutschen Polizei um eine Großorganisation mit mehr als 300.000 Vollzugsbeamt*innen zuzüglich Verwaltungspersonal und technisch spezialisierter Kräfte.56 Ein Grund ist sicherlich die fehlende institutio53 Siehe in Auswahl: Robert Chr. van Ooyen, Polizei und politisches System in der Bundesrepublik. Aktuelle Spannungsfelder der Inneren Sicherheit einer liberalen Demokratie (Jahrbuch öffentliche Sicherheit 8), Frankfurt a. M. 62020; Carsten Dübbers, Von der Staats- zur Bürgerpolizei? Empirische Studien zur Kultur der Polizei im Wandel (Schriften zur empirischen Polizeiforschung 19), Frankfurt a. M. 2015; Bernhard Frevel und Rafael Behr (Hg.), Die kritisierte Polizei (Schriften zur empirischen Polizeiforschung 18), Frankfurt a. M. 2015; Hans-Jürgen Lange und Jean-Claude Schenk, Polizei im kooperativen Staat. Verwaltungsreform und neue Steuerung in der Sicherheitsverwaltung (Studien zur inneren Sicherheit 6), Wiesbaden 2004; Martin Winter, Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland (Politische Soziologie 10), Münster 1998; Falko Werkentin, Die Restauration der deutschen Polizei. Innere Rüstung von 1945 bis zur Notstandsgesetzgebung, Frankfurt a. M. 1984. 54 Zum Begriff der Zeitgeschichte siehe grundlegend für den deutschen Wissenschaftsraum immer noch Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), H. 1, S. 1–8; ferner Anselm Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), H. 1, S. 1–29; Andreas Wirsching, „Epoche der Mitlebenden“ – Kritik der Epoche, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), H. 1, http://www. zeithistorische-forschungen.de/1-2011/id=4762 (17.9.2020); Frank Bösch und Jürgen ­Danyel (Hg.), Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden, Göttingen 2012; sowie das Themenheft „Zeitgeschichte heute – Stand und Perspektiven“, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), H. 1, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2004 (17.9.2020). 55 Zur Begriffsbestimmung und zu ihren Aufgaben vgl. Arno Mohr, Landesgeschichte als Politikum. Zur Funktion der Landeszeitgeschichte, in: Geschichte im Westen 7 (1992), H. 1, S. 14–22; Heinrich Küppers, Zum Begriff der Landeszeitgeschichte, in: Geschichte im Westen 7 (1992), H. 1, S. 23–27; Matthias Werner, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. von Peter Moraw und Rudolf Schieffer (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, S. 252–364; Christoph Nonn, Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Landeszeitgeschichte? Zu Problemen und Perspektiven einer Landesgeschichte der Moderne, in: Geschichte im Westen 21 (2006), S. 155–171. Siehe neuerdings auch die Beiträge des Schwerpunktthemas „Narrative der Landeszeitgeschichte“, in: Geschichte im Westen 34 (2019); sowie das Themenheft „Landeszeitgeschichte. Perspektiven – Chancen – Herausforderungen“, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70 (2020). 56 Vgl. dazu Hermann Groß, Bernhard Frevel und Carsten Dams (Hg.), Handbuch der Polizeien Deutschlands, Wiesbaden 2008.

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nelle Verankerung der polizeigeschichtlichen Forschung an den Universitäten. Anders als in England oder Frankreich existieren hierzulande keine Lehrstühle, die in ihrer Denomination „Polizeigeschichte“ führen.57 Zwar gibt es durchaus universitäre Arbeitsbereiche, die sich der Polizeigeschichte widmen, wie beispielsweise die neu eingerichtete Professur für Hessische Landesgeschichte an der Universität Marburg, aber dies spiegelt sich bislang nicht in ihren Bezeichnungen wider und ist somit für Außenstehende kaum zu erkennen.58 Einen weiteren Beweggrund für die bisherige Zurückhaltung der universitären Zeitgeschichte macht die jüngere Forschung in der deutschen Polizei selbst aus, die lange als „hermetische Institution“ galt, deren Wagenburg-Mentalität sich wenigstens zu Teilen in der Überlieferungssituation spiegelt und die nur wenige Interna an die Öffentlichkeit dringen ließ.59 Freilich waren und sind die ermittelnden Beamt*innen auf Diskretion angewiesen, wollen sie Ermittlungserfolge nicht gefährden, zumal ihr Handeln stets politische und rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Offenbar setzten sich die Behörden dabei teilweise auch über die gesetzliche Verpflichtung hinweg, sämtliche nicht mehr benötigten Unterlagen den Landesarchiven zur Archivierung anzubieten, vielmehr wurden vielfach Akten in Behördenkellern gebunkert oder sogar vernichtet. Die wesentlichen Player der Polizeigeschichtsforschung sind daher nach wie vor die Polizei selbst60 sowie Museen und Erinnerungs- oder Gedenkstätten, was ein Stück weit die anhaltende Dominanz regionaler Untersuchungen zur Polizei im Nationalsozialismus erklärt.61 Daran hat auch das Kolloquium zur Polizeigeschichte, das unter Mitwirkung von Polizeibeamt*innen und Wissenschaftler*innen in Kooperation mit deutschen, europäischen und nordamerikanischen Institutionen seit 1990 jährlich stattfindet, wenig ändern können.62 Erschwerend tritt das Feh57 Siehe Mecking, Knüppel, S. 20. 58 Zum Forschungsprofil der Marburger Professur für Hessische Landesgeschichte siehe https:// www.uni-marburg.de/de/fb06/hessische-landesgeschichte/forschung (17.9.2020). 59 Siehe neuerdings Peter Ullrich, Polizei im/unter Protest erforschen. Polizeiforschung als Entdeckungsreise mit Hindernissen, in: Polizei und Gesellschaft. Transdisziplinäre Perspektiven zu Methoden, Theorie und Empirie reflexiver Polizeiforschung, hg. von Christiane Howe und Lars Ostermeier, Wiesbaden 2019, S. 155–189; zum Zitat und zum Folgenden siehe Mecking, Knüppel, S. 21 f. 60 Für einen Überblick über die Geschichtsschreibung innerhalb der deutschen Polizei bis heute siehe u. a. Michael Sturm, Bandenkampf und blinde Flecken. Der Gebrauch von „Geschichte“ in der Polizei, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 92 (2009), H. 1, S. 29–37; Martin Schauerhammer, Norbert Pütter und Jan Wörlein, Polizisten als Geschichtsschreiber. Verschweigen, verharmlosen und vernebeln, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 92 (2009), H. 1, S. 38–49. 61 Zu den wichtigsten Akteuren auf diesem Feld gehören u. a. der Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, https://www.stadt-muenster.de/villa-ten-hompel/startseite.html (17.9.2020), das Bayerische Polizeimuseum mit Sitz in Ingolstadt, http://www.armeemuseum.de/de/ausstellungen/polizei.html (17.9.2020), und die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, https://www. kz-gedenkstaette-neuengamme.de (17.9.2020). 62 Vgl. Herbert Reinke, Kolloquien zur Polizeigeschichte. German Police History Conferences 1990–2010, in: Crime, Histoire & Sociétés 14 (2010), H. 1, S. 123 f.; ferner die einzelnen Tagungsankündigungen und -berichte auf H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/searching/

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len einer Professur für Geschichte beziehungsweise Polizeigeschichte an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster-Hiltrup hinzu, von der weitere Impulse für die Zeitgeschichte zu erwarten wären, wie es etwa bei ihrem Pendant in Speyer, der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften, der Fall ist, die über einen speziellen Lehrstuhl für Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte verfügt. Den Bedarf an einer Professur für „Neuere und neueste Geschichte mit polizeihistorischem Schwerpunkt“ hat auch der Wissenschaftsrat festgestellt, wie seiner „Stellungnahme zur Akkreditierung“ der DHPol aus dem Jahr 2013 entnommen werden kann.63 Mittlerweile existiert neben den verschiedenen Fachgebieten zumindest eine Forschungsstelle Polizeigeschichte unter der Leitung von Dr. Wolfgang Schulte.64 Kaum Auswirkungen auf die an Polizeithemen interessierte Zeitgeschichte hatte hingegen das Scheitern verschiedener Bestrebungen, die diversen Forschungen in, für und über die Polizei als eigene universitäre Disziplin in Form einer „Polizeiwissenschaft“ zu etablieren.65 Gewiss hätte eine transdisziplinäre wie integrative Polizeiwissenschaft zahlreiche spezifische Ansätze ermöglicht, doch wäre eine eigenständige Theoriebildung schon aufgrund der disparaten methodischen Zugänge kaum zu erwarten gewesen, ebenso wenig eine Institutionalisierung in der Wissenschaftslandschaft.66 Perspektiven machen Befürworter*innen wie Kritiker*innen mittlerweile nur noch im Ansatz einer übergreifenden, interdisziplinären und

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page?q=Kolloquium+zur+Polizeigeschichte (17.9.2020). Leider wird auf den Abdruck der Vorträge, die bei den jährlichen Versammlungen gehalten werden, verzichtet. Bislang wurden die Beiträge nur hin und wieder und dann meist verstreut publiziert, weshalb eine Zuordnung zu den Kolloquien oftmals nicht ersichtlich ist. Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Akkreditierung der Deutschen Hochschule der Polizei, 25.1.2013, https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2843-13.html (17.9.2020). Siehe dazu deren Homepage: https://www.dhpol.de/departements/departement_I/FG_I.6/ fost_I_6.php (17.9.2020). Die Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg verfügt über ein „Zentrum der Zeitgeschichte der Polizei“, siehe https://hpolbb.de/polizeigeschichte (17.9.2020). Über dessen Aufgaben informiert Wieland Niekisch, Das Zentrum für Zeitgeschichte der Polizei an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Seine Aufgaben, Schwerpunkte und Ziele, in: Oranienburger Schriften (2015), H. 1, S. 38–41. Die diversen theoretischen und methodischen Feldzugänge im Bereich der Polizeiforschung decken ein recht breites Spektrum an wissenschaftlichen Disziplinen ab, neben den Geschichtswissenschaften sind dies u. a. die Rechts- und Politikwissenschaften, die Soziologie sowie die Psychologie. Mitte der 1990er Jahre hat sich zudem in den Sozial- und Geisteswissenschaften die empirische Polizeiforschung etabliert. Siehe Thomas Ohlemacher und Karlhans Liebl, Empirische Polizeiforschung. Forschung in, für und über die Polizei, in: Empirische Polizeiforschung. Interdisziplinäre Perspektiven in einem sich entwickelnden Forschungsfeld, hg. von Dens., Herbolzheim 2000, S. 7–10; Thomas Ohlemacher, Empirische Polizeiforschung. Auf dem Weg zum Pluralismus der Perspektiven, Disziplinen und Methoden, in: Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, hg. von Hans-Jürgen Lange (Studien zur Inneren Sicherheit 4), Opladen 2003, S. 377–397. Siehe dazu u. a. Bernhard Frevel, Polizei, Politik und Wissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48 (2008), S. 3–9, hier S. 6 f.; Thomas Feltes, Polizeiwissenschaft in Deutschland. Überlegungen zum Profil einer (neuen) Wissenschaftsdisziplin, in: Polizei & Wissenschaft (2007), H. 4, S. 2–21; Hans-Jürgen Lange, Polizeiforschung, Polizeiwissenschaft oder Forschung

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transnationalen Analyse zum Themenfeld „Innere Sicherheit“ aus, wobei sich hier geradezu die Frage aufdrängt, warum sich die Polizeiforschung dann nicht stärker im Bereich der Historischen Sicherheitsforschung engagiert, statt den schwierigen, wenn nicht gar hoffnungslosen Weg der Etablierung einer neuen Wissenschaftsdisziplin zu beschreiten. Nimmt man abschließend die polizeigeschichtlichen Medien in den Blick, so offenbart sich ein weiteres disparates Feld. Allem Anschein nach gelingt es lediglich der von Hans-Jürgen Lange im Jahr 2000 ins Leben gerufenen Schriftenreihe Studien zur Inneren Sicherheit, die Themen verschiedener Disziplinen – der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Kriminologie, der Rechtswissenschaft und der Historischen Polizeiforschung – vereint, sowie der auf den regionalen Raum Nordrhein-Westfalens fokussierten Reihe Villa ten Hompel Schriften, regelmäßig mit polizeigeschichtlichen Themen eine größere Aufmerksamkeit innerhalb der universitären Zeitgeschichte zu erreichen.67 Seit dem Jahr 2020 widmet sich zudem die neu etablierte Schriftenreihe Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung dieser Forschungsthematik; aktuell befinden sich dort sechs Bände in Vorbereitung. Allerdings muss an dieser Stelle betont werden, dass die genannten Schriftenreihen sich keineswegs ausschließlich auf die Geschichte der Polizei konzentrieren, vielmehr ein breites Themenfeld abdecken. Ferner gibt es eine ganze Reihe an Fachzeitschriften wie die Oranienburger Schriften oder Polizei & Wissenschaft, die sich den Themengebieten Polizei, Kriminologie und Kriminalistik widmen, in denen die historische Polizeiforschung aber eher verstreut als konzentriert behandelt wird.68 Die im Jahr 2003 eingestellte, seit 2018 aber fortgesetzte Zeitschrift Archiv für Polizeigeschichte soll dagegen historisch interessierte Polizist*innen wie polizeigeschichtlich arbeitende Historiker*innen gleichermaßen ansprechen und hat die Förderung des wissenschaftlichen Erfahrungsaustausches zum Ziel.69 Zu ihrer Wahrnehmung und Rezeption innerhalb jenes Teils der Zeitgeschichte, der zur Historischen Polizei- und Sicherheitsforschung arbeitet, lässt sich derzeit aber noch keine Aussage treffen.

zur Inneren Sicherheit? – Über die Etablierung eines schwierigen Gegenstandes als Wissenschaftsdisziplin, in: Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, hg. von Dems. (Studien zur Inneren Sicherheit 4), Opladen 2003, S. 427–453. 67 Siehe zu den Studien zur Inneren Sicherheit, die mittlerweile 23 Bände umfassen: https:// www.springer.com/series/12626 (17.9.2020); für die 15 Bände umfassende Reihe Villa ten Hompel Schriften: https://www.stadt-muenster.de/villa-ten-hompel/forschung/publikationen. html#c19307 (17.9.2020). Siehe ferner die Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e. V.: http://www.polizeigeschichte.com/publikationen/schriftenreihe/schriftenreihe. htm (17.9.2020); sowie die jüngst etablierte Reihe Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung: https://www.springer.com/series/16551?detailsPage=titles (17.9.2020). 68 Zu den beiden Zeitschriften siehe: https://hpolbb.de/content/oranienburger-schriften (17.9.2020); bzw.: http://www.polizeiundwissenschaft-online.de/buchserie/ (17.9.2020). 69 Siehe http://www.polizeigeschichte.com/publikationen/zeitschrift/zeitschrift.htm (17.9.2020).

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Perspektiven einer Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte Um nicht missverstanden zu werden: Wenn die bisherigen Ausführungen möglicherweise den Eindruck erwecken, eine Geschichte der Polizei und ihrer Praxeologie sei für die allgemeine Zeitgeschichte oder eine regional arbeitende Landeszeitgeschichte nicht besonders sexy,70 so spiegelt dies allenfalls die gegenwärtige Situation der Forschungslandschaft, keineswegs aber die Relevanz des Themenfeldes. Im Folgenden sollen daher fünf verschiedene Perspektiven einer Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte benannt und unterstrichen werden, wobei die zu skizzierenden Zugriffe und Themen bislang nur partikular oder in groben Zügen untersucht worden sind beziehungsweise einer geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung harren. 1.) Die erste Perspektive wäre, womöglich provozierend, auf den kurzen Satz zu bringen: Eine moderne Polizeigeschichte muss als zeitgemäße Institutionengeschichte geschrieben werden, als Geschichte der Institution, in deren Formen, geregelten Möglichkeiten und beweglichen, aber stets erkennbaren Grenzen der polizeiliche Personenverband agierte und interagierte. Natürlich ist eine solche moderne Polizeigeschichte als Institutionengeschichte nicht mit den Erkenntnisinteressen oder dem Methodeninstrumentarium der „älteren“, auf normative Quellen fixierten, verwaltungs- und organisationsgeschichtlich eingeengten Institutionengeschichte zu schreiben. Vielmehr müssen vor dem Horizont sozialwissenschaftlicher, soziologischer sowie philosophischer Theorieangebote die historische Forschung und Gegenwartsanalyse im Sinne einer Problemgeschichte der Gegenwart miteinander verknüpft werden. So lassen sich beispielsweise Elemente der Praxistheorie von Pierre Bourdieu nutzen, um das Wirken von Akteur*innen oder Akteursgruppen mit den sie umgebenden Strukturen und Räumen zu kontextualisieren.71 Ein weiteres Konzept des französischen Soziologen drängt sich meines Erachtens für eine akteurszentrierte Institutionengeschichte geradezu auf: sein Konzept des Habitus. Dessen konstruktivistischer Ansatz, wonach die Akteure und deren habituelle Dispositionen einem historischen Wandel unterliegen, macht deutlich, dass Zuschreibungen sowie entsprechende Handlungsfolgen in Bezug auf oder durch die Polizei einer historischen Situativität beziehungsweise situativen 70 Zu diesem Eindruck gelangte etwa Nadine Rossol 2013 in ihrem Review-Essay zu historischen Polizeistudien, vgl. Nadine Rossol, Beyond Law and Order? Police History in Twentieth-Century Europe and the Search for New Perspectives, in: Contemporary European History 22 (2013), H. 2, S. 319–330, hier S. 320. Mit Blick auf den immensen Forschungsoutput der Historischen Sicherheits- und Kriminalitätsforschung kritisierte sie das geringe Interesse der universitären Geschichtswissenschaft an der europäischen Polizei des 20. Jahrhunderts. 71 Vgl. insb. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976; Theodore R. Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001; Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial. Geschichte 22 (2007), H. 3, S. 43–65; Andreas Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.

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Rahmungen folgen.72 Wenn also davon ausgegangen werden kann, dass im Kontext der Inneren Sicherheit bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster nachgefragt werden, weil an Akteure durch soziale Rahmenbedingungen fremde und eigene Erwartungen gestellt werden, wird wiederum an Grundannahmen der Praxistheorie angeknüpft: Das soziale Verhalten der Polizei korreliert demnach zu einem großen Teil mit jenen Erwartungen, die aufgrund ihres berufsbezogenen Status in einem sozialen System wie der Bundesrepublik Deutschland an diese auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene gestellt werden. Dass dies in hohem Maße auf die Polizei zutrifft, lässt sich etwa daran ablesen, dass mit den Polizeibeamt*innen seit der Weimarer Republik das Diktum „Die Polizei – Dein Freund und Helfer“ in der Gesellschaft untrennbar verbunden ist. Unter Zuhilfenahme des soziologischen Habitus-Konzepts kann ein solch akteursorientierter Zugriff auf das Forschungsfeld „Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte“ das nachvollziehen, was mittels des konstruktivistischen Ansatzes intendiert ist: den historischen Wandel und die prinzipielle Wandelbarkeit der Polizei am Beispiel einer Region oder eines Raumes zu thematisieren. 2.) Eine weitere Perspektive ist bereits mehrfach benannt worden und soll nun näher dargelegt werden: die Polizei als Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols im Inneren des Staates. Diese Funktion beziehungsweise Rolle der Polizei macht eine Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte überaus anschlussfähig an die Überlegungen der Historischen Sicherheitsforschung, wonach keine vorgefasste und zeitlose, mithin „objektive“ Definition von Sicherheit besteht.73 Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass Sicherheit ein Ergebnis der jeweiligen politischen Aushandlungsprozesse ist und dass jene Versicherheitlichungsdiskurse, die sich im föderalen System der BRD auf eine Region oder ein Bundesland beziehen, immer auch die Polizei als zuständige Sicherheitsakteurin betreffen und vice versa.74 Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Begrifflichkeiten: Zum einen ist dies der Terminus der „Versicherheitlichung“ (securitization), der Sicherheitspolitik oder politische Sicherheit als Ergebnis politischer und gesellschaftlicher Diskurse versteht, in deren Rahmen ein Thema diskursiv zu einem Sicherheitsthema aufgewertet wird. Hierdurch wird eine bestimmte Art der Wahrnehmung (von Unsicherheit, Bedrohung, Gefahr) markiert und mithin Handlungsdruck erzeugt, was letztlich 72 Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987; Beate Krais und Gunter Gebauer, Habitus, Bielefeld 2002; Sven Reichardt, Das Habituskonzept in der Geschichtswissenschaft, in: Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, hg. von Alexander Lenger, Christian Schneickert und Florian Schumacher, Wiesbaden 2013, S. 307–323. 73 Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018, insb. S. 7–19; Ders., Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer modernen Politikgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), H. 3, S. 357–380; Christopher Daase, Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 3, S. 387–405. 74 Zum Sicherheitsbedürfnis der BRD siehe Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.

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zur Folge hat, dass ein Thema „versicherheitlicht“ wird.75 In diese Diskurse werden bestimmte Personen oder Personenkreise inkludiert, etwa wenn ein Problem als die Innere Sicherheit betreffend gerahmt wird und damit bestimmten Akteursgruppen – in unserem Fall der Polizei – die legitime Partizipation an diesen Diskursen zugesprochen wird. Die Polizei wird somit, zweitens, als zentrale Sicherheitsakteurin des Staates zur Sicherheitsexpertin eines Raumes – beispielsweise einer Stadt oder Gemeinde, eines Landkreises, eines Bundeslandes – erhoben,76 wobei in diesen Fällen das von den Expert*innen eingebrachte Wissen maßgeblich für politische Entscheidungen sein kann.77 Ein denkbarer Zugang könnte eine Annäherung an die Geschichte des Terrorismus und der Terrorismusbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland der 1970/80er Jahre unter dem Blickwinkel der „(Un-)Sicherheit“ sein, da damals eingesetzte Polizist*innen mit ihren nicht selten martialisch anmutenden Fahndungsmethoden in hohem Maße zur Unsicherheit in der deutschen Bevölkerung beitrugen.78 3.) In Anlehnung an Überlegungen Michael Sturms sollte eine moderne Polizeigeschichte nicht länger als eine „große“ Geschichte geschrieben werden, die vorrangig Strukturen und dominanten „Kommandohöfen“ gewidmet ist.79 Stattdessen ist sie im Stile einer Vergleichs- oder Transferuntersuchung zu konzipieren, in der nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden polizeilicher Sicherheitsregime am Beispiel von Metropolen, Regionen oder Bundesländern gefragt wird. Ein historischer Vergleich von regionalen Polizeibehörden oder Polizeiorganisationen (Schutz-, Bereitschafts- und Kriminalpolizei) über Ländergrenzen hinweg ermöglicht es, den Polizeien in ihren Transferbezügen, ihrer Aufgabenvielfalt, organisatorischen Breite und ihren spezifischen Sicherheitsrepertoires im jeweiligen Untersuchungsraum 75 Vgl. insb. Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: On Security, hg. von Ronnie D. Lipschutz, New York 1995, S. 46–86; Barry Buzan, Ole Wæver und Jaap de Wilde, Security. A New Framework for Analysis, London 1998. 76 Vgl. auch Peter Haslinger und Dirk van Laak, Sicherheitsräume. Bausteine zu einem interdisziplinären Modell, in: Saeculum 68 (2018), H. 1, S. 9–35. 77 Siehe dazu die Beiträge in Carola Westermeier und Horst Carl (Hg.), Sicherheitsakteure. Epochenübergreifende Perspektiven zu Praxisformen und Versicherheitlichung (Politiken der Sicherheit 2), Baden-Baden 2018. 78 Siehe u. a. Weinhauer, Schutzpolizei; Johannes Hürter und Gian Enrico Rusconi (Hg.), Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969– 1982 (Zeitgeschichte im Gespräch 9), München 2010; Johannes Hürter (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa. Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 104), Berlin 2015; Gabriele Metzler, Der historische Ort der Terrorismusbekämpfung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, in: Terrorismusbekämpfung im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit. Historische Erfahrungen und Aktuelle Herausforderungen, hg. von Anneke Petzsche, Martin Heger und Gabriele Metzler (Schriften zum internationalen und europäischen Strafrecht 40), Baden-Baden 2019, S. 25–46; Thomas W. Friis, Adi Frimark und Martin Göllnitz, Outlook: Writing the History of Modern International Terrorism – Where are the Puzzles?, in: Terrorism in the Cold War, Bd. 2: State Support in the West, Middle East and Latin America, hg. von Adrian Hänni, Thomas Riegler und Przemyslaw Gasztold, London 2020, S. 237–246. 79 Vgl. Sturm, Apologetik, S. 31 f.

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konkret nachspüren zu können. Besonders der länderübergreifende Vergleich von preußisch und nicht-preußisch geprägter Polizei verspricht neue Erkenntnisse für die Polizeigeschichte der Bundesrepublik, deren Forschungsstand derzeit noch zu sehr von Arbeiten zu Berlin oder dem Ruhrgebiet und damit zur preußisch geprägten Polizei dominiert wird. Und obwohl polizeigeschichtliche Studien zur Weimarer Republik und zur BRD in unterschiedlicher Gewichtung vorliegen, existieren bislang keine epochenvergleichenden Analysen zur demokratischen Polizei Deutschlands. Mithilfe eines diachronen und synchronen Vergleichs deutscher Polizeien in der Weimarer sowie Bonner Republik könnten spezifisch-polizeiliche Sicherheitsheuristiken aufgezeigt und deren historische Dimension analysiert werden. 4.) Multiperspektivität erscheint mir ohnehin ein wichtiger Aspekt einer Polizeigeschichte als (regionale) Zeitgeschichte zu sein, die sich beispielsweise gemeinsam mit Polizist*innen, Hochschulen der Polizei oder Gedenkstätten und Archiven realisieren ließe, etwa in Form digitaler Projekte. Neben Ausstellungen, bei deren Konzeption und Umsetzung in der Vergangenheit bereits zumeist der multiperspektivische Ansatz umgesetzt worden ist, wäre eine Zeitzeug*innen-Datenbank denkbar, die das praktische Erfahrungswissen von bundesrepublikanischen, aber auch Polizeibeamt*innen der ehemaligen DDR bewahrt und in einem weiteren Schritt sowohl Selbst- und Fremdwahrnehmungen als auch Selbst- und Fremdzuschreibungen hinterfragt. Ein solcher Einbezug von Zeitzeug*innen könnte sowohl differenzierte Analyseebenen (makro, meso, mikro) ermöglichen als auch den Boden für eine methodisch offene Polizeigeschichte der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte bereiten, die sich der methodischen Zugänge und Theorieangebote der Technik-, Emotions- oder neueren Kulturgeschichte bedient. Wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung von Polizeibeamt*innen sowie deren konkreter Sicherheitspraxis liefert außerdem die historische Protestforschung.80 5.) Die letzte Perspektive, die der vorliegende Beitrag diskutieren möchte, ist keineswegs neu, sondern wurde in der Forschung schon verschiedentlich postuliert. Gemeint ist natürlich der Ansatz, Polizeigeschichte als Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen, womit eine Brücke zu den eingangs gemachten Feststellungen geschlagen wird.81 Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Polizei als Institution und Personenverband zu einer rechtstaatlichen Sicherheitsagentur, die sich nicht mehr als Obrigkeit begriff, sondern die Rolle einer partnerschaftlichen Dienstleisterin für die Bürger*innen des demokratischen Staates 80 Siehe dazu u. a. Klaus Weinhauer, Urbane Jugendproteste, Jugendbanden und soziale Ungleichheit seit dem 19. Jahrhundert. Vergleichende und transnationale Perspektiven auf Deutschland, England und die USA, in: Kulturen jugendlichen Aufbegehrens. Jugendprotest und soziale Ungleichheit, hg. von Arne Schäfer, Matthias D. Witte und Uwe Sander, Weinheim 2011, S. 25–48; Ders., Kriminalität in europäischen Hochhaussiedlungen. Vergleichende und transnationale Perspektiven, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2013), H. 1, S. 35–47; sowie neuerdings die Beiträge in Sabine Mecking (Hg.), Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland (Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung), Wiesbaden 2020. 81 Erst jüngst hat Sabine Mecking für diesen Zugang plädiert, vgl. Mecking, Knüppel.

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einnahm. Dies ging freilich nicht ohne die Durchsetzung diverser Reformen,82 die vor allem in den 1970er Jahren die Grundlagen für eine moderne, demokratisch orientierte Polizei im heutigen Sinne schufen – natürlich gegen den immensen Widerstand der Traditionalisten, die eine polizeiliche „Härte“ favorisierten, skeptisch im Hinblick auf deeskalierende Taktiken waren sowie eine größere Toleranz gegenüber veränderten Gesellschafts- und Lebensstilen ablehnten. Letztlich konnten sich aber die neuen demokratischen Leitbilder innerhalb der Polizei durchsetzen, denen das Idealbild der bürgernahen Polizeibeamt*innen inhärent war und die sich von einem militärischen beziehungsweise martialischen Auftreten verabschiedeten. Die gesellschaftliche Vielfalt spiegelte sich nun zunehmend in der Einstellungspraxis von Polizist*innen wider.83 Zwischen 1978/80 (Berlin) und 1990 (Bayern) wurden die Schutzpolizeien der einzelnen Bundesländer in unterschiedlichem Tempo auch für Frauen geöffnet. Und spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts rekrutieren die Landespolizeien immer häufiger auch Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Während sich also die Polizeikultur (Police Culture) eindeutig an demokratischen Strukturen und einer pluralistischen Gesellschaft orientiert, scheint eine Beurteilung der Polizistenkultur (Cop Culture) schwieriger.84 Die jüngsten Vorfälle um Racial Profiling, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit inklusive Rassismus oder rechtsextremistische Einstellungen innerhalb der deutschen Polizei sind zwar keineswegs mit der offenliegenden rassistischen Cop Culture in den USA oder auch Frankreich und Großbritannien gleichzusetzen, offenbaren jedoch, dass es sich hierbei nicht um einzelne versprengte „schwarze Schafe“ handelt.85 Zeithistorische Studien können gewiss dabei helfen zu klären, inwiefern die Vorstellungen eines anachronistisch anmutenden „Korpsgeistes“ oder einer mythisch überhöhten, maskulin geprägten „Kameradschaft“ eine Rolle für derart undemokratisches Polizeiverhalten spielen. Eine stärkere Einbeziehung von gender-, kultur- oder migrationsgeschichtlichen Fragestellungen scheint somit für eine zeitgemäße Polizeigeschichte, die regionale Strukturen ausleuchten will, dringend geboten.

82 Vgl. dazu und zum Folgenden u. a. Thomas Kleinknecht und Michael Sturm, „Demonstrationen sind punktuelle Plebiszite“. Polizeireformen und gesellschaftliche Demokratisierung von den Sechziger- zu den Achtzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 181–218; Weinhauer, Schutzpolizei, S. 274–277; Reinhard Mokros, 1976. Beginn einer neuen Ära der Polizeiausbildung, in: Polizei, Studium, Praxis 6 (2016), H. 4, S. 42–47. 83 Vgl. dazu und zum Folgenden Mecking, Knüppel, S. 14 f.; ferner Groß/Frevel/Dams, Handbuch. 84 Zu den beiden Termini vgl. insb. Behr, Cop Culture. 85 Siehe u. a. Jona Spreter, Rassismus in der Polizei. Hunderte Rechtsextremismus-Verdachtsfälle unter Polizisten, in: Zeit-Online (7.8.2020), https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-08/rassismus-polizei-rechtsextremismus-hunderte-verdachtsfaelle-antisemitismus (17.9.2020).

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Schlussbetrachtung Obwohl die Polizei bei der Marginalisierung von Außenstehenden, bei der Stabilisierung des NS-Herrschaftssystems und der DDR-Diktatur, beim Umgang mit Jugendprotest oder bei der langsamen Integration von Frauen und Migrant*innen eine wesentliche Rolle einnahm und somit einige der wichtigsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt,86 erfährt die Polizeigeschichte in der allgemeinen Geschichte und Landeszeitgeschichte nur eine geringe Resonanz. Ihr Dasein im Schatten des historischen Mainstreams wird der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedeutung der Polizei allerdings nicht gerecht. Angesichts der jüngsten Ereignisse in Europa und den USA erscheint es unabdingbar, dass wir unser Verständnis in Bezug auf die Polizei(en) erweitern, vor allem im Bereich der jüngeren, regionalen Zeitgeschichte. Dabei gilt es besonders, die staatspolitische und gesellschaftliche Funktion der Polizei mithilfe eines konstruktivistischen Ansatzes künftig verstärkt auf den Prüfstand zu stellen. Aus diesem Grund plädieren sämtliche der hier vorgestellten Perspektiven für die Berücksichtigung von soziologischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorieangeboten ebenso wie für eine methodische Offenheit der Polizeigeschichte unter Hinzuziehung neuerer Ansätze der Gender-, Kultur- und Migrationsgeschichte oder der Oral History. Darüber hinaus scheint es im Hinblick auf neue Erkenntnisse vielversprechend zu sein, nicht nur die vielfältigen Funktionen und Aufgaben, sondern auch die Hoffnungen und Ängste, die den Polizist*innen immanent waren oder die von der deutschen Gesellschaft und Politik auf die Polizei des 20. Jahrhunderts projiziert wurden, in den Blick zu nehmen. Die bundesrepublikanische Zeitgeschichte bietet jedenfalls ausreichend Anknüpfungspunkte und Zugriffsmöglichkeiten für eine Polizeigeschichte beyond Ordinary Men.

86 Siehe dazu auch Rossol, Law and Order, S. 330.

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„Wer het mi min Karf mit Flesch stahln?“ Schleswig-Holstein als niederdeutsche Sprachregion im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

Abstract The contribution examines the importance of Low German in the Prussian pro­ vince of Schleswig-Holstein in the German Empire, in the Weimar Republic and further in the National Socialism. It focuses in three parts some historical linguistic highlights. First, the philologist and librarian Georg Wenker (* 1852; † 1911) and his survey of language from 1879/80 will be considered. Wenker created a tableau of 40 phrases which had to be translated into the local dialect. Second, the decades between 1880 and 1930 will be regarded against the background of the catchword “up ewig ungedeelt” (forever undivided). Based on the categories society, literature and science, the section is questioning how significant Low German was during this period. Third and finally, the article deals with the teacher, actor and Associate Professor of German Studies Otto Mensing (* 1868; † 1939) and his dictionary SchleswigHolsteini­sches Wörterbuch published between 1927 and 1935. Mensing and his staff members had collected thousands of Low German words for this standard work. In conclusion, the analysis shows that Schleswig-Holstein was a notable Low German speaking region during the late 19th and early 20th centuries.

Regionalsprache Niederdeutsch – eine Vorbemerkung Während das Bundesland Baden-Württemberg bekanntermaßen und nicht zuletzt auch werbewirksam damit kokettiert, alles außer Hochdeutsch zu können, trage man in Schleswig-Holstein, dem Land der Horizonte beziehungsweise seit einigen Jahren dem echten Norden, mit großem Selbstverständnis das Moin im Herzen, um den Titel eines 2017 erschienenen Buches aufzugreifen.1 An dieser Stelle sei jedoch direkt vorweggeschickt: Niederdeutsch – übrigens eine eigenständige Sprache und kein Dialekt im Unterschied beispielsweise zum Schwäbischen – ist mehr als nur ein schlichtes Moin oder auch ein sabbeliges Moin Moin. Wer sich der typischen Begrüßungsformel bedient und möglicherweise im Folgenden, ohne darüber nachzudenken, Worte wie klönen, lütt und Waterkant einfließen lässt, gibt sich als in 1 Holger Loose und Frank Albrecht (Hg.), Das Moin im Herzen. Schleswig-Holstein. Unsere Heimat, Kiel 2017.

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Norddeutschland sozialisierter Sprecher zu erkennen. Platt schnackt he denn liekers nich, wird man aber zu Recht entgegnen können. Immerhin ist die niederdeutsche Sprache mit ihren zahlreichen Mundarten vom Holsteener Platt bis zum fast ausgestorbenen Ostpreißisch Platt und den jeweiligen Ortsdialekten deutlich umfangreicher und komplexer. Hervorgegangen aus dem Altsächsischen, besaß Mittelniederdeutsch im Spätmittelalter und bis ins 17. Jahrhundert hinein die Bedeutung einer Lingua franca, wenn etwa an das hansische Netzwerk mit seinem – in heutiger Terminologie – transnationalen Austausch zu denken ist.2 Niederdeutsch vermochte sich weiterhin, verschiedenen Einflüssen ausgesetzt und somit stetigen Veränderungen unterworfen, als wichtige Verkehrssprache der Bevölkerung zu erhalten, wobei dies fast ausschließlich für das Mündliche, aber keineswegs für das Schriftliche galt. Erst im Zuge eines gesteigerten regionalen Bewusstseins konnte sich eine niederdeutsche Literatur im engeren Sinne während des 19. Jahrhunderts etablieren, die rezipiert und fortan auch reflektiert wurde.3 Der Beitrag möchte schlaglichtartig die Bedeutung der niederdeutschen Sprache für die preußische Provinz Schleswig-Holstein im deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik sowie im beginnenden Nationalsozialismus untersuchen. Den Ausgangspunkt stellt der Philologe Georg Wenker (* 1852; † 1911) dar, dessen Spracherhebung von 1879/80 am Molfseer Beispiel nachvollzogen werden soll. Der zweite Abschnitt beleuchtet vor dem Hintergrund einer sprachlichen up ewig ungedeelt-These ausgewählte Aspekte der drei Kategorien Gesellschaft, Literatur und Wissenschaft für die 1880er bis 1920er Jahre, ehe der Blick schließlich auf den Lehrer, Schauspieler und Universitätsprofessor Otto Mensing (* 1868; † 1939) mit seinem Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch4 fällt.

I. Georg Wenker und die Spracherhebung von 1879/80 Der Bibliothekar und promovierte Sprachwissenschaftler Georg Wenker5 strebte seit den 1870er Jahren in geradezu idealer Form danach, das gesamte deutsche Reichsgebiet dialektologisch zu erfassen und die Ergebnisse dieses gewaltigen Vorhabens in einem Sprachatlas für das Deutsche Reich festzuhalten. Dass ihm dies – und erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die Brüder Grimm und ihren hehren Plan, ein vollständiges Deutsches Wörterbuch vorzulegen – nicht gelang und eigentlich gar 2

Willy Sanders, Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch. Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen, Göttingen 1982; Dieter Stellmacher, Niederdeutsche Sprache (Germanistische Lehrbuchsammlung 26), Berlin 22000. 3 Gerhard Cordes und Dieter Möhn (Hg.), Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Berlin 1983. 4 Otto Mensing (Hg.), Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Volksausgabe, 5 Bde., Neumünster 1927–1935. 5 Alfred Lameli, Wenker, Johann Arnold Georg, in: Neue Deutsche Biographie 27 (2020), S. 787– 789.

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nicht gelingen konnte, darf mit dem finanziellen Rahmen und dem umfänglichen Korpus begründet werden. Denn es galt, für etwa 40.000 Schulorte handschriftlich ausgefüllte Bogen mit 40 vorgegebenen Sätzen, die der mitgeschickten Anleitung zufolge „in die ortsübliche Mundart umstehend einzutragen“ waren, auszuwerten.6 Auf Grundlage der Bogen7 fertigten Wenker und sein an der Universität Marburg operierendes Team mehr als 1.600 farbige Sprachkarten an; zu einer vollständigen Veröffentlichung kam es allerdings nicht, nachdem 1881 zumindest der einigermaßen übersichtliche Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland erschienen war.8 Diesen Umstand nahm das in Marburg angesiedelte Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas vor fast zwei Jahrzehnten zum Anlass, um in den Projekten Digitaler Wenker-Atlas (DiWA) und Regionalsprache.de (REDE) alle Bogen sowie Karten zu digitalisieren und der Fachwelt, aber auch der interessierten Öffentlichkeit für Recherchen zur Verfügung zu stellen.9 Die Möglichkeit, den eingelagerten Bestand ohne eine aufwändige Archivfahrt einsehen und nutzen zu können, führte folglich zu verschiedenen sprachwissenschaftlichen Studien, die sich sowohl in diachroner als auch in synchroner Weise mit den Wenker-Sätzen und ihrer jeweiligen mundartlichen Realisierung beschäftigen. Für Schleswig-Holstein und die Übertragung ins Niederdeutsche sind zwei Aufsätze zu den Orten Hohenaspe im Kreis Steinburg und Rieseby im Kreis Rendsburg-Eckernförde zu nennen.10 Die Historiographie hingegen hat sich bisher nur ganz vereinzelt mit dem Material auseinandergesetzt, obgleich – mit Verweis auf die zusätzlich gestellten Fragen, die sich auf den Bogen befinden und ab und an beantwortet wurden – eine Betrachtung lohnen würde.11

  6 Jürg Fleischer, Geschichte, Anlage und Durchführung der Fragebogen-Erhebungen von Georg Wenkers 40 Sätzen. Dokumentation, Entdeckungen und Neubewertungen (Deutsche Dialektgeographie 123), Hildesheim/Zürich/New York 2017.   7 Siehe exemplarisch Sören Holst und Jan Ocker, „Steenborger Platt güstern un hüüt“. Die niederdeutsche Verschriftlichung der 40 Wenker-Sätze am Lohbarbeker Beispiel, in: Steinburger Jahrbuch 65 (2021), S. 66–75.   8 Georg Wenker, Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland. Auf Grund von systematisch mit Hülfe der Volksschullehrer gesammeltem Material aus circa 30.000 Orten, Straßburg/ London 1881.   9 Das Material ist abrufbar beim Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Marburg, https:// www.regionalsprache.de/ (10.8.2020). 10 Jan Ocker, Zwischen „Kaklepel“ und „Schleef “. Eine vergleichende Betrachtung des Hohen­ asper Ortsdialekts von 1879/80 und 2017, in: Steinburger Jahrbuch 65 (2021), S. 42–64; Viola Wilken, Wandeltendenzen im Nordniederdeutschen. Dialektproben im diachronen Vergleich, in: Variation, Wandel, Wissen. Studien zum Hochdeutschen und Niederdeutschen, hg. von Yvonne Hettler u. a. (Sprache in der Gesellschaft. Beiträge zur Sprach- und Medienwissenschaft 32), Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 15–36. 11 Jan Ocker, „Etwa 10 Einwohner sind dänische Unterthanen“. Wenkers Spracherhebung von 1879/80 als historische Quelle für den nördlichen Teil der Provinz Schleswig-Holstein, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 99 (2020), S. 20–25.

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Das Beispiel Molfsee

Abb. 1: Der von Lehrer Rudolph Mackeprang ausgefüllte Wenker-Bogen für den Schulort Molfsee von 1879/80. Nachweis: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Marburg.

Als Wenker im Winter 1879/80 die Post aus Hessen gen Norden schickte, gehörte auch der im damaligen Kreis Kiel gelegene Schulort Molfsee zu den Empfängern. Der Bogen erhielt später die Nummer 47.800; ausgefüllt hat ihn der aus „Gr[oß] Flintbeck“ und somit aus der direkten Nachbarschaft stammende Lehrer Rudolph Mackeprang, während die Übertragung der Sätze jedoch seiner Angabe auf dem Zettel nach durch Schüler und ihn gemeinsam erfolgte. Die Fragen, ob es in der Gemeinde „Nichtdeutsche“ oder „eine ausgeprägte Volkstracht“ gebe, erhielten von Mackeprang nur ein kurzes „Nein!“; der Platz für „Notizen über besondre Eigenthümlichkeiten in Sitte, Hausanlage, Lebensgewohnheiten u. s. w.“ blieb frei und war hiermit allerdings keine Ausnahme. Rückseitig finden sich die Übertragungen der 40 hochdeutschen Sätze, die – aus sprachwissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar – bisweilen ein wenig kon­struiert wirken, allerdings doch nicht ganz an Philipp Reis und die erste via Telefon mitgeteilte Aussage („Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“) heranreichen. Der von Wenker abgefragte erste Satz („Im Winter fliegen die trocknen Blätter durch die Luft herum“) wurde von Mackeprang und seinen Schülern als „In Winder flegt de drögen Bläd dör de Luf herüm“ angegeben und entspricht hiermit dem erwartbaren Nordniederdeutsch, wobei Abweichungen in Schreibweise und Aussprache kennzeichnend sind. Dass es im Unterschied zur hochdeutschen Standardsprache

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darüber hinaus lokale Spezifika gab und auch heute noch gibt, beweist eine Betrachtung des Wenker-Satzes 19: Während für „Wer hat mir meinen Korb mit Fleisch gestohlen?“ in Molfsee „Wer het mi min Karf mit Flesch stahln?“ übersetzt wurde, liefert der Bogen für den Schulort Wöhrden im seinerzeitigen Kreis Süderdithmarschen „Wokeen hett mien Korf mit Fleesch stahln?“. Allein die Varianz beim Interrogativpronomen verdeutlicht, wie heterogen die niederdeutsche Sprachregion Schleswig-Holstein war. So konnte sich durchaus die Mundart in Orten desselben Kirchspieles unterscheiden; ein einheitliches grenzüberschreitendes Platt herrschte nicht vor. Der konkrete Gebrauch bestimmter Wörter und die jeweilige lautliche Realisierung – die aufgrund fehlender Vorgaben gänzlich differierende Schreibung muss ausgeklammert werden – war Teil einer Identität, die eine Person beispielsweise als alteingesessen oder zugezogen charakterisierte. Wer den Molfseer Wenker-Bogen durchsieht, stößt auf ein Platt, wie es von Muttersprachlern vor Ort artikuliert wurde. Inwiefern die weitgehend wörtliche Übersetzung tatsächlich repräsentativ ist oder einige Sätze in der Praxis nicht vielleicht doch anders formuliert worden wären, lässt sich jedoch nicht beurteilen. Wenigstens drei Wörter des Bogens sollen nun noch herausgegriffen werden: Für klein findet sich durchgängig die typische Form lütt, wenn es beispielhaft „dre schön lütt Appelböm mit lütte rode Appeln“ (Wenker-Satz 26) heißt – die Kasus weisen hier nur teilweise und dann in Anlehnung an das Hochdeutsche bestimmte Endungen auf. Um die geäußerte Behauptung zu belegen, Schleswig-Holstein sei bezogen auf die niederdeutsche Sprache ein wenig homogenes Gebilde gewesen, soll der vorstehenden Passage mit der lütt-Nutzung die Übersetzung aus Wöhrden gegenübergestellt werden. Dort sind es nämlich „dre schöne lüttje Appelböm mit lüttje rode Appeln“. Als zweiter Fall sei sterben genannt; konkret interessierte Wenker das Partizip „gestorben“ (Wenker-Satz 5). Für Molfsee ist „dot blewen“ und für Wöhrden „doot bleem“ als originär niederdeutsch notiert, während etwa die Schüler in Ottenbüttel im Kreis Steinburg „storm“ übertrugen; heute bestehen dootbleven und storven als Parallelbegriffe nebeneinander, wobei die hochdeutsche Form quantitativ deutlich zunimmt und dootbleven tendenziell abzulösen scheint. Vor dem Aussterben steht schließlich der Ausdruck Schleef, wobei es sich um den „Kochlöffel“ (Wenker-Satz 11) handelt. Für Molfsee lieferte Mackeprang „Schlef “; als „Slef “ wurde das Küchengerät auch in Wöhrden bezeichnet, wohingegen sich für Ottenbüttel „Kaklepel“ finden lässt. Eine neuerliche Spracherhebung auf Grundlage der 40 Wenker-Sätze in Molfsee – und den anderen genannten Dörfern – könnte nun aufzeigen, wie sich der Ortsdialekt seit 1879/80 gewandelt hat. Entsprechende Gewährspersonen, die Niederdeutsch als Muttersprache erlernt haben müssen und im besten Falle regelmäßig anwenden, wären heute allerdings wohl kaum in der dortigen Schule anzutreffen.

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II. Up ewig ungedeelt? Niederdeutsch in Gesellschaft, Literatur und Wissenschaft Das mündliche Plattdüütsch der 1880er bis 1920er Jahre in Schleswig-Holstein lässt sich mangels fehlender Tonaufnahmen nicht mehr nachvollziehen. Die erhaltenen schriftlichen Quellen geben jedoch wichtige Anhaltspunkte, um auf den seinerzeitigen Stellenwert der niederdeutschen Sprache schließen zu können. Dafür werden unterschiedliche Aspekte aus den Bereichen Gesellschaft, Literatur und Wissenschaft zusammengetragen, um schließlich in übergeordneter Hinsicht zu fragen, inwieweit Niederdeutsch und Schleswig-Holstein in der betrachteten Phase im sprachlichen Kontext up ewig ungedeelt waren. Gesellschaft – Platt in der Schule und das up ewig ungedeelt-Schlagwort Der Schulbesuch gehörte bei den meisten Platt-Muttersprachler*innen zu den besonders eindrücklichen Erlebnissen, da hier Niederdeutsch unvermittelt auf Hochdeutsch prallte. Christian Eckermann aus Elmshorn berichtet in seinen Jugenderinnerungen über die Zeit um 1840: „Wi harrn, as wi to Schol keemen, den Deubel en Ahnung vun Hochdütsch, un ik weet noch recht god, dat ik wull all so’n Jung vun 7–8 Jahr weer, as de Scholmeister mal de Claß frag, wo Kaspelvagt op Hochdütsch heet.“12 Anzumerken ist, dass diese Schilderung noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auf viele Personen in den ländlichen schleswig-holsteinischen Gemeinden zutraf. Unterhielten sich die Kinder auf dem Schulweg und während der Pausen zwar op Platt, kam im Unterricht die hochdeutsche Sprache zum Einsatz. So enthält etwa das Norddeutsche Lesebuch von 1914 nicht einen einzigen niederdeutschen Text.13 Daraus allerdings ein pauschales Urteil abzuleiten, wäre auch wieder falsch, da andererseits Wägen und Wirken. Ein deutsches Lese- und Lebensbuch von 1925 im Kapitel Up ewig ungedeelt zwei niederdeutsche Gedichte von Hans Friedrich Blunck und Gorch Fock alias Johann Wilhelm Kinau und im Abschnitt In deutscher Mundart fünf niederdeutsche Texte der Autoren Klaus Groth, Gustav Falke und Theodor Storm bietet.14 Ein weiteres, jedoch als besondere Ausnahme zu wertendes Werk ist das von Lehrer Walther Trede aus Dänischenhagen in den 1920er Jahren entwickelte Arbeitsbuch

12 Christian Eckermann, As ik so’n Jung weer. Jugenderinnerungen, Norden 1906, S. 9. 13 Heinrich Keck und Christian Johansen, Norddeutsches Lesebuch. Mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der ein- und zweiklassigen Volksschule, Bd. 1: Unterstufe, neu­ bearb. von Christian Alberti und August Sach, Halle a. d. S.251914. 14 Hans Mähl, Hans Lorenz Lorenzen und Hermann Stodte (Bearb.), Wägen und Wirken. Ein deutsches Lese- und Lebensbuch. Heimatausgabe für Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1925.

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für sprachliche Formübungen in den Schulen Niedersachsens.15 Niedersachsen meint hier das niederdeutsche Sprachgebiet; der Besitzvermerk in der Ausgabe, die sich im Bestand des Verfassers befindet, gibt neben dem Namen den Schulort Westerrönfeld im heutigen Kreis Rendsburg-Eckernförde an. Im Schulbuch hat Trede immer wieder bewusst Niederdeutsch – etwa als zu übersetzende Texte – eingestreut. Auf einer Einzelseite ist festgehalten: „So schall dat blieben an de Waterkant: Plattdütsch de Lüd un plattdütsch dat Land!“16 Und in der Sprache seiner Schüler, denen er das Platt gar nicht erst auszutreiben versuchte, sondern dies vielmehr als didaktisches Mittel einsetzte, lockt Trede schließlich: „Wer de Knacknöt twei kreegen hett un wer de Opgaven fein un richtig in’t Hochdütsche översett mit de Oplösung an mi schicken deiht, (Friemark bileggen!) de kriggt ok’n feine Koart vun mien leew-lütt Dörp an den Binnensee.“17 Neben der niederdeutschen Sprache im Allgemeinen thronte über der schleswig-holsteinischen Bevölkerung ein Ausspruch im Besonderen – nämlich die Phrase up ewig ungedeelt, die sich als in den 1840er Jahren zum sprachlichen Symbol gewordenen Schlagwort auf das Ripener Privileg von 1460 bezog (verkürzt und pointiert aus ewich tosamende vngedelt).18 Zum 50. Jahrestag der Schleswig-Holsteinischen Erhebung pflanzten Kriegerverbände und Gemeinden vielerorts in Schleswig-Holstein Doppeleichen und errichteten gleichermaßen Gedenksteine mit den drei wichtigen Wörtern, wie dies etwa 1898 in Glückstadt geschah.19

15 Walther Trede, Arbeitsbuch für sprachliche Formübungen in den Schulen Niedersachsens, Bd. 3: 5. und 6. Schuljahr, Flensburg 31928. 16 Ebd., S. 75. 17 Ebd., S. 162. 18 Vgl. zum Ripener Vertrag insgesamt Oliver Auge und Burkhard Büsing (Hg.), Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa (Kieler Historische Studien 43; zeit + geschichte 24), Ostfildern 2012. 19 Jan Ocker, Das Herzogtum Holstein in den Jahren 1848–1851. Eine Spurensuche zum Verhältnis von dänischer zu schleswig-holsteinischer Gesinnung im heutigen Kreis Steinburg, in: 400 Jahre Glückstadt. Festschrift der Detlefsen-Gesellschaft zum Stadtjubiläum, hg. von Christian Boldt, Norderstedt 2017, S. 245–277, hier S. 248.

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Abb. 2: Der am 24. März 1908 anlässlich des 60. Jahrestages der Schleswig-Holsteinischen Erhebung im heutigen Hohenlockstedt geweihte Gedenkstein mit der Aufschrift „Up ewig ungedeelt“. Nachweis: Jan Ocker.

Zehn Jahre später konnten Veteranen aus Winseldorf im Kreis Steinburg am 24. März, also am Erhebungstag, unweit des Lockstedter Lagers ein Denkmal mit den Inschriften „Up | ewig ungedeelt | 1848_1851“ und „Errichtet | 1908“ weihen. Dass die up-Form – wie übrigens in den meisten Orten Schleswig-Holsteins – gar nicht ortstypisch war, da nicht zuletzt Wenker die Provinz als eindeutiges op-Territorium klassifizieren konnte, schien den Anwesenden wohl gleichgültig gewesen

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zu sein. Als ein seltener Sonderfall darf indes Pinneberg gelten, wo der im Fahlt positionierte Stein den Spruch „OP EWIG | UNGEDEELD | 1848–1898“ verkündet. An der Schreibung des omnipräsenten up ewig ungedeelt war letztlich nicht zu rütteln. Direkt über dem schleswig-holsteinischen Wappen standen die Lettern beispielsweise auf dem schmuckvollen, farbig gestalteten Cover des erstmals 1910 von den Lehrern Johannes Schmarje und Johannes Henningsen veröffentlichten Werkes Die Nordmark. Ein Heimatbuch für Schleswig-Holstein, Lübeck und Hamburg.20 „Die moderne Kultur hat einen stark ausgeprägten internationalen Zug. Hochmütig blickt sie herab auf völkische und heimatliche Eigenart. Unter ihrem nivellierenden Einfluß ist die Volkstracht bereits so gut wie verschwunden, die heimatliche Mundart im Aussterben“, urteilen die Herausgeber in ihrem Vorwort,21 um in ihrem Sammelband mit Johann Hinrich Fehrs’ Geschichte Üm hundert Daler, Klaus Groths Gedichten Min Port und Min Modersprak sowie dem Schleswig-Holsteinischen Humor im Volksmund immerhin vier niederdeutsche Beiträge darzureichen. Literatur – Beschäftigung mit der niederdeutschen Sprache und Schreiben op Platt Im Jahr 1910 erschienen die Plattdeutschen Mundarten 22 aus der Feder Hubert Grimmes, der zu diesem Zeitpunkt – kurz vor seinem Wechsel nach Münster – den Lehrstuhl für Orientalistik an der Universität Freiburg bekleidete. In dem Büchlein widmet er sich ausführlich der niederdeutschen Sprache, die er einordnet, beschreibt und analysiert. Einleitend konstatiert Grimme einerseits: „Alle plattdeutschen Mundarten sind zur Zeit hart bedrängt durch das Hochdeutsche, das, durch Schule, Kirche, Kaserne, endlich durch das Zeitungswesen gefördert, in die entlegensten Winkel Niederdeutschlands eingedrungen ist.“23 Andererseits greift er einen bis heute immer wieder hervorgebrachten Vorschlag auf, dessen erfolgreiche Durchsetzung er aber bezweifelt: „Zu verschiedenen Zeiten ist die Hoffnung aufgetaucht, es werde noch einmal einer der bestehenden plattd. Dialekte oder auch eine zwischen mehreren Dialekten vermittelnde Sprachform sich zu einem Organ der Verständigung und der literarischen Unterhaltung für ganz Niederdeutschland ausgestalten.“24 Zu einem gewünschten Einheits-Platt mit seinen Vor- und Nachteilen kam es nicht, da die Vertreter der verschiedenen Sprachregionen keineswegs gewillt waren, ihre lokalen Besonderheiten aufzugeben. Diskussionen entbrannten auch immer wieder hinsichtlich der Frage, wie ein als unrein wahrgenommenes, also vom Hochdeutschen mehr und mehr beeinflusstes Plattdüütsch zu bewerten 20 Johannes Schmarje und Johannes Henningsen (Hg.), Die Nordmark. Ein Heimatbuch für Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, Leipzig [1910]. 21 Dies., Vorwort, in: Die Nordmark. Ein Heimatbuch für Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, hg. von Dens., Leipzig [1910], S. Vf., hier S. V. 22 Hubert Grimme, Plattdeutsche Mundarten (Sammlung Göschen 461), Leipzig 1910. 23 Ebd., S. 16. 24 Ebd.

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sei. In der Vorrede seiner 1914 publizierten Plattdeutschen Volksmärchen25 merkt der aus Klenzau in Ostholstein stammende Wilhelm Wisser energisch an: Dem schauderhaften hochplattdeutschen Jargon gegenüber, der in der plattdeutschen Literatur unbehelligt sein Unwesen treibt und den Verfall des Plattdeutschen, statt ihn aufzuhalten, nur beschleunigt, wie er ja selbst schon ein deutliches Zeichen des Verfalls ist, habe ich mich bemüht, ein ganz reines Plattdeutsch zu schreiben, ein Platt, das zwar nicht frei ist von hochdeutscher Beimischung – denn die hochplattdeutschen Unformen ‚Kirch‘, ‚Wuch‘, ‚Großvadder‘ uä. haben sich in dem ostholsteinischen Platt leider schon so festgewurzelt, daß sie nicht mehr auszurotten sind –, ein Platt aber, das rein plattdeutschen Geist atmet und auf dessen Echtheit der hochdeutsche Leser sich unbedingt verlassen kann. Denn das Platt meiner alten Erzähler und Erzählerinnen, das in dieser Ausgabe teils unverändert beibehalten, teils bei jedem Satz Muster und Vorbild für mich gewesen ist, das ist wirklich noch Platt.26

So verschieden wie die Ortsdialekte der niederdeutschen Sprache in ihrem lexikalischen Bestand und vor allem in der Aussprache sein konnten, so frei war zudem die Schreibung, für die schlichtweg keine Vorgaben existierten, an die man sich hätte halten können. Während dies für die meisten Plattschnacker kein Problem darstellte, weil sie lediglich mündlich an der Sprache partizipierten, war die individuelle und häufig gänzlich uneinheitliche Schreibweise besonders für Literaten und all diejenigen, die sich mit dem verschriftlichten Platt zu beschäftigen hatten, ein doch zumindest empfundenes Manko. Die Wenker-Bogen sind ein Inbegriff der Uneinheitlichkeit, ohne dass allerdings die eigentliche Erhebung hierdurch gelitten hätte. In Anlehnung an die hochdeutsche Sprache und das Wörterbuch Konrad Dudens wuchs das Interesse, eine niederdeutsche Orthographie einzuführen. Tatsächlich führten die zahlreichen Gespräche ausgewählter Experten im Jahr 1919 zu den Lübecker Richtlinien, die das Ziel verfolgten: „Sollten sie zur Durchführung kommen, was sehr wünschenswert wäre, so würde dadurch die Buntscheckigkeit der Schreibart, die dem plattdeutschen Schrifttum bisher sehr hinderlich war, abgeschafft werden.“27 Im Weiteren heißt es: „Die niederdeutsche Rechtschreibung will nicht mit Gewalt eine einheitliche niederdeutsche Schriftsprache schaffen, sie will sich auf einigen einfachen Regeln aufbauen, nach denen sich jede Mundart richten kann, ohne ihre Eigenart aufzugeben.“28 Die Lübecker Richtlinien setzten sich in der Praxis jedoch genauso wenig durch wie die Sass’schen Regeln aus den 1950er Jahren. Vor diesem Hintergrund fällt es – abgesehen von einer textimmanenten Uneinheitlichkeit – schwer, auffällige Buchstabenanordnungen in niederdeutschen 25 Wilhelm Wisser (Bearb.), Plattdeutsche Volksmärchen. Ausgabe für Erwachsene (Die Märchen der Weltliteratur 6), Jena 1914. 26 Ebd., S. XXVIII. 27 O. V., Einheitliche plattdeutsche Rechtschreibung. Die Lübecker Richtlinien, in: Vaterstädtische Blätter. Illustrierte Unterhaltungsbeilage der Lübeckischen Anzeigen (7.12.1919), S. 19 f., hier S. 19. 28 Ebd., S. 19 f.

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Beiträgen per se als falsch abzustempeln, da sich hochdeutsche Maßstäbe eben nicht anlegen lassen. Nach Grimmes relevantem Werk ist bei der Beschäftigung mit dem Niederdeutschen überdies Gustav Friedrich Meyers Unsere plattdeutsche Muttersprache von 1921 zu nennen; hier wendet sich der Autor, der an der Universität Kiel Vorlesungen und Seminare bei Mensing besucht hatte, in zwei großen Blöcken der Geschichte und dem Wesen der niederdeutschen Sprache zu.29 Ferner ist auf den in Hamburg lehrenden Universitätsprofessor Conrad Borchling zu verweisen, der unter anderem die beiden Aufsätze Entwicklungsgang der niederdeutschen Literatur und Die Niederdeutsche Sprache abfasste.30 Neben der letztlich von ihrer Bedeutung zeugenden Auseinandersetzung mit der niederdeutschen Sprache fand die Bevölkerung Gefallen an den Schriftstellern und wenigen Schriftstellerinnen, die sich op Platt betätigten. Die Literatur gruppierte sich um Klaus Groth, der selbst Philologe war und an der Universität Kiel Vorlesungen zur deutschen Literaturgeschichte hielt.31 Die Autoren Groth, dessen Gedichtsammlung Quickborn32 in zahllosen Neuauflagen erschien, den Tod des Urhebers überdauerte sowie zum vielfach rezipierten Standardwerk avancierte, und Johann Meyer, bei dem besonders die Dichtung Gröndunnerstag bi Eckernför 33 hervorzuheben ist, würdigte der Germanist Hermann Krumm in seinem Überblick, den er für den 1896 publizierten Prachtband Schleswig-Holstein meerumschlungen in Wort und Bild erstellte.34 Bevor 1910 das bereits angeführte Buch Die Nordmark. Ein Heimatbuch für Schleswig-Holstein, Lübeck und Hamburg auf den Markt kam, hatte drei Jahre zuvor der Lehrer Richard Dohse das Werk Meerumschlungen. Ein literarisches Heimatbuch für Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck herausgegeben.35 Von insgesamt 85 Beiträgen kleineren und größeren Umfanges sind wenigstens elf Texte in niederdeutscher Sprache abgefasst; diese stammen von den Autor*innen Iven Kruse (mit zwei Geschichten und einem Gedicht), Johann Hinrich Fehrs (mit einer Geschichte 29 Gustav Friedrich Meyer, Unsere plattdeutsche Muttersprache. Beiträge zu ihrer Geschichte und ihrem Wesen, Garding 1921. 30 Conrad Borchling, Entwicklungsgang der niederdeutschen Literatur, in: Tausend Jahre Plattdeutsch. Proben niederdeutscher Sprache und Dichtung vom Heliand bis 1900, hg. von Dems. und Hermann Quistorf, Hamburg 1927, S. 7–62; Ders., Die Niederdeutsche Sprache, in: Was ist niederdeutsch? Beiträge zur Stammeskunde, hg. von der Fehrs-Gilde, Kiel 1928, S. 89–103. 31 Jan Ocker, Im Dienste der Lyrik, der Wissenschaft und des Landes Schleswig-Holstein. Klaus Groth (1819–1899) als Gegenstand der Historiographie, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 97 (2019), S. 28–33. 32 Klaus Groth, Quickborn. Volksleben in plattdeutschen Gedichten dithmarscher Mundart, Hamburg 1853. 33 Johann Meyer, Gröndunnerstag bi Eckernför. Eine episch-lyrische Dichtung in dithmarscher Mundart, Leipzig 1873. 34 Hermann Krumm, Dichter und Schriftsteller, in: Schleswig-Holstein meerumschlungen in Wort und Bild, hg. von Hippolyt Haas, Hermann Krumm und Fritz Stoltenberg, Kiel 1896, S. 123–168. 35 Richard Dohse (Hg.), Meerumschlungen. Ein literarisches Heimatbuch für Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, Hamburg 1907.

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und einem Gedicht), Paul Trede (mit zwei Gedichten), Otto Erich Kiesel, Felix Schmeißer, Adolf Stuhlmann und Wilhelmine Kühl. Niederdeutsch als wesentlicher Teil der heimatlichen Kultur gehörte somit zum festen Inventar der schleswig-holsteinischen Literaturlandschaft. Dies zeigt sich auch beim abschließenden Blick auf das 1914 veröffentlichte Opus Unsere meerumschlungene Nordmark. Ein Heimatbuch in Wort und Bild,36 das keinesfalls zu Unrecht stark an die zuvor angeführte Ausgabe von 1896 erinnert und in der Tat als eine erweiterte, nunmehr zweibändige Neuauflage verstanden werden kann. Daher nimmt es auch nicht wunder, dass Hermann Krumms Aufsatz Unsere Dichter phasenweise wortgetreu den fast 20 Jahren zuvor präsentierten Ausführungen entspricht.37 Neben Klaus Groth und Johann Meyer, die inzwischen bereits beide verstorben waren, aber weiterhin mit Freude gelesen wurden, konzentriert sich Krumm vor allem auf den in Mühlenbarbek im Kreis Steinburg geborenen und im benachbarten Itzehoe lebenden Schriftsteller Johann Hinrich Fehrs, der 1907 den Roman Maren 38 vorgelegt hatte und „der jetzt, nachdem er allzu lange viel zu wenig beachtet worden, als durchaus selbständiger und ebenbürtiger Ergänzer Klaus Groths allgemein anerkannt wird“.39 Des Weiteren wird der in Glückstadt wohnhafte Autor Fritz Lau aufgelistet, der sich im Ersten Weltkrieg mit Helden to Hus 40 einen Namen gemacht hatte und „ein Talent von erfreulicher Frische“ sei.41 Krumm bilanziert für die niederdeutsche Literatur: Noch regt sich frischer Saft im „Eekbom“ der plattdeutschen Sprache, und es ist pa­ triotische Pflicht, den Frevlern, die ihn vorzeitig umhauen möchten, in den Arm zu fallen. Noch viele Generationen werden fortfahren, an dem Besten unserer Eigenart, das sich in der plattdeutschen Literatur verkörperte, pietätvoll festzuhalten, von dem alten Sprachgut und den Sitten der Väter zu retten, so viel noch zu retten ist. Das ist es vor allem, was unsere plattdeutschen Dichter gewollt haben und noch wollen, wofür ihnen der Dank aller gebührt, die wissen, was Niedersachsens Sprache und Art für ganz Deutschland bedeutet.42

36 Hermann Krumm und Fritz Stoltenberg (Hg.), Unsere meerumschlungene Nordmark. Ein Heimatbuch in Wort und Bild, 2 Bde., Kiel 1914. 37 Hermann Krumm, Unsere Dichter, in: Unsere meerumschlungene Nordmark. Ein Heimatbuch in Wort und Bild, Bd. 2: Die Geschichte und Kultur des Landes, hg. von Dems. und Fritz Stoltenberg, Kiel 1914, S. 100–154. 38 Johann Hinrich Fehrs, Maren. En Dörp-Roman ut de Tid von 1848–51, Garding 1907. 39 Krumm, Dichter, S. 108. 40 Fritz Lau, Helden to Hus, Hamburg 1915. 41 Krumm, Dichter, S. 110. 42 Ebd., S. 112.

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Wissenschaft – Niederdeutsch an der Universität Kiel Nachdem 1875 an der Kieler Universität das Germanistische Seminar begründet und Karl Weinhold zu seinem Direktor ernannt worden war,43 konnte sich der niederdeutsche Zweig allerdings erst mit dem in Stuttgart geborenen Friedrich Kauffmann wirklich etablieren, der von 1895 bis 1928 die ordentliche Professur für deutsche Philologie innehatte. In seiner in Marburg angenommenen Habilitation beschäftigte er sich mit der Dialektologie am schwäbischen Beispiel;44 bereits 1886 war Kauffmann in Tübingen mit einer Arbeit zum altsächsischen Heliand promoviert worden, die als Aufsatz erschien.45 Erwähnt werden darf zudem sicherlich, dass der Wissenschaftler im Anschluss an seine Dissertation der von Georg Wenker zusammengestellten Forschungsgruppe angehörte, die sich in Marburg um den Sprachatlas für das Deutsche Reich bemühte. Kauffmanns besonderer Einsatz für die niederdeutsche Sprache lässt sich aus den jeweiligen Vorlesungsverzeichnissen ableiten.46 Im Wintersemester 1896/97 richtete er die Niederdeutsche Societät als Veranstaltung ein, um in dem Seminar mit seinen Studenten die niederdeutschen Sprachstufen vom Altsächsischen über das Mittelniederdeutsche bis zum zeitgenössischen Platt nachzuvollziehen und wichtige literarische Werke zu behandeln, bei denen allen voran De düdesche Schlömer und Reinke des Vos zu nennen sind. In der zum Wintersemester 1903/04 geschaffenen Folkloristischen Sozietät lud er wiederholt zur Dialektforschung; im Sommersemester 1920 bot Kauffmann schließlich ein Seminar zu Plattdeutschen Volksmärchen an, wobei er sich höchstwahrscheinlich unmittelbar auf Wilhelm Wisser stützte. Mit Verweis auf Otto Mensing und dessen Wirken an der Kieler Universität kann sodann festgestellt werden, dass Kauffmann bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1928 keine Lehrveranstaltungen mehr zur niederdeutschen Sprache gab. Seiner Wahlheimat blieb der gebürtige Schwabe in jedem Falle auch nach seiner beruflichen Karriere treu: 1933 wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte; der Landesbibliothekar Volquart Pauls widmete die aus Anlass des 100-jährigen Vereinsbestehens angefertigte Jubiläumsschrift „[s]einen Lehrern | Professor Dr. Friedrich Kauffmann | Geh. Regierungsrat | und | Professor Dr. Carl Rodenberg † | Geh. Regierungsrat | in dankbarer Verehrung“.47

43 Karl Weinhold, Das germanistische Seminar, in: Chronik der Universität zu Kiel (Schriften der Universität zu Kiel 22, 5), Kiel 1876, S. 48. 44 Friedrich Kauffmann, Der Vokalismus des Schwäbischen in der Mundart von Horb, Straßburg 1887. 45 Ders., Die Rhythmik des Heliand, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 12 (1887), S. 283–355. 46 Siehe zum Folgenden die Verzeichnisse der Vorlesungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 1896–1920. 47 Volquart Pauls, Hundert Jahre Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte. 1833 – 13. März – 1933, Neumünster 1933, S. V.

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Während 1924 immerhin eine landesgeschichtliche Professur in Kiel etabliert werden konnte, blieb eine ordentliche Professur für Niederdeutsche Sprache und Literatur in den 1920er Jahren weiterhin ein frommer Wunsch.48 In dem 1920 von vielen namhaften Personen vorgelegten Entwurf zu einem Kultur-Programm für Schleswig-Holstein hatte sich der Germanist Otto Mensing mit einer Petition beteiligt.49 Darüber hinaus forderte der pro-deutsche Kunsthistoriker Ernst Sauermann: „Die beste und einfachste Lösung wäre die Schaffung einer ordentlichen Professur für niederdeutsche Sprache und Literatur an der Universität in Kiel, die dem Leiter des Schleswig-Holsteinischen Wörterbuchs zu übertragen wäre.“50 Diese Absicht wurde nicht in die Praxis umgesetzt; immerhin erhielt Mensing 1921 eine außerordentliche Professur. Mehrere Anläufe, die Entscheidungsträger doch noch zu überzeugen, einen ordentlichen Lehrstuhl zu schaffen, scheiterten. Die Chance, Kauffmanns Eintritt in den Ruhestand als günstigen Zeitpunkt zu nutzen, nochmals vorstellig zu werden, ließ sich der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker nicht nehmen, als er sich am 20. August 1928 – vergeblich – an den Finanzminister Hermann Höpker Aschoff wandte: Die Errichtung der Professur ist nicht nur eine innere Angelegenheit der Universität Kiel, sie ist ein besonderer Wunsch der ganzen Provinz Schleswig-Holstein. Keine Provinz des Staates Preußen hängt an der niederdeutschen Mundart so fest wie Schleswig-Holstein und in keiner Provinz sind seit vielen Jahren so intensive und konsequente Bestrebungen im Gange, die einheimische Mundart aus dem Bereich rein fachwissenschaftlicher Arbeit heraus wieder zu einem lebendigen Gut des Volkes werden zu lassen. Zum Teil handelt es sich es dabei auch um politische Gründe. Der entscheidende Einfluß, den die Pflege der niederdeutschen Mundart als Muttersprache namentlich auf dem flachen Land gegenüber der dänischen Sprache – also in Abwehr der Dänisierungspolitik der Eiderdänenpartei in Dänemark hat – ist allgemein bekannt und durch langjährige Erfahrung bestätigt. Neben dieser politischen Bedeutung stellt sich jedoch auch die Pflege des Niederdeutschen als Muttersprache als eine Aufgabe von hoher kultureller Wichtigkeit dar.51

48 Jenni Boie, Volkstumsarbeit und Grenzregion. Volkskundliches Wissen als Ressource ethnischer Identitätspolitik in Schleswig-Holstein 1920–1930 (Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte 9), Münster 2013, S. 126–142. 49 Otto Mensing, Forderungen in Bezug auf Niederdeutsche Sprache, Literatur und Volkskunde, in: Entwurf zu einem Kultur-Programm für Schleswig-Holstein, hg. von Ludwig Ahlmann u. a., Flensburg 1920, S. 18. 50 Ernst Sauermann, Betrifft Errichtung einer ordentlichen Professur für Niederdeutsche Sprache und Literatur, in: Entwurf zu einem Kultur-Programm für Schleswig-Holstein, hg. von Ludwig Ahlmann u. a., Flensburg 1920, S. 19. 51 Zit. n. Wissenschaftspolitik in der Weimarer Republik. Dokumente zur Hochschulentwicklung im Freistaat Preußen und zu ausgewählten Professorenberufungen in sechs Disziplinen (1918 bis 1933), Bd. 1, hg. von Hartwin Spenkuch (Acta Borussica N. F. 2, II/9, 1), Berlin/Boston 2016, S. 310.

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III. Otto Mensing und das Schleswig-Holsteinische Wörterbuch Nach seiner Promotion und der erfolgreich abgelegten Habilitation war der in Lütjenburg zur Welt gekommene Lehrer Otto Mensing ab 1903 Privatdozent und ab 1921 außerordentlicher Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Kiel. Im Jahr 1921 gründete der vielbeschäftigte Tausendsassa in der Fördestadt zudem die Niederdeutsche Bühne, um sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch selber schauspielerisch zu engagieren und schließlich aufgrund des bleibenden Wert besitzenden Schleswig-Holsteinischen Wörterbuches zum Mister Niederdeutsch aufzusteigen.52 Wie wohl keine zweite Person setzte er sich auf allen Ebenen für die niederdeutsche Sprache ein, die ihm Beruf und Berufung gleichermaßen war.

Abb. 3: Das von Otto Mensing zwischen 1927 und 1935 in fünf Bänden herausgegebene Schleswig-Holsteinische Wörterbuch. Nachweis: Jan Ocker.

52 Dierk Puls, Vor 100 Jahren wurde Otto Mensing geboren. Plattdeutsch auf 800.000 Zetteln. Schulmann – Forscher – Künstler. Ein Leben im Dienst der niederdeutschen Sprache, in: Kieler Nachrichten (27.7.1968), S. 10.

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Friedrich Kauffmanns Niederdeutsche Societät führte Mensing erfolgreich als Niederdeutsche Übungen weiter.53 Wie aus den Vorlesungsverzeichnissen hervorgeht, befasste er sich nach der ersten Veranstaltung im Wintersemester 1903/04 zur Geschichte des niederdeutschen Dramas mit den unterschiedlichen niederdeutschen Sprachstufen und den Werken De düdesche Schlömer, Der verlorene Sohn, Heliand, Reinke de Vos und Theophilus, aber auch mit Fastnachtsbräuchen und Fastnachtsspielen, Laurembergs Scherzgedichten, Plattdeutschen Tier- und Pflanzennamen, Schleswig-Holsteins Anteil an der niederdeutschen Literatur und zuletzt im Wintersemester 1938/39 quasi als Synopse mit den Hauptwerken der niederdeutschen Literatur vom Heliand bis zur Gegenwart. Das thematische Spektrum beeindruckt und zeugt einmal mehr von Mensings außergewöhnlicher Einsatzbereitschaft. Mit dem zwischen 1927 und 1935 in fünf Bänden veröffentlichten Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch krönte der Philologe gewissermaßen seine Karriere.54 Noch heute stellt das Gesamtwerk eines der wichtigsten Nachschlagewerke zum Niederdeutschen in Schleswig-Holstein dar; viele darin erhaltene Redewendungen und Begriffe sind inzwischen längst vergessen, aber auf den Tausenden bedruckten Seiten für künftige Generationen archiviert. Den Anstoß zu dem umfangreichen Projekt gab im Übrigen Mensings Kollege Kauffmann im Jahr 1902 – mit dem hehren Ziel, jedes niederdeutsche Wort, jede Phrase und jeden Text aufzuspüren, zu sammeln und ins Opus magnum aufzunehmen. Die an Mensing gestellte Aufgabe, die ohne ein funktionierendes Team überhaupt nicht hätte bewältigt werden können, hinterließ Spuren: „Die Arbeit daran hat mich länger als ein Menschenalter beschäftigt, und oft habe ich gezweifelt, ob es mir vergönnt sein würde, das Werk zu Ende zu führen. An Hemmungen aller Art hat es nicht gefehlt.“55 Ein paar Zeilen darunter äußert der Sprachwissenschaftler mit Bezug auf die interessierte Öffentlichkeit: Was mich immer wieder vorwärts trieb, auch wenn die Kraft einmal zu erlahmen drohte, das war die freudige Zustimmung, die mir aus allen Kreisen meiner Landsleute während der langen Jahre ununterbrochen entgegengebracht wurde. Zahlreiche Zuschriften bewiesen mir immer wieder, daß die Arbeit nicht umsonst getan wurde. Ein fast Achtzigjähriger schrieb mir einmal, daß er das Erscheinen jeder Lieferung kaum erwarten könne und daß es die größte Freude seines Alters sei, sich in den volkstümlichen Stoff, der hier in reicher Fülle dargeboten wurde, zu versenken.56

Reichhaltig fasst den Inhalt der fünf Bände sicherlich treffend zusammen; von A bis Zwitsch bieten zahllose Lemmata Wissenswertes rund um die niederdeutsche 53 Siehe zum Folgenden die Verzeichnisse der Vorlesungen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 1903–1938. 54 Carsten Drieschner, Der „plattdeutsche Professor“ oder: Was ist ein Experte? Das Beispiel Otto Mensing und das „Schleswig-Holsteinische Wörterbuch“, in: Berliner Blätter. Ethnografische und ethnologische Beiträge 50 (2009), S. 68–86. 55 Otto Mensing (Hg.), Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Volksausgabe, Bd. 5, Neumünster 1935, S. [I]. 56 Ebd.

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Sprache. Wer sich etwa für das Auge interessiert, wird auf acht Spalten zum Oog und den Komposita informiert.57 Das Wörterbuch blieb nach Mensings Tod im Jahr 1939 als Vermächtnis zurück; im Kieler Stadtteil Pries wurde bereits 1940 eine Straße nach ihm benannt58 – wohingegen die Forderung, auch die Niederdeutsche Bühne offiziell nach ihrem Gründer zu bezeichnen, bis heute unerfüllt blieb. Mit Verweis auf aktuelle Schicksale einiger Zeitgenossen, bei denen etwa an die Schriftsteller Heinrich Hornig und Gustav Frenssen mit den jeweiligen Straßenumbenennungen in Itzehoe (2002) sowie exemplarisch in Kiel-Pries (2011) zu denken ist,59 bleibt in jedem Falle zu hoffen, Mensings Werk stets als Ganzes zu betrachten und den vielseitigen Plattschnacker nicht kontextlos in eine nationalsozialistische Ecke zu verfrachten, nur weil er sich in den 1930er Jahren für Gebiete der Heimat- und Sachkunde einsetzte. Bei dem gebürtigen Kieler Schriftsteller Albert Mähl beispielsweise und dessen Rassenseele im Spiegel der Sprache60 von 1938 sieht dies gänzlich anders aus. Die Frage nach der Funktion der niederdeutschen Sprache im Nationalsozialismus61 sowie speziell auch im Zweiten Weltkrieg62 muss stets individuell gestellt und beantwortet werden.

Niederdeutsch in der Region – eine Nachbetrachtung In der von Wenker bis Mensing gespannten zeitlichen Phase des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war die preußische Provinz Schleswig-Holstein zweifelsohne eine bedeutsame niederdeutsche Sprachregion, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen konnten. Bei Plattdüütsch handelte es sich um eine wichtige mündliche Verkehrssprache im dörflichen sowie häufig auch noch im städtischen Umfeld. Der vielfache Gebrauch des Niederdeutschen beziehungsweise die Beschäftigung hiermit in Gesellschaft, Literatur und Wissenschaft stützt darüber hinaus die These, dass Schleswig-Holstein und Platt eine kulturelle und identitätsstiftende Symbiose eingingen – auf diese Weise gleichsam up ewig ungedeelt waren. 57 Ders. (Hg.), Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch. Volksausgabe, Bd. 3, Neumünster 1931, Sp. 837–844. 58 Hans-G. Hilscher, Kieler Straßenlexikon, seit 2005 fortgeführt und hg. vom Amt für Bauordnung, Vermessung und Geoinformation der Landeshauptstadt Kiel, Kiel 92018, S. 130. 59 Kay Dohnke, Rieder statt Hornig, oder: Kritiker vor Gericht! Anstoß und Ergebnis eines historisch-politischen Diskurses in der Provinz, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 40 (2002), S. 92 f.; Ders., Die guten Nazis vom Eichhörnchenplatz, oder: Domino spielen mit Gustav Frenssen. Wie belastete Namen von Straßenschildern verschwinden, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 55 (2014), S. 136–150. 60 Albert Mähl, Rassenseele im Spiegel der Sprache. Sprache und Seele im Niederdeutschen (Volk und Wissen 22), Erfurt 1938. 61 Kay Dohnke, Norbert Hopster und Jan Wirrer (Hg.), Niederdeutsch im Nationalsozialismus. Studien zur Rolle regionaler Kultur im Faschismus (Quickborn-Bücher 86/87), Hildesheim/ Zürich/New York 1994. 62 Jan Ocker, „Hier snackt Steenborg!“ von 1944. Eine Zeitschrift für Frontsoldaten als (sprachliche) Brücke im Zweiten Weltkrieg, in: Steinburger Jahrbuch 65 (2021), S. 134–144.

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Mit Blick auf die schleswig-holsteinische Sprachgeschichte seit den 1930er Jahren muss, wie schon bei der Auseinandersetzung mit der Ripen-Phrase von 1460, das lütt und unscheinbar anmutende Wort ewig sodann in Frage gestellt werden. Bei allen aktuellen Bestrebungen, Niederdeutsch wieder zu pflegen und den dauerhaften Erhalt dieses regionalen Kulturgutes auf unterschiedlichste Weise zu fördern, verringerte sich die Zahl der aktiven Sprecher*innen seit den 1940er Jahren im nördlichsten Bundesland bedenklich. Als Gründe sind hierbei der Zuzug unzähliger Ostflüchtlinge sowie im besonderen Maße auch die Meinung, Platt sei nicht gesellschaftsfähig, sondern vielmehr uncool und sogar hinderlich, anzuführen, ohne dass sich dies allerdings mit Hinweis auf gegenteilige Beispiele generalisieren lässt.63 Bei jeglicher Relativierung bezogen auf Kontext und Häufigkeit gilt insgesamt nach wie vor: Platt ward ok hüüt jümmers noch schnackt!

63 Werner Maihoff und Jan Ocker, „Auf dem Schulhof wurde Platt geredet“. Die sprachliche Integration eines ostpreußischen Flüchtlingsjungen in Hohenaspe (1945–1950), in: Steinburger Jahrbuch 65 (2021), S. 147–151.

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Offen, vernetzt und grenzenlos Zu den Chancen und Potentialen der Digital Humanities in der Regionalgeschichte

Abstract Based on the premise of the interdisciplinary openness of the field of regional history and the almost limitless openness of Digital Humanities, the essay explores the potential interdependencies between these two fields of study. It shows that the approach of using methods and procedures of the Digital Humanities can help the university-based regional history to further develop its questions and findings. The Digital Humanities, furthermore, offer new chances concerning the knowledge transfer into society. The article shows that historians of the regional field need to acquire certain competencies in terms of digitality if they want to stay up-to-date.

Hinführung Die Möglichkeiten zur systematischen Nutzung computergestützter Verfahren und digitaler Ressourcen in den Geistes- und Kulturwissenschaften, kurz: die Grundlagen der Digital Humanities, beginnen seit den 2010er Jahren den wissenschaftlichen Diskurs sowie die universitäre Lehre stärker zu prägen. Mittlerweile sind digitale Verfahren auch in vielen Bereichen der geschichtswissenschaftlichen Forschung angekommen. Immer mehr Quellen liegen inzwischen in digitaler Form vor, Informationen über Archiv- und Bibliotheksbestände sind deutlich leichter erreichbar als früher und die wissenschaftliche Kommunikation, das Dokumentieren, Schreiben und auch das Publizieren erfolgt zunehmend digital.1 Darüber hinaus stehen verschiedenste Verfahren und Methoden der Digital Humanities im Fokus der modernen Geschichtswissenschaft, wie etwa digitale Editionsprojekte, statistisch quantitative Analyseverfahren, historische Geoinformationssysteme sowie Visualisierungstechniken.2 Die Digital Humanities haben sich in dieser Genese als ein eigenes Arbeitsfeld etabliert, das an der Schnittstelle zwischen den Geisteswissen1

Vgl. Rüdiger Hohls, Digital Humanities und digitale Geschichtswissenschaften, in: Clio Guide – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften, hg. von Laura Busse u. a. (Historisches Forum 23), Berlin 2018, S. A.1-1‒B.1-34, hier A.1-3. 2 Für Digitale Editionen siehe beispielsweise das Projekt Theodor Fontane: Notizbücher, als digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen in Kooperation mit der SUB Göttingen, unter der URL: https://

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schaften und der Informatik angesiedelt ist und dessen Grenzen sich kontinuierlich verschieben. Während die Implikationen der Digital Humanities für das Forschungsgebiet der Zeitgeschichte früh und kontrovers diskutiert wurden,3 und die Wichtigkeit der Digital Humanities auch für die Erforschung des Mittelalters besonders in Form von digitalen Fachdatenbanken, Online-Bibliographien und Quellenmaterial verdeutlicht wird,4 verblieben die regional- und lokalgeschichtlichen Stimmen zu diesem Forschungsbereich bis dato eher still.5 In dem 2015 veröffentlichten ersten Band der Reihe Landesgeschichte zum Thema Methoden und Wege der Landesgeschichte, die von der 2012 begründeten AG Landesgeschichte herausgegeben wird, spielte das Thema Digitalisierung beispielsweise noch kaum eine Rolle.6 Zahlreiche (studentische) Projekte sowie aktuelle Forschungsarbeiten, die am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) durchgeführt wurden beziehungsweise derzeit entstehen,7 belegen jedoch, dass die Regionalgeschichte und die Digital Humanities über Schnittbereiche verfügen, die bei einer Verknüpfung

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fontane-nb.dariah.eu/index.html (10.8.2020). Für historische Geoinformationssysteme bietet das Landeskundliche Portal LEO-BW mit dem Historischen Atlas ein gutes Beispiel, siehe die URL: https://www.leo-bw.de/kartenbasierte-suche (10.8.2020). Vgl. hierzu exemplarisch Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), H. 3, S. 331‒353; sowie Peter Haber, Zeitgeschichte und Digital Humanities. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 24.9.2012, http://docupedia.de/zg/haber_digital_humanities_v1_2012 (10.8.2020). Vgl. Silke Schwandt, Mittelalter, in: Clio Guide – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften, hg. von Laura Busse u. a. (Historisches Forum 23), Berlin 2018, S. C.2-1‒C.2-16; Roman Bleier u. a., Digitale Mediävistik und der deutschsprachige Raum, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 24 (2019), H. 1, S. 1‒12. Den mittlerweile selbst historischen Widerspruch zwischen Landes- und Regionalgeschichte möchte der vorliegende Beitrag nicht erneut wiedergeben. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass eine eher klassische, auf die Vormoderne und die Frühe Neuzeit spezialisierte Landesgeschichte und eine „moderne, auf Neuzeit und Sozialgeschichte ausgerichtete Regionalgeschichte“ sich mittlerweile angeglichen haben. Vgl. dazu auch Oliver Auge und Martin Göllnitz, Wozu Landes- und Regionalgeschichte an der Schule? Einige Vorbemerkungen und Überlegungen, in: Landesgeschichte an der Schule. Stand und Perspektiven, hg. von Dens. (Landesgeschichte 2), Ostfildern 2018, S. 1‒16, hier S. 5 f. Gerade in Bezug auf die Außenwahrnehmung des Forschungsgebietes jenseits der Hochschulen werden landes- und regionalgeschichtliche Forschungen in diesem Beitrag synonym verwandt. Auf der gleichnamigen Tagung hatte Sabine Holtz noch mit dem landeskundlichen Informationssystem LEO-BW eine Möglichkeit präsentiert, wie die Landesgeschichte auch online interessierten Nutzer*innen einen Service anbieten kann. Vgl. Petra Kurz und Georg Wendt, Tagungsbericht: Methoden und Wege der Landesgeschichte, 6.6.2013‒8.6.2013, in: ­H-Soz-Kult, 21.9.2013, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5037 (4.8.2020). Dieser Vortrag schaffte es leider nicht in den Tagungsband. Im in der vorangegangenen Anm. genannten Band behandelt nur noch Oliver Auge das Thema „der enorm gestiegenen Bedeutung des Internets“ anhand eines Beispiels aus der universitären Lehre. Siehe Oliver Auge, Studium und Öffentlichkeit. Projektarbeit in der Landesgeschichte, in: Methoden und Wege der Landesgeschichte, hg. von Sigrid Hirbodian, Christian Jörg und Sabine Klapp (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, S. 51‒65, hier S. 53.

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der Disziplinen enorme Entwicklungspotentiale für beide Bereiche bereithalten.8 Denn die Verfahren und Methoden der Digital Humanities eröffnen zum einen der regionalgeschichtlichen Forschung neue Möglichkeiten,9 ihre Fragestellungen zu entwickeln und zu vergleichen, zum anderen bieten die Digital Humanities nie dagewesene Chancen des Wissenstransfers in die Gesellschaft. Der vorliegende Beitrag möchte, darauf Bezug nehmend, das Potential von Digital Humanities-Projekten, eine moderne Regionalgeschichte in Forschung und Lehre voranzutreiben, anhand des Fallbeispiels des Kieler Gelehrtenverzeichnisses (KGV) verdeutlichen. Darüber hinaus sollen die Ausführungen aufzeigen, wie die Chancen des Transfers regionalgeschichtlicher Inhalte in die Gesellschaft dafür genutzt werden können, um erstens neue Zielgruppen zu erschließen, zweitens wissenschaftliches Personal und interessierte Laienforscher für den reziproken Austausch von Forschungsdaten zu aktivieren und drittens die Erforschung, Vermittlung und Verbreitung geschichtswissenschaftlicher Inhalte partizipativer zu gestalten. Gleichzeitig sollen die Ausführungen dabei einen Beitrag zum folgenden Fragekomplex leisten: Welche neuen Ansprüche stellen die Digital Humanities an die Kompetenzen von Regional- und Landeshistoriker*innen?10

  8 Die Frage, ob es sich bei den Digital Humanities um eine historische Grundwissenschaft oder um eine Hilfswissenschaft handelt, diskutiert die Fachcommunity weiterhin intensiv. Vgl. exemplarisch Daniela Schulz, Abgrenzung oder Entgrenzung? Zum Spannungsverhältnis zwischen Historischen Hilfswissenschaften und Digital Humanities, 20.2.2018, https://www. ahigw.de/2018/02/20/abgrenzung-oder-entgrenzung-zum-spannungsverh %C3 %A4ltnis-zwischen-historischen-hilfswissenschaften-und-digital-humanities (12.8.2020). Der vorliegende Beitrag möchte diese Diskussion nicht abermals abbilden, sondern geht von der Prämisse aus, dass die Digital Humanities eine Fachdisziplin darstellen.   9 Vgl. dazu neuerdings den programmatischen Aufriss von Martin Göllnitz, An der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit? Fachjournale, Blogs und Soziale Medien in der Landesgeschichte, in: Landesgeschichte und public history, hg. von Arnd Reitemeier (Landesgeschichte 3), Ostfildern 2020, S. 197‒216. 10 Darüber hinaus wird an dieser Stelle primär diskutiert, wie die Digital Humanities die regionalgeschichtliche Forschung sowie den Wissenstransfer beeinflussen und weniger, wie die Regionalgeschichte als Disziplin die Digital Humanities voranbringen kann, was sich unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Citizen Science als spannend darstellt. Als erkenntnisreich würde sich neben der Diskussion um die nötigen Kompetenzen auf Historikerseite auch die Frage nach den selektiven Kenntnissen einiger Teilgebiete der Informatik für Historiker*innen stellen.

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Regionalgeschichte und Digital Humanities – zweckdienlich oder unersetzlich? „In Grenzen unbegrenzt“11 – dieser Leitgedanke Ludwig Petrys ist bis heute für die Landes- wie auch die Regionalgeschichte gültig und verdeutlicht die schier unbegrenzte Synthesen- und Methodenvielfalt, derer sich regionalgeschichtliche Untersuchungen in der Forschungspraxis bedienen können.12 Der methodische Zugang sowie das Erkenntnisinteresse zu einem Thema werden lediglich durch den Zugriff über die Region terminiert. Von der Politikgeschichte über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bis hin zur Wissenschaftsgeschichte können alle Ansätze genutzt werden, um Erkenntnisse über den regionalen Gegenstand und dessen Entwicklung zu gewinnen. Forschungen innerhalb der eigenen Region können beispielsweise dabei helfen, allgemeine Hypothesen zu verifizieren oder zu negieren beziehungsweise sie in den Kontext der räumlichen Entwicklung zu stellen. Gleichzeitig kann ein regionalgeschichtlicher Befund zur Erweiterung oder neuen Lesart einer überkommenen oder tradierten Ansicht eines historischen Gegenstands beitragen. Besondere Bedeutung gewinnt immer wieder der regionale und besonders der transregionale Vergleich, der regionale Entwicklungen und Tendenzen in einen größeren, eventuell gesamteuropäischen Kontext eingliedern kann. „In Grenzen unbegrenzt“ kann derweil ebenso auf die Potentiale einer regionalen Forschungspraxis mit computergestützten Verfahren und digitalen Ressourcen übertragen werden: Nicht nur das World Wide Web erscheint mit seinen Angeboten und Möglichkeiten schier unendlich, die Möglichkeiten des Wissenserwerbs wie -transfers scheinen gleichfalls uneingeschränkt, zumal Phänomene wie Open Source, Open Innovation, Open Data etc. suggerieren, dass die „Offenheit eine der zentralen Organisationsmaximen im Zeitalter der Digitalität darstellt“.13 Doch nicht nur diese wortreiche Spitzfindigkeit legt nahe, dass Regionalgeschichte und Digital Humanities miteinander enge Bande knüpfen können: Digitale landeskundliche Informationssysteme, Citizen ScienceProjekte sowie digitale Informationsplattformen von lokalen Geschichtsvereinen und -initiativen sind nur einige Beispiele für diese fruchtbaren Verbindungen.14 11 Ludwig Petry, In Grenzen unbegrenzt. Möglichkeiten und Wege der geschichtlichen Landeskunde, Mainz 1961, S. 3‒17. Vgl. ferner Werner Freitag, Landesgeschichte als Synthese – Regionalgeschichte als Methode?, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 291‒305, hier S. 296 f. 12 Vgl. Oliver Auge, Was meint und macht Regionalgeschichte an der CAU zu Kiel?, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 90 (2016), S. 7‒18, hier S. 11. 13 Leonhard Dobusch, Die Organisation der Digitalität. Zwischen grenzenloser Offenheit und offener Exklusion, 24.1.2017, https://netzpolitik.org/2017/die-organisation-der-digitalitaetzwischen-grenzenloser-offenheit-und-offener-exklusion/ (10.8.2020). 14 Vgl. exemplarisch das Internetportal Westfälische Geschichte, https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/das_portal/das_projekt/haupt.php?urlNeu=Ja (10.8.2020). Darüber hinaus gibt es noch weitere digitale Plattformen mit dezidiert regionalgeschichtlichem

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Dabei ist die Frage, wie digital wir lernen und forschen möchten, aufs Engste mit der grundlegenden Diskussion verknüpft, wie digital wir leben möchten. Denn wie Malte Thießen unlängst feststellte, leben wir nicht in einer Zeit der digitalen Revolution; vielmehr vollzog sich der digitale Wandel des Arbeits- und Privatlebens der Menschen – zumindest vor der SARS-CoV-2-Pandemie – eher langsam und stetig und entspricht demnach einer Transformation.15 Diese Transformation begann auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften zunächst mit Maßnahmen zur Digitalisierung von gedruckten zeitgenössischen Werken und Quellen. Im Rahmen von Cultural Heritage-bezogenen Aktivitäten wurden diese Aufgaben zumeist von Bibliotheken und Archiven übernommen.16 Das Interesse an digitalen Techniken war daher vor allem bibliothekarisch-kommunikativ geprägt,17 was zwangsläufig darin gipfelte, dass die Digital Humanities allzu häufig auf die Digitalisierung von Quellen sowie die Bereitstellung von Informationen und digitalen Medien reduziert wurden und immer noch werden – oder wie Rüdiger Hohls es kürzlich pointiert formulierte: „Es besteht dabei die Gefahr, dass zwar ein theoretischer Diskurs über digitale Medien geführt wird, dieser aber weitgehend von einer Auseinandersetzung mit ihren technischen und methodischen Grundlagen abgekoppelt ist.“18 Schwerpunkt, u. a. die Portale Alltagskulturen im Rheinland, https://alltagskulturen.lvr.de/de (10.8.2020), und Brandenburgikon-Landesgeschichte online, http://www.brandenburgikon.net/ index.php/de/ (10.8.2020). 15 Vgl. Malte Thießen, Westfalen 2.0. Geschichte und Gegenwart der Digitalisierung, in: Heimat Westfalen 5 (2019), S. 4‒11, https://www.whb.nrw/367-download/Heimat %20Westfalen/2019/ HW_5_19_Internet.pdf (10.8.2020). Auch wenn die Digitalisierung in vielen gesellschaftlichen Bereichen durch die SARS-CoV-2-Pandemie einen deutlichen Schub erfahren hat, bleibt es nach wie vor fraglich, wie nachhaltig sich diese Entwicklungen gestalten werden. Im Bereich der Privatwirtschaft ist bereits davon auszugehen, dass das Virus die Art und Weise der Zusammenarbeit und des geschäftlichen Miteinanders verändert hat und Maßnahmen wie das Home Office breiter angewandt werden. Dagegen muss sich das deutsche Hochschulsystem, in dem Präsenz- bzw. Anwesenheitspflicht immer noch fest in den Prüfungs- und Geschäftsordnungen verankert ist, künftig enormen Herausforderungen stellen. Die Organisation von Forschung und Lehre im digitalen Raum erfordert nicht nur zusätzliche Ressourcen, sondern vielmehr ein gemeinsames Bekenntnis von Lehrenden und Studierenden zu digitalen Lehr- und Prüfungsformen. Vgl. exemplarisch Yasmin Djabarian, Das neue Normal an Hochschulen aktiv mitgestalten. Zwischentöne aus einer Zeit des Umbruchs, 17.8.2020, https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/Neue-Normal-Hochschulen-Corona-Wintersemester-Studierende (19.8.2020). 16 Als Cultural Heritage-bezogene Aktivitäten werden solche verstanden, die auf die Bewahrung und Erhaltung des kulturellen Erbes durch Digitalisierung und Retrodigitalisierung hinwirken. Vgl. Ruth Reiche u. a., Verfahren der Digital Humanities in den Geistes- und Kulturwissenschaften (DARIAH-DE Working Papers 4), Göttingen 2014, S. 7, http://webdoc.sub.gwdg.de/ pub/mon/dariah-de/dwp-2014-4.pdf (10.8.2020). 17 Vgl. Haber, Zeitgeschichte. Für standardisierende Digitalisierungsverfahren wirkten u. a. die Praxisregeln zur Digitalisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus dem Jahr 2009 als impulsgebend. Diese haben dazu beigetragen, dass eine große Anzahl an Forschungsliteratur und Quellen bzw. Forschungsdaten unabhängig von spezifischen Forschungsfragen digital zur Verfügung stehen und nachgenutzt werden können. Vgl. Reiche u. a., Verfahren, S. 7. 18 Hohls, Digital Humanities, S. A.1-21.

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Vordergründig scheint das Interesse an direkten und schnell zugänglichen Lösungen für bestehende Probleme und an leicht einsetzbaren Werkzeugen zu sein. Dabei wird oft angenommen, dass entsprechende Software oder Tools nur bestehende Fragestellungen und Methoden der Geisteswissenschaften leichter auswertbar und umsetzbar machen würden, selbst aber keine erkenntnistheoretischen Bedeutungen und Folgerungen hätten. Auf diesem Grundmissverständnis aufbauend, werden auch die Digital Humanities als reiner Dienstleister der Forschung und als Feld der Anwendung von Werkzeugen verstanden. Eine Möglichkeit, sich von diesen Stigmata wieder zu lösen, wäre, die Digital Humanities als „Teil einer neuen Wissenschafts- und Wissenskultur zu verstehen, in der Quellen und Dokumente folgerichtig zu offenen, nachhaltigen und nachnutzbaren Forschungsdaten werden.“19 Dieser Prozess betrifft dabei sämtliche Bereiche, die sich von der Grundlagenforschung, der Datenerhebung und -erschließung über die Datenmodellierung und -visualisierung bis hin zur Datenarchivierung erstrecken und folglich eng mit den Herausforderungen eines zeitgemäßen Forschungsdatenmanagements verknüpft sind: „Im Sinne eines data life cycle können die Daten von dort aus wieder in den Forschungsprozess eingespeist werden.“20 Grundlage vieler Projekte sind folglich strukturierte und valide Daten, die unabhängig vom Einsatz der Medien künftig weiter existieren. Ausgehend von der Annahme, dass Daten einen primären, wenn nicht sogar den zentralen Aspekt künftiger Forschung bilden, werden die Medien vermehrt nur zu Vermittlern, die im Zuge der Schnelllebigkeit der digitalen Welt austauschbar, ersetzbar beziehungsweise modularer werden. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass vor allem referenzierbare, zuverlässige und nachvollziehbare Daten besonders im Kontext wissenschaftlichen Arbeitens eine unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Authentizität, Qualität und Reliabilität von Informationen darstellen.21

19 Constanze Baum und Thomas Stäcker, Methoden-Theorien-Projekte, in: Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities, hg. von Dens. (Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderband 1), Wolfenbüttel 2015, S. 1 f., http://www.zfdg.de/sites/default/files/pdf/ sonderband_1.pdf (10.8.2020). 20 Vgl. Baum/Stäcker, Methoden-Theorien-Projekte, S. 2. 21 Auch wenn die Realität häufig anders aussieht, ist insbesondere im Bereich öffentlicher Forschung die Forderung nach einem offenen Zugang zu Forschungsdaten und -ergebnissen (Open Data) letztlich eine logische Konsequenz guter wissenschaftlicher Praxis, welche mittlerweile durch die DFG anhand von Leitlinien, URL: https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/ rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf (10.8.2020), oder in Bezug auf Verwaltungsdaten von Behörden auch durch den Bund mithilfe gesetzlicher Open Data-Regelungen, URL: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/moderne-verwaltung/ open-government/open-data/open-data-node.htm (10.8.2020), gefördert wird. Alle Daten sollen demnach, sofern rechtlich und tatsächlich möglich, unter stetiger Wahrung der Persönlichkeitsrechte niedrigschwellig für die Nachnutzung zur Verfügung gestellt werden. In diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable, and Re-usable) zu nennen, die Anforderungen für nachhaltig nachnutzbare Forschungsdaten formulieren.

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Aus diesem Grund schöpft die 1:1-Abbildung von analogen regionalgeschichtlichen Produkten im digitalen Raum, wie etwa eine digitalisierte Chronik oder ein geschichtswissenschaftliches Lehrbuch im World Wide Web, die Potentiale der Digital Humanities nicht annähernd aus. Vielmehr müssen innovative Projekte gefördert werden, die die Weiterentwicklung, Nachhaltigkeit, Anschlussfähigkeit und Partizipation eines solchen Vorhabens sichern. Einen vielversprechenden Ansatz für das schleswig-holsteinische Beispiel bot das zu seiner Zeit von der Europäischen Union (EU) geförderte Projekt eines Virtuellen Museums (ViMu).22 Das im Jahr 2005 gestartete Projekt kann als Vorbote der digitalen Bewegung im regionalen Kontext gesehen werden. Thematisch sollte es als erstes deutsch-dänisches Geschichtsprojekt im Internet die (geographisch erweiterte) Grenzregion zwischen Hamburg und Odense von 1830 bis zum Beginn der 2000er Jahre behandeln. Das Konzept bedachte bereits verschiedene Nutzergruppen wie Touristen, Schüler*innen, Lehrkräfte oder Expert*innen und bot diesen unterschiedliche methodische wie mediale Zugriffsmöglichkeiten. Jedoch wird das Portal seit Längerem nicht erneuert und gepflegt. Da das digitale Angebot technisch und konzeptionell nicht weiterentwickelt wurde, können zahlreiche Funktionen nicht mehr uneingeschränkt genutzt und aktuelle Forschungstrends und -ergebnisse nicht abgebildet werden.23

Regionalgeschichte und Digital Humanities – Potentiale für die universitäre Forschung Vor dem gleichen Problem, dass nämlich eine direkte lineare Übertragung von geschichtswissenschaftlichen Inhalten in den digitalen Raum einen nur geringen Mehrwert hat, standen ebenfalls lange Zeit klassisch gedruckte Professorenkataloge. Diese spezifische Form gebündelter akademischer Lebensläufe, die sich als reiches Betätigungsfeld für regionalgeschichtliche Studien darstellen können, prägen als Erinnerungsreservoir einer Hochschule die akademische Identitäts- und Sinnstiftung sowie die Selbstvergewisserung. Den Möglichkeiten, diese gedruckten Kataloge als Quellen für die Sozialgeschichte des universitären Personals, für die Disziplinengeschichte der einzelnen Hochschulen oder für die Stadt- beziehungsweise Regionalgeschichte zu nutzen, sind allerdings von vornherein klare Grenzen gesetzt. Der Schritt, diese Werke zu digitalisieren, erscheint daher nachvollziehbar. Die Idee, deren Informationen für die Forschung und interessierte Bevölkerung digital abzubilden, entsprach in den 2010er Jahren Neuland. Auch das KGV sollte vorbereitend 22 Vgl. Astrid Schwabe, Das World Wide Web als historisches Informations-Medium? Ausgewählte Ergebnisse zur Nutzung der historischen Website Vimu.info, in: Geschichte lernen im digitalen Wandel, hg. von Marko Demantowsky und Christoph Pallaske, Berlin 2015, S. 35‒59; sowie die URL: http://vimu.info (10.8.2020). 23 Da die finanzielle Förderung des Projektes im Jahr 2008 endete, können beispielsweise Audio- und Videodateien nicht mehr genutzt werden, ohne dass ein bestimmter Player hierfür heruntergeladen werden muss. Diese veraltete Lösung wurde mittlerweile aber weitgehend durch Alternativen wie HTML5 abgelöst.

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für das 350-jährige Universitätsjubiläum im Jahr 2015 eine Brücke zwischen Universität und (Stadt-) Bevölkerung schlagen und daher digital realisiert werden. Ausgehend von dem gedruckten Kieler Professorenkatalog, dem sogenannten Volbehr/Weyl,24 bestand der Auftrag darin, die Informationen der einzelnen akademischen Lebensläufe in ein digitales Format, beispielsweise in Form einer relationalen Datenbank, zu übertragen und informativ anzureichern. Lange Zeit bestand noch der Wunsch und die Vorstellung, die gesammelten Informationen zu den Professor*innen am Ende der Projektlaufzeit erneut in Buchform zu präsentieren, quasi als erweiterter gedruckter Professorenkatalog. Der Erkenntnis, dass der Umfang an Daten und Informationen den begrenzten Raum einer analog veröffentlichten Publikation schnell sprengen würde und ein derartiges Produkt nicht State of the Art wäre, lag ein langer Verhandlungs- und Vermittlungsprozess zu Grunde. Mit der im Jahr 2013 erfolgten interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen der Abteilung für Regionalgeschichte und der Arbeitsgruppe Kommunikationssysteme am Institut für Informatik der CAU schlug das KGV bei der digitalen Umsetzung der akademischen Lebensläufe einen neuen innovativen Weg ein.25 Die Techniken des Semantic Webs, auch Web of Data genannt, sollten fortan die Basis darstellen. Das Semantic Web erweitert dabei das bestehende Web, welches primär für die menschliche Rezeption aufbereitet ist, auf der Basis existierender Web-Standards und ermöglicht die gemeinsame Nutzung und Wiederverwendung von Daten. Wesentlich ist hierbei die Idee, Informationen mit Bedeutung zu versehen, also die semantische Kennzeichnung und Auszeichnung von Daten zu ermöglichen, sodass eine Grundlage zur maschinellen Auswertung und Verarbeitung gegeben ist.26 So stellt das KGV seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2015 – als Online-Verzeichnis aller Kieler Professor*innen beginnend ab dem Jahr der Universitätsgründung 1665 – ein praktisches Beispiel für eine digitale Prosopographie basierend auf den 24 Nach zwei vorherigen Auflagen aus den Jahren 1887 und 1916 publizierte Rudolf Bülck im Jahr 1956 die letzte erweiterte Auflage des Kieler Professorenkatalogs, vgl. Friedrich Volbehr, Richard Weyl und Rudolf Bülck (Bearb.), Professoren und Dozenten der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. 1665–1954. Mit Angaben über die sonstigen Lehrkräfte und die Universitäts-Bibliothekare und einem Verzeichnis der Rektoren (Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft N. F. 7), Kiel 1956. 25 Für weiterführende Informationen zum KGV und seiner technischen Konzeption siehe Oliver Auge und Swantje Piotrowski, Themenheft: Professorenkataloge 2.0 – Ansätze und Perspektiven webbasierter Forschung in der gegenwärtigen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013), S. 143‒339. Das KGV ist erreichbar unter der URL: https://cau.gelehrtenverzeichnis.de/ (10.8.2020). 26 Dabei werden die Informationen als Aussagen der Form Subjekt-Prädikat-Objekt (mathematisch häufig als 3-Tupel oder Tripel ausgedrückt) zu logischen Aussagen formalisiert. Das Resource Description Framework (RDF) stellt hierzu ein flexibles, graphbasiertes Modell zur Aufzeichnung und zum Austausch dieser Daten bereit. Zur (maschinellen) Interpretation der in RDF beschriebenen Daten bedingt es stets eines gemeinsamen Vokabulars, das Begriffe und Strukturen einer Konzeptionalisierung eines Wissensbereichs spezifiziert. Diese Modellierung der Anwendungsdomäne und Annotation von Semantik erfolgt dabei mittels weiterer Techniken wie RDF-Schema (RDFS) und der Web Ontology Language (OWL), welche letztlich eine Ontologie formalisieren und somit Inferenz und Integritätsprüfungen ermöglichen.

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Techniken des Semantic Webs dar.27 Sowohl Wissenschaftler*innen als auch einer interessierten Öffentlichkeit stehen nun Informationen zu den akademischen Profilen und gesellschaftlichen Aktivitäten von insgesamt 1.200 Kieler Hochschullehrenden zur Verfügung. Die ganz unterschiedlichen Biographien bieten dabei einen geeigneten Einstiegspunkt in die universitäts-, wissenschafts- und regionalgeschichtliche wie auch biographische Forschung. Um das KGV als Instrument für universitäts-, wissenschafts- und regionalgeschichtliche Forschungsfragen nutzen zu können, gilt es Kompetenzen im Umgang mit innovativen Methoden und digitalen Forschungsdaten zu entwickeln, die praxisorientiert zur Lösung geistes- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen anwendbar sind. Dafür, dass sich dieser Prozess reziprok gestaltet und ebenso die technologische Weiterentwicklung und Anpassung digitaler Verfahren und Werkzeuge an die Bedürfnisse geisteswissenschaftlicher Forschung nach sich zieht, stellt das KGV ein anschauliches Beispiel dar: Den Bedürfnissen der historischen Forschung zur Sammlung zahlreicher biographischer Daten und Informationen begegnete die Informatik mit einem System, das Möglichkeiten zur Erfassung, Archivierung, Nachnutzung und Visualisierung ebensolcher Daten bereithält. Mit Blick auf fachspezifische Datenbanken wie das KGV ist neben der Erschließung über eine maschinenlesbare Semantik besonders die Möglichkeit zur Datenverknüpfung über Linked Open Data (LOD) von Bedeutung, denn diese hebt die Grenzen zwischen separaten Wissensangeboten auf und ermöglicht die spätere Datenintegration über verschiedene Quellen. Gerade im Semantic Web liegt die Intention darin, dass es möglich ist, zunächst unabhängige Datenbasen zu entwickeln, die über eine gemeinsame Semantik in Richtung eines Wissensnetzwerks miteinander kombiniert werden können. Dabei stellen wiederum Normdaten ein wichtiges Instrument zur Verknüpfung dar. Ein Beispiel hierfür ist die Gemeinsame Normdatei (GND), ein Dienst der Deutschen Nationalbibliothek, der gemeinsam von allen deutschsprachigen Bibliotheksverbünden mit den angeschlossenen Bibliotheken und weiteren Einrichtungen gemeinschaftlich verwaltet wird, um Normdaten kooperativ unter freier Lizenz (CC0 1.0) nachnutzbar zu machen. Die Daten beschreiben dabei Personen, Körperschaften, Geografika, Werke und weitere Entitäten, die Bezug zu kulturellen und wissenschaftlichen Sammlungen aufweisen, und werden vor allem von Bibliotheken, Archiven, Museen und wissenschaftlichen Forschungsprojekten zur Erschließung und Vernetzung von Informationsressourcen genutzt, so auch im KGV, wo eine Verknüpfung der Hochschullehrenden und Universitäten mit den entsprechenden GND-Normdatensätzen, aber auch Wikidata einen wichtigen Aspekt der Erschließung darstellt und darüber hinaus die Option besteht, Personen übergreifend eindeutig zu identifizieren, und zwar in einer sowohl für Menschen als auch für Maschinen expliziten Form. Um ein innovatives Forschungsprojekt wie das KGV als nachhaltiges Instrument für Forschungsfragen auf den Gebieten der Universitäts-, Wissenschafts- und Regionalgeschichte zu fördern und zu etablieren, muss dieses aktiv in die Lehre in27 Aktuell sind im KGV die Zeiträume von 1665 bis 1800 sowie von 1919 bis 1965 erfasst.

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tegriert und somit den angehenden Historiker*innen vorgestellt und für diese nutzbar gemacht werden.28 Auf diese Weise lässt sich verdeutlichen, wie sich Lehr- und Lernprozesse mit den Methoden der Digital Humanities unterstützen lassen. Dadurch ist auch die Anzahl von Qualifikationsarbeiten im Bereich von Bachelor- und Masterstudiengängen, die mit einem innovativen und zukunftsgewandten Blick im Forschungsumfeld des KGV entstanden sind, gewachsen, sodass diese künftig in Form der Kieler Studien zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (KSUW) als Open Access-Publikation angeboten werden können. Diese werden wiederum allen Interessierten niedrigschwellig zur Verfügung gestellt, sodass das KGV die geforderte Brückenfunktion von Wissenschaft zur Gesellschaft mittlerweile leisten kann.29

Regionalgeschichte und Digital Humanities – Chancen für einen gesellschaftlichen Wissenstransfer Aus den Entwicklungen des KGV – sowohl auf technischer wie geschichtswissenschaftlicher Seite – lassen sich einige wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse für das Verhältnis von Regionalgeschichte zu den Digital Humanities ableiten: So können durch die frühzeitige Implementierung eines digitalen Forschungsinstruments in die universitäre Lehre etwa junge Geschichtsstudierende an regionalgeschichtliche Themen herangeführt werden. Denn innerhalb der regionalgeschichtlichen Community kann ein Gefälle attestiert werden: Während landes- und regionalhistorisch ausgerichtete Lehrstühle ein Revival erleben,30 verlieren die landes- und regional-

28 Im Rahmen der Kieler Jubiläumsveranstaltungen des Jahres 2015 konnten beispielsweise die Arbeiten von 16 Studierenden in einer eigenen Ausstellung mit dem Titel Exzellente Köpfe der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in der Universitätsbibliothek präsentiert werden. Vgl. Oliver Auge und Swantje Piotrowski, 32 exzellente Köpfe. Ein studentisches Projekt, Kiel 2015. Bereits im April 2012 veranstaltete die Kieler Abteilung für Regionalgeschichte eine erste Fachtagung unter Beteiligung Kieler Studierender zum Thema Die Universität Kiel und ihre Professorinnen und Professoren oder: Wozu den Kieler Professorenkatalog?. Vgl. dazu Torsten Roeder, Tagungsbericht: Die Universität Kiel und ihre Professorinnen und Professoren oder: Wozu den Kieler Professorenkatalog?, 20.4.2012–21.4.2012 Kiel, in: H-Soz-Kult, 25.5.2012, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4240 (10.8.2020). Die vielfältigen Ergebnisse und Impulse sind in Form eines Themenheftes sowie eines Tagungsbandes publiziert worden. Vgl. Auge/Piotrowski, Themenheft; Dies. (Hg.), Gelehrte Köpfe an der Förde. Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73), Kiel 2014. Für weiterführende Informationen siehe ferner Oliver Auge, Studentische Projekte in der Regionalgeschichte. Ansätze, Erfahrungsberichte, Perspektiven, in: Demokratische Geschichte 23 (2012), S. 173‒176. Darüber hinaus ist das KGV durch die Autor*innen des vorliegenden Textes auf vielfältige Weise fest in die Lehre des Historischen Seminars der Kieler Universität eingebunden. 29 Die KSUW können über den MACAU- Open-Access-Publikationsserver der CAU zu Kiel jederzeit abgerufen werden: https://macau.uni-kiel.de/receive/macau_mods_00000738. 30 Vgl. Auge, Regionalgeschichte, S. 7.

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geschichtlichen Akteur*innen vor Ort, wie beispielsweise die historischen Vereine, Stadtgesellschaften oder Geschichtswerkstätten, an Mitgliedern. Doch vor allem die traditionellen Geschichtsvereine des 19. Jahrhunderts, die nach wie vor aktiv sind, zeugen von einem anhaltenden Interesse gewisser Teile der Gesellschaft an lokaler und regionaler Geschichtsvermittlung. Jedoch muss man den historischen Vereinen mittlerweile grenzüberschreitende Nachwuchsprobleme attestieren.31 Ein wesentliches Ziel ihrer Vermittlungsangebote ist daher, insbesondere jüngere Zielgruppen – in erster Linie natürlich Schüler*innen und Studierende – anzusprechen, indem sie versuchen, sich auf deren Konsumentenverhalten von geschichtswissenschaftlichem Wissen einzustellen. Folglich besteht ein erster und logischer Schritt oftmals darin, regionalgeschichtliche Inhalte online verfügbar zu machen. Dass die Digital Humanities sowohl mit der Regional- als auch mit einer klassisch ausgerichteten Landesgeschichte korrespondieren können, belegen vielfach die landeskundlichen Informationssysteme einzelner Bundesländer wie LEO-BW, Bavarikon oder Kulturerbe Niedersachsen.32 Diese Angebote sind zumeist Verbundprojekte und werden von den namhaften Kultureinrichtungen vor Ort getragen und zu großen Teilen von den jeweiligen Bundesländern finanziert. Der große Vorteil hierbei ist, dass Archive, Landesbibliotheken oder Stiftungen die Möglichkeit erhalten, ihre Bestände online einem größeren heterogenen Publikum zugänglich zu machen: Als Zielgruppe fokussieren diese Angebote nicht nur Schulen und Universitäten, vielmehr wollen sie eine breite Öffentlichkeit des jeweiligen Bundeslandes und anderer Regionen erreichen.33 Das World Wide Web ist seit jeher ein partizipatorisches Medium, das durch vielfältige Möglichkeiten – zusammengefasst unter dem Stichwort Web 2.0 – diesen 31 Vgl. Franciscus Rögnitz, Kooperationen von Archiven mit Geschichtsvereinen und -werkstätten als Mittel der archivischen Öffentlichkeits- und Historischen Bildungsarbeit, Diplomarbeit 2010, https://opus4.kobv.de/opus4-fhpotsdam/files/186/NEU_Diplomarbeit_Roegnitz. pdf, S. 32 (10.8.2020). 32 LEO-BW (Landeskunde entdecken online) ist ein landeskundliches Online-Informationssystem für Baden-Württemberg, das einen zentralen Zugang zu Informationen und digitalisierten Kulturgütern des Landes bietet. Beteiligt sind zahlreiche Kultur-, Gedächtnis- und Wissenschaftseinrichtungen, deren Bestände und Daten in dem Portal präsentiert und miteinander vernetzt werden. Die Federführung für das Angebot liegt beim Landesarchiv Baden-Württemberg. Das Portal ist unter der URL: https://www.leo-bw.de/ (10.8.2020) erreichbar. Bavarikon ist das Internetportal des Freistaats Bayern zur Präsentation von Kunst-, Kultur- und Wissensschätzen aus dessen Einrichtungen. Beteiligt sind Archive, Bibliotheken und Museen sowie Institutionen der Landesverwaltung, der Denkmalpflege und der Wissenschaft. Das Angebot kann unter der URL: https://www.bavarikon.de/ (10.8.2020) eingesehen werden. Kulturerbe Niedersachsen ist ein Internetportal, das als zentrales niedersächsisches Landesportal für Kulturgüter dient. Es stellt Digitalisate und Beschreibungen wissenschaftlicher Sammlungsobjekte sowie herausragender Kulturgüter aus dem Besitz niedersächsischer Bibliotheken, Archive, Museen und anderer Kultureinrichtungen sowohl für wissenschaftliche Zwecke als auch einer breiten Öffentlichkeit in Form von Bild-, Text-, Ton- und Video-Dateien zur Verfügung. Das Angebot kann unter der URL: https://kulturerbe.niedersachsen.de/start/ (10.8.2020) abgerufen werden. 33 Vgl. Kurz/Wendt, Tagungsbericht.

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Anspruch mittlerweile auch einlösen kann.34 So können neue Angebote geschaffen und Nutzungsmöglichkeiten vom passiven bis zum aktiven Umgang mit dem jeweiligen Angebot etabliert werden. Zugleich markiert die digitale Bereitstellung und Präsentation von Quellenbeständen eine Win-win-Situation für Nutzer*innen sowie für die vor Ort bestehenden Archive: Besonders kleinere Einrichtungen haben so die Chance, ihre Bestände einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich und ihr Angebot bekannter zu machen. Schüler*innen, deren Heranführung an regionalgeschichtliche Inhalte immer mehr in den Blick von Forschung und Lehrbetrieb rückt,35 sowie Studierende, die das Internet immer häufiger zur primären Recherche für Hausarbeits- oder Projektthemen nutzen, könnten somit als neue User*innen für die Angebote verschiedenster Archive sowie für regionalgeschichtliche Inhalte interessiert und gewonnen werden. Dabei treten nicht nur die Nutzergruppen als physische Personen in den Blick des Interesses, sondern auch ihre Transformation zu digitalen Nutzenden. Die virtuell Agierenden, die sich klickend, lesend, hörend, sehend, scannend durch die multimedialen Inhalte bewegen, werden zu Teilnehmenden, die sich einbringen und den Dialog aktiv mitgestalten können. Im digitalen Raum werden die Nutzenden nicht nur zu Konsumierenden, sondern auch zu Produzent*innen von Inhalten. Das tun sie im freien Umgang beim Kommentieren und Teilen von Impressionen, Geschichten oder Stimmungen in Blogs, Sozialen Medien wie „Twitter“ oder speziellen Online Communities. Die Rolle der Regional- und Landeshistoriker*innen wandelt sich in derlei Prozessen zu der von Moderator*innen, die keine fertigen Narrative liefern, sondern einen Wissenserwerb beziehungsweise eine Wissenskommunikation anleiten.36 Mit dem Wandel der Medienlandschaft und den daraus resultierenden neuen Bedingungen, in denen sich das Digitale als Aufenthaltsort etabliert hat, werden neue Zugänge geschaffen, um historische Themen im Allgemeinen und vor allem jene der Regionalgeschichte medial zu erleben. Der digitale Raum kann auf diese Weise dazu beitragen, dass der Regionalgeschichte zum einen neue und jüngere Zielgruppen erschlossen werden; zum anderen ermöglicht er, dass die vernetzte Öffentlichkeit aus fernen Städten und Ländern, die mit dem analogen Vor-Ort-Programm sonst kaum erreicht worden wären, so zum digitalen regionalhistorischen Nutzer*innenkreis wird. Schleswig-Holstein hat sich mit den Planungen für ein eigenes landeskundliches Informationssystem – ein digitales Haus der Landesgeschichte – bereits dafür entschieden, sich den neuen Vermittlungsformen geschichtswissenschaftlicher Inhalte im digitalen Raum zu öffnen und die partizipatorischen Möglichkeiten eines solchen Angebotes zu betonen.37 34 Vgl. Angela Schwarz, Portale zur Landes- und Regionalgeschichte im Netz. Neue Zugänge, neue Akteursgruppen?, in: Westfälische Forschungen 69 (2019), S. 329‒356, hier S. 329. 35 Vgl. Auge/Göllnitz, Wozu Landes- und Regionalgeschichte, S. 1‒16. 36 Schwarz, Portale, S. 334 f., unterscheidet hier in zunehmender Steigerung zwischen Konsumtion, Interaktion, Partizipation, Kollaboration und Eigenaktion. 37 Vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Schleswig-Holsteinischer Landtag Umdruck 19/4249, http://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/ umdrucke/04200/umdruck-19-04249.pdf (28.01.2021).

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Neben dem Aspekt der neuen Zielgruppen-Erschließung und der damit einhergehenden Verjüngung der regionalhistorischen Forschungslandschaft bietet der Zusammenschluss beider Fachdisziplinen darüber hinaus das Potential, ganz unterschiedlich Agierende in die Erforschung der eigenen Geschichte vor Ort einzubinden. Wie eingangs bereits erwähnt, ermöglichen Projekte im Sinne der Citizen Science beispielsweise eine breite Beteiligung an regionalen Forschungsprojekten: So können die Bürger*innen themenspezifisch Daten sammeln, dokumentieren, kartografieren, georeferenzieren oder messen und somit eigenes Wissen einbringen.38 Die digitale Komponente ermöglicht Interessierten dabei einen flexiblen und ortsunabhängigen Zugang, was die Generierung neuer Datensätze fördert und die konventionelle Überlieferung aus staatlichen, städtischen und kirchlichen Archiven ergänzen sowie neue Forschungsvorhaben beziehungsweise innovative Forschungsfragen induzieren kann. Citizen Science-Projekte können besonders im Rahmen von landes- und regionalgeschichtlichen Fragestellungen gefördert werden, da diese mit ihrem konkreten lokalen Bezug oftmals eher in der Lage sind, Menschen vor Ort anzusprechen. Dagegen verlangen enger definierte epochale Zuschnitte der Geschichte einer interessierten Bevölkerung mitunter ein gewisses Abstraktionsvermögen ab.39 Nach Thorsten Hoppe-Hartmann ist der „konkrete Ort oder Gegenstand, den das historische Individuum mit Bürgern der Jetztzeit teilt, [zumeist] der Türöffner zur Geschichte.“40 Dabei ist es wichtig, für die Zukunft auszuloten, welche Projekte die Chance bieten, die interessierte Öffentlichkeit nicht mehr nur als „Datensammler“ zu verstehen,41 sondern ferner die Expertise sowie die Perspektive von Laien auf angestammte Forschungsfelder und -fragen zu nutzen. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt Verlustlisten des Ersten Weltkrieges des Vereins für Computergenealogie. In diesem wurden von 2011 bis 2014 die Verlustlisten des Ersten Weltkrieges von mehreren Hundert ehrenamtlichen Datenerfassern vollständig indiziert. Über achteinhalb Millionen Datensätze wurden auf diese Weise

38 Alexandra Bloch Pfister, Crowdsourcing im Grenzland. Die Internetplattform euregio-history. net, in: Westfälische Forschungen 69 (2019), S. 357‒376, hier S. 360. Die genannten Möglichkeiten der Beteiligung von Bürger*innen verdeutlichen bereits, dass Citizen Science-Projekte besonders im naturwissenschaftlichen Bereich Anwendung finden und stark frequentiert werden. Dennoch sind die Bedeutung und Grundannahmen dieser Entwicklung auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften entscheidend. Vgl. hierzu Cord Arendes, Historiker als „Mittler zwischen den Welten“? Produktion, Vermittlung und Rezeption historischen Wissens im Zeichen von Citizen Science und Open Science, in: Wissenschaft für alle: Citizen Science, hg. von Michael Wink und Joachim Funke (Heidelberger Jahrbücher Online 2), Heidelberg 2017, S. 19‒59. 39 Vgl. Schwarz, Portale, S. 330. 40 Thorsten Hoppe-Hartmann, Citizen Science – Ein neues Konzept für die Geschichtswissenschaft oder ein alter Hut?, in: hypotheses.org, 11.1.2018, https://geschichten.hypotheses. org/48#_ednref30 (10.8.2020). 41 René Smolarski und Kristin Oswald, Einführung. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, in: Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, hg. von Dens., Gutenberg 2016, S. 9‒31, hier S. 9.

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erschlossen und für die Personengeschichtsforschung nutzbar gemacht.42 Hier ist also im Besonderen das Stammpublikum vieler regionalgeschichtlicher Forschungen gefragt: Interessierte Laien- und Heimathistoriker*innen, die oftmals einer älteren Generation angehören, stellen sich als Expert*innen für ihr Dorf, für ihre Region oder für ein Nischenthema zur Verfügung und bewahren eine einmalige Expertise, besondere Quellen oder mündliches Wissen.43 Innerhalb der digitalen Transformation muss sichergestellt sein, dass diese Personen nicht abgehängt werden und das mit ihnen verbundene Kulturgut nicht verloren geht. In derlei Prozessen ist die Rolle der Regionalhistoriker*innen von immenser Bedeutung, denn die auf diese Weise gewonnenen Daten und Informationen müssen strukturiert, abgeglichen, kontextualisiert und qualifiziert werden. Das klassische Handwerkszeug von Historiker*innen wird durch digitale Technologien und die damit verstärkten Potentiale der Interaktion nicht nur vermehrt nachgefragt, sondern auch herausgefordert.44 Schließlich bietet der Transfer regionalgeschichtlicher Forschungsfelder in den digitalen Raum die Möglichkeit, ganz verschiedene Parteien an gesellschaftlichen Debatten teilhaben zu lassen, wie beispielsweise die Diskussionen um Umbenennungen von Straßen, Plätzen oder Gebäuden im öffentlichen Leben zeigen. Straßennamen sind Ausdruck der Identität eines Landes, seiner Regionen, Städte und Dörfer.45 Sie sagen etwas darüber aus, wie die Menschen an einem Ort arbeiten und wohnen, woran sie glauben.46 Straßennamen sind eng verwoben mit räumlicher Orientierungs-, öffentlicher Erinnerungs- und politischer Symbolfunktion. Aktuelle Diskurse zu Umbenennungen von Straßennamen werden dabei mit Blick 42 Vgl. Jesper Zedlitz, Familienforschung zum Ersten Weltkrieg: Sisyphusarbeit auf 31.000 Seiten, in: Spiegel-Online, 13.6.2014, www.spiegel.de/geschichte/ahnenforschung-verlustlistenaus-dem-ersten-weltkrieg-online-a-973647.html (10.8.2020). Zum Projekt Verlustlisten des Ersten Weltkrieges siehe die URL: wiki-de.genealogy.net/Verlustlisten_Erster_Weltkrieg/Projekt (10.8.2020). 43 Vgl. exemplarisch den gemeinsamen Aufruf des Kieler Stadtmuseums mit Arte und dem NDR im Zuge des 100. Jubiläums des Matrosenaufstandes im Jahr 2018. Alle drei Institutionen riefen zu einer bundesweiten Aktion auf, in der alle Bürger*innen aufgefordert waren, auf „Dachböden und in Wohnstuben alte Dokumente wie Briefe, Postkarten und Tagebücher, aber auch Fotos und andere Erinnerungsstücke“ zu suchen und diese sowie deren Geschichten für die wissenschaftliche Bearbeitung zur Verfügung zu stellen. Vgl. Kieler Stadtmuseum, Arte und NDR suchen Exponate zum Matrosenaufstand 1918, in: Nord-Ostsee-Magazin, 6.7.2018, http://kiel-szene.de/kieler-stadtmuseum-arte-und-ndr-suchen-exponate-zum-matrosenaufstand-1918.html (12.8.2020). 44 Vgl. Arendes, Historiker als Mittler, S. 21. 45 Vgl. Tobias Weger, Straßennamen, in: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, hg. von Stephan Scholz, Maren Röger und Bill Neven, Paderborn 2015, S. 409‒420, hier S. 409. 46 Als Beispiel für die Zugehörigkeit einer Region zu einer bestimmten Konfession soll an dieser Stelle der Straßennamen-Zusatz Sankt dienen: Ursprünglich trugen nur Kirchen den Zusatz im Namen, ein Hinweis auf den namensgebenden Heiligen, später auch Ortschaften. Mit der Reformation verschwand der Begriff in den meisten evangelischen Regionen, in katholisch geprägten Gegenden blieb die Heiligenverehrung im Straßennamen aber erhalten. Vgl. Kai Biermann u. a., Straßenbilder. Mozart, Marx und ein Diktator, in: Zeit Online, 25.1.2018, https://www.zeit.de/feature/strassenverzeichnis-strassennamen-herkunft-deutschland-infografik (10.8.2020).

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auf ihre Bezüge beispielsweise zur Deutschen Kolonialgeschichte, zur Vertriebenenerinnerung oder zum Nachkriegsdeutschland gesehen.47 Besonders intensiv werden öffentliche Debatten immer dann ausgefochten, wenn es sich um Ehrungen von Personen handelt, die eine sogenannte nationalsozialistische Belastung aufweisen.48 Ein prägnantes Beispiel bietet der Fall des Kieler Internisten Alfred Schittenhelm, dem im Jahr 2015 zunächst die Ehrensenatorenwürde der Kieler Universität entzogen worden war, bevor in einem weiteren Schritt die Umbenennung der SchittenhelmStraße auf dem Campus des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein durch die Stadt Kiel beschlossen wurde.49 Schittenhelm hatte von 1916 bis zu seinem Weggang nach München im Jahr 1934 an der CAU gelehrt und als Dekan der Medizinischen Fakultät deren Geschicke von 1922 bis 1923 gelenkt. Unter anderem als Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und deren Schutzstaffel sowie des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes hatte Schittenhelm 47 Als Beispiele für vergangene und aktuelle Umbenennungsdebatten öffentlicher Plätze, Straßen und Gebäude zur Deutschen Kolonialgeschichte können die Kieler Diskussionen um die Adolf Lüderitz-, Graf von Spee-, Lettow-Vorbeck- und Carl-Peters-Straße gesehen werden. So wurde die Carl-Peters-Straße, benannt nach dem Kolonialpolitiker und Gründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika, 2007 durch einen Beschluss der Ratsversammlung in Albert-SchweitzerWeg umbenannt. Vgl. dazu o. V., Carl-Peters-Straße, in: Kieler Straßenlexikon, www.kiel.de/ de/kiel_zukunft/stadtgeschichte/_daten_strassenlexikon/_strasse.php?id=2014&x=C&eingabe= (10.8.2020). Auch die Mohrenapotheke in Kiel ist im Zuge der Black Lives Matter-Debatte umbenannt worden. Vgl. Nach schockierenden Briefen: Kieler Mohren-Apotheke ändert ihren Namen, in: Focus Online, 2.7.2020, www.focus.de/panorama/welt/inhaber-wollte-eigentlichnicht-einlenken-nach-schockierenden-briefen-kieler-mohren-apotheke-aendert-ihren-namen_id_12166386.html (10.8.2020). In Itzehoe lässt sich noch heute als Beispiel für Straßennamen im Kontext der Vertriebenenerinnerung der Stadtteil Sude mit dem Memeler Weg, der Tilsiter Straße und Königsberger Allee nachweisen. Zum Thema Straßennamen in der frühen Bundesrepublik findet sich in Kiel die Diskussion zur Umbenennung des Paul von Hindenburg Ufers. Dieses wurde, nach mehreren vorhergehenden öffentlichen Kontroversen, im Jahr 2014 durch den Beschluss der Kieler Ratsversammlung in Kiellinie umbenannt. Vgl. dazu Nils Hinrichsen, Vom Mythos zum Markenzeichen. Hitlers Steigbügelhalter Hindenburg als Namenspatron für öffentliche Orte in Schleswig-Holstein, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 50 (2008), S. 320‒339; sowie die URL: www.kiel-wiki.de/ Hindenburgufer (10.8.2020). 48 Der Begriff der nationalsozialistischen bzw. NS-Belastung hat sich im Verlauf der Jahrzehnte verändert, sodass keine einheitliche Definition für den Grad der Belastung einer Person gegeben werden kann. Zur Diskussion der NS-Belastung innerhalb erinnerungskultureller Debatten vgl. unter anderem David Templin, Wissenschaftliche Untersuchung zur NS-Belastung von Straßennamen (erstellt im Auftrag des Staatsarchivs Hamburg), Hamburg 2017, www. hamburg.de/contentblob/13462796/1d4b36cbfb9adc7fca682e5662f5854d/data/abschlussbericht-ns-belastete-strassennamen.pdf (10.8.2020); Karen Bruhn, „Die Entscheidung fiel einstimmig“ – Die Causa Schittenhelm, in: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte 57/58 (2016/17), S. 122‒140. 49 Vgl. die Pressemittelung der CAU: Akademischer Senat entzieht Alfred Schittenhelm Ehrensenatorenwürde, 12.5.2016, https://www.uni-kiel.de/pressemeldungen/index.php?pmid=2016154-schittenhelm (5.7.2020); sowie die gemeinsame Pressemitteilung der CAU, des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und der Landeshauptstadt Kiel: „Schittenhelmstraße“ wird in „Rosalind-Franklin-Straße“ umbenannt, 31.10.2016, https://www.uni-kiel.de/pressemeldungen/index.php?pmid=2016-359-umbenennung-rosalind-franklin-strasse (5.7.2020).

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sich bereits frühzeitig für das NS-Regime engagiert und spätestens mit der Gründung der Abteilung für Erbpflege und Erbforschung 1935 an der Universität München seine Forschungen explizit in den Dienst des NS-Staates gestellt. Schittenhelm hatte in seiner Funktion als Hochschullehrer, Wissenschaftler und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. zwischen 1933 und 1945 das NS-System mitgetragen und von diesem profitiert, was den Senat der CAU dazu veranlasste, ihm die Ehre der Senatorenwürde aus dem Jahr 1951 zu entziehen. In diesem Prozess wurde die Expertise des Projektteams des KGV aktiv genutzt, um dem Senat beratend zur Seite zu stehen und vor allem die zu dieser Entscheidung nötigen Informationen der interessierten Öffentlichkeit im Netz unmittelbar verfügbar zu machen.50 Der Fall Schittenhelms zeigt, dass es bei der Benennung von Straßen um die Aushandlung von Erinnerungskulturen und um lokale, regionale oder nationale Geschichtspolitiken geht.51 Für die Menschen vor Ort lassen sich aus Straßennamen Traditionen schöpfen, Erinnerungen gestalten und Identitäten konstruieren. Auch hier wird somit deutlich, wie der digitale den analogen Diskussionsraum erweitern kann und dadurch mehr Menschen die Möglichkeit zur Partizipation an derlei gesellschaftlichen Debatten gibt. Tweets, Wikis, Podcasts oder Youtube-Videos sind dafür ein gutes Beispiel, da potentiell jeder diese erstellen oder sich an deren Entstehung und Ausgestaltung beteiligen kann. Die Möglichkeiten der Teilhabe sind groß, was wiederum die Pluralisierung von Geschichtsbildern und -deutungen fördert und zu einer Demokratisierung von Geschichte beitragen kann. Hierin liegt die Chance, gerade Themen der Regionalgeschichte mehr Platz einzuräumen – unter anderem in der historischen Forschungslandschaft, der politischen Debatte sowie in den gesellschaftlichen Diskussionen –und so Multiperspektivität durch aktive gesellschaftliche Teilhabe zu verwirklichen. Ein weiteres Beispiel für die Demokratisierung von Geschichte bieten Blogs, da sie in einem hohen Maße Formen der kollaborativen Zusammenarbeit sowie die Sammlung und Herstellung neuen Wissens und neuer Erkenntnisse fördern. Zwar verfasst im Regelfall meist nur eine einzelne Person einen Beitrag, allerdings wird dieser von vielen Kommentierenden ergänzt, sodass eine Gruppe letztlich ein Thema gemeinsam bearbeitet.52 Dieser grundlegende Wandel geschichtswissenschaftlicher Schreib- und Kommunikationsprozesse wird sowohl fachintern als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit den Wissenstransfer beeinflussen, insbesondere die Aufhebung von Grenzen zwischen interner und externer Fachkommunikation fördern sowie den Abbau von Hierarchien begünstigen. Das heißt, die Zugänglich50 Vgl. hierfür den Personeneintrag zu Alfred Schittenhelm im KGV, abrufbar unter der URL: https://cau.gelehrtenverzeichnis.de/person/886be90f-6533-4a3c-0113-4d4c60b2a88f (5.7.2020). 51 Vgl. Matthias Frese und Marcus Weidner, Verhandelte Erinnerungen: Einleitung, in: Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945, hg. von Dens., Paderborn 2018, S. 7‒19, hier S. 13. 52 Als Beispiel für einen von Studierenden der CAU innerhalb eines Projektseminars erstellten Blog siehe die URL: https://strassennamenerzaehlengeschichte.wordpress.com/ (10.8.2020).

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keit zu wissenschaftlichen Inhalten wird vereinfacht; Barrieren wie kostenpflichtige Abonnements, Verfügbarkeit von Nutzungslizenzen in Universitäts- und Bibliotheksnetzwerken entfallen. Dabei kommen Blogs den Lese- und Konsumgewohnheiten der breiteren Öffentlichkeit wesentlich stärker entgegen als wissenschaftliche Papers. Das über Blogs betriebene knowledge sharing geht – ganz im Sinne der non-profit/open-source-Mentalität – nicht von einem sich unmittelbar auszahlenden Nutzen aus.53

Regionalgeschichte und Digital Humanities – „Auf ewig ungeteilt?“ Der aus dem Ripener Vertrag entlehnte Passus „Up ewig ungedeelt“ hatte für die schleswig-holsteinische Geschichte historische Folgen und ist bis heute Wahlspruch des nördlichsten Bundeslandes. Wir möchten an dieser Stelle nicht so weit gehen, dieses Postulat 1:1 auf das Verhältnis der Regionalgeschichte zu den Digital Humanities zu übertragen, sondern uns vielmehr der Beantwortung der zu Beginn aufgeworfenen Frage nach den Potentialen von Digital Humanities-Methoden für eine zeitgemäße Regionalgeschichtsforschung weiter nähern. Wie der vorliegende Beitrag gezeigt hat, verfügen die Digital Humanities über unterschiedliche Methoden und Verfahren, die für die regionalgeschichtliche Forschung und die Möglichkeiten des digitalen Raumes für einen zeitgemäßen regionalgeschichtlichen Wissenstransfer weiter ausgeschöpft werden können. Grundlegend für eine künftige und vor allem nachhaltige Synergie beider Disziplinen sind allerdings sowohl die Kompetenzen wie auch das Selbstverständnis der Regionalhistoriker*innen. Mit einer Verankerung der Digital Humanities in der regionalgeschichtlichen Hochschulforschung kann man unter anderem gewährleisten, dass eine Methodenkompetenz im Umgang mit den Digital Humanities sowie die kritische Reflexion über selbige Prozesse und Technologien von den Studierenden erlernt werden. So müssen angehenden Nachwuchswissenschaftler*innen die Digital Humanities frühzeitig als wesentliche Grundlage für zukünftiges wissenschaftliches Arbeiten sowie für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Häufig genug beklagen sich Vertreter*innen der Landes- und Regionalgeschichte darüber, dass ihre Disziplin nicht im Fokus der Geschichtsstudierenden stehe: Die Digital Humanities stellen ein probates Mittel dar, um jüngere Zielgruppen in ihren Konsumgewohnheiten als digital natives zu begegnen, sie mit regionalgeschichtlichen Inhalten vertraut zu machen sowie sie folglich für die lokale Forschung zu gewinnen. Doch auch bereits etablierten Regionalhistoriker*innen sei es angeraten, „sich fit zu machen“, denn eine grenzenlose Offenheit der Digitalität bringt neue methodische Herausforderungen für alle Akteur*innen mit sich. So stellt sich unter anderem 53 Jan Hecker-Stampehl, Bloggen in der Geschichtswissenschaft als Form des Wissenstransfers, in: historyblogosphere. Bloggen in den Geschichtswissenschaften, hg. von Peter Haber und Eva Pfanzelter, München 2013, S. 37‒51, hier S. 41.

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die Frage nach der Gewährleistung von Datenschutz, aber auch der Nachnutzbarkeit von Forschungsdaten und -ergebnissen im digitalen Raum quasi von selbst. Doch keine Angst, ein sicherer Umgang mit den Digital Humanities setzt weder ein Juranoch ein Informatikstudium voraus. Von jeher vermitteln die Historiker*innen der Landes- und Regionalgeschichte zwischen Forschung und Öffentlichkeit und sind erfahren in der gemeinsamen Arbeit mit Zeitzeug*innen und anderen Akteur*innen des gesellschaftlichen Lebens. Sie können komplexe Zusammenhänge analysieren, sind in der Lage, Informationen zu recherchieren, zu hinterfragen und Ergebnisse zu präsentieren und darzustellen. Dieses Handwerkszeug gilt es nun auf den digitalen Raum zu übertragen und anzupassen, ohne dass die Kernkompetenzen von Landes- und Regionalhistoriker*innen nachhaltig verändert werden.54 Den Rezipierenden von regionalgeschichtlichen Inhalten – Wissenschaftler*innen, interessierten Laienforscher*innen, Studierenden, Schüler*innen etc. – müssen valide Quellen zum Wissenserwerb im digitalen Raum aufgezeigt und sie selbst müssen zur Kommentierung sowie Erarbeitung von Inhalten aktiviert werden.55 Medienkompetenz muss also nicht nur bei Schüler*innen ausgebildet werden, sondern vielmehr ein natürlicher Teil des Selbstverständnisses von Regionalhistoriker*innen werden.56 Gerade für die aufgezeigten Chancen des Austausches mit der Gesellschaft im digitalen Raum ist es wichtig, ein Verständnis als Mittler*in zwischen etablierten Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen auf der einen und der interessierten Bevölkerung auf der anderen Seite zu fördern. Entscheidend ist hierfür, dass sich die Regionalhistoriker*innen ihrer Rollen in diesem Prozess bewusst werden. Mit dem Sammeln, Darstellen und Auswerten von digitalen Informationen, Quellen und Inhalten verlassen Wissenschaftler*innen das sichere Terrain des sogenannten akademischen Elfenbeinturms und geben die Deutungshoheit über eben diese Pro-

54 Vgl. Sebastian Ullrich, Geschichte und ihre digitale Medialisierung: Welche Medienkompetenz brauchen Historiker/innen?, Videodokumentation der Tagung.hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel, 4.6.2012, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/podiumsdiskussion_geschichte_und_ihre_digitale_medialisierung_welche_medienkompetenz_brauchen_historiker_innen?nav_id=3628&language=en (10.8.2020). 55 Vgl. u. a. Arendes, Historiker als Mittler, S. 51. 56 Vgl. exemplarisch Ulf Kerber, Medientheoretische und medienpädagogische Grundlagen einer „Historischen Medienkompetenz“, in: Geschichte lernen im digitalen Wandel, hg. von Marko Demantowsky und Christoph Pallaske, Berlin 2015, S. 105‒131. Die Frage nach der Medienkompetenz von Historiker*innen wurde unter anderem im Jahr 2011 im Rahmen einer Podiumsdiskussion der Tagung.hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel diskutiert, seither wurde diese Frage jedoch nicht grundlegend für die Regional- und Landesgeschichte bzw. ihre spezifischen Ausprägungen sowie Bedürfnisse erörtert. Vgl. Podiumsdiskussion Geschichte und ihre digitale Medialisierung: Welche Medienkompetenz brauchen Historiker/innen?, 4.6.2012, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/podiumsdiskussion_geschichte_und_ihre_digitale_medialisierung_welche_medienkompetenz_brauchen_historiker_innen?nav_id=3628&language=en (10.8.2020).

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zesse teilweise ab.57 Im Prozess wachsender Digitalisierung mit verstärkten Potentialen zur Interaktion ist die Rolle von Wissenschaftler*innen als Moderierende und Coaches von entscheidender Bedeutung: Das vielfältige Material und der Umgang mit den verschiedensten Narrativen müssen kompetent und gewissenhaft angeleitet werden. Wir benötigen nicht mehr nur jene Historiker*innen, die die Welt erklären, sondern vielmehr solche, die ihre Forschungen für eine interessierte Öffentlichkeit öffnen, zum Mitmachen einladen und auffordern. Es braucht somit eine weitere Öffnung des Denkens und Handelns: Mit einem Bekenntnis zu offenen Daten und der Nachnutzung der eigenen Forschungsarbeit wird innerhalb der Wissenschaftsgemeinde ein Mehrwert geschaffen, der die eigene regionale Forschung für die interessierte Öffentlichkeit, aber auch für Forschende aus anderen Regionen oder Nationen anknüpfbar macht.

57 Zu diesem Prozess und der Verflechtung von Wissenschaft und Öffentlichkeit siehe neuerdings auch Martin Göllnitz und Kim Krämer, Hochschule im öffentlichen Raum. Bemerkungen zu Historiographie und Systematik, in: Hochschulen im öffentlichen Raum. Historiographische und systematische Perspektiven auf ein Beziehungsgeflecht, hg. von Dens. (Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz N. F. 17), Göttingen 2020, S. 7‒26, hier S. 7‒18.

2. Quellen der Regionalgeschichte

Jelena Steigerwald

Die Quellen der Regionalgeschichte Bewerten, Ordnen und Verzeichnen als Wissensproduktion im Archiv

Abstract This article aims to analyse which practices and techniques are commonly used in German archives and describes the influence of archivists on the sources. It will raise questions about the nature of archival materials, the valorization processes and about the specific connection between registration and archives. Furthermore, the article deals with the classification systems which are used in the archives. How are arrangement, archival description and selection of records done? The analysis is based on the author’s own work experiences. It also gives a short overview of technical and ideological changes in archives from the 20th to the 21st century in Germany.

Archivquellen stellen die meistgenutzte Arbeitsgrundlage regionalhistorischer Forschung dar. Der vorliegende Beitrag geht daher der Frage nach, wie diese Archivalien, die Forschende in deutschen Archiven einsehen, entstanden und welchen Weg sie bis in den Lesesaal zurücklegten. Dazu sollen nicht nur die Abläufe in einem Landesarchiv betrachtet werden, sondern auch die Wissensproduktion der Archivar*innen im Allgemeinen. Zu diesem Zweck fokussiert die Untersuchung vor allem auf archivarische Arbeitstechniken und erläutert die Wertzuschreibung dessen, was ins Archiv gelangt. Der Wert der Unterlagen im Archiv ergibt sich zum Großteil aus dem Nutzen für die Forschung. Dazu dienen die Kernaufgaben des Archivs: Bewerten, Ordnen, Erschließen (für die Nutzung) und Erhalten (für die Zukunft). Nicht unerheblich ist darüber hinaus, welche Stellung das Archiv gegenüber der Verwaltung einnimmt – besonders, wenn es selbst Teil einer Behördenverwaltung ist. Die Fragestellung schließt an meine Promotion über die Analyse der Wissensproduktion und der Praktiken des Denkmalschutzes an,1 die zwischen 2010 und 2014 im Rahmen der Kieler Graduiertenschule Human Development in Landscapes entstanden ist. Die Grundlage der folgenden Ausführungen basiert auf den praktischen und theoretischen Erfahrungen, die ich in meiner Ausbildung zur Wissenschaftlichen Archivarin sowie aus meiner Tätigkeit als Archivarin für Überlieferungsbildung im Landesarchiv Sachsen-Anhalt seither gemacht habe. Ziel des Beitrags ist es, den Nutzen dieses Ansatzes in Bezug auf die Archivwissenschaft und ihre Prak1 Jelena Steigerwald, Denkmalschutz im Grenzgebiet. Eine Analyse der Wissensproduktion und der Praktiken des Denkmalschutzes in der deutsch-dänischen Grenzregion im 19. Jahrhundert (Kieler Werkstücke A/40), Frankfurt a. M. 2015.

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tiken zu prüfen, sowie Einblicke in den Entstehungsprozess der Archivalien und ihrer Inwertsetzung zu ermöglichen.2 Zunächst wird danach gefragt, in welchem Archiv sich welche Quellen finden lassen, um daran anschließend die Verbindung zwischen Behörden und Archiven zu diskutieren. In einem weiteren Schritt soll auf die Ordnungssysteme und die Erschließung der Archivalien eingegangen werden. Abschließend werden die einzelnen Auswahlprozesse erörtert.

Die Archivlandschaft: Wo findet sich was und warum? Das Zuständigkeitsprinzip Das, was forschende Nutzer*innen in regionalen Archiven (Kommunal-, Landesarchiv usw.) vorfinden, landet heute nicht zufällig dort, denn die Archive sind für ein ganz bestimmtes regionales Territorium und die darin befindliche(n) Behörde(n) zuständig. Kommunalarchive übernehmen die archivwürdigen Akten der kommunalen Verwaltung, Landesarchive die der jeweiligen Landesverwaltung, das Bundesarchiv jene der Bundesbehörden. Die Parlamente und bestimmte unabhängige öffentlich-rechtliche Organe, wie die Medienanstalten, haben wiederum ihre eigenen Archive. Geregelt wird die Zuständigkeit durch das Bundesarchiv- beziehungsweise die Landesarchivgesetze sowie durch entsprechende kommunale Satzungen.3 Dazu kommen noch Kirchenarchive, unabhängige Spezialarchive usw., für die andere Vorschriften gelten. Da Archive in ihrer rudimentären Form als Aufbewahrungsort für wichtige Urkunden und Rechtspapiere bereits seit dem Mittelalter existieren, ist das jeweilige Archiv zuständig für die Überlieferung des heutigen Territoriums und gegebenenfalls für Vorgängerterritorien. Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn Territorien oder Archivsprengel Veränderungen unterliegen, Grenzen oder Zuständigkeiten sich ändern. Ein Beispiel dafür ist die Teilung des Amtes Tondern infolge der Grenzziehung zwischen Dänemark und Deutschland im Jahr 1920, bei der auch die Archivalien dem Norden oder Süden zugeordnet wurden, wobei ein Rest, der beide Teile betraf, am Liegeort Tondern verblieb. Erst 2001 wurden mit einer gemeinsamen Erschließung in einem Findbuch beide Teile wieder (ideell) vereint, was somit die Benutzbarkeit über die Grenzen hinweg erleichterte.4 Weiterhin können 2 Eine umfassende, detailliertere Untersuchung müsste die bisherigen Forschungen über die Archivwissenschaft und auch die vorhandenen Unterschiede zwischen kommunalen und staatlichen Archiven stärker miteinbeziehen; das kann in diesem Rahmen allerdings nicht geleistet werden. 3 Siehe dazu Rainer Polley, Archivrecht in Deutschland, in: Archivrecht für die Praxis. Ein Handbuch, hg. von Irmgard Ch. Becker und Clemens Rehm (Berliner Bibliothek zum Urheberrecht 10), München 2017, S. 19‒40. 4 Bettina Reichert und Jesper Thomassen, Tønder amt til 1867. Arkivfortegnelse/Findbuch der Bestände Amt Tondern bis 1867 (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 73), Schleswig 2001, S. XIV. Vgl. zu der Auseinandersetzung der Archive und den gefundenen Lösungen insb. Rainer Hering, Johan Peter Noack, Steen Ousager u. a. (Hg.),

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kriegsbedingte Verlagerungen, Raub und anderweitige Verluste dazu geführt haben, dass sich Archivgut aus fremden Territorien in (nicht zuständigen) Archiven befindet oder Archivgut anderweitig verschollen beziehungsweise in Privathand ist. Die Struktur der Archivstandorte ergab und ergibt sich durch die Zuständigkeit für die jeweilige Verwaltung, aus der die öffentlichen Archive ihre Daseinsberechtigung und ihre Finanzierung ziehen. Ausgehend von einer zunehmend vernetzten Verwaltung, erweist sich diese Struktur allerdings als ziemlich unflexibel: Wie handelt das Landesarchiv, wenn es mit einer bundesweiten elektronischen Akte (E-Akte) der Arbeitsverwaltung oder einem Fachverfahren, das die komplette Schulverwaltung eines Bundeslandes vom einzelnen Schüler, über die kommunalen Schulen bis zur aufsichtsführenden Landesbehörde vereinigen soll, konfrontiert wird? Wie wird mit den Unterlagen umgegangen, die eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern widerspiegeln? Wenn Aufgaben zunehmend zentralisiert werden, die Zuständigkeit aber weiterhin bei den kommunalen Behörden oder Bundesländern liegt, reichen Einzelentscheidungen der Archivar*innen oftmals nicht mehr aus. Stattdessen werden Rücksprachen mit (länder-)übergreifenden Arbeitsgruppen benötigt. Denn nur damit kann vermieden werden, dass Unterlagen entweder nirgendwo oder überall gleichzeitig archiviert werden. Beides ist angesichts der schieren Masse und der damit verbundenen Kosten auf der einen Seite oder dem unwiederbringlichen historischen Verlust auf der anderen Seite ein Problem. Damit wird deutlich, dass Archivar*innen durch ihre Absprachen und basierend auf den Archivgesetzen aktiv Einfluss darauf nehmen, welche Quellen in welches Archiv gelangen.

Die Behördenregistratur und das Archiv: In welcher Weise beeinflussen die Ordnungssysteme der Registratur das Archiv? Der Ursprung der Archivalien – als Verwaltungsschriftgut – liegt in der Behörde. Dort entstand es in verschiedenen Formen, seit es Verwaltungen und schriftliche Aufzeichnungen gibt. Parallel dazu entstanden Systeme der Aufbewahrung, Ordnung und Beschriftung, um das Geschriebene wieder auffinden zu können.5 Über die Jahrhunderte entwickelten sich verschiedene Ordnungssysteme: vom Urkundendepot, über die Kanzlei-, die Amtsbuch- beziehungsweise Register- und schließlich bis hin zur Aktenregistratur.6 Die Registratur entstand im 16. Jahrhundert im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung aus der Kanzlei heraus; bis ins 17. und 18. JahrArchive zwischen Konflikt und Kooperation. 75 Jahre deutsch-dänisches Archivabkommen von 1933/Arkiver mellem konflikt og samarbejde. 75 år dansk-tysk arkivoverenskomst af 1933 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 95), Hamburg 2008. 5 Bereits vor über 4.000 Jahren wurden in Ur (Mesopotamien) erste Systematiken entwickelt. Siehe Christian Keitel, Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft, Stuttgart 2018, S. 156. 6 Botho Brachmann (Hg.), Archivwesen der Deutschen Demokratischen Republik. Theorie und Praxis, Berlin 1984, S. 83.

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hundert hinein blieben Registratur und Archiv vielfach identisch.7 Erst Ende des 18. Jahrhunderts, als neben die ursprünglich rein rechtlich-administrative Funktion der historische und wissenschaftliche Wert des Schriftguts trat und Archive allmählich für die Forschung geöffnet wurden, entwickelten sich die Verwaltungsregistratur und das (historische) Archiv auseinander.8 Es verwundert daher nicht, dass die Ordnungssysteme der Registraturen anfangs identisch mit denen der Archive waren und für die älteren Bestände zum Teil heute noch als Findmittel genutzt werden. Wenn die alten Registraturordnungen immer noch einen großen Einfluss auf die Ordnungssysteme in den Archiven haben, welche Rolle spielt dann die jüngere Schriftgutverwaltung für die Archive? Immer noch gültig ist hierzu die Aussage von Botho Brachmann, der das wissenschaftliche Standardwerk zur Archivwissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) herausgegeben hat: „Alle Maßnahmen, die die Schriftgutverwaltung günstig beeinflussen, wirken sich auch auf die Archivarbeit und die historische Auswertung fördernd aus.“9 Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatte die Registratur in den Behörden eine zentrale Stellung: Alle Akten liefen bei jedem Bearbeitungsschritt über sie. Die Ablage und die Nachweissysteme waren sehr ausdifferenziert. Erst die Zunahme des Schriftgutes und neue Techniken wie zum Beispiel Telegraphen, Telefone und Schreibmaschinen veränderten die Registraturen nachhaltig.10 Schließlich entstand im Zuge der Büroreform in den 1920er Jahren das Aktenzeichen, zahlreiche andere Ordnungsmittel wurden abgeschafft. Ab diesem Zeitpunkt setzte sich auch die Sachbearbeiterablage durch, und für die Betreuung der Registraturen wurde nun oft unausgebildetes Personal anstelle von Verwaltungsfachleuten eingesetzt.11 Die vorherige zentrale Ordnung der Akten und Registraturen veränderte sich grundlegend. Die Büroreform wird daher, obwohl sie die Verwaltung schneller und effizienter machte, aus Sicht der Archive als Niedergang beschrieben, da die Entscheidungsprozesse weniger nachvollziehbar sind und Ordnungsstrukturen abgebaut wurden. Johannes Papritz, von 1954 bis 1963 Leiter der Archivschule Marburg und Herausgeber des meistgenutzten archivwissenschaftlichen Grundlagenwerkes an der Archivschule, schreibt hierzu: Die vier Reformtypen, insbesondere die mechanische Heftung […], die mangelnde Verzeichnung der Aktentitel […], die Sachbearbeiterablage ohne ausreichende Gesamtorganisation […] und die unzureichenden Ersatzaufschreibungen für das abgeschaffte Geschäftstagebuch […], bereiten dem Archiv große Schwierigkeiten; sie erfordern Mehrarbeit und Materialkosten. So ist zu verstehen, daß die Büroreform insoweit vom Gesichtspunkt der Archivare aus betrachtet keine günstige Beurteilung zu erwarten hat. Nur bezüglich zweier Reformeinrichtungen ist eine   7 Vgl. dazu Archivschule Marburg, Registratur. Archivterminologie, 16. Juli 2014, URL: https:// www.archivschule.de/uploads/Forschung/ArchivwissenschaftlicheTerminologie/Terminologie. html#Registratur %20Alphabetischer_Index (31.3.2020).  8 Ebd.   9 Brachmann, Archivwesen, S. 77. 10 Harald Rösler, Bürokunde und ein Blick ins Archiv, Duisburg 2015, S. 236‒242. 11 Ebd.

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Ausnahme zu machen. Sie sind auch für das Archiv von Wert, nämlich die Fürsorge der Reformer für den Aktenplan und die daraus entstandenen Normaktenpläne sowie die Weglegeakten.12

Die Einführung der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) in der Verwaltung, welche die Verwaltungsabläufe nochmals beschleunigte, führte daher aus Sicht der Archive ins Chaos. Das hat zum einen den Hintergrund, dass Schriftgutverwaltung als unnötig betrachtet und selbst an Verwaltungsschulen nicht mehr gelehrt wird. Zum anderen stellen die eingesetzten Betriebssysteme, aber auch E-Mail-Programme oder Datenbanken eigene Ablagestrukturen bereit, die als Ordnungsstrukturen individuell genutzt werden können oder müssen und die auch ohne die Nutzung des Aktenplans mehr oder weniger gut funktionieren. Die klassische Papierakte wird mittlerweile nur noch durch die Behältnisse – die Ordner – am Leben gehalten und durch Vorschriften zur Aktenführungspflicht, die in der Verwaltung allerdings kaum noch bekannt sind. Besonders deutlich geworden ist dies mit der Einführung der E-Akte. Erst als ermittelt wurde, welche Formen der Schriftgutverwaltung noch existieren, um diese dann in ein elektronisches System zu überführen, wurde offensichtlich, dass sich mittlerweile unterschiedliche Ordnungssysteme etabliert hatten. Während einige Behörden elektronische Registraturverwaltungsprogramme einsetzten, um die Papierakten zu registrieren und zu verwalten, kamen andere mit Aktenverzeichnissen auf Word- und Excelbasis aus oder verzichteten komplett auf eine Übersicht. Vergessene, in Kellern oder Dachräumen befindliche Ordner, mit oder ohne Beschriftungen, stehen daher heute neben vorschriftsmäßig geführten Papierakten und ausgefeilten Verwaltungsfachverfahren, die komplett elektronisch laufen und bei denen gar kein Papier mehr anfällt. Papritz widmet den Organisationsformen des Schriftgutes in Kanzlei und Registratur zwei seiner insgesamt vier Bände zur Archivwissenschaft. Daran wird deutlich, dass die Trennung von Archiv und Registratur zwar Auswirkungen auf die Bereitstellung und den Wert der Unterlagen für die Forschung hat, die grundlegenden Schriftgutstrukturen der Verwaltung und der Archive allerdings bis heute untrennbar miteinander verbunden sind. Archivar*innen sehen sich als Hüter der Archivalien, die über die Authentizität der Unterlagen wachen und sie möglichst unverändert aus der Verwaltung übernehmen. Gleichzeitig haben sie bereits seit der Weimarer Büroreform versucht, Einfluss auf die Registraturen zu nehmen.13 Heute haben Archive vielfach die Aufgabe übernommen, Schriftgutverwaltung zu lehren, die Einführung der E-Akte vorzubereiten und Handreichungen zum Records Management zu verfassen.14 Sie beein12 Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 2: Organisationsformen des Schriftgutes in Kanzlei und Registratur Zweiter Teil, Marburg ²1983, S. 386. 13 Wilhelm Rohr, Zur Problematik des modernen Aktenwesens, in: Archivalische Zeitschrift 54 (1958), S. 74‒89, hier S. 75. 14 Siehe u. a. die Handbücher zum Records Management vom Staatsarchiv Hamburg: Staatsarchiv Hamburg, Management analoger und digitaler Aufzeichnungen. Ein Handbuch für die hamburgische Verwaltung, 1.9.2014, URL: https://www.hamburg.de/contentblob/4370364/

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flussen die Unterlagen somit bereits indirekt ab dem Zeitpunkt ihrer Entstehung und bemühen sich, Einfluss auf die elektronischen und analogen Ordnungssysteme zu nehmen. Aus den Beziehungen zwischen Registratur und Archiv kann in Bezug auf die Ordnung in der Behörde, aber auch innerhalb der Archive festgestellt werden, dass sie einander stark beeinflussen, wobei die Einwirkung der Archivar*innen auf die Registratur und die Schriftgutbildner von der Stellung der Archive gegenüber beziehungsweise innerhalb der Verwaltung abhängt.

Welche Ordnungssysteme gibt es innerhalb der Archive? Das Provenienzprinzip für Tektonik und Bestände Wie bereits erwähnt, liegen den Verwaltungsunterlagen bereits Ordnungsstrukturen zugrunde, noch bevor sie ins Archiv gelangen. Allerdings entwickelten sich daneben noch weitere Systeme: Denn die Anforderungen der Archive an die Unterlagen sind grundlegend andere als die der Verwaltung. Archivalien dienen in der Regel nicht mehr dem unmittelbaren Verwaltungshandeln, sondern sollen für die Forschung aufbereitet und nach Ablauf der Schutzfristen zugänglich gemacht werden. Da diejenigen, die die Archivalien vorgelegt bekommen, mit einem größeren zeitlichen Abstand auf die Akten schauen, haben sie im Gegensatz zum Verwaltungsmitarbeiter weder die unmittelbare Aufgabenerfüllung vor Augen, noch kennen sie die Verwaltungsstrukturen, aus denen die Akten kommen. Die Ordnung innerhalb der Archive und die Verzeichnung der Akten sollen daher sowohl den Kontext, in dem die Akte stand, erkennen lassen, wie auch die Ordnungssysteme der Verwaltung soweit aufschlüsseln, dass die Akte leichter zugänglich wird. Die Ordnung innerhalb der Archive hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Zunächst gab es nur ein Repertorium der gesammelten Urkunden, dann Systematiken, die der jeweiligen Verwaltungsordnung folgten, und schließlich das Pertinenzprinzip, welches sich im 17. und 18. Jahrhundert allmählich durchsetzte. Diesem Prinzip folgend wurde versucht, das Verwaltungsschriftgut unabhängig von seiner Herkunft nach einem umfassenden Gesamt-Ordnungsplan zu strukturieren.15 Papritz beschreibt sehr anschaulich, wie die Archivar*innen, analog zu den Bibliothekar*innen, versuchten, den passenden Betreff vom Titel der Akte abzuleiten. Um Akten zu verzeichnen, die verschiedenen Betreffen zugeordnet werden konnten, mussten mehrere Verweise angelegt werden, sodass die gleiche Akte wie bei einem Schlagwortkatalog mehrere Einträge erhielt.16 Dieses System orientierte sich an den späteren Nutzer*inc323aacf53b86f5cc46abcadc26dcef9/data/handbuch-records-management.pdf (7.4.2020); Staatsarchiv Hamburg, Anforderungen an die ordnungsgemäße Aktenführung. Eine Handreichung für Führungskräfte, Januar 2014, URL: https://www.hamburg.de/contentblob/4248908/3fafe43598cf8ef25048cd7a570b3ac6/data/handreichung-fuek.pdf (7.4.2020). 15 Siehe Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3: Archivische Ordnungslehre Erster Teil, Marburg ²1983, S. 1‒8. 16 Ebd., S. 191‒193.

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nen, zu denen auch die Historikerarchivar*innen zählten. Die historischen Interessen des Einzelnen beeinflussten damit direkt die Ordnung und Verzeichnung.17 Damit hatten die zuständigen Archivar*innen zunächst auch Erfolg. Nur je ausdifferenzierter die Behörden wurden, desto unübersichtlicher und arbeitsaufwändiger wurde das System. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann nach und nach das Provenienzprinzip, die Ordnung nach der Herkunft, durch. Es entstand vornehmlich aus arbeitsökonomischen Gründen; aber auch weil die Forschenden eine Behördenstruktur leichter rekonstruieren konnten als die Entscheidungen der Archivar*innen.18 Das Rücksortieren der Pertinenzbestände nach dem Provenienzprinzip stellte sich angesichts der Massen als schwierige Aufgabe dar und dauert, wenn es denn versucht wurde, zum Teil bis heute an.19 Einige Bestände bleiben deshalb weiterhin nach Pertinenz sortiert. Daher finden sich beide Prinzipien in unterschiedlichen Ausprägungen in den Tektoniken, den Ordnungen der Archive, wieder. Ein jüngeres Beispiel für den Einfluss der Archivar*innen auf die Ordnung eines Archivs sind die Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive (OVG) der DDR. Hier wird ausdrücklich für alle Archive festgelegt, dass die Tektonik nach „Gesellschaftsepochen und nach gesellschaftlichen Bereichen aufzustellen ist, die auf der Lehre von der ökonomischen Gesellschaftsformation als einem grundlegenden Bestandteil des historischen Materialismus“20 gründet: 2. Gliederung nach Gesellschaftsepochen (1. Stufe): § 9 Die Gesellschaftsepochen bilden das oberste Gliederungsprinzip für die Tektonik. Die Bestände jeder Gesellschaftsepoche werden in einer Archivabteilung, in kleineren Archiven in einer gesonderten Bestandsgruppe zusammengefaßt. § 10 Der tektonische Einschnitt zwischen der Gesellschaftsepoche des Sozialismus und des Kapitalismus liegt einheitlich im Jahre 1945. Der tektonische Einschnitt zwischen der Gesellschaftsepoche des Kapitalismus und des Feudalismus wird je nach der historischen Entwicklung im Zuständigkeitsbereich des einzelnen Archivs festgelegt. […] 3. Gliederung nach gesellschaftlichen Bereichen (2. Stufe): § 12 Innerhalb der Gesellschaftsepochen werden die Bestände nach gesellschaftlichen Bereichen gegliedert: Staatsapparat; Wirtschaft; gesellschaftliche Organisationen; natürliche Personen.21 17 Ebd., S. 200. 18 Ebd., S. 8‒18. 19 Siehe Bernhard Theil, Beständeaustausch zwischen Bayern und Baden-Württemberg abgeschlossen, in: Archivnachrichten 35 (2007), S. 28. Hier ist die Ortspertinenz zugunsten des Provenienzprinzips aufgelöst worden, was einen erheblichen Aufwand erforderte und nur dadurch erleichtert wurde, dass die alten Repertorien vom Anfang des 20. Jahrhunderts weiterhin in Gebrauch sind. 20 Brachmann, Archivwesen, S. 308. 21 Staatliche Archivverwaltung im Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.), Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der Deutschen Demokratischen Republik, Potsdam 1964, S. 16 f.

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Diese Aufteilung ist bis heute in den Archivtektoniken der neuen Bundesländer und häufig ebenfalls in der Arbeitsorganisation der Archive nachweisbar, auch wenn die Begründung dafür, nämlich die Umsetzung einer marxistisch-leninistischen Auffassung,22 heute nicht mehr zu den Grundsätzen der ostdeutschen Archive zählt. In Bezug auf die Ordnung innerhalb der Archive kann daher festgestellt werden, dass diese sowohl von der vorgefundenen Ordnung, aber auch von den Ideen und gesellschaftlichen Vorstellungen der Archivar*innen abhängt. Wie oben beschrieben, werden Akten in die Archivsystematik einsortiert, heute zumeist nach der Provenienz. Die unterste Ebene ist der Bestand; darin kann es wiederum Gliederungsgruppen geben. Grundsätzlich entspricht der Bestand einer Behörde oder einer anderen Organisationseinheit, beispielsweise einem Betrieb, doch auch Unterlagen aus anderer Provenienz werden entsprechend ihrer Herkunft sortiert, zum Beispiel Nachlässe. Aus verschiedenen Herkunftsorten Gesammeltes kommt in Sammelbestände. Problematisch wird es, wenn zum Beispiel ein Ministerium neu gegründet wird, seine Zuständigkeiten geändert werden oder neue Aufgaben hinzukommen. Bei Aufgabenverlagerungen – zum Beispiel des Bereichs Kultur vom Bildungsministerium in die Staatskanzlei oder der Bauaufsicht von der Oberfinanzdirektion in das Ministerium der Finanzen – wird häufig aus pragmatischen Gründen nicht jedes Mal ein neuer Bestand angelegt, sondern die Struktur angepasst. Damit später nachvollziehbar bleibt, wo welche Themen oder Aufgaben abgelegt sind, wird die jeweilige Bestandsgeschichte fortgeschrieben. Einige Archive sind dazu übergegangen, kleinteiligere Bestände anzulegen, sodass zum Beispiel die Fachgebiete Soziales, Gesundheit oder Frauen eines Ministeriums einzelne Bestände sein können, ohne dass es für jedes Fachgebiet eine eigenständige Behörde gäbe. Kleinteiligere Bestände können auch übergangsweise oder dauerhaft angelegt werden, wenn im Zuge von Personalmangel oder arbeitsorganisatorischen Prioritäten einzelne Behördenablieferungen als Bestände verzeichnet werden. Es erschwert jedoch die Recherche, wenn Akten aus einer bestimmten Behörde in mehreren Beständen auftauchen. Weiterhin kann es aus verschiedenen Gründen behördenübergreifende Mischbestände geben, zum Beispiel im Hinblick auf bestimmte Archivalienarten. So werden archivierte Webseiten oft aus arbeitstechnischen Gründen gemeinsam abgelegt, weil diese Archivalienart auch behördenübergreifend von den Zuständigen des Digitalen Archivs gecrawlt, abgelegt und verzeichnet wird. Für die innere Ordnung eines Archivbestandes gibt es „kein allgemein gültiges archivisches Ordnungssystem“23, darin sind sich Johannes Papritz und das Lexikon des Archivwesens der DDR einig. Beide verweisen darauf, dass Archivar*innen zunächst die Strukturen einer Behördenregistratur erforschen beziehungsweise deren „Funktion und Aufgaben sowie den Entstehungszweck und Zusammenhang“24 erfahren müssten. Erst danach sollten die Strukturtypen und die jeweils 22 Brachmann, Archivwesen, S. 308. 23 Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3, S. 178. 24 Staatliche Archivverwaltung des Ministeriums des Innern der DDR (Hg.), Lexikon Archivwesen der DDR, Berlin 1976, S. 161.

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beste Ordnung für die archivische Bearbeitung festgelegt werden. Für bestimmte Strukturtypen und arbeitsökonomische Richtlinien hat Papritz zudem Faustregeln erstellt.25 Darauf aufbauend ist die Ordnungsstruktur allerdings eine Einzelentscheidung. Wegweisend für die Ordnung, so Papritz, sollte der Zweck der archivischen Ordnung und Verzeichnung sein. So kann es ausreichend sein, dass nur die jeweiligen Obergruppen verzeichnet werden, wenn die Ordnung eigentlich nur als Wegweiser dient. Demgegenüber ist bei einer Verzeichnung der einzelnen Akten zusätzlich die Bestandsaufnahme gesichert.26 Bei der Verzeichnung der Akten und deren Ordnung sind daher zwei Grundsatzfragen ausschlaggebend: Welchen Zielen dient die Verzeichnung und welche technischen Möglichkeiten stehen zur Verfügung beziehungsweise welche technischen Begrenzungen und Voraussetzungen müssen berücksichtigt werden?

Erschließungsziele: von der Bestandsbildung bis zur Verzeichnung der einzelnen Akte Die Ziele der Verzeichnung sind besonders interessengeleitet und gesellschaftlich geprägt, denn grundsätzlich ist von einem Verzeichnungsrückstand auszugehen. Das heißt, es gibt in jedem Archiv mehr oder weniger viele unverzeichnete Altlasten, wobei zum Teil die Verzeichnungsgeschwindigkeit noch nicht einmal ausreicht, den jährlichen Zuwachs zu bewältigen. Daher wird bereits mit dem Beschluss, einen bestimmten Bestand zu verzeichnen, und der dafür gewählten Verzeichnungstiefe, also wie detailliert eine Akte verzeichnet wird, bewusst oder unbewusst eine Entscheidung in Bezug auf andere Bestände gefällt, die nicht oder nur grob verzeichnet werden. Denn Akten, die nicht verzeichnet sind, sind nur schwer auffindbar – möglicherweise ausschließlich durch die Archivar*innen –, und aus diesem Grund nur eingeschränkt wissenschaftlich nutzbar, weil die potentiell Forschenden eventuell gar nichts von ihnen erfahren, sie nicht bestellbar und nicht zitierbar sind. Die Entscheidung, welche Bestände mit welchem Aufwand verzeichnet werden, ist daher essentiell. Dazu schreibt Brachmann in Bezug auf das Archivwesen der DDR: Die Archivare tragen die Verantwortung dafür, daß den Nutzern die archivischen Informationen zielgerichtet und in Übereinstimmung mit ihrem gesellschaftlichen Wert zur Verfügung gestellt werden. Diese Aufgabe besitzt speziell für die Festlegung der Intensität und der Methoden der Verzeichnung grundlegende Bedeutung. […] Die Bestände werden dementsprechend in unterschiedlicher Tiefe verzeichnet; für einen Bestand mit geringerem oder sehr speziellem gesellschaftlichem Wert und voraussichtlich geringer Benutzung genügt ein inhaltlicher Überblick, für einen aussagekräftigen Bestand dagegen erfolgt eine möglichst eingehende Erfassung seines Inhalts.27 25 Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3, S. 178‒188. 26 Ebd., S. 185. 27 Brachmann, Archivwesen, S. 329.

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Wenn es um die Digitalisierung von Beständen, die Entsäuerung und die Verzeichnungstiefe geht, ist diese Abwägung derzeitig immer noch gültig. Bei der Prioritätensetzung werden allerdings diverse Überlegungen miteinbezogen. Das reicht vom Forschungsinteresse der potentiellen Nutzer*innen bis zur Erschließung bestimmter Leuchtturmbestände, mit denen das Archiv besondere Aufmerksamkeit gewinnen kann oder die aufgrund von Jubiläen großen Zuspruch erwarten lassen. Außerdem spielen zunehmend finanzielle Überlegungen eine Rolle: Wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Projekt zur Digitalisierung unter der Voraussetzung fördert, dass diese Bestände dann online gestellt werden, sind die Schutzfristen entscheidend für die Auswahl eines Bestandes, weil nur die Archivalien online gestellt werden können, deren Schutzfristen abgelaufen sind. Aber auch die Archivar*innen und ihre Neigungen können einen gewissen Einfluss haben. So kritisieren Michael Hollmann und Andrea Hänger, Präsident und Vizepräsidentin des Bundesarchivs, dass die „Auswahl der zu bearbeitenden Bestände oft genug vorwiegend dem persönlichen Interesse der zuständigen Archivar*innen“ entspreche.28 Das liege auch daran, dass es für die archivische Erschließung besonders schwierig sei, „angemessene Qualitäten und Standards zu definieren, weil in keinem anderen Bereich des archivischen Arbeitens die Erwartungen so unterschiedlich sind.“ Das Ziel der tieferen Erschließung, die Forschenden selbst suchen zu lassen und ihnen damit Unabhängigkeit von der Auskunftstätigkeit der Archivar*innen zu geben, stoße schon deswegen schnell an seine Grenzen: Schließlich ist Erschließung von Archivgut aus Sicht der Benutzer immer dann unzureichend, wenn nicht – etwas überspitzt formuliert – mit einer Suche in der Datenbank alle für ihre jeweilige Frage relevanten Unterlagen ermittelt werden können. Angesichts des hohen Zeit- und Kostenaufwands, der für Benutzer in der Regel mit längeren Archivaufenthalten verbunden ist, erscheint die Forderung durchaus angemessen, möglichst rasch das Stadium der Findmittelrecherche zu durchschreiten und mit dem Studium des Archivguts selbst zu beginnen. Im Zeitalter der archivischen Erschließungsdatenbanken ist das Unverständnis darüber, sich mit aufwändigen und vermeintlich vermeidbaren Recherchen aufhalten zu müssen, noch einmal deutlich gestiegen.29

Seit einigen Jahren überlegen Archivar*innen daher, ob sie eine „Erschließung beziehungsweise Digitalisierung on demand“30 einführen oder mit der CitizenScience-Strategie Bürger*innen bei der Erschließung mithelfen lassen, sodass die Forschenden einen größeren Einfluss auf die Auswahl und die Erschließungstiefen 28 Andrea Hänger und Michael Hollmann, Das Bundesarchiv im digitalen Wandel, in: Forum. Das Fachmagazin des Bundesarchivs (2018), S. 4‒33, hier S. 16. Siehe dort auch zum folgenden Zitat. 29 Ebd. 30 Siehe exemplarisch ebd., S. 23; Mario Glauert, Dimensionen der Digitalisierung. Kosten, Kapazitäten und Konsequenzen, in: Digital und analog. Die beiden Archivwelten, hg. von Claudia Kauertz (Archivhefte 43), Bonn 2013, S. 48‒59.

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hätten.31 Um zu verstehen, warum die Verzeichnungstiefe der Akte und damit die Wiederauffindbarkeit und Nutzung der hierin vorhandenen Informationen für die Archivar*innen und die Archive so wichtig ist, lohnt ein Blick darauf, welche technischen Möglichkeiten zur Verfügung standen und stehen und wie die Zukunft aussehen könnte.

Verzeichnungstechniken: Signatur, Titel und Laufzeit oder die Pflichtfelder Lange Zeit war es üblich, die Signatur so zu kodieren, dass bereits eine zeitliche und räumliche Zuordnung erfolgen konnte. So gab zum Beispiel A [= altes Archiv] XII [= bestimmtes Territorium] + laufende Nummer innerhalb eines Jahres bereits Auskunft darüber, wann die Archivalie ins Haus gekommen ist und zu welchem Hausarchiv sie einmal gehörte. Auch heute erhält jede Archivalieneinheit eine eindeutige Nummer, denn die Bestandsaufnahme ist sowohl gegenüber der abliefernden Behörde geboten, wie auch bezüglich der Magazinierung und gegenüber den Benutzer*innen. Spätestens seit der Einführung der E-Akte ist die 1:1-Beziehung zwingend erforderlich, da ohne diese Zuordnung das Wiederauffinden innerhalb eines digitalen Magazins, die Bestellung und die ständige Überwachung des Bestandes nicht möglich sind. Der Archivtitel kann dem Titel, den die Akte in der Registratur hatte, entsprechen. Häufig erfolgt(e) jedoch ein Eingriff, denn die Titelbildung gilt als die hohe Kunst der Verzeichnung. Zumeist, so heißt es etwa in den OVG, entsprechen die vom Registraturbildner formulierten Aktentitel nicht im vollem Umfang den Anforderungen des Archivs, denn diese waren oft nur dafür da, etwas Bekanntes wiederzufinden.32 So kann der Aktentitel beispielsweise zu eng oder zu weit gefasst oder auch diffamierend formuliert sein.33 Ein Aktentitel sollte daher nach folgenden Kriterien gebildet werden: (1) Der Aktentitel soll den Benutzer an die von ihm gesuchten Quellen heranführen. Er vermittelt eine Inhaltsangabe, keine Beurteilung oder Auswertung. (2) Der Aktentitel soll den Inhalt der Akteneinheit unter Berücksichtigung archivwissenschaftlicher und historischer Gesichtspunkte zutreffend kennzeichnen […]. (3) Der Aktentitel soll eine rasche Information über den Akteninhalt ermöglichen. Er soll daher knapp und überschaubar formuliert und gegebenenfalls zweckentsprechend gegliedert sein.34

31 Siehe exemplarisch Thekla Kluttig, Die Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland und die Archive, in: Kompetent! Archive in der Wissensgesellschaft, hg. vom Verband Deutscher Archivarinnen und Archivare (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 21), Fulda 2018, S. 33‒41. 32 OVG, S. 48‒50. 33 Ebd., S. 50. 34 Ebd., S. 49.

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Auch in den Archiven der Bundesrepublik Deutschland (BRD) war die Titelbildung ein wesentlicher Teil der Ausbildung. So beschreibt etwa Wilfried Reininghaus, wie er als Referendar (Referendarsjahrgang 1980/82) zuerst im Ausbildungsarchiv anhand von Beispielen und der eigenen Praxis die Verzeichnung gelernt hat und ihm später in der Archivschule Marburg die Archivische Titelaufnahme bei Sachakten von Papritz als Orientierung diente – obwohl dessen Lehre, so Reininghaus, den Nachwuchs „nicht mehr band“.35 Darauf führt er auch seine Beobachtung zurück, dass viele Archivar*innen „einen Individualismus pflegten, der kleinere, manchmal auch größere Abweichungen von der in der Praxis bewährten Verfahren erzeugte.“36 Noch 2003 stellte die DFG-Arbeitsgruppe Informationsmanagement der Archive fest, dass in der deutschen Archivlandschaft bundesweit einheitliche verbindliche Regeln für die Erschließung, wie es sie vor 1990 in der DDR gegeben hatte, fehlen.37 Neben Signatur und Titel zählen die Provenienz und die Laufzeit sowie zumeist die Registratursignatur zu den Mindestangaben bei der Verzeichnung. Bei tieferen Erschließungen werden zusätzliche Angaben in den Enthält-Vermerk geschrieben. Zunächst wurden diese Angaben in Listen erfasst, dann auf Karteikarten, heutzutage in Datenbanken. Das Endprodukt der Bestandsverzeichnung ist bis heute das Findbuch, also eine sortierte Bestandsliste mit den obengenannten Angaben sowie einer Einleitung zur Erläuterung. Obwohl die Technik sich in den letzten 100 Jahren weiterentwickelt hat, wird anhand des Findbuchs deutlich, dass die Strukturen der Verzeichnung sich immer noch sehr ähneln. Ist hier nur eine gewisse Beharrlichkeit auf den alten Strukturmustern und Traditionen zu erkennen, wenn Archivar*innen weiterhin dieselben Pflichtfelder wie auf einer Karteikarte verzeichnen und am Ende ein Findbuch erstellen? Ein wesentlicher Nutzen des Findbuches sowohl für Archivar*innen als auch Historiker*innen ist, dass damit eine beständige, abgeschlossene Ordnung, in der etwas gefunden werden kann, suggeriert wird. Das ist in mehrfacher Hinsicht von Vorteil: Die Archivar*innen können eine Aufgabe als abgeschlossen bezeichnen und sich anderem zuwenden; die Historiker*innen können davon ausgehen, dass für diesen Bestand alle verfügbaren Quellen einbezogen wurden. Ein Nachteil ist allerdings, dass in den allermeisten Archiven nur wenige Bestände wirklich abschließend verzeichnet sind. Eine Datenbank mit ihren regelmäßigen Freischaltungen der neu erfassten Archivalien wird hier vollständiger sein – auch wenn vieles nicht oder nur rudimentär verzeichnet ist. In den 1990er Jahren führte der internationale Austausch zu einer stärkeren Normierung der Erschließung. Zu nennen sind hier insbesondere die Erarbeitung der internationalen Grundsätze für die archivische Erschließung – International 35 Wilfried Reininghaus, Archivisches Erschließen in der Wissensgesellschaft, in: Benutzerfreundlich – rationell – standardisiert. Aktuelle Anforderungen an archivische Erschließung und Findmittel, hg. von Frank M. Bischoff (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 46), Marburg 2007, S. 17‒36, hier S. 24‒25. 36 Ebd., S. 26. 37 Thekla Kluttig, Die deutschen Archive in der Informationsgesellschaft. Standortbestimmung und Perspektiven, in: Der Archivar 57 (2004) H. 1, S. 28‒36, hier S. 30.

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Standard Archival Description (General) (ISAD-G)38 – oder der XML-Standard zur Beschreibung von archivischen Findmitteln – Encoded Archival Description (EAD). Diese dienen als Erschließungsgrundlage für die gemeinsame Nutzung von Internetportalen wie zum Beispiel des Archivportal-D.39 Auch neuere Entwicklungen aus dem Bereich der Bibliotheken werden genutzt, um mit einer normierten Verschlagwortung, den Normdaten, für bestimmte Bereiche – zum Beispiel Namen oder Orte – die Suche zu verbessern und die Trefferzahl präziser einzugrenzen. Der Normierung entgegenwirkend, nutzten viele Archive ab den 1990er Jahren die neuen Möglichkeiten der Datenbanken, um immer mehr und differenziertere Metadatenstrukturen zu verzeichnen. Durch die Erfassung möglichst vieler Detailinformationen sollten anschließend präzisere Rechercheergebnisse zur Verfügung stehen, unabhängig vom individuellen archivarischen Wissen.40 Grundsätzliche Veränderungen bei der Erschließung haben sich daher nicht durchgesetzt. Die Archivar*innen erschließen zwar in Datenbanken und nicht mehr auf Karteikarten, aber immer noch annähernd so wie Papritz und die Ordnungsund Verzeichnungsrichtlinien der DDR das bereits vorsahen. Nach Mario Glauert ist dafür der Umstand entscheidend, dass Akten nicht zu einem bestimmten inhaltlichen Zweck erschlossen werden; vielmehr erfolgt der Grundsatz der archivischen Erschließung „einzig mit Blick auf die Herkunft und Entstehung der Unterlagen, auf ihre Provenienz, die Zuständigkeiten und Kompetenzen der Provenienzstellen“.41 Die Erschließung soll auswertungsoffen sein, wodurch sie allerdings nur schwer präzisiert werden kann. Möglichkeiten zur grundlegenden Erschließungsveränderung bieten daher im Wesentlichen die folgenden drei Bereiche: die Digitalisierung und OCR-Erkennung (1), die Verbesserung der Suche (2) sowie die digitale Verwaltung (3). 1) Da sich die OCR-Erkennung im Bereich der Handschriften sowie die automatisierte Verschlagwortung von digitalisierten Beständen immer weiter verbessert, ist in Zukunft von einer größeren Datenbasis bei der Suche auszugehen.42 Eine vollständige Digitalisierung und Online-Stellung des analogen Archivguts wird mittelfristig aber eine Vision bleiben, genauso wie die vollständige und web-kompatible Erschließung.43 Das ist vor allem auf den Arbeitsaufwand und die zusätzlichen Kos38 Rainer Brüning, Werner Heegewaldt und Nils Brübach (Hg.), ISAD(G) – Internationale Grundsätze für die archivische Verzeichnung (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 23), Marburg ²1994. 39 Siehe exemplarisch die Beiträge in Verband Deutscher Archivarinnen und Archivare (Hg.), Archive ohne Grenzen. Erschließung und Zugang im europäischen und internationalen Kontext (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 18), Fulda 2014. 40 Hänger/Hollmann, Das Bundesarchiv, S. 23. 41 Mario Glauert, Müssen wir anders verzeichnen? Erschließung zwischen analogen Archivgewohnheiten und digitalen Nutzererwartungen, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 91 (2019), S. 32‒37, hier S. 34. 42 Karsten Uhde, Zwischen Tradition und Online-Mainstream. Archivische Erschließung im 21. Jahrhundert, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 90 (2019), S. 6‒10. 43 Glauert, Dimensionen, S. 59.

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ten für die Datenhaltung zurückzuführen, sodass hier nur für wenige ausgewählte Bestände nachhaltige Verbesserungen eintreten werden. 2) Die Verbesserung der Suche könnte sich durch die Etablierung von semantischen Suchmöglichkeiten ergeben, also mit der Verknüpfung von Daten und der Beschreibung dieser Verknüpfung. 2016 wurde das Records in Context-Model (RiC) publiziert. Es setzt auf die Verknüpfung der vorhandenen Erschließungsdaten mit Hilfe von Relationen. Dazu wird zwischen Entitäten (entities), Eigenschaften (properties) und Beziehungen (relations) unterschieden. Die Beschreibung besteht nun darin, Entitäten und Eigenschaften durch Beziehungen zu verbinden und sie dadurch besser und anders als bisher durchsuchbar zu machen.44 Kombiniert mit einer automatisierten Verbesserung der Erschließung durch die Auslesung bestimmter Metadaten und die Zuweisung dieser zu den Ausgangsdaten, gäbe es die Chance, ohne eine Neuverzeichnung zu verbesserten Suchergebnissen zu kommen.45 3) Die Einführung der digitalen Verwaltung könnte zumindest für die zukünftige Erschließung ganz neue Möglichkeiten schaffen. Denn die Volltexte und die Metadaten der Elektronischen Akten werden zukünftig im XML-Format vorliegen. Diese bereits elektronisch vorhandenen Daten müssten nur noch mit der semantischen Suche und den Normdaten verknüpft werden. Eine derartige Verknüpfung ist allerdings nicht ganz einfach. So sind verschiedene Akteure und Interessen zu berücksichtigen: Neben den Archivverbünden der digitalen Archivierung müssten Informationsdienstleister, Softwarehersteller, Behörden und die Archive selbst sowie eventuell auch Datenschützer*innen miteinbezogen werden. Trotzdem gäbe es heute erstmalig nach der Büroreform die Chance, die vorgefundene Ordnung, eventuell sogar das Suchsystem, komplett zu rekonstruieren. Zusammenfassend hatten die bisherigen Arbeitsmethoden und Ordnungsschemata vor allem Einfluss darauf, ob etwas wieder auffindbar und in seinem Kontext interpretierbar bleibt. Dabei geht es um die Ordnung von Unterlagen und Metadaten, die in den Behörden oder den Archiven vergeben werden. Da Datenbanken, OCR-Erkennung und eine automatisierte Erfassung von Metadaten weitaus größere Möglichkeiten bieten, insbesondere zusammen mit der semantischen Suche, ist dieser Bereich von den wichtigsten Neuerungen betroffen. Ob diese allerdings durch die Archive umgesetzt werden oder ob sich Standardisierungen wie Normdaten allgemein durchsetzen oder weitere Schritte eher auswertungsspezifisch den Forschenden überlassen bleiben, ist zurzeit ungeklärt. Als Problem bleibt, dass Archive, laut Christian Keitel, mit „unterschiedlichen historisch bedingten Metadatenschichten“46 konfrontiert sind. Daher müssen entweder verschiedene Lösungen für diese jeweiligen Metadatenschichten gefunden werden oder es setzt sich der kleinste gemeinsame Nenner durch. 44 David Gniffke, Semantic Web und Records in Contexts (RiC), in: Archivwelt. Archivwissenschaftliches Blog der Archivschule Marburg, 16.3.2020, URL: https://archivwelt.hypotheses. org/1982 (7.4.2020). 45 Gerhard Müller und Silke Jagodzinski, Die Erschließung des Kontexts. Neue Perspektiven auf ein bewährtes Prinzip, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe 90 (2019), S. 10‒17. 46 Keitel, Zwölf Wege, S. 174.

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Die Auswahl: Wie wird Überlieferung gebildet? Da Archivar*innen durchschnittlich ein bis fünf Prozent der angebotenen Unterlagen aus den Behörden übernehmen, finden Historiker*innen im Archiv eines nur sehr selten: ungefiltert ins Archiv gelangte Unterlagen. Insbesondere für Unterlagen der letzten 70 Jahren gilt: Das Allermeiste ist durch die Bewertungsentscheidung der zuständigen Archivar*innen ins Archiv gelangt. Wie kommen aber die Bewertungsentscheidungen zustande und sind diese nachvollziehbar? Jahrzehntelang bestimmte das sogenannte Fingerspitzengefühl der Archivar*innen darüber, was als archivwürdig angesehen wurde. Häufig wurde danach entschieden, ob etwas besonders alt war, rechtssetzenden Charakter hatte oder bearbeitende Archivar*innen es für besonders relevant hielt. Seit den 1980/90er Jahren liefern die Archivgesetze Hinweise auf Bewertungskriterien. So stellt das Gesetz über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivgutes in Schleswig-Holstein fest: Archivwürdig sind Unterlagen, die nach Feststellung der zuständigen Archivbehörde für 1. Wissenschaft oder Forschung, 2. das Verständnis der Gegenwart und der Geschichte, 3. Zwecke der Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung oder 4. die Sicherung berechtigter Belange betroffener Personen oder Dritter von bleibendem Wert sind. Archivwürdig sind auch Unterlagen, die aufgrund von anderen Rechtsvorschriften oder zur Rechtswahrung dauernd aufbewahrt werden müssen.47

Wie finden Archivar*innen nun heraus, was insbesondere unter den ersten beiden Punkten zu fassen ist, wenn es darum geht, nicht alles angebotene Schriftgut ins Archiv übernehmen zu können? Diese Frage kommt tatsächlich immer dann auf, wenn Archive größere Mengen übernehmen sollen – etwa bei der Säkularisierung oder bei Herrschaftsumbrüchen. Spätestens seit 1957 wird darauf hingewiesen, dass der Dokumentenausstoß aus der Verwaltung zunimmt und daher das vorher nur punktuell auftretende Problem dauerhaft gelöst werden muss.48 Damit kam die Diskussion auf, wie der Wert eines Dokumentes festgestellt werden kann, und das möglichst objektiv und nachvollziehbar. Das grundlegende Problem, ob es überhaupt allgemeine Kriterien geben kann und wie diese aussehen sollten, lässt sich besonders gut anhand der unterschied47 Landesarchivgesetz Schleswig-Holstein (LarchG S-H) vom 11. August 1992, Paragraph 3, Absatz 3, in: Archivgesetze – Deutschland. Stand Mai 2019, bearb. von Heinz Wittmann, Passau 2019, S. 184‒197, hier S. 185. 48 Siehe dazu Rohr, Zur Problematik; Georg Wilhelm Sante, Behörden – Akten – Archive. Alte Taktik und neue Strategie, in: Archivalische Zeitschrift 54 (1958), S. 90‒96; Hermann Meinert, Zur Problematik des modernen Archivwesens aus der Sicht eines Stadtarchivars, in: Archivalische Zeitschrift 54 (1958), S. 97‒102; Fritz Zimmermann, Wesen und Ermittlung des Archivwertes. Zur Theorie einer archivalischen Wertlehre, in: Archivalische Zeitschrift 54 (1958), S. 103‒122.

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lichen Ansätze in Ost- und Westdeutschland nachvollziehen. Nachdem 1957 auf dem Koblenzer Archivtag eine Debatte über spezielle Charakteristika ergebnislos verpufft war, einigte man sich in der DDR schon 1964 auf allgemeine Kriterien,49 die einerseits die „Funktion des Registraturbildners in der Gesellschaft“, andererseits die „Art und den Charakter des Inhaltes des entstandenen Schriftgutes berücksichtigte“.50 In den folgenden Jahrzehnten wurden diese auf Grundlage der positiven Auslese weiter ausgefeilt.51 1972 setzte auch in der BRD eine erneute Diskussion über die Überlieferungsbildung ein, die mit einem Aufsatz des damaligen Präsidenten des Bundesarchivs begann.52 Im Auftrag des Verbandes deutscher Archive antwortete er auf die Feststellung Hans-Joachim Schreckenbachs, des damaligen Abteilungsleiters des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft keine Überlieferungsbildung möglich sei.53 In seiner Erwiderung erläuterte Booms, dass den Archivar*innen die Aufgabe zukomme, „aus der Informationsfülle eine gesellschaftliche relevante Überlieferung zu schaffen, die räumlich noch aufhebbar ist und für Menschenkraft noch nutzbar bleibt.“54 Erstaunlicherweise, so Booms, sei bislang nie hinterfragt worden, ob die monopolartig ausgeübte Tätigkeit der Archivar*innen nicht einer gesellschaftlichen Kontrolle bedürfe. Er kritisierte insbesondere die Historiker*innen, die oft an die Objektivität des Überlieferten glaubten. Tatsächlich müssen die Historiker*innen aber mit einer Überlieferungsbildung rechnen, die gesellschaftlich vorgeprägt sei. Nach Booms „hat der Archivar seine Quellenwertvorstellungen zu objektivieren, seine Wertungskoordinaten zu formulieren, damit er als konstitutives Element von Überlieferung erfahrbar und kontrollierbar wird.“55 Er plädierte daher für einen methodischen Wertvollzug, der nachvollziehbar ist und dessen Leitwerte umfassend und bedeutend, anschaubar und konkret sein sollten – sowie allgemeinverbindlich. Er kritisierte besonders die im Historismus üblichen „selbstverständlichen Wertmaßstäbe“.56 Auch die damals neueren Ansätze, nämlich die Bewertung nach dem Provenienzprinzip, wie sie zum Beispiel Wilhelm Rohr und Georg W. Sante 1957 vorschlugen,57 wurden von ihm kritisch hinterfragt, da dieses Prinzip lediglich eine hierarchische Gliederung vornehme und damit immer unterstelle, dass Schriftgut wertvoller sei, je höher an49 Staatliche Archivverwaltung des Ministeriums des Innern der DDR, Taschenbuch Archivwesen der DDR, Berlin 1971, S. 68. 50 Ebd., S. 69 f. 51 Siehe Brachmann, Archivwesen, S. 229‒236. 52 Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung zur Problematik archivarischer Quellenbewertung, in: Archivalische Zeitschrift 68 (1972), S. 3‒40. 53 Hans-Joachim Schreckenbach, Stand der Informationsbewertung in den kapitalistischen Ländern, in: Archivmitteilungen 5 (1969), S. 179‒182. 54 Booms, Gesellschaftsordnung, S. 9. 55 Ebd., S. 13. 56 Ebd., S. 19. 57 Ebd., S. 21 f. Er bezog sich auf die von Sante und Rohr auf dem Koblenzer Archivtag 1957 gehaltenen Vorträge.

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gesiedelt es entstehe.58 Booms Vorstellung der positiven Wertauslese fußte dagegen auf dem Prinzip der Pertinenz: Die […] erforderlichen tauglichen Leitwerte im Wertbezugsverfahren sollten wir nicht länger zu gewinnen versuchen durch Funktionsuntersuchungen, wir sollten uns bemühen, sie dem Gesellschaftsprozeß unmittelbar zu entnehmen, dem wir uns als Archivare jeweils verantwortlich fühlen.59

Er plädierte dafür, historische mit sozialwissenschaftlichen Methoden zu verbinden, ein grobgerastertes Geschichts-Urbild zu erstellen und dann einen Dokumentationsplan für den jeweiligen archivarischen Zuständigkeitsbereich für kürzere Zeitabschnitte (fünf bis max. 20 Jahre) zu erstellen. Dafür sollte ein Team – unterstützt von einem Beirat aus Verwaltung, Wissenschaft, Publizistik und Wirtschaft – nach dem Charakteristischen, Typischen und Folgenreichsten fragen und anhand dessen die Auswahl durchführen. Der Plan sollte schriftlich fixiert, möglichst publiziert und der Überlieferung beigefügt werden. Booms Aufsatz wurde in der DDR positiv rezipiert, in der BRD fielen die Reaktionen allerdings skeptisch aus, sodass archivpraktische Konsequenzen ausblieben. Nach der Wiedervereinigung flammte die Debatte in den 1990er Jahren erneut auf, die Robert Kretzschmar 1999 folgendermaßen zusammenfasste: Soll die archivarische Bewertung sich vorrangig an inhaltlichen Kriterien oder an formalen Gesichtspunkten orientieren; und ist das Ziel der Bewertung ein Abbild der Gesellschaft oder die Tätigkeit der Verwaltung?60 Die Meinungen zu beiden Punkten waren zum Teil stark abweichend. Der Ansatz, die Bewertung scheinbar objektiv nur auf die Verwaltung zu beziehen und deren Handeln abzubilden, sorgte für Kritik, beispielsweise von Norbert Reimann: Er bemerkte, dass in einer transparenten demokratischen Gesellschaft in offiziellen Gremien nur noch die Beschlüsse gefasst würden, die Entscheidungsfindung und die Prozesse aber woanders abliefen. Aus diesem Grund plädierte er für eine zusätzliche, außerhalb der Verwaltung angelegte Überlieferung.61 Besonders klar hat die damalige Leiterin der Archivschule in Marburg, Angelika Menne-Haritz, die Positionen voneinander abgegrenzt: Entweder wird angestrebt, mit Hilfe von Archivgut ein Abbild der Gesellschaft zu dokumentieren, oder es soll ein repräsentatives Modell des Handelns und der Entscheidungsprozesse bei der Entstehung der Unterlagen geschaffen werden. Die

58 Ebd., S. 22. 59 Ebd., S. 34. 60 Robert Kretzschmar, Die „neue archivische Bewertungsdiskussion“ und ihre Fußnoten. Zur Standortbestimmung einer fast zehnjährigen Kontroverse, in: Archivalische Zeitschrift 82 (1999), S. 7‒40, hier S. 12. 61 Norbert Reimann, Gedächtnis der Gesellschaft. Die Dokumentationsaufgaben der Archive – Ansprüche und Möglichkeiten. Zur Wahl des Rahmenthemas für den 53. Westfälischen Archivtag in Menden, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 55 (2001), S. 4‒6, hier S. 5.

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erste Position distanziert sich mehr oder weniger eindeutig vom Provenienzprinzip, während die zweite es zur methodischen Grundlage der Bewertung machen will.62

Eine Einigung wurde nicht erzielt. Letztlich haben diese unterschiedlichen Ansätze zu einem vielfältigen Werkzeugkasten geführt, den sämtliche Archivar*innen individuell anwenden. Einige kommunale Archive haben versucht, Dokumentationsprofile zu entwickeln, die tatsächlich den Anspruch haben, mit Hilfe der Quellen die gesamte Bandbreite der Gesellschaft abzudecken.63 Einige Landesarchive, wie beispielsweise das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, haben für fast alle Verwaltungszweige umfangreiche Archivierungsmodelle erstellt, die auf einer detaillierten Untersuchung der Prozesse innerhalb der Verwaltung beruhen.64 Die meisten Archive beschränken sich bislang darauf, für Massenakten zum Beispiel aus der Justiz- und Finanzverwaltung Modelle anhand der Aktenpläne zu entwickeln. Ansonsten behelfen sich Archivar*innen bei der Bewertung mit dem Prinzip der Federführung (wer hat eine Sache federführend bearbeitet?) und setzen auf die Erkennbarkeit des Relevanten anhand der Aktenbetreffe. Hilfreich sind dafür der Aktenplan und Stichproben sowie thematische beziehungsweise verwaltungsinterne Informationen über die jeweiligen Arbeitsbereiche. Häufig ist diese Arbeitsweise nicht auf eine Ablehnung von Bewertungsmodellen zurückzuführen, sondern auf die Arbeitsbelastung, die mit der Entwicklung eines Modells einhergeht. Obwohl die Archivar*innen nach einer objektiven und ausgeglichenen Überlieferung streben, ist diese daher grundsätzlich vom jeweiligen Zeitgeist und von den individuellen Entscheidungen geprägt. Wenn Forschende nachvollziehen möchten, nach welchen Bewertungskriterien die im Archiv vorliegenden Quellen ausgesucht wurden, hängt die Nachvollziehbarkeit von der Dokumentation der Bewertungsentscheidung ab. Je mehr über den Bewertungsprozess bekannt ist, desto eher lässt sich rekonstruieren, welche Überlegungen der Entscheidung vorausgingen. Grundsätzlich gilt für die Archivar*innen: Sie sollen auswertungsoffen archivieren, da sie nicht wissen, welchen Fragestellungen die Forschenden der nahen oder ferneren Zukunft nachgehen werden. Oftmals wären Archivar*innen allerdings über eine Zusammenarbeit mit den jetzigen oder zukünftig Forschenden erfreut, denn die Auswertungsoffenheit ist gerade in Hinblick auf neue Forschungsmethoden nicht einfach. Folgende mög62 Angelika Menne-Haritz, Das Provenienzprinzip – Ein Bewertungssurrogat? Neue Fragen einer alten Diskussion, in: Der Archivar 47 (1994), H. 2, S. 229‒252, hier S. 231. 63 Siehe exemplarisch Max Plassmann, Gisela Fleckenstein, Franz-Josef Verscharen u. a., Dokumentationsprofil für das Historische Archiv der Stadt Köln, März 2013, URL: http:// www.archive.nrw.de/kommunalarchive/kommunalarchive_i-l/k/Koeln/BilderKartenLogosDateien/Dokuprofil.pdf (7.4.2020). 64 Siehe URL: https://www.archive.nrw.de/lav/archivfachliches/ueberlieferungsbildung/index. php (16.4.2020). Auf der Seite finden sich die publizierten Archivierungsmodelle, zum Beispiel Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abschlussbericht der Projektgruppe Archivierungsmodell Natur, Umwelt und Verbraucher, Duisburg 2018, URL: https://www.archive.nrw.de/ lav/archivfachliches/ueberlieferungsbildung/Archivierungsmodell-NUV-v1_1-November2018. pdf (7.4.2020).

Die Quellen der Regionalgeschichte

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liche Auswahlkriterien sollen das verdeutlichen: Wähle ich bei Massenakten (wie zum Beispiel Patienten-, Gefangenen- oder Personalakten) nur die Akten mit bestimmten Anfangsbuchstaben der Familiennamen, bestimmte Jahrgänge, bestimmte Geburtsdaten aus oder orientiere ich mich an inhaltlichen Kriterien wie etwa dem Krankheitsbild, der beruflichen und gesellschaftlichen Stellung oder an bestimmten Straftaten? So wurden beispielsweise jahrzehntelang im Hinblick auf genealogische Forschungen beziehungsweise die Nachvollziehbarkeit von Generationen immer wieder dieselben Familiennamen überliefert, mit dem Nachteil, dass dadurch ganze Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise Migranten, sehr viel weniger vertreten sind. Auch eine statistische Auswahl mit Hilfe eines Zufallsgenerators wäre möglich, allerdings mit der Einschränkung, dass die jeweilige Gesamtgröße immer nur bezogen auf eine Anbietung generiert werden kann. Hinsichtlich der Sachakten erscheint die Auswahl zunächst einfacher, da diese anhand der Betreffe und des Aktenplans (soweit vorhanden) inhaltlich eingegrenzt werden können. Tatsächlich fällt beispielsweise die Auswahl zwischen den Betreffen „Beschaffungen von Büromöbeln“ oder „Leitungssitzungen“ relativ leicht: Erstere enthält höchstwahrscheinlich nichts für die spätere Forschung Relevantes, im zweiten Fall werden wahrscheinlich Entscheidungen getroffen, welche die weiteren Ereignisse beeinflussen, oder es gehen zumindest Ansätze und Meinungen daraus hervor, die später eine gewisse Tragweite bekommen können. Tatsächlich setzen viele Bewertungsentscheidungen aber Wissen über politische oder verwaltungsinterne Abläufe voraus, die aus Strukturanalysen, den Medien, durch Gespräche oder Aktenautopsien gewonnen werden müssen, um eine möglichst verdichtete und gehaltvolle Überlieferung zu gewährleisten. Allein herauszufinden, wer in einer Sache federführend war, kann bei ressortübergreifenden Aufgaben schwierig werden. Insbesondere für die jüngere Überlieferung gilt es zudem zwei Schwierigkeiten zu überwinden: erstens den Zeitpunkt der Anbietung und zweitens die disparate Aktenführung in der Verwaltung. Punkt eins betrifft den Anbietungszeitpunkt: Je länger ein Ereignis zurückliegt, desto eher können die Archivar*innen beurteilen, ob der Inhalt der Akte für die späteren Ereignisse von Relevanz ist. Akten die bereits fünf oder zehn Jahre nach ihrer Entstehung angeboten werden, sind daher weniger einfach zu beurteilen als solche, die bereits 50 Jahre alt sind. Anbietungen, die relativ früh erfolgen, haben dagegen den Vorteil, dass diejenigen, die die Akten geführt haben, befragt werden können. Das kann eine eigene Bewertung der Akten zwar nicht ersetzen, da die Verwaltungssicht auf die Akten zumeist eine ganz andere ist, aber es hilft zumindest, die Strukturen und Arbeitsaufgaben in der Verwaltung zu verstehen. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Aktenführung: Sie wird stark beeinflusst durch die Einführung elektronischer Verfahren. So ist zurzeit nicht gesichert, dass eine reguläre Aktenführung stattfindet, weil es für die Verwaltungsmitarbeiter einfacher ist, die Korrespondenz im E-Mail-Programm zu sortieren oder Dokumente nur elektronisch auf dem Server abzulegen. Es besteht allerdings die Chance, dass durch die Einführung der E-Akte für die Archive wieder einheitlichere und übersichtlichere Ordnungsstrukturen in der Verwaltung entstehen und diese zum Beispiel für

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Jelena Steigerwald

die Etablierung von Bewertungsmodellen und die Einführung von Bewertungstools genutzt werden können. So wird zwar auch heute bei Bewertungsentscheidungen ein Abgleich mit den bereits übernommenen Unterlagen vorgenommen, durch entsprechende Datenbanken ließe sich dieser Prozess allerdings beschleunigen und ausweiten, sodass die Auswahl noch gezielter stattfinden könnte. In Bezug auf die archivarische Bewertung ist abschließend festzuhalten, dass Archivar*innen darüber entscheiden, was der Forschung an Quellen zur Verfügung steht. Sie wenden dafür unterschiedliche Bewertungskriterien und -techniken an, die gesellschaftlich und subjektiv geprägt sind und seit Jahren innerhalb der Archivwissenschaften kritisch hinterfragt und diskutiert werden. Forschende haben die Möglichkeit, Bewertungskriterien einzusehen und Hinweise zu geben, was aus ihrer Sicht interessante Unterlagen wären und in welcher Form diese überliefert werden sollten. Denn sicherlich haben archivierte Datenbanken andere Auswertungsmöglichkeiten als Papierakten und eröffnen daher zukünftig Möglichkeiten für andere Fragestellungen. Zusammenfassend kann betont werden, dass das Archiv kein Gedächtnisort ist, der ungefilterte und unveränderte Quellen zur Erforschung bereithält, sondern das Archive beziehungsweise Archivar*innen durch ihre Ordnungen, ihre Arbeitstechniken und ihre Auswahlprozesse einen starken Einfluss darauf haben, was heutige Historiker*innen in welcher Form im Archiv finden. Die Ordnungsstrukturen der Archive sind dabei eng mit denen der Behördenregistraturen und deren Schriftgutverwaltung verknüpft. Die Archivar*innen fungieren bei diesem Inwertsetzungsprozess, der den Übergang von der Unterlage zum Archivgut umfasst, als besondere Expertengruppe. Sie haben durch die Archivgesetze die Verpflichtung von der und für die Gesellschaft, Unterlagen zu bewerten und zu erschließen. Die dabei angewandten Arbeitstechniken werden sowohl von den historischen und derzeitigen technischen Möglichkeiten bestimmt, wie auch vom Diskussionsprozess unter den Archivar*innen. Erst zukünftig wird sich zeigen, ob Historiker*innen und Archivar*innen neue Wege in Bezug auf die Bewertung und die Erschließung finden, die dann wiederum neue Fragestellungen und Forschungen ermöglichen.

Jens Boye Volquartz

„Discordia inter hos de Holtzacia et de Ditmarcia“ Neubewertung der Fehde zwischen Holsteinern und Dithmarschern zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf Grundlage der schriftlichen Quellen

Abstract The conflict between the Holsatians and Ditmarsians from 1402 to 1404 is approached in a very superficial way in literature. That tends to surprise considering the sheer amount of historical chronicles which mention this episode. A huge difference occurs in the sources written before 1448 to those before. A possible reason may be the Chronicon Holtzatiae written by the so-called Presbyter Bremensis that year. He took case files from a legal-political dispute between the Duke of Schleswig and the Ditmarsians from 1447 and 1448 about mutual harms of several decades as basis for his presentation. They also include information about the conflict from 1402 to 1404. These files, however, remained unnoticed by the sources’ editors so far, but are just transcribed. Their analysis diverges widely from the description in the sources. Instead of three military expeditions mentioned by the chronicles, there can at least be identified eight of those within the three years in these case files. The purpose of those expeditions was not to conquer but to pillage. Both Duke Gerhard II and Count Albrecht II died in this project. Besides the broader picture of the military conflict, the impact the Presbyter Bremensis caused with his Chronicon Holtzatiae can be identified on the reception of sources and the change of perspective for future historical authors and the modern historical science.

1. Hinführung Die Siege der Dithmarscher in den Schlachten von Oldenwöhrden (heute: Wöhrden) am 7. September 1319, in der Süderhamme (östlich von Heide) am 5. August 1404 und bei Hemmingstedt (zwischen Heide und Meldorf gelegen) am 17. Februar 1500 stellen die drei für die Identität des Landes wichtigen militärischen Erfolge gegen fremde Invasoren dar (Abb. 11). Die wehrhaft erscheinende „Bauernrepublik Dithmarschen“ fand jedoch mit der Dithmarscher Kapitulation in der sogenannten „Letzten Fehde“ am 14. Juli 1559 ihr Ende. Im Rahmen der darauf1

Die Abbildungsverweise beziehen sich auf den Kartenanhang, der im Anschluss an den Haupttext dieses Beitrags zu finden ist. Teil des Anhangs ist auch eine Zeitleiste, die die wichtigsten Daten rund um das Thema dieses Aufsatzes gebündelt präsentiert.

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folgenden Friedensverhandlungen war es der siegreichen Koalition unter König Friedrich II. von Dänemark unter anderem ein wichtiges Anliegen, dass „dat Holtlin, de Hamme genant“ abgeholzt würde.2 Die Sprengung und das Schleifen der militärischen Nachfolgeanlage, des „Hamhuß“, waren bereits zuvor geschehen.3 Ein wesentlicher Grund für die Abholzung scheint die Vernichtung des Erinnerungsortes an die Niederlage Herzog Gerhards II. von Schleswig am Oswaldustag 1404 gewesen zu sein. Dies verdeutlicht, dass der Ort für Sieger und Besiegte eine große Symbolwirkung hatte. Dem Konflikt der Jahre 1402 bis 1404, an dessen Ende die Schlacht in der Süderhamme stand, widmen sich zahlreiche mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen. In jüngeren historischen Darstellungen fehlt es dennoch an einer ausführlichen Behandlung auf der Grundlage der gebündelten überlieferten Schriften. Insbesondere das 2012 erschienene, ergänzende Werk von Albert Panten zum Dithmarscher Urkundenbuch mit den darin enthaltenen, vervollständigten Prozessakten von 1447 und 1448 verändert das bisherige Bild der historischen Ereignisse in noch nicht beachteter Weise.4 Zuvor hatten die Akten nur lückenhaft und ungeordnet in der Edition des Dithmarscher Urkundenbuchs von Andreas Ludwig Jacob Michelsen aus dem Jahr 1834 zur Verfügung gestanden. Der vorliegende Beitrag widmet sich daher dem dreijährigen Konflikt zwischen Dithmarschern und Holsteinern auf der Grundlage einer Synopse aller aufgefundenen chronikalischen Quellen aus der Zeit zwischen den Jahren 1400 und 1652 sowie der Gegenüberstellung der hieraus resultierenden Ergebnisse mit den Schilderungen der genannten Prozessakten. Presbyter Bremensis mit seinem Chronicon Holtzatiae aus dem Jahr 1448 spielt dabei eine besondere Rolle.5 Einerseits erweiterte er den Fundus der Faktenlage für die nachfolgenden Autoren in beträchtlicher Weise, andererseits brachte er eine starke, geradezu propagandistische Verzerrung der Ereignisse in die Rezeption ein. Die ersten beiden Abschnitte des vorliegenden Beitrags beleuchten die Darstellung der Auseinandersetzung von 1402 bis 1404 in der jüngeren Forschungsliteratur. Hieran schließt sich eine Analyse der Schilderungen historischer Schriftquellen an. Diese wird abgeschlossen mit der Einordnung der vorgestellten Problematik im Werk des Presbyter Bremensis und der Rolle der Prozessakten von 2 Johann Adolfi, genannt Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen, 2 Bde., hg. von Friedrich Christoph Dahlmann, Kiel ²1978, hier Bd. 2, S. 239: „Unnd alß under andern den Ditmerschen uperlecht, dat se dat Holtlin, de Hamme genant, sollen umme houwen, hebben wi bewilliget unnd nagegeven, dat Wolt Reimers unnd Johann Reimers, denen dat Holtlin erfflich thosteit, dat ummegehouwen holt an sick nhemen, datsulve vorkopen unnd alß mit ehrem egenen Gudt darmit handelen unnd geberen mögen, ohne unse edder Jemantz anders Vorhinderinge.“ 3 Andreas Ludwig Jakob Michelsen, Bericht eines Augenzeugen über die Eroberung Dithmarschen’s, in: Archiv für Staats- und Kirchengeschichte der Herzogthümer Schleswig, Holstein, Lauenburg 3 (1837), S. 339–372, hier S. 367. 4 Albert Panten (Hg.), Ergänzungen aus den Jahren 1402 bis 1480 zum Urkundenbuch zur Geschichte des Landes Dithmarschen von Andreas Ludwig Jacob Michelsen (1834), Heide 2012. 5 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, hg. von Ludwig Weiland, in: MGH SS 21, Hannover 1869, S. 251–306.

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1447/48 in diesen Zusammenhang. Im zweiten Teil des Beitrags wird der Verlauf der militärischen Auseinandersetzung zur Schaffung einer Forschungsgrundlage mithilfe der erweiterten Quellenbasis rekonstruiert. Aufgrund des hier gegebenen beschränkten Umfanges können verschiedene Fragestellungen an die Rekonstruktion nur angerissen werden oder müssen ganz ausbleiben. Hierunter fallen beispielsweise die Betrachtung und Einordnung der Rolle der Marienburg und der Tielenburg oder auch die Untersuchung der unterschiedlichen geographisch-politischen Darstellungshorizonte des Landes Dithmarschen in verschiedenen Quellen.6

2. Die Darstellung der Ereignisse von 1402 bis 1404 in der jüngeren Fachliteratur Die Geschehnisse zwischen Holsteinern und Dithmarschern in den Jahren von 1402 bis 1404 werden in der jüngeren Forschungsliteratur wie folgt zusammengefasst: Nach der Schlichtung durch den Adel Schleswigs und Holsteins und der weitgehenden Beilegung der Interessenkonflikte der holsteinischen Grafenbrüder Herzog Gerhard II. (als Graf von Holstein: Gerhard VI.), Albrecht II. und Heinrich III. befanden sich die Schauenburger im Jahr 1402 in einer machtpolitisch sehr günstigen Ausgangslage. Im selben Jahr unternahm Herzog Erich von Sachsen-Lauenburg, der Schwiegervater Graf Albrechts, einen überraschenden Raubzug nach Dithmarschen. Hierdurch seien die Holstengrafen in diese Auseinandersetzung beziehungsweise Fehde hineingezogen worden – wobei die Literatur das genaue Warum nicht ausführt. 1403 zogen Herzog Gerhard und Graf Albrecht schließlich selbst mit einem Heer nach Dithmarschen und errichteten die Marienburg bei Dellbrück.7 Es wird aufgrund der Errichtung der Burg vermutet, dass das Motiv hierbei der Wille zur Eroberung des Landes war. Noch im selben Jahr starb Graf Albrecht II. in Dithmarschen durch einen Sturz vom Pferd. Hieran sollen sich Verhandlungen zwischen Herzog Gerhard und den Dithmarschern angeschlossen haben. Letztere boten dem Herzog eine hohe Einmalzahlung an, um ihn von seinem Plan der Landeseroberung abzubringen. Dieser forderte jedoch nicht weniger als die Unterwerfung Dithmarschens und jährliche Tributzahlungen, woraufhin die Verhandlungen scheiterten. Gleichzeitig oder danach kam es zu vergeblichen Versuchen der Dithmarscher, die Marienburg einzunehmen. Im Jahr 1404 fiel Herzog Gerhard erneut in Dithmarschen ein und plünderte im Nordwesten des Landes, wobei er reiche Beute machte. Sein Rückweg sollte ihn durch die Süderhamme führen, „ein dichtes, un6 Zur Untersuchung dieser und weiterer Untersuchungsaspekte sei auf das Dissertationsprojekt des Autors hingewiesen: Jens Boye Volquartz, Im Spannungsfeld zwischen herrschaftlichem Zugriff und bäuerlicher Selbstbestimmung? Spätmittelalterliche Burgen in Nordfriesland und Dithmarschen, Diss. masch., Kiel (in Vorb.). 7 Graf Heinrich III. nahm nicht teil, da er bereits seit dem Vorjahr das Amt des Elekten von Osnabrück bekleidete. Vgl. zu ihm Bernd-Ulrich Hergemöller, Heinrich von Schleswig und Holstein († 1421), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 531 f.

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übersichtliches Waldstück“8, in dem er mit seinen Truppen in einen Hinterhalt der Dithmarscher geriet, den Erich Hoffmann anhand des Berichts des Presbyter Bremensis näher schildert. In der Schlacht am Abend des 4. August 1404 fielen Herzog Gerhard sowie 300 Ritter und Knechte. Durch einen Geiselhandel, bei dem die Dithmarscher Gefangene aus der Schlacht in der Süderhamme einsetzten, wurde die Marienburg von den Holsten übergeben und zerstört. In der Folge kehrte der Elekt von Osnabrück, Graf Heinrich III., nach Holstein zurück, was zu Konflikten innerhalb der schauenburgischen Dynastie führte, hier jedoch nicht weiter von Interesse ist. Nach Beilegung der ersten Auseinandersetzungen schlossen das Haus Schauenburg und die Dithmarscher miteinander Frieden.9

3. Die Darstellung der Ereignisse von 1402 bis 1404 in ausgewählten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen Entgegen der Darstellung in der jüngeren Forschungsliteratur ergibt sich aus den im frühen 15. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen historischen Schriften in vielen Aspekten kein eindeutiges Bild der Geschehnisse zwischen Dithmarschern und Holsteinern in den Jahren von 1402 bis 1404. Bevor jedoch die Ergebnisse der diesem Beitrag zugrunde liegenden qualitativen, synoptischen Quellenstudie veranschaulicht werden, erfolgt eine Darstellung der ausgewählten Quellen. Bei diesen handelt es sich um 20 chronikalische Werke, die zwischen 1400 und 1652 entstanden sind, sowie die Klage- und Beschwerdeschriften mit den zugehörigen Antworten zwischen den Dithmarschern und den Holsteinern aus den Jahren 1402 und 1447/48, die den erzählenden Quellen gegenübergestellt werden. Bei sieben der thematisierten Chroniken handelt es sich um Werke, die den hier untersuchten Ereignissen nur wenig Beachtung schenken und sie daher nur knapp, oft nur mit einem Satz behandeln. Gemeinsam ist fünf dieser sieben, dass sie trotz der geringen Datennennung das Jahr 1404 und auch den Oswaldustag, den 4. August, als Zeitpunkt der Geschehnisse anführen. Die geographische Verortung der Autoren wie auch die Entstehungszeit erscheinen für den Umfang der Wiedergabe wenig ausschlaggebend. So findet in Hermanns von Lerbeck in Minden geschriebenem Chronicon comitum Schawenburgensium (Entstehungszeit: ca. 1350– 8 Erich Hoffmann, Spätmittelalter und Reformationszeit (Geschichte Schleswig-Holsteins 4,2), Neumünster 1990, S. 228. 9 Ebd., S. 228 f.; überraschend kurz behandelt bei Enno Bünz und Nis Rudolf Nissen, Dithmarschen im Mittelalter (vom 8. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts), in: Geschichte Dithmarschens. Von den Anfängen bis zum Ende der Bauernrepublik, hg. von Verein für Dithmarscher Landeskunde e. V. (Geschichte Dithmarschens 1), Heide 2015, S. 99–130, hier S. 117–119; ebenfalls kurz bei Walther Lammers, Die Schlacht bei Hemmingstedt. Freies Bauerntum und Fürstenmacht im Nordseeraum. Eine Studie zur Sozial-, Verfassungs- und Wehrgeschichte des Spätmittelalters, Heide ²1982, S. 124–126; o. V., Exkurse. Dithmarschen bis zur Eroberung durch die Landesherren im Jahre 1559, in: Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. von Carsten Porskrog Rasmussen u. a., Neumünster 2008, S. 429 f., hier S. 429.

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ca. 1410) lediglich der Totschlag des Herzogs von Schleswig sowie 360 Bewaffneter durch die Dithmarscher Erwähnung, wobei auffällt, dass Gerhard II. trotz seiner Zugehörigkeit zum Haus Schauenburg bei diesem Ereignis nicht namentlich genannt wird.10 Die Reimchronik der Bischöfe von Osnabrück (Entstehungszeit: 1455–1480) behandelt den Tod der Brüder Heinrichs III. in Dithmarschen als Grund für dessen Rückkehr nach Holstein zwei Jahre nach seinem Amtsantritt, lässt allerdings den Oswaldustag und alles Weitere aus.11 Das geographisch nahebei entstandene Chronicon Eiderostadense vulgare (Entstehungszeit: um 1482) berichtet, ähnlich wie Hermann von Lerbeck, ebenfalls nur vom Totschlag an „Eddele Förste Hartich Gert tho Holsten unde tho Sleßwyk“ und seiner Mannschaft im Lande Dithmarschen, wobei die Angabe der Täter fehlt beziehungsweise auf diese in Form der geographischen Nennung ein Hinweis enthalten ist.12 In Bernd Gyseke’s Hamburger Chronik (Entstehungszeit: um 1540) sind zwar die Dithmarscher als Totschläger genannt und auch die „Hamme“ als Ort des Geschehens, doch wird das Opfer nur als „de here van Holsten“ bezeichnet.13 Im Auszug der Wendischen Chronik (Eyn kort vttoch der Wendeschen cronicon van etliken scheften disser lande vnde stede; Entstehungszeit: 16. Jahrhundert, nach 1530) wird Gerhard II. zwar als Herzog „van Holsten“ bezeichnet, doch werden die Hamme als Ort des Geschehens, die Dithmarscher und neben dem Herzog auch „gude manne, ritteren vnde knechten“ als Erschlagene genannt.14 Sehr ähnlich liest sich auch der ein Satz lange Bericht der Hamburger Chro10 Hermann von Lerbeck, Cronica comecie Holtsacie et in Schouwenbergh, hg. von Sascha Hohlt, Kiel 2012, S. 137: „Im Jahre des Herrn 1404, gerade am Tag des hl. Bekenners Dominikus, erschlugen die Dithmarscher den Herzog von Schleswig mit 360 Bewaffneten.“ Zur Entstehungszeit vgl. Joachim Stüben, Regionalgeschichte und Heilsgeschehen in Holstein und Schleswig. Beobachtungen zum Geschichtsbild des Presbyter Bremensis, in: 900 Jahre Schauenburger im Norden. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Oliver Auge und Detlev Kraack (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 121; zeit + geschichte 30), Kiel/Hamburg 2015, S. 235–300, hier S. 258. 11 Reimchronik osnabrückischer Bischöfe, in: Mittheilungen des historischen Vereins zu Osnabrück 7 (1864), S. 1–22, hier S. 15: „Mer do he twe yaer regere/ Hadde, bleuen van strijdes noet/ In dethmasch zine bröder doet.“ Zur Entstehungszeit vgl.: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Reimchronik der Bischöfe von Osnabrück, http://www.geschichtsquellen. de/werk/4141 (15.4.2020). 12 Chronicon Eiderostadense vulgare oder die gemeine Eiderstedtische Chronik 1103‒1547, hg. von Johannes Jasper, St. Peter-Ording ²1977, S. 34: „In düsseme 1404 jare in S. Oswaldus dage wart geslagen in Dithmarschen Lande de Eddele Förste Hartich (Herzog) Gert (Gerhard) tho Holsten unde tho Sleßwyk mit velheit siner manschup.“ Zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. 9. 13 Bernd Gyseke’s Chronik von 810–1542, in: Hamburgische Chroniken in niedersächsischer Sprache, hg. von Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1861, S. 1–192, S. 34: „Anno Domini 1404 do wort de here van Holsten van den Ditmerschen in der Hamme vorslagen, in die Oswaldi.“ Zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. XLVf. 14 Ein kort vttoch der Wendeschen Cronicon von 801–1535, in: Hamburgische Chroniken in niedersächsischer Sprache, hg. von Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1861, S. 229–299, S. 242: „Item anno 1404 vp sunte Oßwaldus dach wart hertich Gert van Holsten geslagen in der Hamme van den Dytmerschen myt velen siner gude manne, ritteren vnde knechten. [Item anno 1404 do wart hertich Gert van Holsten geslagen yn der Hamme up sunte Oßwaldus dach mit velen ritteren vnde knechten dorch de Dytmerschen. 3. Aehnlich 6 mit dem

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nik von 799–1559 (Entstehungszeit: 1559).15 Den umfangreichsten der Kurzberichte liefert Adam Tratziger mit seiner Chronica der Stadt Hamburg (Entstehungszeit: 1557),16 wobei sich etwa die Hälfte davon auf die Nachfolgesituation der Holsteiner Grafen bezieht. Zwar entfallen bei ihm der Oswaldustag als Datierung und die Hamme als Ort des Geschehens, doch erwähnt er sowohl den Sturz Albrechts II. vom Pferd, den er irrtümlich auch in das Jahr 1404 verlegt, als auch den Totschlag Gerhards II. und der ihn begleitenden Adeligen. Zwar verschaffen diese kurzen Berichte dem Leser einen Eindruck davon, welche wesentlichen Informationen den Schreibern des gleichen wie des folgenden Jahrhunderts vorlagen, doch geben sie ein nur ungenügendes Bild der historischen Geschehnisse. Einen wesentlich detaillierteren Einblick in die Ereignisse rund um die dithmarsisch-holsteinischen Auseinandersetzungen von 1402 bis 1404 ermöglicht die im Folgenden vorzustellende Auswahl von Quellen aus der Zeit zwischen dem frühen 15. Jahrhundert und 1652. Die Quellen können hierbei in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die erste Gruppe enthält die älteren Quellen, worunter im Rahmen der hier getroffen Zusammenstellung diejenigen fünf fallen, die vor dem Werk des Presbyter Bremensis entstanden sind. Hierzu gehören die Chronica Bremensis (Entstehungszeit: um 1400–um 1430),17 die Detmar-Chronik (zweite Fortsetzung; Ent-

Zusatze: Unde is dit de erste schlachtinge mit den Holsten.]“ Der Teil in den eckigen Klammern ist so in der Edition enthalten, also keine Einfügung durch den Autor des vorliegenden Beitrags. Zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. XXXVIIIf.: „Dieser Auszug eines Zeitbuches […] scheint […] unmittelbar aus verschiedenen Chroniken zusammengetragen. […] Die Anfänge […] sind gewiß schon in das fünfzehnte Jahrhundert, vielleicht schon in dessen erstes Viertel zu setzen […]. Doch sind die vorhandenen Handschriften alle nicht vor dem Jahre 1530 geschrieben.“ 15 Hamburger Chronik von 799–1559, in: Hamburgische Chroniken in niedersächsischer Sprache, hg. von Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1861, S. 377–478, S. 402: „Anno 1404 wart hartych Gert de erste to Holsten yn der Hamen van den Dytmersken myt synen ruteren vnd knechten geslagen am auende Oßwaldi.“ Zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. LIII. 16 Tratziger’s Chronica der Stadt Hamburg, hg. von Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1865, S. 122: „Anno 404 versucheten sich herzog Gerhart von Schleswig und graf Albrecht zu Holstein an den Ditmarschen, aber der ausgang des kriegs war auf der Holsteinischen seiten ungluklich. Den graf Albrecht fiel mit einem pferde so gefehrlich hart, daß er kurzlich darnach starb. Und herzog Gerhart wurt mit seinem furnemsten adel umbgebracht. […] Diz ist der herzogen von Holstein andere unglukliche schlacht wider die Ditmarschen.“ Zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. XXXIII. 17 Die Bremer Chronik von Rinesberch, Schene und Hemeling. Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Bremen, hg. von der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 37), Bremen 1968 (im Folgenden zitiert als: Rinesberch/Schene, Chronica), § 523, S. 184 (im Quellenanhang: S. 150 f.). Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes werden die zum Thema maßgeblichen Quellen nach dem Quellenverzeichnis im Anhang des vorliegenden Beitrags zitiert. Zur Entstehungszeit der Chronik vgl. Klaus Wriedt, Rinesberch, Gerd, in: Verfasserlexikon (VL) 8 (1978), Sp. 378 f.; Ders., Schene, Herbord, in: VL 8 (1978), Sp. 639–641.

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stehungszeit: 1399–1419),18 die Chronica Novella (Entstehungszeit: 1416–1438),19 die Rufus-Chronik (Entstehungszeit: um 1400–um 1430)20 und Lübecker Ratschronik (Entstehungszeit: um 1438–1500).21 Die zweite Gruppe ist die der jüngeren Quellen, die sowohl das Chronicon Holtzatiae (Entstehungszeit: 1448)22 als auch die folgenden sieben beinhaltet: die Chronik der nortelvischen Sassen, der Ditmarschen, Stormarn unde Holsten (Entstehungszeit: um 1483/86),23 die Chronica oder Zeitbuch der Lande zu Holsten Stormarn, Ditmarschen vnd Wagern (Entstehungszeit: um 1531),24 die Chronica der Stadt Bremen (Entstehungszeit: 1554–1582),25 Heinrich 18 VI. Zweite Fortsetzung der Detmar-Chronik von 1400‒1413, hg. von Karl Koppmann, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Lübeck, Bd. 2, hg. von der historischen Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 26), Leipzig 1899, S. 119–176, hier § 1130, S. 144 f. (im Quellenanhang: S. 151); zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. 120; Thomas Sandfuchs, Detmar von Lübeck, in: VL 2 (1978), Sp. 68 f. 19 Hermann Korner, Chronica Novella, hg. von Jakob Schwalm, Göttingen 1895, § 1164 (774), S. 100, 366 f. und 547 (im Quellenanhang: S. 151 f.); zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. V–VIII; Katharina Colberg, Korner, Hermann OP, in: VL (1978), Sp. 317–320, hier Sp. 317 f.; Stüben, Regionalgeschichte, S. 243. Hier verwendet werden die drei Fassungen (A und a, D und B sowie die niederdeutsche Fassung E) nach der Ausgabe von Schwalm von 1895. Zur deren genauerer Beschreibung vgl. Colberg, Korner, Sp. 318–320; Korner, Chronica Novella, S. X– XVI. Da die enthaltenen Informationen zu den Ereignissen von 1402 bis 1404 kaum variieren, werden sie hier als eine Quelle gezählt. 20 XVI. Der sogenannten Rufus-Chronik zweiter Theil von 1395–1403, hg. von Karl Koppmann, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Lübeck, Bd. 3, hg. von der historischen Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 3), Leipzig 1902, S. 1–342, hier § 1164, S. 32 (im Quellenanhang: S. 152); zur Entstehungszeit vgl. Klaus Wriedt, Rufus-Chronik, in: VL 8 (1978), Sp. 378 f. 21 XVII. Dritte Fortsetzung der Detmar-Chronik erster Theil von 1401‒1438, hg. von Karl Koppmann, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Lübeck, Bd. 3, hg. von der historischen Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 28), Leipzig 1902, S. 343–442, hier § 1164, S. 357 f. (im Quellenanhang: S. 152 f.); zur Entstehungszeit vgl. Harald Parigger, Lübecker Ratschronik von 1401–1482, in: VL 5 (1978), Sp. 932–935, hier Sp. 932 f. Obwohl Teile der Chronik vermutlich nach dem Chronicon Holtzatiae geschrieben wurden, wird sie in die erste Gruppe eingeordnet, da der erste Verfasser, der Ratsherr Johann Hertze, für den Beginn der Chronik (1401–1438), „offenbar eine unbekannte lat. Rezension der ‚Cronica novella‘ des Hermann Korner benutzt“ hat (ebd., S. 933), wodurch sie auch stilistisch in die erste Gruppe passt. 22 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, cap. 29 und 31, S. 286–290 (im Quellenanhang: S. 153–156); zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. 251; Stüben, Regionalgeschichte, S. 235. 23 Die Chronik der nordelbischen Sassen, hg. von Johann Martin Lappenberg (Quellensammlung der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für vaterländische Geschichte 3), Kiel 1865 (im Folgenden zitiert als: Sassenchronik), a. 1398, 1401, 1403 und 1404, S. 101–112 (im Quellenanhang: S. 156–158); zur Entstehungszeit vgl. Klaus Wriedt, Chronik der nortel­vischen Sassen, der Ditmarschen, Stormarn unde Holsten, in: VL 1 (1978), Sp. 1251. 24 Johann Petersen, Chronica oder Zeitbuch der Lande zu Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Wagrien, hg. von Ernst Christian Kruse, Altona 1827, S. 105–109 (cv–cix) (im Quellenanhang: S. 158–162); zur Entstehungszeit vgl. ebd., Titelblatt. 25 Johann Renner, Chronica der Stadt Bremen, Tl. 1, hg. von Lieselotte Klink, Bremen 1995, a. 1404, S. 335–337 (im Quellenanhang: S. 162 f.); zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. IX.

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Rantzaus Belli Dithmarsici (Entstehungszeit: 1570),26 Neocorus’ Chronik des Landes Dithmarschen (Entstehungszeit: um 1598),27 Cyriakus Spangenbergs Schauemburgische Chronik (Entstehungszeit: 1614)28 und die Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein (Entstehungszeit: 1652).29 3.1 Auswahl historischer Quellen vor dem Chronicon Holtzatiae (vor 1448) Die erste Quellengruppe zeichnet sich trotz der zeitlichen Nähe zu den historischen Geschehnissen durch eine überraschend oberflächliche Behandlung und irreführende Informationen aus. Hinsichtlich der zeitlichen Darstellung bündeln alle fünf Werke die Ereignisse der drei Jahre 1402 bis 1404 auf den 4. August 1404, wodurch der Eindruck entsteht, die ganze Auseinandersetzung habe sich innerhalb dieses Tages, teilweise in den nächsten hineinreichend abgespielt. Unerwähnt bleiben die Begebenheiten vom Beginn der Auseinandersetzung durch Erich IV. von Sachsen-Lauenburg bis zum Scheitern der Verhandlungen nach dem Tode Albrechts II. Auch fällt auf, dass diese Quellen den Dominikustag zur Datierung und nur die Chronica Bremensis sowie die Fassung A der Chronica Novella bereits neben diesem auch den darauffolgenden Oswaldustag verwenden. Zwar erwähnen die Chronica Bremensis und die Detmar-Chronik, dass zuvor die Marienburg gebaut und nach der Schlacht in der Hamme zerstört worden sei, jedoch nennen sie nicht den Kontext der Erbauung und bringen die Anlage somit nicht direkt mit diesem Feldzug in Verbindung.30 Bezüglich der Protagonisten der Unternehmung überraschen die Quellen der ersten Gruppe durch sehr uneinheitliche Berichte und offensichtliche Fehlinformationen. In der geographisch entfernteren Chronica Bremensis deutet der Autor seine teilweise Unkenntnis bereits an, wenn als Anführer des Zuges „Aleff van Sleeswick unde ein greve van Holsten“, der namentlich nicht genannt wird be26 Heinrich Rantzau, Belli Dithmarsici vera descriptio. Wahre Beschreibung des Dithmarscher Krieges, hg. von Fritz Felgentreu (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 86), Schleswig 2009, S. 74–78 (im Quellenanhang: S. 163–166); zur Entstehungszeit vgl. ebd., S. 11. 27 Neocorus, Chronik 1, S. 378–388 (im Quellenanhang: S. 166–171); zur Entstehungszeit vgl. Angela Lüdtke, Zur Chronik des Landes Dithmarschen von Johann Adolph Köster, gen. Neocorus. Eine historiographische Analyse, Heide 1992, S. 13. 28 Cyriakus Spangenberg, Chronicon […] der […] Graffen zu Holstein Schaümbürgk, Stadthagen 1614, lib. 3, cap. 32, und lib. 4., cap. 2, S. 152–154 und 173–176 (im Quellenanhang: S. 172–175); zur Entstehungszeit vgl. ebd., Titelblatt. 29 Caspar Danckwerth und Johannes Mejer, Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein […], Husum 1652, S. 297 (im Quellenanhang: S. 176 f.); zur Entstehungszeit vgl. ebd., Titelblatt. 30 Rinesberch/Schene, Chronica, S. 150 f.: „[…] dat de Holsten dat nige slot Marienborch wolden dale nemen, dat se dar vor dat landt kortliken mit groten kosten gebuwet hadden […].“ Detmar-­Chronik, S. 151: „dat de starke berchvrede, de vor ere lant was gebuwet, scholde weder neder werden gebraken […].“

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ziehungsweise dem Autor scheinbar nicht bekannt war, angegeben werden.31 Die Benennung eines „Adolf von Schleswig“ überrascht, da es erst mit Adolf I. (1401– 1459; als Graf von Holstein und Stormarn: Adolf VIII.) im Jahr 1427 einen Herzog dieses Namens gab und neben ihm für eine Verwechslung höchstens Graf Adolf VII. von Holstein-Plön († 1390) infrage käme, dem 1375 die Haseldorfer Marsch vom Erzbistum Bremen verpfändet wurde und der so in den Blick des Bremer Chronisten gekommen sein könnte.32 Was hinsichtlich eines Schreibers aus Bremen noch nachvollziehbar erscheint, irritiert bei den nordelbischen Quellen umso mehr. In der Detmar-Chronik werden nur „de hertoghe van Sleswick“ und „siner manne, guder Holsten, by veer hunderden“ genannt.33 Sowohl den Namen des Herzogs, die Erwähnung des Holstengrafen als auch die Erklärung, warum dem Herzog von Schleswig Männer aus Holstein folgen, bleibt der Autor schuldig. Die Chronica Novella, die Rufus-Chronik und die Lübecker Ratschronik lassen einen Herzog Erik von Schleswig die Unternehmung anführen, wobei die erst- und die letztgenannte Quelle noch die Grafen Albrecht und Nicolaus von Holstein nennen. Hier scheint eine Verwechslung mit Erich IV. von Sachsen-Lauenburg vorzuliegen. Woher die Schreiber einen Grafen Nicolaus nehmen und wieso die Nennung Gerhards II. vollständig entfällt, bleibt unklar. Die Mannstärke des Heerzuges geben die drei Quellen mit 500 Bewaffneten an, also mit 100 Männern mehr als nach der Detmar-Chronik, wobei die niederdeutsche Ausgabe der Chronica Novella entgegen den beiden lateinischen hierzu keine Angaben macht. Im Hinblick auf den Ablauf gleichen sich die Quellen insofern, als sie von einem Einfall der Holsteiner in Dithmarschen und einer anschließenden Schlacht sprechen. Die Motivation der Protagonisten hierzu bleibt weitgehend im Dunkeln: In allen Quellen der ersten Gruppe ist die Rede von Brandschatzungen und Plünderungen im Rahmen eines Raubzuges, der vom Herzog von Schleswig angeführt wurde, jedoch fehlt die Nennung des Anlasses. Nur die Detmar-Chronik spricht davon, es sei darum gegangen, „dat land to wynnende“.34 Aber wie sollte dies mit der geringen Zahl von 400 Mann gelingen?35 Dieselbe Quelle fällt dann auch durch ihre Kürze und stark abweichende Darstellung der Kampfhandlungen aus dem Rahmen. Die Passage liest sich so, als habe eine Feldschlacht zwischen den 400 Holstei31 Rinesberch/Schene, Chronica, S. 150: „[…] do reisede de hertoge Aleff van Sleeswick unde ein greve van Holsten mit groter mancraft to vote unde to perde in dat landt to Detmerschen […].“ 32 Vgl. Helge Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie. Stammtafeln der Grafen von Holstein und Schaumburg – auch Herzöge von Schleswig – bis zu ihrem Aussterben 1640 (Schaumburger Studien 14), Melle ²1999, S. 59; Detlev Kraack, Die frühen Schauenburger als Grafen von Holstein und Stormarn (12.–14. Jahrhundert), in: Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. von Carsten Porskrog Rasmussen u. a., Neumünster 2008, S. 28–51, hier S. 50 f. 33 Detmar-Chronik, S. 151. 34 Ebd.: „[…] do besammelde de hertoghe van Sleswick siner manne, guder Holsten, by veer hunderden, unde toch in Dethmerschen, dat land to wynnende.“ 35 Ebd.

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nern und weniger als 100 Dithmarschern stattgefunden, die letztere für sich hätten entscheiden können.36 Hinsichtlich der Mannstärke findet sich in der Chronica Bremensis erst bei den Gefallenenangaben eine Erwähnung von „druttein ritteren unde wol mit sevedehalff hundert mannen“,37 während die Chronica Novella – außer in der niederdeutschen Ausgabe, die keine Angabe enthält –, die Rufus-Chronik und die Lübecker Ratschronik die Truppe mit 500 Mann angeben.38 Auffällig an der Chronica Bremensis ist allerdings, dass sie das Abbrennen einer Mühle durch die herzoglichen Ritter erwähnt, was den Rückzug verzögert und den Dithmarschern Zeit verschafft habe, sich in der Hamme zu sammeln.39 Diese Passage findet sich ansonsten erst in den Quellen der zweiten Gruppe wieder. Außer der Detmar-Chronik stellen sämtliche Quellen – nicht bloß die der ersten Gruppe – die entscheidende Schlacht als Hinterhalt in der (Süder-)Hamme dar. Mehr oder weniger detailreich verläuft die Beschreibung so, dass der Herzog mit seinen Truppen Dithmarschen nach den erfolgten Raubzügen durch die Hamme, einen engen Weg durch ein von Sümpfen umgebenes Waldstück, habe verlassen wollen. Zu beiden Seiten des Weges seien dann die Dithmarscher mit langen Speeren aufgetaucht, hätten die Pferde niedergestochen, dadurch ein Durcheinander verursacht, die Holsteiner eingekesselt und den Herzog sowie große Teile des Heerzuges erschlagen. Die Chronica Bremensis und die Detmar-Chronik berichten noch von der Gefangennahme zweier Ritter beziehungsweise „dre, de ze nehmen vanghen“ durch die Dithmarscher, im Austausch gegen deren Freilassung dann die Zerstörung der Marienburg erzwungen wurde.40 Die Chronica Novella, die Rufus-Chronik und die Lübecker Rats­chronik enthalten diese Episode nicht, legen jedoch – außer in der Fassung A und a der Chronica Novella – Wert darauf zu erwähnen, dass die Körper der erschlagenen Feinde von den Dithmarschern auf dem Schlachtfeld zurück und den Tieren zum Verzehr überlassen worden seien, wovon nur der Leichnam des Herzogs ausgenommen war. Die niederdeutsche Fassung der Chronica Novella sowie die Rufus-Chronik heben noch die ehrenvolle Beisetzung

36 Ebd.: „Se [die Holsteiner] hadden kume twe dorp eder dre ghewunnen, de Detmerschen quemen en enjeghen; der weren nicht hundert; unde sloghen den hertoghen mit al sinem volke dot […].“ 37 Rinesberch/Schene, Chronica, S. 150. 38 Korner, Chronica Novella, S. 151: „quingentis militibus et militaribus“ (Fassung A und a), „quingentis armatis“ (Fassung D und B); Lübecker Ratschronik, S. 153: „vyf hundert ghewapent“; Rufus-Chronik, S. 152: „vifhundert wapent“. 39 Rinesberch/Schene, Chronica, S. 150: „[…] desse wile weren des hertogen rittere ein deel over ener molen beworen, de wolden se bernen. hir moste de hertoge na holden jo mit deme ganczen here to peerde; underdes so quemen de Detmerschen uppe de landtwere.“ 40 Ebd.: „[…] unde twe rittere weren hir enboven, de nemen se vangen, unde wolden de qwijt wesen mit deme live, so mosten se sick des jo vormechtigen, dat de Holsten dat nige slot Marienborch wolden dale nemen […].“ Detmar-Chronik, S. 151: „unde sloghen den hertoghen mit al sinem volke dot, ane dre, de ze nemen vanghen; dar se mede vorworven, dat de starke berchvrede, de vor ere lant was gebuwet, scholde weder neder werden gebraken; dat schach dor der vangen losinghe willen.“

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Henneke Lembeks in Meldorf hervor.41 Dass die Dithmarscher zum Gedenken an den Sieg jährlich den Dominikustag feiern, ist allen Ausgaben der Chronica Novella sowie der Lübecker Rats­chronik eine Erwähnung wert.42 Zusammenfassend kann für die erste Quellengruppe der Eindruck festgehalten werden, dass die Chronica Bremensis hinsichtlich der abgesetzten Informationslage und der fehlenden Rezeption in der ersten Quellengruppe isoliert steht. Ihr Verfasser fällt einerseits durch die Unkenntnis der beteiligten Adligen auf, andererseits aber durch Detailwissen, das anderen Autoren zu diesen Ereignissen zu fehlen scheint und erst in der zweiten Quellengruppe wieder auftaucht. Die Detmar-Chronik sticht durch ihren kurzen und bezüglich der Schlachtdarstellung abweichenden Bericht hervor und steht dadurch abgesetzt von allen anderen der hier behandelten Quellen. Die Chronica Novella, die Rufus-Chronik und die Lübecker Ratschronik enthalten sehr ähnliche Informationen, die aber von den zuvor genannten beiden Werken abweichen und andere Schwerpunkte setzen. Daher können sie einem anderen, aber in sich relativ geschlossenen Rezeptionsstrang zugerechnet werden. 3.2 Der Einfluss des Chronicon Holtzatiae auf die Quellen nach 1448 Mit dem Chronicon Holtzatiae änderte sich die Darstellung der Ereignisse von 1402 bis 1404 in späteren chronikalischen Quellen, wie sie hier als Auswahl in der zweiten Gruppe erfasst sind. Sie stehen zwar in einem größeren zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen als die erste Gruppe, unterscheiden sich aber von ihrer Vorgängerabteilung am auffälligsten durch die Ausführlichkeit ihrer Berichte. Außerdem weisen sie eine wesentlich größere Einheitlichkeit auf als die Quellen vor 1448 und berichten von mehrjährigen Ereignissen anstelle der vorherigen Darstellung einer längstenfalls wenige Tage andauernden Unternehmung. Der Kreis der Akteure auf der Invasorenseite ist deutlich präzisiert und wird als aus Herzog Erich (benannt als Herzog von Sachsen, Sachsen-Lauenburg oder Niedersachsen),43 Graf Albrecht

41 Korner, Chronica Novella, S. 152: „Men vor Henniken Lembeken wart so sere gebeden umme syner duchticheit willen, dat he begraven wart to Meldorpe in der Prediker closter.“ RufusChronik, S. 152: „ok wart Henneke Lembeke myt groter bede begraven to den predikeren in deme wicbelde to Meldorpe.“ 42 Korner, Chronica Novella, S. 151 f.; Lübecker Ratschronik, S. 153. 43 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 153: „Ericus, dux Saxonie“; Sassenchronik, S. 156: „hertoge uan Sassen uan Louenburgh“; Petersen, Chronica, S. 158: „Hertzog Erich zu Sachsen“; Renner, Chronica, S. 162: „hertoch, Erick van Sassen“; Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 74: „Ericus Saxoniae dux“; Neocorus, Chronik 1, S. 166: „Erich, de Hertoch tho Sassen“; Spangenberg, Cronicon, lib. 3, cap. 32, S. 152 (i. d. gedruckten Ausgabe): „Hertzogen Erichs zu Sachsen vnd Engern auff Lawnburg“; Mejer/Danckwerth, Landesbeschreibung, S. 176: „Hertzog Erich zu Niedersachsen“.

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von Holstein und Herzog Gerhard (benannt als Herzog von Schleswig oder Holstein)44 bestehend angegeben. Zu Analysezwecken wurden die Schilderungen der chronikalischen Berichte in folgende Episoden eingeteilt, die sich von ihrer Grundstruktur an den Schilderungen des Chronicon Holtzatiae zu orientieren scheinen: Einfall Erichs IV. in Dithmarschen, Verhandlungen zwischen Holsteinern und Dithmarschern, Einfall der Holstengrafen in Dithmarschen, Bau der Marienburg, Eroberung Meldorfs, Einfall und Tod Albrechts II. in Dithmarschen, erneute Verhandlungen zwischen Holsteinern und Dithmarschern, Angriff beziehungsweise Angriffe der Dithmarscher auf die Marienburg, Einfall Gerhards II. in Dithmarschen und Schlacht in der Süderhamme, Geiselnahme und -handel sowie Schleifen der Marienburg nach der Schlacht. Diese Episoden finden sich alle in den späteren Quellen wieder. Festzuhalten sind nur die folgenden beiden Ausnahmen: Die beiden Verhandlungsschilderungen gibt es nicht in der Sassenchronik, Geiselnahme und -handel sowie Schleifen der Marienburg fehlen in der Chronica der Stadt Bremen. Hinsichtlich der Datierung findet sich nur beim Presbyter Bremensis die Datierung der Geschehnisse auf die Jahre 1402, 1403 und 1404.45 Hiervon weicht die Sassenchronik mit der Angabe der Jahre 1398, 1401, 1403 und 1404 am gravierendsten ab.46 Die Chronica der Stadt Bremen und Heinrich Rantzau lassen die Ereignisse innerhalb des Jahres 1404 geschehen, während die Chronica des Landes zu Holsten, die Chronik Dithmarschens, Spangenberg und die Newe Landesbeschreibung die Begebenheiten noch auf die Jahre 1403 und 1404 beschränken.47 Außer diesen Ausnahmen enthalten zwar nicht alle der sieben Folgewerke exakt diese Reihenfolge der Ereigniskette, die der Presbyter Bremensis präsentiert, doch bilden sie deren Grundstruktur in unterschiedlicher Ausführlichkeit und unter Hinzufügen oder Auslassen von Detailschilderungen, aber ohne wesentliche Widersprüche ab. Aufgrund dieser hohen Homogenität der Schilderungen erscheint ein detaillierter Vergleich der Quelleninhalte, im Gegensatz zur ersten Gruppe, für die Thematik des vorliegenden Beitrags als wenig erkenntnisbringend. Von größerem Interesse ist vielmehr, warum gerade mit dem Chronicon Holtzatiae ein solcher Umbruch in der Überlieferung stattfand. Dem Autor des Werkes, der sich selbst als „presbiter Bremensis dyocesis“ bezeichnet, vermutlich aus der Wilstermarsch stammte und ein sehr negatives Bild von den Dithmarschern hatte,48 allerdings dem Hause Holstein-Rendsburg nahe stand und dessen Angehörigen 44 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, c. 29, S. 286: „dux Gheradus Sleszwiccensis“; Sassenchronik, S. 157: „hertoch Gert uan Holsten“; Petersen, Chronica, S. 159: „Hertzogen Gerhard“; Renner, Chronica, S. 162: „hertogen Gerde van Slesewick“; Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 74: „Gerhardo Slesvici duce“; Neocorus, Chronik 1, S. 166: „Hertog van Schleßwik“; Spangenberg, Cronicon, S. 172: „Hertzog Gerhardten zu Schlesßwig“; Mejer/Danckwerth, Landesbeschreibung, S. 176: „Hertzog Gerhard zu Schleßwich“. 45 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 153–155. 46 Sassenchronik, S. 156 f. 47 Mejer/Danckwerth, Landesbeschreibung, S. 176 f. 48 Vgl. Stüben, Regionalgeschichte, S. 236 f. und 261 f. Zur Selbstbezeichnung Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, cap. 15, S. 262: „[…] presbiter Bremensis dyocesis, huius patrie scriba […].“

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geradezu idealisierte,49 wird „diplomatisches Material […] von Berufs wegen zugänglich gewesen sein.“50 Einige Indizien, die hier noch näher behandelt werden, legen nahe, dass er für seinen Bericht zum Konflikt zwischen den Rendsburger Holstengrafen und den Dithmarschern auf dieses Material zurückgreifen konnte. Hierunter fallen wohl auch die Prozessakten von 1447/48 der „juristisch-politischen[n] Auseinandersetzung Adolfs VIII. mit den Dithmarschern. Sie hatte gegenseitige Schadensersatzforderungen und strittige Rechtstitel zum Inhalt und zog sich bis zum Itzehoer Vergleich von 1456 hin.“51 Bei den Klageschriften und deren Erwiderungen handelt es sich ohne ein verifizierendes Urteil um recht unzuverlässiges Quellenmaterial. Daher werden für die vorliegende Betrachtung nur die Textteile verwendet, die Rückschlüsse auf die Militäraktionen beider Seiten (Angaben zu Datum, Ort und Akteuren) zulassen, wozu in der Hauptsache die Schadensersatzforderungen dienen, oder die der Presbyter vermeintlich für seinen Bericht zugrunde gelegt hat, was im Wesentlichen die juristisch-politischen Ausführungen anbelangt. Darüber hinaus findet hier keine Auswertung der Prozessakten sowie des Zustandekommens der Kompromisse zwischen Dithmarschern und Holsteinern statt.52 Die von Dithmarscher Seite beklagten Schädigungen setzen sich in der Regel aus folgenden Elementen zusammen: Kläger beziehungsweise Geschädigter, Herkunftsort mit Kirchspiel, Jahres- und oft auch genaue Datumsangabe, Täter, gegebenenfalls abweichender Ort der Schädigung, Art der Schädigung und Tathergang sowie Höhe der Schadensersatzforderung. Die Antworten Herzog Adolfs I. von Schleswig (als Graf von Holstein: Adolf VIII.) greifen die einzelnen Vorwürfe der Dithmarscher auf, wobei die Reihenfolge variieren kann und die herzogliche Antwort meist aus der abweisenden Verweigerung einer Aussage besteht. Im Text um die einzelnen Klagepunkte herum ist im Wesentlichen die politische Auseinandersetzung zwischen beiden Parteien zu finden, die sich hauptsächlich um gegenseitige Verträge und deren (Nicht-)Einhaltung dreht.53 49 Vgl. Jan Habermann, Spätmittelalterlicher Niederadel im Raum nördlich der Elbe. Soziale Verflechtungen, Fehdepraxis und Führungsanspruch regionaler Machtgruppen in Südholstein und Stormarn (1259 bis 1421) (Verherrschaftungen in Reich, Raum und Regionen 1), Kiel 2014, S. 327; Stüben, Regionalgeschichte, S. 285–290. 50 Stüben, Regionalgeschichte, S. 242. An selbiger Stelle geht Stüben auf diesen Umstand ausführlicher ein. 51 Ebd., S. 245. 52 Vgl. hierzu beispielsweise Neocorus, Chronik 1, S. 637–642. 53 Die für die vorliegende Betrachtung wesentlichen Abschnitte der Quellen finden sich in der Klageschrift der Dithmarscher vom 19. April 1447, in der herzoglichen Klageschrift vom 20. Juli 1447 gegen die Dithmarscher, in der Antwort des Herzogs vom 31. Oktober 1447 auf die genannte Klageschrift der Dithmarscher, in der Antwort der Dithmarscher vom 5. November 1447 auf die herzogliche Klageschrift vom 20. Juli 1447 und in der Rückantwort des Herzogs vom 28. Januar 1448. Vgl. dazu im Einzelnen Panten, Ergänzungen, S. 23–33, 44, 70–77, 91–93 und 104 f. Die Akten finden sich auch im Urkundenbuch zur Geschichte des Landes Dithmarschen, hg. von Andreas Ludwig Jacob Michelsen, Altona 1834, hier Nr. 29, S. 35–58. Da sie dort jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge der Ausfertigungsdaten und unvollständig erfasst sind, wird hier nur nach Panten, Ergänzungen, zitiert.

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Wie aus der Klageschrift der Dithmarscher vom 19. April 1447 und deren Antwort vom 5. November 1447 hervorgeht, fand der Einfall Erichs IV. am 16. Mai 1402 statt und zielte auf die Dörfer Tensbüttel und Röst (Abb. 2).54 Zwar liegt auch die Antwort Herzog Gerhards II. und Graf Albrechts II. vom 29. November 1402 auf eine nicht überlieferte Klageschrift der Dithmarscher vor,55 doch findet der Überfall Erichs IV. hier keine Erwähnung. Möglicherweise wurde die nicht überlieferte Klageschrift der Dithmarscher, die sich auf die Taten von „Gerhard und Albert und deren Ritter, Knechte und Untersaßen“ des späten 14. Jahrhunderts bezieht,56 vor den Geschehnissen des 16. Mai 1402 abgefasst und zugestellt, sodass keine Stellungnahme hierzu eingefordert wurde. Da die Grafenbrüder augenscheinlich von sich aus keine Veranlassung sahen, die Thematik anzusprechen, findet sie sich nicht in ihrer Antwort wieder. Allerdings lassen sich anhand der in den fünf Quellen der Prozessakten aufgeführten Sachverhalte nach dem Überfall Erichs IV. mindestens acht Züge der Holsten nach Dithmarschen zwischen dem 24. Mai 1402 und dem 5. August 1404 identifizieren (Abb. 2–5).57 Von diesen nennt der Presbyter Bremensis im Einzelnen nur vier.58 Möglicherweise deutet er die übrigen vier Züge aber an, indem er von den Bedrängungen der Dithmarscher durch die Burgen Hanerau, Schwabstedt und Tielenburg schreibt.59 Jedoch scheint er seine Schilderungen der Fehde und deren Verlauf nicht auf die Schadensersatzforderungen der Klageakten zu stützen, da die dortigen Angaben in weiten Teilen nicht mit seinen Erzählungen zusammenpassen – worauf hier im Einzelnen weiter unten noch eingegangen wird. Auch die Schilderungen des Presbyters zu den Verhandlungen zwischen Holsteinern und Dithmarschern nach dem Überfall Erichs IV. auf die Dörfer Tensbüttel und 54 Panten, Ergänzungen, S. 23: „Item claget Hebbeken Hans up deme dorpe to Tentzebüttel [heute: Tensbüttel] beleghen in dem kerspel to Aluerstorppe, wo in dem jare vnses Heren also men screff na siner bort XIIIIC in deme anderen jare desse sülue Hertige van Louwenborgh qwam in datsülue dorp Tentzebüttel, des dingesdages to pinxten, vor der Sunnen vpgange […]. […] Item claghen Otto Holste vnde Peter Sirick vnde Laurencius mit ereme meneme burschuppe to Rissede beleghen in demsüluen kerspele, wo desse süluige Hertige van Louwenborch in düssem sulven jare vnd vp dessen süluen dach, alse des dingesdages to pinxten, […].“ Ebd., S. 92: „Na der bort Christe MCCC in dem anderen jare qwam de Hertoge van Lowenborch mid siner hülpe des dinxdages to pinxten vor der sunne upgange vientliker wiis an veligeme vrede der dat land to Holsten. […] vnde brande vp en dorp, geheten Tensebüttel, vnde nam mede wech ossen, zoige, perde, allent wat dar was, vnentsecht vnde sunder jenigerleie vorwarninge, vnde sloch darmede wech to Bramstede, dar he benachtede.“ 55 Panten, Ergänzungen, S. 16–22. Die Klageschrift der Dithmarscher ist nicht mehr vorhanden (vgl. ebd., S. 11), weshalb nur aus der Antwort der Holstenbrüder auf sie geschlossen werden kann. 56 Ebd., S. 11. 57 Vgl. ebd., S. 23–32 und 70–77. Über diese acht Züge hinaus liegen Klagen vor, bei denen nur das Jahr und der Ort aufgeführt sind, sodass sie keinen konkreten militärischen Aktionen zugeordnet werden können. Hierauf wird im vorliegenden Beitrag im Abschnitt 4.2 ausführlicher eingegangen. 58 Gemeint sind der Zug Erichs IV. 1402, der gemeinsame Zug Gerhards II. und Albrechts II. 1403 und die jeweiligen alleinigen Züge Albrechts II. 1403 sowie Gerhards II. 1404. 59 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154.

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Röst scheinen in Teilen eher die herzogliche Position in den Prozessakten wiederzugeben als sich mit historischen Ereignissen auseinandersetzen zu wollen. Anlass zu dieser Annahme gibt sein eigenwillig verzerrt wirkender Bericht. Die Diskrepanz zwischen der Sachlage der Prozessakten und dem Chronicon Holtzatiae beginnt schon bei den Adressaten der dithmarsischen Klagen. So heißt es beim Presbyter, die Dithmarscher hätten ihre Klage über Graf Albrecht II. dem Herzog Gerhard II., dem Erzbischof von Bremen und den Räten Hamburgs und Lübecks wie auch weiteren vorgebracht.60 In den vorliegenden Prozessakten klagen die Dithmarscher jedoch stets beide Brüder an. In der holsteinischen Erwiderung von 1402 werden hierzu die Bürgermeister und Räte Hamburgs und Lübecks sowie die „Bedderuen Mannen“ der Holsten als Schiedsrichter benannt.61 Die Klageschriften aus dem Jahr 1447 richteten die Dithmarscher gegen Herzog Adolf I., wobei ihnen wie auch der herzoglichen Partei der Dompropst Hamburgs und die Bürgermeister sowie Räte Lübecks und Hamburgs als Schiedsleute für einen Kompromiss dienen sollten.62 Der Presbyter beschreibt dies am Schluss seiner Wiedergabe der Verhandlungen wie folgt: Als die Dithmarscher erkannt hätten, dass sie Graf Albrecht II. zu Unrecht beklagt hätten, hätten sie die Städte Lübeck und Hamburg sowie weitere darum gebeten, den Grafenbrüdern mitzuteilen, sie wünschten Frieden, hätten sich durch ihre Schreiben versündigt und begehrten einen Schiedsspruch durch ehrenvolle Leute.63 Ein solches Eingeständnis, unbegründet Klage erhoben zu haben, findet sich in keinem der Schreiben der Dithmarscher von 1447. Weitere Abweichungen finden sich im Chronicon Holtzatiae bei der Wiedergabe des Streitgegenstands. So berichtet der Presbyter, die Dithmarscher hätten beklagt, der Herzog von Lauenburg sei durch das Territorium Albrechts II. gezogen, was der Graf gestattet habe und wodurch er sich zum Komplizen der Herzogs gemacht habe, und hätten daher um Kompensation für entstandenen Schaden gebeten. Dies entspricht soweit auch der Darstellung der Forderungen von Dithmarscher Seite in den Prozessakten. Allerdings unterschlägt der Presbyter die darüber hinausgehenden Anklagen gegen die Grafenbrüder. Insbesondere der Vorwurf fehlt, Albrecht II. habe seinem Schwiegervater in Bramstedt Unterkunft gewährt und mit ihm die Beute geteilt.64 Auch der beklagte Überfall des Grafen auf zahlreiche Dörfer der Kirchspiele Albersdorf und Tellingstedt am 24. Mai 1402 (Abb. 2), acht Tage nach dem Überfall seines Schwiegervaters, wird im Chronicon Holtzatiae nicht er60 61 62 63

Ebd., S. 153. Vgl. Panten, Ergänzungen, S. 22. Vgl. ebd., S. 23, 42, 69, 90 und 101. Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 153: „Ditmartici, audita comitis Alberti innocencia, penitencia tacti, per consules ciuitatum Lubicensis et Hamburgensis et ceterorum, ut dicitur, pacem requirebant, addentes, si in aliquot per scripta sua peccauerunt, uellent emendare arbitrio bonorum virorum.“ 64 Den Quellenstellen geht jeweils die Schilderung des Überfalls auf Tensbüttel voraus. Panten, Ergänzungen, S. 23: „[…] vnde dreuen dat mede in dat land to Holsten to Bramstede, vnd büteden vnde parteden dat mit Greuen Alberde to ereme besten.“ Ebd., S. 92: „[…] vnde sloch darmede wech to Bramstede, dar he benachtede.“

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wähnt.65 Es erscheint recht unwahrscheinlich, dass die vom Presbyter beschriebene Verhandlung zwischen dem 16. und 24. Mai 1402 stattgefunden hat, weshalb insbesondere letzterer Sachverhalt nicht angesprochen worden wäre. Die Vermutung wird auch dadurch gestützt, dass der Presbyter in seiner Wiedergabe auf die Verhandlungen den gemeinsamen Zug der Holstengrafen folgen lässt, in dessen Rahmen auch die Marienburg errichtet wurde und der anhand der Sassenchronik – nicht unkritisch – auf den 15. August 1403 datiert werden kann (Abb. 4).66 Darüber hinaus scheint sich die Schilderung des Presbyters an der holsteinischen Haltung in den Verhandlungen, besonders an eine Passage aus den Replicationes des Herzogs von 1448 anstatt an realen Geschehnissen, anzulehnen.67 Dies wird augenscheinlich, da die Formulierung der Dithmarscher im Chronicon Holtzatiae, Graf Albrecht II. habe „contra Deum et iusticiam“ gehandelt, sich auch in der angesprochenen Antwort Adolfs I. wiederfindet, allerdings gegen beide Brüder gerichtet: „[…] scholen hebben dan iegen god vnde recht etc.“ Des Weiteren scheinen die Worte Albrechts II., man stamme von ehrenwerten Vorfahren ab, denen man immer treu gedient habe („allegans honorem parentum fuisse, semper servasse fidem“), die der Autor ihm in dem Mund legt, ihre Vorlage in Herzog Adolfs I. Verweis zu finden, man sei von Ehre, dem Recht verpflichtet („wo wij van ere vnde rechte plegende synd“) und von den Dithmarscher Unterstellungen sei sein gesamtes Geschlecht betroffen („al vnse slechte, heren vnde ffursten baren vnde vngebaren“). Letzterer Punkt dient auch zur Herleitung einer Betroffenheit Adolfs I., der sich offensichtlich persönlich beleidigt fühlte. Auch für die Aussage des Grafen im Chronicon Holtzatiae, die Dithmarscher seien unglaubwürdig, was zu Bestürzung geführt habe („et quod iam a Ditmarciis fedei fractores dici deberent, esset conturbatus“), scheint dem Presbyter die Aussage des Herzogs als Vorlage gedient zu haben. Letzterer schreibt, die Vorwürfe der Dithmarscher seien für ihn beschwerlich und lästig zu hören („Dat is uns swar vnde moielik to horende“), und 65 Siehe im vorliegenden Beitrag Abschnitt 4.2. 66 Sassenchronik, S. 157: „Des anderen jares darna, alse me schref MCCCCIII, do reet hertoch Gert uan Holsten, Iseren Hinrikes sone, myt alle siner macht in Ditmerschen in unser leuen urouwen dage der krudwyginge [Anm. 2: Maria Himmelfahrt. August 15.] […].“ 67 Panten, Ergänzungen, S. 104 f.: „De suluen Ditmerschen scriuen vnder anderen worden, vnse selige vader hertogh Gherd vnde vedder greue Alberd scholen hebben dan iegen god vnde recht etc. Dat is uns swar vnde moielik to horende vnde dencken dat vorantworden vnde vorantworden dat iegenwardich wo wij van ere vnde rechte plegende synd, dat se vnseme seligen vader vnde vedderen dat to vnrechte ouversegghen. Vnde na deme de Ditmerschen vnse ghelik nicht synd vnde nicht allene anroret vns, men al vnse slechte, heren vnde ffursten baren vnde vngebaren, begheren wij dat gij vns vorantworden, vnde dar neghest lijk vnde wandel voreschicken, wente gij vnde en jewelik vrame man kennet vnde wet wol we vnse selige vader vnde vedder weren, dar de Ditmerschen also nu to vnrechte upp scriuen, ok wet me wat lude de Ditmerschen syn, de vns lichte menen uth to halende mid eren ouerdadigen worden, alße se by vorne vnse voreuaren, vadere vnde vedderen vnde vns mid werken, daet vnde worden vakene vnde vele, der gelik dan vnde uthehalet hebben, vnde dat vor antworden wy nu tor tijd furder nicht, men wy setten dat by juwe wisheit int recht to erkennende vnde to vorschedende, vor hopen vns gij willen na vorscreuene wyse vns, vnde den des mede to komet dar wol ane besorgen, so sick behoret etc.“

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wiederholt stellt er fest, jene seien im Unrecht („to vnrechte“). Die stetig erneuerte Feststellung der unwahren Aussagen der Dithmarscher aus der genannten Passage der Replicationes, aber auch der herzoglichen Antworten der Jahre 1447 und 1448 insgesamt, vor allem hinsichtlich der beiden Vorfahren, gibt das Chronicon Holtzatiae wieder, indem es Herzog Gerhard II. und Graf Albrecht II. den Dithmarschern zurückschreiben lässt, dass deren Klagen nicht wahr gewesen seien, es auch nun nicht seien und man ihnen zudem wegen ihrer Erdichtung des Vorgenannten sofort misstraue („tam dux et comes rescripserunt, talia per Ditmarticos querelata fuisse et esse non vera et Ditmarticos propter ficmenta predicta statim diffidabant“). Auf zwei sachlich offensichtlich falsche Wiedergaben des Presbyters sei außerdem noch eingegangen, die für dessen eigenwillige Verzerrung sprechen. So heißt es zum einen im Chronicon Holtzatiae, die Holstengrafen gäben an, vom Zug des Herzogs von Sachen-Lauenburg nichts gewusst zu haben.68 Vielmehr antwortete Herzog Adolf I. am 31. Oktober 1447, dass sein Oheim, der Herzog von Sachsen, den Dithmarschern Schaden beigebracht habe, den sie aber bei jenem zu beklagen hätten, was daher nicht von ihm oder seinen Vorfahren zu beantworten gewesen sei, zumal jenes Tun nicht vom Willen der Vorfahren Adolfs I. abhängig gewesen sei. Zu Unrecht würden sie außerdem Graf Albrecht II. beschuldigen, er habe mit seinem Schwiegervater die Beute in Bramstedt geteilt.69 Die Unschuld der Holstenbrüder am Zuge Erichs IV. wird in demselben Schreiben noch einmal wiederholt. Allerdings werden eigene Züge der Holsteiner zugegeben, wobei man damit im Recht gewesen sei, da die Dithmarscher den Frieden gebrochen hätten und durch Raubzüge in Stapelholm sowie in den Kirchspielen Schenefeld, Hademarschen und Wilster ein Eingreifen der Holsten provoziert worden und nötig geworden sei.70 Zum anderen schreibt der Presbyter über den im Jahre 1402 etwa 35-jährigen und seit 16 Jahren als Herzog regierenden Gerhard II. und den möglicherweise etwa 33-jährigen und seit 18 Jahren als Graf regierenden Albrecht II.,71 die beiden Landesherren seien 68 Vgl. Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 153. 69 Panten, Ergänzungen, S. 69: „Heft in den tiden alse se [die Dithmarscher] scriuen, vnse ohem van Sassen en schaden bybracht, dar hebben se billiken vmme to schuldighende, eft se mid rechte möghen, de van syner vnde der sinen weghen darto antworden schölen, vnde nicht vnse voreuaren edder vns, went he mid den synen in den tiden vmme vnser voreuaren vnde der vnsen willen noch doen edder laten wolde, vnde vnse vndersate vnde lande sülves rouede vnde brande. Se betigen ok vnsen vedderen Greue Alberde to vnrechte, dat he mid eme bütet vnde partet hebbe to Bramstede.“ 70 Vgl. ebd., S. 70 f.: „Dar antworden wij [Adolf I.] aldus to, […] dat se [die Dithmarscher] by tyden vnde leuende vnses seligen vaders vnde vedderen vorscreuen, bynnen oldeme vorsegelden vnde vorplichteden vrede vnde gudem gelouen vnentsecht, vnde erer ere vnvorwaret vnser lande vndersaten, vnde inwonere anlangheden, myd roue, brande, doetslage, wundingher, morde, vnde totaste, alße vnde vndersaten in deme Stappelholme, in den kerspelen Scheneuelde, Hademersche, Wilster etc. Myd deme ereme homode vnde egenem vnrechten sulffgerichte, hebbet se vnsen selighen vader vnde sinen broder vnsen vedderen to krige vnde orloge enghet.“ 71 Zu den biographischen Daten Gerhards II. vgl. Wieden, Schaumburgische Genealogie, S. 76; Kraack, Schauenburger, S. 51; Ders., Personen- und Ortsregister, in: 900 Jahre Schauenburger im Norden. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Oliver Auge und Detlev Kraack (Quellen und

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jung und unerfahren gewesen („Isti principes fuerunt iuvenes inexperti“). Daher sei es den „consiliarii, potentes, diuites, elati et ambiciosi“ möglich gewesen, sie zu dem verhängnisvollen Feldzug gegen die Dithmarscher zu drängen.72 Was könnte – in Annahme seines besseren Wissens – das Motiv des Presbyters gewesen sein, die dargestellten Geschehnisse derart zu verzerren, sogar sachlich falsch in seinem Chronicon Holtzatiae wiederzugeben und den in den Prozessakten 1447 und 1448 verhandelten Konflikt in die Zeit zwischen 1402 und 1403 zu verlegen, der schließlich zum Einmarsch der Holsten in das Land Dithmarschen geführt haben soll? Stüben behandelt die „‚implizite Historik‘ des Chronisten, d. h. seine Art der Geschichtsdarstellung“.73 Er zeigt in diesem Kontext unter anderem auf, „dass der Presbyter dem Hause der Linie Holstein-Rendsburg sehr eng verbunden“74 gewesen sei, aber auch, dass der Umstand, „dass die ‚Dithmarscher Frage‘ 1448 noch ungeklärt war, […] als zusätzliches realpolitisches Motiv zum Abfassen des Chronicon Holtzatiae gewertet werden“75 müsse. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, dass der Chronist den Zug der Holsteiner nach Dithmarschen moralisch rechtfertigen wollte, indem er die Auseinandersetzung, die zur Abfassungszeit der Chronik aktuell war, in das Jahr 1402 übertrug. Um nun aber die Holstenbrüder teilweise aus dieser Kriegsverantwortung zu ziehen und ihre Herrschaft weiter zu idealisieren,76 schreibt er „den Beratern der [Anm.: vermeintlich] jungen und unerfahrenen schauenburgischen Herrscher eine Mitverantwortung für die Niederlage, den Tod ihrer Herrscher und die politische Folgen zu […].“77 Da die nachfolgenden Schreiber, hier bis 1652 behandelt, die Darstellung des Chronicon Holtzatiae unkritisch rezipierten, wurde auch das eigenwillige Bild des Presbyters weitergetragen und verstetigt.

72

73 74 75 76 77

Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 121; zeit + geschichte 30), Kiel/Hamburg 2015, S. 401‒438, hier S. 413. Zu den biographischen Daten Albrechts II. vgl. Wieden, Schaumburgische Genealogie, S. 77; Kraack, Schauenburger, S. 51; Ders., Personen- und Ortsregister, S. 404. Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154. Diese Darstellung des Chronisten wird auch in der Literatur ohne Hinweis auf das tatsächliche Alter und die Erfahrung der beiden Brüder verwendet. Vgl. bspw. Habermann, Niederadel, S. 327; Stüben, Regionalgeschichte, S. 275. Stüben, Regionalgeschichte, S. 241. Ebd., S. 285. Ebd., S. 291. Zum Herrscherbild des Presbyter Bremensis vgl. Habermann, Niederadel, S. 327; Stüben, Regionalgeschichte, S. 285–290. Stüben, Regionalgeschichte, S. 275.

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4. Rekonstruktion der militärischen Auseinandersetzung von 1402 bis 1404 Nachdem die verzerrte Wiedergabe des Konfliktbeginns durch den Presbyter beleuchtet wurde, wird nun der Verlauf des militärischen Konflikts anhand der Prozessakten und chronikalischen Quellen rekonstruiert. 4.1 Gründe des Einfalls Herzog Erichs IV. von Sachsen-Lauenburg in Dithmarschen Fast keine der Quellen nennt einen Grund für den Einfall Erichs IV. in Dithmarschen im Mai 1402 (Abb. 2). Zwar heißt es in der Chronica des Landes zu Holsten, der Chronica der Stadt Bremen, der Chronik des Landes Dithmarschen und bei Spangenberg, dass der Herzog von Lauenburg mit den Dithmarschern im Streit gelegen habe und deswegen in ihr Land eingefallen sei,78 ein Motiv wird jedoch nicht angegeben. Konkreter wird im vorliegenden Quellenmaterial lediglich die Newe Landesbeschreibung. Hier heißt es: „Dan/ als Anno 1403. Hertzog Erich zu Niedersachsen den Ditmarschern Feindschafft übete (so ohnzweifel/ von wegen des Landes zu Hadelen oder dessen Einwohnern/ Hertzog Erichs Untertahnen/ sich angesponnen) […].“79 Die Annahme von Danckwerth und Mejer lässt sich anhand der sonstigen Schriftquellen allerdings nicht bestätigen und erscheint vor dem Hintergrund der fehlenden Erwähnung einer Rezeptionsgrundlage sowie des großen zeitlichen Abstandes wenig glaubhaft. In der Literatur findet der Grund für den Einfall nur in der Chronik des Landes Dithmarschen (1833) ohne Nennung von Quellen Beachtung.80 Insgesamt kann der Grund für den Einfall Herzog Erichs IV. daher nicht geklärt werden.

78 Petersen, Chronica, S. 158: „Im Jar 1403. hat Hertzog Erich zu Sachsen […] ein zwitracht und widerwillen mit den Ditmarschen gehabt […]“; Renner, Chronica, S. 162: „Anno 1404 hadde hertoch, Erick van Sassen […] einen unwillen wedder de Detmarschen […]“; Neocorus, Chronik 1, S. 166: „It hadde im Jahre nha Christi Gebortt 1404 Erich, de Hertoch tho Sassen […] einen Unwillen wedder de Ditmerschen […]“; Spangenberg, Cronicon, S. 172: „Anno 1403. hatt itzgedachter Hertzog Erich eine Zweitracht/ vnnd wiederwillen mit denn Diethmarsen gehabt.“ 79 Danckwerth/Mejer, Landesbeschreibung, S. 176. In der Sassenchronik, S. 156, ist zwar die Rede davon, der Herzog „hade doch den Ditmerschen nicht entsecht, unde ok nene uorwarninge dan“, was man als „entsagt“ übersetzen und als einen nicht fallengelassenen Herrschaftsanspruch deuten könnte, doch meint die Passage vielmehr, dass es keine Kriegserklärung gab, was im Kontext zum letzten Satzteil über die ausgebliebene Vorwarnung steht. 80 Jakob Hanssen und Heinrich Wolf, Chronik des Landes Dithmarschen, Hamburg 1833, S. 264 f.: „Unter dem Vorwande, wegen einer geringfügigen Streitigkeit, welche die Dithm. mit den Einwohnern im Lande Hadeln gehabt, Rache üben zu wollen, rückte Erich in die Südergeest ein und führte reiche Beute in sein Land.“ Hier scheint die Newe Landesbeschreibung zugrunde gelegt worden zu sein.

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4.2 Die Militäraktionen der Holsteiner gegen die Dithmarscher von 1402 bis1404 Da sich nicht eruieren lässt, weshalb Erich IV. am 16. Mai 1402 gegen die Dithmarscher zog, bleibt ebenfalls ungeklärt, ob die Dithmarscher dies durch eine konkrete Aggression provoziert haben. Im Angesicht der zahlreichen gegenseitigen Vorwürfe in den vorliegenden Prozessakten aus den Jahren 1447/48 scheint die Frage, wer den Konflikt begonnen hat, müßig und nicht zu beantworten. Auch wenn die Annahme nahe liegt, dass der Herzog von Lauenburg als Verbündeter der Holsteiner gehandelt haben mag, enthält das vorliegende Quellenmaterial keinen belastbaren Nachweis hierfür. In der Antwort der Dithmarscher vom 5. November 1447 geben diese an, sich aufgrund des Zuges Erichs IV., gefolgt von dem Zug Albrechts II. am 24. Mai 1402, zur Notwehr gezwungen gesehen zu haben. Daher hätten sie 14 Tage nach der Offensive des Grafen, am 8. Juni 1402, einen Fehdebrief übermittelt („veertein dage darna vormiddelsti vnser seggebreue“).81 Somit kann der Beginn dieses Konflikts nach Quellenauskunft am 16. Mai 1402 angesetzt werden. Jedoch scheint der Herzog von Lauenburg direkt danach als Konfliktpartei ausgeschieden zu sein, da er von den Quellen nicht mehr in diesem Zusammenhang genannt wird (Abb. 2). Der Zug Erichs wirft dennoch zahlreiche Fragen auf, die anhand des vorliegenden Quellenmaterials nicht beantwortet und hier aufgrund des begrenzten Umfanges nicht behandelt werden können. Dennoch seien zwei Überlegungen angestellt: Zum einen erscheint es unwahrscheinlich, dass der Herzog und sein Gefolge die Strecke von seinem Herzogtum bis nach Tensbüttel und Röst von geschätzten ca. 110 bis 140 km innerhalb eines Tages zurücklegten.82 Sein Aufenthalt in Bramstedt auf seinem Rückweg wird seitens Herzog Adolfs I. von Schleswig nicht bestritten. Denkbar ist daher, dass Erich IV. auch auf dem Hinweg schon in Bramstedt Station machte, wobei die Strecke zu den Zielorten ohne einen weiteren Halt noch immer als zu lang für einen Zweitagesmarsch erscheint. Wo ein solcher zweiter Stopp stattgefunden haben könnte, ist jedoch aufgrund fehlender Quellen völlige Spekulation. Der lange Weg führt jedoch zu der zweiten Überlegung: Wieso wird ein derart aufwendiger Zug durchgeführt, um lediglich zwei unbedeutende Dörfer Dithmarschens zu überfallen?83 Es fällt auf, dass das Ziel der Aktion die Gegend war, in der ein Jahr danach die Marienburg errichtet werden sollte. Den ungewöhnlich großen Ausmaßen der Turmhügelburg, die noch heute deutlich im 81 Panten, Ergänzungen, S. 92 f. 82 Als Ausgangspunkt für die ca. 115 km wurde hier das Schloss Bergedorf gesetzt, das der Herzog am 13. Juli 1401 von den Lübeckern erhielt. Vgl. Lübeckisches Urkundenbuch, Abt. 1: Urkundenbuch der Stadt Lübeck, Tl. 5, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde (Codex diplomaticus Lubecensis I,5), Lübeck 1877, Nr. 19, S. 24–26 (1401 Juli 13). Für die längere Strecke von ca. 140 km wurde die Stadt Lauenburg als Ausgangspunkt gesetzt. Beides sind Annahmen, die jeglicher Quellengrundlage entbehren. 83 Die Gegebenheiten werfen noch zahlreiche weitere Fragen auf. Aufgrund des beschränkten Umfanges des vorliegenden Beitrags muss auf deren Behandlung hier verzichtet werden.

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Gelände erkennbar sind, steht im Folgejahr eine mutmaßlich relativ kurze Bauzeit gegenüber – dazu noch inmitten einer militärischen Auseinandersetzung in einer umstrittenen Region. Könnte das eigentliche Ziel der Unternehmung Erichs IV. gewesen sein, Vorarbeiten für den Burgenbau anzustellen? Der Überfall auf die beiden nahegelegenen Dörfer könnte dann der Versorgung der Truppe gedient haben und wäre eher als Randerscheinung denn als Ziel des Zuges einzuordnen. Acht Tage nach seinem Schwiegervater, am 24. Mai 1402, fiel Graf Albrecht II. in das nordöstliche Dithmarschen ein und überfiel Orte der Kirchspiele Albersdorf und Tellingstedt, griff aber auch darüber hinaus (Abb. 2).84 Hierbei dürften die Burgen Hanerau und Tielenburg vermutlich als Ausgangsbasen gedient haben. Neben der geographischen Nähe gibt auch das Chronicon Holtzatiae Anlass zu dieser Annahme, wo es – zwar erst für 1403 – heißt, den Dithmarschern sei von den beiden genannten Burgen und Schwabstedt großer Schaden zugefügt worden.85 Die Quellen legen die Vermutung nahe, dass der Raubzug nur von Albrecht II. angeführt wurde, äußern sich aber nicht eindeutig. So heißt es eingangs in der Klageschrift der Dithmarscher vom 19. April 1447 im Singular „de Hochgeborne Fürste Greue Albert Hertich Gerd broder“ habe den Angriff auf Dudelbüttel geführt, während bei den folgenden Punkten die Rede vom Plural „de süluen vorsten“, „de suluen heren“ oder Entsprechungen ist.86 In Herzog Adolfs Antwort vom 31. Oktober 1447 wird der eingangs gewählte Wortlaut der Dithmarscher ebenfalls im Singular wiedergeben („wo de hochgeborene ffurste greue Albrecht, hertogh Gherd brodere“). In der darauffolgenden Erwiderung heißt es dann jedoch, dass beide Brüder die Dithmarscher überfallen hätten („Hebben de vorben. vnse selige vader [Herzog Gerhard II.] vnde vedder myd den eren […] dat ere genomen […]“). Letzteres liest sich recht eindeutig nach durchgehend gemeinsamen Überfällen, jedoch dient diese Erwiderung als Vorlage, mit der auf alle weiteren Punkte der Dithmarscher bezüglich von Raubzügen geantwortet wird, also unabhängig davon, ob beide Brüder beteiligt waren.87 In der Antwort der Dithmarscher vom 5. November 1447 greifen die Absender den Raubzug vom 24. Mai 1402 erneut auf, wobei dieser nur „desse sülue Greue Alberd milder dechtnisse“ angelastet wird.88 Wenn dies auch nicht mit letzter Sicherheit aus den Quellen hervorgeht, so liegen doch Indizien dafür vor, dass die erste 84 In den verschiedenen Prozessakten von 1447/48 werden folgende Orte genannt: + Dudelbüttel, Osterrade, Süderrade, Offenbüttel, Bunsoh, + Nienbüttel, Wennbüttel, Schafstede, + Runstede, Arkebek, Schrum, Albersdorf, Österborstel, + Kodingborstel, Dellstedt, Wrohm, Schelrade, Lendernhude, Westerborstel, Welmbüttel, Gaushorn, Tellingstedt, Glüsing, Wallne, Pahlen, Dörpling, + Ickenmühle, + Hashöved, Norderheistedt und Süderholm. Vgl. Panten, Ergänzungen, S. 24–26, 70–72 und 92 f. Die hier angeführte Reihenfolge entspricht der Nennung in den Quellen; die Namen – soweit möglich – sind in der heutigen Schreibweise wiedergeben. Nach Wolfgang Laur, Historisches Ortsnamenlexikon von Schleswig-Holstein (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 28), Neumünster ²1992; abgegangene oder nicht mehr verwendete Ortsnamen sind mit „+“ gekennzeichnet. 85 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154. 86 Panten, Ergänzungen, S. 24. 87 Ebd., S. 70 f. 88 Ebd., S. 92.

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Offensive der Holsteiner gegen die Dithmarscher von Graf Albrecht II. allein angeführt worden sein könnte. Am 8. Juni 1402, zwei Wochen später, reagierten die Dithmarscher – laut eigener Aussage – auf die beiden Raubzüge gegen sie mit einem Fehdebrief an die Holsteiner.89 Die wiederum unternahmen noch im selben Jahr zwei weitere Offensiven: Um den 29. September, den St. Michaelstag („vmme trent Michaelis“), wurden Delve, Bergewöhrden, Schwienhusen und Hollingstedt von Gerhard II. und Albrecht II. angegriffen, wofür vermutlich Schwabstedt und die Tielenburg als Ausgangspunkt dienten.90 Der folgende Raubzug, der laut der Klageschrift der Dithmarscher vom 19. April 1447 am 1. Oktober 1402, dem St. Remigiustag,91 stattfand und die Region um Hennstedt traf (Abb. 3), wirft einige Fragen auf, da die Klageakten und die chronikalischen Quellen einander widersprechen: Der Presbyter berichtet von einem Zug in der Norderhamme, der aufgrund der geographischen Beschreibung genau auf die in der Klage beschriebene Region passt.92 Bei ihm sind es Herzog und Graf („dux cum comite intrauit terram Ditmarcie in Northamme“), die die Unternehmung anführen. Sie soll kurz vor dem 28. September 1403 stattgefunden haben („Postmodum in brevi […] anno Domini millesimo quadrigentesimo tercio in profesto Michaelis“).93 Die Sassenchronik lässt Albrecht II. allein in Dithmarschen zu einem Angriff auf Meldorf und ohne genauere Datierung im Jahr 1401 („Anno domini MCCCI“) einfallen. Von den Dithmarschern gejagt, fällt er schließlich „in einem Tal“ („in eneme dale“), womit das Broklandsautal gemeint sein könnte.94 Die Chronica des Landes zu Holsten datiert die Ereignisse, ähnlich dem Presbyter, in das Jahr 1403 und berichtet auch von den Fluten der Eider, die die Holsteiner 89 Ebd., S. 93. 90 Ebd., S. 29: „Item claged de vromelude wonaftisch in deme kerkdorpe Delff, wo na der bort vnses heren xiiijc in deme anderen iare vmme trent Michaelis, de erwerdigen vorsten greue Albert vnde hertich Gherd mit den eren […].“ Es folgen die konkreten Schädigungen und die Klagen der anderen Orte. 91 Ebd., S. 28: „Item claged de vromelude wonaftich in deme kerkdorpe Hanstede, wo dusße suluen uorscreuen uorsten greue Albert, hertich Gherd brodere inne iaren vnses heren xiiijC darna in deme andere iare in sunte Remigius dage inn affbrande […].“ Es folgen die konkreten Schädigungen und die Klagen der anderen Orte: Linden, Barkenholm, Norderheistedt, Süderheistedt, Fedderingen, Kleve, + Lammersbol und Wiemerstedt. 92 Der Presbyter berichtet, dass der Ulendam an der Eider gebrochen sei und die Fluten den Bereich zwischen Heide, wo die Dithmarscher gestanden hätten, und der Norderhamme, wo er die Holsteiner verortet, also das Broklandsautal, überschwemmt hätten. Vgl. Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154: „Attamen Deus illa vice respexit Holtzatos, in laqueo positos et conclusos per ventum ualidum, flantem aquas maris ad Egdoram, ita ut agger Vlendam inter Ditmarticos de Heyda et illos de Northamme a vi et inundancia aquarum rumpebatur.“ Entlang der Westkante der Norderhamme, also dem Bereich am östlichen Broklandsautal, ziehen sich die Orte entlang, die den Überfall am 1. Oktober 1402 anklagten. In der Literatur folgt man dieser geographischen Verortung ebenfalls. Abweichend hiervon scheint sich nur Panten, Ergänzungen, S. 12, zu äußern, wonach Graf Albrecht II. bei einem Überfall im Kirchspiel Burg gefallen sei. 93 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154. 94 Sassenchronik, S. 157.

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und Dithmarscher trennten. Hier heißt es aber, dass Graf Albrecht II. „zu Itzeho am Abend Sanct Michaelis/ im Jar 1403“, also dem 29. September, beigesetzt worden sei.95 Spangenberg berichtet dies in gleicher Weise.96 In der Chronica der Stadt Bremen wird ebenfalls von dem Zug und der Flut zwischen der Norderhamme und Heide berichtet, allerdings zum Jahr 1404.97 Heinrich Rantzau lässt die Flut aus und verortet den Zug ebenfalls im Jahr 1404, gibt jedoch kein Datum für den Tod Albrechts II. an, ebenso Neocorus, der jedoch von der Flut in dem Tal zwischen Norder­hamme und Heide zu berichten weiß, und Danckwerth und Mejer, die das Jahr 1403 angeben und die Flut auslassen.98 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle chronikalischen Quellen der Episode des Raubzugs in der Norderhamme als Kontext des Todes Albrechts II. besondere Aufmerksamkeit schenken. Zwar folgt keine von ihnen der Datierung der Klageschrift der Dithmarscher vom 19. April 1447, jedoch entspricht deren Darstellung, außer im Chronicon Holtzatiae, der Graf habe die Unternehmung alleine angeführt, dem, was die Klage nahelegt. Da sich keine andere Militäraktion in der Gegend nachweisen lässt, kann angenommen werden, dass sich die Klage der Dithmarscher und die geschilderte Episode der chronikalischen Quellen auf das gleiche Ereignis beziehen. Allerdings wird dadurch der 28. September 1403 als Todesdatum Graf Albrechts II., wie er gemeinhin, dem Presbyter folgend, angenommen wird,99 infrage gestellt und die bereits widersprüchliche Quellenlage weiter verschärft: Laut der Sassenchronik starb er im Jahr 1401.100 Nach den Prozessakten war es der 1. Oktober 1402.101 Die Chronica des Landes zu Holsten und Spangenberg geben den 29. September 1403 als Tag der Beisetzung an.102 Der Chronica Bremensis, der Chronica Novella, der Lübecker Ratschronik und Adam Tratzigers Chronica der Stadt Hamburg folgend, soll er sogar erst am 4. oder 5. August 1404 in der Süderhamme gefallen sein.103 Aufgrund des Kontextes und der weiteren Schilderungen  95 Petersen, Chronica, S. 159.  96 Spangenberg, Cronicon, S. 173.  97 Renner, Chronica, S. 162 f.  98 Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 165; Neocorus, Chronik 1, S. 168; Mejer/Danckwerth, Landesbeschreibung, S. 176.  99 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154: „Postmodum in brevi obiit, videlicet anno Domini millesimo quadringentesimo tercio in profesto Michaelis et sepultus est in Idzehoe.“ Vgl. bspw. Stüben, Regionalgeschichte, S. 243, Anm. 62; Wieden, Schaumburgische Genealogie, S. 77. 100 Sassenchronik, S. 157. 101 Siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 91. 102 Petersen, Chronica, S. 159; Spangenberg, Cronicon, S. 173. Der 29. September 1403 findet sich auch in Kornelius Hamsfort, Chronologia Rerum Danicarum Secunda Ab Anno Christi DCLXXXVII. Ad Annum MCCCCXLVIII, in: Scriptores rerum Danicarum medii aevi, Bd. 1, hg. von Jacob Langebek, Kopenhagen 1772, S. 266–334, hier a. 1403, S. 319: „Albertus, Comes Holsatiæ, populabundus Dithmarsiam ivadens, lapsu eqvi extingvitur III. Kal. Octobr. Corpus Ithzoi sepelitur.“ Die Quelle wird hier nicht eingeführt oder weiter verwendet, da sie die Ereignisse der Jahre extrem kurz und lediglich stichwortartig wiedergibt. 103 Rinesberch/Schene, Chronica, S. 150 f.; Korner, Chronica Novella, S. 151 f.; Lübecker Rats­ chronik, S. 152 f.; Tratziger, Chronica: siehe im vorliegenden Beitrag Anm. 16.

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der Quellen erscheinen der 1. Oktober 1402 oder der 28. September 1403 jedoch am wahrscheinlichsten.104 Für das Jahr 1402 nennen die Prozessakten weitere Orte, gegen die sich die Raubzüge der Holsteiner richteten und die im Nordwesten des Landes, westlich von Meldorf und ganz im Süden Dithmarschens lagen, sowie die damalige Insel Büsum (Abb. 3).105 Allerdings können diese in keinen konkreten Ablauf gebracht werden, da nur das Jahr, aber keine nähere Datumsangabe genannt wird. Betrachtet man allerdings die geographische und topographische Lage der betroffenen Orte, fallen zwei Dinge deutlich auf: Zum einen liegen die zuletzt genannten Orte alle im Marschengebiet in der Westhälfte Dithmarschens, während die genau datiert klagenden Orte auf der Geest zu verorten sind. Zum anderen entsteht der Eindruck, die Holsteiner hätten sich sichelförmig vom Mai 1402 vom Osten Dithmarschens in den Norden und Nordwesten im September und Oktober vorgearbeitet und seien schließlich mutmaßlich unter Umgehung von Heide, dessen Umgebung sowie der Stadt Meldorf und mit unklarer zeitlicher Dimension durch die Marsch an der Küste entlang bis nach Süden vorgestoßen (Abb. 2 und 3). Die nächsten Aktionen der Holsteiner fanden laut Prozessakten erst im Sommer 1403 statt (Abb. 4). Außer der Sassenchronik, die den 15. August 1403 („in unser leuen urouwen dage der krudwyginge“) als Datum angibt,106 findet sich in den chronikalischen Quellen keine Datierung. Sie berichten, die Holsteiner seien mit einem Heer nach Dithmarschen gezogen, hätten bei Dellbrück die Marienburg errichtet, Meldorf erobert und die Stadt aufgrund der unsicheren Situation wieder verlassen.107 Aus der Zeit um den 15. August finden sich allerdings keine Klagen 104 Ein Gegenargument zu der den Prozessakten folgenden Annahme kann darin gesehen werden, dass die Klagen für die Jahre 1403 und 1404 von Überfällen beider Landesherren schreiben. Aufgrund der diffusen inneren Logik der Klagen, die beispielsweise Albrecht II. teilweise noch wegen Plünderungen im Jahr 1404 beschuldigen, erscheint die Belastbarkeit dieser Quellen sehr kritisch. 105 Panten, Ergänzungen, S. 30–32 und 75–77: Nordwestliche Marsch: Hemme, Neuenkirchen und Wesselburen; westlich von Meldorf: Busenwurth, Elpersbüttel, Thalingburen, Barsfleth, Ketelsbüttel und Epenwöhrden; Süden Dithmarschens: Eddelak, Brunsbüttel und Marne. 106 Sassenchronik, S. 157. Laut Hansen kommt in dem Datum Mariae Himmelfahrt und dem Namen Marienburg die „Marienverehrung der Grafen von Holstein zum Ausdruck […].“ Reimer Hansen, Marienland Dithmarschen, in: Geschichte und Museum. Festschrift für Nis Rudolf Nissen zum 70. Geburtstag, hg. von Silke Göttsch-Elten, Wolf Könenkamp und Kai Detlev Sievers (Kieler Blätter zur Volkskunde 27), Kiel 1995, S. 23–43, hier S. 39; vgl. auch Ders., Die Klöster des Landes Dithmarschen. Einrichtungen für das Heil und zum Schutz der spätmittelalterlichen Bauernrepublik, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten und Nikolas Jaspert, Berlin 1999, S. 563–579, hier S. 570. 107 Die Abfolge der Ereignisse variiert je nach Quelle: Mal wurde erst die Burg errichtet, mal zuerst Meldorf angegriffen. In allen chronikalischen Quellen führen Herzog und Graf den Einfall nach Dithmarschen an. Hiervon weicht nur die Sassenchronik ab, die berichtet, dass 1401 Albrecht II. Meldorf erobert habe und auf dem darauffolgenden Rückzug gefallen sei. Gerhard II. sei daraufhin im Jahr 1403 in Dithmarschen eingefallen, um die Marienburg zu errichten.

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der Stadt in den Prozessakten. Vielmehr klagen die Orte Windbergen, Wolmersdorf und Niendorf, also das östliche und südöstliche Vorland Meldorfs, bereits zum 3. Juni 1403 („vmme trent pinxten“) sowie Orte aus der direkten Umgebung der bereits bestehenden oder noch zu bauenden Burg zum 23. Juni 1403 („vmme trente sunte Johannis middenzomer“) über Raubzüge der Holsteiner.108 Es folgen Klagen aus dem Südosten Dithmarschens zum 29. September 1403 („vmme trente Michaelis dage“), und erst zum 2. Januar 1404 („des negesten dages na Nieniar dage“) beschuldigt die Stadt Meldorf die Holsten, einen Schaden von „hundert dusent marck“ an ihrer Bürgerschaft angerichtet zu haben (Abb. 5).109 Was in den chronikalischen Quellen den Eindruck einer kurzen zusammenhängenden Kampagne im August 1403 ohne sonstige Raubzüge erweckt, stellt sich laut den Prozessakten als eine ab dem Juni 1403 etwa ein halbes Jahr andauernde Unternehmung mit Ausgriffen auf andere Landesteile dar. Zwar scheint der Fokus zum Jahr 1403 von Norder- auf Süderdithmarschen verschoben worden zu sein, doch finden sich in der Klageschrift der Dithmarscher erneut Klagen, die nur das Jahr, aber kein näheres Datum angeben. Laut diesen waren 1403 erneut der Nordwesten Dithmarschens, das westliche Umland Meldorfs und der Süden des Landes betroffen, also der größte Teil der Marsch (Abb. 3).110 Zwischen dem Angriff auf Meldorf und dem verhängnisvollen Feldzug des 5. August 1404 finden sich in den Prozessakten keine konkreten Klagen. Es klagen erneut mit Jahres-, aber ohne Datumsangabe die Orte westlich von Meldorf sowie Eddelak, Brunsbüttel und Marne (Abb. 3).111 Die chronikalischen Quellen berichten ebenfalls von keinen Unternehmungen der Holsteiner mehr, jedoch von Angriffen der Dithmarscher auf die Marienburg. Einer davon ist die gescheiterte Belagerung unter der Führung des „capitaneo Raleff Boykensonsi“, die für den Dithmarscher Anführer mit dessen aufgespießtem Kopf vor der Burg geendet haben soll. Bei Spangenberg heißt es hingegen, die Burgmannschaft hätte „ihrem [der Dithmarscher] Obersten das heupt davor [vor der Burg] abgeschossen“.112 Bezüglich der Ereignisse des 5. August 1404 konzentrieren sich die erzählenden Quellen primär auf die Schilderungen der Schlacht in der Süderhamme. Da diese keine Widersprüche aufweisen, wird der Fokus hier auf die Schilderungen vor diesen Kampfhandlungen gelegt. Der Großteil derselben Quellen berichtet, dass die Holsteiner unter der Führung Gerhards II. durch die Süderhamme in die Marsch 108 Panten, Ergänzungen, S. 31 f. und 76: Meldorfer Vorland: Windbergen, Wolmersdorf und Niendorf; Umgebung der Marienburg: Bargenstedt, Krumstedt, Farnewinkel, Sarzbüttel, Lehrs­ büttel, Odderade und Hopen. 109 Ebd., S. 26 f., 31 und 72 f.: Burg, Süderhastedt, Frestedt und + Bordorf. 110 Ebd., S. 31 f. und 76 f.: Jeweils einzeln klagen Wesselburen, Oldenwurden und Büsum; zusammenhängend klagen einerseits Busenwurth, Elpersbüttel, Thalingburen, Barsfleth, Ketels­ büttel und Epenwöhrden sowie andererseits Eddelak, Brunsbüttel und Marne. 111 Ebd. 112 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 154; Petersen, Chronica, S. 160; Spangenberg, Cronicon, S. 174; Renner, Chronica, S. 162; Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 164 f.; Neocorus, Chronik 1, S. 169.

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eingefallen seien. Danach scheint der Herzog die Stellung an dem Durchgang gehalten zu haben, während unter dem Kommando der Brüder Heinrich und Nikolaus von Ahlefeldt die Kirchspiele Lunden und Weddingstedt geplündert worden sein sollen.113 Dies deckt sich auch in etwa mit den Prozessakten, in denen zum 5. August 1404 („vppe sunte Oswaldus dach“) Orte um Heide herum klagen (Abb. 5).114 Schließlich scheint dem Herzog die Lage zu brenzlig geworden zu sein, weshalb er die Brüder von Ahlefeldt gerufen habe und sich habe zurückziehen wollen. Die Brüder seien dem Befehl nur widerwillig nachgekommen, da insbesondere Heinrich sich habe beweisen und eine Windmühle niederbrennen wollen. Laut der Sassenchronik habe er sich sogar dazu verstiegen, dem Herzog Feigheit zu unterstellen: „Se antworden homodichliken unde smeliken: deme hertogen were ein hasenuel vor den ers gebunden.“115 Schließlich seien die Truppen zurückgekehrt, durch die Hamme gezogen und in den Hinterhalt der Dithmarscher geraten, den Gerhard II. und große Teile seines Heeres nicht überlebten. Nach ihrem Sieg brachten sich die Dithmarscher in den Besitz der Marienburg, indem sie „Wulff Poggewisch iunior et unus Rantzow“,116 die sie lebend zwischen den Erschlagenen auf dem Schlachtfeld gefunden haben sollen, als Geiseln gegen die Burg eintauschten.117 Nach der verheerenden Niederlage für die Holsteiner, dem Verlust der Marienburg und mit dem Friedensschluss vom 20. November 1404 endete diese Auseinandersetzung mit den Dithmarschern.118

5. Zusammenfassung Für die Auseinandersetzung zwischen Dithmarschern und Holsteinern in den Jahren 1402 bis 1404 konnten verschiedene Darstellungsgruppen für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags herausgearbeitet und charakterisiert werden: die jüngere Forschungsliteratur, sieben Chroniken mit relativ kurzer Beachtung der Ereignisse, fünf vor 1448 entstandene Chroniken mit längeren, aber im Verhältnis kurzen Schilderungen, sieben chronikalische Werke aus der Zeit nach 1448 mit den ausführlichsten Schilderungen und zuletzt die Prozessakten von 1447/48 als Quellensammlung ohne bestimmte Tradierungsabsicht. Zwischen der dritten und der vierten Gruppe konnte anhand verschiedener Charakteristika gezeigt werden, 113 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 155; Sassenchronik, S. 157; Petersen, Chronica, S. 160 f.; Spangenberg, Cronicon, S. 174 f.; Renner, Chronica, S. 163; Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 165; Neocorus, Chronik 1, S. 169 f.; Danckwerth/Mejer, Landesbeschreibung, S. 177. 114 Panten, Ergänzungen, S. 27 f. und 73: Weddingstedt, Stelle, Weddinghusen, Wesseln, Borgholz, Ostrohe, Rüsdorf, Heide, Hemmingstedt, Braaken, Lieth, Nehring, Lohe und Rickelshof. 115 Sassenchronik, S. 157. 116 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, S. 156. 117 Ebd.; Sassenchronik, S. 158; Petersen, Chronica, S. 162; Spangenberg, Cronicon, S. 175; Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 165 f.; Neocorus, Chronik 1, S. 171; Danckwerth/Mejer, Landesbeschreibung, S. 177. 118 Urkundenbuch zur Geschichte des Landes Dithmarschen, Nr. 25, S. 30 (1404 Nov. 20).

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dass sich die Überlieferung der historischen Ereignisse durch die Rezeption des Chronicon Holtzatiae deutlich veränderte. Dieser Umbruch lässt sich in der zweiten Gruppe trotz der großen Streuung ihrer Entstehungszeiten nicht nachweisen, was hauptsächlich in den durchweg kurzgehaltenen Darstellungen begründet ist. Hinsichtlich der jüngeren Forschungsliteratur scheint fast ausschließlich die Gruppe der Chroniken nach 1448 herangezogen worden zu sein, was sich deutlich an der Verwendung der gleichen Episoden zeigt, wie sie schon beim Presbyter Bremensis zu finden sind. Hierbei fällt auf, dass auch die nach 2012 erschienene Literatur offensichtlich nicht mit den vervollständigten Prozessakten, wie sie bei Panten abgedruckt sind, gearbeitet hat, sondern nur die lückenhafte Überlieferung bei Michelsen sichtete. Insbesondere für Überblickswerke zur Dithmarscher Geschichte erscheint daher eine Überarbeitung für die Zeit von 1402 bis 1404 dringend geboten. Dass der Presbyter Bremensis in seinem Werk eine gerichtete Überlieferungsabsicht verfolgt, arbeitete Joachim Stüben sehr anschaulich in einem Beitrag von 2015 heraus. Seine Untersuchung sollte hier lediglich um eine Detailbetrachtung erweitert werden. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass der Presbyter seine Schilderung der Ereignisse von 1402 bis 1404 vor allem auf der Haltung Herzog Adolfs I. aufbaute, die dieser in den Prozessakten von 1447/48 vertrat. Anhand dieser Quellen konnte nicht nur die verzerrte Wiedergabe der Militäraktionen der Holsteiner in Dithmarschen wiedergeben werden, auch das Todesdatum Albrechts II. kann in Zweifel gezogen werden. Ebenso fällt deutlich der Versuch auf, die Verantwortung am tödlichen Scheitern der Strategie der Grafenbrüder, die er wider besseres Wissen als jung und unerfahren charakterisiert, auf andere Akteure zu verschieben. Zuletzt wurde das bisherige Bild vom bewaffneten Konflikt zwischen Dithmarschern und Holsteinern überarbeitet, indem in einer synoptischen Quellenanalyse der chronikalischen Quellen die von den Dithmarschern beklagten Militäraktionen der Grafenbrüder gegenübergestellt wurden. Hierbei kann aber nicht deutlich genug auf den unsicheren Wahrheitsgehalt der Prozessakten hingewiesen werden. An die Stelle der sehr oberflächlichen und wenig kleinteiligen Wiedergabe der meisten historischen Schriftquellen sowie der jüngeren Forschungsliteratur vom Vorgehen der Holsteiner tritt das Bild einer in ihren strategischen Einzelaktionen deutlicher nachvollziehbaren Kampagne. Diese begann mit dem Überfall Erichs IV. am 16. Mai 1402 auf die Dörfer Tensbüttel und Röst, auf den folgend Albrecht II. am 24. Mai desselben Jahres einen Zug in den Nordosten Dithmarschens anführte (Abb. 2). Beide Züge beantworteten die Dithmarscher, indem sie den Angreifern am 8. Juni 1402 einen Fehdebrief übersandten. Bis einschließlich zum 5. August 1404 folgten mindestens sieben weitere gut lokalisierbare Raubzüge der Holsteiner sowie eine unklare Anzahl weiterer nur jahres-, aber nicht datumsgenau fassbare Überfälle in jedem der drei Jahre auf die Marsch im Westen des Landes (Abb. 3–5). Hierzu dienten den Invasoren die bereits bestehenden Burgen Hanerau, Tielenburg und Schwabstedt sowie die vermutlich 1403 neu errichtete Marienburg als Stützpunkte. Nach dem Tod Graf Albrechts II. im Jahr 1402 oder 1403 und Herzog Gerhards II. in der Schlacht in der Süderhamme am 4. oder 5. August 1404 und dem folgenden Schleifen der Marienburg fand die Auseinandersetzung im Friedens-

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vertrag vom 20. November 1404 ihr vorläufiges Ende. Trotz allem sollte der vorliegende Beitrag aufgrund des begrenzten Umfangs bestenfalls als Grundlage und Anstoß für Untersuchungen weitergehender Fragestellungen gesehen werden, die sich beispielsweise auf die einzelnen Quellen, deren Rezeptionsstränge, aber auch auf eine Analyse des strategischen Vorgehens oder dessen Einordnung in die zeitgenössische Konfliktführung richten könnten.

Zeitleiste der Ereignisse und Quellen 16. Mai 1402

Erich IV. von Sachen-Lauenburg überfällt die Dörfer Tensbüttel und Röst in Dithmarschen. Hierzu marschiert er durch das Territorium seines Schwiegersohns, Graf Albrechts II. von Holstein-Rendsburg.

24. Mai 1402

Raubzüge der Holsteiner unter Graf Albrecht II. nach + Dudelbüttel, Osterrade, Süderrade, Offenbüttel, Bunsoh, + Nienbüttel, Wennbüttel, Schafstede, + Runstede, Arkebek, Schrum, Albersdorf, Österborstel, + Kodingborstel, Dellstedt, Wrohm, Schelrade, Lendernhude, Westerborstel, Welmbüttel, Gaushorn, Tellingstedt, Glüsing, Wallen, Pahlen, Dörpling, + Ickenmühle, + Hashöved, Norderheistedt und Süderholm

8. Juni 1402

Das Land Dithmarschen übersendet den Holsteinern einen Fehdebrief.

29. September 1402

Raubzüge der Holsteiner nach Delve, Bergewöhrden, Schwienhusen und Hollingstedt

1. Oktober 1402

Raubzüge der Holsteiner nach Hennstedt, Linden, Barkenholm, Norderheistedt, Süderheistedt, Fedderingen, Kleve, + Lammersbol und Wiemerstedt

29. November 1402

Antwort Herzog Gerds zu Schleswig und Graf Alberts, Grafen zu Holstein auf Klagen der Dithmarscher

1402

Undatierte Raubzüge der Holsteiner: Hemme, Nienkerken, Weslingburen/(Olden-)Wöhrden/Busenwurth, Elpersbüttel, Thalingburen, Barsfleth, Ketelsbüttel, Epenwöhrden/Eddelak, Brunsbüttel, Marne/Büsum

3. Juni 1403

Raubzüge der Holsteiner nach Windbergen, Wolmersdorf und Niendorf

23. Juni 1403

Raubzüge der Holsteiner nach Bargenstedt, Krumstedt, Farne­winkel, Sarzbüttel, Lehrsbüttel, Odderade und Hopen

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15. August 1403

Laut den Chroniken: Zug der Holsteiner nach Dithmarschen und Bau der Marienburg; Angriff auf Meldorf und Eroberung der Stadt

29. September 1403

Raubzüge der Holsteiner nach Burg, Süderhastedt, Frestedt und + Bordorf

1403

Undatierte Raubzüge der Holsteiner: Hemme, Nienkerken, Weslingburen/(Olden-)Wöhrden/Busenwurth, Elpersbüttel, Thalingburen, Barsfleth, Ketelsbüttel, Epenwöhrden/Eddelak, Brunsbüttel, Marne/Büsum

2. Januar 1404

Raubzug der Holsteiner nach Meldorf

1404

Undatierte Raubzüge der Holsteiner: Hemme, Nienkerken, Weslingburen/(Olden-)Wöhrden/Busenwurth, Elpersbüttel, Thalingburen, Barsfleth, Ketelsbüttel, Epenwöhrden/Eddelak, Brunsbüttel, Marne/Büsum

4./5. August 1404

Raubzüge der Holsteiner unter Herzog Gerhard II. nach Weddingstedt, Stelle, Weddinghusen, Wesseln, Borgholz, Ostrohe, Rüsdorf, Heide, Hemmingstedt, Braaken, Lieth, Nehring, Lohe und Rickelshof Schlacht in der Süderhamme

ca. 1350 – ca. 1410

Chronicon comitum Schawenburgensium

um 1400–um 1430

Chronica Bremensis

1399–1419

Detmar Chronik (Dritte Fortsetzung)

1416–1438

Chronica Novella

um 1400–1430

Rufus-Chronik

1438–1500

Lübecker Ratschronik

19. April 1447

Die Klageschrift der Dithmarscher

20. Juli 1447

Die Klageschrift gegen die Dithmarscher

31. Oktober 1447

Herzog Adolfs Antwort auf die Klageschrift der Dithmarscher vom 19. April 1447

5. November 1447

Antwort der Dithmarscher auf die Klageschrift Herzog Adolfs vom 20. Juli 1447

28. Januar 1448

Replicationes des Herzogs auf die Antwort der Dithmarscher vom 5. November 1447

1448

Chronicon Holtzatiae

1455–1480

Reimchronik der Bischöfe von Osnabrück

um 1482

Chronicon Eiderostadense vulgare

1483/86

Chronik der nortelvischen Sassen, der Ditmarschen, Stormarn unde Holsten

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um 1531

Chronica oder Zeitbuch der Lande zu Holsten Stormarn, Ditmarschen vnd Wagern

16. Jh., nach 1530

Eyn kort uttoch der Wendeschen cronicon van etliken scheften disser lande vnde stede

um 1540

Bernd Gyseke’s Hamburger Chronik

1554–1582

Chronica der Stadt Bremen

1557

Chronica der Stadt Hamburg

1559

Hamburger Chronik von 799–1559

1570

Belli Dithmarsici

um 1598

Chronik des Landes Dithmarschen

1614

Schauemburgische Chronik

1652

Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein

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Kartenanhang Für die Erstellung der Abbildungen dankt der Verfasser ganz herzlich Dr. Dirk Meier, Wesselburen.

Abb. 1: Topographie Dithmarschens mit den Kirchspielen des Landes und den relevanten schauenburgischen Burgen.

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Abb. 2: Die ersten drei Raubzüge im Jahr 1402 nach Dithmarschen nach den Prozessakten.

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Abb. 3: Der Raubzug vom 1. Oktober 1402, bei dem Graf Albrecht II. mutmaßlich ums Leben kam, sowie die nur jahresgenau datierten Raubzüge der Jahre 1402, 1403 und 1404 in der Marsch nach den Prozessakten und dem Chronicon Holtzatiae.

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Abb. 4: Der Bau der Marienburg und die Eroberung Meldorfs laut den Chroniken sowie die Raubzüge des Jahres 1403 nach den Prozessakten; für die Raubzüge in der Marsch 1403 siehe Abb. 3.

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Abb. 5: Der Raubzug nach Meldorf sowie die Plünderungen vor der Schlacht in der Süder­ hamme 1404 nach den Prozessakten; für die Raubzüge in der Marsch 1404, siehe Abb. 3.

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Quellenanhang Enthaltene Quellen: 1. Gerd Rinesberch und Herbord Schene, Chronica Bremensis 2. „Detmarchronik“ 3. Hermann Korner, Chronica Novella 4. „Rufuschronik“ 5. Lübecker Ratschronik 6. Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae 7. Chronik der nortelvischen Sassen, der Ditmarschen, Stormarn unde Holsten 8. Johann Petersen, Chronica oder Zeitbuch der Lande zu Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Wagrien 9. Johann Renner, Chronica der Stadt Bremen 10. Heinrich Rantzau, Belli Dithmarsici vera descriptio 11. Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen 12. Cyriakus Spangenberg, Chronicon […] der […] Graffen zu Holstein Schaümbürgk 13. Caspar Danckwerth und Johannes Mejer, Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein 1. Gerd Rinesberch und Herbord Schene, Chronica Bremensis119 Hirna in deme jare des heren 1404 uppe sunte Dominicus dach offte uppe sunte Oswaldus dach [Anm. 459: 5. August] do reisede de hertoge Aleff van Sleeswick [sic!] unde ein greve van Holsten mit groter mancraft to vote unde to perde in dat landt to Detmerschen unde dede dar groten schaden. unde nam alto groten namen, unde mit deme namen so leet he alle sine schutten unde dat gancze voetvolck dor de landtwere slaan. unde do de velen schutten unde voetlude, de den Dethmerschen hadden to der tidt gudt unde starke genug gewesen, weren byna mit deme namen over ene mile gekomen, desse wile weren des hertogen rittere ein deel over ener molen beworen, de wolden se bernen. hir moste de hertoge na holden jo mit deme ganczen here to peerde; underdes so quemen de Detmerschen uppe de landtwere. der doch uppe dat erste nicht vele enwas, de des strides ersten begunden; unde de wech enwas nicht wijt, dar se jo utmosten. unde se endeden anders nicht vor das erste, men dat se en ere henxste unde perde steken. unde alle de perde bevellen den wech binnen der landtwere unde slogen van sick, dat dar nement henne komen konde. hirunder so quam des landes so vele to, dat se den hertogen vorschreven slogen doot mit druttein ritteren unde wol mit sevedehalff hundert mannen unde mit clenen jungen, de de peerde wareden. unde twe rittere weren hir enboven, de nemen se vangen, unde wolden de qwijt wesen mit deme live, so mosten se sick des jo vormechtigen, dat de Holsten dat nige slot Marienborch wolden dale nemen, dat 119 Rinesberch/Schene, Chronica, § 523, S. 184.

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se dar vor dat landt kortliken mit groten kosten gebuwet hadden, unde dat deme lande ene gude sone worde, dat schude altomale, dar wart date mede gescheden. 2. „Detmarchronik“ 120 In deme sulven jare Christi [1404] do besammelde de hertoghe van Sleswick siner manne, guder Holsten, by veer hunderden, unde toch in Detherschen, dat land to wynnende. Se hadden kume twe dorp eder dre ghewunnen, de Detmerschen quemen en enjeghen; der weren nicht hundert; unde sloghen den hertoghen mit al sinem volke dot, ane dre, de ze nemen vanghen; dar se mede vorworven, dat de starke berchvrede, de vor ere lant was gebuwet, scholde weder neder werden gebraken; dat schach dor der vangen losinghe willen. 3. Hermann Korner, Chronica Novella121 3.1 Fassungen A und a Anno 1404 […] In die beatissimi patris Dominici ac Oswaldi regis et martiris, que erat tercia feria, Erikus dux Sleswicensis et Albertus et Nicolaus comites Holtzacie cum quingentis militibus et militaribus [Anm. k: armigeris] terram Dithmarcie intraverunt, eam igne et rapinis vastantes. Sed cum exire vellent per meatum artum Delbrugge (nomine), Dithmarsi hinc inde in nemore (vicino) latitantes, lancis suis longissimis equos omnium perforaverunt pariter et sagittis sauciaverunt; deinde viros illos equis disiectos omnes interfecerunt, paucissimis evadentibus. Dithmarsi vero ob hanc victoriam habitam diem hunc gloriosum habent et festivum in honorem beati Dominici (ipsum eelebrando [sic!] ut diem pasche). 3.2 Fassung D und B 1404. Quinto anno Ruperti qui est domini MCCCCIIIl. Ericus dux de Sleswic, Albertus et Nicolaus comites Holtzacie cum quingentis armatis terram Dithmarcie intraverunt ipso die sancti Dominici patris et institutoris ordinis Predicatorum, eam igne et rapinis vastantes. Sed cum exire vellent per meatum strictum Hamme dictum, Dithmarci hinc inde in nemore vicino latitantes, lanceis suis longis et gracilibus equos Holtzatorum perforaverunt pariter et sagittis sauciaverunt; exinde autem viros armatos equis labentibus subactos sine difficultate interfecerunt, paucissimis fuga salvatis. Saucios autem Dithmarci de vicinis villis accurrentes, quoscumque palpitare cernebant, confestim occidebant. In campo autem occisorum cadavera iacencia aves et canes lacerabant, et difficulter permissa sunt principum et maiorum corpora sepulture tradi. (Singulis igitur annis Dithmarci solempniter diem illum festivant in memoriam victorie in eo habite). 120 Detmar-Chronik, § 1130, S. 144 f. 121 Korner, Chronica Novella, § 1164 (774), S. 100, 366 f. und 547.

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3.3 Niederdeutsche Ausgabe 1404. Do toghen in dat lant to Ditmerschen hertich Erik van Sleswick, de greven Albrecht unde Klawes van Holsten in sunte Dominicus dage unde branden dar ynne unde vorwusteden eyn part des landes. Also de heren do wedder wolden ute deme lande teen dorch den engen wech, de genomet is de Hamme, dar wareden erer de Ditmerschen in den bruke to beyden siden des weges unde steken ere perde mit eren langhen glevyen unde schoten se, dat sc starten under › den wepeneren. Also slugen dar do klene lude bi vifhundert wepenere, de alle dar dot bleven mit den heren; vele weren dar ok gewundet nnde [sic!] legen mank den doden, de worden alle vort dot gheslagen van den mennen, wan se sik rogeden; de overst legen oft se dot weren, de bleven levendich. (Also bleff levendich Klawes Leembeke unde quam des nachtes enwech. Alle do doden lichamen der guden lude bleven liggende up den velde und nement moste se graven, sunder de deerte vortereden se.) Men vor Henniken Lembeken wart so sere gebeden umme syner duchticheit willen, dat he begraven wart to Meldorpe in der Prediker closter. De heren worden ok gevoret ute deme lande undo worden ghegraven bi ere olderen. Den dacb sunte Dominicus viren de Ditmerschen over dat lant alle jar umme des zagen willen, den se do hadden. 4. „Rufuschronik“122 In deme jare 1404 toch in dat land to Dytmerschen hertich Erick van Sleswik unde brochte dar in by vifhundert wapent, also men sede in sunte Dominicus daghe, der predekerbrodere hovetheren, unde vorwuste des landes vele mit brande und myt rove unde ok myt deme zwerde. men do de vorsten wedder ute deme lande then wolden dorch de Hamme, dar leghen de Dytmerschen vore mit schote unde myt langhen gletzen; dar schote se an deme enghen weghe und steken der Holsten perde; de villen myt den wepeneren dale unde slughen van syk greseliken. dar worden de Holsten meistliken alle gheslaghen, sunder vil cleyne, de van danne quemen. de Dytmerschen quemen ok uthe deme lande unde slughen van achter to dot allent, dat se vunden. aldus worden de vorsten dar jamerliken vormordert myt den guden luden. de ungnedighen Dytmerschen wolden nicht steden, dat men der doden lichamme to grove brochte uppe den kerkhoff, sunder se mosten dar blyven in deme velde beligghende, up dat se de voghele, unde hunde eten; men der vorsten lichamme worden allene begraven. ok wart Henneke Lembeke myt groter bede begraven to den predikeren in deme wicbelde to Meldorpe. 5. Lübecker Ratschronik123 [1404] In deme viften yare der regneringe des Romeschen vorsten Rupeti do reyseden hertich Erik van Sleswik, greve Albert unde greve Clawes van Holsten myt 122 Rufus-Chronik, § 1164, S. 32. 123 Lübecker Ratschronik, § 1164, S. 357 f.

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vyf hundert ghewapent an dat land to Detmarschen an deme daghe des hilgen vaders sunte Dominici, prediker orden, unde branden unde nemen. Sunder alse se ichteswelke dorpe hadden brand unde ghenomen enen merkelken rof unde wolden wedder ut deme lande dor enen engen vort, ghenomet de Hamme, do hadden de Detmarschen den vort bestalt to beyden sysden unde steken unde vellenden de perde; und also worden vormordet werloser wyse de eddelen vorsten myt byna alle den eren, wente weynich van en quam van danne. alse dit gescheen was, do quam de ander burschap tho van den negesten dorpen unde toghen en dat harsch uth; unde allent, dat noch ichteswat levede, dat mordeden se ane barmherticheit unde wolden doch nicht gunnen, dat de doden lychamme mochten hald werden unde begraven; sunder vorteren wolde se se laten den hunden unde vogelen des hemmels. doch myt groteme arbeyde unde deghedinghende wart dat kume beholen, dat der vorsten lychamme unde der eddelen mohten hald werden unde begraven. an ene dechtnisse dessen seghes so vyret dat volk van Detmarschen alle jar den dach des hilgen vaders sunte Dominici. 6. Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae124 c. 29. Albertus comes duxit uxorem de domo ducum Saxonie, sed non diu supervixit, ideo heredem non reliquit. [Randnotiz: 1402] Nam Ericus, dux Saxonie, gener eius, Ditmarticorum inimicus, intrans per terram Holtzacie spoliauit Ditmarticos et recessit per terram comitis Alberti in domum suam, ducens Ditmarticos captiuos, nemine-prohibente.Ea de causa Ditmartici, conquerentes duci Gherardo, archiepiscopo Bremensi et consulibus ciuitatum Lubicensis et Hamburgensis at quealiarum, quod contra Deum et iusticiam et contra eorum priuilegia a duce predicto per terram comitis Alberti, forefacti conscii, errant sub fide predati, rogantes predam restitui, dampna resarciri atque talia emendari. Quapropter dux Gherardus, fratre suo Alberto ad se uocato, coram consiliariis vtriusque, quod sic ducem cum rapina permisisset quiete per terram transisse, ipso non conscio et sine culpa sua non esse potuisse, publice fratrem suum inculpauit, allegans honorem parentum fuisse, simper seruasse fidem; et quodiam a Ditmarciis fidei fractores dici deberent, esset conturbatus. Ad que comes Albertus respondebat et iuramento affirmabat, quod nescius fuisset facto et consilio, ducem Ericum Ditmarticos uelle spoliare et hec per terram suam duxisse, eo eciam nesciente. Quo audito, dux multum fuit gauisus et statim vterque tam dux, quam comes rescripserunt, talia per Ditmarticos querelata fuisse et esse non vera et Ditmarticos propter ficmenta predicta statim diffidabant. Ditmartici, audita comitis Alberti innocencia, penitencia tacti, per consules ciuitatum Lubicensis et Hamburgensis et ceterorum, ut dicitur, pacem requirebant, addentes, si in aliquot per scripta sua peccauerunt, uellent emendare arbitrio bonorum virorum. Isto non obstante, dux et comes, non confisi verbis adulatoriis Ditmarticorum, solam vindictam consequi pretendebant. Et in hoc istorum principum apparebat, ut timetur, zelus vindicte, non humilitas neque clementia. Isti principles fuerunt 124 Presbyter Bremensis, Chronicon Holtzatiae, cap. 29 und 31, S. 286–290.

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iuuenes inexperti; eorum consiliarii, potentes, diuites, elati et ambiciosi et dictos principles se ad vindicandum multum induxerunt, ut dicebatur. Consules dictarum ciuitatum pro concordia erga principles predictos sepius nisi sunt, ponentes dies placitos inter eos, sed nichil proficere potuerunt. Tandem principles predicti, dux et comes, cum magna potencia terram Ditmarticorum intrauerunt, castrum ante Meldorpe in Delfbrugge struxerunt satis forte. Ad quod postmodum deponendum, Ditmarticise congregantes multos ante castrum istud interfectos, plures vulneratos reportabant. Altera vice iterum cum potencia venerunt in Meldorpe dux et comes, vbi milites percusserunt plures ob victoriam oppidi talis. Sed eadem die nullus ex Holtzatis in eo audebat pernoctare. Castrum Hanrouwe ante terram Ditmarcie dux et comes munierunt palis longis, ligneis meniis et nouis domibus atque fossatis. In quo castro Hinricus de Aleuelde, miles, capitaneus et quasi tocius excercitus existebat caput. In quo castro erat presidium contra Ditmarticos pugnancium. Insuper de castris Svafstede et Tilemburgh Ditmartici uexabanturet viceuersa Ditmartici, quotquot comprehendebant, crudeliter sine misericordia necabant. Pluries et sepissime Holtzati cum Ditmarticis habebant conflictum, aliquando isti, sepeilli perdiderunt. Insuper dux cum comite intrauit terram Ditmarcie in Northamme. In qua expedicione comes Albertus pre nimia commocione iracundie, eo quod maiores de exercitu noluerunt eum audire, datis calcaribus equus cursum fecit et, improvide cadens cum equo, lesit se multum. Postmodum in brevi obiit, videlicet anno Domini millesimo quadringentesimo tercio in profesto Michaelis et sepultus est in Idzehoe. Attamen Deus illa vice respexit Holtzatos, in laqueo positos et conclusos per ventum ualidum, flantem aquas maris ad Egdoram, ita ut agger Vlendam inter Ditmarticos de Heyda et illos de Northamme a vi et inundancia aquarum rumpebatur; alias illo tempore in Northamme omnes occisi fuissent. Et est illa pars terre circumamicta palude, cespido molli ab vna parte, reliqua parte Egdora et parva semita est aditus eius, per quam oportuit omnes intrare et exire. Et ita, Deo dante, exibant cum rapina magna vice illa. […] c. 31. Ista Discordia inter hos de Holtzacia et de Ditmarcia aliquamdiu stante, ac eciam consules de ciuitatibus Lubicensi et Hamburgensi interponent esse libenter vidissent pacem inter eos. Dux autem Gherardus, premortuo fratre suo Alberto, noluit pacem cum Ditmarticis, nisi ipsis subiectis et factis tributariis, quod Ditmartic annuere noluerunt. Neque consules ciuitatum hoc consulere voluerunt et sic suspicabatur contra predictos consules per domnum ducem non immerito. Interim Ditmartici convenerunt ad demoliendum castrum, in eorum terra noviter in Delfbrugge constructum. Ubi pluribusex ipsis interfectis et capitaneo Raleff Boykensonsi pixide eliso et capite eius super palo posito, confuse recesserunt. Viceversa Holtzatici totam terram Ditmarcie in sicco positam igne combusserunt, vaccas, equos, oves et boves, capras ac porcos et multos hominess captives reducentes. Reliqui autem de sicco in paludem hincinde fugiebant, ibidem servientes. Demum Ditmartici domno duci per predictos consules de Lubeck et Hamborg, ut pacem habere possent, magnam summam pecuniarum, ut dicitur, solver et dare una vice prebuerunt. Dux autem, racione motus, noluit ita, sed quod simper an-

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nuatim tributum solverent et essent subditi sui, postulabat. Habuit enim a progenitoribus suis privilegium antiquum forte et magnum, sigillatum per universitatem dicte terre Ditmarcie, in quo [im Text kursiv] protestamtur fide prestita corporali, perpetuo se obligasse nobili viro domino Gherardo, comiti Holtzacie, et suis iustis heredibus ipsis astare eosdemque manu iuvare in district dominii sui et extra contra quemlibet hominem, ipsos infestantem ac pacis eorum tramitem modo aliquot perturbantem [Kursiv Ende] etc. Audi hic novum mirum! Illud privilegium est de datis anno millesimo ducentesimo octuagesimo tercio, et hodierna die, scilicet anno Domimi millesimo quadringentesimo quadragesimo octauo, inter alia privilegia principum terre sanum et illesum. Hoc faciendum Ditmartici renuerunt, sed propter pacem ultra summam promissam ipsi duci et suis heredibus dissimulabant velle, ut apparuit, contra inimicos terre Holtzacie in aliquibus personis de terra sua subsidium deferre, ut et ipsi viceversa essent defensi, sed non expresse, ut tenebantur iuxta tenorem privilegii, de quo ut supra. Super istis placitis partibus deliberantibusm dux Gherardus magnum interim collegit exercitum et, quod placitis verbis habere non poterat, per vim iure suo medio consequi anhelabat. Et in die Oswaldi regis et martiris, anno Domini millesimo quadringentesimo quarto in manu forti in Suderhamme bello ordinate cum pluribus intravit. Hec Suderhamme habet munimen, fossata duo vel tria, in palude et silva condensa posita, et in tali silva est stricta via lapidea ad baliste iactum posita, ubi dictus dux Gherardus cum suis intravit et vexillum sagittariorum cuidam Hinrico de Alvelde militia commisit. Alterum vexillum Nicolao de Alvelde, suo fratri, presentavit ad habendam tutelam super sagittarios. Dictus autem Hinricus de Alevelde, pompose se habens, collecto spolio vaccarum et incendio facto aliquarum domorum de parrochia Lunden et Weddinghstede, eciam unum molendinum ad ventum seu flemulam destruere aliquamdiu nitebatur, ita ut Ditmartici interim colligere se valebant. Et hii duo fraters Hinricus et Nicolaus de Alvelde milites nullus alteri deferre volebat neque preire, quamvis Henricus preire debuisset; sed ut virilis et intimidus appareret, diucius expectavit, duce autem Gherardo in dicto loco Hamme manente cum suis et expectante, spolio ante emisso cum rusticis terre Holtzacie versus Hanrow. Et illis fratribus de Alevelde advenientibus, scutiferos ante se exire coegit. Ex quibus scutiferis a Ditmarticis super fossatum advenientibus aliquibus interfectis et rumore facto inter iuvenes, dux estimans, quod scutiferi, ut solent, inter se disbrigarent ac volens eos compescere, veniens ad locum rixarum, ut sibi videbatur, deferens baculum, proprie einen plochstoeker in manu, Ditmartici ipsum videntes, vulnerando in caput, super quod pilleum ferreum non habebat, statim occidebant, nemine de suis armigeris secum existente. Quo occiso, statim horribilis inter iuvenes clamor et rumor inopinatus factus est, omnibus per predictam silvam Hamme ad terram Ditmarcie retrocedentibus, unus contra alium, se invicem prementibus et ad terram de equis cadentibus, pre angustia et timore spes salutis est adempta. Aliquibus consulentibus et dicentibus equos abiciendos et pedester abeundum, aliis vero renitentibus et in suis equis manentibus, priores et ante se proprios suos commilitones multos supprimebant. Et quilibet de Holtzatis et excercitu ducis elegit, quomodo extra dictam Hammen exire valebat. Aliqui, dimissis equis, ad paludem immeabilem ex utraque

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parte Hamme transientes, estimando se posse pertransire, aliqui eciam equitantes ad Heydam et sic evadere posse arbitrati, qui omnes interfecti sunt, alii et quamplures per viam Hamme, qua intrabant, ubi a dextris et sinistris super fossatum stabant Ditmartici, lanceas in manibus habentes, pertransientes vulnerabant et plures de equis deiciebant ad terram occidentes. Et in hac via plures equi vulnerati, iacentes et calcitrantes, ita quod inestimabiliter a manibus Ditmarticorum, divina favente gracia, evaserunt. Et dicebatur, quod pauci, scilicet duodecim nudi de Ditmarticis, a principio scilicet, ducem et iuvenes scutiferos invaserunt et quod Deus celi dedit illis triumphum tali die. Et omnes electi de ducatu Sleszwiccensi et terre Holtzacie, tam in nobilibus, quam in civibus et colonis remanserunt. Nam gemma et lucerna Holtzacie in preclarissimis viris fuit prostrata. Illustris princeps, primus dux Gherardus Sleszwiccensis, devotus et pius, non de meritis suis, sed consiliariorum suorum, irrecuperabile dampnum, illic remansit. Henneke Leembeke, bellicosus et victoriosus contra regem Dacie, hic ut agnus occisus fuit, Wulff Pogghewisch, miles bonus dictus ab omnibus, ambo illi predivites fraters Hinricus et Nicolaus, dicti de Alevelde, Hinricus de Siggem miles, marschalcus, et Oue de Ziggem et quamplures milites in numero ultra duodecimde Holtzatis; de extraneis Gheverardus Schulte miles: ita quod in numero ultra trecentos nobiles illo die in hoc loco fuerunt trucidati. Quorum et omnium interfectorum anime requiescant in pace! Hac strage facta, inventi fuerunt duo, scilicet Wulff Poggewisch iunior et unus Rantzouw inter interfectos viventes, quos pro victoria in vita reservabant, per quorum redempcionem castrum in Delfbrugge constructum viceversa fuit demolitum. 7. Chronik der nortelvischen Sassen, der Ditmarschen, Stormarn unde Holsten125 Anno domini MCCCXCVIII do ret de hertoge uan Sassen uan Louenburgh in Ditmarschen, unde hade doch den Ditmerschen nicht entsecht, unde ok nene uorwarninge dan. Se wusten nicht mer uan eme men alse uan enem guden urunde. He ret in dat lant der Ditmerschen to male starke, unde berovede dat lant unde nam al­lent wat he krigen kunde, perde, ossen, koye, scape, swine, kleder, suluer unde golt, unde dref den namen dorch dat lant to Holsten unde dorch dat lant to Stormeren wente to Bergerdorpe unde Ripenburgh unde uort to Louenburgh. De Ditmerschen weren quad, unde hadden in der sake uordacht de heren uan Holsten, dat se scholden mede weten uan deme ritte des hertogen uan Sassen, nach deme male he dorch ere lant gereden was, unde ulokeden unde uormaledigeden in den krogen de heren uan Holsten unde helden se alle uor uorreder eres landes. De heren uan Holsten uorbaden sik uor steden, landen unde luden, se der sake unschuldich weren unde nicht afweten hadden. De Ditmerschen enleten nicht af unde ulokeden uordan; dat was den heren unmere to horende. Hirumme uan not wegen mosten se den Ditrnerschen entseggen, wente se wolden ere wyt nicht lenger liden. […] 125 Sassenchronik, a. 1398, 1401, 1403 und 1404, S. 101–112.

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Anno domini MCCCCI do ret greue Albert, Iseren Hinrikes sone, in Ditmerschem. He quam to Meldorpe unde berouede de stadt. De klocken ghiuken to storme.De Ditmerschen quemen uppe de jacht, wente se sik siner wol uormodeden. Greue Albert sach, dat he uormannet was, he en dorste dar nicht benachten, men he wolde hastigen ridcn unde stortede in eneme dale myd deme telder. Dar uit sik de eddele here also sere, dat he dot blef uppe deme wege, er he to hus quam [Anm 2: Albrecht starb i. J. 1403. Sept. 28.; Detmar cont. und Korner lassen ihn unrichtig noch am Feldzuge d. J. 1404 Theil nehmen.]. Des anderen jares darna, alse me schref MCCCCIII, do reet hertoch Gert uan Holsten, Iseren Hinrikes sone, myt alle siner macht in Ditmerschen in unser leuen urouwen dage der krudwyginge [Anm. 2: Maria Himmelfahrt. August 15.], unde nam myt sik den husman unde buren, dede uolgeden myt speten, schuffelen unde spaden. Unde ane der Ditmerschen dank so buweden se dar ene borch in deme lande, unde de borch wart geheten de Marienborch. Des anderen jares darna, do me scref MCCCCIV, do uorsammelde de hochgebaren uorste unde her, hertoch Gert, Iseren Hinrikes sone, hertoge to Sleswik, greue to Holsten unde Stormeren, sine eddelsten manne in deme lande, ridder unde knechte unde gude manne, ok borgermester unde ratmanne ut den steden unde reden in sunte Oswaldus dage alle myt perden in Ditmerschen unde beroueden dat lant manliken uan deme morgen wente in den auent, unde sunder barmeherticheit schonden se noch moder noch kind in der wegen. Se roueden unde nemen allent, wat se uunden, perde, ossen, koye, swine unde schape. Se breken de kisten unde roueden suluer unde golt und kledere unde allent, wat se uunden, unde de schutten dreuen den namen uor hen ute dem lande. De Ditmerschen segen wol, dat se alsodaner groter unde ueler schare der wapenen lude uppe deme uelde konden nicht entjegen stan; se lepen in dat holt unde leden sik bi enen engen wech, de de hamme genomet is, dar ok de hertoge myt siner ridderschop in gereden was, unde was ok neen wech anders ut to kamen men dorch den engen wech. Dar legen de Ditmerschen to beiden siden, tor uorderen hant unde tor luchteren hant, unde uorbeideden der Holsten myt eren langen gleuien unde speten. De hertoge quam bi den engen wech unde sach de Ditmerschen erer beiden. Dar was uele uorsein; de schulten weren uore en wege myt deme namen, de mochten de Ditmerschen uorjaget hebben. De eddelen riddere, de Aneuelder unde ander gude manne wolden ene wintmoelen dale leghen unde konden er nicht raden. Dewile sammelden sik de Ditmerschen tohope; it wart sere uorhomodet. De hertoge boet den ridderen to, dat se balde quemen, dat se dor mochten komen, wente de Ditmerschen belepen dat holt. Se antworden homodichliken unde smeliken: deme hertogen were ein hasenuel vor den ers gebunden. Do beidede de hertoge unde wagede sin lif myt en. Tom lesten quemen se unde wolden dorch den wech. Dar legen de Ditmerschen to beiden siden grimmichliken unde tornich unde grellich, likerwis alse en bare, deme sine jungen namen sind, unde steken myt eren scharpen gleuien unde speten de perde dale. Also uellen de perde dale in den wech unde slogen unde leten nemende wech. De myt den perden uellen, de steken se uortdan dot. De ok half le­ uendich bleuen, de krusemeden in deme blode, wente de ene uil uppe den anderen,

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unde nemant konde sik wat weren. Dar wart ok leider de uorscreuen hochgebaren here uan enem slimmen buren dor gesteken, en gut, truwe gunre der hilligen kerken, unde blef doet mer uan deme krusemende als uan den wunden, ente alle man uil to unde wolden deme heren helpen. Se uorleten de perde, unde de ene uil uppe den anderen, unde de Ditmerschen schoneden nicht. Da lach leider der eddele here mank den doden lichamen der perde unde der minschen, alze en umbekant uorste, voruulede unde uorratede, wente de Ditmerschen weren dar enjegen unde uorbaden unde worden, dat nemant enen doden licham uan der stede muste nemen, men alle de doden mosten dar jamerliken liggen uor den hunden, wuluen, rauen unde kreien, dar se uormadeden, uoruuleden unde uorrateden. Dar worden getellet uerhundert gude man, de to schilde unde to swerde baren weren, ane borgermestere unde ratmanne unde borger ut den steden unde andere arme knechte unde arme helde, de nichte teilet unde rekent worden. Dar worden ok getellet uiftein strenge ridder, de ok alle mede geslagen weren. Dar mede was de werdige truwe ridder her Hinrik uan Sigghem, dede banreuorer was, unde myt sinen twen sones unde myt der banren alrede ungeseriget dore gekomen was. Men do he horede, dat de here slagen was, he ret myt sinen beiden sones wedder in de hamme, unde wolde leuer myt eren steruen, wan he rnyt der banren deme heren entride unde myt uorwite scholde leuen, unde wart ok jamerliken slagen. De uoruulede lichan des hochgebaren heren hertoge Gherdes ward to lesten mank deme anderen ase geuunden, unde de Ditmerschen orlaueden, dat me ene groue. Aldus wart he grauen to Meldorpe, in der stat siner uigende, dar ok de banre bewaret wart. De anderen doden bleuen unbegrauen, alse uorschreuen is. Ok uengen unde grepen de Ditmerschen uan den Holsten XXX gude man unde enen ridder, genomet her Wulf Poghewische. In ere losinge nodigeden de Ditmerschen de Holsten, dat se kregen dat sloet Marienborch dat in deme jare dar touoren gebuwet was, unde uorstoreden dat wedder in de grunt. 8. Johann Petersen, Chronica oder Zeitbuch der Lande zu Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Wagrien126 Im Jar 1403. hat Hertzog Erich zu Sachsen/ der Vater der Fürstin Graffen Alberti zu Holsten ein zwitracht und widerwillen mit den Ditmarschen gehabt/ Derhalben zohe er heimlich durch das Land zu Holsten (dieweil Graff Albrecht nicht im Land war) in Ditmarschen/ fieng deren etlich/ vnd berauet das Land/ die gefangnen vnd den Raub füret er durch das Land zu Holsten in sein Fürstenthumb. Wie nun die Ditmarschen so von Hertzogen Erich durch das Land zu Holsten beschediget waren/ haben sie an die Fürsten vn vmbligende Stede geschrieben/ vnd vber die Graffen zu Holsten geklaget/ also das sie daran nicht redlich gehadlet/ dann sie haben wider Gott/ Recht vnd auffgerichte vertrege vnd Priuilegia/ iren feind Hertzogen Erich bey sich erhalten/ vnd dem verurlaubt durch ir Land vnabgesagt 126 Petersen, Chronica, S. 105–109 (cv–cix).

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sie lassen vberziehen vnd vnter gutem glauben beschedigen/ Begerten daß man das geraupte gut inen widerumb zustellen/ vnd den erlitnen schaden erstatten wolte. Diß Außschreiben der Ditmarschen verdroß Hertzogen Gerhard hefftig/ hat der­halben seinen Bruder Alberten verschrieben/ den fraget er in gegenwertigkeit irer beider Rethe/ Ob Hertzog Erich seiner Frawen Vater mit seinem wissen/ willen vnd folbort/ die Ditmarschen/ wie sie klagen/ durch das Land zu Holsten beschediget hab. Darauff antwort Graff Albert/ das er gentzlich nichts daruon gewist/ vnd bestätiget das von stundan mit einem Eyd. Da sprach Hertzog Gerhard/ Unsere Voreltern haben vns einen ehrlichen namen geerbt/ den wollen wir behalten/ vnd den mit worten vnd thaten beschirmen. Nachmals ersuchten der Hertzog vnd der Graff die Ditmarschen durch ir schreiben/ begerten von inen ein abtrag/ darumb das sie verunglimpffe vnd beschulden/ dieweil sie des verlümbdens unschuldig/ Darzu haben sie sich deß beklagt vnd geschrieben an die Fürsten vnd umbligende Stedte. Wie nun die Ditmarschen erkant der Fürsten vnschuld/ haben sie sich erbotten den Fürsten gleich dafür zuthun/ deß haben die Stedt Lübeck vnd Hamburg viel in der sach gearbeit/ das die Fürsten vnd Ditmarschen on blutuergiessen möchten verricht werden/ aber sie haben nichts außgericht/ dann die Fürsten sampt irem Adel seind mehr zum krieg dann zum frieden geneugt befunden. Kurtz hierauff haben sich Hertzog Gerhard vnd sein Bruder Graff Albrecht mit aller irer Mannschafft gerüstet/ vnd seind mit grosser macht in Ditmarschen gerucket/ Meldorff eingenommen/ die Landart darumb her verdorben vnd beraupt/ vnd zu Delbruck ein starck Blockhauß vnd Veste gebawet/ das die Holsten nachmals ein lange zeit vnter irem gewalt behalten/ Die Ditmarschen vnterstunden offtmals das Blockhauß mit gewalt nider zu legen/ deren viel dafür erschlagen/ vnd hat in nicht wöllen gelingen. Der Hertzog vnd der Graff haben das Schloß Hanrowe vor Ditmarschen gelegen/ befestiget/ vnd Herren Heinrich von Aleuelde zu einem Hauptman darauff gesetzet/ daruon ist den Ditmarschen grosser schad zugefüget/ deßgleichen von der Tilenborch vnd Swanestede. Die Holsten haben viel Scharmützel mit den Ditmarschen gehalten/ in den selbigen seind die so zu beiden theilen gefangen/ on alle erbermbd erschlagen. Graff Albrecht zoch mit den Holsten durch die Northamme/ vnd holet einen grosssen Raub auß dem Lande/ Die Ditmarschen versamleten sich den Raub den Holsten widerumb abzudringen/ das were auch geschehen so die Eyder durch ir vielfaltige Wasser die Holsten vor den Ditmarschen nicht beschützet hett. Wie nun Graff Albrecht in diesem Zuge vermercket/ das die seinen mit dem Raub so sehr nicht eileten wie er begeret/ stieß er sein Pferd mit Sporen in zornigem gemüt an/ das selbig fiel vnfürsichtig mit im zur Erden/ in dem Fall krieget er so viel das er kurz darnach seine Geist auffgab/ vnd war zu Itzeho am Abend Sanct Michaelis/ im Jar 1403. in seiner Vätter Grab gelegt. Nach dein todt Graffen Alberti/ dieweil er kein Erben verließ/ seind die Fürstenthumb Holsten an Hertzogen Gerhardum gefallen/ den haben die Ditmarschen durch die von Lübeck vnd Hamburg offt lassen begrüssen/ vnd frieden von im bege-

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ret/ aber nie können erlangen/ Doch also/ so sie im vnterthan vn zinßbar sein wollten/ das haben die Ditmarschen nicht wollen eingehn/ sondern viel lieber sterben. Die Ditmarschen/ damit sie frieden widerumb mit den Holsten bekommen möchten/ haben sie Hertzogen Gerhardo durch der Stedte Lübeck vnd Hamburg gesandten eine grosse summe gelds auff ein zeit zugeben erbotten. Hertzog Gerhard wollte das selbig nicht annemen/ Er ließ in endtloch ansagen/ sie sollten im vnter­ thenig vnd zinßbar sein/ dann er hette von seinen Voreltern ein starck ­Pruilegium/ welches gantze Land im Jar tausend zweyhundert vnd drey vnd achtzig versiegelt/ darinnen sie bekenneten/ das sie gelobt/ vnd zu ewigen zeiten verpflichtet hatten Graffen Gerhardo zu Holsten vnd seinen rechten Erben beystand zu leisten/ vnd mit der Handt behülfflich sein inwendig vnd ausserhalb seiner Herrschaft gegen jedermeniglich/ die sich zu in nötigeten/ oder in einigen weg beschedigten. Die Ditmarchen haben deß Hertzogen anmuten nicht wollen annemen/ jedoch vmb friedens willen sich lassen hören/ sie wollten vber die zugesagte summen geldes den Fürsten zu Holsten auß irem Lande zuhülff kommen wider ire feinde in etlicher anzal/ doch mit dem beding/ das die Holsten inen widerumb gelobten bey­ stand zuthun in iren nöten. Dieweil diese widerwertigen Tagleistung hielten/ vnd rathschlageten/ versamleten sich die Ditmarschen zu zerbrechen das Blockhauß zur Delbrücke/ welches kurtz vor dieser zeit befestiget/ Wie sie darfür kamen/ wurden irer viel erschlagen/ vnd irem Hauptman Raleff Boucken Son das Haupt mit einer Büchsen zerschmettert/ vnd auff einen Pfal gesetzet vor der Vesten. Nach wenig tagen wichen die Ditmarschen mit grossen schaden vnd spott widerumb vom Blockhauß. Wie sie nun daruon waren/ verbrenneten die Holsten alle Dörffer auff der Geest (das ist auff der Hoge) der Ditmarschen ward viel gefangen/ vnd einen grossen Raub an Pferden/ Küen/ Schaff vnd Schwein genommen/ den sie als bald in das Land zu Holsten schickten. In dem die Tagleistung zwischen dem Hertzogen vn den Ditmarschen unfreundtlich abgangen/ samlet Hertzog Gerhard ein groß Volck/ der vrsach/ das er mit gewalt erlangte/ das er mit worten nicht zuwegen bringen kondt/ vnd zoch am tage Oßwaldi/ war der fünfft Augusti im Jar 1404. mit gewaltiger hand durch die Suder­ hammen in Ditmarschen/ das ist ein Landtwehr mit zweyen oder dreyen doppelten gräben auff etlichen stetten vnd örtern vor der Marsch mit Holtz dick bewurzelt vnd bewachsen/ dardurch geht ein enger Steinweg zwen oder drey steinwürff breit/ der hat auff beiden seiten einen tieffen graben. Der Hertzog hatte sein Volck wol geordnet/ vnd das öberst Fenlen Herren Nicolao von Aleuelde/ vnd das Schützen fenlen Herren Heinrich von Aleuelde seinem Bruder befohlen/ Die Schützen haben die Dörffer vnd Kaspel/ Lunden vnd Weddingstede zerstöret vnd beraubet/ in dem inen niemand widerstund/ eileten sie nicht hefftig zurück/ Herr Heinrich von ­Aleuelde reit vmbher/ verordnet das der Raub zusamen bracht ward an Pferden vnd andern Thieren/ vnd zündet etlich Heuser mit Fewr an. Niclas sein Bruder sagt zu im/ es ist zeit das wir widerumb auß dem Lande ziehen/ wöllen wir vngeschlagen sein vö den Ditmarschen/ Herr Heinrich verachtet die vermanung seines Bruders/ damit er erzeigte sein vnerschrocken Mannlichs hertz/vnd das jedermeniglich eröffnet

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wurde/ eilet er nicht auß dem Lande/ Es stund ein Wundmül daselbs hin reit er mit seinem hauffen/ die zu verderben. Dieweil das kriegßuolck Hertzogen Gerhards der gestalt in Ditmarschen handelte/ hielt er ein zeitlang vor der Hame da er wider durch must/ vnd erwartet der seinen/ mitler zeit samleten sich die Ditmarschen in der Hamme/ vnd verbargen sich in dem Holtz/ Büschen vnd Gräben/ daher die Holsten wider außdem Lande musten. Wie nun die beiden Brüder von Aleuelde wider an den Hertzogen kamen/ vnd wider auß dem Lande wollten/ schickten sie den Raub mit etlichen Bawren voranhin nach der Hanrowe/ die kamen daruon unbeschediget. Wie nun der Fürst sampt seinem kriegßuolck hernach folgete/ schickten sie die Schildtbuben vorher/ Wie nun die knaben an das ort kamen/ da sich die Ditmarschen verborgen erhielten/ vberfielen sie dieselbige jungen/ da ward ein groß rumor vnd geschrey/ Wie das der Hertzog Gerhard hörete/ vermeinet er die knaben schlügen sich vntereinander selbs/ reit er allein hinzu mit blossem Haupt on alle wehr/ er hatte nur ein Pflugstocher in der Hand/ den auffrhur der jungen (wie er meinet) zu stillen. Da er vnter die Bubem kam/ vnd in die Ditmarschen ersehen (der anfenglich nur zwölff waren) vberfielen sie den zu beiden seiten/ vnd hiebem im den kopff entzwey/ also blieb er als bald todt/ Wie diß die Jungen sehen/ wichen sie alle durch die Hamme auß dem Lande/ vnd der gantze Hauff der Kriegßleut verzagten/ vnd gaben sich auff die flucht durch die Hamme/ Die Ditmarschen die sich nun allenthalben her gesamlet/ griffen die Holsten hinderwertig an/ vnd zu beiden seiten des engen wegs mit sünem gemüt/ Die Holsten weren gern gewichen/ aber von engigkeit des wegs kondten sie mit den Pferden eilends nicht wol samptlich daruon kommen/ der­halben gaben etlich den rath/ man solt von den Pferden steigen vnd zu fuß daruon eilen/ Die andern blieben auff iren Pferden/ Auß diesen vrsachen dieser vneinigkeit verhindert vnd beschediget der ein den andern/ Die nun von den Pferden gestigen waren/ die wurden mit den Pferde zertrept/ oder in die gräben gestossen vn geschlagen/ etlich verlissen auch ire Pferd/ vnd lieffen zufuß in das muhr/ verhofften also daruon zukommen/ die blieben alle/ etliche ritten nach der Heide/ vermeinten allda hinweg zukommen/ die wurden alle erschlagen/ der mehrer theil eleten den weg durch die Hamme/ da sie in das Land gekommen waren/ da stunden die Ditmarschen auf beiden seiten des wegs mit langen Spiessen/ verwundeten viel in dem wege/ stachen vnd schlugen irer viel zutodt/ Es lagen auch verwundte Pferd auff dem Steinwege/ die schlugen mit dem füssen von sich/ vnd verderbten Pferd vn Leut/ Jedoch kam der mehrer theil deß kriegßuolck daruo/ mehr daß man glaubt hette/ Die durch die Hamme nicht weg kamen/ wurden on alle erbermbd erschlagen/ Es ward niemand verschonet/ so grewlich vn vnmenschlich haben sich die Ditmarscher (irer gewonheit nach) erzeiget an den vberwundnen/ das sie auch nicht gestatten wollten die todten Leichnam zu begraben/ außgenommen deß Hertzogen Leich/ vnd etlicher Ritter/ die mit grossem geld von den Ditmarschen gekaufft wurden/ die andern haben sie die Hunde/ Wölff/ Raben vnd andere thier vnbegraben aufffressen vn verzeren lassen/ wider den Kriegßgebrauch vieler Heyden. In dieser Schlacht ist todt geblieben Hertzog Gerhard mit zwölff Rittern/ vnd drey hundert von dem Adel auß den Fürstenthumen Schleßwick vnd Holsten/ hie-

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runter ist gewesen Herr Hennecke Lembecke/ Herr Wolff Poggewisch/ der Gute genant/ Herr Heinrich vnd Herr Niclas von Aleuelde/ Herr Heinrich von Siggen Marschalck/ Oue von Siggen/ vnd Herr Seuert Schulte Ritter/ ein Außlender/ in summa alle fürneme außerleßne Leut des Hertzogthumbs Schleßwick vnd Holsten vom Adel/ Burgern vnd Bawren seind auff der walstatt blieben/ irer zwen vom Adel/ der jung Herr Wolff Poggewisch vnd ein Rantzow seind deß andern tags vnter den todten erfunden vn gefangen/ die haben sie nicht wöllen frey geben/ sie musten erstmals beschaffen/ daß das Blockhauß/ die Veste Delbrugge/ das die Holsten noch inne hatten/ abgebrochen vnd zerschleifft ward. Diß ist die andere grosse Niderlag/ die die Holsten in Ditmarschen erlitten haben/ eine von diesen Fahnen die sie eroberten/ richteten sie auff in der Kirchen zu Meldorp/ die ander zu Oldenworden/ daselbs haben die Ditmarschen auch griß gut in golde/ silber/ edlen steinen/ perlen vnd Pferde von den erschlagnen bekommen. 9. Johann Renner, Chronica der Stadt Bremen127 Anno 1404 hadde hertoch, Erick van Sassen greven Alberts van Holsten schwager einen unwillen wedder de Detmarschen, derhalven toch he inn dat lant dorch Holsten, plunderde de geesten und toch wedder wech, des beklageden sich de Detmarschen by den benaberden forsten und steden, dat de graven van Holsten nicht ehrlich by ohnen handelden, hadden ohnen nicht entsecht na kriges gebruck, und hedden hertoch Erick dorch ohre landt tehn laten, welchs nicht vele beter were, als wen se idt sulvest gedan hedden. Ditsulve vordroth hertogen Gerde van Slesewick sehr, unnd straffede sinen broder dat be solckes hedde geschehen laten, greve Albert averst entscbuldigede sich by sinem bruder, unnd schwor hoge und duir he hedde van solcken dingen nichts gewust. De hertoch sprack, dat is recht, uns is uprich­ ticheit und framicheit angebaren, de willen wy erholden und vordedingen mit worden und wercken, also sanden se breve ann de cDetmarschen, und straffeden se, dat se so logenhaftige dinge ann etliche geschreven hedden, ohren hem nicht to geringem nadele, unnd begerden darvor einen afdracht, dergeliken entschuldinge schreven se ann andere forsten und stede ock, oft nu wol vele bandlinge derwegen vorgenamen wort, so konde doch de sake nicht vordragen werden, so wehe dede dem hertogen und graven disse vorungelimpinge, de Holstische adel radden ock tom krige, und dat men mit aller macht inn Detmarschen tehn scholde, dat geschach, se togen int landt, und buweden vor Meldorp tho Delbrugge eine vestinge, de se eine lange tidt erhelden, idt makeden sich wol de Detmarschen darann und hedden es gerne gestormet, se vorloren averst vele folckes darvor, Meldorp wort mit storme gewonnen, in welckem krige sich etliche deddelluide so wol beiden, dat se tho ridder geschlagen worden, nemandt averst dorfte binnen Meldorp bliven, dann idt was nicht vaste. Dat landtfolck schloch sick tosamen, de vestingen tho verstoren, averst se richteden nichtes uth, sondern worden van Hanerow, Tileborch unnd Swavenstede eine lange tidt beschedigt, dama toch greve Albert up Northam tho, 127 Renner, Chronica, a. 1404, S. 335–337.

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und brachte gude buite thosamen, des sammelden sich de Detmarschen by groten hopen, averst de Eider wort groth und floth aver alle marschlande twischen der beide und Northam, also dat de Holsten mit der buite einen engen wech uth mosten, als nu greve Albert de wech entlangs ilede, und sinen gul anstack, do stortede he darmede, und wort im hamische also gedrucket, dat he balde dama starf, und wort to Itzeho begraven, do feil dat gantze landt an hertogen Gert to Slesewick, dann greve Albert hadde nene erven. Darna schlogen sick de benaberden stede in de sake, unnd hedden se gerne vordragen, so erboeden sich ock de Detmarscben einen groten summen geldes tho geven dat se mochten frede hebben, averst hertocb Gert wolde alle jar gelt van ohnen bebben, und hapede he wolde Detmarschen under sich bringen, also wort uth den handlingen nichts, so vordroth dem hertogen nicht weinich, dat sin broder in Detmarschen sin levent vorlaren. Disse hertoch Gert hadde bischop Otten van Bremen suster thor ee, toch jegen de Detmarschen und quam am dage Oswaldi [Anm. 249: 5. August (1404)] dorch Suderham, der schutten fenlin forde her Hinrich van Alfelde, ridder, und dat ander so noch stercker was, sin broder her Nicolaus van Alfelde, ock ridder, de hertoch stunt im ersten antage by dem fenlin de schutten averst unnd andere so ohme to hulpe gekamen weren makeden einen widen umbschweif, und plunderden umb Lunden undWeddingstede, und vorachterden sich aver dem rove, her Claus van Alfelde vormanede synen broder, dat idt tidt were tho rugge tho teende, de broder averst sorgede nergens vor, sonder wolde jo eine windemolen afbernen, under. des sammelden sich de Detmarschen, und hadden den wech, dorch welchen de hertoch wedder tho rugge heruth tehn wolde, vorlecht, also worden de buren vorutb gesandt mit etlichen buiten, de ruiter jungens averst worden ock sant. Dar sloegen de Detmarschen manck dar erhuef sich ein groth geschrig und weinen under den jungens, de hertoch meinde dat sin folck under sick were uneins geworden, dann de fiende hadden sich vorsteken in de struike und busche, reth also hento mit unvorwaredem hovede, und wolde dat geschrig stillen, also feilen de Dethmarschen van der siden tho ohme in, vorwundeden em dat hovet, und schlogen en to boddem, lepen darna tho, und vorslogen den gantzen hop. Mit dem hertogen bleven 12 ridders, und 300 Holstische eddelluide, darmede was Gert Schulte uth dem stifte Bremen. Van den fanen wort eine upgehangen inn der kercke to Meldorp, und ein to Oldenworden. Darna wort ein anstandt mit dem lande to Holsten gemaket, und dama de sake vordragen. 10. Heinrich Rantzau, Belli Dithmarsici vera descriptio128 Dieser Artikel der Übereinkunft, behaupteten die Dithmarscher, sei, weil der Vertrag auch die Erben verpflichtete, verletzt worden, als Herzog Erich von Sachsen, der Schwiegervater des Grafen Albert von Holstein, im Jahre 1404 des erschienenen Heilands ein Heer nach Dithmarschen geführt, Beute von dort weggeschleppt hatte und durch Holstein nach Hause zurückgekehrt war. Denn sie meinten, dass dieser 128 Rantzau, Belli Dithmarsici, S. 74–78.

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Kriegszug nur mit Erlaubnis der Grafen durch deren Gebiet hätte unternommen werden können. Deshalb verbreiteten sie unter den benachbarten Fürsten und Hansestädten einen Brief, in dem sie über Herzog Gerhard von Schleswig und Graf Albert schwere Klage führten und sie beschuldigten, sie hätten gegen den Vertrag, gegen die mit Brief und Siegel bekräftigte Übereinkunft gehandelt, indem sie zuließen, dass die Dithmarscher mit militärischen Mitteln ohne Vorwarnung über holsteinisches Gebiet angegriffen und von dem Schwiegervater geplündert wurden. Deshalb verlangten sie von ihnen eine Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht und den entstandenen Schaden und versuchten vor allem, durch die Schärfe dieses Briefes etwas herauszupressen. Als er das erfuhr, holte Gerhard seinen Bruder Albert zu sich und kritisierte ihn mit großer Härte. Er warf ihm vor, seinem Schwiegervater viel zu weit entgegengekommen zu sein. Der aber versicherte glaubwürdig und unter feierlichem Eid und in Anwesenheit seines Bruders und ihrer beider Ratsherren, dass er von nichts gewusst habe und ihn keinerlei Schuld treffe. Als Gerhard deshalb einsah, dass sein Bruder schuldlos war, ergriffen beide zunächst die Maßnahme, den Dithmarschern und vor allem den Fürsten und Hansestädten Briefe zu schreiben – vor Letzteren rechtfertigten sie sich und wiesen die Schuld an den Ereignissen und jeden Verdacht von sich, ersteren aber machten sie schwere und bittere Vorwürfe: Dass sie keinerlei Rücksicht auf die Ehre und den Namen [sc. der Brüder; Anmerkung der Edition] genommen hätten und sich daran zu schaffen machten, Unschuldige mit einem Schandmal zu besudeln und es ihnen einzubrennen, dann konzentrierten sie sich darauf, ihre Beleidigung durch Krieg zu rächen. Als die Dithmarschen merken, dass man sich ernstlich gegen sie zum Krieg rüstet, sagen sie auf Vermittlung der Hansestädte, sie seien bereit, das den Fürsten zugefügte Unrecht auf jede erdenkliche Weise zu kompensieren, nur sollten sie jetzt keinen Krieg führen. Aber die Fürsten sind nicht zu erweichen und nicht von ihrem Entschluss zum Krieg abzubringen. Sie führten nämlich gegen die Dithmarscher eine Urkunde beziehungsweise ein staatliches Schreiben an, das im Namen aller Einwohner des gesamten Territoriums im Jahre 1203 nach Geburt des Heilands gesandt und abgefasst worden war: darin geloben die Dithmarscher, für immer dem Grafen Gerhard und seinen rechtmäßigen Erben untertan und ergeben zu sein und den Holsteinern in allen Gefahren Unterstützung zu leisten. Obwohl zu Beginn dieses Krieges das Glück den Holsteinern außerordentlich hold zu sein schien, täuschte es sie am Ende und ließ sie mit einzigartiger Unzuverlässigkeit und Treulosigkeit im Stich. Sie fielen also mit einer von überall her zusammengezogenen Armee in Dithmarschen ein, machten aus allen Richtungen reiche Beute und errichteten in Dellbrück einen starken Stützpunkt. Es handelte sich, wie bei solchen Befestigungen allgemein üblich, um einen niedrigen, unten quadratischen Turm, ein Gefüge aus gewaltigen, abwechselnd miteinander verbundenen Baumstämmen, das feindlichen Geschossen den Einfall verwehren sollte. Seitlich waren ringsum Öffnungen eingelassen, um größere und kleinere Geschütze nach außen zu richten, aus denen der Feind aus allen Richtungen unter Feuer genommen werden könnte. Als die Dithmarscher mehrfach zum Angriff auf die Fes-

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tung anrückten, schlug man sie unter großen und schmerzlichen Verlusten ihrerseits zurück, nahm Meldorf im Sturm, befestigte Hanerau an der dithmarsischen Grenze und fügte dem Feind, gestützt auf die Festungen Tielenburg und Schwabstedt, jederzeit zahlreiche schwere Schäden zu. Nach diesen erfolgreichen Maßnahmen aber wechselte das Glück die Seiten und ließ die Holsteiner im Stich. Denn als Graf Albert, der durch den Landstrich, den die Einheimischen Nordhamme nennen, in Dithmarschen eingefallen war, bereits eine gewaltige Menge an Beute mit sich führte und sich im Eilmarsch zu den eigenen Leuten zurückzog, fiel er unterwegs vom Pferd, ein Sturz, der wenig später seinen Tod zur Folge hatte. Als danach die benachbarten Hansestädte auf diplomatischem Wege einen Frieden zwischen den Parteien zu vermitteln suchten, weigerten sich die Dithmarscher nicht einmal, ihn zu erkaufen, aber Gerhard blieb härter, als angemessen war. Voll Zuversicht, das Land einzunehmen, das ihm wohl vor allem durch den Tod seines Bruders bereits teuer genug erkauft zu sein schien, beschloss er, mit der gesamten Armee gegen den Feind vorzugehen. Und so verging nicht viel Zeit, bis man mit der ganzen Heeresmacht auf der Straße, die (nach der Himmelsrichtung Süden) Süderhamme genannt wird, nach Dithmarschen zieht: Der Herzog selbst geht mit einer Sondereinheit an der Wegenge im Zugangsbereich in Stellung, um sie zu bewachen, die Soldaten eilen plündernd über Feld und Dörfer und bringen überall eine große Fülle an Beute zusammen. Als sie aber, schweifend und verstreut, aus Beutegier weiter ausgreifen und sich erst später wieder zurückziehen, besetzen die Einheimischen, im Gebüsch versteckt, in Scharen die Flanken des verengten Marschweges. Jetzt greifen sie die Rückkehrer, schwer mit Beute beladen, wie sie waren, plötzlich an und veranstalten ein Gemetzel. Dem Heer voraus gingen die Schildknappen. Von ihnen wurde, weil der erste Angriff ihnen galt, ein klägliches Schreien und Heulen erhoben. Als das an die Ohren des Herzogs dringt, glaubt er, dass es unter seinen Leuten zu Aufruhr und Streit über die Beute gekommen ist. Um besänftigend zu wirken, sprengt er ohne Helm mit ungeschütztem Haupt heran. Auf ihn nun stürzen sich die Dithmarscher von der Seite, verwunden ihn schwer am Kopf und werfen ihn vom Pferd. Dann brechen sie im Sturm von allen Seiten gegen die Feinde vor, und während immer wieder neue Kämpfer aus den Verstecken, in denen sie sich verborgen hatten, dazustoßen, schließen sie die ganze Armee wie mit einem Netz ein und schlachten sie bis zur völligen Vernichtung ab. Nur wenige entkommen durch Flucht. Denn mit ihrer üblichen Wildheit geben sie kein Pardon, und in unkontrollierter Wut schonen sie nicht einmal die Schwerverletzten, die zwischen den Leichen noch atmen. Außer dem Herzog fielen zwölf von ritterlichem Rang und aus dem Adel dreihundert, unter ihnen etliche bedeutende Männer von großer Tüchtigkeit, deren Namen noch heute in den Chroniken stehen. Um es kurz zu sagen, ging restlos gerade die Elite von Männern und Soldaten im Herzogtum Schleswig und in ganz Holstein, ging die Blüte einer lebenskräftigen Jugend in diesem Krieg unter. Dennoch wurden am folgenden Tag zwei adlige Holsteiner, Wolfgang Pogwisch und der andere ein Rantzau, zwischen den Leichenhaufen lebendig aufgefunden und gefangen genommen. Sie konnten ihre Freilassung erst erreichen, als sie durch-

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gesetzt hatten, dass die Festung von Dellbrück, die noch immer in holsteinischer Hand war, geschleift wurde. 11. Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen129 Hertoch Erich van Sassen valt in Dithmarschen It hadde im Jahre nha Christi Gebortt 1404 Erich, de Hertoch tho Sassen, Graff Albrechts van Holstein Fruwen Vader, (Swager,) einen Unwillen wedder de Ditmerschen, derhalven rucket he in Affwesen sines Dochtermanß stilleschwigens dorch Holstein up de Geist in Ditmerschen, punderde unde nam ehrer etliche gefangen mit sich wedderumme dorch Holstein in sin Landt, deß sich de Ditmerschen der Tidt, dewille se nu einen Frede mit ehren Naburn hedden, dorchuth nicht besorgeden. Ditmerschen klagen aver de Graven van Holstein. Sewile nu de Ditmerschen mit den Graven, wo vorgemelt, ock dißen Articul in jungester Fredeßhandelinge up de Schlachtinge bi Tiperslo mit ingegangngen: dat nemant des anderen Viendt hufen unnd hegen Scholde, unnd se vormeineden, dat Hertoch Erich mit der Hern van Holstein guden Willen dorch ehr Landt uth unnd tho Huß den Paß genhamen unnd den Roff dorch Holstein tho Huß gebracht, beklagen sich de Ditmerschen schrifftlich bi den benaberden Fursten unde Steden, dat de Graven van Holstein nicht ehrlich bi ehn handelten, sondern wedder Gott, recht unde upgerichtede Vordrege unde Privilegia, derwie se wedder Vordrage, Segel unde Breve handelden, ehnen nichtes Viendtseliges na Krigesbruke ankunden laten unnd hedden doch Hertoch Eriken van Saßen hen unnd thougge dorch ehr Landt theen unnd wat desulve ehn affgeplundert habbe, laten hendorch driven, welches nicht vel anders were, als hedden se se sulvest anvertragen; wo den einen Viendt einen andern tho Schaden hegen unde upholden, nichtes anders were, alse sulvest Viendt sin; vorderen ock darumme van ehnen Erstadinge solches erledenen Unrechtes unnd Schadens, vormeinen ock solches, vormöge upgerichteder Segel, tho erholden unnd vorbidden. Graff Albrecht van Holstein entschuldigt sich bi sinem Broder Gerhart, dat ehm Hertog Erichsen Sake unbewust gewesen. Solche Anklage unnd Uthschriven der Ditmerschen vordrot den Hertog van Schleßwik seher, vorderbe unnd Straffede sinen Broder in Jegenwart ehrer beiden Rede, dat he solckeß habbe gescheen laten, den it nicht gelofflich were, dat ahne sin Vorwetendorch sene Herschop dergliken hebbe gescheen konnen. Graff Albrecht averst entschuldigt sich bi sinem Broder unnd Reden unde schwor hoch hoch unde duer, he were ganz unschuldich solcher Saken unnd hebbe solches Vornhemendes niemaß kein Wehtend gedragen. De hertock, alß de sines Broders Unschuldt vormerkt, 129 Neocorus, Chronik 1, S. 378–388.

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antwordet he: dat iß recht, it iß unß Redelichein unnd Uprichtichkeit van unsen Voroldern lofflich upgeervet unde gelaten, de wille wi schutten unde erholden mit Worden unde Werken. De Hern van Holstein entschuldigen sich jegen der Ditmerschen Anklage, willen sich dorch keine Vorschlege vorsönen, unde handelen laken. Averschicken derowegen also balde wedderumme Breve an de Ditmerschen, grepen se mit harden Worden an, dat se vormetene unde unbedachte Dinge an etliche geschreven hedden, ehnen nicht tho geringen Nhadell unde dat se ock ehre eigen Ehre nicht bedacht unde an Fursten unde Stede, ehnen sulvest tho groter Schande, Lögen vor Wahrheit geschreven hedden, darumme se ehnen den Affbracht wolden gemaket hebben. Dergelichen Entschuldinge schreven se an andere Forsten unde Stede ock. Alß de Ditmerschen der Fursten Unschult erkant, hebben se sich erbaden, den Fursten Gelik davor tho doen. Unde konde solcher gemelteß Hertogen unnd des Graven Unwille unde Torn nicht gestillet noch upgehaven werden, up keinerlei Wise unde Middel, efft men sich wol dorch etliche Handlinge daran versochte; so gar deep hadden se sich solcke Vorunglimpung tho Herten getagen, den jo alles vorgevens was, wat thor Vorsoning vorgenhamen wart. Wo sick ock de Ditmerschen erboden, vor solch Unrecht, Gelich unnd Recht tho doen, allerlei Wise, alleen dat se Krich underwegen laten scholden. Itt bemoieden sick darin der Stede Lübeck unnd Hamborg Gesandte, it waß averst alleß vorgefflich, Krig wolden de Holsten hebben, de wart dar ock uth. Krig in Ditmerschen unnd dat Hus Delbrugge gebuwet Dewile nun de Adel in Holstein gehertzt waß unnd bi ehren Heren anhelden, dat se in Ditmerschen mit Hers-Krafft togen unde groten Buten heruth dreven. Ock buweden se vor der Stadt Meldorp, tho Delbrugge, eine Vestung, welche se eine lange Tidt erhelden. Den it waß ein veste Torn, wo allenthalven solche Vestingen upgerichtet werden, nedden vereckich, mit groten unnd gewaldigen Balken dorch einander vorbunden, dat men nicht mit dem Geschütte dorch hen scheten mochte, unnd weren rundt umme an ider Siden Locker, der Gröte, dat men beide grott unnd klein Geschütte daruth anstellen konde, darmit men allenthalven mank de Viende scheten mochte. Darumme erft schon de Ditmerschen sich offt daran makeden unnd it gerne gestormet hedden, se worden averst affgedreven mit Vorlust sehr vele Volkes. Meldorp gewunen de Holsteiner im Storme in, in welken Krige sick etliche Eddellude so dapper helden, dat se tho Ridder gekrönet worden. Nemant averst getruwede in dem Stedtlin aver Nacht tho bliven, darumme, dat idt nicht vorwahret waß. (De Hertog unnd Graff hebben dat Schlott Hanrouw, vor Ditmerschen gelegen, befestiget unnd H. Hinrich van Alefelde einen Hövetman darup gesettet, darvan den Ditmerschen grot Schade gescheen.) Dat Landt-Volk schloch sick thosamen unde understund sich, de Vesting umme tho riten, waß averst ummesunst, unnd worden se van Hanrouw, Tilebrug unnd Schwavestede eine lange Tidt ahne Underlath

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beschedigt. De Holsten hebben vel Schermutzel mit den Ditmerschen geholden, in densulven sindt de tho beiden Delen Gefangen ahne alle Erbermde erschlagen. Graff Albrecht velt in Ditmerschen in der Nordthamme, dat he stervet. So hatt im Anfange wol dat Gelucke den Holsteinern tho gelachet unnd gunstich gewesen, averst nun fort an hefft it se schele angesehen unnd vorlaten. Den als Graff Albrecht darna sin Krigesvolk vörede up Northamme tho unnd gude Bute thosamen brachte, kemen dartho de Ditmerschen mit groten Hupen unde hedden ahne Twiffel alle dat Volk der Holsten konnen ummeringen unde ummebringen, wo nicht de Eider (NB. Eider) sich ergaten unde den Daal, welche twischen dem Orde unde der Heide ligt, erfullet, darumme den de Holsten dorch einen engen Wech heruth theen mosten mit den Büten. Als averst Graff Albrecht nevenst sinen Hupen darher redt unnd vormerket, dat de Sinen so sehr mit dem Rove nicht ilen, alse he (begerete), unde uth Torn sinen Guel anstach unde ilede, stortede he mit ehm unnd druckede ehn im Harnsche also, dat he balde darna starff unde tho Itzeho begraven wart; leth keinen nha, unnd vel dat gantze Landt an Gerharden. Versichte velfoldige Fredes-Handlinge schleit hertoch Gerhardt uth unnd bringt einen olden Vordrach hervor. It schlogen sick darnha offte in disse Sake mit den Ditmerschen de Stede up der Naburschop, dat se se mochten bileggen, unnd plegeden velfoldige Underhandeling. De Ditmerschen erboden sick erstlik sulvest, eine grote Summa Geldes tho geven, dat se mochten Frede hebben. Hertoch Gerhard wolde nicht, leth ehn averst lestlich anseggen, wolde alle Jahr ein Gelt van ehn hebben, (se scholden em tinßbar sin,) den he hadde grote Hopening, he wolde ehr Ladt gar under sick bringen, dat se ehm underdaen unde gehorsam sein. Welches se alle Tidt swherer ankam, alse de Dodt. Den ock de Underhandler unnd Middeler, wo men geldvede, de Sake up solcken Vordrach nicht hadden vorgeschlagen. De Hertoch brachte ehre eigene Breve unde Segel hervor, darmit se thovorn hadden thogesecht, se wolden dem Graven mit ehrer Hulpfe bistaen, in wendich edder uthwendich siner Herschop wedder einen Idern Viendt, wol de eck were. Se hadden averst solch Erbeden mit Ernst weder gemeinet noch geholden, also dat de Hertoch sede: It will dit Volk wedder Thosage noch Breve unnd Segel holden, wo wi sehen, welche unß doch van ehn tho erlangen veel Moye unnd Arbeit gekostet. Nu hefft ock daraver unse Broder sin Blott gelaten unnd sin Leven vorleren möten, darum it uns keines wegens gebören will, dißen Handel also hengaen tho laten. De Ditmerschen hebben des Hertogen Anmoden nicht wollen annehmen, jodoch umme Fredes willen sich laten hören, se wolden aver de thogesegte Summa Geldes den Fursten tho Holsten uth ehrem Lande tho Hulpe kamen wedder ehre Viende, in etlicher Antal, doch mit den Beding, dat de Holsten ehn wedderumme laveden Bistant tho doen in ehren Nöten. Christianus Cilicius Cimber lib.1. Chronici sui de bello Dithmarsico fol.40. secht de Breff st gegeven wesen im Jahre 1203, (Joh. Peterßen settet 1283.) unnd hebbe

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geholden up Graven Gerhart unnd sine rechte unnd echte Erven. Nu will sick solches dorchuth nicht schicken, wo ich solches dem Leser tho ordelen heimstelle. Den Ao. 1203 iß kein Grave des Namens in Holstein geweset, sondern einer mit Namen Adolph, unde aver dat stunden de Dithmerschen do im Bunde mit dem Koninge van Dennemarken, Canutus, unnd hadden sick under sinem Broder Woldemar, dem Bischop to Schleßwick, gegeven umme dat Jar 1200., darin se gebleven beth up de Schlacht bi Bornhovede, so int Jar 1226 ingefallen. Rolves Boiken Sone belegert dat Huß Delbrugge unnd werrt erschaten. Dewile nun solch ein steder Unrath unnd Schade den Dithmerschen van dem Huse Delbrugge entstundt unnde de Parten vele Dageleistung helden unnd rathschlagden, vorsammelden sich de Ditmerschen, datsulve Schlott tho breken unnd in Grundt tho riten. Alß se averst darvor kemen, worden ehrer vele erschlagen, unnd ehrem Hovetmanne, Rolves Boiken Sone, dat Hövet mit einer Bußen thoschmettert, unnd wart dat Hövet up einen Pael vor der Vesten gesettet. De Ditmerschen theen aff unde de Viende roven im Lande. Na weinig Dagen weken de Ditmerschen mit groten Schaden unde Sportt wedderumme vam Blockhuse. Als se nun darvan weren, vorberneden de Holsten alle Dorper up der Geest, (dat iß up der Hogte) in Ditmerschen, worden vele gefangen unnd einen groten Roff an Koien, Perden, Schap unnd Swin genamen, den se also balde in Holstein schickeden. Hertog Gerhard veidet in Ditmerschen. Krieg unnd Sieg der Ditmerschen. In deme de Dageleistungen twischen den Hertogen unde den Ditmerschen unfrundtlich affgegangen, samlet Hertoch Gerhart ein grot Volk, der Orsaken, dat he mit aller Macht unde Gewalt erlangede, wat he mit Worden unnd Drouwenden nicht tho wegen bringen konde, unnd thoch am Dage Osvaldi, waß de 5. Augustus im Jahre 1404, (daher Osvaldus ock der Ditmerschen Patron, und hen unnd wedder in den Kerken gemalet edder gehouwen steit, ock hefft men den Dach hoch gefiret unnd Gade thin Ehren ein Siegfest beide im Pawestdome unde darnha geholden; luth des 99. Articulß Ider bi 60 mk. Broke, welches darnha, na Erovering des Landes, affgeschafft,) mit gewaldiger Handt dorch de Suder-Hamme in Ditmerschen. Dat iß eine Landtwehre mit 2 edder dree duppelden Graven up etlichen Steden unnd Orderen vor der Marsch, mit Holte dicke bewurtelt unde bewaßen, dardorch geit ein enger Steenweg, twe edder der Stenworpe breidt, de hefft up beiden Siden einen depen Graven. De Hertoch hadde sin Volk wol geordent unnd dat overste Venelin Hern Nicolao van Alevelde, Rittern unnd dat Schutzen-Venlin Hern Hinrich van Alevelde, sinem Broder ock Riddern, befalen. De Hertoch stundt im ersten Antage bi dem Venlin. De Schutten unnd andere, so ehme tho Hulpe gekamen weren, hebben einen widen Ummeschweiff genamen unnd hebben de Dorper unnd Carspele

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Lunden unnd Weddingstede thostoret unde berovet; in dem ehnen nemantt wederstundt, ileden se nicht hefftich tho rugge. H. Hinrich van Alefelde redt ummeher, vorordent, dat de Roff thosamen gebracht werdt, an Perden unnd anderen Derten unnd stickede etliche Huse mit Bure an. Nicolaus, sin Broder, vormanede ehn, seggende: It iß Tidt, dat wi wedderumme uth dem Lande theen, wille wi ungeschlagen sin van den Ditmerschen. H. Hinrich vorachte de Vormaning sines Broders, darmit he ertögede sin unerschraken manliche Herte unnd dat Idermenniglich vorstunde, ilede he nicht uth dem Lande; it stundt eine Windtmol darsulvest hen, redt he mit sinem Hupen de tho vorderven unnd ummethoriten. Dewile dat Krigesvolk Hertog Gerhardes dergestalt in Ditmerschen handelte, heelt he eine Tidtlang vor der Hamme, dar he wedder dorch moste, unnd erwachte der Sinen. Middeler Tidt sammelden sich de Ditmerschen in der Hamme unnd vorbergeden sich in dem Holte, Buschen unnd Gravern, dar he Holsten wedder uth dem Lande mosten. Hertog Gerhart wert erschlagen. Wie nun de beiden Broder van Alevelde wedder an den Hertogen kemen unnd wedder uth dem Lande wolden, schickeden se den Roff mit etlichen Buren vorhen na der Hanrouwe, de kemen darvan unbeschedigt; als nun de Förste sambt sinem Krigesvolke herna volgede unnd de Knaben, so ehrer Heren Schilde unnd Spete vöreden, worden ock vorn an geschicket, als de an den Ort kemen, dar de Ditmerschen sich vorborgen enthelden, averfallen se am ersten desulven Jungen, do erhevet sich dar ein grot Geschret unde Rumor. Als dat H. Gerhardt hörede, vormodede he, de Knaben schlogen sich undern sulvest, (den de Viende hadden sich vorsteken van den Strucken unnd wehren ehrer anfenglich men twelve, de den Angrepe deden,) reedt also hentho mit unvorwareden Hövede, hadde nur einen Plochstaken in de Handt, den Upror der Jungen, als he meinede, tho stillen. Do de Furste under de Knaben kam unnd de Dithmerschen siner gewhar werden, averfallen se ehn tho beiden Siden, houwen den Kop entwei, also bleff he alsobalde dodt. Als dit de Jungen segen, waß ehres Blivendes dar nicht lenger unnd wiken alle dorch de Hamme uth dem Lande. Unnd de gantze Hupe der Krigeslüde vortzagede unde geven sich up de Flucht dorch de Hamme. De Ditmerschen, de sich allenthalven her gesamlet, grepen de Holsten van Ruggen an unnd tho beiden Siden des engen Weges mit könem Gemöte. De Holsten weren gern geweken, averst van Engicheit des Weges konden se mit den Perden ilendes nicht wol sembtlich darvan kamen, derhalven geven etliche den Radt, men scholde van den Perden stigen unnd tho Vote darvan ilen, de andern bleven up den Perden. Uth dissen Orsaken disser Uneinigkeit vorhinderde unde beschedigde de eine den anderen, de nun van den Perden gestegen weren, de worden mit den Perden thotreddet edder in de Graven gestödt unde geschlagen, etliche vorleten ock ehre Perde unnd lepen tho Vote in dat Moor, vorhapeden also darvan tho kamen, de bleven alle. Etliche de reden na der Heide, vormeinden aldar wech tho kamen, de wurden alle erschlagen; de mehrer Deel ileden den Weg dorch de Hamme, dar se int Landt gekamen weren, dar stunden de Ditmerschen up beiden Siden des Weges mit langen Speisen, vorwundeden vele in dem

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Wege, steken unnd schlogen ehrer vele tho Dode. It legen ock vorwundede Perde up dem Stenwege, de schlogen mit den Vöten um sick unde vordorven Perde unde Lüde, jedoch kemen ehrer weinig dorch ein wunderlich Gelucke darvan, de andere gantze Hupe wart erschlagen, erdrucket, ertreden, de dorch de Hamme nicht darvan kemen. Den sonderlich konnte men der Perde halven, so erschlagen worden unde den Wech ingenamen, nicht hendorch kemen. Balt darnha geit men gruwsamlich umme mit den, de tho Boddem geschlagen sin, unnd wert keines Levendes verschonet, de halff dodt weren, erworgeden se vollens, wolden ock nicht gestaden, de doden Lichamme tho begraven, uthgenhamen des Hertogen Like unnd etlicher Ridder, de mit groten Gelde van den Ditmerschen gekofft worden, de anderen hebben se den Hunde, Wulve, Raven unnd andere Derre unbegraven upfreten unde vorteren laten, wedder den Krigesgebruck veler Heiden. Twelff Ridder unnd vele vam Adel mit Hertog Gerhardt dodt gebleven. In dieser Schlact iß dodt gebleven Hertoch Gerhardt unnd van beiden Landen Holsten unde Schleßwich drehundert Eddellüde, dartho disse Ridder: H. Henneke Lembeke edder Lemmeke, de offt mit des Koninges van Dennemark Krigesvolke sich ingelecht hadde. H. Wulff Poggewisch, de gude genant. H. Hinrick van Alevelde. H. Claweß van Alevelde. H. Hinrick van Siggem Marschalk. Ove van Siggen. H. Severt Schulte, Ridder uth dem Bischopdome Bremen. Mit anderen untelligen. In Summa alle vornehme, utherlesene Lüde des Hertogdomes Schleßwik unde Holstein vam Adel, Burgeren unnd Buren sint up der Walstede gebleven. Delbrug eingereten. Ehrer twe vam Adel, de junge Wolff Poggewische unnd ein Rantzouw, sind des andern Dages under den Doden gefunden unnd gefangen, de hebben se nicht willen frigeven, se musten den erstmalß beschaffen, dat dat Blockhuß, de Veste Delbrugge, dat de Holsten noch inne hadden, affgebraken unde thorschleifft wart. Der Fenlin, de se bekamen hadden, leten so eintz tho Meldorp, dat ander tho Oldenworden in der Kerken hoch hervor steken. Van Golde averst, Sulver, Eddelgesteinen, Perlen, Perde, Rustungen, averkemen se van den Erschlagenen ein groten Schatt. Innd waß diß de andere merkliche grote Nedderlag der Holsteiner, in Ditmerschen genhamen, de erste nhemen se im Jahre Christi 1320 under Graff Gerhart, dieses Hertogen Grote Vader, de sulve bleff damal wol bo Levende, averst dat meiste Krigesvolk wart erlecht.

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12. Cyriakus Spangenberg, Chronicon […] der […] Graffen zu Holstein Schaümbürgk130 Lib. 3, cap. 32: […] Anno 1403. hatt itzgedachter Hertzog Erich eine Zweitracht/ vnnd wiederwillen mit denn Diethmarsen gehabt/ vnd ist denselben heimlich durch das Landt Holstein in abwesen Graffen Albrechtes eingefallen/ etzliche darinnen gefangen/ das Landt beraubet/ vnd den Raub sampt den gefangenen/ mit sich durch die Graffschafft Holstein in sein Fürstenthumb geführet. Dieses habe sich die Diethmarschen gegen alle vmbliggende Fürste/ Herrn vnd Stedte zum höchsten beklaget/ das sie durch Verstattung mit wissen und willen der Graffen/ durch ihr Landt zum beschwerlichsten weren Verletzt vnd beschediget worden/ daran die Graffen wieder Gott vnd Recht/ auch wieder (cap. 22.) auffgerichte Vertrege/ vnd also nicht woll gehandelt hetten/ das sie ihren Feindt H. Erichen/ vnabgesagter vnd vnuerwarneter Sachen/ durch ihr Landt sie vberziehen lassen/ begereten derwegen sie dahin zuhalten/ das ihnen das geraubete guth wieder/ vnd der zugefügte schade erstattet werden mocht. Solches außschreiben bewegt Hertzog Gerhardten zu Schlesßwig nicht ein weinig: beschrieb derwegen seinen Bruder Graffen Albrechten zu sich/ vnnd fragte ihne ernstlichen in gegenwertigkeit ihrer beiden Rethe/ Ob Hertzog Erich sein Schweher/ mit seinem willen/ vergunst vnd vorbewust/ die Diethmarsen/ durch sein Landt beschedigt hetten/ wiesie sich beklagten? Hierauff andtworten G. Albrecht/ das ihme von solchem fürnehmen des Hertzogen/ seines Schwehers/ das geringste nicht bewust/ Er auch gleich damalß nicht inner Landes gewesen/ vnnd bestetigte solches mit einem Eyde: Da sprach H. Gerhardt: Unsere lieben Voreltern haben vns einen ehrlichen Nahmen auffgeerbet/ denn wollen wir auch mit Gottes hülff/ erhalten/ vnd mit wortern vnd thaten beweisen vnd beschirmen. Hiernach belangten der Hertzog vnnd die Graffen die Diethmarschen/ durch einschreiben/ vnd begereten von ihn ein wiederruff vnd abtrag/ wegen der beschuldigung vnd Ehrenruhrigen aufflage/ darmit sie die bey Fürsten vnd Stedten/ vnbillig vnnd vnuerschüldeter sachen/ mit vnwarheit verunglimpfet hetten/ wie sie sich denn dessen auch gegen die Herrn vnd Stedte beschweret/ vnnd solcher aufflagen zum höchsten entschüldiget/ Da die Diethmarsen nun erkandt/ das die Graffen vnschüldig/ vnd das sie mit ihrem außschreiben Zuviel gethan: Haben sie sich erbotten/ ihnen davor gnug zuthun/ vnd haben die beiden Stedte Lübeck vnd Hamburg/ sich auch sehr in der sachen bemühet/ das die Parthen in güte Zuuertragen/ darmit diese böse Zweispalt ohne blutvergiessen mochte beigelegt werden/ Aber nichts erhalten können/ den die Graffen vnnd ihr Adel zugar ergrimmet/ vnd mehr zum Kriege den zum Frieden geneigt gewesen/ zu ihrem grossen schaden. Unlengst hernach haben sich Hertzog Gerhardt vnd sein Bruder G. Albrecht/ mit alle ihrer Mannschaft gerüstet/ vnd seint mit grisser macht in Diethmarsen gerückt/ vnd den fürnembsten flecken Meldorff eingenohmen/ etzliche vom Adel 130 Spangenberg, Chronicon, lib. 3, cap. 32, und lib. 4., cap. 2, S. 152–154 und 173–176.

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daselbst zu Ritter geschlagen/ Aber weil es ein vnbevestiger Orth/ sich keine Nacht drinnen wagen dürffen/ doch alles herumb Verderbt vnd geplundert/ vnnd gen Delbrück ein stark Blockhauß/ vnd Veste gebawet/ welches die Diethmarsen mit gewaldt wiederumb nieder zureissen sich vuterstanden/ aber ihrer viel davor blieben vnd derwegen von ihrem Vorhaben ablassen müssen. Der Hertzog vnd Graff/ haben das Schloß Hanrow vor Diethmarsen gelegen/ bevestiget vnnd Herrn Heinrichen von Alfelde/ zu einem Heuptman darauff gesetzt/ davon den Diethmasen trefflich grosser schaden geschehen/ wie auch von der Tilenburg vnd von Schwanenstedde. Sonst haben Holsteiner vnd Diethmarsen viel ernster vnd schwinder Scharmützel miteinander gehalten/ darinnen von beiden theilen viel gefangen/ vnd ohn alles erbarmen jammerlich vmbgebracht worden. Graff Albrecht zog mit seinen Holsteinern durch die Northamme/ vnd holete einen Raub auß dem Lande/ Aber die Diethmarsen versammeleten sich/ ihnen solchen Raub wieder abzudringen/ wie auch geschehen wehre/ wen die Eyder nicht zu groß vnd der Holsteiner schutz gewesen wehre den dieselbie vbergelauffen/ vnd den gantzen grundt zwischen ihrem fluß vnd der Heide vberschwemmet/ sonst were der Holsteiner nicht eine darvon kommen. In deme sich nun G. Albrecht düncken ließ/ die seinen weren etwas zu langsam/ vnd eileten nicht sehr gnug mit dem Raube auß dem Lande/ vnd derhalben im Zorn seinen Gaull anstach sie forth zutreiben/ stürtzet er mit demselben zur Erden/ vnd thet also einen gar bösen fall in der Rustung/ daß er des todes darüber sein müssen/ wie er den kurtz hiernach von diesem fall ist gestorben/ vnd an S. Michaelis abendt zu Izeho begraben worden. Anno 1403. […] Lib. 4, cap. 2: Alß Hertzog Gerhardt vnd seine Brüder dieses/ dessen sie die Diethmarschen/ gegen menniglich beschuldigt/ nicht wollten auff sich bleiben lassen/ sondern sich solches mit der Faust an ihnen zurechen beschlossen/ vnd kein erbieten der Diethmarschen annehmen wollten/ vnd auch keine vnterhandlung statt finden kondte/ sondern sie stracks mit alle ihrer macht/ in Diethmarschen zogen/ vnd grewlich darinnen gewütet/ geraubet vnd gebrandt/ darüber auch Graff Albrecht (wie an seinem orth gedacht) mit seinem Gaull gestürtzt/ daß er des todes seyn müssen. So erbotten sich doch die Diethmarsen noch immer zum abtrage/ vnd verhiessen eine grosse Summa geldes/ aber es halff alles nicht/ Hertzog Gerhardt wollte solce Summa Geldes Jehrlichs vib ihnen haben/ welches aber die Diethmarschen zuschwer vnnd vntreglich bedünckete/ vnd ob auch wol die Seestedte/ sonderlich Lübeck vnd Hamburg/ alle mittel zu abtrag vnd versümug versuchten/ So wollte doch bei de Hertzog kein vorschlag hafften/ den er zog dieses an/ dz die Diethmarsen vor dieser Zeit fft vnd viel zugesagt/ vnd mit eides pflichten verheissen/ aber niemalß gehalten/ darüb ihnen auch nochmalß alß trewlosen Leuten nicht zuuertrawen. So war er auch dadurch noch mehr erbittert/ dz er seinen Bruder darüber verlorn hette/ dessen todt er zurechen gedachte/ vnd verhoffete/ die Diethmarschen mit gewaldt nun Vollendt vnter sich zuzwingen/ dz sie hinforth als Leibeigene Leute/ alles waß er nur wolte/ thun müsten.

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Darauff ließ er ihnen kurtz rundt anzeigen/ sie sollten sich außdrucklich erkleren/ ob sie ihme gantz Unterthan vnd Zinßbar sein wollten oder nicht/ darnach er sich endtlichen zurichten/ denn er hette ein starcke Verschreibung/ darinnen sich ihre Vorfaren/ Anno 1283. gegenG. Gerhardten zu Holstein/ vnd dessen erben/ verpflichtet/ vnd zu ewigen Zeiten/ denen inwendig vnd ausserhalb ihrer Herrschaft/ gegen Jedermenniglichen/ so sich zu ihnen nötigen/ mit der handt/ hülffe vnd beistandt zuthun/ Solches wolte er nun auch kurtz vmb von ihnen nochmalß gehalten haben. Dieses anmuthen des Hertzogen/ wollte denn Diethmarsen gar nicht eingehen/ doch liessen sie sich vmb friedes willen so viel vernehmen/ das sie vber die zugesagte Summa geldes/ dem Fürsten zu Holstein/ ausser Landes mit einer anzahle Volcks zu hülffe kohmen wollten: doch das ihnen die Holsteiner auch hinwieder zusagten/ inen in iren nöthen beistandt zuthun. Unter dessen alß man nun solcher handelung pflegte/ versamleten sich die Diethmarschen/ vnd vnterstunden sich/ das Blockhauß zu Delbrucken zu zerbrechen/ würden aber ihrer viel davor geschagen/ vnd ihrem Obersten das heupt davor abgeschossen/ das sie vngeschafft wiederumb davon abziehen müsten. Darauff verbrandten die Holsteiner alle Dörffer/ auff der Geeste/ das ist auff der Höhe/ Auch würden der Diethmarschen viel gefangen vnd ein grosser Raub an Kühen/ Pferden/ Schaffen vnd Schweinen genommen/ vnd in Holstein getrieben. Und da auch nun darüber alle vnterhandtlung vergebens abgienge/ samlete H. Gerhardt wiederumb ein grosses Volek/ des vorfatzten/ mit gewaldt zuerlangen/ waß er mit worten nicht erhalten können/ Machete auff ein Vorsorge sein Testament, vnnd verordente auff denn fall seinen Kindern zu Furmunden/ Herrn Erich Krummendick/ Siegfrieden von Seestedten/ vnd Lorentz Heesten. Erhielt darnach bey dem Rath zu Hamburg/ das sie ihren Burgern verbotten/ den Diethmarschen nichtz zuzuführen/ dagegen bewilligte er den Burgern etzliche Articull/ darunter dieser einer war/ das der Rath seinen Burgern vnerkandter sachen vnd Rechtens/ einziehen lassen sollte/ welches hernach nicht zu schlechtem auffruhr vrsach geben. Hierauff zog Hertzog Gerhardt Anno 1404. am fünfften Tage Augusti, mit gewaltiger handt/ durch die Suderhamme in Diethmarschen/ dieses ist ein Landtwehre mit zweyen oder dreyen gedoppelten graben an etzlichen orten/ vor der Marsche mit holtze dicke verwurzelt vnd bewachen/ dadurch gehet ein Enger Steinweg zwey oder drey steinwürfe breith/ derselbe hat auch auff beiden seiten tiefe graben. Nun hette der Hertzog sein Volck woll geordent/ vnnd das Oberste Fänlein/ Herrn Nickeln von Aleveld: das Schützen Fähnlein/ Herr/ Heinrich von Aleveld seinem Brudern bevohlen/ die Schützen sein bald in die kirchspielen Lunden und Weddingstede gefallen/ vnd die beraubet vnd geplundert/ vnd weil inen daselbst nicht sonderlicher wiederstandt geschehen/ eileten sie nicht sehr zurucke/ vnter des ritt Herzr Heinrich von Aleveld vmbher/ vnd verodnet/ daß der Raub vom Viehe zusamen getrieben wardt/ vnd zündet er etzliche heuser an. Aber sein Bruder Herr Niclaß sprach ihn an vnd sagte: Bruder es ist Zeit/ daß wir vns wieder auß dem staube machen/ wollen wir anders vngeschlagen davon kommen/ Aber Herr Heinrich schlug solche warnung in windt/ vnd damit man

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sehen mochte/ daß er noch vnuerzagtes hertzens wehre/ Ritte er erst nach einer Windtmühlen mit seinem hauffen/ dieselbige zuverwüsten. Mitlerweile hielt H. Gerhardt vor der Hamme/ da er wieder hindruch müste vnd erwartet alda der seinen/ vnter des versamleten sich Diethmarsen an der Hame/ vnd verborgen sich in dem holtz/ Pusch/ hecken/ vnd in den grabe da die Holsteiner wieder hindruch müsten. Wie nun die beiden Alevelde wider zu dem Hertzogen kamen/ vnnd nun auß dem Lande nach hause wollten/ schicketen sie den Raub mit etzlichen Bauren vorhin/ nach der Hanrow/ die kamen vnbeschedigt davon. Da nun der Hertzog mit seinem KriegsVolck hernach folgete/ schicketen sie ihre Schildtbuben voran/ vnd meineten es hette nun kein noth mehr/ Alß nun dieselben an denn orth kamen/ da sich die Diethmarschen verbergt hetten/ welche herfur wischeten vnnd diesen vortrab vberfielen/ da erhub sich ein groß geschrey/ wie solches der Hertzog hörete/ meinete er die buben schlugen sich vntereinander/ ritt also mit blossem heupt hinzu/ ohne alle wehre/ vndhette nur einen Pfluchstecher in der handt die buben damit zustillen. Da er nun vnter die Buben kam/ vnd die Diethmarschen ihn ersehen/ deren doch anfenglich nur zwolff beisamen gewesen/ vberfielen sie ihnen von beiden seiten her/ vnd hieben ihm den Kopff entzwey daß er alßbaldt todt blieb. Wie solches die Jügen gesehen/ flohen sie alle durch die Hame auß dem Lande/ vnd wardt der gatze haufe der kregsleute zaghafftig vnd flüchtig. In des hatten sich die Diethmarschen von allen orten auß den winckeln gesamlet/ vnnd griffen die Holsteiner von hinderwerts an/ von beiden seiten des engen weges: Da die nun zu Roß nicht samptlich neben noch beieinander davon kohmen köndten/ stiegen etzliche ab/ vnnd eileten zufuesse davon/ Aber weil eines dz ander nur hinderte/ halff ihm die flucht weinig/ den etzliche würden vo Pferden zutretten/ etzliche in die graben gestosse vnd geschlage/ etzliche flohe in dz gerorich vnd gemorich/ diese alle kamen de Feinde in die hende/ vnd müste bleiben/ etzliche ritte nach der Heide vnd würden auch alle erschlagen: Der meiste theil eilete drch die Hame/ da die ins Landt kamen/ stunden die Diethmarschen am wege auff beiden seiten mit langen spiessen/ stachen vnd schlugen sie zu boden/ So lagen auch viel verwundete Pferde auff dem Steinwege/ die schlugen vmb sich vnd verderbten viel andere Pferde vnd Leute: Das dieselben nicht forder kohmen kondten/ Was nun nicht durch die Hamme davon kam/ wardt alles ohne erbarmung erschlagen/ vnd keines verschonet. In dieser Schlacht seint blieben Hertzog Gerhardt selbst/ vnnd mit ihme Zwölf fürnehmer Edler Ritter vnnd 340. vom Adel auß dem Herzogthumb Schleßwig/ vnter welchen nicht die geringsten gewesen/ Henneke von Lembecke/Wolff Poggewisch/ zugenandt der gute/ Heinrich und Niclaß von Alevelde/ Heinrich von Siggen der Marschalck/ Otto von Siggen/ Gerhardt Schulte ein frembder Ritter/ vnd viel andere mehr vom Adell/ Burger und Bauren/ so auff der Wahlstet blieben. Des anderen tages funden die Diethmarsen zweine vom Adel vnter den todten noch lebendig/ den Jungen Wolff von Poggewisch/ vnnd einen Rantzowen/ die nahmen sie gefangen/ sollten die hernach loß werden/ so müsten sie verschaffen/ das zuvor die Vestung Dellbrugge abgebrochen vnd zerschleiffet wardt.

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13. Caspar Danckwerth und Johannes Mejer, Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein131 Dan/ als Anno 1403. Hertzog Erich zu Niedersachsen den Ditmarschern Feindschafft übete (so ohnzweifel/ von wegen des Landes zu Hadelen oder dessen Einwohnern/ Hertzog Erichs Untertahnen/ sich angesponnen) marschierte der Hertzog mit einer Parten Krieges Völcker gar geschwinde durch die Graffschafft Holstein/ wie sein Eidam Graff Albrecht eben nicht im Lande war/ taht fernen einen unvermuhtlichen Einfall in Dithmarschen/ beraubte das Land/ und fieng etliche Ditmarscher. Mit solchem Raube und den Gefangenen/ marschierte er eilends wieder zurücke durch Holsten gen Lawenburg. Die Ditmarscher vermeynten/ Hertzog Erich hätte solches mit wissen und willen der Graffen zu Holstein gethan/ Klagen derowehen über sie gegen den benachbarten Fürsten und den Städten/ als ob die Graffen zu Holstein/ wieder Gott und die auffgerichtete Verträge/ und wie sie sagten/ nicht redlich daran gehandelt hätten/ indeme sie Hertzog Erich den Paß verstattet/ durch ihr Land mit Krieges Völckern zu ziehen/ dadurch sie wären beschädigt worden. Wie aber die Fürsten ihre Unschuldt an dieser Taht bald zu Tage legeten (dann der Hertzog hatte gantz unvermuhtlich diesen Marsch verrichtet) und sich hinwieder über die Ditmarscher sehr beschwereten/ erboten sich die Ditmarscher einen Abtrag zu tuhn/ wegen daß sie die Fürsten aus Unbesonnenheit unredlicher Dinge beschuldigt/ ehe dann sie sich des Handels recht erkündigt hätten. Aber Hertzog Gerhard zu Schleßwich/ Graff zu Holstein/ und sein Bruder Graff Albrecht zu Holstein/ waren damit gar nicht vergnüget/ sondern namen ihnen vor die Ditmarscher mit Raub und Brand abzustraffen/ und wo müglich gar zubezwingen. Bringen derowegen ein groß Volck zusammen/ noch in selbigem Jahre 1403. rücken damit vor Meldorp und eroberen es. Zu Delffbrug bawten sie eine Vestung/ von welcher/ so wol von der Tielenburg/ von Hanrow und von Schwabstedte/ sie das Land Ditmarschen offtmahls beraubeten. Graff Albrecht zog einesmahls mit seinen Trouppen durch die Nordhamme/ und holete einen grossen Raub aus dem Lande: Die Ditmarscher sammelten sich starck/ in Meynung/ ihm denselben wieder abzudringen. In dem nun Graff Albrecht aus dem Lande eilete/ und dem Pferde tapfer die Sporen gab/ fiel dasselbe mit ihm zu boden/ von welchem Falle er so viel kriegte/ daß er unlange darnach den Geist auffgeben muste. Nach dem Tode Graff Albrechts/ ererbete Hertzog Gerhard seinen Antheil an der Graffschafft. Und weil er demnach die gantze Graffschafft Holstein/ neben dem Hertzogtuhm Schleßwich besaß (denn der dritte Bruder/ Graff Heinrich/ war ein Geistlicher) so ward er dadurch so viel muhtiger/ ließ sich Graff Albrechts Unfall nicht schrecken/ sondern vielmehr zu Zorn und Rach bewegen/ gestaltsamb er den Ditmarschern/ ob sie wol gar starck umb den Frieden anhielten/ und ihme eine grosse Summe Geldet anboten/ und zwar in einem Ziel bahr zuerlegen/ dennoch anderer gestalt keinen Frieden gönnen wollte/ als zum fall/ sie ihm wollten huldigen als Untertahnen/ und Zinsbar seyn. Wie nun die Tractaten zwischem dem Hertzogen 131 Danckwerth/Mejer, Landesbeschreibung, S. 297.

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und den Ditmarschern zerschlugen/ führete er eine grosse Armee in Ditmarschen/ im Augusto, Anno 1404. und brach mit gewaltsamer Hand durch die Landwehr/ die Süderhamme genandt/ so da war bey Hemmingstede. Des Hertzogen Völcker zerstrewen sich über die Marsch/ und machen gute Beute/ der Hertzog selber blieb mit etlichen wenigen ein stück weges von der Hamme halten. Entzwischen/ haben sich die Ditmarscher/ deren doch anfangs nur zwölff sollen gewesen seyn/ worzu immer mehr und mehr gekommen/ bey der Süderhamm/ welchen Paß die Holsteiner/ sehr unvorsichtiglich/ nicht der gebühr besetzet gelassen/ gesamelt/ und sich in dem kleinen Gehöltze/ so bey der Hamme zu beeden seiten war/ verborgen. Nachdem nun der Hertzog seine Völcker wieder an sich gezogen/ marschireten sie auff die Hamme zu/ wusten von keinem Feinde/ zumahl/ eine weile zuvorn sie die Beute voran geschicket hatten/ welche auch unangefochten über den Paß gekomen war/ schicken derowegen die Schildknaben vor ihnen her/ wie dieselben ein wenig fortgezogen/ und an den Ort kamen/ da der Hinterhalt der Ditmarschen lag/ wurden sie von ihnen angefallen un nidergemachet: Da erhub sich ein groß Geschrey/ welches als es der Hertzog hörete/ vermeynete er/ die Knaben schlugen sich untereinander/ dann er sich keines Feindes an dem Orte besorgete/ reit derowegen hinzu/ nur mit seinem Seiten Gewehr versehen/ so hatte er auch eben das Haupt mit dem Helm nicht verwahret: Sobalde die Ditmarscher sein angesichtig werden/ fallen sie von beeden seiten aus dem Gehöltze heraus/ und hawen ihm den Kopff entzwey/ daß er so fort auff der stelle todt danieder fällt. Von diesem gantz unvermuhteten Fall/ ward das gantze Heer der Holsteiner zaghafft/ die Ditmarscher aber desto kecker/ und weiln nun kein ander Mittel war/ als daß die Holsteiner durch die Hamme/ gleichsam dem Teuffel zwischen die Hörner hindurch/ marschiren musten (dann die Ditmarscher bestritten sie nicht allein von beeden seiten/ sondern waren auch nunmehr mit rauher Handt hinter ihnen her) als wollte ein jedweder der forderste seyn. Johann Petersen schreibet/ daß dennoch der grösser Teihl der Armee davon gekomen/ mehr denn man geglaubet hätte. Jedoch seynd/ neben Hertzog Gerhardten/ daselbst geblieben zwölff Ritter und dey hundert vom Adel/ woraus leicht abzunehmen/ daß ein viel grössere Anzahl gemeiner Knechte aus den beeden Fürstentühmen Schleßwich und Holstein/ daselbst ihr Leben gelassen. Die Ditmarscher liessen die todten Cörper unbegraben im Felde liegen/ für die Hunde/ Raben/ und andere unreine Tihre/ nur allein des Hertzogen und etlicher Ritter Leichen/ wurden mit grossem Gelde von den ihrige gelöset/ und ihrer Vorältern Gräber beygesetzet.

Julia Liedtke

Aus Schleswig-Holstein an die Front Ein Soldat aus Dithmarschen im Ersten Weltkrieg

Abstract This article summarises the results of research performed on the war diary of Hans Schröder from Barlt, a rural municipality in northern Germany. In his text, he describes and reflects his personal experience as a soldier during World War I. Since the 1980s, military history emphasises the scientific importance of such ego-documents as a source of information on daily grind on the front line. Hans Schröder is drafted in 1916 and takes part in static warfare in Belgium and France as machine gunner. In his diary, he describes in great detail the routine of everyday life in the trenches. Clearly noticeable are Schröder’s enthusiasm and high hopes when leaving his home in Schleswig-Holstein, but combat experience soon has a sobering effect on him. He then repeatedly mentions the horrors of war that bring soldiers as well as civilians to their physical and emotional limits. On the other hand, Schröder sometimes resorts to linguistic stereotypes which are typical for autobiographical texts in his days: Combat operations are described with ostentatious sangfroid, and enemy soldiers with attributes well-known from German propaganda at that time. Throughout his diary, the author depicts himself as loyal to his country and its emperor Wilhelm II, leaving no doubt as to his integrity and his emotional ties to Schleswig-Holstein.

Je stärker der Krieg im 19. und 20. Jahrhundert große Teile der Bevölkerung involvierte, umso mehr verspürten die Bürger*innen den Wunsch, ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Durch die Einführung der Militärpflicht wurden Kriege zu Massenkriegen. Zugleich kam es zu einer strikten Trennung der Geschlechter. Waren im Mittelalter und der Frühen Neuzeit noch Prostituierte, Ehefrauen und Kinder dem Tross in die Schlacht gefolgt, kämpften im modernen Krieg nur die Soldaten an den Fronten. Angehörige blieben zurück und leisteten – wie es die Propaganda formulierte – an der „Heimatfront“ ihren Beitrag zum Sieg. Entsprechend stark wuchs das Bedürfnis nach Kommunikation zwischen Feld und Heimat. Eine Ausweitung der Schulbildung auf nahezu alle sozialen Schichten ermöglichte es, dass nicht nur Führungspersonen aus den militärischen Eliten, sondern auch „einfache“ Soldaten Briefe schrieben und Tagebücher führten.

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Für den vorliegenden Beitrag dient das Kriegstagebuch des Soldaten Hans Schröder aus Barlt in Dithmarschen als Quellengrundlage.1 Der Verfasser berichtet detailliert von seinen Kriegserlebnissen an der Westfront in Frankreich und Belgien während des Ersten Weltkrieges und eröffnet so einen sehr persönlichen Blick auf das Leben in den Schützengräben. Diese Schilderungen sollen im Folgenden mit der zeitgenössischen Propaganda und dem Mythos, der den Ersten Weltkrieg umgab und bis heute umgibt, in Beziehung gesetzt werden. Welche Themen beschäftigten den Soldaten im Felde? Wie sah sein Feindbild aus? Wie erlebte er den Kriegseinsatz, die Trennung von den Angehörigen, den Tod von Kameraden? Anhand von Beispielen im Verlauf der Kriegsjahre 1916 bis 1918 sollen diese und weitere Fragestellungen bearbeitet werden. Abschließend soll es darum gehen, wie sich Hans Schröder selbst als Soldat darstellt und welches Bild seiner Person er in den Aufzeichnungen den Leser*innen vermitteln will. Die Aufzeichnungen Schröders beginnen mit seiner Einberufung im Frühjahr 1916 und enden mit der Entlassung aus dem Militärdienst im Januar 1919. Bei seinem Tagebuch handelt es sich um ein festgebundenes handschriftliches Buch von 454 Seiten im heutigen Format DIN A5. Die Ereignisse sind in Unterkapitel aufgeteilt, sauber mit Tinte geschrieben, und alle Seiten sind paginiert. Im Innentitel ist ein Foto des Verfassers eingeklebt. Das Tagebuch wurde in dieser Form nicht während des Kriegseinsatzes geschrieben. Es handelt sich vielmehr um eine spätere Niederschrift, wie die saubere und gleichmäßige Handschrift mit gleichbleibendem Schreibgerät zeigt. Zudem nimmt der Verfasser Bezug auf spätere Ereignisse, indem er Phrasen wie „wenn ich da schon gewusst hätte“ oder „wie sich später noch herausstellen sollte“ verwendet. Den Beschreibungen sind akkurat gezeichnete Landkarten beigefügt, die ebenfalls nicht im Schützengraben entstanden sein können. Die Detailliertheit der beschriebenen Ereignisse lässt die Schlussfolgerung zu, dass es zumindest ältere Notizen, wenn nicht gar ein Manuskript aus der Kriegszeit gegeben haben muss. Beschreibungen der Verpflegung, genaue Daten sowie präzise geografische Angaben können nicht allein aus der Erinnerung an mindestens drei Jahre Zurückliegendes stammen. An einer Stelle erwähnt der Verfasser sogar das Vorhandensein solcher Notizen: „[…] da beschloß ich, auch mein, etwas umfangreiches, Tagebuch mit ein kleines Notizbuch zu vertauschen, um es mit kurzen Notizen fortzusetzen.“2 Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich demzufolge um eine Synopse und Reinschrift älterer Aufzeichnungen. Da Schröder bereits wenige Jahre nach dem Krieg verstarb, wird die Niederschrift kurz nach dem Ende seiner Militärzeit erfolgt sein.

1 Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 399.1428, Nr. 1: Kriegstagebuch von Hans Schröder 1916/18 (im Folgenden Tagebuch). 2 Tagebuch, S. 338, Eintrag vom 13.2.1918. Alle verwendeten Zitate aus dem Tagebuch wurden ohne Änderungen der Grammatik und Orthografie transkribiert.

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Der Quellenwert von Selbstzeugnissen und autobiografischen Texten in der historischen Forschung Die historische Forschung beschäftigt sich seit den 1980er Jahren wieder verstärkt mit autobiografischen Zeugnissen. Ausgehend von dem niederländischen Historiker Jacques Presser, werden solche Quellen als „Ego-Dokumente“ bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum spricht man zumeist von Selbstzeugnissen.3 Das Schreiben kann verschiedene literarische Genres bedienen und ganz unterschiedliche Gründe haben; die soziale Anerkennung des Verfassers spielt ebenfalls eine Rolle: Autobiographische Texte sind kommunikative Handlungen ihrer Autorinnen und Autoren an einer selbst gewählten Stelle in ihrem Beziehungsnetz. […] Schreibmuster und -traditionen sind Teil der Aussage; die Themen, die in Selbstzeugnissen behandelt werden, sind immer gestaltete und in Schreibgewohnheiten eingebundene Inhalte.4

Zu den Anlässen und Beweggründen, warum Erinnerungen oder Erfahrungen niedergeschrieben werden, zählen unter anderem Gefahrensituationen, Umbrüche und politische Systemwechsel, Sorge um Kinder und Nachkommen oder Begegnungen mit anderen Kulturkreisen. Darüber hinaus entstehen Lebenserinnerungen, um sich selbst zu rechtfertigen, um der Nachwelt ein Beispiel zu geben oder um die eigene Identität zu festigen. Gerade in Krisenzeiten ist ein erhöhtes Interesse des Publikums an niedergeschriebenen Erinnerungen festzustellen. Das Ergebnis ist die in Worte gefasste Deutung eines Lebens oder Ereignisses vor der aktuellen Gegenwart. Wichtig ist den Verfasser*innen, dass das Geschriebene die Zielgruppe auch tatsächlich erreicht. Die Vernetzung mit der Leserschaft kann dabei horizontal oder vertikal sein, also sowohl Nachkommen als auch Zeitge-

3 Die beiden Begriffe bezeichnen nicht exakt dieselbe Quellengattung. Der Begriff „Ego-Dokument“ (engl. egodocument), wie er 1996 von Winfried Schulze definiert wurde, ist breiter gefasst als der Begriff „Selbstzeugnis“. Während Ego-Dokumente nach Schulze auch amtliche Dokumente wie Strafprozessakten oder Befragungen sein können, meinen Selbstzeugnisse von den Verfasser*innen selbst und aus eigenem Antrieb erstellte Dokumente wie Briefe, Memoiren oder Tagebücher. Die in diesem Aufsatz angesprochenen Quellengattungen Tagebuch und Feldpostbrief fallen jedoch unstrittig unter beide Definitionen, weshalb die Unterschiede hier nicht näher behandelt werden sollen. Wie in der deutschsprachigen Forschung üblich, wird im Folgenden nur der Begriff „Selbstzeugnis“ verwendet. Vgl. auch Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996. 4 Elke Hartmann und Gabriele Jancke, Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog, in: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, hg. von Claudia Ulbrich, Hans Medick und Angelika Schaser (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln 2012, S. 31‒71, hier S. 32.

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noss*innen ansprechen und einbinden. Nach dem Ableben der Verfasser*innen werden die Erinnerungen so Teil eines kulturellen Gedächtnisses.5 Bei der Beurteilung des Quellenwertes solcher Selbstzeugnisse darf nicht vergessen werden, dass die Verfasser*innen ihre Erinnerungen in aller Regel aus bestimmten Gründen niedergeschrieben haben. Die Kriegserlebnisse Hans Schröders sind hauptsächlich persönliche Erfahrungen aus seinem Alltag, die über die offizielle Kriegsberichterstattung hinausgehen. Schröder zeigt dadurch nicht nur eine auf seinen Erfahrungsraum begrenzte Perspektive auf den Krieg. Er gibt zugleich einen Einblick in die Wirkung des Krieges auf seine Person: psychisch, physisch und mental. Möglicherweise wollte er so das Erlebte für sich aufarbeiten. Vielleicht strebte er eine Rechtfertigung seines Handelns an oder wollte seine Person in ein bestimmtes Licht rücken.6 In jedem Fall werden in der Rückschau bewusst und unbewusst Zusammenhänge eingeflossen sein, die dem Verfasser erst nach dem Krieg bekannt geworden waren. Darüber hinaus ist das Tagebuch als kommunikatives Gedächtnis für die Erinnerung in seiner Familie gedacht. Es befand sich lange im Besitz der Familie Schröder, wie Einträge im Einband dokumentieren. Der Nachkomme Karsten Schröder überließ es 2018/19 zusammen mit weiteren Unterlagen zum Ersten Weltkrieg dem Landesarchiv Schleswig-Holstein.7 Im Nachlassbestand des Archivs steht es Benutzer*innen zur Verfügung und leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der schleswig-holsteinischen Geschichte. Für den vorliegenden Aufsatz wurde das Tagebuch erstmals wissenschaftlich untersucht. Längst werden Kriege nicht mehr nur militärgeschichtlich erforscht. Selbstzeugnisse, die wie im vorliegenden Fall von Kriegserfahrungen berichten, stellen in der historischen Forschung eine wertvolle Quelle für die alltags- und mentalitätsgeschichtliche Perspektive auf den Krieg dar. Ausgehend von dieser Quellenbasis, die auf Deutung und Verarbeitung des Krieges ausgerichtet ist, findet der Begriff der Kriegserfahrung zunehmend Verwendung. Kriegserfahrungen und -erlebnisse des Einzelnen bieten eine neue Dimension, die vielschichtige Deutungen ermöglicht und die Kriegsforschung auf eine breite Basis stellt. Sie bieten eine zusätzliche Perspektive abseits der Abläufe, Strukturen und Prozesse, die bis dahin die militärgeschichtliche Überlieferung prägten. Selbstzeugnisse vermitteln eine „erlebte, wahrgenommene Realität“ und ein möglicherweise besonders hohes Maß an Authentizität.8 5

Claudia Ulbrich, Hans Medick und Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, hg. von Claudia Ulbrich, Hans Medick und Angelika Schaser (Selbstzeugnisse der Neuzeit 20), Köln 2012, S. 1‒19, bes. S. 7‒13. 6 Vgl. die Untersuchung zu Exemplum, Memoria und Confessio bei Hartmann/Jancke, Roupens Erinnerungen, S. 51‒62. Schröders Tagebuch lässt sich den Begriffen Memoria und Confessio zuordnen. 7 LASH, Abt. 399.1428, Schröder, Hans. 8 Nikolaus Buschmann und Horst Carl, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Dens. (Krieg in der Geschichte 9), Paderborn 2001, S. 11‒26, hier S. 13.

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Dabei stellen sich Fragen nach den Handlungsspielräumen der untersuchten Persönlichkeiten, ihren Möglichkeiten und Grenzen, ihren Besonderheiten sowie den Rahmenbedingungen ihrer Epoche. In den jeweiligen Lebensgeschichten spiegeln sich die Verhaltensmuster und Mentalitäten von Peergroups wider, die uns zur komplexen Auseinandersetzung mit dem jeweils bestehenden Gleichgewicht zwischen individuellem Lebenslauf und gesellschaftlichem Kontext führen.9

Seit ihrer „Wiederentdeckung“ in den 1980er Jahren sind Selbstzeugnisse und autobiografische Texte eine beliebte Quelle. Dennoch bleibt ihre Aussagekraft umstritten. Denn bei der Auswertung sollte stets bedacht werden, dass der Schreibende sich selbst präsentiert und seine Handlungsoptionen in einem günstigen Licht darstellen möchte. Somit wird auch eine Autobiografie zu einem konstruierten Text. Allerdings eröffnen diese Quellen die Möglichkeit zur Erforschung nicht nur der Handlungen der Entscheidungsträger, sondern auch der schwächsten Opfer.10 Es muss jedoch gerade bei nach dem Krieg entstandenen Autobiografien und Memoiren der Vorbehalt angemeldet werden, dass nur noch jene Soldaten von ihren Erfahrungen berichten konnten, die den Krieg überlebt hatten. „Das Interesse an Texten, deren Verfasserinnen und Verfasser nicht der Elite zuzurechnen sind, war auch einer der Gründe, warum sich die deutschsprachige Forschung seit den 1980er Jahren verstärkt autobiographischen Quellen zuwandte.“11 Doch auch die Zeitgenoss*innen hatten die Selbstzeugnisse aus dem Weltkrieg, insbesondere Feldpostbriefe, als wichtige Quellen entdeckt. Sie galten während des Krieges als besonders authentische Berichte von der Front. Sie seien „Garanten für die bis in tiefste ‚Seelengründe‘ hineinreichende Identifikation des Einzelnen oder ganzer gesellschaftlicher Gruppen mit der überindividuellen Einheit der Nation.“12 Frontbriefe ließen sich als patriotische Schreiben kriegsbegeisterter Soldaten für propagandistische Zwecke ebenso instrumentalisieren wie als Beleg für den Schrecken des Vernichtungskrieges mit moderner Waffentechnik. Die Erwartungen der Daheimgebliebenen und die Erlebnisse des realen Krieges entwickelten sich in seinem Verlauf immer weiter auseinander. Die Angehörigen waren durch die Propaganda an der „Heimatfront“ noch lange nach Kriegsbeginn geprägt von der Hoffnung auf einen glorreichen Sieg und von dem Bild des heldenhaften Soldaten. Im Feld hatte dagegen schnell eine Ernüchterung eingesetzt, die nichts mit ruhmvollen   9 Carl Alexander Krethlow, Militärbiographie. Entwicklung und Methodik, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, hg. von Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann (Krieg in der Geschichte 29), Paderborn 2006, S. 1‒27, hier S. 1. 10 Martin Dinges, Militär, Krieg und Geschlechterordnung. Bilanz und Perspektiven, in: Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, hg. von Karen Hagemann und Ralf Pröve (Geschichte und Geschlechter 26), Frankfurt a. M. 1998, S. 345‒364, hier S. 352 f. 11 Ulbrich/Medick/Schaser, Selbstzeugnis, S. 1. 12 Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914‒1933 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N. F. 8), Essen 1997, S. 304 f.

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Schlachten und ritterlichen Kriegermythen gemein hatte. Ein Bindeglied bildeten die Briefe und Tagebücher, die die Vorstellungen beider Seiten erfüllen sollten. Auch in der Gegenwart dienen Selbstzeugnisse unter anderem der Untersuchung der Selbstwahrnehmung des Verfassers ebenso wie der Erwartungshaltung des Empfängers: Bei der Auswertung der verschiedenen von vornherein für eine Veröffentlichung bestimmten autobiographischen Texte ist es besonders wichtig, die Intention des Autors im Blick zu halten sowie die Regeln der literarischen Form zu beachten. Kein Selbstzeugnis kann heute mehr schlicht als direkte, authentische Umsetzung von individuellem oder kollektivem Leben in Literatur gelesen werden. Sie sind wie andere Quellen auch Konstruktionen aus einer spezifischen Perspektive, die in einem historischen Kontext mit einer bestimmten Intention und Funktion in einer konkreten Form produziert wurden.13

Wie andere Tagebuchautoren jener Zeit versucht Hans Schröder, seine Person in den Schilderungen vorteilhaft erscheinen zu lassen. Er stellt sich selbst als patriotisch und kaisertreu dar und beschreibt seine Handlungen als grundsätzlich regelkonform. Verstöße gegen die militärische Ordnung oder politische Meinungen schildert er stets wie ein vermeintlich unbeteiligter Zuschauer. So schützt er seine Person vor einer negativen Beurteilung durch die Leserschaft und verteidigt zugleich sein damaliges Handeln. Gerade in militärischen Kontexten bestand oftmals der Wunsch der Verfasser, der damaligen Sache nicht zu schaden und keinen Anlass zu geben, das eigene Handeln zu hinterfragen.14 Während unter den Zeitgenoss*innen die Wahrhaftigkeit und Realitätsnähe der Berichte kaum angezweifelt wurde, stellt sich in der heutigen Forschung umso dringender die Frage nach der Authentizität der Selbstzeugnisse. Die niedergeschriebene (Kriegs-)Erfahrung kann in der Auswertung nicht leicht abgegrenzt werden von anderen Komponenten, die bei den Verfasser*innen eine Rolle gespielt haben mögen, wie beispielsweise Wahrnehmung, Erinnerung, Tradition und literarische Wirkungsgeschichte.15 Bei der Analyse entsteht beim Forschenden das Gefühl, die Verfasserin beziehungsweise den Verfasser kennenzulernen, Einblicke in ihre beziehungsweise seine Persönlichkeit und ihren beziehungsweise seinen Charakter zu erhalten. Eine 13 Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann, Einführung: Biographien und Selbstzeugnisse in der Militärgeschichte – Möglichkeiten und Grenzen, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, hg. von Dens. (Krieg in der Geschichte 29), Paderborn 2006, S. IX‒XVI, hier S. XIV. 14 Eckard Michels, Ein Feldzug – zwei Perspektiven? Paul von Lettow-Vorbeck und Heinrich Schnee über den Ersten Weltkrieg in Ostafrika, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, hg. von Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann (Krieg in der Geschichte 29), Paderborn 2006, S. 152‒168, hier S. 152. 15 Jutta Nowosadtko, Erfahrung als Methode und als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis. Der Begriff der Erfahrung in der Soziologie, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, hg. von Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann (Krieg in der Geschichte 29), Paderborn 2006, S. 27‒50, hier S. 49.

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kritische Reflexion ist daher bei der Arbeit mit Selbstzeugnissen unerlässlich, denn diese Quellen bieten lediglich einen fragmentarischen Blick auf die untersuchte Person. Sie vermitteln in erster Linie einen Eindruck davon, wie eine Person mit ihrer Umwelt interagierte. Gerade im Kontext von Kampfhandlungen macht dieser Umstand die Selbstzeugnisse allerdings enorm wertvoll. Laut dem Gedächtnispsychologen Daniel Schacter konstruiert sich das autobiografische Gedächtnis seine Wirklichkeit selbst. „Es verfährt assoziativ, es ist sozial und es ist kulturell geprägt. Diese drei Eigenschaften sind der Grund, warum autobiographische Erinnerungen alles mögliche sein können, nur nicht authentisch oder gar individuell.“16 Somit mischt das Gedächtnis eigene Erinnerungen mit Wissen aus Büchern oder anderen Medien. Es setzt Erlebnisse neu zusammen und passt sie bei der Wiedergabe dem jeweiligen Kontext und dem Adressaten an. Aufgrund dieser ständigen Modulation können Selbstzeugnisse, die in einer zeitlichen Distanz zum Erlebten entstanden sind, weniger das Erlebnis selbst als die Art des kollektiven Erinnerns in der jeweiligen Zeit wiedergeben.

Der Soldat Hans Schröder Hans Schröder wurde im Jahr 1916 im Alter von 20 Jahren zum Militärdienst eingezogen. Er stammte aus der Marsch-Region und befand sich zum Zeitpunkt der Einberufung in Marne in der Ausbildung. Die Lehrzeit in einer Kolonialwarenhandlung wurde verkürzt, damit er vor dem Fronteinsatz sein Zeugnis erhielt. In der Familie gab es inklusive Hans fünf Brüder, von denen sich zum Zeitpunkt von Hans’ Einberufung einer an der Front befand, ein anderer war bereits gefallen. Im Frühjahr 1916 kam er zunächst zur Musterung nach Rendsburg und anschließend über Hamburg weiter nach Straßburg. Für den Kriegseinsatz verließ er zum ersten Mal seine schleswig-holsteinische Heimat. An der französischen Grenze wurde er innerhalb weniger Wochen zum Scharfschützen am Maschinengewehr ausgebildet. Im August 1916 kam der Rekrut an die Westfront und erlebte dort den Stellungskrieg im Schützengraben. Nachdem zwei seiner Brüder gefallen waren, einer verwundet im Lazarett lag und ein vierter als vermisst galt, wurde Schröder „aus familiären Gründen“ nicht mehr für den Fronteinsatz herangezogen. Stattdessen versah er seinen Dienst ab Frühsommer 1918 in der Etappe in der Schreibstube, als Quartiermeister und als Wachposten bei der Bagage. Sein einziger Heimaturlaub fand im September 1917 statt. Schröder erlebte den Rückzug der Truppe durch Belgien und Frankreich mit, nachdem die Frühjahrsoffensive 1918 gescheitert war. Von den alliierten Truppen und belgischen Soldaten getrieben, passierte seine Kompanie Ende 16 Patrick Krassnitzer, Historische Forschung zwischen „importierten Erinnerungen“ und Quellenamnesie. Zur Aussagekraft autobiographischer Quellen am Beispiel der Weltkriegserinnerung im nationalsozialistischen Milieu, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, hg. von Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann (Krieg in der Geschichte 29), Paderborn 2006, S. 212‒222, hier S. 212. Vgl. ebd., S. 212‒214, auch zum Folgenden.

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November die deutsche Grenze. Anschließend war er bis zu seiner Entlassung im Januar 1919 in Stettin stationiert. Sein Tagebuch schließt mit einer Rückschau auf die Kriegsjahre und mit den Lehren, die er aus seiner Zeit als Soldat gezogen hat. Einem dem Tagebuch lose beigefügten Zeitungsartikel ist zu entnehmen, dass sich Schröder als Soldat mit einer nicht näher benannten Krankheit infizierte. Infolge einer Operation verstarb er Mitte der 1920er Jahre.

Kriegsbegeisterung 1914 und 1916 Der Mythos der Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs hat sich hartnäckig bis in die heutige Zeit gehalten. Die neuere Geschichtswissenschaft hat zwar festgestellt, dass es sich bei der angeblichen Begeisterung innerhalb der deutschen Bevölkerung im Juli und August 1914 überwiegend um Ikonen und von der Propaganda erzeugte Bilder handelte. Nichtsdestotrotz sind die „Julibegeisterung“ und „Augusteuphorie“ bis heute im öffentlichen Gedächtnis vorhanden.17 Die zeitgenössische Propaganda verbreitete Darstellungen begeisterter junger Männer, die singend und blumengeschmückt im August 1914 dem Feind entgegenzogen. So sollten die Tapferkeit, die Kaisertreue und nicht zuletzt die Überlegenheit der deutschen Truppen bestärkt und besiegelt werden. Die Realität sah jedoch anders aus. Die am 1. August 1914 verkündete Mobilmachung wurde vor allem von Militärangehörigen begeistert aufgenommen. Die größeren Städte wurden zu Heerlagern, tausende junge Männer meldeten sich freiwillig, wurden aber zunächst abgewiesen.18 In der Zivilbevölkerung war die Stimmung zurückhaltend. Kaum jemand versammelte sich bei Bekanntwerden der Mobilmachung auf den Plätzen der Städte, um dort patriotische Lieder zu singen oder dem Kaiser zu huldigen. Wer den deutsch-französischen Krieg 1870/71 erlebt hatte, reagierte bedrückt und distanziert auf die Meldung von der bevorstehenden Mobilmachung. Die Arbeiterschaft, beispielsweise am Werftstandort Kiel, war mehrheitlich gegen den Krieg eingestellt und hatte sich ebenso wie die Sozialdemokratie bis zuletzt für eine friedliche Lösung eingesetzt. Auch in den Grenzregionen zu Dänemark gab es keine begeisterten Aufmärsche. In den ländlichen Gebieten Schleswig-Holsteins standen Anspannung und Sorge um die bevorstehende Ernte im Sommer 1914 im Vordergrund. Denn wie sollten die Felder bestellt werden, wenn die Söhne und Knechte sowie weitere Erntehelfer eingezogen würden und Pferd und Wagen dem Militär zur Verfügung gestellt werden mussten? Unternehmer, die auf Importe aus dem Ausland angewiesen waren, fürchteten um ihre wirtschaftliche Existenz. Von den Medien kolportiert wurde ein ein17 Gerhard Hirschfeld, Deutschland im August 1914, in: Der Erste Weltkrieg, hg. von Nicolas Beaupré u. a., Darmstadt 2013, S. 31‒40, hier S. 31. 18 Sven Felix Kellerhoff, Heimatfront: der Untergang der heilen Welt. Deutschland im Ersten Weltkrieg, Köln 2014, S. 25‒69; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München ²2014, S. 129.

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seitiges Bild der Stimmung im Juli 1914, denn nur die begeisterten Bürger*innen zeigten sich in der Öffentlichkeit. Wer dem Krieg ängstlich entgegen sah, blieb zu Hause. Vorratskäufe und Räumung der Bankkonten waren die direkte Folge dieser Verunsicherung in breiten Teilen der Bevölkerung. Banken und Geschäfte mussten vorübergehend schließen. In den ersten Monaten des Krieges verbreitete sich zudem die Angst vor ausländischen Spionen. Es kam zur Gründung von Bürgerwehren und Einrichtung von Straßenkontrollen, wo in Selbstjustiz gegen angeblich verdächtig wirkende Personen vorgegangen wurde. Die Schilderung der Augusttage 1914 und die rückblickende Erinnerung an den „Sommer von 1914“ bilden in zahlreichen autobiografischen Texten einen narrativen Orientierungspunkt. Denn wenn der Beginn positiv und euphorisch beschrieben wird, zeigt sich besonders deutlich der Kontrast zu den späteren Kriegserfahrungen.19 Obwohl er erst 1916 einberufen wurde, berichtet auch Hans Schröder mit Begeisterung von seinem Einberufungsbescheid: Den Tag der Abreise könne er kaum erwarten, die letzten Tage seiner Ausbildung vergingen in seiner Wahrnehmung zu langsam, am liebsten wolle er sofort aufbrechen. In der Rückschau stellt er im Tagebuch fest: „[…] die Lehren, die mir meine Brüder gaben, hatten nichts genützt.“20 Schließlich war zum Zeitpunkt seiner Einberufung bereits ein Bruder an der Front ums Leben gekommen. Dennoch träumt Schröder von dem Prestige, das ihm durch das Tragen der Uniform („des Kaisers Rock“) zuteilwerden würde, von der Kameradschaft im Feld und dem ersten Heimaturlaub bereits nach vier Wochen. Abschätzig urteilt er über andere Einberufene, die bei der Musterung in Rendsburg darum baten, zurückgestellt zu werden, und bemitleidet jene, die aufgrund von Untauglichkeit wieder nach Hause geschickt wurden. Über politische Themen äußert Schröder sich generell sehr zurückhaltend. Zwar beschreibt er sich in seinem Handeln als loyal und kaisertreu und zieht den Sinn des Krieges nicht in Zweifel. Äußerungen zur Reichspolitik oder zu seiner eigenen Gesinnung finden sich im Tagebuch hingegen nicht. Da Schröder erst 1916 eingezogen wurde, fehlen auch die im August 1914 allgegenwärtigen politischen Entwicklungen in seinen Aufzeichnungen. Der nationale Einheitsgedanke findet sich bei ihm ebenso wenig wie der Mythos, das Deutsche Reich befinde sich in einem Verteidigungskrieg. Hinsichtlich des nationalen Zusammenhalts hat er eine eher gegenteilige Meinung. Er bemängelt bei Kompanien aus Bayern, dass ihnen die nötige Disziplin fehle und sie ihren preußischen Kameraden absichtlich den Alltag erschwerten.21 Trifft er auf holsteinische Landsleute, ist seine Begeisterung überschwänglich, vor allem, da er mit ihnen Plattdeutsch sprechen kann. Die Dialoge werden im Tagebuch im Dialekt wiedergegeben: So hatte ich mich grade auf dem Auto breit gemacht und war am Abendbrot essen, da höre ich eine bekannte Stimme und wie ich über Bord schaue, steht da mein 19 Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 129. 20 Tagebuch, S. 4, Eintrag ohne Datum. 21 Vgl. ebd., S. 177 f.: „die verdammten Seppels“.

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Nachbar Johann und begrüßt mich in dem heimatlichen Dialekt. Im nuh war ich vom Auto geklettert und begrüßten uns nochmal durch kräftigen Handschlag. Da wir uns seit 2,5 Jahren nicht gesehen hatten, gabs allerlei zu erzählen. Zuletzt kommt man wie immer zu dem Schluß: ‚Mensch, Johann, winn de Schied blots ers mol to inn wär und wie bein künnt woller no Baltendiek reisen, datt wär beder, awer so ist dadd jo besch…‘22

Erlebnisse aus dem Stellungskrieg Die Unterschiede zwischen der Beschreibung der Einberufung und dem Erleben des Krieges sind in vielen autobiografischen Schilderungen enorm. Jeder Soldat ging mit seinen Kriegserfahrungen anders um. Die menschliche Wahrnehmung findet aus psychologischer Sicht immer durch einen Filter statt, der nur Teile der Wirklichkeit durchlässt. Diese selektive Aufmerksamkeit sucht bestimmte Reize heraus, die dann mit gemachten Vorerfahrungen verknüpft werden. So entsteht eine persönliche Leitlinie oder ein Lebensplan. Es gibt daher nicht „das Kriegserlebnis der Deutschen“, sondern eine jeweils individuelle Wahrnehmung.23 Hans Schröder begann in großer Aufregung 1916 seinen Einsatz an der Westfront. Nach der militärischen Ausbildung war er begierig, endlich in den Schützengraben zu kommen: Noch am selbigen Abend musste der Trupp die Stellung beziehen. Da war am Nachmittag noch große Einteilung der einzelnen Mg. und einige von uns Neuen wurden auch schon mit eingeteilt. Jeder von uns der eingeteilt wurde, war erfreut. Ich kam das erste Mal nicht mit und beneidete die anderen sehr. Doch nach 4 oder 5 Tagen ist Ablösung, dann komme ich bestimmt mit.24 Am 13.8. wurde dann wieder eingeteilt um die Kameraden vorne abzulösen, die sich vielleicht schon wieder nach Ruhe sehnen und ich brannte darauf, auch die Front, wovon soviel geschrieben und wo soviel erlebt wurde, kennen zu lernen, dann kann man nachher auch doch mitsprechen.25

Anhand von Schröders Bericht zeigt sich, wie wichtig auch in der Nachkriegszeit das „Dabei-gewesen-sein“ war. In den 1920er Jahren, als zahlreiche Editionen von Feldpostbriefen und Tagebüchern publiziert wurden, entwickelte sich die „Kriegserfahrung“ zu einem informellen gesellschaftlichen Machtfaktor. Die Authentizität der Fronterfahrung wurde nicht angezweifelt und insbesondere ein Einsatz an der 700 Kilometer langen Westfront galt als unmittelbares Kriegserlebnis. Durch Front22 Ebd., S. 393 f., Eintrag vom 6.9.1918. 23 Gerd-Walter Fritsche, Bedingungen des individuellen Kriegserlebnisses, in: Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung, hg. von Peter Knoch, Stuttgart 1989, S. 114‒151, hier S. 120‒122. 24 Tagebuch, S. 26 f., Eintrag vom 8.8.1916. 25 Ebd., S. 29, Eintrag vom 11.‒13.8.1916.

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kämpferbünde und Weltkriegsliteratur setzte sich dieses publizierte Erlebnis bis in die politische Symbolik fort.26 Wenn Schröder von seinen ersten Tagen „vorne“ im Schützengraben berichtet, klingt es wie ein Abenteuer. Detailliert beschreibt er den Unterstand und die Tätigkeiten im Graben: Nun war ich im Schützengraben. Als Hammel, mußte ich auch gleich die erste Nummer mit Wache schieben von 1‒3. Doch des Nachts wurde Doppelposten gestellt. So war es auch besser, denn ich wußte ja noch von nichts bescheid, mit den Feuerzeichen, obgleich wir ja beim Fortgehen belehrt worden waren. Doch vor uns war noch ein Graben, das bemerkte man an den Leuchtkugeln, ich war somit in Res. Stellung. Bald war meine Postenzeit beendet und nun gings hinein in den Unterstand, zum erstenmal in eine solche unterirdische Wohnung. War ganz gut eingerichtet, unten nur ein kleiner Raum da konnten 4 Mann schlafen. Es waren ja nur einfache Holzgestelle, ohne Stroh und ohne Alles, nur die blanken Bretter, als wenn man zu Hause im Kartoffelkeller liegt. Das ist eben Krieg. Wenn wir uns die Front auch anders vorgestellt hatten, einen richtigen Begriff hatte man sich doch nie machen können. Am Schlafen habe ich die erste Nacht überhaupt nicht gedacht, habe es mal versucht, aber es war zu unbequem, dann der ständige Besuch von Ratten und Mäusen, die einen nicht geringen Lärm machten und die dann auch gar zu frech waren, das konnte mir auch zuerst garnicht gefallen.27

Anfangs erschrak er noch bei jedem Geschützdonner und sprang in Deckung, während die erfahrenen Kameraden gelassen blieben. Im weiteren Verlauf seiner Schilderungen stellen sich dann Gewöhnung und Ernüchterung ein: Bisher war noch garnicht nach nach [sic!] unsern Graben geschossen worden, nur hinter uns zur Artl. wovon wir die Einschläge beobachten konnten. Wir saßen so in guter Ruh da sausten paar Granaten etwa 300 m hinter uns, da bin ich sehr erschrocken und ging die paar Stufen zum Graben runter. Der heulende Ton, hörte sich auch bös an. Doch mein Kamerad L. hatte sich garnicht drum gekümmert. Da ging ich auch wieder nach oben und paar Minuten später schlugen aber paar Granaten nur 30 m links von uns direkt im Graben ein, da bin ich nochmal runtergelaufen zum Unterstand, während L. wiederum ganz ruhig oben geblieben ist, ich hatte aber doch Angst bekommen. Doch von nun an bleibe ich auch stehen, denn was L. kann, kann ich auch. Bei den nächsten Einschlägen, die auch ziemlich nahe waren, habe ich mich nur geduckt und die Splitter sausten über uns weg oder schlu-

26 Aribert Reimann, Semantiken der Kriegserfahrung und historische Diskursanalyse. Britische Soldaten an der Westfront des Ersten Weltkriegs, in: Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Nikolaus Buschmann und Horst Carl (Krieg in der Geschichte 9), Paderborn 2001, S. 173‒193, hier S. 173. 27 Tagebuch, S. 31 f., Eintrag vom 13. und 14.8.1916.

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gen in die Deckung. Durch das ruhige Auftreten meines Kameraden, war auch ich schnell kaltblütig geworden.28

Neben dem unangenehmen Wetter und der mangelhaften Verpflegung machten Schröder besonders die schlechten hygienischen Verhältnisse zu schaffen. So gab es im Schützengraben keine Möglichkeit, die Wäsche zu wechseln. Die Schlafstellen bestanden oft nur aus Brettern; Decken oder Strohmatratzen waren bevölkert von Ratten und Ungeziefer. Bei Niederschlag konnten die durchnässten Kleidungsstücke weder gewechselt noch getrocknet werden, sodass die Soldaten oft tagelang in denselben klammen Jacken und Hosen ihren Dienst versahen. Eine Mahlzeit wurde nur einmal täglich in den Graben gebracht. Gelang es dem zuständigen Soldaten nicht, von seiner Stellung bis zur Küche hinter der Front vorzudringen – beispielsweise während eines Angriffs –, fiel die Mahlzeit aus. Schröders Erlebnisse aus dem Schützengraben beschreiben den modernen Weltkrieg – eine Kriegführung aus der Distanz. Ermöglicht wurde sie durch die neuartigen Waffen, die hier zum Einsatz kamen, wie das Maschinengewehr, an dem Hans Schröder geschult wurde sowie die Schrapnellgeschosse und Mörser. Oftmals sahen sich die Feinde nicht, wenn sie das Feuer eröffneten. Kriegstaktik und Angriffe wurden über Funk von einem Büro hinter der Front geregelt. Die Einstellungen der Geschütze wurden am Schreibtisch berechnet. Das Töten und Sterben wurde durch diese neuen Waffen anonymer. Die modernen Waffen zerstückelten die Körper außerdem so sehr, dass eine Identifizierung oft nicht mehr möglich war. Trotzdem wurde an der traditionellen Form des Angriffs zunächst festgehalten. Nach wie vor sollten Sturmangriffe und schnelle Defensiven den Sieg bringen. Trotz der Maschinengewehre blieben Dolch und Bajonett die erste Wahl. Obwohl schon in den ersten Kriegstagen deutlich wurde, dass diese Taktik zu enormen Verlusten führte, hielt man lange Zeit an ihr fest.29 Der Bewegungskrieg im Westen dauerte nur von August bis November 1914 und forderte hohe Opferzahlen. Dies lag vor allem daran, dass die Wirkung der Maschinengewehre unterschätzt wurde und die Soldaten ungedeckt und teilweise ohne eigene Munition dem Feind entgegenstürmten. Hinzu kamen Suizide und seelische Zusammenbrüche durch die ungeahnten Schrecken des Krieges und die langen Märsche in der Sommerhitze. Der Stellungskrieg dagegen war verpönt, denn er eignete sich in der damaligen Vorstellung nicht für Heldenerzählungen. In den Schützengräben kam der Krieg dennoch nach wenigen Monaten zum Stillstand. Die Angriffstechnik bestand jetzt aus Trommelfeuer – mehrstündigem oder mehrtägigem Artilleriebeschuss – und dem anschließenden Sturm auf den feindlichen Graben.30 Die Ausgestaltung der Gräben und die damit zwangsläufig verbundenen

28 Ebd., S. 32 f., Eintrag vom 14.8.1916. 29 Leonhard, Büchse, S. 146‒154. 30 Bernd Ulrich, Die Front im Westen, in: Der Erste Weltkrieg, hg. von Nicolas Beaupré u. a., Darmstadt 2013, S. 57‒72, hier S. 60 f.

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neuen Angriffsstrategien entwickelten sich im Verlauf des Krieges zu einem ausgeklügelten System. Eine besondere Faszination übte auf Hans Schröder der Luftkrieg aus. Mehrfach berichtet er von Kämpfen, die direkt über den Köpfen seiner Kompanie stattfanden. Die Entwicklung von militärisch nutzbaren Luftfahrzeugen stand jedoch noch ganz am Anfang. Der Einsatz von Zeppelinen war wenig effektiv und gelang nur unter großen Verlusten. Daneben wurden Flugzeuge für die Luftaufklärung genutzt. Bewaffnete Flieger konnten außerdem Stahlpfeile, Bomben oder gebündelte Handgranaten über feindlichen Stellungen abwerfen. Mit auf den Flugzeugen montierten Maschinengewehren war es möglich, Kämpfe in der Luft auszutragen. Ab 1917 existierten Fliegerstaffeln wie jene unter Manfred von Richthofen. Der Luftkrieg wurde als besonders ritterlich propagiert:31 Eine besondere Frechheit besaß ein englischer Flieger, der kreiste immer genau über uns, konnten die Insassen und die Abzeichen ganz deutlich erkennen und er bekam auch tüchtig Mg-Feuer von rechts und links aber das Biest kam immer wieder, warf dann auch Signale ab. Gleich darauf kamen aber schon unsere Flieger und angenehm ist es[,] wenn wir den Roten Staffel entdecken können. Auch dieser freche Engländer mußte sein Treiben mit dem Leben büßen, denn zu interessant war es wie anscheinend Richthofen selbst den Flieger immer mehr nach unten drückte und wir haben uns richtig gefreut wie das feindl. Untier schließlich einige Hundert m hinter dem Damm landen mußte und den Schwanz steil in die Luft steckte, so wollten wir es auch haben.32

Sprachlich passen sich Schröders Kriegserfahrungen den zeitgenössischen Gepflogenheiten an. Generell lässt sich bei der Auswertung von Selbstzeugnissen feststellen, dass oftmals selbst realistisch wirkende Schilderungen aus typischen Kategorisierungen und gängigen Stereotypen bestehen. Dieser Rückgriff auf vorhandene Schablonen ist vielfach begründet in der Sprachlosigkeit, in dem Nicht-in-Wortefassen-Können des Kriegsschreckens. Hinzu kommt die bereits angesprochene Erwartungshaltung der Leserschaft, die in der Wahl des sprachlichen Ausdrucks – bewusst und unbewusst – mitberücksichtigt wird. Von daher ist eine historische Forschung zu Kriegserfahrungen methodisch problematisch. Bei der Auswertung privater autobiografischer Texte gilt stets zu bedenken, dass es sich um symbolische Konstruktionen handelt.33 Nach dem ersten Einsatz an der Front demonstriert Schröder in seinen Berichten über Kampfhandlungen Abgebrühtheit und Lässigkeit. Im verwendeten Vokabular werden die Zerstörungskraft und die Grausamkeit des Krieges heruntergespielt:

31 Ders., Die Kriegsschauplätze, in: Der Erste Weltkrieg, hg. von Nicolas Beaupré u. a., Darmstadt 2013, S. 41‒56. 32 Tagebuch, S. 184, Eintrag vom 11.4.1917. 33 Reimann, Semantiken, S. 179‒184.

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Der Tommy schießt heute sehr lebhaft übers ganze Gelände, mit schweren Brocken.34 In der Nacht wurden wir auch noch gestört, Tommy war hier über C. und unsere Abwehrbatterien machten ein kleines Trommelfeuer über die Stadt. Doch wurden keine Bomben geworfen. Unsere Quartiersleute schliefen oben und rannten schnell im Keller, wir ließen uns nicht stören, blos man wacht ja auf von dem Klamauk.35 Die Bude [Unterstand im Schützengraben, Anm. d. Verf.] war ganz voll, kam daher ziemlich in eine Ecke, die andern waren feste am Mauscheln. Um die Schießerei wurde sich nicht gekümmert. Da krachten wieder ein paar Granaten, und die eine mußte wohl in genauer Höhe des Unterstandes krepiert sein, denn im gleichen Moment sauste ein Splitter dem vorne sitzenden Spieler durch 2 Karten und schlug dann in die Bretter. Zuerst war doch alles stumm vor Überraschung, doch dann wurde drüber gelacht und Witze dazu gemacht. Es wurde ein anderes Spiel rausgekriegt und gemütlich weitergespielt.36

Allerdings beschreibt er mehrfach die Emotionen, die er beim Anblick toter Kameraden empfindet. Hier ist von distanzierter Gelassenheit nichts zu merken: Ich mit einen Kameraden streiften dann noch etwas umher und stöberten alle zerstörten Häuse[r] durch. Da fanden wir auch in einer alten zerfallenen Scheune, 3 Leichen, Kameraden, ein zerschoßenes Mg lag daneben, wahrscheinlich erst vor paar Stunden hierher getragen, die Körper waren schrecklich entstellt, ein böser Anblick. Wir haben uns das Bild einen Moment angesehen und jeder hatte denselben Gedanken: ‚Die Eltern und Angehörigen dieser 3 Menschen haben noch keine Ahnung‘ und niemals werden dieselben Genaues über das Ableben der Kinder vernehmen. Wiedermal ein Bild des schrecklichen Krieges.37

Ein häufiges Interpretationsmuster ist das Männlichkeitsideal des 19. Jahrhunderts, das sich auch in Schröders Aufzeichnungen erkennen lässt: Ein deutscher Soldat galt stets als gesund und kräftig. Er war ebenso ein schneidiger Krieger wie auch ein treuer Familienvater und fleißiger Arbeiter.38 Er wurde zum heldenhaften Verteidiger des Vaterslandes stilisiert – und nur als solcher konnte er ohne Gesichtsverlust in die Heimat zurückkehren. Wer durch feiges Verhalten überlebt hatte, galt nicht als richtiger Mann. Auch Kriegsuntauglichkeit wurde als Mangel im sozialen Leben stigmatisiert. Einen Schwächling oder Simulanten wollte keine Frau heira-

34 35 36 37 38

Tagebuch, S. 255, Eintrag vom 16.7.1917. Ebd., S. 304, Eintrag vom 6.9.1917. Ebd., S. 126, Eintrag vom 31.12.1916‒5.1.1917. Ebd., S. 324, Eintrag vom 1.11.1917. Manuel Richter, Die Nation im Leib. Zur alltäglichen Konstitution „deutscher Männlichkeit“ in zwei Briefwechseln aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, hg. von Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann (Krieg in der Geschichte 29), Paderborn 2006, S. 106‒131, hier S. 108‒110.

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ten.39 Verletzungen durch Kampfhandlungen und möglicherweise dauerhafte Invalidität stellten ebenfalls die Rolle des Mannes in der Familie und in der Gesellschaft infrage, wie sich dem Tagebuch Schröders entnehmen lässt: Es wurde auch wenig Rücksicht genommen ob einer nicht so stark war oder etwas krank dann wurde man eben als Drückeberger und sonst lieblichen Kosenamen verschrieen. War nun einer mal wirklich krank, dann kam man ins Revier, und die rosige Behandlung zwang einen, sich möglichst schnell wieder raus zu melden, dann blühten demjenigen einige schlechte Tage, und er mußte nachholen, was er die Tage versäumt hatte.40

Schilderungen über Schmerz und Leid wurden daher aus den Korrespondenzen zwischen Feld und Heimat herausgehalten. Krankheiten wurden in autobiografischen Aufzeichnungen heruntergespielt und in Briefen nur aus der Rückschau beschrieben. Besuche der Eltern am Krankenbett wurden strikt abgelehnt, um der eigenen Identität und dem Selbstbild vor den Kameraden nicht zu schaden. Stets war in der Beschreibung die Krankheit bereits überwunden oder wenigstens die Genesung weit vorangeschritten: Mußte auch mal krank spielen, hatte mal den Durchfall für 2 Tage, dann ist man wieder kuriert, denn da in der Revierstube? Na, da ist man bald lieber in der Kompagnie, hatten auch noch einen bösen Sanitätsuntffz der hatte seinen Spaß, daran, wenn er kranke Leute die er nicht verknusen konnte zum Dienst jagte oder sogar mit im Graben ließ und dann die Aufschanzerei, na, lieber raus aus der Stinkstube. Da gibt’s für jede Krankheit nur Asperin, wegen Mangel an Ricinusöl, das muß alles kurieren.41

Feindbild und Beziehungen zur Zivilbevölkerung Trotz der erwähnten Sprachschablonen und verwendeten Stereotype wäre es gleichwohl fahrlässig, Selbstzeugnisse des Ersten Weltkriegs zu reinen „Sprachhandlungsstrategien“ zu degradieren und ihnen damit jeden authentischen Wert abzusprechen.42 Denn zusätzlich zu den kaum in Worte zu fassenden Erfahrungen, die die Soldaten im Kampf machten, ergaben sich weitere Erlebnisse in der Etappe, in der Ausbildung und in den Ruhephasen. Hier lohnt es, weitere Untersuchungen an der Quelle anzustellen, die sich vor allem auf die vor dem Krieg erlernten und mit39 Angelika Tramitz, Vom Umgang mit Helden. Kriegs(vor)schriften und Benimmregeln für deutsche Frauen im Ersten Weltkrieg, in: Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung, hg. von Peter Knoch, Stuttgart 1989, S. 84‒113, hier S. 103. 40 Ebd., S. 154, Eintrag vom Februar 1917 [ohne genaue Datumsangabe]. 41 Tagebuch, S. 69 f., Eintrag vom 1.10.1916. 42 Ulrich, Augenzeugen, S. 19.

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gebrachten Einstellungen richten. Mit Blick auf Schröder soll dies exemplarisch am Themenfeld des Feindbildes gezeigt werden. Schon zu Kriegsbeginn waren den gegnerischen Staaten negative Charaktereigenschaften zugeschrieben worden, die durch die Propaganda des Deutschen Reiches hinlänglich bekannt waren. So konnten beispielsweise Anstecknadeln und Postkarten mit dem Slogan „Gott strafe England“ erworben werden. Karikaturen in Zeitungen und Zeitschriften zeigten die Staaten als allegorische Figuren, die von einer gerüsteten „Germania“ niedergerungen wurden. Dem sogenannten Erbfeind Frankreich wurden weibliche Eigenschaften zugeschrieben, die ihn schwach und leicht besiegbar wirken lassen sollten. Zudem konnte mit der Verweiblichung des Gegners die schon erwähnte starke männliche Identität der Soldaten untermauert werden, denn der Mann stand im zeitgenössischen Ideal über der Frau. Trotz der Verlockungen der Französinnen blieb der Soldat in dieser Vorstellung auch im Feindesland treu und ehrenhaft. Kameraden und Offiziere, die sich mit Prostituierten einließen, wurden diffamiert. Auch die Arbeitsmoral der männlichen Franzosen wurde kritisiert und dabei die eigene Auffassung unterstrichen. Diese hegemoniale Männlichkeit wurde von den meisten Männern zwar nicht erreicht, aber doch immer angestrebt. Sie stellte ein positives Ideal dar, mit dem man sich von den Frauen und den Franzosen gleichermaßen abgrenzen konnte.43 Begegnungen mit französischen Zivilist*innen nehmen in Schröders Schilderungen viel Raum ein. Da seine Kompanie häufige Ortswechsel vornahm und nie lange in einer Stellung verblieb, kam es in raschem Wechsel zu immer neuen Einquartierungen. Wie dies praktisch ablief und wie sehr die französische Bevölkerung darunter gelitten haben muss, ist nur am Rande und in Form kleiner Anekdoten zu lesen. Bevor die Mannschaften an den neuen Ort gelangten, sorgte der Quartiermeister dort bereits für ausreichend Unterkünfte. Dabei konnte es sich um Kasernen, Scheunen und Fabrikgebäude oder „Bürgerquartiere“ handeln. Für die Offiziere wurden Villen oder Herrenhäuser requiriert und deren Bewohner rücksichtslos vertrieben. Schröder als einfacher Soldat kam mehrfach mit anderen Kameraden bei „Zivilern“ unter. Mit diesen Darstellungen spricht Schröder ein Thema an, das auch die Propaganda im Deutschen Reich aufgegriffen hatte. In Bildbänden, illustrierten Zeitschriften oder von der Regierung in Auftrag gegebenen Filmen sollten Bilder von der Front Eindrücke vom Kriegsgeschehen vermitteln. Neben der angeblichen Überlegenheit deutscher Waffen und gefangenen oder getöteten Feinden waren Szenen aus dem Alltag der Soldaten beliebte Motive. So wurde dargestellt, wie deutsche Soldaten die französische Zivilbevölkerung unterstützen – ähnlich, wie es auch Schröder beschreibt. Zerstörte Ortschaften wurden dagegen immer dem Gegner angelastet.44 43 Richter, Nation, S. 114 f. 44 Gerd Krumeich, Kriegsfotografie zwischen Erleben und Propaganda. Verdun und die Somme in deutschen und französischen Fotografien des Ersten Weltkriegs, in: Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung (1789–1989), hg. von Ute Daniel und Wolfram

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Ähnlich wie bei der Heimatbevölkerung, für die diese Bilder gedacht waren, scheinen auch vor Ort die französischen Zivilist*innen eine besondere Faszination auf Schröder ausgeübt zu haben. Ausführlich beschreibt er das Zusammenleben mit den Familien, bei denen er und seine Kameraden einquartiert wurden. Da er selbst kaum Französisch beherrschte, gibt er Dialoge im Tagebuch in einer „Lautsprache“ wieder. Ein besonderes Augenmerk der Soldaten lag auf den minderjährigen Französinnen. Vielfach berichtet Schröder von Beziehungen mit den im Haushalt lebenden Töchtern, die meist zwischen 14 und 17 Jahren alt waren. Passend zum erwähnten Männlichkeitsideal und im Sinne einer bürgerlichen Erziehung nennt er keine explizit sexuellen Kontakte, doch wird es diese sicherlich gegeben haben. Schröder beschränkt sich auf Beschreibungen von Spaziergängen und Gesprächen und der großen Trauer, wenn die Kompanie verlegt wurde. Hinsichtlich intimer Beziehungen gibt er sich sehr zurückhaltend: Auch den Mädchen sei ein Wort gewidmet. Die sind nämlich garnicht dumm und meistenteils nicht abgeneigt sich mit einem Soldaten einzulassen. Mancher Soldat amüsiert sich tadellos. Ich bin in dieser Hinsicht sehr vorsichtig, habe schon zu oft von den Folgen gehört, man macht sich unglücklich für sein ganzes Leben.45 Am letzten Abend habe ich noch ne Weile mit ihr gesprochen, sie war wirklich betrübt und auf meine Frage: ‚Wulle wuh awek moa, Valentin?‘ antwortete sie: ‚Wui, duzwiet Hans‘, aber das ging ja nicht. So bin ich dann fortgegangen in der Hoffnung, daß es ein Wiedersehen gibt.46

Insgesamt beurteilt er die Zivilist*innen – vor allem in Belgien – als freundlich und hilfsbereit: An einem recht schönen Sonntag machte ich auch eine kleine Tour nach Dietsche Hewe zu meinen alten Quartiersleuten. Es waren paar ganz schöne Stunden die ich da verlebte, bekam erst gut zu Essen und wurde sehr freundlich aufgenommen. Sogar die alte Großmutter ließ nicht locker, ich mußte nach ihrer Stube raufkommen und an ihrem Bette eine ¼ Stunde Platz nehmen und auf flämisch so leidlich unterhalten. Hier fragten die Leute auch nach dem Medaillon. Nämlich wie ich am 14. März 18 von ihr ging, gab die Frau eine katholische heilige Münze und sagte: Ich müßte es niemand sagen und müßte recht brav sein, das Medaillon würde mir dann Glück bringen und da ich ganz heil zurückkam und ihr das Medaillon zeigte sagte sie sofort: Bist auch schön brav gewest. Mit dem Versprechen recht bald wieder zu kommen, ging ich nach K. zurück.47

Siemann, Frankfurt a. M. 1994, S. 117‒132. 45 Tagebuch, S. 267, Eintrag vom 28.7.1917. 46 Ebd., S. 397, Eintrag vom 11.‒27.9.1918. 47 Ebd., S. 392, Eintrag vom 16.‒31.8.1918.

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Insbesondere in den letzten Kriegsmonaten ließen sie ihn und seine Kameraden an ihren Mahlzeiten teilnehmen und führten am Küchentisch Gespräche. Er spielte mit ihren Kindern und teilte seine Ration mit den hungernden Menschen. Kurios mutet dabei die Tatsache an, dass die Lebensmittel zuvor durch die deutschen Soldaten von den Feldern französischer Bauern gestohlen worden waren: Zuerst eine tüchtige Portion Kartoffel gekocht, schmeckten tadellos. Die Kinder von unsern Pisang wurden täglich mit durchgefüttert, sahen auch sehr verhungert aus. Mitunter machte die Frau noch einige Bemerkungen: Soldat grand Filu. Duschur komfi komfa da Pomteterre. Adassion pur Policis. Wuh duzwiet presonnie, grand Malleur. Soldat tre bon awak mon Sangfan. Der Schluss war dann gewöhnlich: Bong Appetit. Und der war auch gewöhnlich nicht schlecht.48

Regelmäßig stahlen die Soldaten Vieh, Milch, Hühner und andere Lebensmittel aus den Scheunen der Bauern. Von den Feldern wurden Kartoffeln, Obst und Gemüse entwendet. Die Verfolgung der Straftaten erfolgte nur halbherzig seitens der Vorgesetzten, da sich die Kameraden untereinander deckten und die aufgestellten Nachtwachen leicht zu bestechen waren. Schröder verwendet verharmlosende Begriffe wie „holen“ oder „besorgen“ für die Beschreibung dieser Diebstähle.49 Nur an einer Stelle seines Tagebuchs beurteilt er die Taten kritisch, rechtfertigt jedoch sein Handeln umgehend mit der schlechten Versorgungslage in der Kompanie: Auch wieder auf Raubzug aus gewesen; mit Pistolen und 1 Inftr. Gewehr bewaffnet, sind wir in einen Obstgarten gegangen und Birnen u. Äpfel geholt. Sind ungestört geblieben und brachten einen guten Sack voll mit ins Quartier. (Wenn ich so mitunter drüber nachdenke, wie man mit aller Ruhe solche Felddiebstähle ausführen kann, ist es doch eine Schlechtigkeit. Aber was soll man machen? Das Brot will nicht ausreichen und Hunger tut so weh, da kann und tut man allerlei, um denselben zu lindern. Wenn auch manche Nacht geopfert werden muß. Auch ist die Klauerei nicht ungefährlich, denn mehrfach ist es auch hier schon zu Schlägereien gekommen zwischen Zivil und Militär, natürlich des Nachts, in den Kartoffelfeldern. Die Ziviler ziehen dauernd den Kürzeren dabei.)50

Über die militärischen Feindbilder, namentlich die gegnerischen Soldaten im Schützengraben, berichtet Schröder dagegen vergleichsweise wenig. Sie bleiben eine unpersönliche Masse von Feinden, die ganz auf ihre militärischen Aktivitäten reduziert werden: „Der Angriff der Engländer war abgeschlagen. Tommy hat die Schnauze voll gekriegt. Die ersten Amerikaner waren gefangen genommen. Also sind die Schweine auch schon da, na die sollen den Rachen bald voll kriegen.“51 48 49 50 51

Ebd., S. 292 f., Eintrag vom 24.8.1917. Vgl. exemplarisch ebd., S. 281: „Kartoffeln vom Felde geholt“. Ebd., S. 291, Eintrag vom 22.8.1917. Ebd., S. 285, Eintrag vom 16.8.1917.

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Zu persönlichen Begegnungen kam es nicht. Trotz dieser eher oberflächlichen Beschreibung war der Feind längst kein abstraktes Wesen mehr, wie er es in der Heimat blieb. Mit dem ersten Einsatz an der Front wurde er ein ernst zu nehmender Bestandteil des Soldatenalltags. Der Feind war ständig präsent und bedrohlich. Stereotype Feindbilder, die aus der Heimat mitgebracht wurden, verschwanden dagegen zusehends.52 Auch Schröder spricht von den französischen Soldaten respektvoll. Provisorische Kriegsgräber und getötete Franzosen machen Eindruck auf ihn, und er fühlt mit den verwitweten Frauen und trauernden Müttern: Auf dem Rückweg gingen wir am Waldrande längst, dem Barackenlager zu, da stießen wir an einer Stelle, wo 4 Franzosen in einem Schützengraben leicht verscharrt waren und ein einfaches Stück Holz steckte drauf mit den kurzen Zeilen: ‚4 tapfere Franzosen unbekannt.‘ Überall lagen Ausrüstungsstücke und noch 100 m weiter, da stand ich plötzlich vor einer Leiche ein Franzose, sein Gewehr lag neben ihm, der Körper war fast ganz mit Fliegen belebt und ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus. Wir sind still weiter gegangen und sprachen noch drüber, welch Angehörige mögen von diesen Leuten auf Nachricht warten? Er ist und bleibt vermißt.53

Kriegsende Im Rahmen der Offensive „Michael“, die im März 1918 begann, sollte die Entente endgültig geschlagen werden. Zunächst gelangen den deutschen Truppen tatsächlich große militärische Erfolge – vor allem gegen die englischen Streitkräfte. Allerdings scheiterte ein endgültiger Sieg an logistischen Problemen. Weitere Operationen in der ersten Jahreshälfte wurden zunehmend schwächer. Schröder berichtet von hohen Todesraten; unter den Opfern waren auch ihm nahestehende Kameraden. Aufgrund seiner familiären Situation, wie er es selbst nennt, wurde Schröder im letzten Kriegsjahr nicht mehr an der Front eingesetzt. Er erlebte den Rückzug der deutschen Linien somit „aus zweiter Reihe“ als Schreibgehilfe in der Etappe. Dennoch blieb er weiterhin seiner Kompanie zugeteilt, die im Frühjahr 1918 durch neue Rekruten verstärkt worden war. Es wurde nun deutlich, dass die zunehmende Erschöpfung der Soldaten und die Versorgungsprobleme die Motivation endgültig zum Erliegen brachten. Viele desertierten oder ergaben sich dem Feind. Schröder schildert Befehlsverweigerungen in seinem persönlichen Umfeld, verhält sich selbst aber eher distanziert: Nun einige Worte zur allgemeinen Kriegslage: Seit der Schlappe an der Marne waren wir d. h. die deutschen Truppen nicht mehr richtig zum stehen gekommen. Es machte 52 Peter Knoch, Kriegsalltag, in: Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung, hg. von Peter Knoch, Stuttgart 1989, S. 222‒251, hier S. 229. 53 Ebd., S. 377, Eintrag vom 2.7.1918.

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sich schon bald eine Unordnung zwischen den Soldaten bemerkbar und das Gefühl, daß es in den nächsten Tagen mit den Krieg zu Ende geht machte einen Eindruck auf die Mannschaften ebenfalls Offiziere und Unterführer. So kamen unsere Urlauber nicht mehr zurück. In den Kämpfen bei Grevecourt verschwanden 1 Untffz und 3 Mann, ohne am Gefecht teilzunehmen. Diese Leute sind dann zum nächsten Bahnhof gelaufen und von da an nicht mehr gesehen worden also Fahnenflucht war nichts Seltenes mehr. Es häuften sich die Widersetzlichkeiten der Leute gegen die Vorgesetzten. Der Haß auf die Offiziere trat immer deutlicher zu Tage. Es ist auch in unserer Komp. vorgekommen, daß einige nicht mehr nach vorn in Stellung wollten. Die Offiziere wurden nicht mehr gegrüßt.54

In Schleswig-Holstein fanden zu diesem Zeitpunkt die großen Streiks der Arbeiterschaft in der Rüstungsindustrie statt. Unterstützt wurden sie von Mitgliedern der USPD, die gemeinsam mit den Streikenden einen raschen Friedensschluss forderten.55 Von diesen Vorgängen und auch von der großen Hungersnot in der Heimat berichtet Hans Schröder allerdings nichts. Sogar der Waffenstillstand und das Kriegsende finden bei ihm nur eine kurze Erwähnung: „Schon seit einiger Zeit wurde viel von Frieden und Waffenstillstand gesprochen worden, aber unter uns Soldaten wollte keiner so recht dran glauben aber heute am 11.11. ist dies doch zur Wahrheit geworden, um 12.55 mittags war Schluß, war Waffenstillstand.“56 Umfassend beschreibt er hingegen die Rückkehr nach Deutschland im November 1918: So rückten wir langsam der Grenze näher. Wie wir dann erst lesen konnten: E u p e n 3 km da wurden wir sehr gespannt wann die Grenze paßiert wird. Bald kam auch dieser Akt. Es war sonst nicht weiter auffällig da standen die Grenztafeln und ein Posten. Doch wir waren kaum einige hundert m gefahren, begegneten uns einige 10‒12 jährige Mädchen, die gingen dicht an die Autos ran und riefen: ‚Guten Tag, hier ist Deutschland.‘ Welch’ einen Eindruck diese Worte auf uns machten, ist kaum zu schreiben, die Kinder wurden mit ins Auto genommen und fuhren nach Eupen. Dieser Moment, dieser erste Eindruck bleibt unvergeßlich. Wie man die deutsche Sprache so rein so schön von diesen Kindern sprechen hörte, das wirkte gewaltig.57

Fazit Der besondere Wert des Kriegstagebuchs von Hans Schröder liegt in der Kleinräumigkeit seiner Betrachtungen. Er schildert Kriegserlebnisse in seinem begrenzten Umfeld ohne Einbezug der politischen Gesamtlage oder anderer Querverweise. Damit wird seine Erzählung zu einem Zeugnis für das Leben des einfachen Front54 55 56 57

Tagebuch, S. 408 f., Eintrag vom 3.11.1918. Kellerhoff, Heimatfront, S. 239‒282. Tagebuch, S. 417, Eintrag vom 11.11.1918. Ebd., S. 428, Eintrag vom 22.‒23.11.1918.

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soldaten. Seine Verbindung nach Schleswig-Holstein bestand vor allem über die Familie. Besonders der Bezug zu den Brüdern, die ebenfalls als Soldaten an der Front kämpften, wird immer wieder betont. Als einer von ihnen starb, teilte er seine Emotionen mit den Leser*innen seines Tagebuchs: Auch erhielt ich etwas Post und leider auch eine sehr traurige Nachricht. Eine Freundin schrieb mir: ‚Es ist ja wirklich traurig, daß dein zweiter Bruder gefallen ist usw.‘ Da ich aber noch erst Post von Fritz erhalten hatte, wollte mir es garnicht glaubhaft vorkommen. – Der schreckliche Krieg. […] Bekam heute Abend einen ausführlichen Brief von Vater. Den Grund seines Schreibens ahnte ich ja schon. Die armen guten Eltern. Abends gabs Sauerkohl. Dann mußte ich bis 12 Uhr nachts Posten stehen, meine Gedanken weilten dauernd bei Fritz.58

Er lässt die Leser*innen darüber hinaus miterleben, wie er mehr als zwölf Monate nach seiner Einberufung endlich auf einen Heimaturlaub hoffte, der dann aber mehrfach im letzten Moment aufgeschoben wurde. Eine zweite Verbindung in die Dithmarscher Heimat war die plattdeutsche Sprache. Bei den Treffen mit Bekannten zeigte sich besonders gut seine Identität als Schleswig-Holsteiner, deren Vermittlung ihm im Tagebuch ein wichtiges Anliegen ist. Insgesamt stellte sich Schröder als pflichtbewusster und kaisertreuer Soldat dar: Weder hatte er Verständnis für Befehlsverweigerung und Meuterei noch zog er den Sinn des Krieges in Zweifel. Nur den preußischen Militarismus kritisiert er immer wieder, bezieht seinen Unmut aber vor allem auf die Person des Vorgesetzten. Er beklagt dabei aus seiner Sicht sinnlose Befehle und die hohe physische Beanspruchung der Soldaten. Mehrfach weist er zudem auf die Abhängigkeit von der Willkür des Vorgesetzten hin: So blieb es nicht aus, daß ich beim Sachen-Appell öfters auffiel, denn wer es einmal verscherzt hat, der hat in Allem einen schweren Stand, doch bin ich mir bewußt, was ich mache. Einige Male sind wir in Fr. richtig geschliffen worden, was doch unnötig ist, die Offiziere und Untffz stehen meistens dabei und haben anscheinend ihren Spaß dran.59 Hatten auch erst einen Spieß-Wechsel gehabt, der Neue hat den Alten rausgebissen und taugen tun sie alle Beide nicht viel, doch wie gewöhnlich: Neue Besen kehren gut. Große Schnauze und grob zu den Leuten, das sind so die besten Vorgesetzten, die beim Militär gebraucht werden, mancher hat von Bildung keine Spur, d. h. mit Ausnahmen, aber unser Spieß steht darin an der Spitze, mit ihm auch andere Untffz.60

Der Blick eines Scharfschützen am Maschinengewehr auf seine Erlebnisse in den Jahren 1916 bis 1918 an der Westfront vermittelt ein detailliertes Bild vom Alltag

58 Ebd., S. 215 f., Einträge vom 7. und 8.6.1917. 59 Ebd., S. 39, Eintrag vom 21.‒24.8.1916. 60 Ebd., S. 88, Eintrag vom 23.‒25.10.1916.

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des Soldaten im Schützengraben. Mit Kartenmaterial und präzisen Ortsangaben bemüht sich Schröder zudem, den Nachgeborenen die Sachverhalte zu verdeutlichen. Bei der Untersuchung von Schröders Schilderungen sind verschiedene Deutungsmuster auszumachen. Zum einen war eine moralisch-pazifistische Haltung ein Beweggrund für seine Aufzeichnungen. Immer wieder betont er, wie grausam der Krieg sei, der Soldaten und Zivilist*innen gleichermaßen alles abverlangte. Er ist bestrebt, den Leser*innen seines Tagebuchs ein mahnendes Beispiel zu geben, welche Auswirkungen ein Krieg sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gesellschaft hat. An Schröders Biografie wird ferner deutlich, wie viel Leid und Trauer der Erste Weltkrieg mit sich brachte. Daneben verwendet der Verfasser jedoch die Stereotype und Sprachschablonen seiner Zeit, um seine eigene Person in ein günstiges Licht zu rücken und sein Handeln zu rechtfertigen. Beschreibungen der Kampfhandlungen und Darstellungen des Feindbildes bedienen die Erwartungshaltung der Gesellschaft in den 1920er Jahren an die Frontkämpfer. Zudem ist Schröder exemplarisch für jene Schleswig-Holsteiner zu sehen, die für den Kriegseinsatz erstmals ihre Heimat verließen. Mit hohen Erwartungen und einer durch die Propaganda geschürten Euphorie reiste er ab und kehrte wie die meisten seiner Kameraden desillusioniert ins zivile Leben zurück.

Marvin Groth

Studieren trotz NS-Belastung? Entnazifizierungsakten in der britischen Besatzungszone und ihre regionalgeschichtlichen Auswertungspotentiale

Abstract Following the defeat of Nazi Germany, the British occupational forces introduced a Re-education program to German institutes of higher learning in order to promote a denazified academic future within the British Sector. This endeavor required aspiring university students to entrust a number of mandatory questionnaires with profoundly personal information. The questionnaires would then, in turn, measure the aspirants’ respective levels of involvement in National-socialist organizations during the “Third Reich”. Depending on the answers submitted, university admission could have been denied. This article initially recapitulates the emergence and evolution of scientific debates on denazification programs within the British sector. Thereafter, it proceeds to outline the rise, prime and decline of the British Re-education program throughout the mid to late 1940s. It also identifies the most informative and promising brands of questionnaires for a new quantitative as well as comparative research design. Extensive randomized sample surveys on the territorial level of the former British Sector may prove themselves to represent a worthwhile addition to the discipline of regional history. By furthering this method to a scientifically satisfactory degree of statistical diligence, new discoveries pertaining to the typology of the aforementioned post-war student bodies may shed a more wholesome light on the realities of student life during the late 1940s.

Die Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung, die von den alliierten Besatzungsmächten in ihren jeweiligen Besatzungszonen organisiert, durchgeführt, teilweise delegiert und überwacht wurde, stellte nach dem Zweiten Weltkrieg das zentrale Werkzeug zum Zwecke der dauerhaften Beseitigung der nationalsozialistischen Gesinnung der Deutschen dar. Ob dieses Ziel nach Abschluss jenes umfangreich angelegten Verfahrens zu Beginn der 1950er Jahre in einem zufriedenstellenden Maße erreicht werden konnte, lässt sich jedoch bis heute nicht ohne Zweifel feststellen. Schon während der unmittelbaren Nachkriegszeit kamen sowohl in der deutschen Gesellschaft und Politik als auch bei den Alliierten erhebliche Zweifel hieran auf, da organisatorische, moralische und personelle Komplikationen in Verbindung mit einer verwaltungstechnischen Überlastung die Entnazifizierung bereits ab 1947/48 erheblich behinderten. Der allgemein anerkannte Konsens der oben genannten Gruppen lautet daher (bis heute), dass die Entnazifizierung im Endeffekt

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nur rudimentär stattfinden und eine konsequente, wie auch gerechte, Verfahrensabwicklung aufgrund der vielfältigen Schwierigkeiten nicht flächendeckend zur Anwendung gelangen konnte.1 Für die Geschichtsforschung bietet der Entnazifizierungsprozess allerdings zahlreiche Erkenntnispotentiale, die es insbesondere für die Aufarbeitung der studentischen Nachkriegsgeschichte zu nutzen gilt. Schließlich wird der damaligen Studierendenschaft gegenüber anderen, bildungspolitisch stärker in Erscheinung tretenden Personengruppen immer noch eine geringere Forschungspriorität zugewiesen. Da sich das Interesse der Gesichtswissenschaft an diesem Themenfeld in Verbindung mit der Hauptverfügbarkeit von überlieferten Quellen überwiegend auf die Dozierenden jenes Zeitraumes konzentriert, verwundert es nicht, dass vor allem Projekte zur Aufarbeitung der letztgenannten Gruppe die Forschungsgeschichte geprägt haben.2 Unabhängig hiervon ist für die Aufarbeitung dieses Kapitels deutscher Geschichte gerade die Untersuchung von Schicksalen betroffener Studierender und Studienbewerber der NS- und Nachkriegszeit durchaus von Interesse und Bedeutung, zumal die gesellschaftlich und politisch einflussreiche soziale Schicht des Bildungsbürgertums der frühen Bundesrepublik, wie auch der Deutschen Demokratischen Republik, zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Studierenden der 1940er Jahre hervorging. Im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren gerieten in vielen Fällen trotz ihres noch jungen Alters immer wieder Studierende und Studienanwärter*innen in Belastungsszenarien, die ihre weitere berufliche Zukunft infrage stellten. Ihre persönlichen Schicksale traten in der modernen Geschichtsschreibung gegenüber anderen Statusgruppen bislang zumeist in den Hintergrund. Die unzureichende Aufarbeitung der studentischen Universitätsgeschichte birgt jedoch die Gefahr, entscheidende Entwicklungshintergründe späterer akademischer und politischer Akteure außer Acht zu lassen. Ein umfassender Nachholbedarf wird erkennbar, dem es angesichts ablaufender archivarischer Schutzfristen nunmehr aus einer vergleichendquantitativen Perspektive heraus zu begegnen gilt.

1. Ein regionalgeschichtlicher Forschungsansatz Die alliierten Besatzungszonen offerieren vor diesem Hintergrund eine neue regionalgeschichtliche Untersuchungsebene. Schließlich verband eine Besatzungszone durch die mehrjährige Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen politischen, 1

Vgl. Dennis Meyer, Entnazifizierung, in: Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, hg. von Torben Fischer und Mathias N. Lorenz (Histoire 53), Bielefeld 32015, S. 20 f.; Ders., Reeducation, in: ebd., S. 21‒23. 2 Vgl. exemplarisch das von Oliver Auge und Swantje Piotrowski herausgegebene Themenheft „Professorenkataloge 2.0. Ansätze und Perspektiven webbasierter Forschung in der gegenwärtigen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2015), S. 143‒339.

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wirtschaftlichen, medialen und geografisch zusammenhängenden Raum nicht nur ihre Bewohner im Allgemeinen, sondern auch ihre Studienanwärter*innen im Speziellen zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Infolgedessen stellt der zonenspezifische Entnazifizierungsprozess3 einen eigenständigen Forschungsgegenstand dar, der das Potential besitzt, als entscheidender Mittler zwischen den bereits in der universitätsgeschichtlichen Forschung etablierten lokalen Studien einerseits sowie einer bisher noch unverwirklichten bundesweiten Gesamtdarstellung zur studentischen Entnazifizierung andererseits fungieren zu können. Zwar bedingt es die juristische und verfahrenspraktische Organisation der Entnazifizierungsverfahren auf der Besatzungszonenebene, dass eine landesgeschichtliche Auswertung von diesbezüglichem Quellenmaterial bereits durchaus dazu imstande sein dürfte, allgemeine Aussagen über den Erfüllungsgrad des Entnazifizierungsauftrages im jeweiligen Bundesland zu liefern. Jedoch müsste in diesem Fall in Kauf genommen werden, dass eine Vielzahl von potentiellen lokalen Besonderheiten und verfahrenstechnischen Abweichungen im Umgang mit den allgemeinen Vorgaben der jeweiligen Besatzungsmacht aufgrund der Beschränkung des Untersuchungsgebietes auf nur einen territorialen Teilbereich des jeweiligen Besatzungsgebietes überhaupt nicht erfasst und ausgewertet werden könnten. Vermittels einer Ausdehnung des Untersuchungsgebietes auf die gesamte jeweilige Besatzungszone lässt sich hingegen durch die schrittweise durchzuführende, vergleichende Stichprobenanalyse von studentischen Entnazifizierungsakten aus allen in jener Zone zusammengefassten heutigen Bundesländern ein erheblich umfangreicheres und allgemeingültigeres Bild des Verfahrens zeichnen. Hierbei treten lokale Abweichungen und zonenweite Gemeinsamkeiten überhaupt erst in den Fokus systematischer Auswertungsbestrebungen. Schließlich bergen die vielfältigen und detaillierten Selbstauskünfte und Dokumente der Studierwilligen jener Zeit neben Hinweisen auf ihre Aussichten auf die Annahme als Studierende auch eine in ihrem Umfang einzigartige Fülle an lebenspraktischen Daten, die es dem modernen Betrachter ermöglichen, sich in die Lebensumstände jener demografischen Gruppe einzufühlen. Somit ergeben sich aus einer systematischen und möglichst einheitlichen Auswertung dieser Quellen zahlreiche Anknüpfungspunkte für benachbarte Geschichtsdisziplinen zur Erforschung der Nachkriegszeit. Der vorliegende Beitrag zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, die vielfältigen Auswertungspotentiale der studentischen Entnazifizierungsakten auf ebenjener regionalgeschichtlichen Ebene am Beispiel der bereits gut aufgearbeiteten britischen Besatzungszone aufzuzeigen. Hierfür werden die zu untersuchenden studentischen Entnazifizierungsverfahren in den historischen Kontext der deutschen Entnazifizierung insgesamt eingeordnet und die hier vorgestellten Analyseansätze in Bezug zu den bisherigen Forschungen gesetzt. Im Anschluss hieran werden die für eine belastbare quantitative Auswertung relevanten Forschungsbedingungen und 3 Fred Taylor, Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands 1944–1946. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, Darmstadt 2011, S. 343.

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Hauptquellengattungen unter Verweis auf die Archivstandorte Hamburg und Schleswig erörtert. Es folgt der Entwurf einer statistischen Methodik, welche es ermöglichen soll, typologische Vergleiche von mehreren Universitätsstandorten innerhalb einer Besatzungszone durchführen zu können. Am Beispiel Hamburgs und Kiels werden sodann jene Datenreihen identifiziert, die vermittels eines Rückgriffes auf bereits abgeschlossene Untersuchungen des Autors Einblicke in die Lebenswirklichkeiten und Entnazifizierungstendenzen von Studienanwärter*innen der Nachkriegszeit zulassen.4

2. Entwicklung der studentischen Entnazifizierungsforschung Bereits in den späten 1940er Jahren wiesen die deutschen Entnazifizierungsverfahren umfangreiche Wechselwirkungen mit akademischen Disziplinen wie der Rechtswissenschaft, der Soziologie und der Demoskopie auf. Als Beispiele für eine solche frühe Auseinandersetzung mit den Folgen der Entnazifizierung für die damals noch kontemporäre Bevölkerung dürfen die Publikationen der Soziologen Walter Dirks und Ernst Sonntag gelten, welche sowohl die unmittelbaren Reaktionen der deutschen Bevölkerung als auch die Auswirkungen der Entnazifizierungsmaßnahmen auf die personelle Zusammensetzung und die Umstrukturierungen des öffentlichen Verwaltungsapparates in den Blick nahmen.5 Forciert durch die Alliierten, fand in den Verwaltungen der deutschen Universitäten während dieser Zeit ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit statt, deren erklärtes Ziel es war, eine bildungspolitische Reform freiheitlich-demokratischer Prägung einzuleiten.6 Durch die Auswertung früher Diskurse dieser Art gelang es der Geschichtswissenschaft bereits, ein umfassendes Meinungsbild der damaligen Bevölkerung zu den unmittelbaren Auswirkungen der Entnazifizierungsverfahren zu rekonstruieren.7 Eine detaillierte empirisch-statistische Auswertung der in den Entnazifizierungsakten erfassten Angaben war der Forschung aufgrund von personenschutzrechtlichen Sperrfristen nach Abschluss der meisten Entnazifizierungsverfahren zu Beginn der 1950er Jahre jedoch für mindestens 30 Jahre unmöglich.8 4 Basierend auf Marvin Groth, Die Kieler Studiumsanwärterinnen und -anwärter von 1945 bis 1949. Entwurf einer Typologie basierend auf der statistischen Auswertung randomisierter Entnazifizierungsakten des LASH, unpubl. Masterarbeit, Kiel 2018. 5 Vgl. Walter Dirks, Folgen der Entnazifizierung. Ihre Auswirkungen in kleinen und mittleren Gemeinden der drei westlichen Zonen, in: Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet, hg. von Theodor W. Adorno und Walter Dirks, Frankfurt a. M. 1955, S. 445‒470. 6 Siehe exemplarisch Westdeutsche Rektorenkonferenz, Gutachten zur Hochschulreform vom Studienausschuß für Hochschulreform 1948 („Blaues Gutachten“), in: Dokumente zur Hochschulreform 1945‒1959, hg. von Rolf Neuhaus, Wiesbaden 1961, S. 289‒368. 7 Vgl. Peter Respondek, Besatzung – Entnazifizierung – Wiederaufbau. Die Universität Münster 1945–1952. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-britischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Bildungssektor (Agenda Geschichte 6), Münster 1995, S. 14 f. 8 Vgl. ebd., S. 15.

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Dennoch wurden, basierend auf den bereits zugänglichen Informationsquellen, wie zum Beispiel Gesetzestexten und Interviews mit Zeitzeugen, bereits vor Ablauf der Schutzfristen Resümees zur Thematik gezogen, obgleich das Interesse hieran sowohl in der Forschung als auch in der Bevölkerung während der 1950er und 1960er Jahre eher gering ausfiel.9 In den 1970er und 1980er Jahren dominierten Darstellungen auf Individual-, Stadt- und Länderebene den geschichtswissenschaftlichen Diskurs, welcher die Leitthese vertrat, dass sich die Entnazifizierung in den vier Besatzungszonen formell stark an der amerikanischen Verfahrensordnung orientierte.10 Historiker der mittleren und späten 1980er Jahre konnten hingegen nach Ablauf der zumeist 30-jährigen allgemeinen Sperrfristen erstmals Einsicht in sachbezogene Akten beantragen, sodass Publikationen zur Entnazifizierungsthematik ab Mitte der 1980er Jahre auf deutlich umfangreichere Quellensammlungen zurückgreifen konnten. Infolgedessen kam es zu einem Umbruch, der institutionenbezogene Diskurse in den Mittelpunkt der Forschung rückte. Als ein wichtiger Vertreter jener neuen Ausrichtung darf der Historikers Clemens Vollnhals gelten. Dieser verfolgte den institutionellen Zugang bereits im Rahmen seiner 1986 zum Abschluss gelangten Dissertation.11 Vollnhals veröffentlichte 1991 darüber hinaus eine kommentierte Dokumentensammlung zur gesamtdeutschen Entnazifizierung, welche die erste diesbezügliche Gesamtdarstellung seit 1969 darstellte.12 Personalakten und persönliche Archivmaterialien, welche mit der Entnazifizierung von Personen assoziiert werden konnten, wiesen jedoch noch strengere Schutzauflagen auf, die je nach Bundesland unterschiedlich lang ausfielen. In einigen Bundesländern, zum Beispiel in Schleswig-Holstein, betrug die Sperrfrist für sachbezogene Entnazifizierungsakten darüber hinaus nicht nur 30, sondern 40 Jahre.13 Zahlreiche relevante Akten waren in den späten 1980er Jahren folglich noch immer nicht uneingeschränkt für wissenschaftliche Untersuchungen zugänglich.   9 Siehe als Beispiel für eine der wenigen Übersichtsdarstellungen aus jenem Zeitraum die 1955 verfasste, jedoch erst Jahre später veröffentlichte Dissertation von Justus Fürstenau, Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, Berlin 1969. 10 Siehe hierzu als Beispiel für einen individualgeschichtlichen Beitrag Heinrich Schmidt, Theodor Tantzen-Heering. Gedanken anläßlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages am 14. Juni 1977, in: Mitteilungsblatt der Oldenburgischen Landschaft 15 (1977), S. 3 f. Weitere Beispiele für die Beschäftigung der regionalgeschichtlichen Forschung mit den länderspezifischen Modalitäten der Entnazifizierung bieten Lutz Niethammer, Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt a. M. 1972; Irmgard Lange, Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen, Organisation, Siegburg 1976. 11 Vgl. Clemens Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989. 12 Ders., Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991. 13 Vgl. Sven Schoen, Entnazifierungsakten, Lübeck o.D., URL: http://www.schleswig-hol-stein.de/ DE/Landesregierung/LASH/Benutzung/UmgangMitQuellen/_documents/entnazifizierungsakten.html (26.2.2020). Die entsprechenden Entnazifizierungsakten lagern im Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 460.

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Seit den frühen 1990er Jahren werden mit Ablauf weiterer Schutzfristen fortlaufend neue Wege für die Forschung frei. Die systematische universitäre Entnazifizierungsforschung begann in dieser Zeit. Als Referenzwerk für diese erwachsende Disziplin gilt für die britische Besatzungszone die 1992 verfasste und 1995 veröffentlichte Dissertation von Peter Respondek, welche die Auswirkungen der Entnazifizierung für die Universität Münster unter Berücksichtigung der nunmehr verfügbar gewordenen Akten umfassend dokumentierte.14 Die Methodik dieser Arbeit spiegelt sich in Monografien der Folgejahre zu den Universitäten Bonn, Braunschweig, Hamburg, Hannover und Köln wider.15 Auch statistische Analysen zur Verfasstheit der Studierendenschaft während der Nachkriegszeit fanden nunmehr Einzug in die Forschung. Je nach Erhaltungsgrad des historischen Datenmaterials aus den Universitätsverwaltungen versprach dieser Ansatz mal mehr, mal weniger Erfolg.16 Der Versuch, eine allein auf qualitativ-empirischen Untersuchungen und überlieferten Universitätsstatistiken basierende, besatzungszonenweite Übersichtsarbeit zu verfassen, erschien unter diesen Bedingungen lange Zeit wenig erfolgversprechend. Für eine systematische, die gesamte britische Besatzungszone umfassende Arbeit bedarf es daher eines neuen quantitativen Forschungsansatzes. Dieser soll im Anschluss an eine kurze Verlaufsdarstellung der studentischen Entnazifizierungstendenzen formuliert werden.

3. Verlauf der studentischen Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone Spätestens seit 1979 geht die studentische Entnazifizierungsforschung davon aus, dass sich die studentische Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone in drei Phasen vollzog. In ihrer Frühphase begann schrittweise die Entwicklung und Erprobung des Verfahrens durch die Besatzungsmächte. In der darauffolgenden Hauptphase erreichten die Entnazifizierungsbemühungen sowohl hinsichtlich des Elans der Besatzer als auch in Bezug auf die messbare Beeinflussung der universitären 14 Vgl. Respondek, Besatzung, S. 15 f. 15 Dazu Rainer S. Elkar, Zwischen Entnazifizierung und Numerus clausus. Kieler Universitätsimmatrikulationen im Zeichen der „Re-education“ (1945–1949), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 142 (2017), S. 233‒282, hier S. 242. Eine explizite Studie zur Entnazifizierung eines universitären Lehrkörpers bietet hingegen Anton F. Guhl, Wege aus dem Dritten Reich. Die Entnazifizierung der Hamburger Universität als ambivalente Nachgeschichte des Nationalsozialismus (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 26), Göttingen 2019. 16 Siehe Christian George, Studieren in Ruinen. Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit (1945–1955) (Bonner Schriften zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1), Göttingen 2010. Der Autor kann für seine Untersuchung auf besonders gut erhaltene Studierendenstatistiken zurückgreifen. Dagegen erlaubt die Studie von Elkar, Entnazifizierung, nur eingeschränkte quantitative Aussagen zur Kieler Studierendenschaft, da das zugrundeliegende Quellenkorpus lediglich fragmentarisch erhalten ist, zahlreiche Fehler aufweist und nicht einheitlich geführt wurde.

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Zulassungsverfahren ihren Höhepunkt. Die Spätphase ist schließlich immer von einem nachlassenden Interesse der beteiligten Akteursgruppen an der konsequenten Fortsetzung der Entnazifizierungsverfahren gekennzeichnet.17 3.1. Die Frühphase (1944 bis 1945) Bereits 1944 begannen in Großbritannien die Vorbereitungen für eine Re-education genannte Entnazifizierung und Neuausrichtung der deutschen Bildungsstätten im Anschluss an die bereits absehbare Niederlage des NS-Regimes.18 Ziel dieser Bestrebungen sollte es sein, ein selbstverantwortliches Demokratieverständnis in den nachfolgenden Generationen zu verankern. Zu diesem Zweck wurden in der Educational Branch der britischen Militärverwaltung University Control Officers benannt, ausgebildet und ab dem Sommer 1945 an allen Universitäten der britischen Besatzungszone eingesetzt. Ihre Aufgabe bestand sinngemäß darin, die Entnazifizierung aller Dozenten, Verwaltungsbeamten, Studierenden und Studierwilligen an den höheren deutschen Bildungsstätten zu überwachen.19 Die Eingriffe der britischen University Control Officers bis zu diesem Zeitpunkt waren aufgrund des allgemeinen Darniederliegens des deutschen Lehrbetriebes im Sommersemester 1945 nur von geringer praktischer Bedeutung für die deutschen Universitäten.20 Dies änderte sich ab dem 22. August 1945, als die britische Militärregierung die Education Control Instruction No. 12 (kurz: ECI 12) ausgab. Hierin legte die Militärregierung fest, welche Kriterien für die Entnazifizierung der deutschen Hochschulen grundsätzlich anzuwenden seien.21 Mit den Entnazifizierungsverfahren begannen die deutschen Universitätsverwaltungen im Wintersemester 1945/46. Erstmalig nahmen die teilweise erneuerten und selbst mehr oder weniger stark entnazifizierten Universitätsverwaltungen Verantwortung in Bezug auf die Zulassung von Studienanwärter*innen auf sich. Das wichtigste Ziel während dieser Phase bestand darin, besonders stark belastete Kandidat*innen gemäß der ECI 12 vom Studium auszuschließen. Bis zum Frühjahr 1946 gab die britische Besatzungsmacht weitere Instruktionen an die Universitäten aus, die potentiell bedrohliche oder unerwünschte Aktivitäten, etwa militärische Übungen, untersagten.22 Für die Zulassungschancen der meisten Bewerber*innen waren diese Maßnahmen jedoch noch nicht sehr einschlägig. 17 Vgl. Elkar, Entnazifizierung, S. 234 f. 18 Vgl. ebd., S. 234. 19 Vgl. David Phillips, Investigating Education in Germany. Historical studies from a British perspective, Routledge 2016, S. 66; Elkar, Entnazifizierung, S. 235; George, Studieren, S. 55. 20 Siehe zur Geschichte der University Control Officers insb. Glesni Euros, The Post-War British ‚Re-Education‘ Policy for German Universities and its Application at the Universities of Göttingen and Cologne (1945–1947), in: Research in Comparative and International Education 11 (2016), H. 3, S. 247‒266. 21 Vgl. Elkar, Entnazifizierung, S. 237. 22 Vgl. ebd., S. 239.

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3.2. Die Hauptphase (1946) Da die britische Militärregierung zu Beginn des Jahres 1946 die bisherigen Entnazifizierungsbemühungen der deutschen Universitäten als unzureichend bewertete, erließ sie in am 20. Februar 1946 die Educational Instruction to German Authorities No. 5 (kurz: EIGA 5), die eine Ausführungsbestimmung der am 12. Januar 1946 veröffentlichten Kontrollratsdirektive Nr. 24 darstellte.23 Hierdurch verschärfte sich die bisher recht lose gehandhabte ECI 12 an den Universitäten der britischen Besatzungszone entscheidend. So mussten beispielsweise die obligatorischen Selbstauskünfte bezüglich einstiger Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen für das Sommersemester 1946 nunmehr deutlich genauer erfolgen. Allerdings fanden auch solche Organisationen Aufnahme in den Fragenkatalog, deren Mitgliedschaft für die Studiumsanwärter*innen entweder verpflichtend gewesen war und/oder die keine explizite ideologische Nähe zum Nationalsozialismus implizierten. Jeder Studierwillige, der etwa ein einfaches Mitglied der Hitlerjugend gewesen war, musste diesen Umstand nunmehr genau dokumentieren. Deutlich einschlägigere Mitgliedschaften, etwa in der Schutzstaffel (SS) oder in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), bedingten fortan eine erheblich striktere Behandlung als noch im Wintersemester 1945/46. Diese Regelung galt ferner für diejenigen Studierenden, die im Wintersemester 1945/46 bereits einen Studienplatz erhalten hatten. Auch sie mussten einen Fragebogen der Militärregierung in mehrfacher Ausführung ausfüllen, um eine Wiederzulassung zum Sommersemester 1946 zu erhalten.24 Besonders bezeichnend für die konsequenter gehandhabte Entnazifizierung der künftigen Studierenden war die Einführung einer mehrstufigen Belastungskategorisierung, deren Stufen in der Praxis von A (unbelastet und bei der Studienplatzvergabe vorzuziehen), über B (geringfügig belastet), C (deutlich belastet, höchstwahrscheinlich vom Studium auszuschließen) bis hin zu D (untragbar) reichten.25 Da bereits die einfache (de facto obligatorische) Mitgliedschaft in einer NS-Jugendorganisation für die Eingruppierung in Kategorie B ausreichte, fand sich die deutliche Mehrheit der Studierwilligen in ebenjener Kategorie wieder. Sie hatte durch das Entnazifizierungsverfahren infolgedessen keine relevanten Nachteile bei der Studienzulassung zu erwarten. Für höhere Funktionäre in NS-Jugendorganisationen, für ehemalige Schüler einschlägiger NS-Bildungseinrichtungen, für Parteimitglieder, für hochrangige Wehrmachtsoffiziere und nicht zuletzt auch für Angehörige von NS-Aktivisten konnte die Einstufung in die Kategorie C oder D hingegen den Ausschluss vom Studium bedeuten.26 23 Vgl. Respondek, Besatzung, S. 157 f. Die Quelle ist im LASH unter Acc. 75/2009, Nr. 237, einsehbar. 24 Beispiele für die Vielzahl an abgefragten Organisationen finden sich unter anderem in studentischen Entnazifizierungsakten des LASH, Abt. 460, Nr. 4627. 25 Vgl. Respondek, Besatzung, S. 160; Elkar, Entnazifizierung, S. 240; George, Studieren, S. 92. 26 Vgl. Respondek, Besatzung, S. 160.

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Mit Rücksicht auf das mitunter niedrige Alter der Betroffenen erwuchsen 1946 von deutscher Seite her Forderungen nach einer Jugendamnestie, denen die Alliierten bis zum Sommer des Jahres entsprachen.27 Da hierdurch fast allen Bewerbern, die nach 1919 geboren worden waren, deutliche Erleichterungen zugutekamen, spielten die erst im Januar und Februar 1946 beschlossenen Verschärfungen für diese Alterskohorte keine Rolle mehr. Auch ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und einfachen NSDAP-Mitgliedern eröffnete beispielsweise die ECI 57 im März 1946 Revisionsansprüche. Um inmitten der durch diese Maßnahmen begünstigten Antragsteller weiterhin Prioritätsentscheidungen treffen zu können, erfolgte in der Bewertungspraxis eine Erweiterung der verwendeten Entnazifizierungskategorien um mehrere Unterstufen. Innerhalb der Kategorie B wiesen beispielsweise Bewerber mit der neuen Einstufung B1 die höchsten Zulassungschancen auf. Es folgten ihnen absteigend die Bewerber der Unterkategorien B2, B3 und (selten) B4. Der Prüfeifer der Educational Branch ließ trotz dieser teilweisen Kompensation in der Folgezeit dennoch immer stärker nach. 3.3. Die Spätphase (1947 bis 1949) Einen erheblichen Einschnitt für die Konsequenz der Entnazifizierung an den Hochschulen der britischen Zone stellte neben dem Erlass der Jugendamnestie auch der politische Machtverlust der britischen Education Branch seit Beginn des Jahres 1947 dar. Diese büßte nunmehr ihre Selbstständigkeit innerhalb der britischen Militärregierung ein und stieg zu einem Bestandteil der Division for Internal Affairs and Communication ab.28 Weiterhin fiel mit jedem weiteren Semester ein immer größerer Anteil der Abiturient*innen unter die Jugendamnestie, sodass die praktische Bedeutung der Kategorisierung kontinuierlich an Bedeutung verlor.29 Als Endpunkt der britischen Entnazifizierungsbemühungen kann folglich der Zeitraum von 1948 bis 1949 gelten, da die Militärregierung ihre Verantwortung für die Durchführung der Entnazifizierung zu diesem Zeitpunkt bereits größtenteils an die deutsche Verwaltung abgetreten hatte.30 Auch drängten die deutschen Länder der britischen Besatzungszone immer stärker auf ein baldiges Ende der Entnazifizierungsverfahren, was sich in Schleswig-Holstein beispielsweise in der Verabschiedung des Gesetzes zur Fortführung und zum Abschluss der Entnazifizierung vom 10. Februar 1948 äußerte.31 Somit kam der studentischen Entnazifizierung in ihrer Spätphase nur noch in Einzelfällen besonders belasteter Studierwilliger eine Bedeutung zu. 27 Vgl. Jessica Erdelmann, Persilscheine aus der Druckerpresse? Die Hamburger Medienberichterstattung über Entnazifizierung und Internierung in der britischen Besatzungszone (Hamburger Zeitspuren 11), Hamburg 2016, S. 55. 28 Vgl. Elkar, Entnazifizierung, S. 234. 29 Vgl. ebd., S. 247. Nach Elkar befasste sich der Kieler Universitätssenat beispielsweise zuletzt im Dezember 1947 mit der Auswertung von Fragebögen. 30 Vgl. Respondek, Besatzung, S. 172 f. 31 Vgl. Elkar, Entnazifizierung, S. 241.

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4. Quellenverfügbarkeit Da die Entnazifizierungsakten der deutschen Städte und Universitäten in den jeweils zuständigen Stadt-, Landes- und Universitätsarchiven verwahrt werden, steht der Geschichtswissenschaft heute prinzipiell eine mehr als ausreichende Anzahl an Quellen für quantitativ- wie auch für qualitativ-empirische Untersuchungen zur Verfügung. Der forschungspraktische Zugang zu diesen Akten kann abhängig von der lokalen Überlieferungssituation, der archivarischen Bestandserschließung, den Nutzungsbestimmungen der Archive, den zu beantragenden Schutzfristenverkürzungen sowie unter Berücksichtigung des Reiseaufwandes erheblich variieren. Die studentischen Entnazifizierungsakten der Kieler Universität, welche im Landesarchiv Schleswig lagern und in einem zusammenhängenden Bestand (Abt. 460) der Forschung zur Verfügung stehen, sind beispielsweise besonders gut zugänglich.32 Voraussetzung für die Einsichtnahme ist lediglich eine zu beantragende Schutzfristen­ verkürzung. Die Sammelakten sind zudem elektronisch nach Nachnamen verzeichnet, wodurch das Auffinden relevanter Akten entscheidend erleichtert wird. Für den Hamburger Bestand ergibt sich hingegen ein deutlich umständlicherer Zugang zu den auszuwertenden Akten. So entfiel im Staatsarchiv Hamburg die in Schleswig praktizierte Zusammenfassung der studentischen Entnazifizierungsakten in einem gesonderten Bestand. Gemeinsam mit allen anderen in Hamburg erhaltenen allgemeinen Entnazifizierungsakten erfolgte, lediglich nach Nachnamen sortiert, eine Einsortierung in den Bestand 221–11 (Staatskommissar für die Entnazifizierung). Um die entsprechenden Akten einsehen zu können, müssen folglich zunächst die betroffenen Probanden aus der Gesamtheit der Entnazifizierungsakten einzeln ermittelt werden. Einen Anhaltspunkt hierfür bieten die Matrikelkarten der Universität, welche im Universitätsarchiv Hamburg (Bestand 201c, Abt. 2) aufbewahrt werden. Die Einsichtnahme ist dort, dem LASH gleichend, nach Gewährung einer Schutzfristenverkürzung möglich. Die Matrikelkarten lagern in Archivkartons zu je circa 500 bis 700 Stück, wobei die Sortierung alphabetisch nach Nachnamen erfolgt ist. Da in den besagten Archivkartons jedoch nicht nur die Matrikelkarten der Nachkriegszeit, sondern auch der 1950er, der 1960er, der 1970er und der frühen 1980er Jahre lagern, müssen die für eine Nachkriegsuntersuchung relevanten Karteikarten erst einmal zeitaufwendig herausgefiltert werden. In einem weiteren Schritt werden die hierdurch gewonnenen Nachnamen, Vornamen und Geburtsdaten der Probanden im Bestand des Staatsarchives identifiziert. Eine Schutzfristenverkürzung fällt hier nur für Probanden an, deren Geburtsjahr weniger als 90 Jahre zurückliegt. Da die Verzeichnisse jenes Bestandes als digitalisierte Mikrofilme vorliegen, gestaltet sich auch diese Suche sehr zeitaufwendig. Darüber hinaus fehlen nicht wenige der auf den universitären Matrikelkarten ausfindig gemachten Probanden im Bestand des Staatsarchives, weshalb die Anzahl der zu durchsuchenden Matrikel32 Siehe als Beispiel für die dortigen Sammelakten studentischer Entnazifizierungsakten LASH Abt. 460, Nr. 4623.

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karten im Universitätsarchiv kompensatorisch erhöht werden muss. Zuletzt bedingt der hohe arbeitstechnische Aufwand bei der Aushebung des Archivmaterials eine angeordnete Begrenzung der einsehbaren Entnazifizierungsakten auf zehn Exemplare je Archivarbeitstag. Dementsprechend kann eine umfassende, statistisch belastbare Auswertung dieses Bestandes de facto nur über die Dauer mehrerer Monate parallel zu Auswertungsarbeiten an weiteren Archivstandorten erfolgen. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass der jeweilige Zugriffsaufwand für weitere Universitätsstandorte, die für eine besatzungszonenweite Übersichtsarbeit infrage kommen, zwischen den als Hamburg und Kiel angenommenen Extremen liegen dürfte. Im statistisch-methodischen Abschnitt dieser Arbeit werden daher auf der Grundlage dieser Komplikation realistische Kompensationsstrategien für unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufgezeigt.

5. Quantitativ verwendbare Quellengattungen Entsprechend der mitunter hohen Bedeutung der Entnazifizierung für die Studienerlaubnis während der Hauptphase des Verfahrens im Jahr 1946, stammen die meisten in den Entnazifizierungsakten erhaltenen Dokumente aus diesem Zeitraum. Für Forschungsarbeiten kommen daher insbesondere Fragebögen der Militärregierung, Immatrikulationsanträge, Studierendenkarteikarten und Action Sheets infrage. Weiterhin können mäßig häufig überlieferte Berufungsanträge und Entlastungsschreiben für qualitativ-analytische Auswertungen herangezogen werden. Nachfolgend werden die vier Quellengattungen, die für einen quantitativ-vergleichenden Forschungsansatz am relevantesten sind, am Beispiel der bereits vom Autor ausgewerteten Bestände der Universität zu Kiel sowie jenen der Universität Hamburg kurz vorgestellt. Da die einzelnen Abfragefelder der Bögen unterschiedlich ergiebige Datenreihen erzeugen, empfiehlt es sich, ebenjene von ihnen zu identifizieren, welche sowohl für die Erstellung studentischer Typologien als auch für die Bestimmung studentischer Annahmewahrscheinlichkeiten besonders geeignet sein dürften. 5.1. Anträge auf Zulassung zur Immatrikulation An der Kieler Universität mussten die Anträge auf Zulassung zur Immatrikulation seit dem Wintersemester 1945/46 in Form eines doppelseitigen Formulars eingereicht werden.33 Das Dokument enthielt bereits einheitlich erfasste Informationen über den Personenstand sowie über Mitgliedschaften des Antragsstellers in NS-Organisationen. Da die Bearbeitung der Entnazifizierungsakten sowohl durch die universitäre Verwaltung als auch die Educational Branch – oftmals in Form von handschriftlichen Anmerkungen, Unterstreichungen, Durchstreichungen und Stempelungen – erfolgte, lassen diese Dokumente bereits häufig erkennen, ob bei 33 Siehe LASH, Abt. 460, Nr. 4625 als Beispiel für diesen weit verbreiteten Quellentypus.

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Marvin Groth

einem Studierwilligen Aussicht auf eine Zulassung zum Studium bestand. Im Laufe der Semester veränderten sich Details dieser Vordrucke immer wieder, sodass einige wenige Fragen zur Person des Antragsstellers hinzukamen oder auch wieder wegfielen. Für manche Semester lassen sich folglich etwas mehr Informationen aus dieser Quelle ableiten – für andere Semester wiederum etwas weniger. In der Hamburger Überlieferung findet sich diese Quellengattung hingegen nicht, weshalb hier unter anderem auf die Matrikelkarten von Studierenden ausgewichen werden muss. 5.2. Fragebögen der Militärregierung Insbesondere der britische Standardfragebogen, der seit Januar 1946 in der Mehrzahl aller britischen Entnazifizierungsverfahren Verwendung fand und der in der Folgezeit nahezu unverändert zirkulierte, offeriert mit seinen 132 Abfragefeldern eine Vielzahl an verwertbaren Datenreihen für vergleichende quantitative Untersuchungen.34 Personenstandsangaben, Bildungswege, Berufsprüfungen, Beschäftigungs- und Dienstverhältnisse, Mitgliedschaften in NS-Organisationen, Veröffentlichungen, Einkommensverhältnisse, Reisen und Sprachkenntnisse können durch diese Quellengattung mit einer hohen Detailgenauigkeit erfasst und ausgewertet werden. Somit stellen diese Fragebögen die Hauptquelle für alle weiteren vergleichenden Untersuchungen dar. Des Weiteren versahen die Bearbeiter der Entnazifizierungsakten diese Dokumente, ebenso wie schon die Immatrikulationsanträge, mit Bearbeitungsvermerken, aus denen sich wichtige Informationen über die Annahmeaussichten der Studienbewerber*innen ableiten lassen. Die Hamburger Überlieferung basiert ebenfalls auf diesen Standardfragebögen, jedoch kamen hier in einigen Fällen verkürzte Versionen zum Einsatz, die dennoch einen grundlegenden statistischen Vergleich von Personenstandsdaten erlauben. 5.3. Studentische Matrikelkarten Ein Vergleich der Matrikelkarten der Universitäten Kiel und Hamburg zeigt auf, dass der letztgenannte Standort über einen erheblich umfangreicheren Fundus verfügt. In Kiel liegt diese Quellengattung hingegen nur in versprengten Einzelfällen vor.35 Dort erfolgte die Ausfertigung dieses Dokumententypus üblicherweise wenige Monate nach der Einreichung des regulären Antrages auf Zulassung durch die angenommenen Studierenden. Obgleich sich ein Teil der Informationen jener Kieler Karteikarte mit denen des regulären Antrages auf Zulassung zur Immatrikulation deckt, bietet erstere eine Reihe zusätzlicher Einblicke in die Lebenswirklichkeit des Ausstellenden: So mussten standardmäßig der Name, der Beruf, die Berufsstellung sowie die Adresse des Vaters gemeinsam mit der Frage nach dessen Hochschul34 Siehe LASH, Abt. 460, Nr. 4625 als Beispiel für diesen weit verbreiteten Fragebogentypus. 35 Siehe LASH, Abt. 460, Nr. 4644 als Beispiel für eine solche Kieler Matrikelkarte.

Studieren trotz NS-Belastung?

Abb. 1: Fragebogen der britischen Militärregierung mit Bearbeitungsvermerken. Nachweis: LASH, Abt. 460, Nr. 4627.

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bildung angegeben werden. Zusätzlich erfragte das Dokument aber auch die Anzahl der Geschwister sowie den Status der Erwerbstätigkeit dieser Familienangehörigen. Davon unabhängig gibt dieses Format Auskunft darüber, welche Fakultät sowie welche Fachgruppe der Aspirant anstrebte. Für eine statistische Erhebung eignen sich die Kieler Matrikelkarten folglich nur bedingt, da ihre spezifischen Informationen erst bei einer größeren Fallzahl ausgewertet werden könnten. Im Rahmen von qualitativ-­empirischen Einzelfalluntersuchungen sind sie jedoch durchaus aufschlussreich. In der Hamburger Überlieferung bildet diese Quellengattung hingegen eine Hauptquelle für statistisch-quantitative Auswertungen, da für diesen Universitätsstandort von einer vollständigen Überlieferung ausgegangen werden kann. In der Folge können Datenreihen, die durch den Hamburger Mangel an Anträgen auf Zulassung zur Immatrikulation ansonsten verloren gegangen wären, durch die recht einheitlich ausgefüllten Matrikelkarten größtenteils kompensiert werden. 5.4. Action Sheets Bei diesem Dokumententypus handelt es sich um die dritthäufigste erhaltene Quellengattung innerhalb der Entnazifizierungsakten. Er findet sich gemeinsam mit dem Antrag auf Zulassung zur Immatrikulation im Inneren des Fragebogens der Militärregierung. Das Action Sheet enthält den Nachnamen sowie den Vornamen des Betroffenen, den Namen der Universität sowie die Fragebogennummer. Der darunterliegende Text ist ein Vordruck, der für die generelle Entnazifizierung der Bevölkerung in der britischen Besatzungszone ausgelegt war. Antragssteller, welche die universitätsinternen Zulassungshürden bereits genommen hatten, erhielten auf diesem Dokument von der Militärverwaltung eine knappe Einordnung entlang der studentischen Entnazifizierungskategorien. Bei einem Teil jener Studienbewerber, die sich infolge einer ungünstigen Entnazifizierungskategorisierung mit einem Berufungsschreiben an den Entnazifizierungsausschuss ihrer Universität wandten, vermerkte die zuständige Kommission einen kurz formulierten Amnestievorschlag, aus dem hervorgeht, warum ihren Mitgliedern eine Einstufung des Antragstellers in eine günstigere Kategorie, in der Regel in die Kategorie B, angemessen erschien.36 Die Action Sheets sind insofern besonders nützlich für die Bewertung der Erfolgsaussichten von Berufungskandidaten, als sie neben der ursprünglichen Einschätzung der Militärregierung auch Einblicke in die Argumentation der universitären Kommissionen gewähren. Sofern die Berufung nach dem Erlass der Jugendamnestie in der britischen Besatzungszone erging, und die dem Berufungsschreiben beigefügten Leumundszeugnisse und Bescheinigungen überzeugten, konnte die Amnestie unter Zuhilfenahme dieses Formblatts häufig gewährt werden. Für quantitative Auswertungen erscheint diese Quellengattung im Vergleich zu den drei vorherigen 36 Siehe LASH, Abt. 460, Nr. 4643 als Beispiel hierfür.

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Quellengattungen weniger relevant, da die Informationsdichte hier deutlich geringer ausfällt. Für qualitativ-analytische Untersuchungen von Berufungsverfahren kann diese Gattung hingegen hochrelevante Auskünfte liefern.

6. Statistische Methodik und Auswertungspraxis Ausgehend davon, dass die Überlieferungen der Universitäten in der britischen Zone notwendigerweise viel zu umfangreich sowie teilweise zu fragmentiert für eine Vollerhebung ausfallen, bietet sich für die gezielte quantitative Auswertung dieser Bestände eine kombinierte Methodik aus deskriptiven und inferenzstatistischen Techniken an. Hierdurch sollte es für eine Vielzahl von Datenreihen möglich werden, besatzungszonenweite Vergleiche anzustellen. Als Grundlage dieses Forschungsdesigns mag das von Dieter Holtmann vorgestellte System der schrittweisen statistischen Datenaggregation dienen, welches in Kombination mit einer Erhebungsgrundplanung gemäß den Empfehlungen von Jürgen Hedderich und Lothar Sachs zu aussagekräftigen Erkenntnisgewinnen führen dürfte.37 Entscheidend für das Gelingen eines solchen Ansatzes ist die konsequente Anwendung der schließenden Statistik. Diese dient als ein Instrument zur Charakterisierung der Grundgesamtheit aufgrund von Zufallsstichproben. Um eine unabsichtliche Verzerrung der Stichproben zu vermeiden, wie sie zum Beispiel durch die gezielte Auswahl von Elementen auf der Basis von gemeinsamen Merkmalen, wie dem Herkunftsort, entstehen könnte, sollte eine Stichprobe idealerweise nur aus zufällig gewählten Probanden mit identischen Ziehungswahrscheinlichkeiten bestehen. In der Forschungspraxis ist eine solche vollständige Zufallsauswahl gemäß dem Randomisierungsgrundsatz jedoch nicht immer möglich.38 So würde die vollständige Erfassung aller relevanten Entnazifizierungsakten, die für eine ideale Zufallsziehung benötigt würden, in der Praxis bereits an der vier- bis fünfstelligen Anzahl jener zu berücksichtigenden Akten je Auswertungsstandort scheitern. Um dennoch möglichst stark randomisierte Stichproben erzielen zu können, bietet sich ein systematisches Stichprobenverfahren als Kompromiss zwischen praktischer Umsetzbarkeit und Randomisierungsanspruch an. Dabei werden aus den ersten zehn Nachnamensbuchstaben der jeweiligen Archivbestände zu möglichst gleichen Anteilen so lange linear Einzelakten gezogen, bis eine ausreichende Aktenanzahl für eine statistische Auswertung zur Verfügung steht. Je nachdem, ob der Zugang zu den Akten zeitlich effizient erscheint oder nur mit zeitintensiven Zwischenschritten zu bewerkstelligen ist, muss erzwungenermaßen eine mehr oder weniger repräsentative Stichprobengröße für den jeweiligen Standort gewählt werden.

37 Vgl. Dieter Holtmann, Deskriptiv- und inferenzstatistische Modelle der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse, Aachen 62009, S. 2; Jürgen Hedderich und Lothar Sachs, Angewandte Statistik. Methodensammlung mit R, Berlin 142012, S. 5. 38 Vgl. Hedderich/Sachs, Statistik, S. 585.

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Marvin Groth

Moderne und einschlägige elektronische Datenverarbeitungsprogramme, wie zum Beispiel Statistical Package for the Social Sciences (SPSS) und Stata, erlauben es bereits ab einer Stichprobengröße von 385 Datensätzen, relative Verteilungseffekte einer hypothetischen Grundgesamtheit an Studienanwärter*innen mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit (Konfidenzintervall) mit einer Genauigkeit von ± 5 Prozent (maximal zu akzeptierender Zufallsfehler) vorherzusagen.39 Mit einer solchen etablierten Konfiguration lassen sich vielfältige Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Studienanwärter ziehen und konsequenterweise mit weiteren Universitäten zufriedenstellend vergleichen. Diese Vergleichbarkeit und Genauigkeit der quantitativen Erhebungen steigt mit zunehmendem Stichprobenumfang noch weiter an. Werden anstelle von 385 Zufallsziehungen beispielsweise 1536 Zufallsziehungen durchgeführt (guter Zugriff auf Archivmaterialien), so steigt die Genauigkeit der ermittelten Merkmalsausprägungen bei einem gleichbleibenden Konfidenzintervall (95 Prozent) von ± 5 Prozent auf rund ± 2,5 Prozent an.40 Ein solcher Erhebungsumfang ermöglicht folglich eine feinere Unterscheidung von relativen Datenwerten, die sich vor allem für Datenreihen mit einer hohen – oder stark homogenen – Ausprägungsstreuung anbietet. In diesem Rahmen (385 bis 1536 randomisierte Einzelakten je Bildungsstätte) lässt sich der zu erwartende Gesamtumfang einer repräsentativen Erhebung verorten, sodass bei mehreren untersuchten Universitätsstandorten insgesamt eine hohe vierstellige Anzahl an Entnazifizierungsakten ausgewertet wird. Um die Übersichtlichkeit dieser Datenbestände zu erhöhen und Verteilungsmuster sichtbar zu machen, lassen sich die gewonnenen Daten in einem weiteren Bearbeitungsschritt zu Maßzahlen und Kennzahlen verdichten. Hierbei gehen zwar die ursprünglichen Details der Datenreihen verloren, jedoch können somit bessere Vergleiche zwischen den verschiedenen aggregierten Datenreihen gezogen werden.41

7. Typologische und vergleichende Auswertungspotentiale Mithilfe der vorgestellten Vorgehensweise ist es nunmehr möglich, bisher unbeantwortete Fragen zur Verfassung der studentischen Untersuchungsgruppen in allen heutigen Bundesländern der ehemaligen britischen Besatzungszone durch eine reflektierte Auswertung der statistischen Datenreihen mit einer hinreichend hohen Genauigkeit und Sicherheit zu beantworten. Je nachdem, wie viele aussagekräftige Anmerkungen der britischen und universitätsinternen Bearbeiter im jeweiligen Bestand enthalten sind, können darüber hinaus Rückschlüsse auf die politisch motivierten Zulassungs- und Ablehnungsquoten gezogen werden.

39 Vgl. Walter Dürr und Horst Mayer, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Schließende Statistik, München 82017, S. 130. 40 Vgl. Dürr/Mayer, Wahrscheinlichkeitsrechnung, S. 130, 145. 41 Vgl. Hedderich/Sachs, Statistik, S. 70 f., als Beispiel für die Maßzahlenbestimmung.

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Studieren trotz NS-Belastung?

Kurz zusammengefasst eignen sich die folgenden Datenreihen besonders gut für eine derartige Interpretation: Staatsangehörigkeit, geografische Herkunft, Vertriebenenstatus, aktueller Wohnsitz, Alter bei Erstantrag, Jugendamnestiestatus, Belastungsgrad durch eine etwaige Mitgliedschaft in einer NS-Gliederung inklusive der NS-Jugendorganisationen, Versehrtenstatus, Dienstrang in der Wehrmacht, Geschlechterverhältnis der Studierwilligen, Religionsangehörigkeit, allgemeiner Ernährungszustand (Body-Mass-Index), soziale Herkunft (Berufsangabe des Vaters oder eigener Beruf), universitäre Vorbildung, Fakultätswunsch und Wunschberuf, Einkommensverhältnisse und Entnazifizierungskategorie. Tabelle 1: Entnazifizierungskategorien einer repräsentativen Kieler Stichprobe. Nachweis: Die Grafik basiert auf folgendem Datenmaterial: LASH, Abt. 460, Nr. 4623 bis Nr. 4795. Entnazifizierungskategorien Stichprobe Kiel, n = 1636 Kategorie A

Anzahl =

Anteil ≈

16

A1

9

A2

107

B

263

B1

8

B2

7

B3

1

132

8,1 %

280

17,1 %

B4

1

C

34

D

27

1,7 %

E

2

0,1 %

2,1 %

Amnestie

62

3,8 %

MEHRDEUTIG

85

5,2 %

1046

63,9 %

13

0,8 %

1636

100,0 %

KEIN VERMERK UNZUTREFFEND Gesamt:

Durch den Vergleich von mindestens zwei der oben genannten Datenreihen werden noch weitere Informationen erkennbar. Beispielsweise lässt ein Vergleich der Geburtsorte der Probanden mit ihren Wohnsitzen zum Zeitpunkt ihrer ersten dokumentierten Antragsstellung Rückschlüsse auf Migrationsbewegungen infolge von Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkrieges zu.

218

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Tabelle 2: Herkunftsländer (Geburtsorte) der Probanden einer repräsentativen Kieler Stichprobe (n = 1636). Nachweis: Die Grafik basiert auf folgendem Datenmaterial: LASH, Abt. 460, Nr. 4623 bis Nr. 4795.

Land (TOP 5):

Anzahl =

Anteil ≈

Schleswig-Holstein

320

19,6 %

POLEN (ehem. Preußen)

240

14,7 %

Nordrhein-Westfahlen

239

14,6 %

Niedersachsen

190

11,6 %

Hamburg

139

8,5 %

Gesamt:

1128

68,9 %

219

Studieren trotz NS-Belastung?

Tabelle 3: Wohnsitze (Nachkriegszeit) der Probanden einer repräsentativen Kieler Stichprobe (n = 1636). Nachweis: Die Grafik basiert auf folgendem Datenmaterial: LASH, Abt. 460, Nr. 4623 bis Nr. 4795.

Land (TOP 5):

Anzahl =

Anteil ≈

Schleswig-Holstein

673

41,1 %

Niedersachsen

313

19,1 %

Nordrhein-Westfahlen

240

14,7 %

Hamburg

183

11,2 %

Bremen

56

3,4 %

Gesamt:

1465

89,6 %

220

Marvin Groth

Da nicht alle Probanden einer Stichprobenerhebung sämtliche oben aufgeführte Merkmalsausprägungen aufweisen können, etwa weil sie aufgrund ihres Alters, wegen Verhinderung oder ihres Geschlechts keine Mitglieder der Wehrmacht sein konnten, sinkt die Ergebnisverwendbarkeit einiger Datenreihen unter die anvisierten Parameter der statistischen Repräsentanz des jeweiligen Stichprobenumfangs. Auch bei der Gegenüberstellung einer hohen Anzahl an Merkmalsausprägungen innerhalb einer Datenreihe, etwa bei der Bestimmung der Religionsangehörigkeit, kann es aufgrund des essenziellen Stichprobenfehlers zu unklaren Ergebnissen kommen. Gehörten in einer Stichprobe aus 1536 Studierwilligen beispielsweise 343 Probanden der Konfession A an, während 339 Probanden der Konfession B zuzuordnen waren, so kann für diesen Vergleich nicht zweifelsfrei festgestellt werden, welche Religion tatsächlich stärker vertreten war. In diesen Fällen erfüllen die Erhebungen jedoch zumindest den Anspruch der deskriptiven Statistik, welche in mehreren Vorarbeiten zur studentischen Entnazifizierung bereits umfassend zur Anwendung gelangte.42

Schlussbetrachtung Der vorliegende Beitrag befasste sich mit den historischen Hintergründen, den forschungstechnischen Neuerungen, den Herausforderungen und den Potentialen der studentischen Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone unter besonderer Berücksichtigung der Überlieferungsverhältnisse an den Universitäten Hamburg und Kiel. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die universitätsgeschichtliche Forschung auf dem Gebiet der studentischen Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone bereits mehrere gelungene und methodisch vielseitige Beiträge zu den historischen Entwicklungen auf der Untersuchungsebene einzelner Hochschulstandorte beitragen konnte. Eine repräsentative und vergleichende Darstellung für die gesamte britische Besatzungszone fehlt bisher jedoch. Durch einen quantitativ-statistischen Ansatz könnte diese Lücke geschlossen werden, wobei neben den relevanten Datenreihen mit hoher Wahrscheinlichkeit noch weitergehende typologische Erkenntniszuwächse in Aussicht gestellt werden können. Durch das Hinzuziehen weiterer Universitäten und auch Technischer Hochschulen in die oben genannten Datenreihenvergleiche dürfte es beispielsweise gelingen, multidisziplinäre, besatzungszonenweite Entwicklungstendenzen erstmals deutlich sichtbar zu machen. So könnten beispielsweise die Migrationsbewegungen der Studierwilligen durch den Abgleich repräsentativer Geburtsorts- und Wohnsitzstichproben für die britische Besatzungszone allgemeingültig nachverfolgt werden. Auch wäre es mit dieser vergleichenden Methodik unter anderem möglich, standortbezogene Unterschiede in den Annahmequoten potentieller Studierender aufzudecken, um die vielversprechendsten Hochschulstandorte für eine Studienauf42 Vgl. George, Studieren, S. 68‒89; sowie Elkar, Entnazifizierung, S. 248, als Beispiele für die erfolgreiche Nutzbarmachung deskriptiv-statistischer Datensätze in konventionellen historisch-kritischen Fallstudien.

Studieren trotz NS-Belastung?

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nahme in der frühen Nachkriegszeit zu identifizieren. Mitunter würden regionale Besonderheiten, wie etwa eine besonders hohe Annahmequote von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren oder Kriegsversehrten, mithilfe dieser Vorgehensweise sichtbar gemacht. Der komplette Umfang dieser Vergleichspotentiale lässt sich einstweilen in Ermangelung abgeschlossener Datenerhebungen aus mindestens fünf Hochschulstandorten noch nicht feststellen. Eine deutschlandweite vergleichende Studie zur studentischen Entnazifizierung, die in Fortführung der oben genannten forschungsrelevanten Vorzüge eines erweiterten Untersuchungsgebietes als eine logische Konsequenz erscheinen mag, birgt dagegen mehrere forschungspraktische Hindernisse und Herausforderungen. So besteht zum einen die Möglichkeit, dass ein entsprechendes Forschungsvorhaben durch die nur partielle Vergleichbarkeit von Entnazifizierungsakten aus unterschiedlichen Besatzungszonen erheblich eingeschränkt würde. Zum anderen müsste eine entsprechende Studie empirische Daten aus sämtlichen deutschen Bundesländern erheben und auswerten. Denkbar wäre eine gemeinschaftliche Auswertung sämtlicher infrage kommender Archivstandorte durch eine deutschlandweite Projektgruppe, was jedoch einen hohen Verwaltungs- und Kooperationsbedarf bedingt. Derzeit besteht in der Geschichtswissenschaft, allen voran der Universitätsgeschichtsschreibung, allerdings noch kein überregionales Interesse an dieser Thematik, sodass eine deutschlandweite Gesamtdarstellung vorerst nur als ein im höchsten Maße wünschenswertes Fernziel der quantitativ-empirischen Entnazifizierungsforschung angesehen werden kann. Somit scheint ein regionalgeschichtlicher Fokus auf eine einzelne Besatzungszone gegenwärtig einen innovativen Kompromiss zwischen den forschungspraktischen Komplikationen weitläufiger Untersuchungsfelder auf der einen wie auch den Forschungsidealen der Allgemeingültigkeit und Vergleichbarkeit auf der anderen Seite darzustellen. Desiderate auf der Ebene von einzelnen Besatzungszonen sind für die Forschenden somit bis auf weiteres ein besonders attraktiver Ansatz. So lassen sie bereits aussagekräftige Vergleiche mehrerer zoneninterner Bildungsstätten mit einem realistischen Forschungsaufwand zu. Ihre fehlende Aussagekraft für die studentische Entnazifizierung auf der gesamtdeutschen Ebene könnte hingegen dereinst durch Metastudien kompensiert werden.

3. Räume in der Regionalgeschichte

Stefan Magnussen

Die Friesenburg Ein identitätsstiftender Mythos der nordfriesischen Geschichtsschreibung?

Abstract According to Frisian chronicles, an alliance of Frisian villagers succeeded in 1416 in conquering the so-called “Friesenburg”, a Danish royal castle along the Treene river. The consequences were considerable, for it led to the breaking off of a simultaneous siege of nearby Gottorf and thus contributed significantly to the turnaround in the conflict between King Erik VII of Denmark and the Counts of Holstein. Consequently, this event has always had a prominent place in historical accounts of this conflict. The present contribution is the first critical examination of this conquest. It reveals that neither the existence of the Friesenburg can be proven nor can the accounts fit into the known chronology of events. The author thus concludes with an alternative interpretation, according to which the conquest of the Friesenburg was not a historical event but a product of Frisian historiography. It is argued that the original authors appropriated historical events and popular topoi of their time and processed them into their own identity-forming myth.

1. Hinführung Ein Mythos, so definiert es der Duden, ist eine historische oder fiktive Begebenheit, die (oft aus einem irrationalen Antrieb heraus) „glorifiziert wird“ und somit „legendären Charakter“ erlangt.1 Mythen erfüllen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart eine wichtige Funktion, denn Gesellschaften wie Staaten sind, so fasst es Herfried Münkler zusammen, „in unterschiedlichem Maße auf politische Mythen als stabilisierende Narrationen ihrer Ordnung und Sinnstifter ihrer kollektiven Identität angewiesen“.2 Sie dienen Gesellschaften dabei nicht nur zur Selbst1 Siehe dazu die URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Mythos (5.2.2020). 2 Herfried Münkler, Politische Mythen als Grundlage von Repräsentation und Symbolik, in: Politische Repräsentation und das Symbolische. Historische, politische und soziologische Per­ spektiven, hg. von Paula Diehl und Felix Steilen (Staat. Souveränität. Nation. Beiträge zur aktuellen Staatsdiskussion), Wiesbaden 2016, S. 227–243 (Zitat: S. 227). Zur Funktion der Mythen mit regionalem Bezug Inge Adriansen, Om myters sejlivethed, in: 19 myter i Sønderjyllands historie, hg. vom Historisk Samfund for Sønderjylland (Historisk Samfund for Sønderjylland 88), Apenrade 2002, S. 9–12.

226

Stefan Magnussen

verortung und -vergewisserung, sondern auch zur Sichtbarmachung von Identitätsvorstellungen, die noch bis in die Gegenwart auf die Geschichtsbilder einwirken. Dies betrifft insbesondere unseren Blick auf das Mittelalter.3 Schon die Konzeption dieses oft als finster und unkultiviert beschriebenen Zeitalters zwischen Antike und Renaissance offenbart sich bei genauerer Hinsicht als humanistischer Mythos – ein Mythos, der von Gelehrten, Dichter*innen oder auch Geschichtsschreiber*innen der folgenden Jahrhunderte ausgeschmückt, romantisiert und zunehmend nationalhistorisch aufgeladen wurde. Doch war auch den Autor*innen dieser vermeintlich kulturlosen Epoche der identitätsstiftende Effekt von Mythen keineswegs fremd. Bereits die mittelalterliche Literatur ersann mythische Heldenerzählungen um historische Figuren wie König Robert I. von Schottland (1274–1329)4 oder fiktive Gestalten wie die Ritter Parzival, Gawain und Lancelot, die schon in Werken des 12. Jahrhunderts gemeinsam mit König Artus an dessen Tafelrunde Platz nahmen.5 Ein besonders illustratives Beispiel für die Mythisierung historischer Personen oder Ereignisse ist der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. (1194–1250), den schon Zeitgenossen zur posthumen Erlöserfigur erkoren haben – eine Rolle, die später auf seinen Großvater Friedrich I. (ca. 1122–1190) überging, dessen monumentales Abbild noch heute am Kyffhäuser von der Langlebigkeit des Mythos zeugt.6 Im Zentrum vieler Mythen steht dabei ein Phänomen, welches wie kaum ein zweites die Fantasie vieler Autor*innen anregte: Burgen. Dafür steht auch hier sinnbildlich die Artuslegende, in der das legendäre Camelot seit den Verserzählungen des Chrétien de Troyes zum festen Repertoire zählt; zwar oft abstrahierend als königlicher Hof gedacht, doch meist nach dem Vorbild hoch- und spätmittelalterlicher Burgen verbildlicht.7 Camelot war aber beileibe nicht die einzige verklärte oder imaginierte Burg. Unzählige der heute verschwundenen, oft aber als Ruinen erhaltenen Anlagen wurden mit Ereignissen oder Personen verknüpft, sodass nicht 3 Siehe Johannes Fried und Olaf B. Rader (Hg.), Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, München 2011. 4 Siehe dazu etwa mit weiterführender Literatur Katie Stevenson, Power and Propaganda. Scotland 1306–1448 (The New History of Scotland 3), Edinburgh 2014, S. 33, 204 f. 5 Siehe u. a. Nicholas J. Higham, King Arthur. The Making of a Legend, New Haven 2018. Auch der schottische Hof versuchte bereits im 14. Jahrhundert den Mythos für sich zu vereinnahmen, vgl. Stevenson, Power, S. 6, 33. 6 Zur Rezeption zusammenfassend Marcus Thomsen, Ein feuriger Herr des Anfangs. Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt, in: Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums, hg. von Mamoun Fansa und Karen Ermete, Mainz 2007, S. 301–313; Klaus Schreiner, Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Katalog der Ausstellung, Bd. 3: Aufsätze, hg. vom Württembergischen Landesmuseum, Stuttgart 1977, S. 249–262; Hannes Möhring, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung (Mittelalter-Forschungen 3), Stuttgart 2000, S. 209–268. Zum Kyffhäuser unter anderem Margarete Hubrath, Der Kyffhäuser, in: Burgen. Länder. Orte, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich (Mittelalter-Mythen 5), Konstanz 2008, S. 451–465; Camilla G. Kaul, Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert, 2 Bde., Köln u. a. 2007. 7 Peter J. Field, Searching for Camelot, in: Medium Aevum 87 (2018), S. 1–22.

Die Friesenburg

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zuletzt auch die Burg selbst zu einem das Mittelalter prägenden Mythos (oder Klischee) geworden ist.8 Derlei Tendenz zur Mythenbildung war auch der schleswig-holsteinischen Geschichtsschreibung nicht fremd. So wurde erst 2016 auf dem ersten Tag der Landesgeschichte anhand von Themen wie Rungholt, dem Mythos Hanse oder der Losung „up ewich ungedeelt“ gezeigt, dass „gerade in der und auf die Geschichte Schleswig-Holsteins […] Mythen bis heute einen starken Einfluss haben“.9 In eine ähnliche Richtung verwies auch die Ausstellung zum besagten Mythos Rungholt (Husum, 2016) oder die Ausstellung zu Störtebeker & Konsorten (Lübeck, 2019/20) sowie der zum Mythos Hammaburg (Hamburg, 2014).10 Letztere hielt zugleich einem bundesweiten Publikum vor Augen, dass auch den Menschen im scheinbar burgenarmen Raum nördlich der Elbe der Mythos Burg durchaus vertraut ist. So stößt man auch hier vielerorts auf über Generationen hinweg bewahrte Mythen rund um kleine wie große Burgen, die in oft ähnlicher Weise von Jungfrauen, Schätzen oder auch wichtigen Persönlichkeiten erzählen. Diese Tendenz zur lokalhistorischen Imagination von Burgen wurde erst jüngst noch einmal nachdrücklich durch das Kieler Projekt Kleinburgen als Phänomen sozialen und herrschaftsräumlichen Wandels vor Augen gehalten.11   8 Siehe dazu vor allem die Beiträge in G. Ulrich Großmann (Hg.), Mythos Burg. Eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 8. Juli bis 7. November 2010, Dresden 2010. Daneben auch Olaf B. Rader, Die Burg, in: Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, hg. von Johannes Fried und Olaf B. Rader, München 2011, S. 113–126; Ulrich Müller, Burg, in: Burgen. Länder. Orte, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich (Mittelalter-Mythen 5), Konstanz 2008, S. 143–160; Heiko Laß (Hg.), Mythos, Metapher, Motiv. Untersuchungen zum Bild der Burg seit 1500, Alfeld 2002; Wolfgang Seidenspinner, Burg und Volkssage. Gesellschaftliche Funktionalisierung, mythische Mutation, neue Realität, in: Burgen und Schlösser 34 (1993), S. 2–9.   9 Werner Junge, Mythen. Teil und Thema unserer Geschichte, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 87 (2014), S. 3–11, hier S. 3. Die Beiträge wurden anschließend im Jahrgang 2017 der Zeitschrift Schleswig-Holstein. Die Kulturzeitschrift für den Norden publiziert. 10 Rainer-Maria Weiss und Anne Klammt (Hg.), Mythos Hammaburg. Archäologische Entdeckungen zu den Anfängen Hamburgs (Veröffentlichung des Helms-Museums, Archäologisches Museum Hamburg, Stadtmuseum Harburg 107), Hamburg 2014; Jürgen Newig und Uwe Haupenthal (Hg.), Rungholt. Rätselhaft & widersprüchlich, Husum 2016; Franziska Evers, Friederike Holst und Gregor Rohmann (Hg.), Störtebeker & Konsorten. Piraten der Hansezeit, Kiel 2019. 11 Stefan Magnussen, Burgen in umstrittenen Landschaften. Eine Studie zur Entwicklung und Funktion von Burgen im südlichen Jütland (1232–1443), Leiden 2019, insb. S. 31–36, 348; Frederic Zangel, Castrum, curia, berchvrede. Die Burgen Holsteins und Stormarns in ihrer geschichtlichen Bedeutung und Wahrnehmung (1134 bis 1534) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 6), Kiel 2021. Siehe zum Forschungsvorhaben allgemein Oliver Auge, Spätmittelalterliche Kleinburgen in Schleswig-Holstein. Geschichtswissenschaftliche Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven, in: Vergessenes Burgenland Schleswig-Holstein. Die Burgenlandschaft zwischen Elbe und Königsau im Hoch- und Spätmittelalter, hg. von Dems. (Kieler Werkstücke A/42), Frankfurt a. M. 2015, S. 17–50, hier S. 27–42; sowie den jüngst veröffentlichten Abschlussband Ders. (Hg.), Burgen in Schleswig-Holstein. Zeugen des Mittelalters einst und jetzt, Kiel 2019.

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Mit diesem Beitrag wird der bereits üppige Kanon regionalhistorischer Mythen um ein weiteres, bislang nicht als solches erfasstes Fallbeispiel ergänzt: die mutmaßliche Zerstörung der Friesenburg im Jahr 1416, die bis heute sowohl von der landesund regionalgeschichtlichen Forschung als auch von der überregionalen Burgenforschung als historisches Faktum tradiert wird.12 Eine besonders starke Rezeption erlebte sie in der nordfriesischen Literatur, was am stärksten in der „Geschichte Nordfrieslands im Mittelalter“ von Andreas Ludwig Jacob Michelsen (1801–1881) hervortritt.13 Das Ereignis verortet sich im Kontext des von 1404 bis 1435 dauernden Konflikts zwischen dem dänischen König Erik  VII. (1382–1459) und den Grafen von Holstein um die Herrschaft im Herzogtum Schleswig14 und ist schnell erzählt: Im Jahr 1416 gelang einem friesischen Heer die erfolgreiche Zerstörung der vom dänischen König im Herzogtum errichteten Friesenburg. Dabei sei nicht nur der Hauptmann Reimer Sehestedt ums Leben gekommen, auch habe das dänische Heer daraufhin seine Belagerung Gottorfs abgebrochen und sei ins Königreich zurückgekehrt. „In denkwürdige[r] Weise“ hätten die Friesen, so Michelsen, in diesem Moment „ihren Muth und ihre Staerke“ gezeigt. Sie hätten nicht nur „der herzoglichen Sache […] eine gluecklichere Wendung“ gegeben, sondern „auf die ganze folgende schleswig-holsteinische Geschichte, ja auf den heutigen staatsrechtlichen Bestand der Herzogthuemer […] entscheidenden Einfluß“ genommen. Es bedarf keiner umfassenden Erklärung, um an dieser Stelle auf die patriotische Überhöhung hinzuweisen.15 Allerdings nährt die kritische Auseinandersetzung mit diesem Ereignis grundlegende Zweifel daran, ob es überhaupt stattfand. Denn weder lässt sich die Existenz einer Friesenburg noch deren Eroberung, der Tod Reimer Sehestedts oder eine Belagerung Gottorfs im besagten Jahr durch eine parallele Überlieferung bestätigen. Aus diesem Grund schlägt dieser Beitrag eine neue Deutung vor, nach der es sich bei der Zerstörung der Friesenburg um einen identitätsstiftenden Einheitsmythos des 15. Jahrhunderts handelt.

12 Siehe Albert Andreas Panten, Die Nordfriesen im Mittelalter (Geschichte Nordfrieslands 2), Bredstedt ²2010, S. 42; Erich Hoffmann, Spätmittelalter und Reformationszeit (Geschichte Schleswig-Holsteins 4,2), Neumünster 1990, S. 243; Heidi Maria Møller Nielsen, „Lost and Forgotten“. The Castles of Eric of Pomerania (King of Denmark, 1396–1439) in the Duchy of Schleswig, in: Château Gaillard 26 (2014), S. 261–271, hier S. 266. 13 Andreas Ludwig Jakob Michelsen, Nordfriesland im Mittelalter. Eine historische Skizze, Schleswig 1828, S. 125 f. Dort finden sich auch die nachfolgenden Zitate. 14 Siehe zu diesem Konflikt grundlegend Kristian Erslev, Erik af Pommern, hans kamp for Sønderjylland og Kalmarunionens opløsning, Kopenhagen 1901. Dazu auch die jüngeren Studien von Cornelia Neustadt, Kommunikation im Konflikt. König Erich VII. von Dänemark und die Städte im südlichen Ostseeraum 1423–1435 (Europa im Mittelalter 32), Berlin 2019; Markus Hedemann, Danmark, Slesvig og Holsten 1404–1448. Konflikt og Konsekvens (Skrifter fra Historisk Samfund for Sønderjylland 114), Apenrade 2018. 15 Zum historischen Wirken Michelsens siehe u. a. o. V., Andreas Ludwig Jacob Michelsen (31. Mai 1801–11. Februar 1881), in: Nordfriesisches Jahrbuch 38 (2002), S. 13–76.

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2. Facetten einer Eroberung Um dies zu verdeutlichen, schlägt die Studie den methodischen Weg des Abgleichs mit der zeitgenössischen Parallelüberlieferung ein. Zu diesem Zweck werden die vier wesentlichen Facetten näher analysiert, die für die Eroberung der Friesenburg eine Rolle gespielt haben sollen. Für jede wird zum einen die früheste Überlieferung aufgespürt und zum anderen anhand weiterer Quellen überprüft, ob sich diese Ereignisse überhaupt zugetragen haben. 2.1 Der Tod des Reimer Sehestedt Ungeachtet aller Abweichungen in den Ausführungen gibt es eine Konstante: Fast immer weisen die Texte auf den Tod eines Reimer Sehestedt hin.16 Der früheste Nachweis findet sich im Chronicon Eiderostadense vulgare aus dem späten 15. Jahrhundert, dem ältesten heute noch überlieferten nordfriesischen Geschichtswerk.17 Durch ihren annalistischen Charakter liefert die Chronik zwar keinen historischen Kontext, doch weist ihre Schilderung im Kern erstmals die Elemente auf, die sich auch später in dem Werk von Michelsen wiederfinden – ohne dass dieser jedoch auf diese Quelle verwies.18 In knapper Form schildert sie, dass „de Eyderfresen“ im Jahr 1406 „de Fresenborch“ erobert hätten.19 Im Rahmen der Kampfhandlungen „slo16 Die nennenswerteste Ausnahme ist die Nordfriesische Chronik des Anton Heimreich, bei der sich diese Angabe in keiner der drei Auflagen wiederfindet: Anton Heimreich, Nord-Fresische Chronick, darin von denen dem Schleßwigischen Hertzogthum incorporirten Fresischen Landschafften wird berichtet, Schleswig 1666, S. 150; Ders., Ernewrete NordFresische Chronick, Schleswig 1668, S. 122; M. Anton Heimreichs nordfresische Chronik. Zum dritten Male mit den Zugaben des Verfassers und der Fortsetzung seines Sohnes, Heinrich Heimreich, auch einigen andern zur nordfresischen Geschichte gehörigen Nachrichten vermehrt, Bd. 1, hg. von Niels Nikolaus Falck, Tondern 1819, S. 220. 17 Johann Russes, Achtundvierzigers aus Lunden, Sammlungen und Vorarbeiten zur Chronik des Landes Dithmarschen, in: Staatsbürgerliches Magazin mit besonderer Rücksicht auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg 9 (1829), S. 696–723. Das Chronicon wurde später auf der Basis von der Edition von Michelsen erneut herausgegeben, vgl. Chronicon Eiderostadense vulgare oder die gemeine Eiderstedtische Chronik 1103–1547, hg. von Johannes Jasper, St. Peter-Ording ²1977, hier S. 34. Die folgenden Angaben beziehen auf die neuere Edition von Jasper. 18 Michelsen, Nordfriesland, S. 125. Er verweist stattdessen nur auf das Chronicon Holtzatiae sowie die Ausführungen bei Arild Huitfeldt und Wilhelm Christiani. 19 Zur falschen Datierung siehe Reimer Hansen, Die eiderstädtischen Chroniken vor Peter Sax, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 25 (1895), S. 161–216, hier S. 167. Diese falsche Datierung findet sich auch in späteren Werken, so etwa in Johann Adolph Cypraeus, Fragmentum Historiae Slesvicensis ab anno 826 usque ad 1526. Ad Codices Hafniensem, Chiloniensem Et Sibernianum, in: Monumenta inedita rerum Germanicarum praecipue Cimbricarum, et Megapolensium, quibus varia antiquitatum, historiarum, legum juriumque Germaniae, speciatim Holsatiae et Megapoleos vicinarumque regionum argumenta illustrantur, supplentur et stabiliuntur, Bd. 3, hg. von Ernst Joachim von Westpha-

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gen“ die Friesen nicht nur „her Reymer Sesteden doth“, auch seien „de Rennowe“, genauer gesagt „her Tymme mit sinem broder“, nur knapp demselben Schicksal entkommen.20 Der Fokus gilt hier ersterem, denn gerade der Tod Reimer Sehestedts eignet sich als Referenzpunkt, da er somit zwar vor, jedoch keinesfalls nach dem 17. Juli 1416 greifbar sein dürfte. Tatsächlich taucht dieser Name mehrfach in der Überlieferung auf. Allerdings war Reimer einer der Leitnamen der Familie Sehestedt, weshalb es gleich mehrere Vertreter dieses Namens gab. Vom gesuchten Reimer ist aber nur bekannt, dass er ebendiesen Namen trug und im Sommer 1416 gefallen sein soll – im Grunde kann nicht einmal gesagt werden, ob er überhaupt Burghauptmann war. Weitere identifizierende Angaben wie etwa sein Rang, Stammsitz oder ein Patronym fehlen, weshalb einzig der Ausschluss als methodisches Prinzip verbleibt. Einige der Kandidaten fallen bereits durch eine Nennung nach 1416 durchs Raster,21 weshalb nur zwei Optionen verbleiben. Denkbar ist die Identifikation mit Reimer Hartvigsen Sehestedt, der 1406 gemeinsam mit seinem Bruder und Vater der dänischen Regentin Margrete Valdemarsdatter seinen Anteil an Besitzungen in Angeln übertrug.22 Dieser ist auch zu keinem späteren Zeitpunkt mehr fassbar, weshalb es theoretisch möglich ist, dass er 1416 gefallen war. Allerdings spricht seine singuläre Erwähnung auch nicht unbedingt für einen hohen Rang. So dürfte es sich wohl um Reimer Ottesen Sehestedt zu Maasleben gehandelt haben.23 Dieser verfügte nicht nur über hinreichendes politisches Gewicht, denn schon im Zuge seiner Ersterwähnung 1409 ist er im Rang eines Ritters bezeugt,24 auch trat er des Öfteren als einer der wichtigsten Akteure in Erscheinung – wenn auch zunächst auf holsteinischer Seite.25 Die Brücke zur dänischen Krone, als deren Hauptmann er 1416 gefallen sein soll, schlägt das Chronicon Holtzatiae, ein um 1448

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len, Leipzig 1743, Sp. 255–318, hier Sp. 306. Peder Sax, De præcipuis Rebus gestis Frisiorum Septentrionalium breviter descriptis & iconice adumbratis Libis Sex, in: Monumenta inedita rerum Germanicarum praecipue Cimbricarum, et Megapolensium, quibus varia antiquitatum, historiarum, legum juriumque Germaniae, speciatim Holsatiae et Megapoleos vicinarumque regionum argumenta illustrantur, supplentur et stabiliuntur, Bd. 1, hg. von Ernst Joachim von Westphalen, Leipzig 1739, Sp. 1337–1390, hier Sp. 1360, verlegt sie ins Jahr 1404. Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 34. Bei den Rønnow-Brüdern handelte es sich um Tønne, der 1422 während eines Angriffes auf das gräfliche Tønderhus fiel, und wahrscheinlich um Eler Rønnow zu Ejsbøl, der bis 1435 als dänischer Reichsrat wirkte. Siehe zu diesen Henrik Fangel, Det middelalderlige Ejsbøl og den holstenske adels invandring i hertugdømmet Slesvig, in: Sønderjyske Årbøger 1969, S. 104–130, hier S. 110 f. W. Haxthausen und Louis Bobé, Danmarks Adels Arbog, Kopenhagen 1940 (im Folgenden DAA), S. 111, 114, 117. Diplomatarium Danicum (im Folgenden: D Danicum), online unter https://diplomatarium. dk/, Nr. 14060801001 (1406 Aug. 1), ebenso Nr. 14060922001 (1406 Sept. 22). DAA 1940, S. 110. D Danicum 5, Nr. 14101125001 (1410 Jan. 12). Ebd., Nr. 14110324001 (1411 März 24) und 14110325001 (1411 März 25). Im Jahr 1413 beklagte sich König Erik VII. über Schädigungen seiner Untertanen durch Reimer Sehestedt: Klageskrifter fra Erik af Pommerns Retsstrid med Holstenerne (1409–15), bearb. von Kristian Erslev, in: Danske Magasin 5/2 (1889–1892), S. 83–107, hier S. 99.

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verfasstes Geschichtswerk aus dem Umfeld des holsteinischen Grafen Adolf VIII.26 Der sich selbst nur als „Presbyter Bremensis diocesis“ bezeichnende Verfasser listet einen nicht näher benannten Vertreter der Familie Sehestedt („uno Sestede“) als Mitglied jener Gruppe Adliger um Erik Krummediek, die sich nach dem Schiedsspruch König Sigismunds in Konstanz (1415) der königlichen Seite anschloss.27 Dass es sich hierbei um den Ritter Reimer Ottesen und nicht etwa um Reimer Hartvigsen Sehestedt handelt, geht aus einer 1423 abgefassten Klageschrift Eriks VII. von Dänemark hervor. In dieser beklagt der König, dass den Söhnen „domini Rayneri Seste­ den“ eine höhere Summe Geldes von gräflicher Seite vorenthalten worden sei.28 Die Söhne des Ritters Reimer Sehestedt zählten demnach zum königlichen Gefolge. Dass zudem nur von den Söhnen und nicht von Ansprüchen des Vaters die Rede ist, spricht darüber hinaus für dessen vorheriges Ableben. Somit gab es vor 1416 tatsächlich einen Reimer Sehestedt im königlichen Gefolge, der zu einem unbekannten Zeitpunkt vor 1423 verstarb. Es ist indes fraglich, ob dies im Juli 1416 geschah, da er noch im August desselben Jahres ausstehende Schulden beglich, ehe er daraufhin im Dunkel der Geschichte verschwand.29 Demnach muss entweder die (nicht fehlerfreie) Datierung des Chronicon Eiderostadense vulgare oder aber die Integration Reimer Sehestedts fehlerhaft sein. 2.2 Die Friesenburg Der zweite Untersuchungsgegenstand ist so naheliegend, dass er schon fast banal ist: Wenn es 1416 tatsächlich eine Eroberung gegeben haben soll, dann setzt dies voraus, dass es auch eine Friesenburg gab. Tatsächlich taucht eine Burg dieses Namens auch in der Überlieferung des 15. Jahrhunderts auf, genauer gesagt im Chronicon ­Holtzatiae – also erst rund 30 Jahre nach den mutmaßlichen Ereignissen.30 Der anonyme Verfasser erwähnt den Namen jedoch nur an einer Stelle und liefert 26 Hierzu grundlegend Joachim Stüben, Regionalgeschichte und Heilsgeschehen in Holstein und Schleswig. Beobachtungen zum Geschichtsbild des Presbyter Bremensis, in: 900 Jahre Schauenburger im Norden. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Oliver Auge und Detlev Kraack (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 121; zeit + geschichte 30), Neumünster 2015, S. 235–299. 27 Chronicon Holtzatiae auctore Presbytero Bremensis Diocesis, hg. von Johann Martin Lappenberg, in: MGH SS 21, Hannover 1869, S. 251–306, hier S. 293. Mit dem Schiedsspruch bestätigte König Sigismund das zwei Jahre zuvor vom Danehof zu Nyborg gefällte Urteil über den Heimfall des Schleswiger Lehens an die dänische Krone, vgl. dazu grundlegend Hedemann, Danmark, S. 68–83. 28 D Danicum 5, Nr. 14230106003 (1423 Jan. 6). 29 Repertorium Diplomaticum Regni Danici Mediævalis. Fortegnelse over Danmarks Breve fra Middelalderen med udtog af hidtil utrykte, Bd. 3: 1401–1450, hg. von Kristian Erslev, Kopenhagen 1906, Nr. 5598. 30 Darauf wies bereits Christian Radtke, Bemerkungen zur Funktion und Datierung von Turmhügelburgen nördlich der Eider, in: Jahrbuch für die Schleswigsche Geest 24 (1976), S. 38–44, hier S. 40, hin.

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zur Geschichte der Burg weit weniger Angaben als das jüngere Chronicon Eidero­ stadense vulgare. Er informiert lediglich darüber, dass ein „castrum Vresenborg“ infolge einer zwar nicht datierten, aber angesichts der Rahmenhandlung wohl 1416 geschehenen Belagerung Gottorfs zerstört worden sei.31 Nähere Hintergründe finden sich dann erst im Chronicon Eiderostadense vulgare, welches die Zerstörung der „Fresenborch“ dann nicht mehr nach, sondern parallel zur Belagerung stattfinden lässt.32 Der Mangel an konkreten Informationen zur Burg in der Überlieferung kann auch nicht durch eine Untersuchung physischer Strukturen kompensiert werden. Ihr Standort ist trotz jahrzehntelanger Suche bis heute unbekannt. Dabei wurde gleich eine ganze Reihe von Orten diskutiert, von Schwabstedt33 über Fresendelf34 und Treia35 bis nach Sollbrück.36 Es herrscht also zumindest Konsens darüber, dass die Friesenburg an der Treene errichtet wurde, obwohl dies weder das Chronicon Holtzatiae noch das Chronicon Eiderostadense vulgare zwangsläufig nahelegen. Doch wird die gesuchte Anlage im Chronicon Holtzatiae vermutlich noch ein weiteres Mal implizit erwähnt. Im Kontext der Zerstörung des „castrum Vresenborg“ werden nämlich mit einer Burg bei Wellspang und der Königsburg noch zwei weitere Burgen angeführt, die im Gegensatz zur „Vresenborg“ bereits an einer früheren Stelle als zwei von drei durch Erik  VII. errichtete Burgen aufgeführt werden. Die dritte bleibt hier zwar namenlos, wird jedoch durch ihre Lage beschrieben: „prope flumen Treya […] a parte ducatus“.37 Da sowohl die Burg bei Wellspang als auch die Königsburg in beiden Fällen erwähnt werden, ist anzunehmen, dass es sich bei der namenlosen Burg an der Treene um jene handelt, die später als „Vresenborg“ bezeichnet wird. Dadurch erhält der Konsens hinsichtlich einer Lage an der Treene einen konkreten Bezugspunkt. Entscheidender ist jedoch der beschreibende Zusatz einer Errichtung auf herzoglichem Gebiet. Dies mag banal erscheinen, schließlich wurden auch die anderen beiden Burgen im Herzogtum errichtet, worüber sich auch die Grafen von Holstein 31 32 33 34

Chronicon Holtzatiae, S. 293. Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 34. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 242. Panten, Nordfriesen, S. 42, vermutlich basierend auf Magnus Voss, Chronik der Gemeinde Ostenfeld, Husum 1905, S. 148, der eine Friesenburg flussabwärts von Hollingstedt verortet, ungeachtet dessen, dass er später (S. 151) auf eine Lage nördlich von Treia verweist. 35 Poul Kürstein, Træk af Gøs herredernes historie, in: Nørre og Sønder Gøs Herred. Sydslesvigske egne og byer, hg. von Dems., Flensburg 1969, S. 9–43, hier S. 20. 36 Dies findet sich am frühesten in den (allerdings nicht kohärenten) Darstellungen bei Caspar Danckwerth, Newe Landesbeschreibung Der Zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein. Zusambt Vielen dabey gehörigen Newen LandCarten, Husum 1652, hier auf der Karte zum nördlichen Amt Gottorf zwischen den zwischen S. 108 und 109. Später auch bei Johannes von Schröder, Topographie des Herzogthums Schleswig, Oldenburg ²1854, S. 159 f.; Wolfgang Laur, Historisches Ortsnamenlexikon von Schleswig-Holstein (Gottorfer Schriften 7), Schleswig 1967, S. 97; Olaf Klose (Hg.), Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, Bd. 1: Schleswig-Holstein und Hamburg, Stuttgart 31976, S. 261; Gudrun Loewe, Kreis Schleswig, Bd. 1: Textband, Neumünster 1998, S. 384; Artur Dähn, Ringwälle und Turmhügel. Mittelalterliche Burgen in Schleswig-Holstein, Husum 2001, S. 370; Nielsen, Lost, S. 266. 37 Alle Zitate im Chronicon Holtzatiae, S. 293 f.

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beschwerten.38 Eine Erklärung für diese nähere Beschreibung liefert jedoch der politische Kontext dieser Zeit, denn nach dem Schiedsspruch von Konstanz schlossen sich nicht nur Adlige, sondern auch nahezu alle Harden im südlichen Herzogtum der dänischen Krone an, unter Ausnahme der Arensharde, die als Pertinenz Got­ torfs unter herzoglicher Kontrolle verblieb. Diese erstreckte sich westlich von Schleswig um ihr Zentrum in Schuby bis an die Treene im Westen, über die sie jedoch an einer Stelle hinausreichte: bei Treia,39 wo sich noch heute die Überreste einer Burg am rechten Ufer der Treene erheben. Diese wird zwar traditionell Bischof Niels II. von Schleswig zugeschrieben,40 jedoch könnte es sich hier womöglich eher um die Überreste der königlichen Burg Eriks  VII. handeln. Ebenso wie deren Schwesteranlagen in Wellspang und an der Schlei befände sich diese dann an einer zentralen Verkehrsachse um Gottorf und hätte somit den königlichen Vorstoß durch die Sicherung eines wichtigen Transitweges an die friesisch besiedelte Westküste absichern können.41 Doch wenngleich die königliche Burg jenseits der beiden genannten Chroniken nicht mehr unter der Bezeichnung Friesenburg auftaucht, so gibt es doch weitere Quellen, die sich mit ihr auseinandersetzen. Diese belegen zunächst, dass es diese Burg ebenso wie die anderen tatsächlich gegeben hat. Sie bezeugen aber darüber hinaus, dass die Burg gar nicht den Namen Friesenburg trug. Der wichtigste Gewährsmann ist der Bauherr selbst. Im Jahr 1421 nahm König Erik  VII. zur Klage der Holsteiner Grafen über den unrechtmäßigen Bau von Burgen auf herzoglichem Gebiet Stellung. Er bestätigte zwar ausdrücklich die Errichtung dreier Burgen und erwähnte neben der Königsburg auch eine weitere Burg bei Lindaunis, bezeichnet die dritte jedoch als „Vredeborgh“, und eben nicht als „Vresenborg“.42 Die Authentizität dieses Namens hinsichtlich des Präfixes vrede- (das heißt Friede) wird auch durch weitere Nennungen seitens der Grafen von Holstein43 oder deren Parteigänger Claus Lembek zu Tørning bezeugt.44 Dies zieht nicht nur die Existenz einer „Vresenborg“ oder „Fresenborch“ gründlich in Zweifel, auch dürfte sich zumindest aus der Klage

38 D Danicum 5, Nr. 14210523001 (1421 Mai 23). 39 Jens Peter Trap, Statistik-topographisk beskrivelse af hertugdømmet Slesvig, Bd. 2, Kjøbenhavn 1864, S. 542 f. 40 Zu dieser zuletzt Magnussen, Burgen, S. 162–164. 41 Siehe zur Burgenpolitik Eriks VII. zu dieser Zeit allgemein ebd., S. 320–328. 42 D Danicum 5, Nr. 14210523001 (1421 Mai 23). Siehe dazu auch die Abbildung bei Magnussen, Burgen, S. 327. Die Burg bei Wellspang wurde, was dem Verfasser des Chronicon Holtzatiae vermutlich nicht bekannt war, erst im Jahr 1426 errichtet (ebd., S. 323 f.). 43 Diplomatarium Flensborgense. Samling af Aktstykker til Staden Flensborgs Historie indtil Aaret 1159, Bd. 1, hg. von Hans Christian Paulus Sejdelin, Kopenhagen 1865, Nr. 79; ebenso Acta Processus inter Ericum Regem Daniae ab una & Ducem Slesvicensem ac Comites Holsatiae ab alter parte de Ducatu Slesvicensi 1424, in: Scriptores rerum danicarum medii aevi, partim hactenus inediti, parten ememdatius editi, Bd. 7, hg. von Peter Frederik Suhm, Hauniæ 1792, S. 263–399, hier S. 298. 44 Adolf Ditlev Jørgensen, Klavs Lembeks Frafald 1421, in: Danske Magasin 5/2 (1889–1892), Nr. 3, S. 115.

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Claus Lembeks ableiten, dass sie nicht bereits fünf Jahre zuvor zerstört worden war, sondern wahrscheinlich noch um das Jahr 1420 stand. 2.3 Gottorfs Belagerung im Jahr 1416 Wie sieht es nun mit den weiteren Facetten dieser Geschichte aus? Relevanz erhält diese erst durch ihre Verknüpfung mit einer zeitgleichen Belagerung Gottorfs durch den dänischen König. Zentral sind auch dieses Mal das Chronicon Holtzatiae und das Chronicon Eiderostadense vulgare. Gemäß den Ausführungen des Presbyter Bremensis bestand ein Zusammenhang allerdings nur indirekt. Der dänische König habe nach der Errichtung seiner Burgen sein Heer versammelt, sei mit diesem vor Schleswig gezogen und habe sein Lager auf der „insulam Iurgensborch“ aufgeschlagen.45 Er stellt allerdings keinen Zusammenhang mit dem „castrum Vresenborg“ her. Ganz im Gegenteil lässt er dieses Ereignis dem Scheitern der Belagerung nicht vorausgehen, sondern folgen.46 Erst im Chronicon Eiderostadense vulgare werden beide Ereignisse nun in einem direkten Zusammenhang platziert. Auch nach dieser Quelle habe Erik VII. zwar mit seinen Truppen „in der Slye uppe de Jürgensborch“, aber auch „uppe dem Hestebarge“ gelegen, jedoch habe er nach dem Erhalt der Information über den Verlust der Friesenburg seine Belagerung abgebrochen und sich auf den Rückweg nach Dänemark begeben.47 Doch kam es 1416 überhaupt zu einer Belagerung Gottorfs? Diese Frage lässt sich relativ sicher verneinen. Zwar würde sich eine solche nahtlos in den ereignisgeschichtlichen Verlauf des nach dem Schiedsspruch von Konstanz militärisch erneut aufflammenden Konflikts einfügen, allerdings findet sich nirgends in der vergleichsweise üppigen Überlieferung ein Hinweis auf ein derartiges Ereignis, was im Fall einer komplexen Operation wie der Belagerung einer landesherrlichen Burg als erhebliches Gegenargument zu werten ist. Dies erhält vor allem durch die Klage der Grafen von Holstein zusätzliches Gewicht. Diese kritisierten zwar den Bau der königlichen Burgen als Verletzung des Waffenstillstandes,48 allerdings findet sich nirgends auch nur ein einziger Hinweis auf eine Belagerung ihrer wichtigsten Burg. Dabei dürfte zweifelsfrei anzunehmen sein, dass eine solche Belagerung ein weit stärkeres Argument für einen Vertragsbruch gewesen wäre und daher unbedingt Erwähnung gefunden hätte. Allerdings gibt es einen konkreten Hinweis auf die Anwesenheit des dänischen Königs in der Schlei in besagtem Sommer. Dieser findet sich in einer Korrespondenz von Gesandten der mit der Vermittlung zwischen beiden Konfliktparteien 45 Gemeint war damit die heutige Möweninsel, auf der sich im 12. und 13. Jahrhundert die Jürgensburg bzw. Jurisborg befand. Siehe zu dieser zuletzt Felix Rösch, Ulrich Müller und Walter Dörfler, Castrum quod Slesvig villam speculator. Untersuchungen zur Möweninsel in der Schlei vor Schleswig, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 42 (2014), S. 117–158. 46 Chronicon Holtzatiae, S. 293 f. 47 Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 34. 48 D Danicum 5, Nr. 14210523001 (1421 März 23).

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betrauten Hansestädte, die im Juli 1416 den dänischen König auf der Insel Fehmarn aufsuchen wollten. Sie berichten aber, dass ihnen dort mitgeteilt wurde, dass sich dieser bereits auf den Weg in die Schlei gemacht habe. Jedoch fand man ihn weder dort noch in der Flensburger Förde auf, da er sich bereits auf den weiteren Weg nach Lolland begeben hatte.49 Doch genügt auch der Nachweis Eriks  VII. in der Schlei nicht als Beweis für eine Belagerung Gottorfs, denn diese wäre kaum den Gesandten noch anderen Akteuren verborgen geblieben.50 Vielmehr ist anzunehmen, dass sich Erik VII. wohl kurz auf seinen an der Schlei gelegenen Burgen aufhielt, ehe er seine weitere Reise antrat. Zu einer nachweisbaren Belagerung durch den dänischen König kam es erst im Juli 1417, als binnen drei Tagen die Eroberung der Stadt Schleswig gelang.51 Doch auch wenn das Chronicon Holtzatiae in diesem Zusammenhang von einer gleichzeitigen Belagerung Gottorfs berichtet („ante Sleszwigk et Gottorpp castra metatus fuit“)52, gibt es für eine solche auch dieses Mal keinen Beleg. Ganz im Gegenteil deutet die Wahl des Hesterbergs als Versammlungsort darauf hin, dass sich hier keine in einem solchen Fall erwartbaren Belagerungsburgen oder -stellungen befunden haben. Der Hesterberg galt demnach im Juli 1417 als neutrales Terrain.53 Dass eine Belagerung Gottorfs damals ausblieb, wird ferner durch die später verfasste schwedische Chronica Regni Gothorum nahegelegt, die davon berichtet, dass sich König Erik VII. ausdrücklich gegen einen Angriff auf Gottorf ausgesprochen haben soll.54 2.4 Die Flucht vor den Friesen Den Schlussakt in der Geschichte der Friesenburg bilden die Auswirkungen der Eroberung, die der Erzählung erst ihre tiefere Bedeutung verschaffen. Auch hier erweist sich das Chronicon Eiderostadense vulgare als stilprägend, denn während das Chronicon Holtzatiae die Zerstörung der Friesenburg nur knapp zur Kenntnis nimmt, hebt die Eiderstedter Chronik hervor, wie der Fall der Friesenburg die Dynamik des Konflikts veränderte. Als im Lager des dänischen Heeres das Gerücht von der Eroberung die Runde machte, habe dies eine große Furcht ausgelöst. Die Angreifer ließen alles stehen und liegen und seien vor den heranrückenden Friesen geflohen, wodurch Gottorf und Graf Heinrich IV. (1397–1427) vor der drohenden Niederlage bewahrt werden konnten. 49 Die Recesse und andere Akten der Hansetage von 1256–1430, 1. Abtheilung, Bd. 6, hg. von Karl Koppmann, Leipzig 1889 (im Folgenden HR), Nr. 262, § 95, und Nr. 287, § 2 f. 50 Siehe zum Aufwand von Belagerungen Magnussen, Burgen, S. 328–342. 51 Die Chronica novella des Hermann Korner, hg. von Jakob Schwalm, Göttingen 1895, S. 407. 52 Chronicon Holtzatiae, S. 37 und 295. 53 HR 1/6, Nr. 479, § 12. Vgl. zum Hesterberg als Ausgangspunkt für Belagerungen zuletzt Magnussen, Burgen, S. 311–314. 54 Ericus Olai, Chronica Regni Gothorum. Textkritische Ausgabe, hg. von Ella Nyrin-Heumann und Jan Öberg (Acta Universitatis Stockholmiensis, Studia Latina Stockholmiensia 35), Stockholm 1993, hier cap. XLII, § 8.

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Doch worauf stützt sich diese Erzählung, wenn es im Jahr 1416 gar keine Belagerung gab? Hier bietet sich eine weitere Perspektive an, da man, auch wenn sich dieses Ereignis in keiner weiteren Quelle wiederfindet, andernorts auf Schilderungen stößt, die der Geschichte im Chronicon Eiderostadense vulgare verblüffend ähneln und möglicherweise als Vorlage gedient haben könnten. Eine solche dürfte das Chronicon Holtzatiae gewesen sein, in dem sich für das Jahr 1417 eine ähnliche Geschichte finden lässt, nur dass hier an die Stelle der Friesen Soldaten der Stadt Hamburg und Dithmarschens treten. Graf Heinrich  III. sei gemäß dem Chronisten mit seinem Kanzler nach Hamburg gereist und habe dessen Bürger von der Unterstützung im Kampf gegen den dänischen König überzeugt. Nachdem er seinem Neffen in Rendsburg die Botschaft überbracht hatte, habe sich dieser auf den Weg ins belagerte Gottorf gemacht. Er habe die Absichtserklärung des Hamburger Rates an einem Stock befestigen lassen und sei mit diesem ins königliche Lager geritten, wo der Brief verlesen worden sei. Erik VII. habe daraufhin seine Räte konsultiert und dies als Bestätigung der Gerüchte über den heranrückenden Entsatz gewertet, weshalb er die Zelte abgebrochen und über Eckernförde, welches er bei dieser Gelegenheit niederbrannte, die Rückkehr nach Dänemark angetreten habe.55 Nun war Hamburg bekanntlich der wichtigste Verbündete der Grafen und es lässt sich auch nachweisen, dass sich Graf Heinrich  III. und möglicherweise auch sein Neffe im besagten Jahr wegen Verhandlungen in der Stadt aufhielten, die nach einem Bündnisschluss ihrerseits Truppen zur Stärkung der gräflichen Stellung nördlich der Eider entsandte.56 Der weitere Verlauf stellt sich allerdings vollkommen anders dar, als von der Chronik geschildert: Keineswegs schreckte der dänische König vor den herannahenden Verbündeten zurück. Vielmehr initiierten die vermittelnden Hansestädte weitere Verhandlungen, woraufhin sich die Konfliktparteien im November desselben Jahres auf einen einstweiligen Waffenstillstand verständigten. Dieser sah die Herausgabe der Stadt Schleswig und des von den Holsteinern eroberten Tønderhus an neutrale Dritte vor, jedoch konnte der dänische König kurze Zeit später einen Vertrauten als Verwalter in Schleswig einsetzen. Demnach war der Ausgang für den König entgegen der Schilderung der Chronik äußerst günstig.57 Es gibt jedoch eine konkrete historische Vorlage für die fiktive Erzählung des Chronisten. Neun Jahre später, im Jahr 1426, war der dänische König bestrebt, seinen durch König Sigismund gestützten Anspruch auf die Herzogtümer durchzusetzen, im Zuge dessen es nun nachweislich zu einer Belagerung Gottorfs kam. Nur war es hier nicht der bereits verstorbene Graf Heinrich III., sondern dessen Neffe 55 Chronicon Holtzatiae, S. 295 f. Zur Erwähnung der Zerstörung der Stadt Eckernförde siehe auch die kritischen Ausführungen bei Henning Unverhau, Die angebliche Zerstörung Eckernfördes 1416/1417, in: Jahrbuch für die Heimatgemeinschaft des Kreises Eckernförde 42 (1984), S. 73–84. 56 Siehe die von beiden besiegelte und in Hamburg ausgestellte Urkunde vom 20. Juli 1417: Abdruck der das Recht der freien Städte Lübeck und Hamburg auf Fortdauer des zollfreien Transit-Verkehres zwischen beiden Städten durch das Holsteinische Gebiet betreffenden Urkunden, o. O. 1838, Nr. 62, S. 150–152; ebenso Chronica Novella, S. 407. 57 Zu den Ereignissen in der zweiten Jahreshälfte 1417 siehe Hedemann, Danmark, S. 94–99.

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Heinrich IV., der persönlich bei den Hansestädten vorsprach und deren Vertreter von der Parteinahme für die Schauenburger überzeugen konnte. Im September 1426 schlossen beide Seiten ein gegen den dänischen König gerichtetes Angriffs- und Verteidigungsbündnis und nun ereignete sich, was das Chronicon Eidero­stadense vulgare nach dem Fall der Friesenburg und das Chronicon Holtzatiae nach dem holsteinisch-hamburgischen Bündnis von 1417 beschrieben: Als der dänische König im Oktober 1426 die hansischen Fehdebriefe erhielt und sich der gegnerischen Übermacht bewusst wurde, ließ er die Belagerung abbrechen und zog sich ins königliche Flensburg zurück.58 Dieser zentrale Wendepunkt im Konflikt um Schleswig blieb auch dem Verfasser des Chronicon Holtzatiae nicht verborgen.59 Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb er die nahezu identische Geschichte zweimal erzählt, wenngleich sie sich 1417 nachweislich nicht ereignete. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen der zahlreichen Irrtümer. Allerdings ist auch denkbar, dass die Übertragung der Ereignisse auf den Sommer 1417 einen konkreten Zweck verfolgte. Dies könnte aus der Schilderung selbst hervorgehen, denn während er die Belagerung von 1426 eher nüchtern beschreibt, fällt bei der Schilderung der Belagerung vom Sommer 1417 nicht nur ihre Ausführlichkeit ins Auge, sondern auch ihre heilsgeschichtliche Assoziation: Die Hamburger und Dithmarscher hätten nämlich nicht aus reiner Bündnistreue gehandelt, sondern im göttlichen Auftrag.60 Die Belagerung des Jahres 1426 dürfte als einer der zentralen Wendepunkte der nordischen Geschichte des 15. Jahrhunderts noch lange im historischen Gedächtnis der Region verankert gewesen sein.61 Möglicherweise erklärt sich die Erwähnung einer weiteren gescheiterten Belagerung im Jahr 1417 damit, dass der Chronist dieses Ereignis als Topos aufgriff und auf einen neuen Kontext anwandte – ein Kontext, in dem nun nicht mehr die Hansestädte um Lübeck die entscheidende Wende brachten, sondern Hamburg und Dithmarschen, was selbsterklärend auch dort gerne aufgegriffen wurde.62 Welchen Zweck er damit verfolgte, ist angesichts der sonst eher pejorativen Darstellung der Dithmarscher unklar,63 erklärt sich im Falle Hamburgs jedoch womöglich mit der zu dieser Zeit zu beobachtenden Tendenz zur Stärkung der historischen Verbindung zwischen der Stadt Hamburg und den Schauenburgern.64 Dabei konnte der Verfasser jedoch nicht die tatsächlichen 58 59 60 61

Siehe dazu Erslev, Erik, S. 198–211. Chronicon Holtzatiae, S. 304 f. Ebd., S. 296. Dies vermutet auch Helge Blanke, Das Recht als Mittel der Machtpolitik. Eine Untersuchung zur nordwestdeutschen Grafschaftschronistik im Spätmittelalter (Kollektive Einstellung und sozialer Wandel im Mittelalter N. F. 6), Köln 2002, S. 33 f., 268–271. 62 Johann Adolfi’s, genannt Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen, Bd. 1, hg. von Friedrich Christoph Dahlmann, Kiel 1827, S. 390 f. 63 Stüben, Regionalgeschichte, S. 261–270. 64 Vgl. dazu etwa Nathalie Kruppa, Erinnerung an einen Grafen. Adolf IV. von Schaumburg und seine Memoria, in: Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel, hg. von Ders. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 227; Studien zur Germania Sacra 30), Göttingen 2007, S. 183–223, hier S. 211–215.

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Ereignisse vom Herbst 1426 außen vor lassen. Diese dürften der Leserschaft nicht nur präsent gewesen sein, auch benötigte er sie als Vorgeschichte für die narrative Überhöhung einer seiner Heldenfiguren, Graf Heinrich IV., den er im Zuge seines Todes vor der Marienburg bei Flensburg (1427) als zweiten Judas Makkabäus stilisierte.65 Unter der Annahme, dass es sich beim Scheitern der dänischen Belagerung durch herannahende Truppen um einen Topos dieser Zeit handelt, erklärt sich auch die im Chronicon Eiderostadense vulgare etwas deplatziert wirkende Schilderung der Friesenburg. Das sich ansonsten fast nur regionalen Themen widmende Werk thematisiert den Konflikt zwischen den Holsteiner Grafen und dem dänischen König nämlich nur an drei Stellen: bei der eher anekdotischen Erwähnung vom Tode Graf Heinrichs IV.,66 bei der Schlacht auf der Solleruper Heide und bei der Zerstörung der Friesenburg. Weshalb der Verfasser ausgerechnet die letzten Ereignisse in seiner Chronik berücksichtigt, erklärt sich aus den Ausführungen selbst, die in beiden Fällen den Rahmen für friesische Heldentaten bilden: Ebenso wie der Fall der Friesenburg zum Scheitern der Belagerung Gottorfs führte, so soll es auch während der Schlacht auf der Solleruper Heide ein Friese namens „hunne“ gewesen sein, der den königlichen Heerführer Mogens Munk „doet sloch“.67

3. Ein ostfriesisches Vorbild? Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen die Problematik der Überlieferung zur Eroberung der Friesenburg. Doch ehe sich diese Studie ihrem Resümee widmet, richtet sie den Blick noch einmal über die Region hinaus. Es wäre nämlich denkbar, dass sich der Verfasser der Eiderstedter Chronik nicht nur an Berichten aus dem direkten landesherrlichen Umfeld orientierte, sondern auch auf friesische Vorbilder zurückgriff. Diese Möglichkeit eröffnet sich, wenn man die Geschichte der bremischen Vredeborg an der Wesermündung einbezieht.68 65 Chronicon Holtzatiae, S. 305. In der höfischen Kultur des späten Mittelbalters zählte die Figur des Judas Makkabäus zum Kanon der sogenannten Neun Helden, unter denen ihm die Rolle des tugendhaften Befreiungskämpfers zukam. Siehe dazu mit weiterführender Literatur Dietrich Briesemeister u. a., Neun Gute Helden, in: LMA, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 1993, Sp. 1104–1106. Zur Beschreibung Graf Heinrichs IV. in der Chronik Stüben, Regionalgeschichte, S. 287 f. 66 Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 40. 67 Ebd., S. 36. Die Schlacht ereignete sich jedoch nicht, wie in der Chronik beschrieben, im Jahr 1408, sondern im August des Jahres 1410. Siehe dazu Albert Andreas Panten, König Abels Tod. Ende einer Legende, in: Nordfriesisches Jahrbuch 16 (1980), S. 117–126, hier S. 123 f. 68 Zur Vredeborg ausführlich Dietrich Rudolf Ehmck, Die Friedeburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Weserpolitik Bremens, in: Bremisches Jahrbuch 3 (1868), S. 69–158. Diese ist nicht zu verwechseln mit der Vredeburg im friesischen Gau Östringen. Vgl. Heinz Ramm, Die Friedeburg, Entstehung und Baugeschichte. Nebst einem Exkurs über die Friedeburg-Darstellungen bei Merian (1647) und Grave (1648), in: Res Frisicae. Beiträge zur ostfriesischen Verfassungs-, Sozial- und Kulturgeschichte, hg. vom Kollegium der ostfriesischen Landschaft (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 59), Aurich 1978, S. 28–72.

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In der Zeit um 1400 wurde der Handel an der Wesermündung stark von den sogenannten Vitalienbrüdern beeinträchtigt,69 die von friesischen Häuptlingen als Verbündete in den Machtkämpfen untereinander und mit den regionalen Fürsten und der Stadt Bremen angeheuert wurden.70 Infolge einer ersten hansischen Expedition im Frühjahr 1400 intensivierte die Stadt Bremen ihre Bemühungen zur Kontrolle der Gebiete links der Weser (Stadland und Butjadingen), wobei der Vredeborg (1407–1425) eine Schlüsselstellung zukam.71 Schon hier zeichnet sich eine Parallele zur Friesenburg ab, denn in beiden Fällen handelte es sich um eine im frühen 15. Jahrhundert errichtete Burg als Element einer expansiven Territorialpolitik einer regionalen Großmacht: dort des dänischen Königs, hier des Rates der Stadt Bremen. Diese Parallele erhält durch die Identifikation der nur traditionell überlieferten Friesenburg mit der von Erik VII. offenbar an der Treene errichteten „Vredeborg“ weiteres Gewicht. Beide Anlagen an Treene und Weser trugen demgemäß einen identischen und durch eine zeitgenössische Überlieferung verbürgten Namen.72 Die Bildung beider Eigennamen auf das Präfix vrede- erinnert dabei an die ebenfalls aus dieser Zeit bekannten hansischen „Vredeschiffe“ – Schiffe, die zum Zweck der Befriedung der Seehandelswege entsandt wurden – und dürfte programmatisch zu verstehen sein, indem sie die Absicht der jeweiligen Errichter zur Befriedung eines Unruheherdes ausdrückte.73 Die konkrete Einschätzung nach der Notwendigkeit einer Befriedung galt indes nicht universell, sondern war das Resultat einseitiger Willensbildungsprozesse. Entsprechend dürfte die Errichtung einer „Friedeburg“ von betroffenen Anwohnern abweichend gedeutet worden sein, etwa als Zeichen einer expansiven Politik. Hierin zeigt sich ein Deutungsdualismus, der in der späteren Historiographie in Form des Topos der Zwingburgen tradiert wurde, so etwa bei Ludwig Andreas Jakob Michelsen, der

69 Siehe zu den Vitalienbrüdern jüngst Gregor Rohmann, Was waren die „Vitalienbrüder“ und was hat Lübeck damit zu tun?, in: Störtebeker & Konsorten. Piraten der Hansezeit, hg. von Franziska Evers, Friederike Holst und Gregor Rohmann, Kiel 2019, S. 27–35. 70 Matthias Puhle, Die Vitalienbrüder. Klaus Störtebeker und die Seeräuber der Hansezeit, Frankfurt ²1994, S. 103–145. 71 Siehe allgemein zur Bremer Territorialpolitik an der Wesermündung Thomas Hill, Die Stadt und ihr Markt. Bremens Umlands- und Außenbeziehungen im Mittelalter (12.–15. Jahrhundert) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 172), Stuttgart 2004, S. 299–312. 72 Der Name der Vredeborg findet sich in zahlreichen bremischen diplomatischen und seriellen Quellen und Traditionsquellen. Vgl. z. B. Bremisches Urkundenbuch, Bd. 4: 1381–1410, hg. von Diedrich Rudolf Ehmck und Wilhelm von Bippen. Bremen 1886, Nr. 406 (1410 Juni 16: „ere slot de vredeborch“); Ehmck, Friedeburg, S. 128, 130 f. und 134. So ist etwa aus dem Jahr 1408 ein Gedicht überliefert, welches explizit Bezug auf den Bau der Burg nimmt, ebd., S. 136–144, hier S. 140: „De Vredeborch, dat nuette sloet“. 73 Siehe zu den Friedenskoggen der Hanse Erich Hoffmann, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter. Die große Zeit Lübecks, in: Lübeckische Geschichte, hg. von Antjekathrin Graßmann, Lübeck 1988, S. 79–340, hier S. 164 f.

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die Friesenburg als „Zwingfeste der Friesen“ beschrieb.74 Für die Vredeborg an der Weser ist somit wie bei derjenigen an der Treene davon auszugehen, dass sie zumindest seitens eines Teils der friesischen Bevölkerung als Bedrohung der eigenen Freiheiten und Interessen aufgefasst worden sein dürfte. Dies verdeutlicht auch die zweite Parallele zur Friesenburg, denn auch die Vredeborg an der Weser war Ziel friesischer Vorstöße – und dies nicht nur einmal, sondern gleich drei Mal. Bereits nach ihrer Errichtung im Jahr 1407 stand sie im Fokus eines erfolglosen Angriffs einer Koalition des friesischen Häuptlings Edo Wiemken mit dem Oldenburger Grafen Christian VI.75 Erfolgreicher waren die Häuptlinge Ocko tom Broke, Focko Ukena und Sibet Lubben, denen es 1424 gelang, die Kontrolle über Butjadingen und die Vredeborg zu erlangen. Ebenso wie die Friesenburg gemäß der Eiderstedter Chronik ihr Ende durch einen friesischen Vorstoß gefunden haben soll, so stand ein solcher also auch am Anfang vom Ende der Vredeborg an der Weser – allerdings mit dem Unterschied, dass letztere keineswegs während des Angriffs militärisch zerstört, sondern als Gegenleistung für die Übertragung der Hoheitsrechte über Butjadingen geschleift wurde.76 Eine weitere Eroberung gelang Dude und Gerold, zwei Söhnen des einst mit der Stadt Bremen verbündeten, 1414 jedoch hingerichteten Häuptling der Stadlande, bereits im Jahr 1418, wenn auch nur kurzzeitig. Der Angriff ist für die Untersuchung dahingehend interessant, dass die zeitgenössische Cronica Bremensis für diesen überliefert, dass der von der Stadt eingesetzte Hauptmann, Ratmann Arndt Balleer, dabei sein Leben verloren haben soll.77 Die Geschichte der Vredeborg an der Weser besitzt also einige auffällige Parallelen zur Erzählung der Friesenburg beziehungsweise der Vredeborg im Herzogtum Schleswig. Auch an der Unterweser gab es eine regionale Großmacht (Bremen), welche zur Durchsetzung ihrer Machtinteressen eine Vredeborg errichtete (1407), die von Friesen angegriffen wurde (1407, 1418 und 1424). Mindestens ein namentlich überlieferter Burghauptmann verlor dabei sein Leben (Arndt Balleer) und letzten Endes leitete eine Eroberung auch die Zerstörung der Burg ein (1424/25). An einer 74 Michelsen, Nordfriesland, S. 124. Ein ähnliches Beispiel findet sich für die Tielenburg an der Eider, die seitens der Dithmarscher Geschichtsschreibung ebenfalls als Zwingfeste gedeutet wurde. Siehe dazu zuletzt Felix Biermann u. a., Die erste Tielenburg? Die mittelalterliche Wehranlage an der Tielenau bei Pahlen (Dithmarschen), in: Burgen & Schlösser 59 (2018), S. 131–156, hier S. 148. 75 Der Konflikt von 1407/08 führte zur Gefangennahme des Grafen auf der Vredeborg, der als Gegenleistung für seine Freilassung der Stadt Bremen umfassende Zugeständnisse machen musste. Siehe dazu Hill, Stadt, S. 301; Ehmck, Friedeburg, S. 90–93. 76 Ehmck, Friedeburg, S. 105 f. 77 Die Bremer Chronik von Rynesberch, Schene und Hemeling, hg. von Hermann Meinert, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Bremen (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 37), Bremen 1968, S. 1–233, hier S. 211–213; Geschichtsquellen des Erzstiftes und der Stadt Bremen, hg. von Martin Lappenberg, Bremen 1841, S. 55–158, hier S. 143 f.; Ehmck, Friedeburg, S. 96 f. Auch für die Eroberung des Jahres 1424 wird mit Johann Vrese ein Hauptmann genannt, dieser habe jedoch die Burg nach Verhandlungen herausgegeben. Vgl. Bremer Chronik, S. 223.

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Stelle stößt man allerdings ins Leere, da die Eroberung der Vredeborg an der Weser nicht parallel zu einer weiteren Belagerung durch die Stadt Bremen stattfand. Gleichwohl wogen die Folgen des Verlusts der Burg für Bremen schwer, denn innerhalb der städtischen Gesellschaft wuchs aufgrund des Scheiterns der Frieslandpolitik der Unmut. Der friesische Vorstoß von 1424 mochte zwar nicht den Einfluss Bremens auf Butjadingen beseitigen, er war jedoch ein wesentlicher Faktor für den Sturz des Rates und die Schaffung einer neuen Ratsverfassung, welche zeitweise zum Ausschluss der Stadt aus der Hanse und zur Reichsacht über die Stadt führte.78 In gewisser Hinsicht führte der Fall der Vredeborg somit dann doch, wenn auch nicht direkt, zur Erschütterung einer regionalen Großmacht.

4. Die Friesenburg – ein Einheitsmythos? Um das Jahr 1470 fasste eine schreibkundige Person im Raum Eiderstedt, vermutlich der historisch überlieferte Schreiber Wenni Sywens, den Entschluss, eine Kompilation zur Geschichte seiner Heimatregion zu verfassen – ein Werk, das uns heute als Chronicon Eiderostadense vulgare bekannt ist.79 Was den Verfasser seiner Zeit zur Abfassung motivierte, ist, da er selbst hierzu keine Stellung bezog, unbekannt. Erschwerend kommt hinzu, dass das Werk nicht in seiner Originalschrift, sondern lediglich kopial überliefert ist,80 weshalb nicht einmal mit Gewissheit gesagt werden kann, ob es von Beginn an in der heutigen Form erdacht oder nachträglich von einem anderen Autor mit womöglich ganz anderen Intentionen redigiert wurde. Angesichts der zeitlichen Entstehung liegt jedoch die Vermutung nahe, dass dieser Entschluss als Reaktion auf eine für die Eiderstedter wie friesische Geschichte wichtige Umbruchszeit gereift sein dürfte. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts intensivierten die Herzöge von Schleswig – zunächst Herzog Adolf I. (amtierend 1440–1459) und später dessen Neffe Christian I. (amtierend 1460–1481) – ihre Bemühungen zur Inkorporation der friesischen Landschaften unter die herzogliche Administration. Sie griffen in die Rechtsprechung ein, setzten neues Recht, protegierten neue, auf sie eingeschworene Eliten, verpfändeten Ländereien an der Westküste an Mitglieder der Ritterschaft und erhoben wiederholt Sondersteuern zur Finanzierung ihrer dynastischen Politik. Diese Aushöhlung traditioneller Freiheiten stieß zwar vereinzelt auf Protest und erregte stellenweise sogar offene Rebellion, jedoch vermochten es die nach wie vor partikularen friesischen Gemeinden nicht, dem herzoglichen Machtausbau wirksam entgegenzutreten.81 78 Siehe dazu Konrad Elmshäuser, Geschichte Bremens, München 2007, S. 37 f. Zur Verhansung siehe Wilhelm von Bippen, Bremens Verhansung 1427, in: Hansische Geschichtsblätter 20 (1892), S. 61–77. 79 Zur Autorenfrage siehe Mike Malm, Gemeine Eiderstedtische Chronik, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung, hg. von Wolfgang Achnitz, Berlin u. a. 2012, Sp. 767 f.; Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 6 f. 80 Zur Überlieferung Hansen, Chroniken, S. 172 f. 81 Panten, Nordfriesen, S. 51–68.

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Schon Albert Panten betonte in seinem Vorwort zur 1977 herausgegebenen Neuauflage des Chronicon Eiderostadense vulgare die patriotische Grundstimmung des Werks und verwies dabei auf die äußerst ausführliche Darstellung des Todes König Abels, den die Chronik fälschlicherweise im Juli 1145 durch einen friesischen Wagenzimmermann sterben ließ.82 Die Fiktionalität dieser Ausführung gibt sich bereits anhand des falschen Datums leicht zu erkennen und wurde bereits kritisch thematisiert,83 jedoch führte dies nicht zu einem generell vorsichtigeren Umgang mit den weiteren Inhalten dieses nur punktuell zuverlässigen Geschichtswerks oder deren Neubewertung.84 Dies gilt, wie eingangs beschrieben, auch für die Überlieferung zur Eroberung der Friesenburg. Ungeachtet ihres Ursprungs in der Feder eines nachweislich zu irrtümlichen (oder wohlwollend: fantasievollen) Ausführungen neigenden Verfasser(kollektiv)s erlebt sie trotz ihrer Widersprüchlichkeit bis heute eine breite Rezeption. Die Befunde der vorliegenden Studie ermöglichen nun eine abweichende Interpretation, welche die Existenz der Friesenburg und deren Zerstörung aus dem ereignisgeschichtlichen Kontext der Landesgeschichtsschreibung isoliert und zurück in den Kontext ihrer Ursprungsquelle transportiert. In deren Konzept dürfte diese Erzählung ebenso wie der Bericht zum Tod König Abel Valdemarsens eine bestimmte Funktion erfüllt haben: eine fiktionale Vergegenwärtigung des Potentials eines geeinten friesischen Widerstands gegen externe Mächte – ein Widerstand, der sich ikonisch auf die Erstürmung der Friesenburg verdichtete. Ebenso wie der Tod König Abels durch einen friesischen Wagenzimmermann ist der FriesenburgBezug demnach nie als historisches Ereignis erdacht worden, sondern von Anfang als identitätsstiftender Mythos. Diese Umdeutung kann zwar nur als These formuliert werden, hilft jedoch bei der Auflösung der inneren Widersprüche. Sie geht davon aus, dass sich der Verfasser zahlreicher Anleihen bei historischen Personen, Strukturen, Ereignissen oder literarischen Vorlagen bediente und diese zu einer neuen Erzählung miteinander verwob. Diese Anleihen waren nicht nur narrative Inspirationen, sondern auch Garanten für die historische Glaubwürdigkeit. So ist zwar nicht nachweisbar, ob Reimer Ottesen Sehestedt tatsächlich als Hauptmann im Bereich des friesischen Siedlungsraumes wirkte. Dass sein Sohn Reimer Reimersen jedoch eine für die Familie ansonsten eher ungewöhnliche Beziehung zu Schwabstedt pflegte,85 deutet aber an, dass Reimer Sehestedt für die Friesen des 15. Jahrhunderts vermutlich kein Unbekannter war. Darüber hinaus wurde vor allem das Chronicon Holtzatiae als mögliche wichtige Quelle identifiziert, doch auch die ostfriesische Chronistik,

82 Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 7 (Einleitung). Zum Tode König Abels ebd., S. 16–22. 83 Panten, König Abels Tod. König Abel Valdemarsen fiel erst 1252, vgl. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 20 f. 84 Siehe dazu die knappe Einleitung von Johannes Jasper in Chronicon Eiderostadense vulgare, S. 10; Panten, König Abels Tod, S. 122. 85 DAA 1940, S. 110 f.

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welche die Eroberung der bremischen Vredeborg ihrerseits zum identitätsstiftenden Moment stilisierte,86 könnte wichtige Impulse geliefert haben. So steht am Ende die Transformation eines scheinbar historischen Ereignisses zum sich aus verschiedenen Quellen speisenden identitätsstiftenden Mythos als Teil einer polymythischen Identitätsvorstellung.87 Mit ihrer Abfassung sollte womöglich in Zeiten innerfriesischen Dissenses und zunehmender Gefährdung der eigenen Freiheiten in glorifizierender Weise an vermeintliche Großtaten der eigenen Vorfahren erinnert werden, die sich gemeinsam externen Gefahren gestellt haben und dabei selbst den übermächtig erscheinenden dänischen König in die Schranken gewiesen haben. Ausgehend vom Chronicon Eiderostadense vulgare, verfing sich dieser Mythos in der Reichs- wie Landesgeschichte, welche ihn bis in die Gegenwart als historisches Faktum behandelt, ohne ihm jedoch denselben Status wie in der friesischen Geschichtsschreibung beizumessen. Er erreichte zwar nicht mehr die Popularität eines Rungholt-Mythos,88 emanzipierte sich aber doch von seinem Schöpfer und entfaltete über Jahrhunderte hinweg eine Wirkung als Erinnerungsort einer patriotischen friesischen Geschichtsschreibung, dessen Strahlkraft noch im 19. Jahrhundert im Werk Ludwig Andreas Jakob Michelsens in bemerkenswerter Weise hervortritt.

86 Eine friesische Chronik, hg. von Heinrich Georg Ehrentraut, in: Friesisches Archiv. Eine Zeitschrift für friesische Geschichte und Sprache 1 (1849), S. 316–337, hier S. 327 f. 87 Zum Begriff auch Münkler, Politische Mythen, S. 228 f. 88 Matthias Johannes Bauer, Rungholt-Sage und Rungholt-Literatur, in: Rungholt. Rätselhaft & widersprüchlich, hg. von Jürgen Newig und Uwe Haupenthal, Husum 2016, S. 85–92.

Frederic Zangel

„dat slot to vemeren“ Bedeutung und Wahrnehmung der Burg Glambek im Spiegel der schriftlichen Quellen

Abstract Today, the island of Fehmarn in the Baltic Sea is part of the German federal state of Schleswig-Holstein. But in medieval and early modern times, many protagonists have tried to bring the island under their rule, among them the Kings of Denmark. The key to controlling the island was the castle situated in its very south called Glambek. In this article, the castle’s history is explored by interpreting the written sources. These contain information on Glambek itself, its contemporary perception and the protagonists linked to it. Glambek first appears in the written sources in the beginning of the 14th century. It is not quite clear when it was built, but it seems certain that this happened during the 13th century while the island was under the control of the Danish Kings. In the 14th century, the Counts of Holstein and Stormarn owned the castle and ruled the island. In 1416 and 1420, King Erik VII of Denmark tried to bring both castle and island back under his rule – but without any longterm success. From 1437 to 1490, both of them were pawned to the city of Lübeck and the castle was expanded. In the 16th century, Glambek lost its significance and fell into disrepair so that today only ruins are left. In the 14th and 15th centuries, Glambek was not only important as a stronghold and administrative centre but also symbolic for the possession of Fehmarn. Whoever controlled the castle, controlled the island – and vice versa.

Die Insel Fehmarn, deren Lage in der Interessensphäre verschiedener Akteure zu Konflikten und Diskussionen hinsichtlich ihrer faktischen und verfassungsmäßigen Zugehörigkeit führte, ist eine Besonderheit in der an Ausnahmen nicht armen Geschichte Schleswig-Holsteins.1 Auch für die Burgenforschung gilt, dass Erkennt1 Die im Folgenden genannten Quellen im Archiv der Hansestadt Lübeck (AHL) wurden über Beständeübersicht und Findmittel online, https://www.stadtarchiv-luebeck.findbuch.net/php/ main.php (30.3.2020), erschlossen. Zur Diskussion um die Zugehörigkeit der Insel etwa Adam Heinrich Lackmann, Beweis, daß die Insul Fehmarn weder zu dem Reiche Dänemark noch zum Herzogthum Schleswig oder Holstein gehöre, sondern von jeher ein ganz separirtes und besonderes Land gewesen […], Kiel 21746; Johann Christian Ravit, Die Insel Fehmarn. Eine holsteinische Landschaft, in: Jahrbücher für die Landeskunde der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg 9 (1867), S. 357‒418. Zur Lage der Insel im westlichen Ostseeraum siehe Abb. 1.

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nisse aus der Nachbarschaft nur mit Vorsicht auf die Insel übertragen werden können.2 Zur Burg Glambek auf der Burgtiefe südlich des Ortes Burg auf Fehmarn sind Überlieferung und Forschungsstand recht umfangreich.3 Zu den anderen drei in der archäologischen Landesaufnahme Schleswig-Holstein ausgewiesenen Burgen Fehmarns liegen keine stichhaltigen Schriftquellen vor.4 Eine fünfte, bei Burg auf Fehmarn gelegene Anlage ist nicht genau lokalisierbar, wird beim Verkauf durch Graf Gerhard VI. von Holstein-Rendsburg an den Niederadligen Wulf Pogwisch den Älteren jedoch als Hof mit einem Wall erwähnt.5 Aufgrund der dünnen Quellenlage für letztere Anlage werden hier nur Glambek sowie die damit in einem Zusammenhang stehenden Akteure anhand der schriftlichen Überlieferung untersucht.6 Diese Burg wird als Kristallisationspunkt im Kräftespiel von Akteuren wie den Königen von Dänemark, den Grafen respektive Herzögen von Holstein (und Stormarn), den Lübeckern und den Fehmeranern selbst verstanden, was Aussagen über die Wahrnehmung einer Burg als Teil des sie umgebenden Raumes erlaubt.7 2 Aufgrund dieser unklaren Zugehörigkeit fand Fehmarn im von Oliver Auge geleiteten DFGProjekt zu den Burgen Schleswig-Holsteins nur punktuell Berücksichtigung. Vgl. dazu Stefan Magnussen, Burgen in umstrittenen Landschaften. Eine Studie zur Entwicklung und Funktion von Burgen im südlichen Jütland (1232‒1443), Leiden 2019; Frederic Zangel, Castrum, curia, berchvrede. Die Burgen Holsteins und Stormarns in ihrer geschichtlichen Bedeutung und Wahrnehmung (1134 bis 1534) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 6), Kiel 2021; Jens Boye Volquartz, Im Spannungsfeld zwischen herrschaftlichem Zugriff und bäuerlicher Selbstbestimmung. Spätmittelalterliche Burgen in Nordfriesland und Dithmarschen (in Vorb.). 3 Vgl. die Literaturhinweise im Folgenden. 4 Archäologisches Landesamt Schleswig-Holstein (ALSH), Burg auf Fehmarn (Stadt), Kr. Ostholstein, Landesaufnahme-Nummer (LA-Nr.) 50, ist möglicherweise slawischen Ursprungs, eine Weiternutzung im 12./13. Jahrhundert denkbar. Vgl. Karl Wilhelm Struve, Die Burgen in Schleswig-Holstein, Bd. 1: Die slawischen Burgen (Offa-Bücher 35), Neumünster 1981, S. 23‒26; Lennart S. Madsen, Glambek – borgen på Femern, in: Sønderjysk Månedsskrift 92 (2016), S. 243‒250, hier S. 243. Auch ALSH, Bannesdorf auf Fehmarn, Kr. Ostholstein, LANr. 100, in Puttgarden ist wohl slawischen Ursprungs. Vgl. Struve, Burgen, S. 17‒20; Madsen, Glambek, S. 243. Bezüglich ALSH Westfehmarn, Altgemeinde Petersdorf, Kr. Ostholstein, LA-Nr. 61, liegen Funde von Tonware und Hinweise auf einen Wassergraben vor. Mein Dank gilt Eicke Siegloff für die Zusendung der entsprechenden Daten. Zur Lage der genannten Anlagen siehe Abb. 2. 5 Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden (SHRU), Bd. 6,2: 1389‒1400, hg. von Werner Carstens, Neumünster u. a. 1962‒1971, Nr. 1533, S. 1041 f. (1399 Mai 30): „hof […] myd deme walle […]“. 6 Dazu etwa Richard Haupt, Dänischer Burgenbau. Die Burg Glambeck auf Fehmarn, in: Der Burgwart 9 (1908), S. 81‒85; Ders., Burgen im Herzogtum Schleswig, in: Der Burgwart 16 (1915), S. 109‒119 und S. 127‒131, hier S. 117‒119, mit Rekonstruktion und Grundriss; Jens Friedhoff, „Lebendiges Mittelalter“ und „vergessene Ruinen“ – die Turmhügelburg Lütjenburg und die Burgruine Glambeck in Schleswig-Holstein, in: Burgen und Schlösser 53 (2012), S. 215‒221, hier S. 219, mit einer Einordnung von Haupts Rekonstruktion Glambeks; Madsen, Glambek, S. 245‒248. 7 Im Kleinen wird die gleiche Methodik angewandt wie bei Zangel, Castrum. Siehe dazu ebd., Kap. 1.1, insbesondere mit Abb. 2 auf S. 15. Eine wahrnehmungsgeschichtliche Studie liegt zu Glambek bislang nicht vor. Zur Lage Fehmarns und Glambeks auf der Insel siehe Abb. 1.

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Abb. 1: Karte zur Lage Fehmarns im Überschneidungsbereich verschiedener Interessensphären sowie zu den im Text genannten Orten außerhalb der Insel. 1 Glambek –2 Bornhöved –3 Plön – 4 Eutin – 5 Ahrensbök – 6 Kiel –7 Lütjenburg – 8 Oldenburg (Holstein) – 9 Heiligenhafen – 10 Warnemünde – 11 Wismar – 12 Lolland – 13 Falster – 14 Møn – 15 Fünen – 16 Vordingborg – 17 Langeland – 18 Arrö – 19 Alsen – 20 Schleimündung Nachweis: Die Karte wurde vom Autor unter Bezugnahme auf Erich Hoffmann, Spätmittelalter und Reformationszeit (Geschichte Schleswig-Holsteins 4,2), Neumünster 1990, S. 4 f., erstellt.

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Abb. 2: Karte zu den für Fehmarn genannten Orten einschließlich der in der Archäologischen Landesaufnahme Schleswig-Holstein verzeichneten Befestigungsreste. 1 Glambek, ALSH Burg auf Fehmarn (Stadt), Kr. Ostholstein, LA-Nr. 57 2 ALSH Burg auf Fehmarn (Stadt), Kr. Ostholstein, LA-Nr. 50 3 ALSH Bannesdorf auf Fehmarn, Kr. Ostholstein, LA-Nr. 100 4 ALSH Westfehmarn, Altgemeinde Petersdorf, Kr. Ostholstein, LA-Nr. 61 5 Burg auf Fehmarn 6 Petersdorf 7 Bannesdorf 8 Staberhof Nachweis: Die Karte wurde vom Autor unter Bezugnahme auf eine Vorlage von Katja Hillebrand erstellt.

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11. bis 13. Jahrhundert Die ersten schriftlichen Informationen zu Fehmarn, nicht zuletzt zur slawischen Besiedlung, erhalten wir mit den Berichten Adams von Bremen (um 1075) und Helmolds von Bosau (um 1160).8 Die laut Wolfgang Laur altslawischen Wurzeln des Namens Glambek, was „Burger Tief “ oder „Burgtiefe“ heißt, lassen keine Rückschlüsse auf die damalige Existenz einer Befestigung am selben Platz zu.9 Für die kommenden Jahrzehnte liegen kaum Nachrichten vor. Dem dänischen König Waldemar II. gelang Anfang des 13. Jahrhunderts die Ausdehnung seines Herrschaftsgebiets bis zur Elbe, doch bleibt unklar, ob nun erst auf Fehmarn ein dänischer Einfluss wirkmächtig wurde.10 Nach der Niederlage in der Schlacht von Bornhöved 1227 konnten die Ansprüche des Dänenkönigs südlich der Eider nicht aufrechterhalten werden.11 Anders war dies offenbar auf Fehmarn, wo sein Einfluss auch nach 1227 nachvollzogen werden kann.12 Glambek und seine herrschaftliche Funktion sind für diese Zeit vorsichtig zu bewerten, zumal sich für die häufig angeführte Errichtung durch Waldemar 1210 kein Beleg findet.13 Auch im Kontext der Eroberung Fehmarns durch König Erik IV. Plovpenning 1248 von den Holsteinern wird die Burg nicht erwähnt.14

14. Jahrhundert 1307 war Fehmarn Schauplatz des sogenannten Glambeker Vergleichs, den der dänische König Erik VI. Menved zwischen den Grafen von Holstein und Stormarn und deren niederadligen Gegnern vermittelte.15 Von den vorliegenden Quellen nennt Arild Huitfeldt konkret Glambek, wohingegen in älteren Texten allgemein   8 Vgl. Wilhelm Koppe und Gert Koppe, Das Land Fehmarn, die Krone Dänemark und Holstein im Mittelalter, in: Grenzfriedenshefte 36 (1989), S. 23‒39, hier S. 24.   9 Vgl. Wolfgang Laur, Historisches Ortsnamenlexikon von Schleswig-Holstein (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 28; Gottorfer Schriften zur Landeskunde Schleswig-Holsteins 8), Neumünster 21992, S. 271. Die Benennung steht eventuell im Zusammenhang mit ALSH, Burg auf Fehmarn (Stadt), Kr. Ostholstein, LA-Nr. 50. 10 SHRU, Bd. 2: 1250–1300, hg. von Paul Hasse, Neumünster 1888, Nr. 295, S. 139 f. (1214 Dez.). 11 Walter Lammers, Das Hochmittelalter bis zur Schlacht von Bornhöved (Geschichte Schleswig-Holsteins 4,1), Neumünster 1981, S. 393‒401. Zur Lage Bornhöveds siehe Abb. 1. 12 Wichtigste Quelle für diese Zeit ist das Erdbuch Waldemars, in dem auch für Fehmarn viele Orte angeführt sind: Kong Valdemars Jordebog, Bd. 1: Text, hg. von Svend Aakjær, Kopenhagen 1925‒1943, S. 50‒52. Vgl. Günther Wolgast, Landesherrschaft und kommunale Selbstregierung auf der Insel Fehmarn. Ein Beitrag zum Verhältnis landesherrlicher Administration und autonomer bäuerlicher Rechtsgemeinden (unpubl. Diss. Hamburg 1974), S. 43‒48; Koppe/ Koppe, Land, S. 26. 13 Vgl. Madsen, Glambek, S. 244. 14 Arild Huitfeldt, Chronologia I. Fra Knud VI til Erik Glipping (Danmark Riges Krønike), Kopenhagen 1600 [ND Kopenhagen 1977], S. 185. 15 Vgl. Johannes Voß, Chronikartige Beschreibung der Insel Fehmarn, Bd. I, Burg auf Fehmarn 1889, S. 38‒40; Haupt, Burgenbau, S. 81.

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auf die Insel verwiesen wird.16 Die erste gesicherte urkundliche Erwähnung der Burg erfolgt 1318 in einem durch den Bischof von Schwerin ausgehandelten Vertrag Eriks VI. Menved mit seinem vormaligen Truchsess Nicolaus Olafson, wobei „Wernemunde, Stekeborg et Glambeke super Ymbriam“ als „municiones“ genannt werden.17 Der Adlige erhielt die drei Befestigungen als Pfand für die Rückzahlung der königlichen Schulden, doch ist unklar, wie lange er sie behielt.18 Nach dem Tod Eriks 1319 sicherte sich dessen jüngerer Bruder Christoph II. die Unterstützung seines jüngeren Halbruders, Graf Johann III. von Holstein-Plön, für die Königswahl mit dem Versprechen, diesem Fehmarn zu überlassen.19 Seine in der kurz darauf ausgestellten Handfeste gemachte Zusage, keinem Deutschen Burgen oder Länder in Dänemark zu überantworten, stand dazu jedoch im Widerspruch.20 Vermutlich deshalb bekam Johann weder Fehmarn noch Glambek ausgehändigt.21 Wohl aufgrund des gebrochenen Versprechens unternahm der Graf Schritte zu einer gewaltsamen Gewinnung der Insel.22 Der Konflikt konnte jedoch durch teils drastische Maßnahmen des Königs auf Fehmarn zunächst befriedet werden.23 Nicht zuletzt erließ er Anfang der 1320er Jahre für Fehmarn ein Landrecht, das Glambek eine besondere Rechtsstellung einräumte.24 Demnach sollten drei Gerichtsplätze bestehen, einer beim Ort Burg, ein zweiter in Petersdorf, ein dritter eben bei der Burg

16 Arild Huitfeldt, Chronologia II. Fra Erik Menved til Valdemar Atterdag (Danmark Riges Krønike), Kopenhagen 1601 [ND Kopenhagen 1977], S. 93 f.; III. Detmar-Chronik von 1101‒1395 mit der Fortsetzung von 1395‒1400, hg. von der Historischen Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Lübeck, Bd. 1 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 19), Leipzig 1884, S. 187‒597, hier S. 402 f., § 441; Annales Lubicenses, hg. von Johann Martin Lappenberg, in: MGH SS 16, Hannover 1859, S. 411‒429, hier S. 420; Die Chronica Novella des Hermann Korner, hg. von Jakob Schwalm, Göttingen 1895, S. 213 f. Bericht Lübecker Gesandter ohne explizite Erwähnung der Burg: Urkundenbuch der Stadt Lübeck [UBStL], Bd. 2, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1858, Nr. 216, S. 186 (o. J. Mai 10). 17 Urkundensammlung der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für Vaterländische Geschichte, Bd. 2 (SHUS 2), Kiel 1842‒1858, Nr. 130, S. 152‒154 (1318 Aug. 15). Zur Lage des damit angesprochenen Warnemünde vgl. Abb. 1. 18 Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 42 f. 19 III. Detmar-Chronik, S. 438, § 507; Annales Lubicenses, S. 427 f. Vgl. Koppe/Koppe, Land, S. 28. 20 Den danske rigslovgivning indtil 1400, hg. von Erik Kroman, Munksgaaard 1971, Nr. 22, S. 185‒192 (1320 Jan. 25). Vgl. Koppe/Koppe, Land, S. 28. 21 III. Detmar-Chronik, S. 440, § 508; Annales Lubicenses, S. 427 f. 22 SHRU, Bd. 3: 1301‒1340, hg. von Paul Hasse, Hamburg 1896, Nr. 437, S. 238 f. (1321 Febr. 4). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 44. 23 Hinrichtung angeblicher Anhänger Johanns auf Fehmarn: III. Detmar-Chronik, S. 441, § 515; Annales Lubicenses, S. 428. Treueschwur der Einwohner gegenüber der Krone Dänemarks: SHRU 3, Nr. 431, S. 235 (1320 Dez. 6). 24 Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 47; Wolgast, Landesherrschaft, S. 67‒76.

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Glambek.25 Dort sollte unter dem Vorsitz des Vogtes ein durch diesen ernanntes Dreimännergericht tagen.26 Nach dem Tod Herzog Erichs II. von Schleswig 1325, für dessen erst zehnjährigen Sohn Waldemar V. sowohl Christoph II. als auch Gerhard III. von Holstein-Rendsburg die Vormundschaft beanspruchten, brach der alte Konflikt indes wieder aus.27 Denn Johann unterstützte seinen Vetter Gerhard und nutzte dessen Sieg offenbar zur Besetzung Fehmarns.28 Dies wurde durch den unter der Vormundschaft Gerhards stehenden Waldemar III., der dem abgesetzten Christoph als Waldemar V. von Dänemark nachgefolgt war, bestätigt.29 Johann ergriff nun Maßnahmen, um seinen Anspruch zumindest auf die Insel herauszustellen.30 Von der Rechtsveränderung, die mit der Verleihung des neuen Landrechts 1326 einherging, war Glambek direkt betroffen, findet doch das dortige Gericht anders als jene in Petersdorf und Burg keine Erwähnung mehr.31 Womöglich wurde es von den Fehmeranern als Herrschaftsinstrument abgelehnt – seine Abschaffung passt zur Tendenz der Abmilderung von Strafen und Einräumung von Freiheitsrechten in diesem Dokument.32 Das Versprechen, „nene veste in dem lande to buwende als alze dar buwet is“, also keine weitere Burg neben Glambek zu errichten, ist eine Form der Burgenbauverbote, wie sie etwa in den Privilegien Hamburgs und Lübecks begegnen.33 Für weitere Gebiete liegen Zusagen Johanns vor, keine Burg oder Befestigung zu errichten oder auszubauen beziehungsweise deren Errichtung zu unterbinden.34 Der Artikel für Fehmarn stellt mithin keineswegs eine Ausnahme dar und ist wohl eine wesentliche Ursache für die dortige, eingangs skizzierte Burgenarmut.35 25 SHRU 3, Nr. 433, S. 235‒237 [1320‒1321]. Das Gericht bei der Burg Glambek sollte nur auf besondere Veranlassung des Vogtes tagen. Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 47; Wolgast, Landesherrschaft, S. 72. Zur Lage aller Gerichtsplätze vgl. Abb. 2. 26 SHRU 3, Nr. 433, S. 235‒237 [1320‒1321]. 27 Vgl. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 166; Koppe/Koppe, Land, S. 30. 28 Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 44. 29 Johann wurde zudem mit Lolland, Falster und Fehmarn belehnt, Gerhard mit dem Herzogtum Schleswig. Siehe dazu auch Abb. 1. 30 So ist die Insel mehrfach Teil der Titulatur Johanns III.: SHRU 3, Nr. 606, S. 340 (1327 Febr. 2), Nr. 903, S. 515 f. (1335 Sept. 28), Nr. 982, S. 565 (1338 Apr. 14). Sein Sohn Adolf VII. begegnet als „dominus terre Ymbrie“: SHRU, Bd. 6,1: 1376‒1389, hg. von Werner Carstens, Neumünster u. a. 1962‒1971, Nr. 228, S. 141 f. [vor 1378 Okt. 18], Nr. 229, S. 141 f. (1378 Okt. 18), Nr. 442, S. 294 f. (1382 Nov. 4). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 50. 31 Urkundensammlung der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte, Bd. 3,2: Fehmarnsche Urkunden und Regesten (SHUS 3,2), Kiel 1880, Nr. 13, S. 5‒7 (1457 Jan. 3). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 47; Wolgast, Landesherrschaft, S. 76‒81, zum ergänzenden Charakter S. 77. 32 Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 48; Wolgast, Landesherrschaft, S. 77. 33 Vgl. Zangel, Castrum, S. 240‒250. 34 Vgl. ebd. 35 Mit der bis ins 16. Jahrhundert regelhaften Bestätigung der Urkunde Johanns durch seine Nachfolger behielt diese Regelung Gültigkeit, siehe etwa für Adolf VII.: SHRU 4, Nr. 1125 (1365 Juni 12). Vgl. auch Abb. 2.

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Die ausdrückliche Unterwerfung vieler Fehmeraner erfolgte erst 1329, was einen vorher noch bestehenden Widerstand gegen die gräfliche Herrschaft vermuten lässt.36 Johann setzte Glambek indes bereits 1327 im Vertrag mit Herzog Erich I. von Sachsen-Lauenburg über die Vermählung seiner Tochter Agnes mit dessen Sohn Erich II. als Sicherheit ein.37 Bis zur Zahlung der Mitgift von 2.000 Mark Silber wollte er Erich II. entweder die Burg zu Fehmarn oder die Steinburg in der Kremper Marsch mit jährlichen Einkünften von 200 Mark überlassen.38 Anders als Glambek sollte Fehmarn also weitgehend im Besitz des Grafen verbleiben.39 Unklar bleibt, inwieweit diese Regelungen zur praktischen Ausführung kamen. Als Waldemar III. 1329 als König abgesetzt wurde, erkannte Christoph II., der zugleich dessen Vorgänger und Nachfolger war, den Anspruch Johanns III. auf Fehmarn an.40 Auch Waldemar IV. Atterdag, der nach achtjährigem Interregnum seinem 1332 verstorbenen Vater auf den dänischen Thron folgte, war zunächst zu einem Ausgleich mit den Grafen bereit und bestätigte den Anspruch Johanns.41 Bald jedoch kam es zu Konflikten mit dem König, die sich zwangsläufig aus dessen Versuchen ergaben, den gräflichen Einfluss im Norden zurückzudrängen.42 Zahlreiche Urkunden weisen auf die Bedeutung Fehmarns, das 1358 von Waldemar erobert wurde, in diesem Kontext hin.43 Dies gilt nicht zuletzt für die im Zuge der Gründung des Klosters Ahrensbök entstandenen Schriftstücke, dessen Stiftung auf ein gräfliches Versprechen vor dem gelungenen Rückeroberungsver36 SHRU 3, Nr. 689, S. 393 f. (1329 Juli 1). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 50. 37 Glambek ist dabei als „dat slot to vemeren“ angesprochen: Urkundenbuch [UB] zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande, Tl. 7: Vom Jahre 1390 bis zum Jahre 1394, hg. von Hans Friedrich Georg Julius Sudendorf, Hannover 1871, Nr. 6 in der Anmerkung, S. 64 (1327 März 22). Vgl. Günther Bock, Studien zur Geschichte Stormarns im Mittelalter (Stormarner Hefte 19), Neumünster 1996, S. 171‒173; Frederic Zangel, „unse slot Trittow“. Das Schloss auf der Trittauer Krim im Wandel der Zeit (1326‒1775), Kiel 2013, S. 17 f. 38 UB zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 7, Nr. 6 in der Anmerkung, S. 64 (1327 März 22). Zu Fehmarn als Heiratsgabe siehe die Urkunde Eriks V. Glipping zur Hochzeit eines seiner Söhne mit einer Tochter Albrechts I. von Braunschweig, wobei Glambek keine Erwähnung findet: SHRU 2, Nr. 539, S. 215 f. (1278 März 15). 39 UB zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 7, Nr. 6 in der Anmerkung, S. 64 (1327 März 22). Gleiches galt für die Steinburg und die zugehörige Vogtei. 40 SHRU 3, Nr. 705, S. 401‒404 (1329 Nov. 12). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 51. Eine Belehnung war bereits zuvor erfolgt: SHRU 3, Nr. 666, S. 378 (1328 Nov. 30). 41 SHRU 3, Nr. 1072, S. 631‒633 (1340 Mai 23). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 56; Koppe/Koppe, Land, S. 32. 42 Vgl. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 182‒196. 43 Erneuter Treueschwur der Fehmeraner gegenüber Johann: SHRU 4, Nr. 358, S. 248 (1349 Apr. 25). Waffenstillstand und Verbot von Überfällen Waldemars und seiner Leute auf Fehmarn und weitere Inseln: Ebd., Nr. 585, S. 380 f. (1354 Juni 16). Bestätigung Waldemars über Fehmarn als Besitz Johanns: Ebd., Nr. 594, S. 388 f. (1353 Sept. 4). Verzicht Johanns auf Erbgüter in Dänemark und Bestätigung seines Besitzes von Fehmarn: Ebd., Nr. 600, S. 394 f. (1353 Nov. 22). Erklärung der Ungültigkeit der Urkunden Waldemars und seiner Vorgänger durch Johann und seinen Sohn Adolf mit Ausnahme der auf Fehmarn bezugnehmenden Dokumente: Ebd., Nr. 728, S. 472 f. (1357 Mai 6). Bericht Johanns und Adolfs über die Eroberung Fehmarns durch Waldemar: Ebd., Nr. 808, S. 523 [1359 vor März 31].

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such zurückgeht.44 Die Urkundung Adolfs 1360 „in terra Ymbrie“ lässt vermuten, dass sich die Insel faktisch wieder in seinem Besitz befand, was durch die offizielle Belehnung 1364 rechtlich abgesichert wurde.45 Im Jahr darauf bestätigte der Graf das von seinem Vater 1326 gegebene Landrecht und bekräftigte so auch die Zusage, keine weitere Burg zu errichten.46 Für Glambek finden sich weiterhin nur wenige urkundliche Erwähnungen, 1361 wurde es gemeinsam mit der ganzen Insel wiederum als Sicherheit bei Geldgeschäften eingesetzt.47 Freilich lässt die Urkunde, mit der Adolf VII. und dessen Mutter Mirislawa Rudolf Dynappele Glambek mit Fehmarn zur Begleichung ihrer Schulden als Sicherheit in Aussicht stellten, keine Aussagen zu, ob sich die Burg bereits im Besitz dieses Vogtes befand.48 Im Kontext der Beschlagnahmung von im Besitz Lübecker Bürger befindlichen Heringen finden zu Beginn der 1360er Jahre Dietrich Hoke und Heinrich Breide als Glambeker Amtmänner Erwähnung.49 Auf eine Verpfändung Fehmarns an die Lübecker weist womöglich die Pfandurkunde bezüglich Stormarns mit der Burg Trittau und der Stadt Oldesloe 1375 hin, wobei Glambek ebenfalls nicht erwähnt wird.50 Eine Chronik dänischer Provenienz stellt die Bedeutung der Burg für die Kontrolle Fehmarns heraus, als Waldemar IV. 1358 gegen die Schauenburger und den mit diesen verbündeten Herzog von Schleswig vorging.51 Weil der „Capitaneus autem castri Glambeck“ angesichts der dänischen Überlegenheit die Flucht ergriff, gelang die Übernahme der Burg, die Waldemar befestigen ließ und einem seiner Großen

44 Dazu etwa der Bericht im Registrum hure des Klosters: Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 10: Kloster Ahrensbök 1328‒1565, bearb. von Wolfgang Prange (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 23), Neumünster 1989, Nr. 300, S. 173 (o. J.). Zum Zusammenhang der Klostergründung mit der Rückeroberung Fehmarns Oliver Auge, Ahrensbök, in: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, Bd. 1, hg. von Dems. und Katja Hillebrand, Regensburg 2019, S. 143‒176, hier S. 143 f. Zur Lage von Ahrensbök vgl. Abb. 1. 45 SHRU 4, Nr. 872, S. 559 f. (1360 Juni 2); SHUS 2, Nr. 204, S. 265‒267 (1364 Febr. 28). 46 SHRU 4, Nr. 1125, S. 711 (1365 Juni 12). 47 SHRU 4, Nr. 939, S. 598 (1361 Okt. 1). 48 Der in der vorigen Anmerkung genannten Quelle zufolge durfte der Vogt die Einnahmen aus der Vogtei zur Begleichung der Schulden nutzen. Glambek und Fehmarn sollten ihm zufallen, falls er als Vogt abgesetzt würde. Wo er Vogt war, bleibt unklar. Anders Voß, Fehmarn I, S. 61, der von einer sofortigen Übergabe Fehmarns ausgeht. 49 UBStL, Bd. 3, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1871, Nr. 483, S. 515 f. (1361‒1363). 50 UBStL, Bd. 4, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1873, Nr. 257, S. 274‒276 (1375 Juli 13). 51 Vgl. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 198 f.; Esben Albrectsen, Das Abel-Geschlecht und die Schauenburger als Herzöge von Schleswig, in: Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. von Carsten Porskrog Rasmussen u. a., Neumünster 2008, S. 52‒71, hier S. 62.

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übertrug.52 Die Chronica Novella hingegen berichtet, freilich ohne Glambek zu erwähnen, von der Eroberung Fehmarns durch den dänischen König und weist mit 1364 und 1378 zwei unrichtige Jahreszahlen aus.53 Anders als im dänischen Reich gelang auf der Insel bis zum Tod Waldemars 1375 keine dauerhafte Wiederherstellung der Königsmacht.54 Nach dem Absterben der Plöner Linie mit dem Ableben Adolfs VII. 1390 findet Fehmarn im Kontext der folgenden Einigung der verbleibenden zwei Linien Erwähnung, als die Pinneberger den dortigen Adel zur Huldigung gegenüber den Rendsburgern aufforderten.55 Im Teilungsvertrag von 1397 innerhalb besagter Linie begegnet zunächst Fehmarn als eigenes Land neben Holstein und Stormarn, dann auch gemeinsam „mit deme slote Glambeke“.56 Beides fiel Graf Gerhard VI. von Holstein-Rendsburg zu, der als Gerhard II. zugleich Herzog von Schleswig war.57

15. Jahrhundert Nach dem Tod Gerhards 1404 erzwang dessen jüngerer Bruder Heinrich III., der Elekt von Osnabrück, 1406 von der Herzoginwitwe Elisabeth die Herausgabe Fehmarns „myd dem sclote Glambeke“ sowie Oldenburgs mit dem dortigen Hof auf sechs Jahre.58 Dabei wurde dem Adel für die Stelle des Glambeker Burghauptmanns das Indigenatsrecht eingeräumt.59 Die Herrschaft der Schauenburger auf Fehmarn und im Herzogtum Schleswig wurde durch den skandinavischen Unionskönig Erik VII. grundlegend infrage ge-

52 Annales Danorum et praecipue Sialandorum, hg. von Johann Martin Lappenberg, in: Archiv für Staats- und Kirchengeschichte der Herzogthümer Schleswig, Holstein, Lauenburg und der angrenzenden Länder und Städte 2 (1834), S. 214‒226, hier S. 218. Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 56‒58. 53 Chronica Novella, S. 72 und S. 280. 54 Vgl. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 199‒207. 55 SHRU 6,2, Nr. 871, S. 618 (1390 Apr. 4). Vgl. Hoffmann, Spätmittelalter, S. 225. 56 SHRU 6,2, Nr. 1345 und Nr. 1346, S. 925‒932 (beide 1397 Aug. 28). 57 Zur Belehnung Gerhards mit dem Herzogtum 1386 vgl. Frederic Zangel, Landesherr und Ritterschaft während des Konflikts um das Herzogtum Schleswig (1410–1435), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 136 (2011), S. 39‒66, hier S. 41. 58 Diplomatarium Danicum, Nr. 14060101001 (1406 Jan. 1), 2010, http://diplomatarium.dk/dokument/14060101001 (4.3.2020). Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 64. Vgl. SHUS 3,2, Nr. 6, S. 2 (o. J.), mit Anm. 1. Ein Hof bei Oldenburg wird bereits zuvor erwähnt: SHRU 3, Nr. 296, S. 153 f. (1314 Juni 7). Vgl. dazu Zangel, Castrum, S. 623. Zum Tod Gerhards vgl. Ders., Landesherr, S. 45; Hoffmann, Spätmittelalter, S. 228 f. Zum Stammbaum der Schauenburger siehe Detlev Kraack, Die frühen Schauenburger als Grafen von Holstein und Stormarn (12.‒14. Jahrhundert), in: Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. von Carsten Porskrog Rasmussen u. a., Neumünster 2008, S. 29‒51, hier S. 50 f. 59 Diplomatarium Danicum, Nr. 14060101001 (1406 Jan. 1), 2010, http://diplomatarium.dk/dokument/14060101001 (4.3.2020).

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stellt, der feststellte, „Femern tilhører Gud og Danmarks krone og os“.60 Die Chronik der nordelbischen Sassen gibt hingegen die holsteinische Position wieder, dass „dat lant to Uemeren […] heft alletyt unde jewerlde gehoret unde gehoret noch to deme lande to Holsten.“61 Ihr zufolge eroberte der König die Insel 1416 und legte auf Glambek eine starke Besatzung.62 Mehrere Lübecker Chronisten datieren die Eroberung auf den 6. Juni und berichten nicht nur von der Einrichtung einer Besatzung, sondern auch von einem Ausbau der Burg im selben Zuge.63 Laut dem Presbyter Bremensis und Johann Petersen erfolgte eine Belagerung und Eroberung der Burg sowie die Gefangennahme des Amtmanns Heinrich Rathlau.64 Einem diplomatischen Bericht nach hofften Lübecker Gesandte kurz nach dieser Einnahme, den König noch auf Glambek anzutreffen, womit die Bedeutung der Anlage als Kommunikationsort deutlich wird, an dem Informationen über den Aufenthaltsort des Besitzers gewonnen werden konnten.65 Laut Hermann Korner hatte Erik die Burg bereits nach wenigen Tagen wieder verlassen und 20 Großen überlassen.66 Sie musste indes wie Fehmarn nach einer Belagerung durch die Holsteiner wieder herausgegeben werden, da ein Entsatz aufgrund des harten Winters nicht möglich war.67 Die Chronica Novella berichtet von einer etwa siebenwöchigen Einschließung mit schwerem Kriegsgerät und der Gefangennahme der Burgbesatzung, wobei es auch zu zwei Hinrichtungen kam.68 Freilich gelang es Erik 1420 nochmals, die Insel in seinen Besitz zu bringen, wovon der aus Burg auf Fehmarn gebürtige Kieler Professor Christian Kortholt, der sich seinerseits auf ältere Quellen stützte, den wohl bekanntesten Bericht lie60 Diplomatarium Danicum, Nr. 14210523001 (1421 Mai 23), 2016, http://diplomatarium.dk/dokument/14210523001 (4.3.2020). Zum Konflikt um Schleswig allgemein vgl. Zangel, Landesherr; Markus Hedemann, Danmark, Slesvig og Holsten 1404‒1448. Konflikt og konsekvenz (Skrifter. Historisk Samfund for Sønderjylland 114), Apenrade 2018. 61 Die Chronik der nordelbischen Sassen, hg. von Johann Martin Lappenberg (Quellen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 3), Kiel 1865, S. 116. 62 Ebd. 63 Der sog. Rufus-Chronik zweiter Theil von 1395‒1430, hg. von der Historischen Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, in: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Lübeck, Bd. 3 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 28), Leipzig 1902, S. 1‒342, hier S. 80 f., § 1246; Chronica Novella, S. 119. 64 Chronicon Holtzatiae auctore Presbytero Bremensis Dioecesis, hg. von Johann Martin Lappenberg, in: MGH SS 21, Hannover 1869, S. 253‒306, hier cap. 36, S. 294; Johann Petersen, Chronica der Lande zu Holsten, Stormarn, Ditmarschen und Wagern, Zeitbuch […], Frankfurt a. M. 1557, S. 122; Christian Kortholt, Femaria desolata, oder historische Beschreibung, was gestalt für drittehalb hundert Jahren die Insul Femern vom König Erichen jämmerlich zerstöhret worden, Hamburg 1695, S. 26‒30. 65 UBStL, Bd. 6, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1881, Nr. 592, S. 661‒673, hier S. 661 (1416 Juli 20–Aug. 4). Anders als in Glambek angegeben, traf man allerdings den König in der Schleimündung nicht an. 66 Chronica Novella, S. 119. 67 Chronicon Holtzatiae, cap. 41, S. 300; Petersen, Chronica, S. 122. Vgl. Madsen, Glambek, S. 248. 68 Chronica Novella, S. 122, 399 f.

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fert.69 Hermann Korner, der Presbyter Bremensis oder Johann Petersen betonen die Erbarmungslosigkeit der Angreifer und erwähnen Vergewaltigungen wie auch Priestermord.70 Die Holsteiner Grafen führen in einem Schreiben an den Markgrafen Friedrich von Brandenburg Kindsmord als weitere Untat an.71 Mit Sicherheit überzeichnet ist das in Sagen und Märchen überlieferte Bild von nur drei Überlebenden.72 Glambek nimmt hinsichtlich der Rezeption gegenüber diesen Gräueltaten eine untergeordnete Stellung ein und findet im gräflichen Brief ebenso wenig Erwähnung wie in einer Nachricht Eriks an die Lübecker.73 Johann Petersen wie auch Hermann Korner verweisen nur kurz auf die Eroberung und Befestigung Glambeks durch die Dänen sowie das Scheitern der Belagerung durch die zwischenzeitlich zurückgekehrten Holsten.74 Der Presbyter Bremensis nennt die Burg gar nicht und datiert die Ereignisse fälschlicherweise ins Jahr 1417.75 Obschon die Schauenburger etwa 1421 und 1423 die Herausgabe einforderten, erfolgte die Rückgewinnung Glambeks nicht auf dem Verhandlungswege.76 Eine genaue Datierung ist schwierig, wenngleich eine Urkunde Adolfs VIII. vom 12. März 1424 darauf schließen lässt, dass der Herzog nun zumindest die Insel wieder kontrollierte.77 Er sicherte damit den Vertriebenen von 1420 für deren Rückkehr die Einhaltung der alten Privilegien sowie Steuerfreiheit auf fünf Jahre zu.78 Die Chronica Novella datiert die Eroberung Glambeks ins Jahr 1426 und schreibt holsteinischen Adligen die Initiative zu.79 Möglicherweise handelt es sich um eine Fehldatierung um zwei Jahre, vielleicht wurde die Insel aber in der Zwischenzeit von den Schauenburgern kontrolliert, die Burg hingegen (noch) nicht.80 Mit einer List sollen die Angreifer, die beim nächtlichen Angriff auf Glambek weit hörbar verlauten ließen, bald Unterstützung von den Lübeckern und Hamburgern zu erhalten, die Burgbesatzung zur Übergabe bewegt haben.81 Die Chronica Novella nennt neben holsteinischen Adligen die „Vitalianis“ als Beteiligte.82 Inwieweit hiervon auf eine längerfristige Kontrolle sowohl Glambeks wie auch der 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Kortholt, Femaria, mit Ausführungen auch zur Vorgeschichte. Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 67 f. Chronica Novella, S. 431; Chronicon Holtzatiae, cap. 42, S. 300 f.; Petersen, Chronica, S. 122 f. UBStL 6, Nr. 238, S. 274 f. (o. J. Aug. 1). Voß, Fehmarn I, S. 79. UBStL 6, Nr. 314, S. 343 f. (1421 März 10) Chronica Novella, S. 431; Petersen, Chronica, S. 123. Chronicon Holtzatiae, cap. 42, S. 300 f. Diplomatarium Danicum, Nr. 14210526001 (1421 Mai 26), 2018, http://diplomatarium.dk/dokument/14210526001 (25.3.2020); ebd., Nr. 14230000046 [1423 Jan. 1–Febr. 2], 2018, http:// diplomatarium.dk/dokument/14230000046 (28.3.2020). Ebd., Nr. 14240312001 (1424 März 12), 2018, https://diplomatarium.dk/dokument/14240312001 (30.3.2020). Ebd. Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 80 f. Chronica Novella, S. 473. Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 81; Madsen, Glambek, S. 249. Petersen, Chronica, S. 131 (Datumsangabe 28.10.1426); Chronica Novella, S. 473, 548. Nach der letztgenannten, niederdeutschen Bearbeitung führten die Angreifer mit sich „bussen unde ledderen unde anderen tuge, dat nutte is slote to wynnende.“ Chronica Novella, S. 473.

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gesamten Insel durch die Vitalienbrüder geschlossen werden kann, wie dies in der Literatur geschieht, ist unklar, da es hierzu an weiteren Belegen fehlt.83 Im Entwurf einer Teilung zwischen Adolf VIII. und seinem jüngeren Bruder Gerhard VII. vom Ende der 1420er Jahre wird auf einen Besitzanspruch Dritter auf Burg und Insel nicht Bezug genommen, vielmehr wird „dat land to Vemern mid dem Glambeke“ nun offenbar Holstein und Stormarn zugerechnet.84 Zu Beginn der 1430er Jahre liegen nochmals Hinweise auf eine größere dänische Flottensammlung im Seegebiet um Fehmarn vor, das jedoch bis zum Ende des Konfliktes mit dem Frieden von Vordingborg 1435 nicht mehr Schauplatz von Kampfhandlungen wurde.85 Herzog Adolf VIII. verpfändete 1437 für 18.000 Mark lübisch „vnse slot Glambeke vnde de gantsen herschop, de wy hebben in dem ganzen vnsem lande Vemeren.“86 Baumaßnahmen an der Burg sollten durch Gesandte des Pfandgebers überwacht und nach der Auslösung die Baukosten gemeinsam mit der Pfandsumme den Lübeckern zurückerstattet werden.87 Konflikte zwischen Pfandgeber und Pfandnehmer sollten auf den Pfandbesitz keine Auswirkungen haben.88 Bei einer Eroberung von Burg und Insel durch Dritte war ersterer zudem verpflichtet, diese wieder in den Besitz der Lübecker zu bringen.89 Wie auch beim Passus, dass die Auslösung des Pfandes ein Jahr zuvor anzukündigen sei, finden sich vergleichbare Regelungen in den späteren Pfandbriefen von Adolfs Neffen Christian I.90 Wie bereits die im Pfandbrief geregelte Einbehaltung von 500 Mark lübisch für diesen Zweck vermuten lässt, wurden an der Burg während der Verpfändung Baumaßnahmen durchgeführt und schriftlich fixiert, um die anfallenden Kosten gegenüber dem Pfandgeber nachweisen zu können.91 Eine Auflistung von 1444 ge83 Vgl. Madsen, Glambek, S. 249. 84 Diplomatarium Flensborgense. Samling af Aktstykker til Staden Flensborgs Historie indtil Aaret 1559, Bd. 1, hg. von Hans Christian Paulus Sejdelin, Kopenhagen 1865, Nr. 95, S. 379‒381 (nach 1427). Die Urkunde ist nach dem Tod des ältesten Bruders Heinrich, der 1427 im Zuge der Belagerung Flensburgs fiel, entstanden. Vgl. dazu auch Zangel, Landesherr, S. 51. Für einen Stammbaum der Schauenburger vgl. Kraack, Schauenburger, S. 51 f. 85 Mitteilung des Lübeckers an den Wismarer Rat über eine dänische Flotte bei Fehmarn: UBStL, Bd. 7: 1427‒1440, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1882‒1885, Nr. 387, S. 361 f. (1430 März 6). Bericht der Räte von Heiligenhafen und Oldenburg über Aufenthalt Eriks VII. und seiner Flotte zwischen Heiligenhafen und Fehmarn: Ebd., Nr. 464, S. 445 f. [1431 vor Juli 5]. Zum Vertrag von Vordingborg Hoffmann, Spätmittelalter, S. 256 f. 86 Ebd., Nr. 750, S. 738‒742 (1437 Sept. 8). Vgl. Johann Peter Wurm, Fehmarn unter lübscher Pfandherrschaft 1437‒1491, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 79 (1999), S. 94‒118, S. hier 95 f. Auf diese fundierte Einzelstudie kann im Folgenden immer wieder verwiesen werden. 87 UBStL 7, Nr. 750, S. 738‒742 (1437 Sept. 8). Vgl. Wurm, Fehmarn, S. 96. 88 UBStL 7, Nr. 750, S. 738‒742 (1437 Sept. 8). 89 Ebd. 90 Vgl. zu diesen Frederic Zangel, Die Funktion landesherrlicher Burgen. Eine Untersuchung anhand der Pfandbriefe Christians I. von Dänemark, in: Vergessenes Burgenland SchleswigHolstein. Die Burgenlandschaft zwischen Elbe und Königsau im Hoch- und Spätmittelalter, hg. von Oliver Auge (Kieler Werkstücke A/42), Frankfurt a. M. 2015, S. 233‒249. 91 Vgl. Wurm, Fehmarn, S. 99‒101.

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Frederic Zangel

währt einen Einblick in den damaligen Zustand der Burg, so findet unter anderem die Brustwehr „vmme den nyen torn“ Erwähnung, die Nennung von zwei Mühlen lässt zudem Rückschlüsse auf eine wirtschaftliche Funktion Glambeks zu.92 Auch durch den Ratsherrn Johann Hovemann erstellte Inventare von 1437 und 1440 gestatten einen Einblick in die Baulichkeiten sowie zur Ausstattung der Burg zu Beginn der Pfandschaft.93 Die herrschaftliche Funktion wird deutlich, als 1466 Stellvertreter aller Dörfer und der Stadt Burg neben dem Lübecker Rat auch dem „hovedman tor tijd uppe dem Glambeke wesende“ einen Huldigungseid leisteten.94 Mehrfach begegnet Glambek als Urkundungsort der von Lübeck eingesetzten Interessensverwalter auf der Insel.95 1457 erklärten der Rat und die Kämmerer der Stadt Burg sowie die Geschworenen des Landes Fehmarn ihre Bereitschaft, „harnsche etc.“ anzuschaffen „vnde deme vogede vp dem Glambeke bystant to donde.“96 Als Fehmarn mit der Erbteilung von 1490 an König Johann I. von Dänemark fiel und dieser sogleich die Auslösung des Pfandes fristgerecht ankündigte, gelang eine Einigung über die Rückzahlung der von den Lübeckern auf etwa 4.400 Mark lübisch veranschlagten Baukosten, wie sie die Pfandurkunde von 1437 vorsah, zwar nicht.97 Dennoch erfolgte die Rückgabe des Pfandes, zuvor vereinbarte Nachverhandlungen über die Rückerstattung fanden hingegen nicht statt.98 In die Zeit der Lübecker Pfandschaft fiel der Dynastiewechsel von den Schauenburgern zu den Oldenburgern 1460, womit sie möglicherweise ein Grund dafür ist, dass Fehmarn sowohl in den Quellen als auch in der Literatur zum Vertrag von Ripen und dessen Folgen wenig thematisiert wird.99 Von der Zusage Christians I.,

92 UBStL, Bd. 8: 1440‒1450, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1889, Nr. 270, S. 318‒320 (1444). Vgl. Wurm, Fehmarn, S. 100; Zur wirtschaftlichen Funktion von Burgen allgemein vgl. Zangel, Castrum, S. 194‒210. 93 AHL, ASA Externa, Deutsche Territorien, Nr. 4283 (1440 Juli 13): Ratsherr Johann Hovemann: Inventare des Schlosses Glambek 1437 und 1440: Chirograph. 94 UBStL, Bd. 11: 1466‒1470, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1905, Nr. 68, S. 68 (1466 Apr. 30). Vgl. auch ebd., Nr. 138, S. 142 (1466 Aug. 30). 95 UBStL, Bd. 9: 1451‒1460, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1893, Nr. 840, S. 874 (1460 Mai 28); UBStL, Bd. 10: 1461‒1465, hg. vom Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1898, Nr. 58, S. 57 (1461 Juni 23), Nr. 152, S. 155 (1462 März 19), Nr. 178, S. 186 f. (1462 Mai 31), Nr. 299, S. 311 (1463 März 22), Nr. 437, S. 462 (1464 Jan. 27), Nr. 541, S. 554 (1464 Nov. 21); UBStL 11, Nr. 79, S. 78 f. (1466 Mai 27) und Nr. 176, S. 181 f. (1466 Okt. 20). Glambek als Sitz des Verwalters im Konflikt um dessen Eingriffe in die Jurisdiktionsbefugnisse der Geistlichen auf Fehmarn: UBStL 10, Nr. 209, S. 218 f. (vor 1462 Aug. 15), Nr. 210, S. 219 f. (1462 Aug. 15). 96 UBStL 9, Nr. 796, S. 826 (1459 Dez. 21). 97 Vgl. Wurm, Fehmarn, S. 115 f. 98 Ebd., S. 116. 99 Zum Vertrag von Ripen vgl. Oliver Auge und Burkhard Büsing (Hg.), Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa (Kieler Historische Studien 43; zeit + geschichte 24), Ostfildern 2012.

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die Schulden seines Onkels zu übernehmen und Pfandgut nur mit eigenem Gelde auszulösen, waren die Insel wie auch Glambek jedenfalls unmittelbar betroffen.100 Das Indigenatsrecht des Adels fand freilich anders als im Falle des später ebenfalls den Lübeckern verpfändeten Kiels oder der den Hamburgern verpfändeten Steinburg nicht durchweg Berücksichtigung.101 Bis 1458 hatte mehrere Jahre Breide Rantzau im Auftrag Lübecks die Verwaltung über „dat slot tom Glambeke“ inne, um dessen Nachfolge sich Klaus Reventlow indes erfolglos bewarb.102 1462 schrieb Christian I. an den Lübecker Rat mit der Bitte, den Ritter Joachim Breide als Verwalter einzusetzen, ohne dabei mit dem Indigenat zu argumentieren.103 Die Hansestadt lehnte eine Verwaltung durch adlige Burghauptmänner nicht grundsätzlich ab, versuchte diese aber vertraglich klar zu regeln.104 Die Verwaltung durch Lübecker Bürger und Ratsherren ist zudem häufiger nachzuvollziehen.105 Zwar hatte sich bereits Christian I. auf Fehmarn huldigen lassen und damit den dortigen Herrschaftsanspruch seiner Dynastie unterstrichen;106 aber erst mit der Wiedereinlösung der Insel mit Glambek durch seinen Sohn Johann wurde dieser Anspruch faktisch durchgesetzt.107 Unter den ersten Oldenburgern ist die Bedeutung der Burg dann noch nachvollziehbar, so bezeichnet sich der durch König

100 Gottfried Ernst Hoffmann, Das Ripener Privileg vom 5. März 1460 und die „Tapfere Verbesserung“ vom 4. April 1460, in: Dat se bliven ewich tosamende ungedelt. Festschrift der schleswig-holsteinischen Ritterschaft zur 500. Wiederkehr des Tages von Ripen am 5. März, hg. von Henning von Rumohr, Neumünster 1960, S. 21‒44, hier S. 28 f. 101 UBStL 10, Nr. 176, S. 184 f. (1462 Mai 24). Vgl. Hans Harald Hennings, Die Wähler von Ripen. Der schleswig-holsteinische Rat um 1460, in: Dat se bliven ewich tosamende ungedelt. Festschrift der Schleswig-Holsteinischen Ritterschaft zur 500. Wiederkehr des Tages von Ripen am 5. März 1960, hg. von Henning von Rumohr, Neumünster 1960, S. 65‒100, hier S. 74. 102 UBStL 9, Nr. 390, S. 390‒392 (1456 Nov. 10) erlaubt Aussagen bezüglich der Einnahmen und Erträge, die Glambek etwa aus der Fehmeraner Fischerei zustanden. Im Falle eines Verlustes des Pfandes in Folge eines Konfliktes sollte Lübeck für die Wiederinbesitznahme sorgen, sofern es in besagte Auseinandersetzung involviert war. Beim Verlust während einer Fehde Breides war dieser für die Rückerlangung verantwortlich. Die Vereinbarung wurde mit Zustimmung Adolfs VIII. getroffen, der für den Fall von Breides Tod gemeinsam mit einigen Rittern und Knappen versprach, eine Herausgabe des Pfandes an die Lübecker zu gewährleisten. Vgl. auch UBStL 9, Nr. 550, S. 544 (1457 Okt. 17), zur Erhebung der Abgaben. Zur erfolglosen Bewerbung AHL, ASA Externa, Nr. 4298 [1458 Apr. 14]: Clawes Reventlow an Lübeck: Gesuch um die Nachfolge von Breyde Rantzau [d. J.] in der Verwaltung von Schloß und Vogtei Glambek; ebd., Nr. 4299 (1458 Sept. 29): Einsetzung eines neuen Bauervogtes auf Staberhof im Zuge der Übergabe von Schloß und Vogtei Glambek durch Breyde Rantzau [d. J.] an Thomas Morkerke. 103 UBStL 10, Nr. 176, S. 184 f. (1462 Mai 24). Vgl. Hennings, Wähler, S. 74. Als Grund nennt er vielmehr, dass dieser Rat Nachrichten nach und aus Dänemark zuverlässig weiterleiten könne. 104 Siehe etwa UBStL 9, Nr. 390, S. 390‒392 (1456 Nov. 10). 105 Siehe dazu auch die Auflistung bei Wurm, Fehmarn, S. 106. 106 Vgl. ebd., S. 98. Auch die Bestätigung älterer Privilegien durch Adolf VIII., mit der er offenbar eine Rückkehr der zuvor durch Erik VII. von Fehmarn Vertriebenen fördern wollte, steht für diesen Zugriff: SHUS 4, Nr. 46, S. 69 f. (1465 Mai 15). 107 Vgl. Wurm, Fehmarn, S. 115 f.

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Johann eingesetzte Marquard von Ahlefeld 1493 als „hovetman uppme Glambeke to Vehmeren“.108

16. und 17. Jahrhundert 1500 verpflichte Johann, der zugleich auch Herzog von Schleswig und Holstein war, die Fehmeraner zum Gehorsam gegenüber dem mit der Verwaltung Glambeks und des ganzen Landes beauftragten Hans Pogwisch und zur Aufstellung eines bewaffneten Aufgebots.109 1514 begegnet Hans Rantzau als Hauptmann zu Glambek, 1522 Henneke von Ahlefeld.110 1523, nach der Vertreibung Christians II. und der Übernahme der Insel, überantwortete Herzog Friedrich I. Burg und Insel an Wulf Sehestedt und verpflichtete die Fehmeraner zum Gehorsam.111 In der Urkunde über die Landesteilung 1544 findet dann jedoch anders als in früheren Dokumenten dieser Art nur „Femern“ Erwähnung, das dem Haderslebener Anteil von Herzog Hans dem Älteren zufiel, Glambek hingegen nicht mehr.112 Über den Verlauf des Fehmeraner Aufstandes 1558, der sich gegen den herzoglichen Amtmann Breide Rantzau oder vielmehr gegen die durch ihn auch auf herzogliches Geheiß hin durchzusetzenden Neuerungen richtete, ist nur wenig bekannt.113 Augenfällig ist die anschließende Verpflichtung der Einwohner Fehmarns, dem dortigen Amtmann ein neues Haus zu errichten.114 Eine Beschädigung Glambeks im Zuge der Erhebung ist freilich nicht anzunehmen, vielmehr dürfte es bereits zuvor derart verfallen gewesen sein, dass es selbst für die kurzzeitigen Aufenthalte der Amtmänner auf der Insel weder als Wohn- noch als Amtssitz ausreichte.115 Auch der Erlass eines neuen Landrechtes und, soweit sie diesem nicht zuwiderliefen, die Bestätigung der älteren Privilegien durch Hans folgten dem gescheiterten Aufstand.116 Inwieweit die seit 1326 bestehende Zusage, auf der Insel keine weiteren Burgen zu errichten, bei der Bestätigung überhaupt noch für relevant erachtet

108 SHUS 3,2, Nr. 28, S. 12 f. (1493 Juni 12). 109 Ebd., Nr. 33, S. 17 (1500 März 11). 110 Ebd., Nr. 41, S. 20 (1514 Mai 21); Urkundenbuch des Bistums Lübeck, Bd. 4: Urkunden 1510 1530 und andere Texte, bearb. von Wolfgang Prange (Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden 15; Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 46), Nr. 2314, S. 156 f. (1522 Nov. 8). 111 SHUS 3,2, Nr. 49, S. 22 (1523 April 49). 112 Sammlung der wichtigsten Urkunden, welche auf das Staatsrecht der Herzogthümer Schleswig und Holstein Bezug haben, hg. von Niels Nikolaus Falck, Kiel 1847, Nr. 22, S. 52‒57 (1544 Aug. 9). 113 Vgl. dazu Voß, Fehmarn I, S. 122‒125; Wolgast, Landesherrschaft, S. 89‒92. 114 Vgl. Wolgast, Landesherrschaft, S. 91. 115 Vgl. Madsen, Glambek, S. 249 f. 116 SHUS 3,2, Nr. 75, S. 33‒39 (1558 Oktober 21). Vgl. Wolgast, Landesherrschaft, S. 92 f., mit dem Hinweis, der Aufruhr habe für die anschließende Rechtsveränderung „nur als letzter Anstoß gewirkt“.

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wurde, ist nicht ersichtlich.117 Im Ganzen verschärfte das Landrecht den herzoglichen Zugriff auf die Insel, deren Bewohner von nun an etwa zur auswärtigen Landfolge verpflichtet waren.118 Nach Herzog Hans’ kinderlosem Tod erfolgte 1581 eine Teilung von dessen Anteil zwischen den beiden verbliebenen Linien, in deren Folge Fehmarn dem Got­ torfer Herzog zufiel, wohingegen Glambek wie bereits 1544 keine Erwähnung mehr findet.119 Dies ist gut mit der Beschreibung Glambeks durch Heinrich Rantzau vom Ende des 16. Jahrhunderts in Einklang zu bringen, demzufolge nun nur noch die Mauern standen.120 Diesen Mauern kam nochmals Bedeutung zu, als der dänische König Christian IV. 1628 während des Dreißigjährigen Krieges versuchte, das im Jahr zuvor an kaiserliche Truppen verlorene Fehmarn zu befreien.121 Burg Glambek oder vielmehr deren Ruine wurde nochmals in Kampfhandlungen eingebunden und dabei weiter zerstört.122 In der Landesbeschreibung von Caspar Danckwerth und Johannes Mejer wird Glambek als „ein Burgstall oder zerstörtes Schloß/wovon noch die alte Wälle und ein Stück Maurwerck übrig“ seien, beschrieben.123 Dieses sei „vorzeiten die einige Vestung dieses Landes“ gewesen, „so den Hafen zugleich beschützete.“124 Damit wird die besondere Beziehungsgeschichte zwischen der Insel und der sie schützenden Burg herausgestellt.

Resümee Durch den Bedeutungsverlust und den daraus resultierenden Verfall Glambeks wurde die zeitweilig enge Verbindung von Burg und Insel, die bereits unter den ersten Oldenburgern Risse bekommen hatte, endgültig gelöst. Im 14. und 15. Jahrhundert kontrollierte derjenige, der die Burg in seinem Besitz hatte, in der Regel auch die Insel, weshalb Glambek in den Konflikten zwischen den dänischen Königen und den Schauenburgern sehr umkämpft war. Zudem liegen Informationen zum Ausbau, zur Einsetzung von Burghauptmännern oder zu einer Burgmannschaft vor. Doch wenn Fehmarn erobert wurde, galt dies, ob nun bedingt durch die Flucht des Burghauptmanns, durch Kapitulation oder Erstürmung, meist auch für Glambek. 117 SHUS 3,2, Nr. 75, S. 33‒39 (1558 Oktober 21). 118 Ebd. Vgl. Wolgast, Landesherrschaft, S. 93. 119 Sammlung der wichtigsten Urkunden, Nr. 29, S. 79‒81 (1581 Sept. 19). 120 Cimbricae chersonesi ejusdemque partium, urbium, insularum et fluminum […] descriptio nova […], in: Heinrich Rantzau. Königlicher Statthalter in Schleswig und Holstein. Ein Humanist beschreibt sein Land (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein 64), Schleswig 1999, S. 95‒161, hier S. 145. Vgl. Voß, Fehmarn I, S. 144. 121 Madsen, Glambek, S. 250. 122 Ebd. 123 Caspar Danckwerth und Johannes Mejer, Newe Landesbeschreibung Der Zwey Hertzogthümer Schleswich Vnd Holstein […], Husum 1652, S. 158. 124 Ebd.

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Frederic Zangel

Scheint damit der militärische Wert der Burg infrage gestellt, so sollte dieser dennoch nicht zu niedrig veranschlagt werden, zumal ein enger Zusammenhang zur symbolischen Funktion besteht. Durch die Verstärkung Glambeks zeigte der jeweilige Akteur den Konkurrenten seinen Anspruch nicht allein auf die Burg, sondern auf die ganze Insel an. Er demonstrierte seine Bereitschaft, sich dort nötigenfalls mit Gewalt zu behaupten. Anhand der Quellen wird zudem der Aufwand deutlich, der in einigen Fällen für eine Eroberung betrieben werden musste. Darüber hinaus erfüllte die Burg weitere Funktionen, die ebenfalls mit der Insel in einem engen Zusammenhang standen. So hatte der dort sitzende Hauptmann administrative Aufgaben auf der Insel, soweit diese nicht von ihren Bewohnern selbst verwaltet wurde. Mehrfach sind dabei Konflikte nachvollziehbar, ein Gerichtssitz bei der Burg bestand wohl auch deshalb nur kurzzeitig. In Rechts- und Verfassungsdokumenten wie den Teilungsverträgen des 14. und 15. Jahrhunderts findet die Burg mehrfach gemeinsam mit der Insel Erwähnung, im Zuge der Teilungen des 16. Jahrhunderts hingegen nicht mehr. Dies ist wohl auf den sukzessiven Bedeutungsverlust Glambeks zurückzuführen. Augenfällig ist das weitgehende Fehlen von Verweisen auf Burg und Insel im Kontext des Vertrags von Ripen, von dem beide doch unmittelbar betroffen waren. Dieser Umstand dürfte durch die Verpfändung an die Lübecker bedingt sein, die freilich vor allem aufgrund ihrer langen Dauer hervorsticht. So lassen sich weitere Pfandsetzungen der Burg anführen. Dabei zeigt sich bereits bei der ersten urkundlichen Erwähnung 1318, dass solche Nennungen nicht immer auch die Insel betreffen mussten, auf die ohnehin ein nur begrenzter landesherrlicher Zugriff bestand. Auch der 1327 von Johann III. mit dem Herzog von Sachen-Lauenburg geschlossene Vertrag nimmt neben der Burg nur auf einen Teil der Einnahmen von Fehmarn Bezug. Glambek findet also vor allem bei militärischen Konflikten oder bei der Absicherung von Geldgeschäften Erwähnung und damit in ganz ähnlichen Kontexten wie die landesherrlichen Burgen auf dem holsteinischen Festland. Ähnlich wie dort begünstigen Konflikte eine Nennung der Burg. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich aus der Lage Glambeks auf einer Insel als geografisch klar abgegrenztem Raum. Während auf dem Festland der Hinweis auf eroberte Burgen in den Quellen die Kontrolle des diese umgebenden Raumes durch die Eroberer miteinschließt, ist dies im Falle Glambeks umgekehrt: Wenn auf eine Eroberung Fehmarns verwiesen wird, kann dies die Übernahme auch der Burg implizieren. Diese untergeordnete Bedeutung bei der Beschreibung des Raumes könnte ein Grund dafür sein, dass Glambek, zumindest im Vergleich mit den älteren landesherrlichen Burgen auf dem Festland, erst spät schriftlich nachzuweisen ist, obschon die Burg mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits im 13. Jahrhundert bestand.

Stefan Brenner

Eine Zivilisierung des Raumes? Die mittelalterliche Ostsiedlung als Kultivierungsnarrativ bei Johann Friedrich Reitemeier

Abstract In the 18th century, German and in particular Prussian historiography began to address the history of the Teutonic Order and the historical phenomena known as “Ostsiedlung” more frequently. In this context, a scientific discourse began to take shape, in which the history of this high medieval Christianisation and migration process in East Central Europe was interpreted under divergent premises: The representative positions within this discourse oscillated in different contours between a condemnation of the “Heidenkampf ” and the violent oppression of the Slavs and Balts by the German aggressors, on the one hand and an emphasis on the purported civilizing efforts of the Germans in these regions, on the other hand. Johann Friedrich Reitemeier (* 1755; † 1839) was one of the first historians under whom this reputed cultural function of the Germans was systematically elaborated. Although his studies contain traces of Enlightenment criticism that deprecated the violent Christianisation and subjugation of the Slavic and Baltic inhabitants of the southern Baltic region as morally reprehensible, he regarded these processes as necessary evils, because these regions and the tribes living there benefited from the German civilizers after all. In the present article, it will be examined how Reitemeier construes the medieval Ostsiedlung as a cultivating and civilizing procedure of the southern Baltic region under German leadership based on his two-volume work Geschichte der Preußischen Staaten vor und nach ihrer Vereinigung in eine Monarchie (1801/05).

Kulturelle Überlegenheitsnarrative sind so alt wie die Menschheit selbst: Seit dem Altertum begegnen uns in der Regel selbstattestierte Vorstellungen der Höherwertigkeit der eigenen Kultur oder Zivilisation1 gegenüber anderen, als fremd emp1 Die Termini Kultur und Zivilisation sind zwei Begriffshorizonte, die von verschiedenen deutschsprachigen Autoren wie Immanuel Kant, Oswald Spengler oder Norbert Elias zu unterschiedlichen Zeiten mit jeweils anderen Bedeutungen aufgeladen wurden. Begriffsgeschichtlich kann jedoch nicht trennscharf zwischen beiden differenziert werden, sodass sie fortan in der Regel gepaart verwendet werden. Zu den unterschiedlichen semantischen Inhalten siehe exemplarisch: Jörg Fisch, „Zivilisation, Kultur“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, hg. von Otto Brunner u. a., Stuttgart 1992, S. 679–774, insb. S. 681; Frithjof Rodi, Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit, Freiburg/München 2015, S. 202–217.

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Stefan Brenner

fundenen Gesellschaften und Völkern oder schlichtweg geographischen Nachbarn, die etwa in der Verwendung leistungsfähigerer Technologien oder in vermeintlich komplexeren gesellschaftlichen Strukturen sowie Umgangsformen ihren sinnfälligen Niederschlag fanden und bis heute finden.2 Angesichts des konvergenten Entstehens derartiger Meistererzählungen, ihrer Historizität und Globalität – bereits im antiken Europa, aber auch im altertümlichen Ägypten3 oder etwa in der chinesischen Hochkultur4 entfaltete sich ein Bewusstsein, gegenüber anderen Völkern eine kulturelle Vorreiter- und Erzieherrolle einzunehmen – kann ihr Zustandekommen als anthropologische Konstante im Umgang mit Alteritäts- und Alienitätserfahrungen per se verstanden werden. Insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich im Umfeld kolonialer, imperialistischer und nationalistischer Ideologeme die eurozentrische Überzeugung, dass die abendländische Kultur und Zivilisation – das meint vornehmlich jene West- und Mitteleuropas – in ihren unterschiedlichen nationalen Ausprägungen gegenüber dem Rest der Welt die erhabenere und damit maßgebende sei. Diesem Weltbild der Höherwertigkeit des eigenen Lebensstils, ob modern oder vormodern, ob okzidental oder orientalisch, ist der Habitus gemein, gewöhnlich nicht in einem deskriptiven Zustand der Nabelschau zu verharren; in aller Regel wurde aus dieser Grundannahme, kulturell fortschrittlicher beziehungsweise zivilisierter zu sein, auch die normative Aufgabe oder gar Berufung abgeleitet, die eigenen Lebensweisen und Kulturordnungen zu verbreiten und diese wiederum anderen vermeintlich weniger entwickelten Gruppen von Menschen angedeihen zu lassen oder oktroyieren zu können beziehungsweise zu müssen. Als Beispiele derartiger Sendungsideologien im Umfeld des langen 19. Jahrhunderts können exemplarisch der Verwirklichungsanspruch einer neuen politischen und moralischen Ordnung

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Siehe zu diesem Sachverhalt überblicksartig Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 32009, S. 1173–1188; Ders., Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, hg. von Dems. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147), Göttingen 2001, S. 203–239; Ders. und Boris Barth (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert (Historische Kulturwissenschaft 6), Konstanz 2005; Bruce Mazlish, Civilization and It’s Contents, Stanford 2004; Pietro Costa, Civitas. Storia della cittadinanza in Europa, Bd. 3: La civiltà liberale, Rom 2001, S. 457–499; Astrid Blome und Volker Depkat (Hg.), Von der „Civilisierung“ Rußlands und dem „Aufblühen“ Nordamerikas im 18. Jahrhundert: Leitmotive der Aufklärung am Beispiel deutscher Rußland- und Amerikabilder (Presse und Geschichte 2), Bremen 2002. 3 Harald Hamann, Sprachenalmanach. Zahlen und Fakten zu allen Sprachen der Welt, Frankfurt a. M. 2002, S. 120; Günter Vittmann, Ägypten und die Fremden im ersten vorchristlichen Jahrtausend (Kulturgeschichte der antiken Welt 97), Mainz 2003, S. 244–247. 4 Exemplarisch dazu: Jürgen Osterhammel, „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Dems. und Boris Barth (Historische Kulturwissenschaft 6), Konstanz 2005, S. 363–425, hier S. 376–378.

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ausgehend von den Leitideen der Französischen Revolution,5 die civilizing mission des britischen Empire6 oder etwa die US-amerikanische Doktrin des Manifest ­Destiny7 herangezogen werden. Im Folgenden sollen nun mit Blick auf den südlichen Ostseeraum8 inklusive des dazugehörigen Hinterlandes die Genese deutscher Zivilisierungs- und Kultivierungsnarrative sowie die diesen zugrundeliegenden Prämissen während des Übergangs vom 18. ins 19. Jahrhundert ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden. Insbesondere unter dem Eindruck einer sich verändernden politischen Landkarte im Zuge der polnisch-litauischen Teilungen9 wurden ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Geschichte des Deutschen Ordens an der Ostsee sowie das in seiner Entdeckung begriffene historische Phänomen der Ostsiedlung und damit schließlich auch implizit die Geschichte der ansässigen mittelalterlichen slawischen, baltischen und deutschen Bevölkerungsteile verstärkt Gegenstand geschichtswissenschaft5 Vgl. Dazu Michael Broers, Le Fardeau de Franc. Aufklärung zu Pferde. Eine Zivilisierungsmission in Napoleons Frankreich?, in: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Jürgen Osterhammel und Boris Barth (Historische Kulturwissenschaft 6), Konstanz 2005, S. 73–100. 6 Vgl. dazu etwa Almut Steinbach, Sprachpolitik und Zivilisierungsmission im Britischen Empire. Die Verbreitung der englischen Sprache im 19. Jahrhundert in Ceylon und den Protected Malay States, in: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Jürgen Osterhammel und Boris Barth (Historische Kulturwissenschaft 6), Konstanz 2005, S. 149–168; Andrew Porter, Christentum, Kontext und Ideologie. Die Uneindeutigkeit der „Zivilisierungsmission“ im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, in: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, hg. von Jürgen Osterhammel und Boris Barth (Historische Kulturwissenschaft 6), Konstanz 2005, S. 125–147. 7 Exemplarisch dazu Sam Hayes (Hg.), Manifest Destiny and Empire. American Antebellum Expansionism (The Walter Prescott Webb Memorial Lectures 31), Texas 1997; Anders Stephanson, Manifest Destiny. American Expansionism and the Empire of Right, New York 1995. 8 Hinsichtlich der Bezeichnung und geographischen Verortung siehe Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009; Anna Orleńska, Im Herzen des südlichen Ostseeraums. Danzig als Kunstzentrum und Vermittler fremder Einflüsse in Polen im Zeitalter des Barock, in: Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit, hg. von Martin Krieger und Michael North, Köln u. a. 2004, S. 91–108; Klara Deecke und Ingried Gabel, Der Hartlib-Kreis in südlichen Ostseeraum, in: Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit, hg. von Martin Krieger und Michael North, Köln u. a. 2004, S. 221–252. Zum Konstrukt von geographischen Räumen mit Blick auf die Ostsee vgl. Norbert Götz, Jörg Hackmann und Jan Hecker-Stampehl (Hg.), Die Ordnung des Raums. Mentale Landkarten in der Ostseeregion (The Baltic Sea Region: Northern Dimension – European Perspectives 6), Berlin 2006. 9 Zu den polnisch-litauischen Teilungen vgl. Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich und Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013; Michael G. M ­ üller, Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984; Klaus Zernack (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 7. bis 10. November 1979 in Berlin-Nikolassee (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 33), Berlin 1982.

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licher Studien und kulturphilosophischer Abhandlungen. In diesem Kontext wurde ein Diskurs über die Kultivierung und Zivilisierung des nördlichen und östlichen Mitteleuropas10 unter deutscher Ägide losgetreten, der Aussagen und Deutungsmuster über den slawisch und baltisch besiedelten Raum und die dort lebende Bevölkerung autorisierte. Hierbei wurden im 19. Jahrhundert vermehrt zumeist negativ konnotierte Sichtweisen auf diese Völker bei gleichzeitiger Höherstufung der eigenen deutschen Kultur etabliert und schließlich Legitimationsstrategien produziert, die wiederum der Rechtfertigung der mittelalterlichen Siedlungsvorgänge, aber auch daraus abgeleiteten, gegenwartsbezogenen Herrschaftsansprüchen und letztlich Eroberungen dienten.11 Ein Historiker, der sich mit der mittelalterlichen Geschichte des östlichen preußischen Staatsgebietes systematisch auseinandersetzte und dem retrospektiv ein erheblicher Einfluss auf die Herausbildung einer selbstattestierten kulturtragenden Funktion der Deutschen insbesondere gegenüber den westslawischen Völkern entlang der Südküste der Ostsee zugesprochen werden kann, ist Johann Friedrich Reite­ meier (1755–1839). In seinem zweibändigen 1801 und 1805 erschienenen Werk Geschichte der Preußischen Staaten vor und nach ihrer Vereinigung in eine Monarchie vertrat Reitemeier als einer der ersten seiner Zunft die These, dass die bisweilen von Konflikten und Gewalt begleitete mittelalterliche Einwanderung deutscher Siedler in den Raum zwischen Elbe und Memel im Rahmen der Ostsiedlung einer Zivilisierung jener Regionen sowie der dort beheimateten slawischen und baltischen Völker und damit letztlich einem Anschluss derselben an den abendländischen 10 Siehe zum Raumverständnis Peter Jordan, Großgliederung Europas nach kulturräumlichen Kriterien, in: Europa Regional 13 (2005), Nr. 4, S. 162–173, hier Abb. 5. 11 Zu der rezeptionsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Ostsiedlung siehe grundlegend Wolfgang Wippermann, Der „deutsche Drang nach Osten“. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes (Impulse der Forschung 35), Darmstadt 1981, insb. S. 21–29; Ders., Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 24; Publikationen zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen 2), Berlin 1979, S. 86–118; Ders., Die Ostsiedlung in der deutschen Historiographie und Publizistik. Probleme, Methoden und Grundlinien der Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Germania Slavica, Bd. 1, hg. von Wolfgang Fritze (Berliner Historische Studien 1), Berlin 1980, S. 41–69, hier S. 53–57; Jörg Hackmann und Christian Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparativ Analysis Against the Background of other European Inter-Ethic Colonization Processes in the Middle Ages, hg. von Jan Piskorski (East European Monographs 611), Boulder 2002, S. 179–218; Gerard Labuda, The Slavs in Nineteenth Century German Historiography, in: Polish Western Affairs 10 (1969), Nr. 2, S. 177–234, insb. S. 184–191; Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge u. a. 1988; Jonas Gerwing, Forschung und Propaganda. Die politische In­ strumentalisierung der deutschen Osteuropaforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Norderstedt 2014, S. 11–17; Tu Tzu-hsin, Die Deutsche Ostsiedlung als Ideologie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Kassel 2009, insb. S. 60–80; Jörg Hackmann, Deutsche Ostsiedlung, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften, Bd. 2: Forschungskonzepte – Institutionen – Organisationen – Zeitschriften, hg. von Michael Fahlbusch, Ingo Haar und Alexander Pinwinkler, Berlin/Boston 22017, S. 976–997.

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Kulturraum gleichgekommen sei.12 Der historische Prozess der Ostsiedlung, der in der modernen Mediävistik wertneutral häufig als hochmittelalterlicher Landesausbau in der Germania Slavica bezeichnet wird,13 wurde in diesem Zusammenhang von Reitemeier auch als Ausdruck eines epochenübergreifenden deutschen Kultivierungs- und Zivilisierungsauftrages im nördlichen und östlichen Mitteleuropa gedeutet. Welche zentralen Prämissen und Inhalte Reitemeier diesem Deutungsmuster des mittelalterlichen deutsch-slawischen beziehungsweise deutsch-baltischen Beziehungsgeflechts auch mit Blick auf seine Gegenwart zugrunde legte und wie er auf diese Weise nationalistischen und chauvinistischen Betrachtungsweisen des 19. und 20. Jahrhunderts den Weg bereitete, wird im Folgenden zu zeigen sein. Die nachstehenden Gedanken sind dabei als Bestandteil meines Dissertationsprojekts zu verstehen, das sich historiographiegeschichtlich mit den an die Ostsiedlung herangetragenen Deutungsweisen und -mustern in Aufklärung und Romantik beschäftigt.

12 Johann Friedrich Reitemeier, Geschichte der Preußischen Staaten vor und nach ihrer Vereinigung in eine Monarchie, Bd. 1: Geschichte der Preußischen Länder an der Oder und Weichsel bis zum Jahr 1320, Frankfurt a. d. O. 1801. 13 Vgl. zum hochmittelalterlichen Landesausbau als Gegenstand der modernen Mediävistik grundsätzlich Walter Schlesinger (Hg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte (Vorträge und Forschungen 18), Sigmaringen 1975; Felix Biermann und Günter Mangelsdorf (Hg.), Die bäuerliche Ostsiedlung des Mittelalters in Nordostdeutschland. Untersuchungen zum Landesausbau im 12. bis 14. Jahrhundert im ländlichen Raum (Greifswalder Mitteilungen. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie 7), Frankfurt a. M. 2005; Enno Bünz (Hg.), Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen: Die Kührener Urkunde von 1154 und ihr historisches Umfeld (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 23), Leipzig 2008; Eike Gringmuth-Dallmer, Die hochmittelalterliche Ostsiedlung in vergleichender Sicht, in: Siedlungsforschung 24 (2006), S. 99–121; Peter Erlen, Europäischer Landesausbau und Mittelalterliche Deutsche Ostsiedlung. Ein struktureller Vergleich zwischen Südwestfrankreich, den Niederlanden und dem Ordensland Preussen (Historische und Landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 6), Marburg 1992; Charles Higounet, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, München 1990; Walter Kuhn, Vergleichende Untersuchungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung (Osteuropa in Vergangenheit und Gegenwart 16), Köln 1973; Christian Lübke, Germania-Slavica-Forschung im Geisteswissenschaftlichen Zentrum „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V.“. Die Germania Slavica als Bestandteil Ostmitteleuropas, in: Struktur und Wandel im Früh- und Hochmittelalter. Eine Bestandsaufnahme aktueller Forschungen zur Germania Slavica, hg. von Christian Lübke (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 5), Stuttgart 1988, S. 9–16; Wolfgang Fritze, Die Begegnung von deutschem und slavischem Ethnikum im Bereich der hochmittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, in: Siedlungsforschung 2 (1984), S. 187–219.

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Stefan Brenner

Johann Friedrich Reitemeier – ein biographischer Abriss Im Jahr 1755 in Göttingen geboren,14 studierte Reitemeier zunächst bei Christian Gottlieb Heyne Philologie, wechselte dann aber in das Feld der Jurisprudenz, wo er 1783 mit einer Arbeit zum Römischen Recht promovierte.15 Im Anschluss reüssierte Reitemeier mit einigen rechtshistorischen und rechtstheoretischen Werken. Sein Werk Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland (1785),16 das erstmals systematisch zwischen einem Naturrecht und einem positiven Recht unterschied, übte in methodischer Hinsicht einen prägenden Einfluss auf die Herausbildung der Historischen Rechtsschule unter Gustav von Hugo und Friedrich Carl von Savigny aus.17 Noch im selben Jahr erhielt Reitemeier einen Ruf an die Brandenburgische Universität Frankfurt, wo er angesichts seiner erfolgreichen akademischen und publizistischen Tätigkeit – hier entstand unter anderem auch die Abhandlung zur preußischen Geschichte – bereits 1790 zum Legationsrat ernannt wurde. An der Viadrina geriet Reitemeier allerdings mit seinen Kollegen und schließlich mit der preußischen Justiz in Konflikt, sodass er, nachdem sein Vermögen in Preußen infolge eines Injurienprozesses arrestiert worden war,18 einen 1805 erhaltenen Ruf an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vermutlich sehr bereitwillig annahm. Seine Zeit in Kiel ähnelte gleich in mehrfacher Hinsicht seiner Beschäftigung an der Oder: Neben einer erfolgreichen Lehrtätigkeit ist seine Schaffensperiode an der Kieler Förde auch im Hinblick auf seine Publikationstätigkeit insbesondere im rechtswissenschaftlichen Themenfeld als ergebnisreich zu bezeichnen, was sich

14 Zu seinen biographischen Angaben, seiner akademischen Laufbahn und den dortigen Konflikten siehe grundsätzlich Arno Buschmann, Einleitung, in: Johann Friedrich Reitemeier. Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, hg. von Dems. (Historia Scientiarum), Hildesheim u. a. 2014, S. V–XXVII; Ernst Landsberg, Reitemeier, Johann Friedrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie 28 (1889), S. 154–159; Ders., Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaften, Bd. III/1, München/Leipzig 1898, S. 498–501; Bernhard Friedrich Voigt (Hg.), Neuer Nekrolog der Deutschen, Siebzehnter Jahrgang 1839, Bd. 2, Weimar 1841, Nr. 283, S. 841 f. 15 Johann Friedrich Reitemeier, Conspectus Iuris Romani ad eius naturam ordine dispositi, Göttingen 1784. 16 Ders., Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Göttingen 1785. Dazu auch Arno Buschmann, Enzyklopädie und Recht. Johann Friedrich Reitemeiers ‚Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland‘, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag dargelegt von Freunden, Schülern und Kollegen, hg. von Gerhard Köble (Rechtshistorische Reihe 60), Frankfurt a. M. 1987, S. 29–51. 17 Zu diesem Schluss kommt etwa Buschmann, Einleitung, S. XVIIf. Aber auch schon die ältere Forschung zog ähnliche Schlüsse. Siehe etwa Landsberg, Geschichte, S. 500 f. 18 Zu seiner Zeit in Frankfurt und dem Rechtsstreit siehe Buschmann, Einleitung, S. VI; Landsberg, Reitemeier, S. 156 f.

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wiederum bereits ein Jahr nach seiner Anstellung in einer Beförderung zum Etatsrat niederschlug.19 Jedoch war seine Anstellung auch hier aufgrund seiner konfrontativen Wesensart von Auseinandersetzungen mit seinen vielleicht weniger erfolgsverwöhnten Kollegen und schließlich der Universitätsverwaltung überschattet. In Kiel geriet Reitemeier abermals in Rechtshändel mit seinen Zunftgenossen; die Folge war ein weiterer Beleidigungsprozess, den er wiederum verlor und der schließlich in seiner Entlassung resultierte.20 Daraufhin zog er sich nach Kopenhagen zurück, um sich dort seiner Publikationstätigkeit zu widmen. Dort angekommen, verwickelte er sich immer wieder in Rechtsstreitigkeiten und Injurienverfahren,21 diesmal sogar mit der königlich-dänischen Regierung, weshalb er, um einer Inhaftierung zu entgehen, ohne Anspruch auf eine Pfründe schließlich nach Hamburg auswich. In der Elbstadt starb Reitemeier, dem mehrfach die Chance auf eine glänzende Karriere offengestanden hatte, die er aber angesichts seines streitlustigen, unsteten Charakters nie hatte verwirklichen können,22 wohl unter ärmlichen Bedingungen 1839 im Alter von 84 Jahren, ohne zu Lebzeiten eine Würdigung seines vielgestaltigen wissenschaftlichen Œuvres erfahren zu haben. Trotz einer von Brüchen und Konflikten gekennzeichneten beruflichen Biographie muss Reitemeier angesichts seiner wissenschaftlichen und publizistischen Leistungen als Bestandteil der intellektuellen Elite seiner Zeit angesehen werden.

Das Bild der Ostsiedlung und des Deutschen Ordens in der deutschsprachigen Historiographie des 18. Jahrhunderts Im Zeichen der Aufklärung begann sich in der preußischen und deutschen Historiographie ein wissenschaftlicher Diskurs um die Erforschung und damit einhergehend um die Beurteilung der Geschichte des Deutschen Ordens und des in seiner Entdeckung begriffenen historischen Phänomens der Ostsiedlung zu formieren.23 Die vertretenen Standpunkte innerhalb dieses Diskurses sind von divergierenden Deutungsmustern gekennzeichnet, die in variierenden Konturierungen zunächst zwischen einer Verurteilung des Heidenkampfes und der gewaltsamen Missionie19 Zu seiner Zeit in Kiel siehe Buschmann, Einleitung, S. VIIf.; Eduard Alberti (Hg.), Lexikon der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen und Eutinischen Schriftsteller von 1829 bis Mitte 1866, Bd. 2, Kiel 1868, Nr. 1743, S. 255; Eugen Wohlhaupter, Geschichte der Juristischen Fakultät, in: Festschrift zum 275jährigen Bestehen der Christian-Albrechts-Universität Kiel, hg. von Paul Ritterbusch u. a., Leipzig 1940, S. 48–108, hier S. 76–78; Erich Döhring, Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665–1965, Bd. 3/1: Geschichte der juristischen Fakultät 1665–1965, Kiel 1965, S. 103–105. 20 Landsberg, Reitemeier, S. 157 f.; Döhring, Geschichte, S. 103 f. 21 Landsberg, Reitemeier, S. 157 f.; Buschmann, Einleitung, S. VIIIf. 22 Zu diesem Schluss kommen etwa auch Landsberg, Geschichte, S. 500 f.; Döhring, Geschichte, S. 105. 23 Zu der historiographischen Auseinandersetzung mit dem Deutschen Orden im 16., 17. und 18. Jahrhundert vgl. Wippermann, Ordensstaat, S. 75–102.

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rung sowie Unterdrückung der slawischen und baltischen Völker im südlichen Ostseeraum durch den Orden und einer Herausarbeitung und Betonung der vermeintlich kulturstiftenden Funktion der Deutschen in diesen Regionen oszillierten. In diesem Zusammenhang wurde versucht, die Geschichte des Deutschen Ordens und des hochmittelalterlichen Siedlungsprozesses im nördlichen und östlichen Mitteleuropa unter unterschiedlichen Vorzeichen und auf Grundlage disparater Prämissen in ein bestimmtes Ordnungsschema und Weltbild zu integrieren. Dabei wurden diese Auseinandersetzungen mit der mittelalterlichen Geschichte stets von stereotypischen Entwürfen der Slawen, Balten und Deutschen begleitet.24 Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Strömungen innerhalb dieses Diskurses, in dem auch Reitemeier zu verorten ist, kurz umrissen werden. Deutsche Historiker der Aufklärung wie etwa Karl Friedrich Pauli, Johann Gottlieb Hentze oder Garlieb Merkel25 verurteilten die rohen und martialischen Praktiken,26 mit denen der Deutsche Orden die Christianisierung der dortigen slawischen und baltischen Bevölkerung hatte durchsetzen wollen, als insgesamt moralisch verwerflich.27 Dabei zogen sie die ähnlich scharf kritisierte Unterjochung der indigenen Bevölkerung Südamerikas durch die Spanier als Vergleichsgröße für die 24 Eine stringente ethnische und damit einhergehend begriffliche Differenzierung zwischen den unterschiedlichen slawischen, baltischen und deutschen Volksgruppen sowie deren Herkunft bildete sich in der deutschsprachigen Historiographie im 18. Jahrhundert erst schrittweise heraus. Die hier suggerierte klare Abgrenzung entspricht folglich einer modernen Terminologie. Dabei problematisierte Eduard Mühle erst jüngst das Slawenbild des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als ein monolithisches, auf Stereotypen basierenden Konstrukt und eine Erfindung der Neuzeit, das unter anderem den vielschichtigen Unterschieden zwischen den einzelnen slawischen Völkern nicht hinreichend gerecht werde. Eduard Mühle, Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit, Köln u. a. 2020. 25 Siehe chronologisch Karl Friedrich Pauli, Allgemeine Preussische Staats-Geschichte, samt aller dazu gehörigen Königreichs, Churfürstenthums, Herzogthümer, Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften, aus bewährten Schriftstellern und Urkunden bis auf gegenwärtige Regierung, 8 Bde., Halle 1760–1769; Johann Gottlieb Hentze, Versuch über die ältere Geschichte des fränkischen Kreises, insbesondere des Fürstenthums Bayreuth, Tl. 1, Bayreuth 1788; Garlieb Merkel, Die Letten, vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Ein Beytrag zur Völker- und Menschenkunde, Leipzig 21800. 26 Dazu etwa Hentze, Versuch, S. 101 f.; Pauli, Staats-Geschichte 4, S. 70; Merkel, Letten, S. 24 f. Zu Hentzes Werk siehe, wenn auch stark völkisch aufgeladen, Wilhelm Müller, Das Slawenbild der ostfränkischen Geschichtsschreiber an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 85 (1939), S. 3–22, insb. S. 7–9. Zu Pauli siehe Wolfgang Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000, Paderborn 2018, S. 111 f.; Wippermann, Ordensstaat, S. 107–110. Zu Merkel siehe Roger Bartlett, Nation, Revolution und Religion in der Gesellschaftskonzeption von Garlieb Merkel, in: Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale. Festschrift für Gerd von Pistohlkors zum 70. Geburtstag, hg. von Nobert Angermann, Michael Garleff und Wilhelm Lenz (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 14), Münster 2005, S. 147–164. 27 Zu diesem Sachverhalt mit weiteren Beispielen grundlegend Wippermann, Ordensstaat, S. 102–110; Ders., Ostsiedlung, S. 52–56; Ders., Drang, S. 21–27; Jörg Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem (Quellen und Studien 3), Wiesbaden 1996, S. 49–51.

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Behandlungsweise der Slawen und Balten durch den Orden heran.28 In ihren Publikationen äußerten sie eine grundsätzliche Sympathie für den Leidenskampf jener Völker, und in diesem Zusammenhang zeichneten sie partiell positiv konnotierte Bilder von diesen „edlen Wilden“, indem sie ihnen ein gewisses Maß an Kultiviertheit sowie Klugheit und Tapferkeit attestierten,29 während die Ordensritter und die sich niederlassenden deutschen Siedler hauptsächlich als gewalttätige und grausame Aggressoren dargestellt wurden,30 die Slawen und Balten zu „christlichen Sclaven“ machten.31 Als Galionsfigur und Kulminationspunkt einer derartigen Lesart kann mit Blick auf die Slawen sicherlich der in Ostpreußen geborene Johann Gottfried Herder verstanden werden: Er warf den „Deutschen Stämmen“ vor, die Unterdrückungskriege der Franken gegen die Slawen unter Karl dem Großen fortgeführt und vollendet zu haben, welche unter dem Vorwand der Christianisierung letztlich die „Slawen ausgerottet und zu Leibeigenen gemacht“ und sich dadurch an diesen „hart versündigt“ hätten.32 Ähnlich negativ urteilt Herder auch ganz konkret über den Deutschen Orden, durch den die „alten Preußen“ vernichtet und die „Liwen, Ehsten und Letten [in einen] ärmsten Zustande“ versetzt worden seien.33 In diesem Zusammenhang attestierte er explizit den Slawen, ein entwickeltes, friedliebendes Volk zu sein, welches fortschrittliche Kulturtechniken etwa in Landwirtschaft, Handel und Metallbearbeitung beherrsche.34 Anders als gleichgesinnte Kollegen – diese Position ist sicherlich als singulär zu bezeichnen – ergriff er förmlich für sie Partei und

28 Pauli, Staats-Geschichte 4, S. 70. Auch Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Bde., Riga/Leipzig 1784–1791, Bd. 4, S. 35, zieht einen derartigen Vergleich. 29 So etwa in Bezug auf das baltische Volk der Preußen: Merkel, Letten, S. 23–25. Auch August Hermann Lucanus, der an anderer Stelle konkret die Ästier als wilde Barbaren darstellt, urteilt zumindest partiell so. August Hermann Lucanus, Preußens uralter und heutiger Zustand 1748, 1. Lieferung, hg. von der Literarischen Gesellschaften Masovia zu Loetzen (Manuscript in der königl. u. Universitäts-Bibliothek in Königsberg i. Pr.), Loetzen 1901, S. 25. Sehr positiv über den Kulturzustand der Slawen im fränkischen Raum urteilt Hentze, Versuch, S. 10 f. 30 Hentze, Versuch, S. 102. Merkel schreibt konkret davon, dass „Heere geweihter Mörder“ nach „Liefland“ gekommen seien und sich, sofern sie nicht in ihre Heimat zurückkehrten, dort angesiedelt hätten, um sich das Land untertan zu machen. Siehe Merkel, Letten, S. 25. Auch Pauli, Staats-Geschichte 4, S. 70 f., kritisiert den Siedlungsprozess: „Ja man legte selbst denen, die sich taufen lassen wollten, alle Hindernisse in den Weg, um nur einen Vorwand zu haben, sie auszurotten, oder zu zwingen, durch Ausweichen in andere benachbarte Landen denen Deutschen Platz zu machen“. 31 Pauli, Staatsgeschichte 4, S. 70. 32 Herder, Ideen 4, S. 34. Dazu mit weiteren Belegen siehe Wippermann, Ordensstaat, S. 104 f. 33 Bernhard Suphan (Hg.), Johann Gottfried Herder. Sämtliche Werke, Bd. XVIII, Hildesheim u. a. 1994, S. 222 f. Dort auch die Zitate. Siehe auch die ähnlichen Äußerungen bei Herder, Ideen 4, S. 309. 34 Herder, Ideen 4, S. 33 f.

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prophezeite ihnen sogar eine verheißungsvolle Zukunft, sobald sie sich von ihren „Sklavenketten“ befreien würden.35 Diese Interpretationen Herders spiegeln ein neuhumanistisch-aufgeklärtes Weltbild wider, das sich unter anderem der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Völker und Kulturen sowie den Idealen der Bildung, Friedfertigkeit und der Menschenrechte verschrieb – Leitbilder, die Herder und seine Gesinnungsgenossen im Heidenkampf des Deutschen Ordens und im gewaltsamen Auftreten der Deutschen im südlichen Ostseeraum und im Baltikum insgesamt nicht gegeben sahen.36 Anders als im 19. und 20. Jahrhundert wurde der Deutsche Orden vordergründig nicht als Kulturbringer gefeiert. Im Mittelpunkt stand vielmehr die moralisch-ethische Kritik an dem Ritterorden, die zum Teil auch Ausdruck eines in der Aufklärung grundsätzlich negativ konnotierten finsteren Mittelalters37 war und als ein zentrales Paradigma der deutschen Historiographie des 18. Jahrhunderts verstanden werden muss.38 Als Identifikationsgrundlage für den modernen, protestantischen preußischen Staat kam die mittelalterliche Geschichte des wohlgemerkt katholischen Ordens zunächst jedenfalls nicht infrage.39 Zeitgleich, vor allem im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelten sich auch Positionen, die von einem sukzessiven Wandel in der Perzeption und Deutung des 35 Ebd., S. 35 f. Eine derartig vehemente Bewunderung und Parteinahme für die Slawen, die mit Blick auf das zeitgenössische deutsch- bzw. preußisch-polnische Verhältnis auch als politisches Statement verstanden werden kann, lässt sich bei den anderen genannten Autoren nicht wiederfinden. 36 Siehe zu Herders Kulturverständnis und zu seinem Humanismusbegriff sowie zu seinem Slawenbild u. a. Konrad Bittner, Herders Geschichtsphilosophie und die Slawen, Reichenberg 1929; Ernst Birke, Herder und die Slawen, in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beträge zur geschichtlichen Deutung der letzten 150 Jahre. Festschrift für Siegfried Kaehler, hg. von Walther Hubatsch, Düsseldorf 1950, S. 81–102; Regine Otto (Hg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996; Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der „Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea“ (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 540), Würzburg 2005, S. 49–53; Yann-Philipp Leiner, Schöpferische Geschichte. Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Kultur bei Johann Gottfried Herder (Wittener kulturwissenschaftliche Studien 10), Würzburg 2012, S. 57–65, 208–238. Dazu auch Labuda, Slavs, S. 184–191. 37 Zu diesem Schlagwort siehe Johannes Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 3 2009, S. 536–558; Klaus Arnold, Das „finstere“ Mittelalter. Zur Genese und Phänomenologie eines Fehlurteils, in: Saeculum 32 (1981), Nr. 3, S. 287–300; Lucie Varga, Das Schlagwort vom „Finsteren Mittelalter“ (Veröffentlichungen des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Universität Wien 8), Baden u. a. 1932. 38 Zur Geschichtsschreibung in der Epoche der Aufklärung siehe überblicksartig Stefan Jaeger, Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel (Hermaea 125), Berlin 2011; Lucas Marco Gisi und Wolfgang Rother (Hg.), Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel 6), Basel 2011; André de Melo Araújo, Weltgeschichte in Göttingen. Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken, 1756–1815 (Der Mensch im Netz der Kulturen: Humanismus in der Epoche der Globalisierung 16), Bielefeld 2012; Daniel Fulda, Wissenschaft als Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860 (European Cultures 7), Tübingen 2012. 39 Siehe dazu Wippermann, Ordensstaat, S. 132, Anm. 11.

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Deutschen Ordens, des hochmittelalterlichen Migrationsprozesses in der Germania Slavica und damit einhergehend des Slawenbildes in der deutschen Geisteswissenschaft zeugen. Wie sehr sich die Wahrnehmung dieser Begebenheiten im Fluss befand, lässt sich exemplarisch bereits an dem zuvor erwähnten Karl Friedrich Pauli beobachten. Zwar urteilt er insgesamt sehr negativ über das Wesen des Deutschen Ordens40 – dieser Topos dominiert dem Zeitgeist entsprechend sein Gesamtwerk –, jedoch geht bei ihm die Ankunft des Ordens an der Weichsel auch mit der als positiv empfundenen Einführung und Durchsetzung von „deutschen Sitten und Gebräuchen, deutscher Kleidertracht und deutscher Sprache“ einher, schließlich sei „Deutschland“ im Verhältnis zu den slawisch und baltisch besiedelten Gebieten des südlichen Ostseeraums ein „gesitteteres“41 Land gewesen. Ähnlich äußerte sich jedoch rund 15 Jahre zuvor schon August Hermann Lucanus, der die Lebensweise der Pruzzen als „zänkisch, störrig [und] wild“ charakterisierte und ihnen obendrein noch Faulheit und Unkenntnis in „guten Sitten“ attestierte. Eigenschaften, denen erst mit der Ankunft der Ordenritter abgeholfen werden konnte.42 Schon bei diesen Autoren taucht also das Motiv der Deutschen als vermeintliche Kulturbringer auf, wenn auch deutlich weniger emphatisiert und diskreter als bei ihren Zunftgenossen aus dem 19. Jahrhundert. Ganz in Tradition Paulis oder Herders kritisierte auch Christian Gottfried Elben43 den Kreuzzugsgedanken44 und ordnete insbesondere den Ordensrittern, obwohl er auch lobende Worte für sie fand, negative und unchristliche Attribute wie „Übermuth, Eigennutz, Völlerei, und Unzucht“ zu.45 Jedoch finden sich bei ihm auch Passagen, die beschreiben, dass mit der Niederlassung des Ordens im polnischprußischen Grenzgebiet „eine unbeschreibliche Menge teutscher Handwerker und Künstler“46 in das Land gekommen sei, die mit der Gründung von Städten und der Urbarmachung des Landes, der Einführung einer Rechtsordnung und des Geldes den „innere[n] Zustand […] des Landes“ verbessert hätten.47 Nur auf diesem Weg seien die dortigen Völker der Abgötterei und ihren barbarischen Sitten entfremdet worden. Eine ähnlich ambivalente Darstellung, die auf der einen Seite die gewaltsame Christianisierung der Slawen und Balten im Kontext der mittelalterlichen Ostsiedlung bemängelte, zugleich aber die kulturtragende Funktion der deutschen Siedler und des Ordens anerkannte, findet sich bei August Ludwig Schlözer. Dieser 40 Lediglich in den Konflikten des Deutschen Ordens mit Polen ergreift er eindeutig Partei für ersteren. Vgl. Pauli, Staats-Geschichte 4, S. 121 f. Dazu auch Wippermann, Ordensstaat, S. 107–110. 41 Pauli, Staats-Geschichte 4, S. 127. 42 Lucanus, Zustand, S. 16 f. 43 Christian Gottfried Elben, Einleitung in die Geschichte des teutschen Ordens, Teil 1, Nürnberg 1784. 44 Ebd., S. 65. 45 Ebd., S. 181. 46 Ebd., S. 72. 47 Ebd., S. 63. Eine ausführliche Beschreibung dieser Prozesse findet sich ebd., S. 72–78. Auch zum Folgenden.

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kritisierte 1795 unter anderem mit Blick auf Wagrien und Holstein zwar die „Gräueltaten“, die die Deutschen dort an „den armen Wenden“ verübt hätten.48 20 Jahre zuvor hatte er Karl dem Großen im Gleichton mit Herder sogar vorgeworfen, die wendischen Stämme „mit Stumpf und Stiel ausgerottet“ zu haben,49 gleichermaßen lobte er jedoch schon die „unsterbliche[n] Verdienste“ jener „deutschen Colonisten“, die er zum „Haupturheber aller Menschheit und Cultur im nördlichen Deutschland“ stilisierte.50 Eine Betonung der kulturtragenden Funktion der Deutschen im Osten findet sich zur gleichen Zeit etwa auch bei Karl Ludwig Klöber, der sie, wiederum dem schlesischen Chronisten Joachim Cureus folgend, in Schlesien besonders hervorhob.51 Schließlich hätten sich dort, bis die Deutschen das ursprünglich ohnehin schon germanisch bevölkerte Gebiet besiedelten – hier lassen sich somit auch erste Spuren der sogenannten Urgermanentheorie finden –,52 nur wenige primitive Dörfer „one bequemlichkeit und reinlichkeit“53 befunden und auch sonst seien die „künste und wissenschaften“, wie etwa die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, kaum entwickelt gewesen.54 48 August Ludwig Schlözer, Kritische Sammlungen zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 3), Köln/Wien 1979, S. 406. Hierzu und zum Folgenden auch Wippermann, Drang, S. 26; Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig Schlözer (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit 6), Münster 2003, S. 162–168, 355–363; Reinhard Lauer, Schlözer und die Slawen, in: August Ludwig (von) Schlözer in Europa, hg. von Heinz Durchhardt und Martin Espenhorst (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 86), Göttingen 2012, S. 23–40. 49 August Ludwig Schlözer, Allgemeine nordische Geschichte. Aus den neuesten und besten Nordischen Schriftstellern und nach eigenen Untersuchungen beschrieben, und als eine Geographische und Historische Einleitung zur richtigen Kenntniß aller Skandinavischen, Finnischen, Slavischen, Lettischen und Sibirischen Völker, besonders in alten und mittleren Zeiten, Halle 1771, S. 333. 50 Schlözer, Sammlungen, S. 405. 51 Schon Cureus berichtete davon– wohlgemerkt ohne nationalistisches Kalkül –, dass die Kultur erst mit den Deutschen in Schlesien Einkehr gehalten habe. Siehe Joachim Cureus, Gentis Silesiae Annales, Wittenberg 1571, S. 74: „sicut non dubium est, hanc regionem tunc primum culturam accepisse. Accersivit ex Germania multas familias, qui novi coloni literas & humanitatem simul huc intulerunt“. Vgl. ferner Hans-Jürgen Bömelburg, Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500–1700) (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 4), Wiesbaden 2005, S. 116–118. 52 Siehe zur Urgermanentheorie, die bisher nicht gesondert auf ihr Entstehen, ihre Entwicklung und ihren Gebrauch als historische Legitimationsquelle untersucht wurde, die kurze Einordnung bei Wolfgang Fritze, Nachträge und Ergänzungen, in: Frühzeit zwischen Ostsee und Donau. Ausgewählte Beiträge zum geschichtlichen Werden im östlichen Mitteleuropa vom 6. bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Ludolf Kuchenbuch und Winfried Schich (Berliner Historische Studien 6; Germania Slavica 3), Berlin 1982, S. 429. 53 Karl Ludwig Klöber, Von Schlesien vor und seit dem Jahr MDCCXXX, Teil 1, Freiburg 1785, S. 11. 54 Ebd., S. 12.

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Die Sichtweise in der deutschen Historiographie über den mittelalterlichen Siedlungs- und Christianisierungsprozess im nördlichen und östlichen Mitteleuropa veränderte sich offenbar schrittweise im letzten Quartal des 18. Jahrhunderts. Während zum Beispiel Herder die gewaltsame Unterwerfung und Missionierung als gewalttätiges Vergehen der Deutschen an den Slawen und Balten in den Mittelpunkt seiner Darlegungen rückte und dabei ein positives Bild von letzteren, ihrer Kultur und ihrer Sitten zeichnete, gewannen unter dem Eindruck der polnisch-­ litauischen Teilungen und stärker noch in dem daraus resultierenden deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikt55 zunehmend auch konträre, nationalistisch motivierte Sichtweisen auf die Ostsiedlung und den Deutschen Orden an Popularität. Die Besiedlung und Bebauung dieser Region durch deutsche Siedler wurden trotz der an den dort ansässigen Völkern verübten Gewalttaten immer öfter als ein positiver Bestandteil der deutschen beziehungsweise preußischen Geschichte und als Sinnbild zivilisatorischer Überlegenheit gegenüber den Slawen und Balten gefeiert. Die bis dahin vorherrschende Lesart der Deutschen als gewaltsame und unmoralische Eroberer wich schrittweise einer Fokussierung auf die kulturellen und zivilisatorischen Leistungen der Deutschen im Osten, die auf diesem Weg als mehr und mehr segensreiche Kulturbringer stilisiert wurden. Damit einhergehend geriet auch die bis dato vereinzelt anzutreffende Auffassung, die mittelalterlichen Slawen und Balten seien zumindest partiell kulturell und sittlich entwickelte Völker gewesen, ins Wanken. Sie wurden nun verstärkt als rückständig und unzivilisiert charakterisiert. Die Gründe und Ursachen für eine derartige Verschiebung der Schwerpunktsetzung innerhalb der Erforschung und Deutung des Deutschen Ordens und des hochmittelalterlichen Migrationsprozesses, die sich keineswegs abrupt und geschlossen vollzog – noch 1808 tadelte August von Kotzebue den Orden, der aus „Habsucht“ einen „Vertilgungskrieg“56 gegen die Prußen geführt habe, aufs Schärfste –, sind vielgestaltig: Sie können zum einen auf den im Zeichen der Romantik einsetzenden Mentalitätswandel in der deutschen Historiographie per se zurückgeführt werden, der das Mittelalter zunehmend positiver bewertete57 und 55 Vgl. u. a. Johannes Frackowiak (Hg.), Nationalistische Politik und Ressentiments. Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart (Berichte und Studien 64), Göttingen 2013; Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 31981, S. 66–104; Klaus Zernack (Hg.), Zum Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland 1772–1871. Referate einer deutsch-polnischen Historiker-Tagung vom 14. bis 16. Januar 1986 in Berlin-­Nikolassee (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 59), Berlin 1987. 56 August von Kotzebue, Preußens ältere Geschichte, 4 Bde., Riga 1808, hier Bd. 1, S. 146. 57 Arnold, Mittelalter, S. 289–291; Werner Maleczek, Auf der Suche nach dem vorbildhaften Mittelalter in der Nationalgeschichte des 19. Jahrhunderts. Deutschland und Österreich im Vergleich, in: Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma „Nationalstaat“ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs, hg. von Hans Peter Hye (ZentraleuropaStudien 12), Wien 2009, S. 97–132; Horst Glaser (Hg.), Die Wende von der Aufklärung zur Romantik (A Comparative History of Literatures in European Languages 14), Amsterdam 2001; Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; Ders., Universalgeschichte und Nationalgeschichte. Deutsche Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts und die „Scientific Community“, in: Staaten-

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dabei das nationale Moment stärker herauszuarbeiten und zu betonen begann.58 Die Deutschen nicht länger als unrechtmäßige und brutale Aggressoren zu betrachten, sondern sie eher als Kulturbringer zu identifizieren, erschien unter diesem Vorzeichen probater. Zum anderen ist dieser Wahrnehmungswandel auch Ausdruck einer sich verändernden politischen Realität im nördlichen Ostmitteleuropa: National-konservative Historikerkreise versuchten im scheidenden 18. und dann verstärkt im 19. Jahrhundert unter Rückgriff auf den mittelalterlichen Siedlungs- und Eroberungsprozess im Rahmen der Ostsiedlung, in dessen Folge überhaupt erst die Kultur in den Osten gekommen sei, den preußischen Landerwerb auf Kosten der Rzeczpospolita gegenwartspolitisch zu legitimieren.59 Um dieser Position mehr Gewicht zu verleihen, wurden die Slawen und Balten zunehmend als primitive, der Kultur bedürftige Völker charakterisiert. Zuletzt sei in diesem Zusammenhang auch auf den schrittweisen Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und den Siegeszug Napoleons in Europa hingewiesen – Prozesse, die die Herausbildung nationaler Perspektiven auf die eigene Vergangenheit nicht zuletzt aus Gründen der Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung begünstigten.60 Dass sich vor allem im 19. Jahrhundert mit Blick auf die Gegenwart die Auffassung durchzusetzen begann, die Slawen und auch Balten seien seit jeher ein kulturloses, wildes Volk gewesen, das es zu zivilisieren gelte, wird auch durch den damals gängigen Ausdruck der polnischen Wirtschaft begünstigt worden sein.61 Am prominentesten prägte Georg Forster, der 1784 bis 1787 an der Schola Principis Magni Ducatus Lithuaniae in Wilna, der heutigen Universität Vilnius, tätig war, dieses Schlagwort. In unterschiedlichen Briefen berichtete er Kollegen und Freunden von den Eindrücken, die er dort sammelte: Er berichtet von der „unbeschreiblichen Unreinheit, Faulheit, Besoffenheit und Untauglichkeit aller Dienstboten […],

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system und Geschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung, hg. von Dems. (Historische Forschungen 83), Berlin 2006, S. 254–273; Ders., Die „Germania“ im deutschen Nationalbewusstsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Staatensystem und Geschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung, hg. von Dems. (Historische Forschungen 83), Berlin 2006, S. 274–299. Siehe als weiteres Beispiel dafür Ludwig Albrecht Gebhardi, Geschichte aller wendisch-slawischen Staaten in Deutschland, 4 Bde., Halle 1790–1797. Siehe dazu Wippermann, Drang, S. 27; Labuda, Slavs, S. 187 f. Wippermann, Ordensstaat, S. 59 f.; Ders., Ostsiedlung, S. 55; Müller, Teilungen, S. 80–87. Zur Geschichtsschreibung im Zeichen des Nationalismus siehe mit weiterer Literatur Hans Peter Hye (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma „Nationalstaat“ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs (Zentral-Europa Studien 12), Wien 2009; Ulrich Muhlack, Das europäische Staatensystem in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: Staatensystem und Geschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung, hg. von Dems. (Historische Forschungen 83), Berlin 2006, S. 313–354. Vgl. zu dem Schlagwort grundsätzlich Hubert Orłowski, „Polnische Wirtschaft“. Zu dem deutschen Polendiskurs der Neuzeit (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 21), Wiesbaden 1996, S. 53 f.

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von der Insolenz der Handwerker, ihrer über alle Beschreibung elenden Arbeit“62 und bezeichnet an anderer Stelle die Bevölkerung Polen-Litauens gar als „Lastvieh in Menschengestalt“, das durch „die langgewohnte Sklaverei zu einem Grad der Thierheit und Fühllosigkeit“ herabgesunken sei.63 Dieses Narrativ war schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein wirksames Stereotyp, das stellvertretend für die vermeintliche Unorganisiertheit, Primitivität und Despotie, kurzum Unkultiviert- und Unzivilisiertheit der Rzeczpospolita und der in ihr lebenden Völkerschaften per se stand. Als Denkmuster konnte es – ob bewusst oder unbewusst – auf die freilich inkomparablen mittelalterlichen Verhältnisse übertragen werden und derart an der Konstituierung eines mittelalterlichen Slawenbildes mitwirken, welches diese generell als rückständig und kulturlos kennzeichnete.

Von Kulturträgern und Kulturempfängern – Reitemeiers Geschichte der Preußischen Länder In diesem vielgestaltigen, hier nur kurz beleuchteten Diskurs muss Johann Friedrich Reitemeier mit seiner Geschichte der Preußischen Länder eingeordnet werden. Bereits in seiner Vorrede zum ersten Band, der mit dem Untertitel Geschichte der Preußischen Länder an der Oder und Weichsel bis zum Jahre 1320 versehen ist, gibt Reitemeier zu verstehen, welche Intention dem Werk zugrunde liegt und welche Schlagrichtung er mit seiner geschichtswissenschaftlichen Abhandlung verbindet: Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht „die Umbildung der Wenden durch die Deutsche Nation,64 die Vernichtung ihrer Religion, und ihrer Asiatischen Sitten durch das Christentum, der Anbau der Deutschen in den dortigen Wildnissen und die Fortschritte der Cultur in diesen Ländern„ – ein Prozess, der in dem mittelalterlichen “Kampf zwischen den Wenden und Deutschen um die Oberherrschaft in diesen Gegenden“65 seinen Kulminationspunkt gefunden habe. Als zentrales, programmatisches Sujet seiner Schrift ist insbesondere der Kulturbegriff auszumachen.66 62 Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg.), Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 14: Briefe 1784–Juni 1787, Berlin 1978, S. 225. 63 Ebd., S. 491 f. Zur Person Forster siehe überblicksartig Klaus Harpprecht, Georg Forster oder die Liebe zur Welt. Eine Biographie, Reinbek 1990. 64 Reitemeier wendet in Bezug auf die mittelalterliche deutsche Bevölkerung grundsätzlich den Begriff Nation an. Dahinter verbirgt sich allerdings keine gewollt nationalistische Terminologie. Die Verwendung des Nationsbegriffs in diesen Kontexten entspricht der damals gängigen Ausdrucksweise und findet sich etwa auch bei Herder, Ideen 4, S. 22–31. 65 Reitemeier, Geschichte 1, S. X. Dort auch die Zitate. 66 Wie sehr sich das Slawenbild und die Bewertung der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung sowie des Deutschen Ordens um die Jahrhundertwende im Wandel befand, lässt sich an zwei bisweilen sehr unterschiedlichen Rezensionen des ersten Teils von Reitemeiers Geschichte der Preußischen Staaten ablesen. Der eine Rezensent stellt Reitemeiers Darstellung der Slawen keineswegs in Frage und stimmt einigen Passagen wie etwa dem Narrativ ihres asiatischen Charakters und ihrer grundsätzlichen Wild- und Unzivilisiertheit ausdrücklich zu. Siehe o. V., Rezension zu: Reitemeier, Geschichte 1, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 4 (1801), Nr. 300,

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Das mitunter nationalistisch aufgeladene Gesamtwerk,67 das ganz im Zeichen des sich um die Jahrhundertwende vollziehenden Perspektivwandels auf den Deutschen Orden und die mittelalterliche Ostsiedlung einzuordnen ist, unterliegt folgender Struktur: Der erste Band ist chronologisch-geographisch unterteilt und widmet sich ausgehend von der Frühgeschichte bis zum Jahr 1320 der Geschichte der Gebiete an Oder und Weichsel, nämlich Pommern inklusive Pommerellen, Brandenburg, Schlesien, des Weiteren Alt- und Neupreußen sowie Neuost- und Südpreußen – also den zu Reitemeiers Lebzeiten unter preußischer Hoheit stehenden Territorien. Neben einem kurzen historischen Abriss zu der jeweiligen Region wird immer wieder auch auf die dortige slawische Bevölkerung und ihr Verhältnis zu den „deutschen Colonisten“68 eingegangen und in diesem Zusammenhang wird auch der vermeintliche Einzug der Kultur in diesen Landen durch die Deutschen beleuchtet. Daran anschließend legt Reitemeier in gesonderten Kapiteln seinen Fokus auf einige kultur- und sozialhistorische Aspekte, die sich um slawische und nicht zuletzt baltische Sitten und Bräuche sowie bestimmte Kulturtechniken innerhalb des Handwerks und Handels, aber auch um Sachverhalte wie ihre Verfassung und ihr Rechtswesen drehen. Dieser erste Band, auf den das Hauptaugenmerk gerichtet sein soll, endet nicht zufällig mit dem Anbruch des 14. Jahrhunderts: Reitemeier sah mit der Aufteilung des Herzogtums Pommerellen zwischen Brandenburg und dem Deutschen Orden eine wichtige Etappe des hochmittelalterlichen Migrationsprozesses, der später so S. 153–157. Der andere wiederum holt zu einer grundsätzlichen Kritik an Reitemeiers wissenschaftlichen Arbeitsweisen und Methoden aus und bemängelt nicht nur eine Reihe inhaltlicher Fehler, sondern widerspricht ihm in der Tradition Herders und anderen Publizisten sogar ausdrücklich in Bezug auf das präsentierte Slawenbild. So hält er unter anderem den „sittlichen Charakter“ der Slawen für insgesamt „ehrwürdiger“ als den ihrer Bekehrer. Siehe o. V., Rezension zu: Reitemeier, Geschichte 1, in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 69 (1802), S. 429–435 (Zitat: S. 430). Auf die letztere Rezension reagierte Reitemeier am Ende des zweiten Teils seiner historischen Abhandlung mit starker Zurückweisung und Polemik, was abermals seinen streitlustigen Charakter unterstreicht. Siehe Johann Friedrich Reitemeier, Geschichte der Preußischen Staaten vor und nach ihrer Vereinigung in eine Monarchie, Bd. 2: Geschichte der Preußischen Länder an der Oder und Weichsel vom Jahr 1320 bis 1410, Frankfurt a. d. O. 1805, S. 654–656. 67 Reitemeier war seinen Zeitgenossen eher nicht als Historiker, sondern primär als Rechtswissenschaftler bekannt; noch heute werden, wenn überhaupt, überwiegend seine rechtwissenschaftlichen Abhandlungen rezipiert. In welchem Umfang seine Geschichte der Preußischen Länder im 19. Jahrhundert wahrgenommen und gelesen wurde, kann nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Zahlen zu ihrer Auflagenstärke sind nicht bekannt; eine zweite Auflage hat es jedenfalls nicht gegeben. Der erste Teil seines Gesamtwerkes erfuhr immerhin die beiden erwähnten Besprechungen. Zudem scheint der Autor auch Marx bekannt gewesen zu sein, ob er jedoch aus Reitemeiers umfangreichem Œuvre ausgerechnet die Abhandlung zur preußischen Geschichte studiert hat, muss offenbleiben. Vgl. Maximilien Rubel, Les cahiers de lecture de Karl Marx I.: 1840–1853, in: International Review of Social History 2 (1957), S. 392–420, hier S. 406. In der modernen Geschichtsforschung ist Reitemeier nur vereinzelt Gegenstand von Untersuchungen geworden. Vgl. u. a. Wippermann, Ordensstaat, S. 133 f.; Ders., Ostsiedlung, S. 56 f.; Ders., Drang, S. 27 f. 68 Reitemeier, Geschichte 1, S. 221.

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genannten Ostsiedlung, beschritten.69 Der zweite Band rückt, daran anknüpfend, die politischen Konflikte zwischen den in diesem Raum verorteten Akteuren, zuvorderst dem Deutschen Orden und dem Königreich Polen, schwerpunktmäßig bis 1420 in den Mittelpunkt. Reitemeier kann somit als einer der ersten Historiker gedeutet werden, der diesen Siedlungs- und Missionierungsprozess als zusammenhängendes historisches Phänomen darstellte.70 Das bisweilen negative Bild, das Reitemeier auf Basis einer gleichermaßen oftmals abwertenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chronistik von den slawischen Völkern entlang der südlichen Ostseeküste bis zur Ankunft der deutschen Siedler und der Annahme des Christentums im Hochmittelalter zeichnet,71 ist von der Grundauffassung eines niedrigen kulturellen Niveaus durchdrungen. In ihren Sitten und Bräuchen und in den von ihnen entwickelten Kulturtechniken wollte Reitemeier „nur geringe Spuren einer Cultur“72 erkennen: Die landwirtschaftliche Bebauung des Landes beschreibt er als dürftig, Handwerkskunst und Metallverarbeitung seien weitgehend unbekannt gewesen, dementsprechend hätten ihre Häuser und Arbeitsutensilien lediglich aus einfachen Naturprodukten bestanden.73 In Bekleidung und Bewaffnung waren sie nach Reitemeier gleichermaßen primitiv ausgestattet,74 auch ihre „Volksverfassung“ und Rechtsvorstellungen hätten in einem Zustand der Unvollkommenheit verharrt;75 der Status der Frau habe dem einer Sklavin geglichen.76 Erst mit dem Zuzug der Deutschen und der damit schrittweise einhergehenden Christianisierung der slawischen und baltischen Bevölkerung in Brandenburg, Pommern, Schlesien und dem späteren Ordensgebiet, wobei sich aus Zeiten der Völkerwanderung noch einige „deutsche Familien“77 in diesen Regionen erhielten – auch bei Reitemeier lassen sich Ansatzpunkte für die schon wenig später kolportierte Urgermanentheorie finden78 –, seien „Cultur und Wohlstand“79 ins Land gekommen und ihre „grausamen Sitte[n]“ wie etwa das Aussetzen von Kindern, Menschen69 Ebd., S. 157, 221 f. und 473. 70 Zu diesem Schluss kommt auch Wippermann, Drang, S. 27, 135. 71 Auf eine kleinteilige Nachzeichnung der jeweiligen Entwicklungen in den einzelnen, zur preußischen Monarchie gehörenden Regionen, wie Reitemeier sie programmatisch vornimmt, wird hier verzichtet. Stattdessen richtet sich der Blick an dieser Stelle vielmehr auf die kapitelübergreifenden Zusammenhänge und das Gesamtnarrativ des ersten Bandes. 72 Reitemeier, Geschichte 1, S. 21. 73 Ebd., S. 15 f., 21 f. und 24 f. 74 Ebd., S. 21–23, 502. 75 Ebd., S. 36. Dort findet sich auch das Zitat. Zum Rechtswesen siehe ebd., S. 702 f. 76 Ebd., S. 33 f., 148 und 585. 77 Ebd., S. 8. Reitemeier verwendet mit Blick auf die Frühzeit anstelle von „germanisch“ und „Germanen“ im Wesentlichen die Begriffe „deutsch“ und „Deutsche“. Diese Gleichsetzung erzeugt zwar eine vermeintliche Kontinuität zwischen den Deutschen und den Germanen, ihrer Sitten und ihrer Geschichte, sie ist aber in dieser Zeit gebräuchlich und kann daher nur bedingt als gewollt nationalistische Ausdrucksform verstanden werden. Auch Herder, Ideen 4, S. 22–31, benutzt die Bezeichnung „deutsch“ in diesem Kontext. 78 Reitemeier, Geschichte 1, S. 3–9, 11 f. und 474. 79 Ebd., S. 34.

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opfer, die Tötung der Alten und Schwachen und die Sklaverei verdrängt worden.80 Lediglich vermittels der deutschen Kulturbringer seien „Grundsteine für die Cultur“81 in diesen Landschaften gelegt worden, die sukzessive den „orientalischen Charakter“82 aller dortigen Völker, denen Reitemeier wie Georg Forster rund 15 Jahre zuvor zudem „Unreinlichkeit“83 attestierte, verschwinden ließen. Kurzum: Nur durch die Deutschen seien Slawen und Balten in den Genuss der „Vortheile der Kultur und der Annehmlichkeiten des Luxus“ gekommen.84 Auf diese Weise ist die ganze Region – die Südküste der Ostsee inklusive des dazugehörigen Hinterlandes bis Schlesien – gewissermaßen erst an den europäischen Kulturraum angeschlossen und damit der zivilisierten Welt gewonnen worden.85 Dementsprechend will Reitemeier in der „Verpflanzung des ersten Keimes der höhern Cultur“86 in die slawischen Völker und in ihrer Christianisierung durch die Deutschen, die unter anderem schließlich zu der Einführung der Schrift, des Kalenders, einer Rechtsordnung und Verfassung in diesen Räumen geführt hat, das wichtigste Moment in der slawischen Geschichte per se erkennen.87 Unter der „höhern Cultur“ verstand Reitemeier jene „Wissenschaften und Künste“,88 die für die Herausbildung und Weiterentwicklung eines komplexen, ausdifferenzierten gesellschaftlichen Ordnungssystems etwa in Form eines Staatswesen grundsätzlich notwendig waren und über „gemeine Kenntnisse und Geschicklichkeiten“89 in den Sektoren „Producirung, Fabrication und des Handelsverkehrs“90 und dafür nötige Kompetenzen wie Schriftlichkeit und dergleichen mehr hinausgingen. Zentrale Anwendungsbereiche der „höhern Cultur“ sind für Reitemeier demnach das, was wir heute als Rechts-, Wirtschafts-, Militär- und Staatswissenschaften bezeichnen, sowie die diesen Disziplinen dienlichen Wissensfelder.91 Abseits einer ersten strukturellen Grundlegung der „höhern Cultur“ in den slawisch und baltisch besiedelten Gebieten des nördlichen und östlichen Mitteleuropa durch die Niederlassung der Deutschen sei auch das Alltagsleben der dortigen Völker durch ihre Ankunft und dem damit einhergehenden Kulturimport wesentlich verbessert worden. Die Missionare und Siedler, die die Wildnis in dieser Region zu zähmen begannen, brachten das Wissen über den Anbau von Weizen und Rog80 81 82 83 84 85 86 87 88

Ebd., S. 147 f. Ebd., S. 147. Ebd., S. 33, 150. Ebd., S. 35, 596. Ebd., S. 502. Ebd., S. 365. Ebd., S. 153. Siehe dort auch zum Folgenden. Ebd., S. 614, 636–638 und 702–721. Ders., Ueber die höhere Cultur, deren Erhaltung, Vervollkommnung und Verbreitung im Staat oder Grundsätze von der zweckmäßigen Einrichtung der Volksschulen, Gymnasien, Universitäten und gelehrten Gesellschaften (Scriptor Reprints, Sammlung 18. Jahrhundert), Königstein 1980 (ND Frankfurt a. d. O. 1799), S. 1. 89 Ebd., S. 2. 90 Ebd., S. 1. 91 Ebd., S. 3.

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gen sowie über den Weinbau, effektivere landwirtschaftliche Techniken, das Handwerk, die Baukunst, den Bergbau und schließlich auch die schönen Künste in diese Region.92 Sinnbild ist die Einführung des eisernen „deutschen Pfluges“, der im Gegensatz zu dem „slawischen Pflug“ in der Lage war, den dichten und schweren, aber auch besonders fruchtbaren Boden in diesen Landschaften urbar zu machen.93 Dieser Zivilisierung- und Christianisierungsprozess ging zudem nach Auffassung Reitemeiers mit einer sukzessiven Vermischung insbesondere der westslawischen und baltischen Bevölkerung mit den sich dort niederlassenden deutschen Siedlern einher, wobei schließlich erstere in der deutschen Bevölkerung mehr oder weniger vollständig aufging.94 Durch diese „Deutschwerdung“ seien schließlich „glückliche Verhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten“ hergestellt worden.95 Als Ergebnis sah Reitemeier letztlich auf diese Weise eine „fortlaufende Linie von deutschen Ländern […] von der Elbe bis an die Memel“96 geschaffen. Trotz seiner Grundhaltung, die Slawen und Balten seien vor der endgültigen Annahme des Christentums und der „höhern Cultur“ primitive, wilde Völker gewesen, finden sich bei ihm auch positive Aussagen über selbige. Immer wieder lobt er aufrichtig die Tapferkeit, mit der die unterschiedlichen, freiheitsliebenden slawischen Stämme sich der Eroberungszüge der Dänen und Deutschen zu erwehren versuchten.97 An anderer Stelle rühmt er konkret die Unerschrockenheit der Litauer, die sich, obwohl „die Deutschen durch eine bessere Verfassung insbesondere in der Kriegskunst […] den Litthauern so viele Vortheile im Kriege voraus hatten“98, erfolgreich gegen die Unterwerfungsversuche des Ordens verteidigen konnten. Den Wenden wiederum gesteht er zu, nachdem sie die Techniken der Deutschen erlernt hätten und zum Christentum übergegangen seien, zur „Verbesserung der Landescultur nicht ungeschickt“ zu sein „und nicht weniger als die Deutschen und Dänen zur Melioration des Landes“ beitragen zu können.99 So hätten auch deutsche Fürsten Wenden in ihrem Herrschaftsgebiet für den Landesausbau angeworben. Diese und ähnliche Passagen sind bei Reitemeier auch anzutreffen, sie treten in Häufigkeit und Prägnanz etwa gegenüber Herder und Hentze zugunsten einer Lobpreisung der kulturtragenden Funktion der Deutschen indes deutlich zurück. Dass es den Deutschen schließlich gelungen sei, sich gegen die ansässigen slawischen und baltischen Stämme durchzusetzen, führt er dabei auf den „Vorzug der Kultur“ zurück.100 Der Kontakt zwischen Slawen, Balten und Deutschen spielte sich jedoch auch in der Darstellung Reitemeiers, obwohl er die friedliche Anwerbung von Kolo 92 Reitemeier, Geschichte 1, S. 15 f., 150 f., 530 und 545.  93 Ebd., S. 15 f.  94 Ebd., S. 10 f., 15, 157 und 298 f.  95 Ebd., S. 515. Dazu auch der insgesamt von nationalistischen Sichtweisen geprägte vierte Abschnitt, siehe ebd., S. 474–516.  96 Ebd., S. 476. Siehe dazu auch die Passage ebd., S. 298–301.  97 Ebd., S. 42, 108–110, 293 und 474.  98 Reitemeier, Geschichte 2, S. 403.  99 Ders., Geschichte 1, S. 514. Siehe dort auch zum Folgenden. 100 Ebd., S. 503.

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nisten etwa durch polnische Fürsten betont,101 keineswegs immer friedlich ab. Er widmete sich ebenfalls der gewaltsamen Unterdrückung und Missionierung dieser Völker und warf im Gleichklang mit vorhergehenden Historikergenerationen der christlichen Geistlichkeit „Bekehrungssucht“102 sowie „Verfolgungs- und Zerstöhrungsgeist“,103 der in „Extreme“ verfallen sei,104 und den deutschen Fürsten „Eroberungsbegierde“105 vor. In diesem Kontext überrascht es dann nur bedingt, dass Reitemeier das Christentum, das er als „Hauptbeförderungsmittel der höhern Cultur“106 lobt, an anderer Stelle aufgrund der bisweilen gewalttätigen Missionspraktiken durchaus kritisch hinterfragt. Er stellt explizit die Frage: Ob die Lehren, welche das Christentum in den Ländern an der Oder und Weichsel verbreitete, für diese ganz so wohltätig geworden sind, als es ihr Inhalt vermuthen läßt, möchte außerdem auch noch bei einer Vergleichung der Wendischen Religion mit der Römischen und Griechischen bezweifelt werden können. Denn da in dem südlichen Europa sich große Vorzüge ohne dergleichen Religionslehren entwickelt haben, so möchte man nicht ohne Grund etwas ähnliches in den Ländern an der Oder und Weichsel, bei Beibehaltung der alten Landesreligion haben erwarten können.107

Diese Passage, die gewisse Parallelen zu der von Herder am universellen Geltungsanspruch des Christentums formulierten Kritik aufweist, nach der sich die germanischen, slawischen und baltischen Völker selbstständig und von der bisweilen grausamen Christianisierung ungestört hätten entwickeln dürfen,108 steht für eine offene und kritische spätaufklärerische Geisteshaltung Reitemeiers Pate. Er verstand das Christentum nicht eo ipso und aus dogmatischer Überzeugung heraus als ein überlegenes Ordnungssystem, das zwangsläufig positive Einflüsse auf die Gesellschaft und Kultur von Völkern zur Folge haben musste. Konkret mit Bezug auf die Slawen argumentiert er jedoch, dass ohne den Einfluss des Christentums die „untern Volksklassen“, nachdem sie selbstständig von der Sklaverei befreit worden seien, „schwerlich haben in gehöriger Ordnung gehalten werden können“.109 Reitemeier gesteht den slawischen und baltischen Völkern also durchaus zu, dass sie konkret die Sklaverei als moralisch inakzeptable gesellschaftliche Praxis eigenständig hätten überwinden können. Die große Leistung des Christentums, durch die sie sich als ein besonders leistungsfähiges Strukturprinzip von Welt auszeichnet, will Reitemeier allerdings in dem Umstand erkennen, dass nur das Christentum „Freiheit 101 Ebd., S. 492 f. 102 Ebd., S. 89. 103 Ebd., S. 734. 104 Ebd., S. 748. 105 Ebd., S. 89. 106 Ebd., S. 728. 107 Ebd., S. 747. 108 Herder, Werke, S. 221 f. 109 Reitemeier, Geschichte 1, S. 747.

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und Gleichheit bei einem angemessenen Gehorsam gegen die Obrigkeit“110 gewährleisten könne – Christentum und Freiheit sind für Reitemeier miteinander verwobene Leitkategorien, deren vermeintliches symbiotisches Verhältnis zueinander wenig später bei Hegel systematisiert wird.111 Insbesondere die Einkehr des Prinzips der Freiheit und die damit einhergehende „Veredelung der unteren Stände“ sowie die Herausbildung eines „freien Bürgersinnes“ haben Slawen und Balten nach Reitemeier dem Christentum zu verdanken.112 Der slawische Paganismus war aus Sicht Reitemeiers zu der Herausbildung einer derartigen Ordnung, die er offenbar als Ideal betrachtet, nicht in der Lage. Wenig später äußert er aber auch Bedauern darüber, dass die heidnischen Volksfeste, denen er große Bedeutung für die Entstehung eines „Nationalcharakters“ beimisst, die aber auch als Ausdruck von „Erheiterung“ und „Frohsinn“ gedient hätten, zerstört und durch die Vorstellung einer christlichen Hölle ersetzt worden seien, die dort den „Frohsinn […] getrübt und Büßungen, Peinigungen und Beängstigungen“113 mit sich gebracht habe.114 All diese Punkte, die gewaltsame Christianisierung, die zahlreichen Kriege und Konflikte in der Region in Folge der Niederlassung der deutschen Siedler und des Ordens sowie schließlich die Tilgung der slawischen und baltischen Lebensweise, hielt Reitemeier – darin unterscheidet er sich diametral von Herder115 – schlussendlich jedoch für „notwendige Übel“116, die es seitens der Slawen und Balten zu erdulden gegolten habe, denn nur auf diesem Weg habe sich die Kultur mit all ihren 110 Ebd. Auch in diesem Punkt sind gewisse Ähnlichkeiten zwischen Reitemeier und Herder ausfindig zu machen, der dem Christentum mit Blick auf die europäischen Völker eine inkludierende und friedensstiftende Funktion attestierte, während er der Institution Kirche sehr kritisch gegenüberstand. Siehe Löchte, Herder, S. 133. 111 Zur paradigmatischen Verschränkung von Freiheit und Christentum bei Hegel siehe Jörg Dierken, Freiheit als religiöse Leitkategorie. Protestantische Denkformen zwischen Luther und Kant, in: Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, hg. von Jörg Dierken und Arnulf von Scheliha (Religion in Philosophy und Theology 16), Tübingen 2005, S. 119–144, hier S. 119 f.; Emil Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, Berlin/New York 1977; Christoph Binkelmann, Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel (Quellen und Studien zur Philosophie 82), Berlin 2007. 112 Reitemeier, Geschichte 1, S. 744. 113 Ebd., S. 742, 749. 114 Die oben genannten Passagen in Reitemeiers Werk, die die gewaltsame Christianisierung der Slawen und Balten nicht uneingeschränkt gutheißen und ihnen bisweilen positive Attribute zuordnen, sowie die kritische Reflexion über Sinn und Nutzen der Christianisierung für diese Völker finden bei Wippermann keinerlei Beachtung. 115 Herder schreibt in seinen Briefen über die Beförderung der Humanität mit Blick auf die Kolonialisierung der Welt, dass der Europäer „nicht cultivirt, sondern die Keime eigner Cultur der Völker, wo und wie er nur konnte, zerstöret“ habe. Dieses Urteil kann analog auf den mittelalterlichen Kultivierungsprozess der Slawen durch die Deutschen, den er ebenfalls grundsätzlich verurteilt, übertragen werden. Siehe Herder, Werke, S. 222 f. Herder urteilt in diesem Zusammenhang anders als Reitemeier durchaus fortschrittskritisch, wenn er schreibt, dass sich die Völker und Kulturen in der Regel mit Gewalt begegnen würden, ohne daraus Vorteilhaftes zu ziehen. Dazu ferner Löchte, Herder, S. 134 f. 116 Reitemeier, Geschichte 1, S. 737.

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Vorzügen in diesen Regionen durchsetzen können. In diesem Sinnzusammenhang ist die Aneignung und strukturelle Etablierung der „höhern Cultur“ für Reitemeier kein Selbstzweck: Die dort verhandelten und vermittelten Fähigkeiten und Kenntnisse, die durch systematische Bildungsarbeit intensiviert und ausgebaut werden können,117 haben für ihn eine „Veredelung“ des Menschen zur Folge, der auf diese Weise erst zu dem „Genuss eines größern Glücks“ befähigt werde.118 Die Grundlegung und Durchsetzung der „höhern Cultur“ in bis dato wenig entwickelten Völkern – ob autochthon hervorgebracht oder durch andere Völker vermittelt – eröffne diesen Möglichkeiten und Spielräume, die ihnen ansonsten verschlossen wären. Durch die Einkehr der „höhern Cultur“ mit all den zugehörigen Implikationen sei die Menschheit – oder in diesem Fall ganz konkret die Slawen und Balten – gewissermaßen aus dem Zustand der Barbarei heraus und auf eine neue Zivilisationsstufe hinaufgehoben worden. So kann die Geschichte der Preußischen Staaten auch als Apologie der bisweilen grausamen Missionierungspraktiken gelesen werden. Schließlich hätten die Deutschen den Slawen und Balten das Geschenk der Kultur gemacht. Reitemeier verstand erstere offensichtlich als Träger der „höhern Cultur“ in diese Räume und postulierte ein kulturelles und zivilisatorisches, hierarchisch gegliedertes Entwicklungsgefälle zwischen den Deutschen auf der einen, Slawen und Balten auf der anderen Seite, in dem die bis dato auf einem niedrigeren Kulturniveau verharrenden letzteren Völker lediglich als Rezipienten der höheren deutschen Kultur fungierten.119 Bei dieser stereotypischen Grundannahme120 handelt es sich um eine zentrale Prämisse der sogenannten, bisher unsystematisierten Kulturträgertheorie,121 die weiter modifiziert und radikalisiert rund 50 Jahre später in der deutschen Historiographie als anerkannte Lehrmeinung salonfähig wurde und als unhinterfragtes Deutungsmuster für das deutsch-slawische Verhältnis Verwendung fand. Auch wenn Reitemeier retrospektiv sicherlich den Weg für diese nationalistisch ideologisierte Weltanschauung ebnete und seine Abhandlung selbst von Nationalismen durchzogen ist,122 wäre die Schlussfolgerung, sein historisches Gesamtwerk 117 Welchen Stellenwert Reitemeier der Bildung für die Aneignung und Weiterentwicklung der „höhern Cultur“ und damit schließlich auch der Menschheit beimaß, lässt sich Ders., Cultur, entnehmen. 118 Ebd., S. 3. 119 Lediglich einige wendische Worte haben nach Reitemeier, Geschichte 1, S. 512, Zugang in die deutsche Sprache gefunden. 120 Erlen, Landesausbau, S. 1. Zur historischen Stereotypenforschung vgl. Hans Henning Hahn (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen (Mitteleuropa – Osteuropa: Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte und Ostmitteleuropas 5), Frankfurt a. M. 2002. 121 Dieser Terminus taucht als Forschungsbegriff bei Wippermann, Ordensstaat, S. 19, auf. Bereits Johannes Haller (1865–1947) sprach 1918 von den Deutschen als „Kulturträger[n]“. Benjamin Hasselhorn, Johannes Haller. Eine politische Gelehrtenbiographie (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften 93), Göttingen 2015, S. 376. 122 Vgl. dazu vor allem Reitemeier, Geschichte 1, S. 474–516.

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lediglich als Ausdrucksform eines explizit deutschen kulturellen Überlegenheitsgefühls zu beurteilen,123 zu kurz gegriffen. Denn die Deutschen selbst präsentieren sich bei ihm, wenn auch unter anderem Vorzeichen, als Empfänger von Kultur: Es sind primär die Römer und bisweilen auch die Byzantiner, durch die die Deutschen beziehungsweise die Germanen in Spätantike und Mittelalter selbst erst in den Kontakt mit der „höhern Cultur“ gekommen seien.124 Eine Ikonisierung der Deutschen als Kulturvolk sui generis nimmt Reitemeier anders als seine Zunftgenossen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht vor. Konkret in seiner Encyclopädie offenbart sich ein ganz ähnliches Bild der Deutschen vor der Annahme des Christentums und der römischen „Künste, Kenntnisse und Religion“125 wie in der Geschichte der Preußischen Staaten von den Slawen. Die Deutschen werden in der Encyclopädie zunächst als wilde und rohe „Nomaden“ und „Barbaren“ beschrieben,126 die nur durch die vielgestaltigen, mal friedlichen, mal gewalttätigen Kontakte mit den Römern im Zuge der Völkerwanderung in den Genuss „höherer Kenntnisse“, „feinerer Sitten“ und schließlich einer „Bildung des Geistes“127 gekommen seien und nur auf diesem Weg „langsame Fortschritte in der Cultur“ gemacht hätten.128 Anhand dieser Abhandlung, die sich unter anderem mit der Herausbildung eines deutschen Rechtsverständnisses und -wesens beschäftigt, lässt sich die kulturstiftende Funktion der Römer für die Deutschen exemplarisch nachvollziehen: Erst mit „Aufnahme der ausländischen Rechte in Deutschland“ und durch die „Kenntnisse fremder Staatsverfassungen, Sitten, Begebenheiten und Sprache“ habe sich aus den anfänglich primitiven Rechtsvorstellungen so etwas wie ein eigenständiges deutsches Recht entwickeln können.129 Diese Sichtweise, dass auch die Deutschen vor Ankunft des Christentums und der Kultur ein unzivilisiertes Volk gewesen sein sollen, spiegelt sich ferner in der Geschichte der Preußischen Staaten wider: Auch dort präsentiert Reitemeier die Deutschen als wilde „Barbaren“.130 Den Ästiern attestiert er in diesem Zusammenhang, dass sie den Ackerbau sogar „fleißiger als die [derzeitigen] Deutschen“ betrieben hätten.131 Ähnlich wie die Deutschen, die, nachdem sie „einige römische Provinzen“ erobert hatten, die Sitten und Bräuche der Römer anzunehmen begannen, so Reitemeier, zogen die Slawen, wenn auch unter anderen Bedingungen und nicht immer freiwillig, letztlich die deutsche Kultur ihrer eigenen, vorgeblich weniger weit entwickelten vor.132 Dabei habe die deutsche Geistlichkeit, die im nördlichen und 123 Diese Schlussfolgerung findet sich etwa bei Wippermann, Ordensstaat, S. 135; Ders., Drang, S. 28 f. 124 Reitemeier, Geschichte 1, S. 4, 503; Ders., Encyclopädie, S. 257. Dort findet sich auch das Zitat. 125 Ders., Encyclopädie, S. 116. 126 Ebd., S. 111, 116. Dort finden sich auch die Zitate. 127 Ebd., S. 46. Dazu auch Reitemeier, Geschichte 1, S. 5 f. 128 Ders., Encyclopädie, S. 142. 129 Ebd., S. 259. Dort finden sich auch die Zitate. 130 Reitemeier, Geschichte 1, S. 5. 131 Ebd., S. 7. 132 Ebd., S. 5 f. und 479 (Zitat: S. 503).

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östlichen Mitteleuropa und darüber hinaus das Kreuz predigte, ihre theologische Ausbildung wiederum in den Kulturzentren Europas, in Frankreich sowie Italien und nicht in Deutschland, bezogen.133 Die Durchsetzung vermeintlich höherwertiger Kulturpraktiken, Fähigkeiten und Kenntnisse – worin auch immer genau diese Höherwertigkeit bestehen mag – qua Entlehnung von „gebildeteren Nationen“134 und schließlich auch deren Weiterentwicklung präsentieren sich bei Reitemeier demnach als naturgemäße Vorgänge. Diese Passagen verdeutlichen, dass Reitemeier grundsätzlich von einem inklusiven Kulturverständnis ausgeht: So, wie die Deutschen beziehungsweise Germanen von dem Kulturaustausch mit den Griechen und Römern enorm profitiert hätten, profitierten während der Ostsiedlung die slawischen und baltischen Völker von den Deutschen.135 An diesem Prozess wirkten bisweilen sogar slawische Völker selbst mit: So seien das Christentum und damit schließlich auch bestimmte Kulturleistungen vorrangig durch die Polen an die Litauer weitergetragen worden.136 Die Zivilisierung und Kultivierung dieser Völker und des ganzen Raumes ist für Reitemeier im Kern also weniger Ausdruck deutsch-nationalistischer Überlegenheitsvorstellungen – diese Deutungsweisen sind verstärkt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ausfindig zu machen –, sondern vielmehr als Bestandteil eines zeitlich wie methodisch heterogenen gesamteuropäischen Kultivierungsprozesses zu verstehen.137 Dabei erhärtet sich im Lauf der Lektüre nicht nur der Eindruck, dass Reitemeier die Kultur selbst fast schon als eigenständig wirkenden, personifizierten Akteur begreift, sondern auch, dass er die deutsche Nation von einem zivilisatorischen Sendungsauftrag ergriffen sah, gewissermaßen als Erfüllungsgehilfe die abendländische Kultur im nördlichen und östlichen Mitteleuropa zu verbreiten und die dortigen Völker aus ihrer Primitivität herauszuheben.138 Anhand Reitemeiers Geschichte der Preußischen Staa133 Ebd., S. 727. 134 In Europa finde die „höhere Cultur“ ihren Ursprung in Griechenland und in Rom. Weniger entwickelte Völker, die in einem kulturellen Austausch mit diesen standen, hätten wiederum bestimmte kulturelle Merkmale von diesen adaptiert, was zur Folge hatte, dass sich die „höhere Cultur“ daselbst durchsetzte. Vgl. dazu Ders., Cultur, Kap. 1–3, exemplarisch S. 41 f. An dieser Stelle sei aber auch darauf verwiesen, dass die Griechen und die Römer selbst in intensivem Kontakt mit den Völkern des Vorderen Orients standen und von diesen Wissen entlehnten. 135 Mit Blick auf den postulierten Kulturtransfer von Süd nach Nord ähneln die Deutungen Reitemeiers doch sehr denen Herders, der gleichermaßen von einer naturgemäßen Ausbreitung der Kultur ausgeht und den Griechen, aber auch den Indern, Persern, Türken, Hebräern und Arabern attestiert, als „wesentliche kulturelle Antriebskraft allgemeiner kultureller Entwicklungen“ fungiert zu haben. Zit. n. Löchte, Herder, S. 133. 136 Reitemeier, Geschichte 2, S. 501. 137 Dazu programmatisch Ders., Cultur, insb. Kap. 1–3. Zu einer deutlich negativeren und einseitigeren Bewertung von Reitemeiers Geschichte der Preußischen Staaten kommt Wippermann und, ihm in seiner Interpretation folgend, Gerwing und Tu. Vgl. Wippermann, Ordenstaat, S. 133 f.; Ders., Ostsiedlung, S. 56 f.; Ders., Drang, S. 27 f.; Tu, Ostsiedlung, S. 67–70; Gerwing, Forschung, S. 16 f. 138 Besonders prominent finden sich die Vorstellungen einer christlichen-germanischen Sendung unter eindeutig nationalistischen Vorzeichen wenig später bei Friedrich Kohlrausch und Ernst Moritz Arndt. Dazu Ernst Weymar, Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Be-

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ten tritt deutlich zu Tage, dass sich an dem Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert ein normatives Kulturverständnis auszuprägen begann, in dem ein möglichst hoher Grad an Kultiviert- und Zivilisiertheit zu einem menschheitsgeschichtlichen Idealzustand erhoben wurde – diesen kulturoptimistischen Grundgedanken sah er in der zivilisatorischen Vermittlerrolle der Deutschen gegenüber Slawen und Balten im Hochmittelalter verwirklicht. Dieser Umstand darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Reitemeier unter Verweis auf die kulturtragende Mission der Deutschen in diesen Regionen im Mittelalter die polnisch-litauischen Teilungen und den damit einhergehenden Landerwerb Preußens sowie die dortige Verwaltungspraxis begrüßte. Nicht ohne Grund sind die von 1772 bis 1795 an Preußen gefallenen Gebiete West-, Neuostsowie Südpreußen explizite Untersuchungsgegenstände seiner Geschichte der Preußischen Staaten.139 Denn diese Landstriche seien, wie sein Werk eindeutig zu verstehen gibt, seit dem Mittelalter mit der deutschen Geschichte und Kultur aufs Engste verwoben und angesichts der kulturstiftenden Funktion der deutschen Einwanderer letztlich „ganz Deutsch geworden“.140 Auf dieser Grundlage verfüge das Königreich Preußen, das Reitemeier ganz bewusst in eine Traditions- und Kontinuitätslinie mit dem Deutschen Orden und der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung stellt, über einen unveräußerlichen Besitz- und Herrschaftsanspruch auf diese Gebiete, so die offensichtliche, gegenwartsbezogene Schlussfolgerung.141 Bereits in der Einleitung zum ersten Band spricht Reitemeier sicherlich auch mit Blick auf die polnisch-litauischen Teilungen davon, dass der preußische „Staatenverein“ seit jeher die „Bruchstücke zerfallener Reiche“ sammle und diese in einer „Revolution von der wohltätigsten Art“ zusammenführe.142 Diese Sammlung sah Reitemeier mit der Arrondierung des preußischen Territoriums auf Kosten der polnisch-litauischen Adelsrepublik zumindest äußerlich abgeschlossen. Es sind diese und ähnliche Pasricht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert (Geschichte und Wissenschaft und Unterricht, Beiheft 12), Stuttgart 1961, S. 19–49. Zu Arndt ferner Brian Vick, Arndt and German Ideas of Race. Between Kant and Social Darwinism, in: Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, hg. von Walter Erhart und Arne Koch (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 112), Tübingen 2007, S. 65–76, hier S. 70 f.; Wiebke Otte, Arndt und ein Europa der Feinde? Europagedanken und Nationalismus in den Schriften Ernst Moritz Arndts, Marburg 2007, insb. S. 100–105. 139 Reitemeier, Geschichte 1, Inhaltsanzeige. 140 Ebd., S. 299, 479. 141 In diesem Zusammenhang sei auf den wiedererstarkten Nationalismus in Polen-Litauen im Kontext der Verabschiedung der Maiverfassung 1791 verwiesen, der von den Teilungsmächten als Bedrohung für den Erhalt ihres bisherigen territorialen Zugewinns wahrgenommen wurde. Vgl. Hans Lemberg, Polen zwischen Rußland, Preußen und Österreich im 18. Jahrhundert, in: Die erste polnische Teilung 1772, hg. von Friedhelm Berthold Kaiser und Bernhard Stasiewski (Studien zum Deutschtum im Osten 10), Köln 1974, S. 29–48, hier S. 46; Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, hg. von Otto Büsch, Berlin 2012, S. 423–431, hier S. 426 f.; Müller, Teilungen, S. 43–51. 142 Reitemeier, Geschichte 1, S. IV. Dort finden sich auch die Zitate.

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sagen, mit denen Reitemeier vor allem kaiserzeitlichen Forderungen nach einer identitätsauflösenden, vollständigen Assimilierung und Germanisierung der westslawischen Völker Vorschub leistete.143 In diesem Zusammenhang können seine Ausführungen durchaus auch als Appell verstanden werden, den von den Deutschen im Mittelalter angestoßenen Kultivierungs- und Zivilisierungsprozess in diesen Regionen, der durch die Herrschaft Polens über diese Räume seit dem ausgehenden Spätmittelalter ein Stück weit unterbrochen wurde, zum Wohle der dortigen Bevölkerung fortzuführen und endgültig abzuschließen. Die dafür notwendige Grundannahme, dass die Bevölkerung Polen-Litauens noch im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert unzivilisiert, rückständig und dementsprechend kulturbedürftig sowie schlichtweg nicht in der Lage sei, erfolgreich einen Staat zu lenken, spiegelt sich wiederum in dem in der deutschen und preußischen Öffentlichkeit gängigen Stereotyp der polnischen Wirtschaft wider. Er wird auch Reitemeiers Slawenbild beeinflusst haben. Derartigen Interpretationen144 ist jedoch mit einer gewissen Vorsicht gegenüberzustellen, dass Reitemeier, anders als nachfolgende Historikergenerationen, keine konkreten gegenwartspolitischen Äußerungen und Positionierungen in seinen Werken vornahm.145 Sicher ist hingegen eins: Reitemeiers Geschichte der Preußischen Staaten legt Zeugnis für eine im Wandel begriffene deutsche und preußische Historiographie ab, die die vermeintliche segensreiche kulturtragende Funktion der Deutschen im Kontext der Ostsiedlung sukzessive in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung rückte und damit die bisweilen gewaltsame Christianisierung und Niederlassung deutscher Siedler im Mittelalter zu rechtfertigen versuchte. Reitemeier war ein Vorbote einer Epoche, die die mittelalterliche Geschichte des nördlichen und östlichen Mitteleuropas zunehmend im Zeichen des Nationalismus zu ideologisieren und als Leit- und Vorbild einer politischen Grundhaltung gegenüber dem Osten zu instrumentalisieren begann.

143 Siehe dazu überblicksartig Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016. 144 Wolfgang Wippermann will Reitemeiers Geschichte der Preußischen Staaten gar als Programmschrift lesen, die nicht nur die polnisch-litauischen Teilungen rechtfertigt, sondern auch zu einer „schnelle[n] und rücksichtslose[n] Germanisierung“ auffordert und „‚Kultur‘ und ‚Deutschtum‘“ grundsätzlich äquivalent setzt. Ob ihm eine derart zugespitzte Bewertung, die Reitemeier schon fast auf Augenhöhe mit der chauvinistischen Geschichtsschreibung um die Mitte des 19. Jahrhundert stellt, gerecht wird, muss in Frage gestellt werden. Vgl. Wippermann, Ordensstaat, S. 135. Ähnliche Lesarten: Ders., Ostsiedlung, S. 56; Ders., Drang, S. 28 f., 135. Ihm folgen Tu, Ostsiedlung, S. 67–70; Gerwing, Forschung, S. 16 f. 145 So schreibt etwa Heinrich Treitschke 1862: „Alltäglich noch tragen Deutsche die Segnung der Kultur gen Osten“. Siehe Heinrich von Treitschke, Das deutsche Ordensland Preußen, Leipzig 1920, S. 96.

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Fazit Die Kultivierung des nördlichen und östlichen Mitteleuropas begegnet dem Leser bei Reitemeier als Bestandteil eines zeitlich wie methodisch uneinheitlichen, europa­ umfassenden Zivilisierungsprozesses, der, ausgehend von dem antiken Griechenland und dem Römischen Reich, zunächst die Völker West- und Mitteleuropas in den Kontakt mit der „höhern Cultur“ gebracht hat. Nachdem die „germanischen Völker“146 im Verlauf der Spätantike und des Mittelalters diese vielgestaltigen kulturellen und zivilisatorischen Praktiken von den Römern adaptiert und weiterentwickelt hatten, brachten sie diese Kulturleistungen wiederum in die Peripherie ihres Wirkungskreises, ins östliche und nördliche Mitteleuropa – so Reitemeiers Grundkonzept. Mit der Einwanderung deutscher Siedler in die östlichen Randgebiete des Heiligen Römischen Reiches im Hochmittelalter und der Gründung des Deutschordensstaates sah Reitemeier dann einen Prozess losgetreten, der in einer Abkehr der dort ansässigen slawischen und baltischen Völker von ihren „asiatischen Sitten“ und schließlich in einem Anschluss dieser Räume an den abendländischen Kulturraum münden sollte. Unter Einwirkung der deutschen Kulturträger sei letztlich die ganze südliche Ostseeküste und ihr Hinterland von der Elbe bis an die Memel zivilisiert und der „Deutschen Nation“ gewonnen worden. Auch wenn die Geschichte der Preußischen Staaten unter dem Leitmotiv dieser kulturstiftenden Funktion der Deutschen steht, lassen sich darin jedoch auch Passagen ausfindig machen, in denen Reitemeier für die slawischen und baltischen Völker lobende und einfühlende Worte findet und die bisweilen gewalttätigen Praktiken der Ordensritter und deutschen Eroberer kritisiert. Letztere rechtfertigt er im Gegensatz zu Herder und seinen Gesinnungsgenossen als „notwendige Übel“, die geboten waren, damit sich zum Wohle dieser Völkerschaften das Christentum und damit zusammenhängend die Kultur mit all ihren Vorzügen etwa einer freiheitlichbürgerlichen Ordnung etablieren konnten. In diesem Zusammenhang deutet sich bei Reitemeier bereits ein deutsches Sendungsbewusstsein an, das wenig später bei Ernst Moritz Arndt seinen vielleicht prominentesten Niederschlag fand. Insgesamt präsentiert Reitemeier ein Bild der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, das dem Zeitgeist einer sich um die Jahrhundertwende habituell im Fluss befindlichen Historikerzunft entspricht: Zum einen ist bei ihm bereits ein deutlich nationalistisches Movens auszumachen, das die Kultivierung des nördlichen und östlichen Mitteleuropas in Ansätzen als segensreiche deutsche Tat glorifiziert und dadurch zum Teil dem der mittelalterlichen Ostsiedlung und dem Deutschen Orden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zugrunde liegenden Forschungsparadigma vorgreift. Zum anderen finden sich gleichermaßen Rückgriffe auf aufklärerische Motive, die insbesondere die Heidenmission des Deutschen Ordens und die Unterdrückung der Slawen und Balten als moralisch verwerflich kritisierte. Reitemeier kann also in gewisser Hinsicht als ein Grenzgänger zwischen zwei geschichtswissenschaftlichen Deutungssystemen begriffen werden. 146 Reitemeier, Geschichte 1, S. 1.

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„Feindobjekt ‚Schiene‘“ Schleswig-Holsteins Grenzübergänge im Visier der Stasi

Abstract Thirty years have passed since the beginning of the systematic working up of the Stasi files by the Stasi Records Agency (BStU). Approximately six million personal dossiers were left behind by the state security of East Germany (GDR), from which a vast amount remains unopened. Concerning this attempt of full social control, not only organs of the state or members of the political elite were targeted – but especially all of the working people. In this persecution, the passages of the borders of state came into special focus. In order to support the operational concepts of the travel related Main Department VI, train drivers and travelling senior citizens were recruited as unofficial collaborators (IM). After the formal closure of the border to West Germany (FRG) on the 13 August 1961, the remaining railway crossings in Schleswig-Holstein were Herrnburg-Lübeck and Schwanheide-Büchen. The village of Büchen in the Duchy of Lauenburg became the linchpin of interzone traffic in northern Germany. This article focuses on the approach of the Department VI regarding the selection, training and assignments the IM were involved with. What kind of information was actually obtained by the spies? Light is shed upon the role of the Department VI as a hinge for the other Main Departments because of the accessibility of the people frequenting the border passages. Finally, psychological consequences for the systematically clamped IM are set forth. A ‚Spiegel‘ editor crossed the border using a false name on the 27th and spent four hours here. Real name: G ­ regor Hessenstein. Dept. VI followed him to Prenzlauer Berg, then lost his trail. Did he have contact with Dreyman?1

Das einleitende Filmzitat entstammt dem 2006 erschienenen Drama Das Leben der Anderen. Es thematisiert die Observierung des Kulturschaffenden Georg Dreyman, der einen Artikel über die geheim gehaltene Selbstmordrate in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verfasst. Der Text soll in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) geschmuggelt und dort veröffentlicht werden, doch beim Betreten der DDR gerät der Kurier des westlichen Nachrichtenmagazins in das Fadenkreuz der mit der Grenzsicherung beauftragten Abteilung innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS): Dept. VI followed him. 1 Szene aus dem deutschen Spielfilm „Das Leben der Anderen“ (2006).

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Die im Verhältnis zur Bevölkerungsanzahl von über 16 Millionen Menschen ungeheuerliche Verdichtung nachrichtendienstlicher Informationserfassung des 1950 gegründeten MfS zielte auf die lückenlose Erfassung subversiver Tätigkeiten im Inund Ausland ab. Der Personalbestand des Staatssicherheitsdienstes (Stasi) umfasste 1989 91.015 hauptamtliche und etwa 189.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM).2 Jeder 50. Bürger hatte sich demnach vom MfS als Spitzel anwerben lassen. In den über vier Dekaden, die die DDR bestand, belief sich die Gesamtanzahl der IM auf etwa 600.000 zumeist männliche Personen. Auch das auf die Grenzübergänge gerichtete Überwachungskonzept wies diesen heimlichen Zuträgern, die Erich Mielke wiederholt als seine „Hauptwaffe“ bezeichnete, eine tragende Rolle zu.3 Federführend erarbeitet wurde es durch die Linie VI (Passkontrolle, Tourismus, Interhotel), den 1989 mit 7.667 Mitarbeitenden am weitesten ausgebauten operativen Bereich des MfS.4 136 Kilometer der etwa 1.390 Kilometer langen innerdeutschen Grenze verliefen am östlichen Rand Schleswig-Holsteins. Mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Konsequenzen der deutschen Teilung waren hier in erster Linie die Hansestadt Lübeck und das Herzogtum Lauenburg konfrontiert. Territorial eingeklammert war das für die geheimdienstliche Überwachung der DDR hochrelevante Areal von nassen Grenzabschnitten: die Halbinsel Priwall im Norden und die Kleinstadt Lauenburg an der Elbe im Süden.5 Im besonderen Fokus der Stasi standen die Eisenbahnübergänge Lübeck-Herrnburg, Büchen-Schwanheide und der Gudower Autobahntransitpunkt. Laut Stasi-Chef Erich Mielke war „von der Einfahrt bis zur Ausfahrt aus der DDR eine möglichst lückenlose, ununterbrochene Kontrolle, Überwachung und Beobachtung der Transitreisenden und der Transportmittel zu gewährleisten“.6 Verdeckte Operationen der Aufklärung und Abwehr begleiteten die alltägliche Abfertigung der Reisendenströme somit stets.

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Helmut Müller-Enbergs, Kristie Macrakis und Thomas Wegener Friis, Introduction: East German Foreign Intelligence as History, in: East German Foreign Intelligence. Myth, Reality and Controversy, hg. von Dens., London u. a. 2010, S. 3–10, hier S. 3. Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 21996, S. 7. Monika Tantzscher, Hauptabteilung VI: Grenzkontrollen, Reise- und Touristenverkehr, Berlin 2005, S. 5. Organisiert war das MfS nach dem Linienprinzip. Die Hauptabteilungen (HA) ragten in die Bezirksverwaltungen (BV) hinein und bildeten eine institutionelle „Linie“. Konträr zur DDR insistierte die BRD auf dem östlichen Elbufer als Grenzlinie, gemäß den Übereinkünften der Alliierten. Die DDR hingegen sah die Flussmitte als verbindliche Grenzlinie an und ließ auf der Ostseite des Flusses Boote patrouillieren. Dies führte zu Konflikten mit der Hamburger Wasserschutzpolizei und dem Zoll. Siehe dazu Carsten M. Walczok, Im Schatten des Eisernen Vorhanges. Zur Geschichte der innerdeutschen Grenze zwischen Lauenburg und Lübeck, Geesthacht 1999, S. 21. Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS, ZAIG 4760, Referat auf der Dienstkonferenz, 10.3.1972, Bl. 49, zit. n. Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 63.

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Grenzregime und Geheimdienste im zeithistorischen Kontext (1945–61) Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs führte der in den konträren Gesellschafts- und Politikentwürfen der Siegermächte angelegte Dissens zur Phase des Kalten Krieges. Für die sowjetischen Geheimdienste bedeutete dieser prävalente Blockantagonismus eine strategische Schwerpunktverschiebung. Zum direkten militärischen Erfolg als Spionagezweck trat die Einordnung aller wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Kräfte des Gegenübers in ein analytisches Gesamtbild. Durch Manipulation und Verwirrung äußerer Feinde sollte die Position des eigenen Landes gestärkt, die innere Opposition mit Mitteln der Isolation und Unterdrückung ausgehebelt werden. Analog zum sowjetischen Komitee für Staatssicherheit (KGB) entwickelte sich das MfS zum wichtigsten staatlichen Machtinstrument der DDR.7 Zusehends bildete sich das Auseinanderdriften der politischen Absichten der Siegermächte auch in den staatlichen Institutionen der vier Besatzungszonen ab. Hinter den Kulissen eines neu entstehenden Gemeinwesens und im Kontext globalstrategischer Überlegungen, die an der innerdeutschen Grenze kulminierten, fand der Wettkampf der Systeme insbesondere auf nachrichtendienstlicher Ebene statt. Obwohl der Alliierte Kontrollrat die Trennung von politischen Institutionen und Polizeibehörden in den Besatzungszonen vorgesehen hatte, ebneten die Kader der ersten Generation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) unter sowjetischer Anleitung die mit den kommunistischen Zielen einhergehende Verstrebung von staatlicher Führung und Geheimpolizei. Rapportpflicht und Letztentscheid bei personellen, finanziellen und strategischen Fragen der Ausrichtung lagen bis in die 1950er Jahre bei Moskau und dessen Bevollmächtigten vor Ort. Vor dem Hintergrund einer potentiellen Eskalation des Kalten Krieges sollte die kommunistische Herrschaft konsolidiert werden. Im Januar 1946 waren 2.230 NKWD8- und 399 NKGB9-Offiziere in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Einsatz. Weiterhin waren 2.304 deutsche Helfer als Spione und agents provocateurs im Kontext neu geschaffener Operationsgruppen tätig.10 Zentralisiert wurden die verschiedenen Geheimpolizeien im Kommissariat 5 (K-5) der Kriminalpolizei innerhalb der im August 1946 geformten deutschen Ver  7 Friedrich-Wilhelm Schlomann, Operationsgebiet Bundesrepublik. Spionage, Sabotage und Subversion, Berlin/Frankfurt a. M. 1989, S. 15.   8 Innenministerium der UdSSR mit geheimdienstlichen Aufgaben, hervorgegangen aus nachrichtendienstlichen Strukturen der Zarenzeit und der 1881 gegründeten Ochrana. 1946 aufgegangen im MWD, dem Ministerium für innere Angelegenheiten.   9 Geheimpolizeilicher Arm des NKWD, hervorgegangen aus der Tscheka, die 1922 in Vereinigte staatliche politische Verwaltung (GPU) umbenannt wurde. Hauptaufgabe dieser Organisationen war die Bekämpfung oppositioneller und konterrevolutionärer Kräfte im In- und Ausland. 1946 aufgegangen im Ministerium für Staatssicherheit (MGB), das 1954 zum KGB wurde. 10 Mike Dennis, The Stasi: Myth and Reality (Themes in Modern German History Series), Harlow u. a. 2003, S. 21 f.

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waltung des Innern (DVdI), dessen Vizepräsident Mielke wurde. Die Bekämpfung faschistischer Gruppen, das Auffinden ehemaliger Nazi-Funktionäre sowie die Überwachung und der Schutz der neuen wirtschaftlichen und politischen Institutionen mitsamt den Strukturen und Organen der SED und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zählten zu den wesentlichen Aufgaben der Abteilung. Bereits 1945/46 hatten die Sowjets lokale „Ämter für Information“ etabliert, die für Propaganda und Ausforschung der Bevölkerung zuständig waren. Ab November 1947 arbeiteten diese schon einer entsprechenden Hauptabteilung unter Mielke zu. Langgediente und vertrauenswürdige KPD-Mitglieder erlangten administrative Spitzenpositionen innerhalb der neuen institutionellen Strukturen. Obligatorisch für aufsteigende Neuanwärter waren die bis Herbst 1989 durchgeführten marxistisch-leninistischen Kaderschulungen.11 Mit Ratifizierung des Gesetzes über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit am 8. Februar 1950 ging der in der SBZ angelegte geheime Sicherheitsapparat im vom Politbüro der SED kreierten MfS auf. Zum systemantagonistisch motivierten politisch-ideologischen Kampf trat in der Folge die politisch-operative Herangehensweise der Stasi. Nach Roger Engelmann war die geheimdienstlich-geheimpolizeiliche Tätigkeit der DDR in Westdeutschland und Westberlin von der Radikalität von der Ost-West-Auseinandersetzung in dieser harten Phase des Kalten Krieges bestimmt … Diese Skrupellosigkeit stand bei der Staatssicherheit in Einklang mit den Traditionen der sowjetischen Geheimpolizei, deren Kreatur sie war.12

Bereits am 6. Mai 1945 hatte sich in der britischen Zone um den früheren Reichstagsabgeordneten Kurt Schumacher die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) neu konstituiert und neben weiteren Parteien hatte sich auch die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) in diversen Städten und Gemeinden neu gegründet – Parteivorsitzender in der britischen Zone wurde der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. In der SBZ waren ab dem 10. Juni 1945 antifaschistische Parteien erlaubt gewesen, im April 1946 wurden dann die SPD und die KPD zur SED zwangsvereinigt. Bei den ersten Landtagswahlen erhielt die Partei 40 Prozent der Stimmen. Im März 1948 wurde der Deutsche Volksrat geschaffen, es folgte die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949. Damit existierten zwei politische Systeme, die parallel zueinander einen Alleinvertretungsanspruch für die gesamte deutsche Bevölkerung erhoben.13 Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler am 15. September 1949 verdeutlichte Adenauer sein Konzept einer europäisch geprägten Westintegration. Der Entwurf 11 Ebd. 12 Roger Engelmann, Zur „Westarbeit“ der Staatssicherheit in den fünfziger Jahren, in: Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, hg. von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs (Analysen und Dokumente – wissenschaftliche Reihe des BStU 23), Bremen 22003, S. 143‒152, hier S. 143. 13 Walczok, Schatten, S. 11 f.

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einer pluralistischen Wohlstandsgesellschaft mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung sollte anziehend auf die verhinderten Mitbürger*innen im Osten wirken, eine Wiedervereinigung unter gestärkten Prämissen einer Westorientierung erfolgen. Stalins im Frühjahr 1952 gehegter Plan der frühen Unabhängigkeit eines wiedervereinigten Deutschlands, formell nur über einen Friedensvertrag an die Siegermächte gekoppelt, ging einher mit der gesamtdeutschen Perspektive der ostdeutschen Kommunisten um Walter Ulbricht – die unter sowjetischem Einfluss stehende SED sollte ihren Herrschaftsbereich bis zum Rhein ausdehnen.14 Um den Besatzungsstatus zu beenden, strebten die Westmächte stattdessen die Eingliederung der BRD in ein europäisches Verteidigungsbündnis an, was über den Vertrag der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) erfolgen sollte. Als dieses Vorgehen absehbar wurde, forderte Stalin in einer Besprechung der Parteiund Staatsführungen der DDR und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) vom 29. März bis 19. April 1952 die Verschärfung des Grenzregimes.15 Der schrittweise Ausbau der Demarkationslinie (DL) zwischen den beiden deutschen Staaten und die Schließung der Zonengrenze gingen mit einer robusten Abschottungspolitik der DDR ab Frühsommer 1952 einher. Gemeinsam mit der Sowjetischen Kontrollkommission veranlasste die DDR-Regierung eine Restrukturierung des Grenzareals. Auf einen zehn Meter breiten, später verminten Gebietsstreifen folgten ein 500 Meter tiefer Schutzstreifen sowie eine zumeist fünf Kilometer ins Inland reichende Sperrzone, deren Betreten nur mit besonderem Ausweis gestattet war. Weiterhin wurden die im Grenzgebiet lebenden Menschen einer nicht nachvollziehbaren Überprüfung auf ideologische, politische und gesellschaftliche Konformität unterzogen. Hieran knüpfte im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ eine erste Umsiedlungswelle an, die etwa 11.000 Menschen betraf.16 Die gesellschaftliche Unzufriedenheit wuchs in der DDR durch zunehmende Unfreiheit im täglichen Leben, unerreichbare Normerhöhungen in der Produktion und materiellen Mangel. Sie kulminierte im Volksaufstand des 17. Juni 1953, der mithilfe des sowjetischen Militärs blutig niedergeschlagen wurde. Unklarheiten am innerdeutschen Grenzverlauf führten immer wieder zu bedrohlichen Situationen. Die am 1. Dezember 1946 auf Weisung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) gegründete Grenzpolizei (GP) wurde bis Ende 1952 auf 35.000 Mann aufgestockt.17 Bereits am 12. Mai 1952 war sie aus 14 Manfred Görtemaker, Deutschland im Ost-West-Konflikt, in: Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, hg. von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs (Analysen und Dokumente – wissenschaftliche Reihe des BStU 23), Bremen 2 2003, S. 14‒33, hier S. 14 f. 15 Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 42. 16 Vgl. Peter Matera, Die Grenze war ein spannender Arbeitsplatz, in: Grenzerfahrungen. Vom Leben mit der innerdeutschen Grenze, hg. von Karen Meyer-Rebentisch, Schwerin 2009, S. 50‒68, hier S. 56. 17 Vor der Gründung der GP war die Überwachung der Zonengrenze in der SBZ zunächst von Einheiten der Roten Armee übernommen worden. Erste Grenzpolizeiformationen, rekrutiert aus örtlichen Kräften der Orts-, Kreis- und Landespolizeidienststellen, wurden bereits 1945/46 hinzugezogen. Eine unzureichende Bewaffnung und fehlende Uniformen kenn-

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der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei (HVDVP) im Ministerium des Innern (MdI) herausgelöst worden. Bis sie 1961 an das Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) überging, unterstand sie abwechselnd MfS und MdI. Vor Gründung der Hauptabteilung VI (HA VI) war vor allem die GP mit der Kontrolle und Überwachung des Personenverkehrs an den Kontrollpassierpunkten (KPP) beauftragt gewesen.18 Durchgesetzt wurde das Grenzsicherungsmodell durch sowjetische Berater, die in den Grenzbereitschaften und speziellen Lehreinrichtungen bis in die höheren Führungsstäbe hinein Fragen der Grenztaktik, Gefechtsausbildung und politischen Erziehung erörterten. Die SED-Kreisleitungen wurden am 9. August 1952 dazu aufgefordert, zusätzliche Grenzhelfer zur Erhöhung der Postendichte auszuheben. Um das „Eindringen feindlicher Elemente“ zu verhindern, sollten aus der ortsansässigen Bevölkerung weitere Kräfte rekrutiert werden. Tatsächlich war der massive Ausbau der Grenzaufsicht eine Reaktion auf die steigenden Flüchtlingszahlen in Richtung BRD. Bis 1955 erhöhte sich der Personalbestand der GP auf 38.304, wovon 23.465 an der Grenze zur BRD und am Berliner Ring eingesetzt waren.19 Der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei im Februar 1948, die Vorkommnisse der Berlin-Blockade vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949, die Gründung der North Atlantic Treaty Organization (NATO) im April 1949, der Angriff der nordkoreanischen Armee auf Südkorea am 20. Juni 1950 – auch die Wiederbewaffnung der BRD rückte vor diesem Hintergrund in den Bereich des Möglichen.20 So wurde auf westalliiertes Drängen im März 1951 in Lübeck der Bundesgrenzschutz (BGS) gegründet. Schrittweise lösten die ins gesamte Bundesgebiet entsandten Einheiten in Schleswig-Holstein den British Frontier Service (BFS) ab, bis dieser in den 1960er Jahren nur noch aus 14 Soldaten bestand.21 Am 26. Mai 1952, im Kontext der vollzogenen Westanbindung der BRD, wurde die DL auf Anordnung des DDR-Ministerrates zur innerdeutschen Grenze transformiert. Kanalisiert wurden Bahnreisende fortan im Rahmen des geregelten Interzonenverkehrs. Von 39 Strecken der Deutschen Reichsbahn (DR) und sechs Privatbahnstrecken blieben nur sechs geöffnet, Reichsbahnbedienstete im Westen wurden entlassen. Von 30 Fernstraßen und Autobahnen verblieben fünf kontrollierte Übergänge. Gesperrt wurden 140 Landstraßen und tausende kleinere Gemeinde- und Wirtschaftswege. Vor dem Beginn des Interzonenverkehrs waren tägliche Mitfahrgelegenheiten für Personen im Güterverkehr entlang der englischrussischen Demarkationslinie, abgesehen von der Zeit der Berlin-Blockade, über zeichneten diesen eher provisorischen Unterstützungsdienst für die an der DL patrouillierenden Sowjetsoldaten, die illegale Grenzgänger und Schmuggler an der „Grünen Grenze“ stoppen sollten. Vgl. Peter Joachim Lapp, Von der Grenzpolizei zur Grenztruppe (1946‒1961), in: Europas Eiserner Vorhang. Die deutsch-deutsche Grenze im Kalten Krieg, hg. von Hendrik Thoß (Chemnitzer Europastudien 9), Berlin 2008, S. 33‒86, hier S. 34 f. 18 Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 43. 19 Ebd. 20 Görtemaker, Deutschland, S. 15. 21 Walczok, Schatten, S. 17 f.

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Herrnburg-Lübeck und Schwanheide-Büchen möglich gewesen. Zudem hatte es einen Transitübergang zwischen Lauenburg und Boizenburg gegeben, 1947 war eine Buslinie zwischen Hamburg und Schwerin über Lübeck eingerichtet worden. Nachdem nun fast alle Verbindungen geschlossen worden waren, avancierte neben Lübeck insbesondere Büchen zum Dreh- und Angelpunkt des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs in Schleswig-Holstein. Zum nördlichsten Straßenübergang am deutschen Abschnitt des „Eisernen Vorhangs“ entwickelte sich der B5-Übergang bei Lauenburg, bis dieser 1982 durch Gudow abgelöst wurde.22 Die BRD erkannte die DDR, ab 1955 der Hallstein-Doktrin folgend, als Staat nicht an und wollte sie auf internationalem Parkett isolieren. Die Grenze hatte aus Sicht der BRD ausschließlich artifiziellen Charakter. Folglich war es westdeutschen Bürger*innen zumindest theoretisch erlaubt, ostdeutsches Gebiet zu betreten. Scheitern musste das allerdings an der realpolitischen Barriere. Begleitet wurde die angespannte politische Lage von intensiver Propaganda in beide Richtungen. Der Ausbau westwärts gerichteter Spionage seitens des MfS war 1951/52 vonseiten Moskaus geebnet worden, in erster Linie um den ostdeutschen Partnern nicht das Interesse am Aufgabengebiet und die Initiative zu nehmen. Das Eindringen in die gegnerischen Dienste, taktische Informationsgewinnung und Entführungen wurden zu zentralen Bestandteilen der neuen „Westarbeit“. Essentiell war hierbei ein Agentennetzwerk, das sich bis in die höchsten militärischen, politischen und gesellschaftlichen Kreise ausweitete, sowie das „Umdrehen“ feindlicher Agenten. Um die politische Integrität des Gegenübers auszuhöhlen und die systemische Überlegenheit zu demonstrieren, wurden insbesondere nach dem Juni-Aufstand hochrangige Quellen geopfert, um sie propagandawirksam in den Medien zu präsentieren.23 Das Verlautbarungsgebahren der DDR unterstrich die Notwendigkeit eines „antifaschistischen Schutzwalls“, um die Schutzbedürftigkeit der eigenen Einwohner gegenüber westlichen Einflüssen hervorzuheben. Der Systemantagonismus verfestigte sich mit dem Beitritt zu den jeweiligen Verteidigungsbündnissen – NATO beziehungsweise Warschauer Pakt – im Jahr 1955. Unter ausdrücklicher Befürwortung der Warschauer Vertragsstaaten schloss die DDR am 13. August 1961 im Zuge der Operation „Chinesische Mauer“ die letzte durchlässige Stelle ihres Absperrungssystems an der Zonengrenze. An der Schwelle von Ost- zu West-Berlin war ein Grenzübertritt noch relativ risikoarm gewesen. Fast 4 Millionen Menschen waren bis zu diesem Zeitpunkt aus dem Gebiet der SBZ beziehungsweise DDR in die BRD übergesiedelt oder geflüchtet, was die politischen und ökonomischen Verhältnisse der DDR zunehmend bedrohte. Seitdem die DDRGrenzpolizei ab dem 15. August 1961 dem Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) unterstand, wurden die Grenzbefestigungen unter militärischen Gesichts-

22 Karen Meyer-Rebentisch, Grenzerfahrungen. Dokumentation zum Leben mit der innerdeutschen Grenze bei Lübeck von 1945 bis heute, Lübeck 2009, S. 19. 23 Engelmann, „Westarbeit“, S. 143‒145.

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punkten erweitert. Entlang der Grenze führte dies zu einer noch angespannteren Lage, da der bundesrepublikanische BGS bei polizeilichen Maßstäben blieb.24 Der Mauerbau und die Verordnung über Maßnahmen zum Schutz der Staatsgrenze der DDR, welche das Betreten des Grenzgebietes schärfer sanktionierte, waren die Basis für eine institutionelle Neuordnung des Grenzregimes. Unterschiedliche Entwicklungspfade der an der Grenzüberwachung beteiligten Akteure wurden hierdurch geebnet. Die Grenzpolizei entwickelte sich mit Einführung der Wehrpflicht am 24. Januar 1962 zur militärischen Formation der Grenztruppe (GT)25 und unterstand als Bestandteil der Bewaffneten Organe der DDR dem MfNV. Aspekte der Grenzabfertigung wurden an das MfS übertragen, parallel wurden die Grenzübergangsstellen (GÜST) ins militärische Sicherungssystem integriert. In Kooperation mit den Grenztruppen und dem Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (AZKW) wurde die Stasi mit der operativen Fahndung an den GÜST beauftragt: Uniformierte dreier Diensthierarchien unter Anleitung des Kommandanten teilten sich den Grenzdienst an den GÜST: die Diensthabenden Offiziere der Grenztruppen und Soldaten und Unteroffiziere der Sicherungskompanie der Grenzregimenter, die Passkontrolleinheiten des MfS und die Angehörigen der Zollverwaltung. Die Passkontrolleure trugen zur Tarnung Uniformen der Grenztruppen. Die jeweiligen Kompetenzen waren in einer entsprechenden Vereinbarung festgelegt.26

Die Sicherung der Verbindungswege zwischen der BRD und Westberlin wurde Geheimdienstsache. Im August 1962 wurde die Arbeitsgruppe Passkontrolle und Fahndung (APF) gegründet und Anfang 1964 zur Hauptabteilung aufgewertet. Nachdem Ost-Berlin im Zuge des Mauerbaus ohne Sanktionierungen durch den Viermächte-Status zur Hauptstadt der DDR erklärt worden war, wickelte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow die dortige Sowjetkommandantur ab, woraufhin Erich Mielke die zentrale Leitung der operativen Arbeit auf den für den Transitverkehr zugelassenen Straßen, Wasser- und Schienenwegen auf die APF übertrug. Ständig präsente Bindeglieder zum MfS waren Offiziere im besonderen Einsatz (OibE)27, 24 Walczok, Schatten, S. 20. 25 Ebd., S. 14 f. Die Grenztruppen machten Beobachtungsfeststellungen im Vorfeld der Grenzübergangsstellen und gaben eingesammeltes ‚Feindmaterial‘ wie Flugblätter, westliche Presseerzeugnisse oder Bücher unter Angabe der näheren Umstände des Fundes an die Passkontrolleinheiten (PKE) des MfS. Vgl. dazu Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 18. 26 Vereinbarung über die Verantwortlichkeit und das Zusammenwirken der Kräfte der Grenztruppen der DDR, der Grenzsicherungskräfte der Volksmarine, der Kräfte des MfS, der Zollverwaltung der DDR und des MdI bei der Sicherung der Staatsgrenze und der Gewährleistung des grenzüberschreitenden Verkehrs an den Grenzübergangsstellen der DDR v. 1.8.1975, Anhang 2 zur DV 018/0/005 Aufgaben der Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Repu­ blik an den Grenzübergangsstellen, 1980, hg. vom MfNV, zit. n. Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 13. 27 OibE waren hochqualifizierte Stasi-Mitarbeiter mit viel Erfahrung, die auch in kulturelle, wirtschaftliche und politische Führungspositionen, Kirchen, Universitäten und Medienbetriebe eingeschleust wurden. Weitere IM-Kategorien waren Inoffizielle Mitarbeiter Sicher-

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die als Erste Stellvertreter der neu gebildeten Einsatzstäbe in den Bezirksbehörden der Volkspolizei (VP) und den Volkspolizeikreisämtern eingesetzt wurden.28 Eng war die Zusammenarbeit auch mit anderen Diensteinheiten, die ihren Informationsbedarf über die Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der HA VI direkt an die PKE weiterleiteten. Zudem standen die operativen Mitarbeiter*innen und Operativgruppen an den GÜST in ständiger Verbindung zur Abteilung VI (Operativer Reiseverkehr, Regimefragen) der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Ergänzt wurde das engmaschige Überwachungsnetz durch direkte Kontakte der PKE zur Transport- und Volkspolizei.29 Essentiell beim Durchkämmen des Reiseverkehrs war die vom Leiter der PKE und seinen beiden Stellvertretern zu planende „Filtrierungsarbeit“.30

Westorientierte Konzepte der Hauptabteilung VI in Schleswig-Holstein Auf Mielkes Befehl Nr. 4/70 wurde am 15. Januar 1970 die HA Passkontrolle und Fahndung mit der Arbeitsgruppe Sicherung des Reiseverkehrs und dem Referat A der HA VII/Zoll (Zollabwehr) zur HA VI vereint. Abteilungsleiter wurde Generalmajor Heinz Fiedler. Ihm übergeordnet war Generalleutnant Gerhard Neiber, der 1980 zu Mielkes Stellvertreter aufrückte und neben anderen MfS-Generälen wie Rudi Mittig und HV A-Chef Markus Wolf zu den Stammgästen auf Mielkes Jagdsitz zählte.31 Im Wesentlichen gliederte sich der vielschichtige Aufgabenbereich

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heit (IMS), die als Hauptgruppe breitflächig Personeneinschätzungen und Ordnungsverstöße aufnahmen; Inoffizielle Mitarbeiter für besonderen Einsatz (IME) erfüllten kompliziertere Aufgaben wie Deckung und Schleusung von Agenten, Lancierung von Personen in bestimmte Positionen und Berichterstattung über komplizierte Sachverhalte; Inoffizielle Mitarbeiter Bearbeitung (IMB) bespitzelten aufgrund besonderer Vertrauensverhältnisse ihnen nahestehende Intellektuelle, Kirchenleute, unangepasste Jugendliche oder Westler; Führungs-Inoffizielle Mitarbeiter (FIM) bildeten eigene IM-Netzwerke und leiteten selber andere Informanten an; Inoffizielle Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration (IMK) sicherten konfrontative Kontexte durch konspirative Wohnungen (KW), Decktelefone (DT), Deckadressen (DA) oder verwalteten ein konspiratives Objekt (KO); Hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter (HIM) absolvierten ihre Dienstzeit nicht in Behördenräumen – aufgrund mangelnder Verifizierbarkeit ihrer Ergebnisse und fehlenden Kontrollmöglichkeiten wurde ihre Rolle sukzessive zurückgedrängt; Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit (GMS) arbeiteten nicht konspirativ im engeren Sinne sondern waren Vertrauenspersonen des MfS in hohen Positionen, Personalchefs größerer Betriebe oder Professoren, die sich als Informationsquellen zur Verfügung stellten. Vgl. Joachim Gauck, Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR, Reinbek 1991, S. 63‒66. Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 47. Ebd., S. 18. Der Terminus „Filtrierung“ bezeichnete die verdeckte Überprüfung und Abschöpfung von Personen. Genutzt wurden dabei die Möglichkeiten sämtlicher Abfertigungsbereiche zur Informationsgewinnung für andere Diensteinheiten mit dem Ziel der Spionageabwehr und Auslandsaufklärung sowie zur Feststellung von Verstößen gegen die Ein- und Ausreisebestimmungen und zur Gefahrenabwehr. Vgl. ebd., S. 11. Dennis, Stasi, S. 39.

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der HA VI in zwei Teile: die direkte Passkontrolle an den GÜST und den politischoperativen, zumeist mit konspirativen Mitteln bewerkstelligten Teil der Arbeit.32 Analog zur geographischen Anbindung fiel die Überwachung der SchleswigHolsteiner Grenzabschnitte in das Aufgabenfeld der DDR-Bezirke Rostock und Schwerin. Wesentliches Spionageziel war für Rostock, sogenannter Ostseebezirk, die am Gleis gelegene Grenzkontrollstelle (GKSt) Lübeck. Der Schweriner Einflussbereich erstreckte sich von Lauenburg an der Elbe bis ans nördliche Ende des Ratzeburger Sees, wo mit Grevesmühlen der nordwestlichste Landkreis der DDR begann. Am 5. Februar 1985 erneuerte der zuständige Stasi-Offizier der HA VI in der Bezirksverwaltung Schwerin, Oberst Wittig, die auf die westlichen Grenzübergänge projektierte Überwachungskonzeption für seinen Zuständigkeitsbereich: Die in den Darlegungen des Stellvertreters des Ministers, Generalleutnant Neiber, auf der Dienstkonferenz der Hauptabteilung VI im Dezember 1983 getroffene Einschätzung über die Hauptangriffsrichtungen des Feindes bei der Aktivierung seiner gegen die DDR gerichteten subversiven Tätigkeit erfordern insgesamt die Verstärkung und Qualifizierung der Arbeit im und nach dem Operationsgebiet und 32 BStU, MfS, HA VI 277, Übersicht HA VI/Linie VI, Arbeitsbereich Neiber, Bl. 6 ff., zit. n. Tant­ zscher, Hauptabteilung VI, S. 6 f.: „Kontrolle und Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs im Zusammenwirken mit den Zollorganen einschließlich Beobachtungsaufgaben zur Verhinderung von Republikflucht sowie Erarbeitung und Auswertung von Ersthinweisen zu politisch-operativ interessierenden Personen und Sachverhalten aus der Fahndung, Filtrierung und Vergleichsarbeit; die Organisierung des Zusammenwirkens mit den Grenztruppen der DDR und anderen Kräften zur Sicherung der Grenzübergangsstellen; die Verhinderung von Demonstrativhandlungen und Anschlägen an den Grenzübergangsstellen und im Vorfeld; die Verhinderung von Flugzeugentführungen und Gewaltakten gegen andere Verkehrsmittel, Verkehrswege und Einrichtungen mit dem Ziel der Ausschleusung von Personen in Zusammenarbeit mit den Linien XXII (Terrorabwehr), VIII (Beobachtung von Einzelpersonen, Sicherung der Transitstrecken) und XIX (Sicherung von Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen); die Aufklärung und Verhinderung von Fluchtvorhaben unter Ausnutzung des Reise- und Touristenverkehrs in bzw. über andere sozialistische Staaten im Zusammenwirken mit den dortigen Grenzkontroll- und Sicherheitsorganen; die Verhinderung von Fluchtvorhaben über den organisierten Tourismus in westliche Staaten; die Einleitung und Durchführung von Fahndungs-, Kontroll-, Avisierungs- und Sperrmaßnahmen; die Verhinderung von Missbrauchshandlungen auf den Transitwegen; die Organisierung der politisch-operativen Arbeit in und nach der Bundesrepublik Deutschland zur Aufklärung ihrer Grenzkontrollstellen sowie von Organisationen und Institutionen des Reise- und Touristenverkehrs in die DDR und in andere sozialistische Staaten; die politisch-operative Sicherung touristischer Einrichtungen wie Reisebüros, Interhotels, Campingplätze u. a. m. der DDR; die Sicherung des Reise- und Touristenverkehrs von DDR-Bürgern in andere sozialistische Staaten im Zusammenwirken mit den dort ansässigen Grenz- und Sicherheitsorganen; die Absicherung von ‚operativ-bedeutsamen‘ Gruppen- und Einzelreisen von Touristen aus westlichen Staaten; die Sicherung, Kontrolle und Überwachung von einreisenden Persönlichkeiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens westlicher Staaten; die politisch-operative Sicherung der Zollverwaltung der DDR; die Zuarbeit erfassungspflichtiger Sachverhalte und Personenkategorien für das Datennetz SOUD [System der vereinigten Erfassung von Daten über den Gegner. Informationsverbund der Sicherheitsdienste von sechs Warschauer-Pakt-Staaten und drei weiteren verbündeten Ländern] laut Befehl Nr. 11/79.“

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Abb. 1: Von Generalleutnant Gerhard Neiber inspirierte Überwachungskonzeption. Nachweis: BStU, MfS, BV Schwerin, Stv Op, Nr. 29.

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bilden gemeinsam mit den Planorientierungen des Leiters der Bezirksverwaltung Schwerin die Grundlage für die Ziel- und Aufgabenstellungen für die zielgerichtete Bearbeitung der gegnerischen Grenzkontrollstellen im Verantwortungsbereich, insbesondere der operativ-bedeutsamen GKSt Gudow und Büchen.33

Neben der Autobahngrenzkontrollstelle Gudow und der Eisenbahngrenzkontrollstelle Büchen rückten mithin die Straßenkontrollstelle Lauenburg (B5) und die Wasserstraßengrenzkontrolle Schnackenburg (Elbe) in den Fokus der HA VI, wobei laut Wittig „die aber aufgrund ihres geringen Verkehrsaufkommens und der abzufertigenden Reisekategorien nicht voll diese politisch-operative Bedeutsamkeit aufweisen, jedoch im Bearbeitungsprozess stets beachtet werden.“34 Angestrebt wurde insbesondere die Konstruktion eines Sicherheitssystems um Büchen, einen der meistfrequentierten Grenzbahnhöfe der gesamten BRD. 1982 passierten in Büchen etwa 900.000 DDR-Reisende die Grenze.35 Ab dem 2. November 1964 erlaubte der Ministerrat Rentnern einen bis zu vierwöchigen Verwandtschaftsbesuch in der BRD, was der hohen Entfremdung beider deutscher Staaten tendenziell entgegenwirkte. Senioren waren aus Sicht der SED-Führung entbehrlich; nur ein Prozent jener DDR-Bürger*innen, die im Rahmen „dringender Familienangelegenheiten“ – darunter fielen Geburten, Hochzeiten, Konfirmationen oder runde Geburtstage – in die BRD gereist waren, wurde auch tatsächlich republikflüchtig. Überregionalen Bekanntheitsgrad bei der Betreuung der DDR-Reisenden erlangte die Büchener Bahnhofsmission. Neben dem Zoll, dem BGS und der Deutschen Bundesbahn (DB) wurde auch die Bahnhofsmission, unter dem Titel „Gesellschaftliche Einrichtungen“, von der Stasi in Bezug auf räumliche, personelle und handlungsbezogene Spezifika durchleuchtet.36 Zwischen 1955 und 1959 hatten hier in 517 Zugfahrten etwa 247.000 Aussiedler aus den ehemaligen Ostgebieten den Büchener Bahnhof in Richtung Grenzdurchgangslager Friedland passiert und waren dabei vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) sowie der Bahnhofsmission versorgt und willkommen geheißen worden. Die von der Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände eingerichtete Betreuungsstelle zählte von 1957 bis 1995 etwa fünf Millionen Betreute, davon 70 Prozent DDR-Bürger*innen. Ikonenhaftes Symbol deutsch-deutscher Nachbarschaftlichkeit trotz widriger politischer Umstände waren die am Bahnhof und in den Zügen Kaffee und Südfrüchte verteilenden Bahnhofsmissionarinnen in ihren blauen Kitteln. Friedegart Belusa, von 1957 bis 1982 evangelische Leiterin der Station, wurde aufgrund ihrer Betreuung der DDR-Reisenden, der Organisation von zahlreichen Geschenksendungen und Briefkontakten sowie 33 Konzeption zur zielgerichteten operativen Bearbeitung der gegnerischen Grenzkontrollstellen, Abt. VI/5, Schwerin, 5.2.1985, BStU, MfS, BV Schwerin, Stv Op, Nr. 29, Bl. 1. 34 Ebd., Bl. 2. 35 Die Maschen am Büchener Bahnhof sind eng, 28.3.1983, Zeitungsartikel, Landeskirchliches Archiv Kiel (LKAK) 15.07 „Bahnhofsmission Büchen“, Nr. 57. 36 BStU, MfS, Abt. VI/5, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, Bericht, Unterpunkt 2.1.6. Gesellschaftliche Einrichtungen: Evangelische Bahnhofsmission, 10.3.1986, Bl. 45.

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ihres Einsatzes für Flüchtlinge und Abgeschobene bei manchen DDR-Offiziellen zur Persona non grata. Einreisende mussten bei den PKE-Kontrollen in Schwanheide teilweise Herabwürdigendes ertragen oder wurden drangsaliert; vor allem viele ältere Menschen haben zahlreiche „Schikanen über sich ergehen lassen müssen“, weshalb „der Verbrauch an Baldrian“ groß war.37 Diverse Dankesschreiben betreuter DDR-Bürger*innen liefern eine Außensicht auf die Betreuungspraxis der Bahnhofsmission: Liebe Bahnhofsmission! Bei der Herfahrt wurden wir auf der östlichen Grenzstation von Soldaten mit Bajonetts [sic!] empfangen und gründlich kontrolliert von Frauen in Uniform. Es war beschämend, was vor allem eine alte gelähmte Frau über sich ergehen lassen mußte. Deutsche gegen Deutsche! Als wir dann schließlich auch Stacheldraht und Todesstreifen hinter uns hatten, waren wir bei Ihnen. Wir waren in einer anderen Welt! Auch hier nahmen sich vor allem Frauen unserer an, aber in ganz anderer Weise. Helfende Hände faßten das Gepäck, eine Kaffeetafel war gedeckt, in freundlicher Atmosphäre gab es kleine Geschenke, eine herrliche Ansprache (ganz ohne Politik) und ganz praktische Ratschläge. Welch ein Kontrast zwischen diesseits und jenseits. Eine Reisegefährtin sagte: ‚Es ist immer, als wenn man aus trübem, bedrückendem Nebel in die freundliche Sonne kommt.‘ Der Gedanke, bald wieder über die Grenze zurück zu müssen, belastet uns schon jetzt schwer. Sie von der Bahnhofsmission haben nach Vorangegangenem durch Ihren Empfang unser Herz doppelt bewegt, und sie schenkten uns das allererste schöne Erlebnis in der neuen Welt. Das vergessen wir nicht!38

Die Grenzbahnhofsmissionen befanden sich im intentionalen Schnittpunkt der Bonner Sozial- und Deutschlandpolitik, welche die DDR-Reisenden zu ihren Adressaten machte und über die kirchlichen Institutionen mittelbar alimentierte. Während der deutschen Teilung wurde die Arbeit der Büchener Mission vom Ministerium für innerdeutsche Beziehungen und vom Bundessozialministerium mit über zwei Millionen Deutsche Mark (DM) subventioniert.39 In der DDR waren die Bahnhofsmissionen nach einer Infiltrierungs- und Verhaftungswelle im Jahr 1956 geschlossen worden.40 Aus nachrichtendienstlicher Sicht gerieten die im Interzonenverkehr eingesetzten Lokführer der Deutschen Reichsbahn und DDR-Reisende in den Fokus der politisch-operativen Herangehensweise der HA VI. Differenziert wurde bei Letzteren zwischen Reisekadern, Invaliden- und Altersrentnern und Reisenden in drin37 Friedegart Belusa, Geschichte der Bahnhofsmission Büchen, in: Land und Leute einst und heute. Geschichte und Geschichten aus Büchen und Umgebung, hg. von Kirchenvorstand Büchen-Pötrau, Büchen 1997, S. 177‒186, hier S. 181. 38 Landeskirchliches Archiv Kiel (LKAK), 15.07, Nr. 79. 39 Jann-Thorge Thöming, Bahnhofsmission Büchen. Ein Spalt im Eisernen Vorhang (Kieler Werkstücke A/55), Berlin 2020, S. 140. 40 Wolf-Dietrich Talkenberger, Nächstenliebe am Bahnhof. Zur Geschichte der Bahnhofsmission in der SBZ und der DDR, Berlin 2002, S. 78‒128.

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genden Familienangelegenheiten. Wo die Kontrollmöglichkeiten der PKE-Organe aufhörten, begann die konspirative Tätigkeit aus dem Personenkreis der Lokführer rekrutierter IM. Dabei fielen nicht nur linientreue Bürger*innen oder „Kommunisten auf Sondereinsatz“41 in den Täterzirkel. Da die Anwerbungsmethoden der Stasi oft mit individuell angepasster Irreführung, Erpressung, Manipulation des persönlichen Umfeldes und psychischem Druck einhergingen, ist hinsichtlich der Beweggründe eines IM die Historizität einer pauschalen Stigmatisierung vorzuziehen.42 Demgegenüber verfolgte das MfS die offizielle Verunglimpfung ihrer Gegner, zu deren Bekämpfung sie im Jahr 1958 neue Leitlinien verfasste, in denen die IM zum Hauptmittel des Kampfes erklärt wurden.43 Ferner erlangte das MfS im Jahr 1958 mehr operative Eigenständigkeit. Zuvor war die „Westarbeit“ genuine Angelegenheit Moskaus gewesen, kooperierende DDROrgane waren durch ein dichtes System von Beratern kontrolliert und angewiesen worden.44 In diesen Bezugsrahmen fällt die Rolle des Geheimen Informators (GI)45 „Kurt Jäger“, ein am 1. Oktober 1958 in den Spitzeldienst genommener und bis zu seiner vorläufigen Abschreibung46 am 19. Dezember 1961 rapportpflichtiger DRWagenmeister:

41 Schlomann, Operationsgebiet, S. 125. 42 Gauck, Stasi-Akten, S. 55‒60. 43 „Als Mittel zur Durchführung der staatsfeindlichen Tätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik benutzen die Geheimdienste und Agentenzentralen der Imperialisten in großem Umfange vorwiegend Personen aus den noch vorhandenen reaktionären, aber auch schwankenden Teilen der Bevölkerung und aus Westberlin und Westdeutschland eingeschleuste Agenten, die zur Durchführung dieser verbrecherischen Handlungen geworben werden … Es sind Feinde jeglichen Fortschritts, des Friedens und der sozialistischen Entwicklung, aber auch verhetzte Elemente und andere, die sich für diese Tätigkeit mißbrauchen lassen, und auch solche, die sich aus niedrigsten Charaktereigenschaften bereit erklären, ihr Vaterland zu verraten und zu verkaufen.“ Vgl. dazu die Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, 1.10.1958, zit. n. Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter, S. 196 f. 44 Engelmann, „Westarbeit“, S. 143. 45 Von 1945 bis 1950 galt für geheime Mitarbeiter die Sammelbezeichnung „V-Mann“. Mit Gründung des MfS begann schrittweise die Neukategorisierung der IM. Bis 1967/68 geltende Bezeichnungen waren neben dem GI der Geheime Hauptinformator (GHI), der Geheime Mitarbeiter (GM), der Geheime Mitarbeiter im besonderen Einsatz und der Inhaber einer konspirativen Wohnung (KW). Diese Ausdifferenzierung basierte auf drei wesentlichen Funktionstypen: 1. Sicherung bestimmter Bereiche, 2. aktive ‚Feindbekämpfung‘, 3. logistische Aufgaben. Vgl. Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter, S. 62, 199. 46 Prinzipiell galt die Unterschrift bei der Stasi ein Leben lang. Bei erneut auftretender Notwendigkeit konnte ein IM in anderen Überwachungskontexten jederzeit reaktiviert werden – er war registriert. Die einzige Möglichkeit zur völligen Beendigung der Tätigkeit war die Dekonspiration, die Offenlegung, sich anderen Personen anvertraut zu haben. Indes herrschte subtiler Druck, dass dieses Verhalten im Zweifelsfall zu Benachteiligungen im öffentlichen Leben oder Denunziationen im persönlichen Umfeld führen konnte. Strickte man jedoch eine glaubhafte Geschichte, etwa, dass man im betrunkenen Zustand dekonspiriert hatte, verlor die Stasi sofort ihr Interesse. Vgl. Gauck, Stasi-Akten, S. 37.

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Ich verpflichte mich mit einer bestimmten Abtlg. der Grenzpolizei im Kampf gegen alle Feinde der DDR zusammen zu arbeiten. Über diese Zusammenarbeit werde ich gegenüber meinen nächsten Familienangehörigen sowie Parteien und Org. strengstes Stillschweigen bewahren. Zur Wahrung der Konspiration werde ich meine schriftlichen Berichte mit dem Decknamen ‚Kurt Jäger‘ unterschreiben. Ich wurde darüber belehrt, daß ich bei Brechung der Schweigepflicht zur Verantwortung gezogen werden kann.47

Ausgesucht von der Grenzbereitschaft Wittenburg, Unterabteilung Aufklärung, wurde der IM wegen der anstehenden Ablösung der nach Büchen fahrenden Lokführer: Dieses sei besonders deswegen, weil einige von den alten Wagenmeistern schon fünf Jahre und länger ihren Dienst in Büchen verrichten. Dieses stellt jedoch einige Gefahrenquelle dar. Die Umbesetzungen sollen in den nächsten Tagen vorgenommen werden. Über die hierfür in Frage kommenden Personen wurde bereits von den leitenden Angestellten der Reichsbahn beraten.48

Vor der eigentlichen Anwerbung fanden Sondierungsgespräche statt, um die Bereitschaft zur Konspiration zu testen: Es ist vorgesehen, die Werbung des Kandidaten […] als GI bis zum 25.9.1958 durchzuführen, da zu dem Kandidaten bereits Kontakt aufgenommen wurde und die Werbung keine Schwierigkeiten machen dürfte. Die Werbung selbst wird in einem bereits vordem bereitgestellten Zimmer des Bahnhofes Hagenow-Land stattfinden.49

Freilich war der Aspirant nicht der einzige IM in den Reihen der DR-Lokführer: Der Kandidat wird in Kürze nach Büchen als Wagenmeister eingesetzt. Er versieht dann seinen Dienst dort auf dem Bahnhof. Dadurch ist er in der Lage, uns über alle Vorkommnisse, über Personen und Objekte zu informieren. Ausserdem kann er in der Perspektive als Kurier eingesetzt werden. Desweiteren macht es sich erforderlich, die Wagenmeister, die von uns aus in Büchen tätig sind zu bearbeiten. Da sich hierunter bereits von uns und auch vom MfS GI’s befinden, ist uns eine Überprüfungsmöglichkeit gegeben.50

47 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, Verpflichtung, Hagenow, L., 1.10.1958, Bl. 36. 48 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, Bericht über Bekanntwerden der Person, Grenzbereitschaft Wittenberge, Unterabteilung Aufklärung, 3.9.1958, Bl. 11. 49 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, Vorschlag eines Kandidaten als GI, Grenzbereitschaft Wittenberge, Unterabteilung Aufklärung, 5.9.1958, Bl. 34. 50 Ebd., Bl. 35.

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Der inoffiziellen Mitarbeit war ein Untersuchungsverfahren vorgeschaltet und auch während der Spitzeltätigkeit war der IM der Kontrolle durch andere inoffizielle oder hauptamtliche Stasi-Angehörige ausgesetzt. Bei Beförderungen, Westreisen, Studienbeginn oder Laufbahnänderungen kam es ohnehin zu obligatorischen Sicherheitsüberprüfungen. Bei Vermutung negativer Einstellungen zum politischen Status quo konnten dauerhafte Observierungen, Operative Personenkontrollen (OPK) oder Operative Vorgänge (OV) angeordnet werden. Nach erfolgreicher Werbung schloss sich an die Vorlaufakte die Arbeitsakte an. Der Vorlauf gab bereits Aufschluss über den Namen, die Adresse und das Tätigkeitsfeld des IM und enthielt die Interessenbegründung der Stasi. In der Arbeitsakte, in der nur noch der Deckname auftauchte, fand die Beurteilung der IM-Berichte aus operativer Sicht statt.51 Durch ihre berufsbedingte Pendelbewegung auf die Westbahnhöfe und in deren Peripherien bildeten die Lokführer einen besonderen IM-Typus, welcher der Stasi spezielle Perspektiven eröffnete – durch ihre regelmäßigen Einblicke in Abläufe und Strukturen vor Ort aber auch als potentielle Kuriere, um den Agenten der HV A den Grenzübertritt zu ersparen. Zugleich waren sie durch den ständigen Kontakt zu Westlern den Einflüssen des „Klassenfeinds“ oder Anwerbeversuchen der westlichen Geheimdienste ausgesetzt: Ich werde bei dem Werbungsgespräch mit dem Kandidaten an die bereits stattgefundenen Unterhaltungen anknüpfen. Hierbei werde ich besonders nochmals darauf eingehen, daß es besonders auf Grund der augenblicklichen internationalen Lage erforderlich ist, besonders gute Kollegen und Genossen nach Büchen einzusetzen, da sie dort ständig den Einflüssen der westlichen Propaganda ausgesetzt sind. Ausserdem wurde uns bekannt, daß die Imperialistischen Geheimdienste auch auf dem Bahnhof in Büchen aktiv arbeiten. Da es nun unsere Aufgabe ist, diese Dinge festzustellen, um evtl. geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten, macht es sich erforderlich, dass er uns in dieser Form unterstützt.52

Positives Auswahlkriterium war grundsätzlich die Parteizugehörigkeit, die für hauptamtliche Mitarbeiter*innen überdies obligatorisch war. Trotz des systemimmanenten Informationsgefälles zwischen Anwerbern und Geworbenen mahnte das MfS die IM stets zu transparentem Verhalten, wie auch im vorliegenden Fall: „In der Zusammenarbeit zeigte er sich immer ehrlich und offen. Der GI ist seit 1947 Mitglied der SED und vertritt immer den Standpunkt unserer Partei und Regierung.“53 Der am 12. Februar 1959 erstellte Perspektivplan für „Kurt Jäger“ umfasste schließlich

51 Gauck, Stasi-Akten, S. 55‒60. 52 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, Vorschlag eines Kandidaten als GI, Grenzbereitschaft Wittenberge, Unterabteilung Aufklärung, 5.9.1958, Bl. 33 f. 53 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, Vorschlag zur Abschreibung des GI „Kurt Jäger“, Reg. Nr. 710/58, Hauptabteilung I/Aufklärung OP-Gruppe Aufklärung Wittenburg, 19.12.1961, Bl. 48.

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Aufträge, um Personen vom Bahnhof Büchen, wie Zöllner, Beamte der Passkontrolle, Eisenbahner aufzuklären, die für uns von Interesse sind und für eine evtl. Anwerbung in Frage kommen. […] Ziel ist, den Beweis der Feindtätigkeit […] aus Büchen zu erbringen. Mit dem GI ist weiterhin so zu arbeiten, daß er die Wichtigkeit und Bedeutung eines TBK [Toter Briefkasten, Anm. d. Verf.] erkennt und in der Lage ist, nach praktischer Übung auf dem Gebiet der DDR, in Büchen einen TBK anzulegen und auch zu entleeren. Dieses geschieht in Verbindung mit dem GI ‚Martin Mau‘, der denselben in Büchen füllen wird. […] Des Weiteren erhält der GI den Auftrag, laufend über die anderen Wagenmeister zu berichten, die auch in Büchen arbeiten. Dadurch ist in Verbindung mit dem MfS Abtlg. XIII eine Überprüfung der inoffiziellen Mitarbeiter gewährleistet.54

Der Umstand, dass ein „Toter Briefkasten“ im Operationsgebiet Grenzbahnhof eingerichtet werden sollte, unterstreicht die von der Stasi elaborierte Relevanz einer erhöhten Kommunikationsdichte trotz des verhältnismäßig hohen Risikos auf diesen Tummelplätzen offizieller und verdeckter BRD-Organe. Deutlich wird diese Gefahrenlage in den IM-Berichten: Ich habe die mir bezeichnete Stelle, die zur Einrichtung eines TBK in Frage kommen soll, genau angesehen. Hierbei stellte ich fest, daß an den […] Masten jeweils eine Lampe angebracht ist, die die ganze Nacht brenn[t]. Am Tage ist diese Stelle von der Ladestraße einzusehen, desweiteren wird der Weg laufend benutzt. Der Boden unter den Masten ist mit Gras bewachsen. Es bedarf einer genauen Überlegung, ob diese Stelle für den vorgesehenen Zweck benutzt werden kann.55

Indes bot ein „Toter Briefkasten“ gegenüber dem häufigsten Mittel der Informationsweitergabe, dem „Treff “, einige Vorteile – selbst bei Verhaftung des Kuriers blieb die Quelle anonym und geschützt. Ein auf diese Weise getarntes Versteck wurde zumeist mit Mikrofilmen befüllt und von einem Kurier entleert. Die TBK befanden sich zum größten Teil an entlegenen Orten, die unauffällig erreicht werden konnten; in KGB- und Stasi-Kreisen waren insbesondere Steinplatten auf Friedhöfen, Nischen an Baumwurzeln oder hohle Bäume beliebt.56 Erkennbar wird ferner die Rolle des IM als Zuträger von Kleinstinformationen, deren Signifikanz sich trotz augenscheinlicher Banalität aus Stasi-Sicht erst im Zusammenwirken mit anderen Erkenntnissen der Feindaufklärung erschließen konnte oder Anhaltspunkte für weitere operative Herangehensweisen bot. Neben der Schulung in konspirativen Techniken sollte „Kurt Jäger“ die Infiltrierung der

54 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, Perspektivplan für den GI „Kurt Jäger“, Grenzpolizeibereitschaft Wittenburg, Unterabteilung Aufklärung, 12.2.1959, Bl. 42. 55 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, IM-Bericht von „Kurt Jäger“, Wittenberge, 19.3.1959, Bl. 27. 56 Schlomann, Operationsgebiet, S. 249 f.

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BRD-­Organe anbahnen, führte hauptsächlich aber geringere Kundschaftertätigkeiten auf Westterritorium aus, die indes militärische Relevanz hatten: Heute um 15.30 Uhr fuhr ein Militärzug der Bundeswehr durch Büchen. Er kam aus Richtung Hamburg in Richtung Lübeck. An der Spitze des Zuges befanden sich 30 Zugwagen mit den Mannschaften. Daran kamen einige Wagen mit LKW. Anschließend 15 Wagen beladen mit ca. 30 Panzer. Es waren leichte Kampfwagen. Am Turm war das Balkenkreuz.57

In seinen monatlich abgelieferten Berichten rekurrierte er auf Abläufe und Verhaltensweisen bezüglich des westlichen Grenzregimes: So hörte ich ein Gespräch zwischen den Eisenbahnern von Büchen mit an, die ebenfalls über die personellen Verbindungen bei der Paßkontrolle sprachen. Hierbei sagte der Wagenmeister […] aus Lübeck, er hätte einen ehemaligen Angehörigen der Paßkontrolle von Büchen in Lübeck in der Uniform des BGS in einem Jeep sitzen sehen.58

Er berichtete über die ab Ende der 1950er Jahre beginnenden Geschenkverteilungen an DDR-Reisende durch die Bahnhofsmission, erfasste Stimmungsbilder im Eisenbahnerkollegium zu aktuellen Situationen und spürte potentiell Denunzierendem nach: Vor einigen Tagen erzählte mir ein Lokführer, der im Büchenverkehr eingesetzt ist, daß ein Wagenmeister von hagerer Statur beauftragt ist, festzustellen, wer von unserem Zugpersonal in Büchen die Westzeitungen ließt. Hierbei äußerte er sich jedoch nicht weiter, wer hierfür in Frage kommt. Heute sprach ich mit meinem Arbeitskollegen, dem Wagenmeister […] darüber. Dieser sagte, er könne sich nicht vorstellen, daß […] oder […], auf die die Beschreibung eventuell paßt, so etwas machen.59

In den 1960er Jahren häuften sich konfrontative Situationen entlang des Grenzverlaufs zwischen den Sicherheitsbeamten beider deutscher Staaten. Im zehn Kilometer nordöstlich von Büchen gelegenen Langenlehsten kam es zur Gegenüberstellung eines schwer bewaffneten Bereitschaftszugs des BGS mit einer Gruppe DDR-Grenzern. Entschärfen ließ sich die Situation durch den Rückzug der DDRTruppen.60 Im Oktober 1961 begann die zweite Umsiedlungsaktion von Menschen, die von der DDR-Führung als politisch unzuverlässig betrachtet wurden. Insgesamt wurden 3.175 Personen aus dem Grenzgebiet ins Hinterland gebracht. Die Gründe 57 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, IM-Bericht von „Kurt Jäger“, Schwanheide, 26.9.1959, Bl. 64. 58 BStU, MfS, BV Schwerin, AIM, Nr. 4575/62, Personalakte, IM-Bericht von „Kurt Jäger“, Schwanheide, 10.5.1959, Ebd., Bl. 36. 59 Personalakte, IM-Bericht v. „Kurt Jäger“, Ludwigslust, 27.6.1959, Ebd., Bl. 45. 60 Walczok, Schatten, S. 20.

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für die Umsiedlungen blieben ungeklärt, sodass den Menschen am Ankunftsort teilweise mit Misstrauen begegnet wurde, da Arbeitsunwille oder kriminelle Hintergründe vermutet wurden. Offiziell wurden diese Aktionen als westliche Propaganda verschleiert.61 Nach dem Abebben der Aussiedlerströme der 1950er Jahre wurde die Betreuung der Interzonenreisenden Hauptaufgabe der Büchener Bahnhofsmission. Ihre Relevanz in der deutsch-deutschen Gemengelage als „Visitenkarte für den Westen“ führte zu komfortabler Ausstattung und einem Rund-um-die-Uhr-Betrieb in den Jahren von 1953 bis 1990. Diverse Aussagen der Stationsleiterin Belusa implizieren bei ihr eine Deckungsgleichheit mit der in der BRD in den ersten Nachkriegsdekaden prävalenten antisozialistischen Haltung: Die Arbeit der Kirche, die fing eigentlich 1953 an. Da gab es, ich glaube es war der 5., den evangelischen Kirchentag in Hamburg. Da durften dann in sechs Sonderzügen 10.000 Menschen aus der DDR, wir sagten damals noch SBZ, das hörten die da drüben nicht so gerne, aber wir waren da noch lange sehr stur, zum Kirchentag kommen.62

Im Oktober 1968 legte die Stasi eine eigene Akte zur Büchener Bahnhofsmission an. Materielle und ideelle Zuwendungen an DDR-Eisenbahner und Interzonenreisende wurden als subversive Tätigkeiten erfasst, weshalb das MfS Maßnahmen einleitete, „um zu verhindern, daß die GÜV-Personale [gemeint waren Eisenbahner im grenzüberschreitenden Verkehr, Anm. d. Verf.] zur Bahnhofsmission gehen.“ Neben dem karitativen Engagement nahm die Bahnhofsmission im Kontext des Kalten Krieges auch die Rolle eines subtilen politischen Beeinflussers ein: Die Bahnhofsmission ist in einem Barackengebäude untergebracht. […] Die Inneneinrichtung besteht aus einem größeren Aufenthaltsraum, der mit 6 Tischen á vier Stühlen, einem Ablageregal für Zeitungen und Zeitschriften und einem Fernsehgerät ausgestattet ist. Der Raum ist längs durch eine ‚Spanische Wand‘ abgeteilt, an der sich auf provokatorischer Art eine aus Sperrholz gefertigte Karte des früheren Deutschlands in seinen Grenzen von 1937 angebracht ist. Das heute zur VR [Volksrepublik, Anm. d. Verf.] Polen gehörende Gebiet ist rot und das Gebiet der DDR rosarot angemalt. Darüber ist die Losung angebracht: ‚So darf es niemals sein!‘ 63

Im Gegensatz dazu war die Stasi-Perspektive auf die Bahnhofsmission von einer vehementen Abgrenzungsrhetorik geprägt. In den 1970er Jahren eingegangene Berichte loyaler Zuträger wurden wie folgt ausgewertet:

61 Meyer-Rebentisch, Grenzerfahrungen, S. 56. 62 Heinz Bohlmann, Büchen im 19. und 20. Jahrhundert. Aus der Geschichte einer Gemeinde am Schienenstrang, Büchen 2009, S. 64. 63 BStU, MfS, HA XIX, Nr. 457, Bericht zur Bahnhofsmission, Schönberg, 29.10.1968, Bl. 20‒22.

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Dazu werden Mitarbeiterinnen dieser kirchlichen Institution der BRD bei Ankunft von Zügen aus der DDR auf dem Bahnsteig postiert, um die Reisenden mit Kaffee und Bananen zu versorgen. Diese Maßnahmen sollen den Reisenden die Sorge um den Menschen in der BRD suggerieren und sind eindeutig gegen die DDR gerichtet. Hinzu kommt, dass Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission am 19.9.1977 in sehr aufdringlicher Art und Weise DDR-Bürger aufforderten, den angebotenen Kaffee und das Obst zu verzehren. […] Die große Mehrheit der im Alter zwischen 65 und 70 Jahre befindlichen Reisenden aus der DDR griffen begierig nach dem angebotenen Kaffee und den Bananen.64

Abb. 2: „Bilder aus der Arbeit der Bahnhofsmission“, Faltzettel, erschienen im Februar 1975. Nachweis: Konferenz für kirchliche Bahnhofsmission.

In der DDR dehnte sich die repressive Politik totaler sozialer Kontrolle im Sinne einer „entfalteten Massenwachsamkeit“ ab 1968 zunehmend auf den Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich der Bevölkerung aus.65 Im deutsch-deutschen Kontext bedeutete die aufgrund unverrückbarer Machtpositionen im Juli 1963 von der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt erstmals herausgegebene Losung „Wandel durch Annäherung“ auf nachrichtendienstlicher Ebene den Aufbau einer mög64 BStU, MfS, HA VI, Nr. 10629, Information über Regimeverhältnisse auf dem Bahnhof Büchen, HA VIII/6, Berlin, 2.11.1977, Bl. 52 f. 65 Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter, S. 65 f.

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lichst überlegenen Auslandsspionage. Chruschtschows Logik, angesichts des Vernichtungspotentials der Kernwaffen den Klassenkampf auf die wirtschaftliche Ebene zu verlagern, löste sich erst Ende der 1980er Jahre in der weltanschaulichen und ökonomischen Kompromittierung der DDR auf.66 Um massenhaftes Aufbegehren zu verhindern, setzte die SED-Führung bis dahin auf die Befriedung der Gesellschaft durch die Gewährung eingehegter Kreativräume in den Farben des Sozialismus und eine rigorose Abgrenzungshaltung zur BRD. Die restriktive Reisepolitik zielte dabei auf die Minimierung von Westkontakten und stringentes Kanalisieren zwischenmenschlicher Begegnungen.67 Das Geräusch detonierender Minen, zumeist ausgelöst von verunglückten Wildtieren, gehörte für Einwohner in direkter Zonenrandlage zum Alltag. An den Stränden der Lübecker Bucht schwankten Westler zwischen provokativem Sich-Annähern an das durch Sichttürme abgezirkelte Grenzareal und respektvoller Wahrung des Sicherheitsabstandes.68 Den „Eisernen Vorhang“ definierte an den Rändern der DDR-Bezirke Rostock und Schwerin nun vor allem ein komplexes System aus Grenzsperranlagen. Die Ermordung des Regimegegners Michael Gartenschläger am 1. Mai 1976 durch Mitarbeiter des MfS im von Büchen nur viereinhalb Kilometer entfernten Brothen führte zu Verhandlungen, die den Rückbau der Selbstschussanlagen zur Folge hatten. Gartenschläger war zuvor aus fast zehnjähriger Zuchthaushaft von der BRD freigekauft worden, nachdem er öffentlichkeitswirksam den Abbau von SM70-Apparaten inszeniert hatte.69 Er war eines der etwa 1.000 Todes-

66 Görtemaker, Deutschland, S. 21 f. 67 Ebd., S. 24 f. 68 „Leichtsinn war es, eine Mutprobe. Junge Leute feierten auf dem Priwall, am Strand der Lübecker Bucht. Einer wollte imponieren und den Grenzzaun berühren. Er drang auf DDR-Gebiet und empfing einen Hüftschuss. Ich sehe es noch vor mir, sagt der Priwallianer Günter Wosnitza. Der Junge, blutend im Sand. Er versucht zurückzurobben. Er schafft es nicht. Reglos bleibt er liegen – tot? Der Strand ist voll schreckstarrer Menschen. Rotkreuzhelfer winken zum Grenzturm. Erst nach Stunden wird aufgesperrt und der Junge abtransportiert. […] Er hat überlebt. Er lag lange im Krankenhaus, in der DDR.“, siehe: Christoph Dieckmann, Dauerfeuer aufs Meer. Der Priwall, einst das Nordkap der deutsch-deutschen Grenze, in: ZEIT Geschichte. Epoche. Menschen. Ideen. 5 (2019) Die Grenze. Unser geteiltes Land – 1949 bis heute, S. 36–37, hier S. 36. 69 Errichtet waren an der Grenze des Kreises Herzogtum Lauenburg zur DDR im Jahr 1976 ca. 5 Kilometer einfacher Stacheldrahtzaun, ca. 24 Kilometer doppelter Stacheldrahtzaun (davon 26 Kilometer vermint), ca. 61 Kilometer Metallgitterzaun (drei Meter hoch), ca. 16 Kilometer Metallgitterzaun (zwei Meter hoch), SM 70 (Selbstschussapparat) auf einer Länge von ca. 33 Kilometern, ca. 80 Kilometer Kontrollstreifen (sechs Meter breit), ca. 42 Kilometer Kfz-Sperrgraben, ca. 77 Kilometer Kolonnenwege, ca. 40 Beobachtungstürme, ca. 50 Beton- und Erdbunker, Beobachtungsstände und Fernsehkameras, ca. sechs Hundelaufanlagen mit ca. 55 Hunden, 15 Lichtstraßen auf einer Länge von ca. 16 Kilometern sowie 17 stationäre Scheinwerfer, ca. 29 Kilometer Hinterlandzäune sowie ca. 30 elektronische, optische und akustische Signalanlagen. Vgl. Eckardt Opitz, Der Kreis Herzogtum Lauenburg von der Gründung der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung 1949‒1990, in: Herzogtum Lauenburg. Das Land und seine Geschichte, hg. von Ders., Neumünster 2003, S. 475‒502, hier S. 482 f.

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opfer, die bis 1989 vom DDR-Grenzregime durch Schusswaffengebrauch, Erd- und Splitterminen oder sonstige Gewalteinwirkung getötet wurden.70

Intensivierung der Überwachungsmaßnahmen ab 1984 Trotz der restriktiven Grundhaltung in Reisefragen führte das 1971 geschlossene Transitabkommen und der am 11. Mai 1973 im Bundestag mit knapper Mehrheit ratifizierte deutsch-deutsche Grundlagenvertrag zu gesetzlichen Erleichterungen im menschlichen Bereich. Möglichst qualifizierte Personenidentifizierungen und operative Fahndungen unter Einbeziehung aller an den Grenzübergangsstellen tätigen Organe sollten indes weiterhin gewährleistet werden. Die umfassende Kontrolle aller Verkehrsteilnehmer auf den verschiedenen Transitstrecken wurde trotz Vereinfachungen und Beschleunigungen im Abfertigungsprozess stringent durchgesetzt. Die HA VI wurde sukzessive ausgebaut, insbesondere auch, um Anbahnungen von Schleusungen zu unterbinden, die aufgrund der ab 20. Dezember 1974 tolerierten Pkw-Einreise häufiger auftraten.71 Ferner monierten die Sicherheitsorgane der DDR in diesem Kontext einen vermehrten „Polittourismus“.72 Die politische Lage spitzte sich durch den NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der BRD und die sowjetische Intervention in Afghanistan im Dezember 1979 zu. Durch die daraufhin verfügte Erhöhung des Mindestumtauschsatzes am 13. Oktober 1980 wurde die Attraktivität eines Besuchs der DDR für BRD-Bürger*innen in finanzieller Hinsicht limitiert, was im Umkehrschluss einen relationalen Anstieg von Reisenden aus der DDR in die BRD bewirkte. Die Polenkrise 1980/81 führte, wie bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69, zu repressiven Reflexen der SED-Führung, deren außenpolitische Positionen sich weiter verhärteten. Eine deutsch-deutsche Politik des schrittweise erfolgenden Interessenausgleichs war indes möglich – nach milliardenschwerer Finanzhilfe der BRD kam es 1983 zu einer Korrektur des Mindestumtauschsatzes und der forcierte Rückbau von Selbstschussanlagen und Bodenminen begann.73 Ungeachtet der Liberalisierungs- und Öffnungstendenzen in anderen Ostblockstaaten wie Ungarn, Polen oder der Tschecheslowakei begann sich die DDR zusehends zu isolieren und setzte auf die Verbannung Andersdenkender. Die inländische Friedensbewegung sah sich mit einer Verhaftungswelle konfrontiert; 31.000 oktroyierte Ausreisen bedeuteten 1984 gegenüber 7.729 abgeschobenen Personen im Vorjahr einen bemerkenswerten Höchststand. Insbesondere die Ab70 Angabe nach Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Vgl. Hartmut Augustin, DDR-Vergangenheit. SED-Forscher der FU Berlin erwartet noch mehr Opfer durch Stacheldraht und Mauer, in: Mitteldeutsche Zeitung (12.8.2010), https://www.presseportal.de/pm/47409/1663193 (23.3.2020). 71 Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 4 f. 72 Ebd., S. 85. 73 Ebd., S. 84.

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wanderung einer großen Anzahl Intellektueller und Künstler hatte die DDR bereits seit den 1970er Jahren geistig und gesellschaftlich zunehmend erodieren lassen.74 Die Erfassung sämtlicher Aktivitäten an der GKSt Büchen erfolgte ab 1984 unter der Bezeichnung „Feindobjekt ‚Schiene‘“.75 Ziel der „forcierten politisch-operativen Anstrengungen“ war es, über „alle internen, besonders über Fahndungsprozesse, deren Kräfte, Mittel und Maßnahmen, ständig aktuell informiert zu sein“.76 Zu diesem Zeitpunkt waren von 77 eingesetzten Eisenbahnern im grenzüberschreitenden Verkehr 24 als IM tätig, also 31 Prozent.77 Nahezu ein Drittel des DR-Personals hielt auf den gegnerischen GKSt Ausschau und kontrollierte die anderen Kollegen, stellte fest, wer sich warum vom Einsatzort entfernte, im Westen einkaufte oder verdächtige Verbindungen zu Personen im Operationsgebiet unterhielt.78 Im Konzept der Staatssicherheit wurden die Eisenbahner zur Verfügungsmasse und die Zugriffsmöglichkeiten auf Reisendenströme sowie grenznahe Areale formgebend für die Scharnierfunktion der HA VI. Im Zuge dessen sollten „Maßnahmen der Koordinierung mit und über die AKG mit den Linien I, III, VII, XV, XVIII, XIX zur Gewährleistung einer effektiven Informationskette und des Einsatzes vorhandener operativer Kräfte“ gefördert werden.79 Novelliert wurde die grenznahe IM-Arbeit in Schleswig-Holstein, da „in den letzten Jahren nur sehr wenige tatsächlich operativ bedeutsame Informationen erarbeitet“ wurden, zumal die Einsatz- und Entwicklungskonzeptionen der informell Spionierenden „alle gleichlautend und nicht differenziert auf die Möglichkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten der IM modifiziert“ waren. Weiter ausgebaut werden sollte das konspirative Netz. Nicht nur die jeweiligen Aufenthaltszeiten im Operationsgebiet, Möglichkeiten des Entfernens vom Einsatzort und persönliche Beziehungen zu BRD-Organen sollten erfasst werden. Forciert wurden Verwandtschafts- und Bekanntschaftsaufstellungen, um DDR-Bürger*innen mit Kontakten in Gudow, Büchen, Mölln, Ratzeburg, Lauenburg und Geesthacht ausfindig zu machen. Abschöpfungskanäle in GKSt-nahen Wohngebieten wurden erschlossen, Kontakte mit BRD-Bürger*innen über fingierte Vereinsmitgliedschaften geknüpft oder es wurde sich unauffällig an Geheimnisträger der BRD-Grenzorgane bei Kneipen74 Görtemaker, Deutschland, S. 24 f. 75 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, Ergänzende Erfassungsangaben ZPDB/DUG/ SLK, Information gegn. GKST „Schiene“, Schwerin, 18.3.1986, Bl. 3. 76 BStU, MfS, BV Schwerin, Stv Op, Nr. 29. Konzeption zur zielgerichteten operativen Bearbeitung der gegnerischen Grenzkontrollstellen, Abt. VI/5, Schwerin, 5.2.1985, Bl. 1. 77 BStU, MfS, HA XIX, Nr. 4172, Thesen zur IM-Arbeit, Bl. 2. 78 In der Einsatz- und Entwicklungskonzeption (EEK) des IMS Weber vom 18. Februar 1985 werden folgende auf die Absicherung der GÜV-Personale abzielende Einsatzrichtungen genannt: „Verlassen des Arbeitsbereichs; Führen von Telefonaten, Briefeinwürfe; Kontaktaufnahmen, Treffen mit Kontaktpartnern; Verausgabung größerer finanzieller Mittel; Devisenverstöße; Geschäftsmacherei, Zollvergehen, kriminelle Handlungen; politisch-ideologische Verhaltensweisen; moralisches Fehlverhalten; Verhaltensweisen im Wohn- und Freizeitbereich“. BStU, MfS, Nr. 991/94, Bl. 214. 79 BStU, MfS, BV Schwerin, Stv Op, Nr. 29, Konzeption zur zielgerichteten operativen Bearbeitung der gegnerischen Grenzkontrollstellen, Abteilung VI/5, Schwerin, 5.2.1985, Bl. 3.

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besuchen angenähert – flankiert durch neue DA, DT und konspirative Wohnungen. Insbesondere die „Schaffung von perspektivvollen IM-Verbindungen durch Werbungen von Abiturienten, Studenten und anderweitig interessanten jüngeren Personenkategorien“ zur zielgerichteten Unterwanderung von BGS und Zoll wurde avisiert. Auf die „Nutzung der spezifischen Möglichkeiten der Abteilung 26“ (Telefonkontrolle, Abhörmaßnahmen, Videoüberwachung) – potentielles „Verwanzen“ – wurde ausdrücklich hingewiesen.80 Einzuordnen ist diese Neujustierung in die schrittweise Anpassung der Staatssicherheit an die Interessen der Parteiführung: Hallsteindoktrin, Mauer oder Entspannungspolitik bedingten und erforderten jeweils unterschiedliche Operationsformen. Dominierten in den fünfziger Jahren beispielsweise illegale Residenturen, so bot die Einrichtung von Botschaften insbesondere ab den siebziger Jahren vermehrt legale Zugriffe auf Informationen. Entsprechend dieser Lageveränderungen gab es zwar auch in den achtziger Jahren – wie schon in den fünfziger Jahren – den klassischen Agenten, zunehmend Bedeutung gewann jedoch das Abschöpfen, die legendierte Verbindung zu interessanten Geheimnisträgern.81

Ein konzertiertes Vorgehen der IM begünstigte die Bildung eines neuen Referates in der Abteilung VI der Bezirksverwaltung Schwerin. Vierteljährliche Zwischenberichte sicherten die Kontinuität der Arbeit und flossen in zusammenfassende Jahresberichte ein. Mehrere zwischen 1985 und 1987 erstellte Memoranden, die sich auf sämtliche inoffizielle Kräfte, „Informationen anderer Diensteinheiten im Rahmen koordinierter Maßnahmen“ sowie „operative Filtrierungsmaßnahmen an der GÜST Schwanheide“ beziehen, geben Aufschluss über den tatsächlichen Kenntnisstand der Stasi hinsichtlich der Regimeverhältnisse an den GKSt.82 Major Ranke vermerkte: Die Angehörigen des BGS und GZD verlassen in Büchen den kontrollierten Zug bei dessen Ankunft und begeben sich in das Dienstgebäude des BGS. Festgestellt wurde mehrfach, daß der BGS mit einem Funkgerät, einer Pistole, Fahndungsbüchern und einer schwarzen Aktentasche ausgerüstet ist […] Diensthunde […] sind auf dem Bahnhofsgelände nicht ständig stationiert und kommen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz […] Die Registrierung der Personalien von DDR-Bürgern während der Kontrollen des BGS unterstützen vorliegende Erkenntnisse über das Zusammenwirken der gegnerischen Geheimdienste mit den Kontroll- und Überwachungsorganen an der Grenze zur DDR.83 80 Ebd., Bl. 4. 81 Helmut Müller-Enbergs, Was wissen wir über die DDR-Spionage?, in: Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, hg. von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs, (Analysen und Dokumente – wissenschaftliche Reihe des BStU 23), Bremen 22003, S. 34‒71, hier S. 34. 82 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887. 83 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, Zusammenfassende Einschätzung zur Gkst Büchen für den Zeitraum Juni 1986 bis August 1987, Abteilung VI/4, Schwerin, 27.8.1987, Bl. 71.

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Insgesamt kam es zu einer relativ umfassenden objektiven Dokumentation der westlichen GKSt. Die Stasi sah sich sogar in der Lage, interne Spannungsverhältnisse des Gegenübers zu bewerten: „Überhebliches Auftreten der BGS-Beamten. Ständige Bevorzugung des BGS durch übergeordnete Organe. So verdienen die BGS-Beamten wesentlich mehr Geld als die Zöllner.“84 Ferner existierten genaue Lagepläne des Bahnhofs und der frei zugänglichen Räumlichkeiten wie der Bahnhofsmission. Sensible Informationen bezüglich der Struktur und des Personalbestandes des BGS existierten dagegen nicht: An der GÜST Büchen sind Kräfte des Bundesgrenzschutzeinzeldienstes (GSE) eingesetzt. Der Grenzschutzeinzeldienst ist eine Sonderformation des BGS, dem Bundesministerium, Abt. VI, öffentliche Sicherheit, unterstellt. […] Schlußfolgernd aus der Aufgabenstellung und den getroffenen Beobachtungen durch inoffizielle Kräfte sind wahrscheinlich ca. 12–16 BGS-Beamte auf der GKSt tätig. Im bisherigen Verlauf der Aufklärung […] konnten keine BGS-Beamten namentlich identifiziert werden. […] Aus den genannten Gründen können gegenwärtig keine Aussagen zur Struktur des GSE getroffen werden.85

Zum Zoll lagen indes exaktere Erkenntnisse vor: Von den 28 an der GKSt tätigen Zollbeamten konnten folgende namentlich identifiziert werden. […] Durch die Zollbeamten müssen in Büchen wöchentlich 40 Stunden gearbeitet werden. Diese Arbeitszeit gliedert sich wie folgt auf: Vormittagsschicht – 7 Stunden. Nachmittagsschicht – 7 Stunden. Nachtschicht – 10 Stunden.86

Aussagekräftige IM-Berichte zur Feststellung partieller Unregelmäßigkeiten im Grenzregime oder verdächtiger Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen, die Implikationen zu Schleusungen oder Schmuggelvorhaben liefern konnten, wurden den Zusammenfassungen beigefügt oder sind als eigenständige Auszüge aus IM-Akten erhalten. So berichtet IMS „Rainer“ am 26. September 1986, dass „bei seinen Fahrten nach Büchen in letzter Zeit […] das Gebäude des Paßorgans […] auch nachts besetzt ist […]“, und dass „sich auch nachts zwei Angehörige des Paß oder BGS in Drillich-Uniform auf dem Bahngelände aufhielten.“87 Die Einschätzung des Stasi-Hauptmanns war demzufolge, dass „die Sicherheitskräfte der BRD, Paß oder BGS, auf dem Bf [Bahnhof, Anm. d. Verf.] Büchen auch Nachts eingesetzt werden und Streifentätigkeit auf dem Bf Büchen durchführen.“ Der IMS „Weber“ bemerkte am 14. März 1987, dass beim Passieren der Staatsgrenze „die auf BRDGebiet befindliche Plattform durch 2 BGS-Angehörige besetzt war. An dem Haus 84 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, Bericht, Unterpunkt 2.1.2.2. Aufgabenstellung des ZGD, Abteilung VI/5, Schwerin, 20.3.1986, Bl. 32. 85 Ebd. 86 Ebd., Bl. 31. 87 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, IM-Bericht, Quelle IMS „Rainer“, 26.9.1986, schriftl./Hptm. Jäger, Schwerin, 26.9.1986, Bl. 49. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat.

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am Wendeplatz standen ein BGS-Bus und zwei weitere BGS-Angehörige.“88 Noch am 1. November 1989 berichtete der IMS „Ernst Kramer“ bei einem „Treff “ mit Ranke über sechs kreisfremde PKW, die zwischen Juni und August auf dem Bahnhof Büchen abgestellt wurden.89 Nachdem Michail Gorbatschow am 10. März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) ernannt worden war, hofften weite Teile der Bevölkerung auf Analogien zu dessen Reformkurs. Ungeachtet der sukzessiven Abkehr von der sowjetischen Interventionslogik im Fall des oppositionellen Erstarkens im Sinne der Breshnew-Doktrin und den damit verbundenen Liberalisierungsabsichten umliegender Ostblockstaaten, wurde das SED-Regime verstärkt „zu einer Insel der Orthodoxie in einem Meer politischer, ökonomischer und ideologischer Strukturveränderungen.“90 Auch das Betreiben der „ideologischen Absicherung“ der eigenen Eisenbahner durch gegenseitige Bespitzelung erfolgte noch in verlässlicher Manier, als sich die DDR bereits ihrem Ende zuneigte. Im Rahmen der OPK „Hobby“, welche die „Verletzung der Dienstbefugnisse bei Aufenthalt“ auf dem Büchener Bahnhof thematisierte, berichtete IMS „Hans“ bei einem konspirativen Treffen am 19. Dezember 1987 über den Einkauf eines Kollegen im örtlichen Supermarkt und auch IMS „Ewald“ schilderte regelmäßige Besuche des örtlichen Versandhandels. Major Ranke wusste bereits: „Da sich die Agentur im eigenen Haus befindet, hat die Inhaberin so orientiert, dass unsere DDR-Eisenbahner auch außerhalb der Öffnungszeiten zu ihr kommen können.“91 Im Zuge der OPK „Bohrer“ verriet der IMS „Jürgen“ am 6. Mai 1986 einen altgedienten Kollegen: Der Lokf. […] fährt bereits seit über 30 Jahren als Lokheizer und ist somit das älteste Mitglied in der Dienstgemeinschaft. […] Bekannt ist dem IM, daß […] Kontaktbeziehungen zu einem Büchener Aufsichter hatte. Dieser hat ihm ‚alles besorgt‘. […] hat seinerzeit geäußert, daß er dadurch nicht erst ‚runter‘ braucht, er meint damit das Aufsuchen der Ortschaft Büchen.92

Im daraus resultierenden Maßnahmenplan formulierte Major Dominka folgende Zielstellung: Personifizierung und Klärung der Kontakte und Verbindungen, die […] unter Ausnutzung seines Einsatzes im GÜV unterhält. Beurteilung der Verhaltensweisen des 88 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, IM-Bericht, Quelle IMS „Weber“, 30.3.1987, mündl./Major Ranke, Bl. 63. 89 BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. XIX, Nr. 10606, IM-Bericht, Quelle IMS „Enke“, 9.6.1989, mündl./Major Ranke. 90 Görtemaker, Deutschland, S. 29. 91 BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. XII, AOPK, Nr. 580/89, IM-Bericht, Quelle IMS „Ewald“, 4.12.1987, mündl./Major Ranke. 92 BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. XII, AOPK, Nr. 1121/86, Maßnahmenplan zur OPK „Bohrer“, Abt. XIX/2, Wittenberge, 28.4.1986.

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[…] im Operationsgebiet aus Sicht einer möglichen Feindtätigkeit unter Nutzung der verwandtschaftlichen und bekanntschaftlichen Verbindungen. Entscheidungsfindung über den weiteren Einsatz des […] im GÜV.93

Trotz unangenehmer Konsequenzen für den Einzelnen, die auch das persönliche Umfeld tangierten, stellt sich die Frage, ob es über psychologisierte Zurechtweisungen hinaus auch zu Entlassungen oder Inhaftierungen im Zuge dieser Vorkommnisse kam, da Personalmangel in der späten DDR ein allgegenwärtiges Problem war. Überdies kam es zu einer gezielten Alimentierung von DDR-Eisenbahnern in den 1960er Jahren: Individuelle Geschenke, herausgegeben von Bahnhofsmission und gesamtdeutschem Ministerium, konnten von den „Berufspendlern im doppelten Sinne“ gelegentlich an der Stasi vorbeigeschmuggelt werden.94 Sämtliche Geschenksendungen, die über die Bahnhofsmission in die DDR gelangten, wurden indes durch die Abt. M (Postkontrolle) hinsichtlich Empfänger und Inhalt überprüft: Durch das Postzollamt Ludwigslust wurde herausgearbeitet, daß die Ev. Bahnhofsmission auch mit postalischen Kontakten in die DDR in Erscheinung tritt. Hierbei handelt es sich überwiegend um Personen, welche durch ihre Reisetätigkeit mit der GKSt Büchen in Erscheinung getreten sind bzw. um Personen, welche durch ihre berufliche Tätigkeit bei der Deutschen Reichsbahn Beziehungen zur GKSt Büchen haben. […] Der Inhalt dieser Postsendungen besteht überwiegend aus Lebens- und Genußmitteln, Kosmetik, Wolle und Strumpfhosen. Die Ev. Bahnhofsmission ist am PZA [Postzollamt, Anm. d. Verf.] als aufgeklärter Organisationsabsender geführt.95

Am 5. Juni 1985 wurde der IME „Dieter Berg“ als Spitzel verpflichtet. Dem Anforderungsbild von IM, welche die Feindobjektakte „Schiene“ beliefern konnten, entsprach er in besonderem Maße, da er als Invalidenrentner mehrmals im Jahr nach Mölln reiste: „Der Kandidat wurde durch die Auswertung der Anträge auf Ausreise in die BRD zu Besuchen von Verwandten bekannt. […] Die Ausreisen nach Mölln erfolgen seit März 1984 regelmäßig ca. alle 3 Monate für 5 Tage.“96 Zwar wurde im Rahmen einer zwischengelagerten EEK am 5. Juni 1986 eingeschätzt, dass der IM „die Aufträge in guter Qualität realisiert. Durch ihn wurden bisher Informationen zum Grenzregime an GKSt Büchen und Gudow, zur Evangelischen Bahnhofsmission sowie zur Gaststätte […] in Mölln erarbeitet.“ Wegen Dekonspiration beendete die Stasi am 11. September 1986 jedoch die Zusammenarbeit. Die Reaktion des IM rückt letztlich die Tragik der prävalenten psychischen Belastung in den Mittelpunkt einer Beurteilung der Geschehnisse: 93 Ebd. 94 Vgl. dazu Thöming, Bahnhofsmission, S. 92. 95 BStU, MfS, HA VI, Nr. 10629, Bericht, Unterpunkt 2.1.6. Gesellschaftliche Einrichtungen: Evangelische Bahnhofsmission, Abt. VI/5, 10.3.1986, Bl. 56. 96 BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. XII, AIM, Nr. 999/86, Werbungsvorschlag „Dieter Berg“, Abt. VI/5, Schwerin, 6.5.1985, Bl. 150.

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Während dieses Treffs war zu verzeichnen, dass der IM über die Mitteilung des Abbruchs der inoffiziellen Zusammenarbeit offensichtlich erleichtert war. Dieses zeigte sich, indem der IM nach dieser Mitteilung sehr gesprächig wurde und in seinem Auftreten offener war. Dieses bezog sich aber nur auf allgemeine Fragen. So wurden durch den IM auch nach dieser Mitteilung keine Angaben zur Dekonspiration bzw. seiner ablehnenden Haltung zur Zusammenarbeit gemacht. Zusammenfassend zu diesem Gespräch kann eingeschätzt werden, daß der IM die Begründung für den Abbruch der Verbindung offensichtlich als glaubwürdig aufgefaßt hat und damit die Quellen der KD [Kreisdienststelle im Bereich des MfS, Anm. d. Verf.] Perleberg, gegenüber welchen sich der IM dekonspiriert hatte, geschützt sind.97

Die informelle Spitzelarbeit trug pathologische Züge, stiftete zur Denunzierung und charakterlichen Verstellung an und führte in die Einsamkeit, da eigene Entscheidungen und Bewegungen ausschließlich unter dem Nutzenaspekt der konspirativen Tätigkeit zu bewerten waren.98 Eine Aktennotiz vom 30. Juni 1986 schließt bilanzierend, dass „an der Gegengüst Büchen […] kein festes, sich wiederholendes Regime festgestellt werden [konnte]“.99 Fraglich ist, ob der BGS an dieser Stelle des „Eisernen Vorhangs“ im Rahmen eines bewussten Strategems eigene Schwächen verschleierte. Exemplifiziert wird die weniger harsche Grundhaltung der BRD hinsichtlich des grenzüberschreitenden Verkehrs an den Schleswig-Holsteiner GÜST indes durch folgenden Vermerk: Auf dem Bahnhofsgelände Büchen befindet sich eine Mission, welche direkten Zugang zum Abreisebahnsteig hat, wo der Bahnsteig betreten werden kann, ohne das Bahnhofsgebäude beim Umsteigen von Bahnsteig Lübeck-Hannover zu betreten. […] Ungewollt habe ich mich anderen Reisenden angeschlossen und habe dabei diese Feststellung getroffen.100

BGS und Bahnhofsmission teilten sich seit 1974 ein Barackengebäude, wobei sich Kooperationsebenen bei Abfertigung und Betreuung der Reisenden ergaben. Um den Kontrollierten die 100 Meter von der Passkontrollstelle zur Baracke zu ersparen, fanden die Passkontrollen später vermehrt direkt in der Bahnhofsmission statt. Ausreisende konnten nach der Passkontrolle in der Bahnhofsmission die Station durch eine Nebentür verlassen und ausreisen.101 Ob das mit dieser Praxis verbundene, spätestens im Oktober 1988 von der Stasi entdeckte „Schlupfloch“ im „Eisernen Vorhang“ bereits vorher bekannt war und bei Spionagetätigkeiten genutzt wurde, bleibt ein Desiderat der Forschung.  97 BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. XII, AIM, Nr. 999/86, Bericht zur Beendigung der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem IME „Dieter Berg“, Abt. VI/4, Schwerin, 12.9.1986, Bl. 207.   98 Schlomann, Operationsgebiet, S. 126.  99 BStU, MfS, BV Schwerin, AKG, ZMA, Nr. 4887, Aktenvermerk, Ergänzende Erfassungsangaben ZPDB/DUG/SLK, Information gegn. GKST „Schiene“, Bl. 17. 100 BStU, MfS, HA VI, Nr. 10629, Bericht, Stand 10/88, gez. Linde, Bl. 21. 101 Thöming, Bahnhofsmission, S. 157.

„Feindobjekt ‚Schiene‘“

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Der sich in den Reisendenzahlen andeutende, unaufhaltsame Zerfall des isolationistischen SED-Regimes kündigte sich auch in Schleswig-Holstein an. Während der BGS im September 1985 110 über Büchen einreisende DDR-Jugendliche registrierte, waren es ein Jahr später bereits 1.198, bei weiterhin ansteigender Tendenz.102 Als ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg damit begannen, Stacheldraht und Sicherungsanlagen abzubauen, negierte dies die systembasierte und realpolitische Trennung der Völker in Ost und West. 120.000 DDRBürger*innen stellten im Sommer 1989 einen Ausreiseantrag, am 19. August flohen 600 DDR-Urlauber über die ungarisch-österreichische Grenze bei Sopron im Rahmen eines Fests der „Paneuropa-Union“. Bis Ende September folgten hier über 32.500 Menschen nach. Die Forderungen nach Reisefreiheit erstarkten auf den „Montagsdemonstrationen“, die am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche begonnen hatten, sich bis zum „Mauerfall“ zu Massenveranstaltungen mit hunderttausenden Teilnehmenden entwickelten und ähnliche Proteste im ganzen Land inspirierten. Zudem waren die Aktivitäten der Friedensund Oppositionsgruppen nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 kulminiert. Gorbatschows Sentenz, dass nun bestraft werde, wer bei den anstehenden kühnen Entscheidungen zurückbleibe, klammerten den oktroyierten Rücktritt Erich Honeckers semantisch ein. Unter seinem Nachfolger Egon Krenz wurde am 9. November 1989 die Mauer geöffnet.103 Die Brisanz dieser Vorkommnisse lag in der zuletzt ungeordneten Vorgehensweise der HA VI. Trotz Alarmzustand verlagerten sich Entscheidungsverantwortungen auf die unteren Befehlsebenen. Bei anhaltender Gefechtsbereitschaft wurde gezwungenermaßen eine Reihe zusätzlicher GÜST geschaffen. Die Linie VI passte ihre Abfertigungspraxis den Gegebenheiten an, zum 20. November 1989 hatten 10.299.107 DDR-Bürger*innen als Privatreisende die Grenze zur BRD überquert.104 Auch in Büchen waren bis zu 400 Prozent überbelegte Züge zunächst keine Seltenheit. Bei Ankunft sprangen die Menschen teilweise aus den Fenstern der Waggons. Zahlreiche neugierige Besucher aus der DDR suchten in Lauenburg und Lübeck den Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Ergänzend zur Bahnhofsmission wurde in Büchen der Gemeindesaal der Kirche geöffnet, um Ankömmlinge zu bewirten. Viele holten sich zunächst das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM ab und gingen einkaufen – teilweise wurde die hohe Nachfrage an Südfrüchten und Textilien von fliegenden Händlern gedeckt, die ein Geschäft witterten. Bis zum Herbst 1990 ebbte der starke Besucherandrang schrittweise wieder ab.105 Am 11. Januar 1990 sicherte ein neues Reisegesetz allen Bürger*innen Reisefreiheit zu. Angehörige der PKE und Grenztruppen wurden am 20. April des Jahres auf Befehl des Ministers für Abrüstung und Verteidigung neu vereidigt. Besiegelt wurde die Aufhebung von Personenkontrollen und die Kooperation bei Polizei- und Fahndungstätigkeiten am 102 Ebd., S. 154. 103 Görtemaker, Deutschland, S. 31‒33. 104 Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 92. 105 Thöming, Bahnhofsmission, S. 159.

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Jann-Thorge Thöming

1. Juni 1990 im Vorfeld der von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs befürworteten „Zwei-plus-Vier-Verträge“ und der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.106

Schlussbetrachtung Je mehr sich die SED-Führung durch die sie umgebenden emanzipativen Vorkommnisse in Bedrängnis gesehen hatte, desto stärker war der eigene Sicherheitskonzern zur Hochkonjunktur aufgelaufen. Motorisch funktionierte der Repressions- und Informationsapparat bis zur Besetzung der ersten Stasi-Bezirksverwaltungen im Dezember 1989 durch DDR-Bürgerrechtler*innen – auch wenn das Ziel der staatlichen Machtsicherung durch maximale soziale Kontrolle bereits historisch verfehlt war. Eine differenzierte Betrachtungsweise theoretischer Implikationen der in den Westen gerichteten MfS-Strategie führt indes zu einem dieser facettenreichen Auslandsspionage immanenten Friedenserhaltungssatz. Dieser lässt gemeinhin vordergründige Absichten einer militärischen, politischen oder ökonomischen Gegnerschwächung im Ausland als zu eindimensional erscheinen. Mielkes pathetische Phrasen über die in der BRD eingesetzten „Kundschafter des Friedens“ auf „selbstloser“ Mission fallen in den Kontext des für die sowjetisch protegierten Geheimdienste theoriebildenden Traktats Die Kunst des Krieges aus dem chinesischen Altertum: Spionage als ressourcensparendes Mittel der Konfliktaustragung ohne direkte Tötungsabsichten, dabei als Gewährleister der militärischen Oberhand im Ernstfall. So stellt die GKSt-orientierte „Westarbeit“ an der schleswig-holsteinischen Grenze eine nicht unbedeutende Einzelverästelung innerhalb des ineinander verschachtelten Stasi-Gesamtkonstrukts dar, deren tatsächlicher Nutzen hinsichtlich Auswirkungen auf politische und militärische Entscheidungen sich der Analyse stellt.107

106 Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 95. 107 Müller-Enbergs, DDR-Spionage, S. 35 f.

Caroline Elisabeth Weber

Friedhöfe als Gedächtnislandschaften der Regionalgeschichte Die Traditionsstätte St. Jürgen auf dem Kieler Parkfriedhof Eichhof

Abstract This essay shows the variety of methods and the potential for teaching modern regional history on the basis of a student project. The starting point is the traditional site of St. Jürgen at the Eichhof in Kiel about which information boards were designed by students on site to draw attention to the importance of the visibly older gravestones. Preserved gravestones from the old Kiel cemetery St. Jürgen (1793‒1900) were transferred to the Eichhof after World War II, after the total destruction of the cemetery, which had been unused since 1901, during the bombing war, and are now listed as historical monuments. From today’s point of view, different epochs of Kiel’s city history – but also in the past of Schleswig-Holstein, Denmark and Prussia – overlapped in the stones and in both cemeteries which thus became palimpsests. The grave of the physician Christian Johann Berger, the double grave Baggesen/Rein­ hold and the family grave Hegewisch are used to illustrate perspectives on personal and university history as well as social, political and gender history. In addition, the two cemeteries exemplify perspectives on questions of the history of ideas or urban geography, such as the Enlightenment or car-friendly urban planning after 1945. The cemeteries and the individual gravestones thus function in different contexts as landscapes of memory for a regional history. The essay pleads for interdisciplinary research beyond one-sided national narratives and shows how knowledge transfer between university and society can succeed even on a supposed niche topic.

Im Sommersemester 2017 habe ich im Rahmen eines Seminars über Kieler Denkmäler mit Bachelor- und Masterstudierenden zwei Ausflüge zum städtischen Parkfriedhof Eichhof unternommen. Dabei ergab sich eine Erkenntnis, über welche die Studierenden zwar in der Theorie von Maurice Halbwachs bereits gelesen, die sie konkret auf das Thema bezogen aber noch nicht erfahren hatten: „Die Vergangenheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren“1 – aber, so muss man in diesem Fall hinzufügen, wird doch aus dem

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Zit. n. Norbert Fischer und Markwart Herzog, Tod – Gedächtnis – Landschaft: Zur Einführung, in: Tod – Gedächtnis – Landschaft, hg. von Dens. (Irseer Dialoge. Kultur und Wissenschaft interdisziplinär 21), Stuttgart 2018, S. 9–15, hier S. 12.

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Caroline Elisabeth Weber

Berührten nicht unmittelbar klug.2 Den Studierenden fiel zunächst der schlechte Zustand der historischen Grabsteine der Traditionsstätte St. Jürgen vor der Friedhofskapelle auf. Zumindest einige Namen der hier liegenden Personen beziehungsweise deren Grabsteine waren aus dem bisherigen Studium durchaus bekannt; sie sind also Teil des „kulturellen Gedächtnisses“.3 Darüber hinaus war die Gruppe sehr daran interessiert, die letzte Ruhestätte des schleswig-holsteinischen Juristen Niels Nicolaus Falck (1784–1850)4 sowie den Gedenkstein für den Vordenker der regionalen Unabhängigkeitsbewegung Uwe Jens Lornsen (1793–1838)5 vor Ort zu finden – allerdings konnten sie die Namen auf den Grabsteinen oft nur schwer identifizieren oder mussten durch überwucherte Hecken und Farne klettern, um die entsprechenden Steine überhaupt erkennen zu können. Schließlich fehlte vor Ort jegliche weitere Information über die Historizität der Traditionsstätte, deren einzelne Grabsteine zwar mehr oder weniger sichtbar waren, deren Vergangenheiten aber doch verborgen blieben.6 Von dieser Erfahrung nachhaltig beeinflusst, regten die Studierenden an, sich in einem Folgeprojekt ganz konkret mit der Traditionsstätte St. Jürgen auf dem Eichhof-Friedhof zu befassen und die Ergebnisse für die Öffentlichkeit zugängig zu machen, was schließlich im Sommersemester 2018 realisiert werden konnte.7

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Grundlegend und mit wertvollen Überlegungen zum Vermittlungspotential von Denkmälern, auch im Schulunterricht, Günter Kaufmann, Historische Denkmäler in Kiel. Ein Beispiel für den Umgang mit Denkmälern als historische Quelle, in: Demokratische Geschichte 7 (1992), S. 261–319. Stefan Berger und Joana Seiffert, Erinnerungsorte – ein Erfolgskonzept auf dem Prüfstand, in: Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, hg. von Dens. (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A/59), Essen 2014, S. 11–36, hier S. 14, auch zur Unterscheidung zur Verwendung der Begrifflichkeiten bei Pierre Nora und Assmann. Der Begriff „kulturelles Gedächtnis“ wurde durch Aleida und Jan Assmann geprägt, die ihn vom individuellen und kollektiven Gedächtnis abgrenzen. Siehe dazu Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, München 2006; Dies., Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Vgl. Utz Schliesky, Niels Nicolaus Falck. Der Kampf um Schleswig-Holstein mit den Mitteln des Rechts, in: 350 Jahre Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, hg. von Andreas von Arnauld u. a., Tübingen 2018, S. 35–62. Vgl. Johannes Jensen, Uwe Jens Lornsen (1793–1838) diesseits von Mythos und Verklärung: Annäherungen an den Menschen und Politiker, in: Zeitschrift der Gesellschaft für SchleswigHolsteinische Geschichte 132 (2007), S. 107–132. Grabstein und Friedhof müssen an dieser Stelle vom Denkmal abgegrenzt werden, da sie zwar ebenfalls „gegenständliche Zeugnisse vergangener Zeiten“ und gleichsam „plastisch gestaltet sind“, wie Kaufmann, Denkmäler, S. 263, graphisch aufzeigt. Allerdings besitzen sie eine grundsätzlich andere Funktion und mitunter auch einen anderen Öffentlichkeitscharakter. Projektseminar „Vergessene Grabstätten Kieler Professoren? Infotafeln für die Traditionsstätte des ehemaligen St. Jürgen-Friedhofs auf dem Kieler Eichhof “ (Sommersemester 2018) der Abteilung für Regionalgeschichte an der Universität Kiel unter Leitung von Caroline E. Weber, M.A.

Friedhöfe als Gedächtnislandschaften der Regionalgeschichte

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Abb. 1: Der Gedenkstein für Uwe Jens Lornsen. Foto: Caroline E. Weber, Juni 2018.

Versteht man Friedhöfe als „am meisten verdichtete […] Gedächtnislandschaften“8, so lassen sich über diesen „sepulkral geprägten Raum […] Biografien, Mentalitäten, Ideologien, Geschlechterbeziehungen, gesellschaftliche Strukturen und Hierarchien“ abbilden – und nicht zuletzt „lokale oder regionalgeschichtliche Spezifika“ –, wie es Norbert Fischer und Markwart Herzog treffend zusammenfassen. Friedhöfe und die auf ihnen befindlichen Grabsteine geben Aufschluss über „Mentalitäten und Machtverhältnisse bestimmter historischer Perioden“. Exemplarisch für Friedhöfe als regionalgeschichtliche Gedächtnislandschaften konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf die historischen Grabsteine des ehemaligen Kieler St. JürgenFriedhofs, die auf den Parkfriedhof Eichhof überführt worden sind. Auf diese Weise können zwei Friedhöfe in ihrer historischen Entwicklung skizziert und anhand der Grabsteine, die eine symbolische „Materialisierung des Vergangenen“9 darstellen, unterschiedliche Ebenen von Vergangenheit, Erinnerung und Gegenwart sichtbar gemacht werden. Die unmittelbarste Frage, die sich den Studierenden stellte, war die nach der Herkunft der älteren, in Formation stehenden Grabplatten und -steine vor der Fried  8 Fischer/Markwart, Tod, S. 10 f. Dort finden sich auch die folgenden Zitate.   9 Ebd., S. 12, mit Bezug auf Maurice Halbwachs.

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hofskapelle. Der Parkfriedhof war erst im Jahr 1900 eingeweiht worden, die Steine vor der Kapelle sind aber sichtbar älter. Erst in einem zweiten Schritt sollte es darum gehen, über einzelne Grabsteine Fragen nach Biographien und Netzwerken, nach regionalen und staatlichen Strukturen oder mentalitätsgeschichtlichen Zugängen zu stellen, wie im Folgenden aufgezeigt wird. Seit August 2018 befinden sich zwei Informationstafeln sowie ein laminiertes Handbuch mit Kurzbiographien auf dem Parkfriedhof, mithilfe derer sich die Friedhofsbesucher*innen und Spaziergänger*innen in unkomplizierter Form über die historische Anlage informieren können. Im Handbuch ist die Position des jeweiligen Grabsteins mit einem gelben Kreis markiert. Auf Schilder unmittelbar an den einzelnen Steinen wurde aus ästhetischen Gründen verzichtet.10 Das Kieler Projektseminar verstand sich dabei in der Tradition der Public History, universitäres Wissen mit der und vor allem für die Gesellschaft aufzubereiten und langfristig der Öffentlichkeit zugängig zu machen.11

Der St. Jürgen-Friedhof in Kiel Der St. Jürgen-Friedhof war der älteste Kieler Friedhof außerhalb der städtischen Bebauung und getrennt von den Kirchenbauten im Stadtkern. Die Kirchengemeinde St. Nikolai erwarb das Gelände im Jahr 1793 und richtete dort eine moderne Begräbnisstätte für alle Kieler Bürger*innen ein. Auf dem Gelände waren bereits ab dem 13. Jahrhundert Arme und Leprakranke beigesetzt worden, die im St. JürgenKloster, dem domus leprosorum infirmorum, Aufnahme gefunden hatten. Von 1793 bis 1910 war der St. Jürgen-Friedhof, zunächst schlicht der „Neue Friedhof “, der zentrale Begräbnisort der Stadt Kiel. Auf den Grabsteinen war der „Adel des Landes […] mit klangvollen Namen wie von Bernstorff, von Holstein und Graf Baudissin vertreten“12, und auch die Professoren der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ließen sich dort bestatten. 10 Siehe die Pressemitteilung der Universität Kiel, „Kieler Studierende auf den Spuren vergessener Grabstätten“, 21.8.2018, https://www.uni-kiel.de/de/universitaet/detailansicht/news/kieler-studierende-auf-den-spuren-vergessener-grabstaetten (21.9.2020). 11 Das Projektseminar wurde durch den in Kiel ansässigen Kulturverein „Deutsch-Dänische Gesellschaft e. V.“ finanziert und die Recherchearbeit durch Mitarbeiter*innen des Parkfriedhofs Eichhof und des Kirchenkreises Altholstein unterstützt. Begleitet wurde die Projektpräsentation von der regionalen Presse und dem Radio. Siehe Udo Carstens, Forschung auf dem Friedhof. Zurückholen in die Gegenwart, in: SHZ-Online, 31.8.2018, https://www.shz.de/regionales/ kiel/zurueckholen-in-die-gegenwart-id20887712.html (21.9.2020); Torsten Müller, Grabmale erzählen Geschichte, in: Kieler Nachrichten, 1.9.2018, https://www.kn-online.de/Lokales/Rendsburg/Studenten-erinnern-auf-dem-Friedhof-Eichhof-an-bedeutende-Professoren (21.9.2020). 12 Siehe dazu insb. Christa Geckeler, 31. Dezember 1909. Der St.-Jürgen-Friedhof, https://www. kiel.de/de/bildung_wissenschaft/stadtarchiv/erinnerungstage.php?id=27 (21.9.2020); Swantje Piotrowski, Sozialgeschichte der Kieler Professorenschaft 1665–1815: Gelehrtenbiographien im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Qualifikation und sozialen Verflechtungen

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Abb. 2: Historische Grabsteine der Traditionsstätte St. Jürgen. Foto: Rolf Ingenfeld, 2018.

Die städtischen Friedhöfe des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts waren nach hygienischen Aspekten angelegt und sollten eine sichtbare Trennung zwischen Leben und Tod markieren. Wichtig war eine gute Belüftung, weshalb höhere Lagen außerhalb der Stadt bevorzugt wurden. Auf üppige Bepflanzung verzichtete man, um die Luftzirkulation nicht zu behindern. Im Gegensatz zu mittelalterlichen Bestattungen wurden auf den neu konzipierten Reformfriedhöfen Einzelgräber anstelle von „wahllos angelegten Leichengruben“ bevorzugt, die zudem die Identifizierung der Verstorbenen auch lange nach ihrem Tod ermöglichten.13 Viele Friedhöfe wandelten sich ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu „Ausflugsort[en] der Lebenden zu den Toten“14, wo man nicht mehr nur die Verstorbenen ehrte, sondern durch schmückende Bepflanzung den Friedhof „zum Garten, durch Monumente zu einem Museum der schönen Künste in der Landschaft [sowie] zur Ahnengalerie illustrer Persönlichkeiten“ umformte. In Kiel entstanden angesichts des massiven Bevölkerungswachstums in preußischer Zeit parallel zum St. Jürgen-Friedhof 1869 der Südfriedhof und im Jahr 1900 der Parkfriedhof Eichhof an der Stadtgrenze zu Kronshagen.15 Bei der Konzeption der neuen Friedhöfe, besonders des Eichhofs, war man zeitgenössisch von einer weiteren rasanten Zunahme der Bevölkerung ausgegangen und laut Gerd Stolz plante man in der Euphorie der Jahrhundertwende herum gar mit bis zu 700.000 Einwohnern in Kiel. Zwar waren diese Zahlen utopisch, angesichts des Wachstums der neuen preußischen Marinestadt, die 1871 zum Reichskriegshafen ernannt (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 2), Kiel 2018, S. 278 f. Über das St. Jürgens-Kloster, die St. Jürgens-Kapelle und den Friedhof informiert am ursprünglichen Standort in Kiel eine Stele. 13 Vgl. dazu Heiko K. L. Schulze, „… darauf man mit Andacht gehen kann“ – Historische Friedhöfe in Schleswig-Holstein (Kleine Schleswig-Holstein Bücher 49), Heide 1999, S. 30–36, Zitat auf S. 33. Siehe zur zeitweise von Teilen des aufgeklärten Bürgertums gepflegten Bestattung in Privatgruften oder in der freien Natur, der gar eine „Leitbildfunktion“ zugesprochen wird, Fischer/Herzog, Tod, S. 11. 14 Anna Marie Pfäfflin, Sterben, um zu leben. Der Tod in der württembergischen Landschaft, in: Tod – Gedächtnis – Landschaft, hg. von Norbert Fischer und Markwart Herzog (Irseer Dialoge. Kultur und Wissenschaft interdisziplinär 21), Stuttgart 2018, S. 53–74, hier S. 67. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat. 15 Vgl. dazu Schulze, Historische Friedhöfe, S. 39–43; Juan E. Condori Larraguibel, Der Friedhof Eichhof in Kiel. Ein Parkfriedhof des frühen 20. Jahrhunderts und seine Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg, unveröffentlichte Magisterarbeit, Kiel 2000.

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worden war, aber verständlich: Immerhin wuchs die Stadt von unter 20.000 Einwohner*innen im Jahr 1860 auf über 80.000 im Jahr 1890. Und im Jahr 1910 lebten bereits über 210.000 Menschen in Kiel.16

Abb. 3: Der St. Jürgen-Friedhof im Jahr 1934. Nachweis: StA Kiel Nr. 56.648/Kühn.

Der St. Jürgen-Friedhof hatte sich bereits in den 1920er Jahren zu einem innerstädtischen Naherholungsgebiet gewandelt, dessen rosenbepflanzte Wege zu Spaziergängen einluden. Ohne spezifische Pflege verwilderte die Anlage jedoch mit der Zeit und bestand dadurch „unbeabsichtigt als Denkmal für Kiels Vergangenheit“17 fort. Die Lage nahe dem 1899 eingeweihten neuen Bahnhof und der Kieler Förde mit den Werften und Rüstungsbetrieben wurde dem ungenutzten Friedhof während des Zweiten Weltkrieges zum Verhängnis. Schon vor Kriegsbeginn waren viele der reich verzierten Grabanlagen geplündert worden, und die Bombenangriffe auf Kiel trafen bei Kriegsende auch den St. Jürgen-Friedhof. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das Friedhofsgelände im Rahmen einer modernen Stadtentwicklung planiert und der autofreundlichen Erweiterung des Sophienblattes sowie einem Parkplatz weichen sollte.18 16 Siehe Gerd Stolz, Kleiner Führer über den Kieler Park-Friedhof Eichhof. Anlässlich des 100. Jahrestages der Eröffnung des Friedhofes am 5. Juli 2000, Kiel 2000, S. 12; zum Städtewachstum auch Oliver Auge, Kiel in der Geschichte. Facetten einer Stadtbiografie (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 86), Kiel 2017, S. 48 f. 17 Geckeler, St. Jürgen Friedhof; Scholz, Park-Friedhof Eichhof, S. 39. 18 Vgl. Geckeler, St. Jürgen Friedhof. Auge, Kiel, S. 49–52, spricht im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der stark zerstörten Kieler Innenstadt nach 1945 von einer „dritten Stadtgründung“ und benennt einige konkrete Umbau- und Neubaumaßnahmen. Den St. JürgenFriedhof erwähnt er nicht, wohl aber die zerbombte St. Jürgen-Kirche, die abgerissen und an anderer Stelle neu errichtet wurde.

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Abb. 4: Der St. Jürgen-Friedhof nach der Bombardierung Kiels. Nachweis: StA Kiel 20.006/Magnussen.

Historisch wertvolle oder ästhetisch ansprechende Gräber und Grabsteine sollten aber erhalten werden. Die Überreste von ca. 1.000 Personen sowie gut 60 Grabsteine und -platten wurden daher auf den Eichhof Friedhof überführt und dort auf dem Vorplatz der Kapelle in einer Sammelruhestätte beigesetzt beziehungsweise aufgestellt. Die Traditionsstätte St. Jürgen wurde offiziell im Juni 1955 im Rahmen der Kieler Woche eingeweiht und steht seitdem unter Denkmalschutz.19 Seit der Überführung auf den Eichhof stehen am Hauptweg mit Blick auf die Kapelle jeweils rechts und links eine Handvoll Grabsteine gruppiert, die Wiese vor der Kapelle wurde zur Sammelruhestätte der sterblichen Überreste, zudem säumen weitere Steine die beiden Zuwege zum Kapelleneingang. Zwar mag die Geschichte der historischen Grabsteine in den 1950er Jahren dem einen oder anderen Besucher des Friedhofs geläufig gewesen sein; Informationsmaterial zur Traditionsstätte oder gar zu den einzelnen Gräbern existierte vor Ort bis August 2018 aber nicht. Einzig am ursprünglichen Ort des St. Jürgen-Friedhofs gibt eine Stele Auskunft zum Verbleib der Gräber, der Ort ist jedoch von der jetzigen Sammelruhestätte entkoppelt, sodass eine Verknüpfung der gelieferten Informationen über den „Nicht-Ort“20 mit den verbliebenen Steinen auf dem Eichhof nicht gelingt. 19 Vgl. Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 278; Schulze, Historische Friedhöfe, S. 75–77. Scholz, Park-Friedhof Eichhof, S. 22, nennt 7.000 Personen, was wohl ein Tippfehler ist. 20 Vgl. zu dieser an Marc Augé angelehnten Terminologie, die an dieser Stelle schlichtweg darauf aufmerksam machen soll, dass es den ursprünglichen Ort, den Friedhof, am Ort der Informationsstele nicht mehr gibt, insb. Claudia Gremler, Orte und Nicht-Orte im Norden: Raumwahrnehmung in Prosatexten von Klaus Böldl, Judith Hermann und Peter Stamm. Eine an Marc Augé orientierte Analyse, in: Provisorische und Transiträume. Raumerfahrung „NichtOrt“, hg. von Miriam Kanne (Literatur 25), Berlin 2013, S. 187–214.

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Durch die Überführung von Grabsteinen und sterblichen Überresten auf den Eichhof wurde die Traditionsstätte St. Jürgen in mehrfacher Hinsicht zum Palimpsest. Der Friedhof fungiert angelehnt an die Foucaultsche Definition als „Heterotopie der Zeit“, als Ort, an dem „die Zeit scheinbar ‚angehalten‘ und die alltägliche Zeiterfahrung aufgebrochen wird.“21 Im Friedhof als solchem, im hiesigen Fall aber besonders nachdrücklich, „überlagern“22 sich verschiedene Vergangenheiten. Für die Studierenden des Kieler Historischen Seminars war klar, dass sich über die Friedhofsgeschichte unzählige Perspektiven der Kieler Stadtgeschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, der Universitäts- und Personengeschichte, kurzum der Regionalgeschichte Schleswig-Holsteins zwischen dänischem Gesamtstaat, Kaiserreich und Bundesrepublik boten. Sie folgten mit der Idee der Informationstafeln gewissermaßen dem Appell Stefan Bergers und Joana Seifferts, diese „Heterotopien der Zeit, als Berührungspunkte zwischen Vergangenheit und Zukunft und als Schnittstellen zwischen Gedächtnis und Geschichte, erlebbar zu machen.“23 Am lokal vorhandenen Beispiel sollten die „zeitlichen Dimensionen […] freigelegt und den Rezipienten zugänglich gemacht werden.“ Da der Zustand der einzelnen Grabsteine sehr unterschiedlich war beziehungsweise noch ist, konnten nicht auf allen Steinen die Personennamen entziffert werden. Methodisch ergaben sich hier für die Studierenden erste Schwierigkeiten, da auch in der Friedhofsverwaltung keine systematische Auflistung der überführten Steine vorliegt. Allerdings konnten über die durch den Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Kiel herausgegebenen „Kleinen Führer über den Kieler Park-Friedhof Eichhof “ von Gerhard Stolz und eine Bestandsaufnahme des Heimatforschers Uwe Steinhoff24 die meisten Steine zugeordnet werden.25 Zumeist handelte es sich um Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens der Stadt Kiel, also um Familien der Universität, der Verwaltung oder der Kaufmannschaft zur Zeit des dänischen Gesamtstaats und der preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Die meisten Personen waren Männer, in einigen Fällen finden sich aber auch die Namen von Ehefrauen oder Töchtern, die gemeinsam mit ihren Ehemännern oder Vätern bestattet worden waren. Anhand von drei Grabsteinen sollen im Folgenden exemplarische Zugänge zur schleswig-holsteinischen Geschichte im Allgemeinen und zur Kieler Stadtgeschichte im Besonderen diskutiert sowie mit Überlegungen zum Vermittlungspotential regionalgeschichtlicher Forschung verknüpft werden. 21 Berger/Seiffert, Erinnerungsorte, S. 21; Klaus Große Kracht, Zwischen Gedächtnis und Geschichte. Erinnerungsorte als „Heterotopien der Zeit“, in: Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, hg. von Stefan Berger und Joana Seiffert (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A/59), Essen 2014, S. 57–72. 22 Berger/Seiffert, Erinnerungsorte, S. 22. 23 Ebd., auch das Folgezitat. 24 Vgl. dazu o. V., Kieler Hobbyhistoriker erforscht die einstige Begräbnisstätte unweit des Kieler Hauptbahnhofs, in: Kieler Nachrichten, 22.10.2008, https://www.kn-online.de/Kiel/Der-vergessene-Friedhof-am-Hauptbahnhof (25.9.2020). 25 Vgl. dazu auch Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 279, die ebenfalls auf den schlechten Zustand der Steine und die dadurch bedingten Zuordnungsschwierigkeiten aufmerksam macht.

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Christian Johann Berger: Aufgeklärte Skandalgeschichte in Kiel Die von den Studierenden für das Informationshandbuch verfasste Kurzbiographie charakterisiert Christian Berger (1724–1789) als „Mediziner, Wegbereiter der Geburtshilfe und Leibarzt König Christians VII.“ In Kiel lehrte Berger von 1774 bis 1779 als ordentlicher Professor, ließ sich jedoch auf eigenen Wunsch emeritieren, da die Ausstattung der Christiana Albertina nicht seinen Ansprüchen genügte; vielleicht hinterließ er deshalb der Universität sein gesamtes Vermögen sowie seine Handbibliothek. Wenn die Kieler Universität mitunter als „Durchlauferhitzer“26 der professoralen Karriereleiter des 19. Jahrhunderts bezeichnet wird, dann war sie im Falle Bergers Abstellgleis und Rettungsanker gleichermaßen. Der in Wien geborene Berger studierte ab 1739 in Berlin, Straßburg und Kopenhagen. Im Rahmen des Medizinstudiums spezialisierte er sich auf die Geburtshilfe und lernte im Rahmen einer dreijährigen Bildungsreise den Straßburger Mediziner Johann Jacob Fried (1689–1769) kennen, der ihn im weiteren Studienverlauf finanziell unterstützte. Nach dem chirurgischen Examen ließ sich Berger 1750 mit einer Praxis als Geburtshelfer in Kopenhagen Abb. 5: Vorderseite des Grabsteins von nieder. Bereits fünf Jahre später war er Christian Johann Berger. für die medizinische Versorgung des Foto: Berit Naffin. städtischen Waisenhauses zuständig, 1758 erhielt er einen Ruf auf die ordentliche Professur für Anatomie an der Königlich Dänischen Kunstakademie und ab 1759 fungierte er als städtischer Geburtshelfer der dänischen Hauptstadt. Die Verbindung aus akademischer Lehrtätigkeit und praktischer Arbeit verhalfen ihm schließlich 1761 zu einem Ruf an die Universität Kopenhagen, wo er zum Professor der Medizin und Hebammenkunst und zum ersten Direktor der Entbindungsanstalt am neuen Universitätskrankenhaus Friedrichs-Hospital ernannt wurde. Berger wurde somit zum Begründer der Fachdisziplin der Geburtshilfe und Dänemarks erster klinischer Lehrer der noch jungen Disziplin, der seine Praxis26 Oliver Auge, Der Kieler Professor bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Eine typologische Annäherung, in: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt, hg. von Dems., Kiel 2015, S. 425–450, hier S. 438.

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erfahrungen an die dänischen Medizinstudenten weitergab. Dabei orientierte er sich am Straßburger Vorbild, wo seit 1737 europaweit erstmals neben Hebammen auch Studenten klinische Unterweisung in der Geburtshilfe erhielten.27 In mehreren Studien, darunter auch in seiner 1759 veröffentlichten Dissertation, befasste er sich mit der natürlichen Geburt des Kindes in Kopflage, die er erstmals korrekt in Zeichnungen darstellte. Durch diese Darstellungen in Kombination mit einer angepassten Anwendung der Geburtszange konnte er die bis dahin hohe Zahl der Totgeburten signifikant senken. Seine medizinische Karriere erreichte ihren Höhe­ punkt, als er 1768 ärztlicher Betreuer der dänischen Königin Caroline Mathilde (1751–1775) wurde. Zwei Jahre später stieg er zum Leibarzt König Christians VII. (1749–1808) auf und erhielt seine Ernennung zum Direktoriumsmitglied des Friedrichs-Hospitals. Durch diese hochrangigen Ämter war er – neben anderen – persönlich für die Behandlung der Königin während ihrer Schwangerschaft und der Geburt ihrer Tochter Louise Auguste im Jahr 1772 verantwortlich und zudem an der Erziehung Kronprinz Friedrichs beteiligt.28 Die Geschichte vom Leibarzt der dänischen Königin ist bis in die heutige Zeit populär und das Thema zahlreicher Anekdoten, Romane und Filme.29 Christian Johann Berger kommt darin allerdings nicht vor, die Geschichte wurde bereits zeitgenössisch als Dreiecksbeziehung zwischen dem dänischen Königspaar und dem Altonaer Mediziner, späteren Leibarzt und Minister Johann Friedrich Struensee (1737–1772) dargestellt. Struensee hatte den König 1768 auf einer Reise durch Europa begleitet und folgte ihm 1769 nach Kopenhagen. Er machte eine steile Karriere und wurde als engster Vertrauter des Königs binnen eines Jahres mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet. In kurzer Zeit erließ er etwa 2.000 Verordnungen, die Dänemark binnen anderthalb Jahren „in einen freiheitlichen, aufgeklärten Staat“30 27 Dazu Edith Feiner, Berger, Christian Johann, in: Schleswig-Holsteinisches Biografisches Lexikon, Bd. 1, Neumünster 1970, S. 69–71, hier S. 69; zu Bergers Biographie vgl. auch Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 163. Zur Beziehung von Hebammen und Ärtzten im 17. und frühen 18. Jahrhundert siehe auch Kurt Semm und Monika Weichert-von Hassel, Universitäts-Frauenklinik Kiel. Ihre Bedeutung für die Frauenheilkunde 1805 bis 1985. Eine medizinhistorische Studie zum 180jährigen Bestehen, Geretsried 1985, S. 8. 28 Vgl. Feiner, Berger. Über die Kopenhagener Entwicklungen heißt es in der medizinhistorischen Darstellung zur Geschichte der Kieler Universitäts-Frauenklinik: „In dem für Schleswig-Holstein stets wichtigen Kopenhagen wurde 1762 der Medizinischen Fakultät ein ‚vortreffliches‘ Gebärhaus übergeben.“ Siehe Semm/Weichert-von Hassel, Universitäts-Frauenklinik Kiel, S. 8. Obgleich die Studie einen historischen Kontext für die Zeit vor 1805 gibt und, wie gezeigt, auch die Entwicklungen im Gesamtstaat kurz skizziert, wird Berger namentlich nicht erwähnt. 29 Kritisch mit der medialen Rezeption befasst sich Sergio Ospazi, Der Struensee-Komplex: Johann Friedrich Struensee in historischen, literarischen und filmischen Zeugnissen (Münchner Nordistische Studien 34), München 2018. Speziell zur Darstellung des deutsch-dänischen Kulturverhältnisses siehe Christoph Schmitt-Maaß, Die bösen deutschen Aufklärer und das Glück des Volkes: Zu einem Darstellungstopos des Struensee-Skandals in Literatur und Film vor und nach 1945, in: Deutsch-Dänische Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert, hg. von Stefanie Stockhorst und Søren Peter Hansen, Göttingen 2018, S. 173–187. 30 Carsten Jahnke, Geschichte Dänemarks, Ditzingen 2017, S. 173.

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verwandelten. Den Titel des Leibarztes erhielt er im Dezember 1770 und zu diesem Zeitpunkt agierte er bereits weitgehend konkurrenzlos. Waren die ersten Reformen noch vom König unterzeichnet worden, wurde er im Juli 1771 als Geheimer Kabinettsminister letztlich mit einer Generalvollmacht ausgestattet, die es ihm erlaubte, fortan im Namen des Königs zu unterschreiben, sodass er de facto zum Regenten avancierte. Durch die weitreichenden Umwälzungen, die zum Teil bereits von der vorherigen Regierung vorbereitet worden waren, vor allem aber durch die Einschränkung traditioneller Privilegien des Adels und aufgrund seines intimen Verhältnisses mit der Königin hatte es sich Struensee aber nicht nur mit dem dänischen Adel, sondern schlichtweg „mit allen Bevölkerungsgruppen verscherzt“.31 Dass seine Erlasse auf Deutsch, einer offiziellen Amtssprache in Dänemark, erschienen, wurde von Teilen der Bevölkerung als anti-dänisch aufgefasst.32 Durch die von ihm im Herbst 1770 eingeführte Meinungs- und Pressefreiheit konnte erstmals mithilfe von Flugblättern Kritik an einem Mitglied des Hofes geübt werden, sodass Struensee und die im Volk ohnehin eher unbeliebte Königin Zielscheibe des öffentlichen Spottes wurden. Zudem legte man ihm die Stärkung der Position alleinstehender Frauen und die Gleichsetzung ehelicher und unehelicher Kinder mit Blick auf seine Beziehung zur Königin negativ aus. Struensees von der Königinwitwe verantwortete Verhaftung, die einen angeblichen Staatsstreich des Arztes und der Königin vereiteln sollte, wurde ebenfalls medial begleitet. Aufgrund der Verknüpfung politischer Intrigen mit dem Gerücht der Affäre zwischen dem Aufklärer und der Königin war das öffentliche Interesse freilich enorm groß.33 Die weiteren Entwicklungen sollen hier nur noch kurz wiedergegeben werden: Während Struensee am 25. April 1772 zum Tode verurteilt und drei Tage später öffentlich und äußerst brutal hingerichtet wurde, verbannte man Caroline Mathilde ins Exil nach Celle, wo sie 1775 getrennt von ihren Kindern mit nur 24 Jahren verstarb.34 Der Skandal am Königshof hatte weitreichende Auswirkungen über die „Dreiecksbeziehung“ hinaus, die jedoch kaum rezipiert wurden. Als enger Vertrauter der Königin und Leibarzt stand Christian Johann Berger ebenfalls in enger Beziehung zu Struensee und unterstützte dessen aufgeklärte Reformen, besonders jene hinsichtlich der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Seine offenbar freundschaftlichen Beziehungen zu Struensee wurden ihm 1772 zum Verhängnis und er wurde wegen Verschwörungsverdachts verhaftet.35 Da ihm aber keine Mittäterschaft am 31 Ebd. 32 Zur kulturellen Bedeutung der deutschen Sprache in Kopenhagen vgl. insb. Karin Hoff, Aufklärung, in: Skandinavische Literaturgeschichte, hg. von Jürg Glauser, Stuttgart 2006, S. 79– 130, hier S. 80–102. 33 Vgl. Jahnke, Geschichte Dänemarks, S. 173–175. 34 Zum Wirken Caroline Mathildes in Celle siehe die Beiträge in Juliane Schmieglitz-Otten und Norbert Steinau (Bearb.), Caroline Mathilde: 1751–1775. Von Kopenhagen nach Celle: Das kurze Leben einer Königin. Begleitpublikation aus Anlaß einer Ausstellung des BomannMuseums Celle zum 250. Geburtstag der dänischen Königin Caroline Mathilde, hg. vom Bomann-Museum Celle, Celle 2001. 35 Dazu und zum Folgenden siehe Feiner, Berger, S. 70.

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vermeintlichen Putsch nachgewiesen werden konnte, sprach man ihn frei – seine akademische Karriere war dadurch dennoch ebenso beendet wie seine Tätigkeit am Hof. Die politische Opposition verhinderte die Rehabilitierung Bergers als Unterstützer der Struenseeschen Reformen und er wurde nach Aalborg verbannt, wo er sich, allerdings unter Zahlung einer großzügigen Pension, verpflichten musste, ausschließlich in einer privaten Praxis zu arbeiten. Gänzlich ohne Einfluss war die geburtsmedizinische Kory­phäe Berger jedoch nicht: Über familiäre Beziehungen erhielt Berger 1774 schließlich die Professur für Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe an der Universität Kiel.36 Die CAU hatte in dieser für die Herzogtümer Schleswig und Holstein sowie für den dänischen Gesamtstaat wichtigen Phase mehrfach kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts studierten in Kiel lediglich 60 aktive Studenten und im Jahr des 100. Bestehens immatrikulierten sich nur fünf Erstsemester.37 Der Gottorfer Staat war mit Ende des Nordischen Krieges 1720 kollabiert, und obwohl die Gottorfer Herzöge ihre Besitzungen in Schleswig an die königlich dänische Linie abtraten, gelang es nicht, die zum Zwergherzogtum Holstein-­Gottorf gehörende Universität zu finanzieren. Swantje Piotrowski sieht in der niedrigen Besoldung der zwölf Professoren, die 1734 an der Universität Lehrstühle innehatten, einen Versuch des Landesherrn, „das universitäre Gemeinwesen zumindest in seinen Grundzügen am Leben zu halten“.38 Eine Neubesetzung vakanter Lehrstühle war dadurch aber nicht möglich, die Reputation der Kieler Universität nach Kriegsende denkbar schlecht. Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Ereignisse leiteten schließlich die finanzielle Rettung ein: Katharina II. (1729–1796), Zarin von Russland, genannt „die Große“, eine Urenkelin des Universitätsstifters Christian Albrecht von SchleswigHolstein-Gottorf (1641–1695), bezeugte ihre Verbundenheit zu Holstein ab 1762 durch eine „umfassende Reformtätigkeit auf den Gebieten der Finanzen, Wirtschaft und Verwaltung“39 und trug mit dem im Jahr 1773 in Kraft getretenen Tauschvertrag von Zarskoje Selo zur Friedenssicherung im Norden Europas bei. Die Herzogtü36 Vgl. dazu Valdemar Meisen, Christian Berger, in: Dansk Biografisk Leksikon, 17.7.2011, https:// biografiskleksikon.lex.dk/Christian_Berger (21.9.2020). 37 Vgl. Auge, Kiel, S. 123 f.; Dominik Hünninger, Die Universität Kiel um 1800: Religion und Öffentlichkeit, Korporation und Herrschaft am Beispiel der Karriere von Johann Otto Thies (1762–1810), in: Gelehrte Köpfe an der Förde. Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665, hg. von Oliver Auge und Swantje Piotrowski (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73), Kiel 2014, S. 55–85; Swantje Piotrowski, Die Finanzierung der Christiana Albertina in der Frühen Neuzeit 1650 bis 1800, in: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt, hg. von Oliver Auge, Kiel 2015, S. 107–140, hier S. 123–127; Martin Göllnitz, „Hier schweigen die Musen“ – Über die erfolgten Schließungen und geplanten Aufhebungen der Christiana Albertina, in: ebd., S. 260‒276. 38 Piotrowski, Finanzierung, S. 125. 39 Siehe grundlegend Steen Bo Frandsen, Das Herzogtum Holstein im dänischen Gesamtstaat, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 136 (2011), S. 163–178, der für die Zeit vor 1864 mehrfach die deutsch-dänischen Gemeinsamkeiten und die Rolle

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mer Schleswig und Holstein gelangten im Tausch mit den Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst unter die Herrschaft des dänischen Königs, was als Gründung des dänischen Gesamtstaats verstanden werden kann.40 Der Kieler Universität hatte die Zarin bereits 1768 ein neues Gebäude gestiftet, mit einem Hörsaal für 200 und einem weiteren für 60 Personen, einem Anatomiesaal, einer Bibliothek und einem Archiv. Der neue Komplex in unmittelbarer Nähe zum Kieler Schloss setzte „einen städtebaulich markanten Akzent in Kiel“ und war zudem „eine neue Attraktion für mögliche Studenten“.41 Im Jahr 1767 war außerdem das sogenannte Biennium eingeführt worden, wonach eine spätere Beamtentätigkeit in den Herzogtümern Schleswig und Holstein ein mindestens zweijähriges Studium in Kiel voraussetzte – was die dortigen Studierendenzahlen für die Zukunft sichern sollte.42 Als Berger 1774 seine Professur an der Förde antrat, befand sich die Landesuniversität in einer bis dato ungekannten Modernisierungs- und Wachstumsphase, wobei die Medizinische Fakultät immer noch das „Schlusslicht des akademischen Finanzrankings“ bildete.43 Einem Brief des Universitätskurators Detlev von Reventlow (1712–1783) an die Deutsche Kanzlei in Kopenhagen vom 4. März 1783 lässt sich Folgendes über die Fakultät entnehmen: Es ist hier nicht die mindeste Anstalt, weder von Kranken- noch Geburtshäusern, um einen Arzt zu bilden, mithin nicht die mindeste Hofnung [sic!] vorhanden, jemahls [sic!] das Studium medicinae, in die Höhe zu bringen.44

Für Berger bedeutete der Ruf nach Kiel das Ende seines politischen Exils in Aalborg und den erneuten Zugang zu akademischen Würden. Er wurde 1776 Etatsrat und im akademischen Jahr 1778/79 sogar Rektor der Universität. Obwohl er im Kollegium hoch angesehen war, ließ er sich 1779 emeritieren, da er die Ausstattung in Kiel, besonders auf dem Gebiet der Geburtshilfe, als mangelhaft empfand. Er vermachte der Universität sein gesamtes Vermögen von 4.000 Reichstalern sowie seine Hand-

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Holsteins als Übergangszone und eigentlichem diffusen Grenzland betont, was die Auswahl der hiesigen drei Fallbeispiele aus regionalhistorischer Perspektive ebenfalls begründet; vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 128. Siehe dazu auch die Überlegungen von Manfred Jessen-Klingenberg, Schleswig-Holstein im dänischen Gesamtstaat, in: Manfred Jessen-Klingenberg. Standpunkte zur neueren Geschichte Schleswig-Holsteins, hg. von Reimer Hansen und Jörn-Peter Leppien (Veröffentlichungen des Beirats für Geschichte 20), S. 17–26, hier S. 17 f. Auge, Kiel, S. 124. Vgl. ebd., S. 125; Piotrowski, Finanzierung, S. 131; siehe zur Entwicklung speziell der Frauenheilkunde erneut Semm/Weichert-von Hassel, Universitäts-Frauenklinik, S. 8–17. Die Autor*innen sehen in einer nachträglichen Verordnung von 1798, nach der in den Herzogtümern tätige Mediziner entweder in Kiel oder Kopenhagen promoviert sein mussten, einen Hinweis auf den „alles in allem noch immer sehr unbefriedigenden Zustand speziell der medizinischen Fakultät in Kiel“. Ebd., S. 15. Piotrowski, Finanzierung, S. 130. Zit. n. Moritz Liepmann, Von Kieler Professoren: Briefe aus drei Jahrhunderten zur Geschichte der Universität Kiel, Stuttgart 1916, S. 22.

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bibliothek, die dem neuesten Stand seiner Disziplin entsprach und die Bibliothek der Medizinischen Fakultät enorm aufwertete. Berger unterhielt weiterhin eine Praxis, konnte sich jedoch von einem Schlaganfall im Jahr 1787 nicht mehr erholen.45 Er starb zwei Jahre später und wurde auf dem St. Jürgen-Friedhof „wahrscheinlich [als] der erste aus der ‚guten Gesellschaft‘, der hier seine letzte Ruhe fand“, beigesetzt.46 Rückblickend wurde seine Bedeutung für die wissenschaftliche Disziplin der Geburtshilfe in Dänemark wegen seiner Verstrickung in die Struensee-Affäre kaum gewürdigt, in Kiel war er zwar in Fachkreisen als Koryphäe geschätzt und auch bei der Bevölkerung beliebt, konnte aber nicht mehr an die Hochzeiten seiner Kopenhagener Karriere anknüpfen.47 Letztlich blieben ihm Ehrungen in Dänemark, wie etwa der Dannebrogorden, verwehrt, und in medizinhistorischer Perspektive machte vor allem sein Schüler Matthias Saxtorph (1740–1800) die wegweisenden Erkenntnisse Bergers zur natürlichen Geburt in Kopflage populär.48 Obgleich Berger nur relativ kurz in Kiel wirkte, entspricht die Gestaltung seines Grabsteines dem „Stil der Frühen Neuzeit[,] das Leben der Verstorbenen mit einer ausführlichen Grabinschrift [zu] würdigen“.49 Während die Vorderseite des Steins schlicht gehalten ist – neben dem Namen und den Lebensdaten ziert eine Biene die Vorderseite –, ist die Rückseite mit einer Inschrift versehen, anhand derer der gesellschaftliche Dank für Bergers medizinische Tätigkeit deutlich wird: „Ruhe sanft heilige Asche / Auf Dich fliesset die stille Zähre / Des dankbaren Geneseten / Des gefühlvollen Freundes.“50 Anhand der Biographie Bergers lässt sich die Geschichte der Kieler Universität mit bekannten Narrativen des dänischen Gesamtstaates verknüpfen; darüber hinaus werden Zwischentöne sichtbar, die nicht den Weg in die Standarderzählungen gefunden haben. Oder anders gesagt: Hinter einem Grabstein verbirgt sich stets eine Biographie, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden muss. Zu den Herausforderungen der modernen Regionalgeschichte gehört es daher, mit vornationalen Staatsformen und aufkommenden Nationalismen sensibel umzugehen und die Rolle des Historismus im 19. Jahrhundert zu beachten, der mit vornationalen Biographien häufig fremdelte.51 45 Siehe dazu Feiner, Berger, S. 70 f. 46 Geckeler, St. Jürgen-Friedhof. 47 Obgleich in der bereits mehrfach zitierten medizinhistorischen Studie der Kieler UniversitätsFrauenklinik an unterschiedlichen Stellen auf die Kopenhagener Entwicklungen eingegangen und sogar auf Struensees Forderungen hinsichtlich der modernen Geburshilfe verwiesen wird, findet sich Bergers Name nicht innerhalb des historischen Kontextes. Siehe Semm/Weichertvon Hassel, Universitäts-Frauenklinik, insb. S. 8, 13 f., 16. 48 Feiner, Berger, S. 71; Meisen, Christian Berger. 49 Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 279. 50 Zit. n. ebd. Die Inschrift ist für einen Abdruck witterungsbedingt nicht mehr geeignet. 51 Vgl. Oliver Auge, Was meint und macht Regionalgeschichte an der CAU zu Kiel?, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 90 (2016), S. 7–18, hier S. 9. Siehe ferner Jahnke, Geschichte Dänemarks, S. 180; vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen zu Jens Baggesen und die Bemerkung Steen Bo Frandsens, dass sich die Geschichtswissenschaft „viel zu lange mit der Behauptung der nationalen Tradition abgefunden“ habe. Siehe

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Der Grabstein Baggesen/Reinhold: Verdichtete Geschichte und Weltbürgertum in Kiel Das Doppelgrab der Ehepaare Baggesen und Reinhold stellt eine Besonderheit der auf den Eichhof überführten Grabsteine dar und sticht durch seine Größe und seinen Zustand hervor.52 Die eine Seite, aus heutiger Besuchersicht die Vorderseite, ist Jens Immanuel Baggesen (1764–1823) und dessen erster Ehefrau Sophie von Haller (1768–1797) gewidmet, wohingegen die Rückseite dem Ehepaar Karl Leonard (1757–1823) und Sophie Reinhold geb. Wieland (1768–1837) zugeeignet ist.53

Abb. 6 und 7: Der Grabstein Baggesen/Reinhold. Die Vorderseite ist dem Ehepaar Baggesen/ von Haller, die Rückseite dem Ehepaar Reinhold/Wieland gewidmet. Fotos: Berit Naffin.

Steen Bo Frandsen, Rezension zu Ulrike Gerken, …um die Nationaleinheit zu begründen und zu befestigen … Der Beitrag des Kieler Lektorats für dänische Sprache und Literatur zur Identitätsstiftung im dänischen Gesamtstaat (1811–1848) […], in: Nordeuropaforum 19 (2009), H. 1, S. 113–116, hier S. 115. 52 Im Jahr 1976 wurde das Doppelgrab anlässlich des 150. Todesjahres Jens Baggesens durch die Deutsch-Dänische Gesellschaft e. V. saniert. Vgl. dazu Deutsch-Dänische Gesellschaft (Hg.), Dänische Spuren in Kiel: 40 Jahre/40 år, [Kiel 2011]. 53 Zur Person und zum Werk Baggesens siehe Anna Lena Sandberg, En grænsegænger mellem oplysning og romantik: Jens Baggesens tyske forfatterskab (Tidlig moderne 11), Kopenhagen 2015; zu Reinhold siehe die Beiträge in Wolfgang Kersting und Dirk Westerkamp (Hg.), Am Rande des Idealismus. Studien zur Philosophie Karl Leonhard Reinholds, Paderborn 2008; zum Verhältnis der Ehepaare Baggesen und Reinhold auch Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 271 f.

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Der aus einfachen Verhältnissen im dänischen Korsør stammende Baggesen stieg als Protegé des holsteinischen Adels in wenigen Jahren zu einem der bedeutendsten zeitgenössischen Dichter des dänischen Gesamtstaates auf und personifiziert einen protonationalen Kosmopoliten, der in dänischer, deutscher und französischer Sprache dichtete.54 Besonders seine Gedichte und Reiseerzählungen, die der dänischen Literatur den Durchbruch zur Empfindsamkeit brachten, sind Grund für seine bis heute anhaltende Popularität. Während einer Reise von Kopenhagen in die Schweiz im Revolutionsjahr 1789, die er später als prosaischen Reiseroman publizierte, lernte er Sophie von Haller kennen. Das Paar heiratete im März 1790 in Bern und hatte zwei Söhne. Sophie Baggesen verstarb im Mai 1797 während einer Erholungsreise in Kiel an einer Lungenentzündung und wurde auf dem St. Jürgen-Friedhof beigesetzt.55 Jens Baggesen, der in Verehrung Kants den zweiten Vornamen „Immanuel“ angenommen hatte, heiratete kurze Zeit später erneut, pflegte aber zeit seines Lebens freundschaftliche Kontakte nach Kiel, sodass sein Leichnam nach seinem Tod auf den St. Jürgen-Friedhof überführt wurde. Das europäische Zeitalter der Aufklärung war politisch wie literarisch von unterschiedlichen Strömungen gekennzeichnet, die von Rationalismus und Reformdenken genauso geprägt waren wie von einem wachsenden Dualismus von Kosmopolitismus und Nationalismus. Die Texte Jens Baggesens sind exemplarisch für die nordeuropäische Aufklärungsliteratur, in der sich „frühaufklärerische Vorstellungen mit empfindsamen Strömungen verbinden“56. Auch wenn in der bürgerlichen und adeligen Gesellschaft zunehmend „neben die kosmopolitische Grundhaltung ein Interesse am Nationalen als dem Eigenen [trat], welches als deutliche Abgrenzung vom Anderen, Fremden verstanden“ wurde, so sah sich Baggesen stets als ausgesprochener Weltbürger, der die Erfahrungen seiner Reisen durch Europa literarisch verarbeitete. Dabei betrachtete er das allmählich von Kopenhagen aus entstehende dänische Nationalbewusstsein mit „Unbehagen und Distanz“. Im Jahr 1789 musste er die dänische Hauptstadt im Zuge der Tyskerfejden oder HolgerDanske-Fehde sogar zwischenzeitlich verlassen: Für die Oper um die Sagenfigur Holger Danske hatte Baggesen ein Libretto geschrieben, das jedoch „als deutsche Form von den zunehmend national gesinnten dänisch-norwegischen Kreisen in

54 Das Verhältnis Baggesens zur deutschen Sprache und Kultur analysiert Henrik Blicher, A distilled fire of thirteen hells – Jens Baggesen between the Germans and the Danes, in: DeutschDänische Kulturbeziehungen im 18. Jahrhundert. German-Danish cultural relations in the 18th century, hg. von Søren Peter Hansen und Stefanie Stockhorst (Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam 9), Göttingen 2018, S. 125–134. Er verweist darauf, dass Baggesen in seinen Jugendjahren das Deutsche dem Dänischen vorgezogen habe, was sich aber aufgrund der wachsenden antideutschen Tendenzen in Kopenhagen zunehmend geändert habe. 55 Zu Sophie von Haller, der Enkelin des Schweizer Universalgelehrten Albrecht von Haller (1708–1777), siehe Adrian Aebi, Jens Immanuel Baggensens „Parthenäis oder Die Alpenreise“, in: Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik 1 (2002), S. 57–74, hier S. 60 f. 56 Dazu und zu den folgenden Zitaten siehe Hoff, Aufklärung, S. 100.

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Kopenhagen abgelehnt“ wurde und den Literaten in Kopenhagen zwischenzeitlich zur Persona non grata machte.57 Seine Abwesenheit aus Kopenhagen verarbeitete Jens Baggesen im Reiseroman Labyrinten eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankerig. Auch wenn Baggesen mit seinem Labyrinth die prosaische Mode seiner Zeit traf, wurde der Titel in Kopenhagen sehr kontrovers rezipiert, wie den Vorbemerkungen zum Werk entnommen werden kann. So musste er sich rechtfertigen, warum er den Text nicht einfach Die Reise genannt habe. Der Titel wurde letztlich als dumm und geschmacklos bezeichnet. Als deutlichste Kritik, die Baggesen literarisch verpackt als Streitgespräch in seinem Vorwort zum eigentlichen Reisetext wiedergab, trat aber zutage, dass der Titel zu „deutsch“ klang: […] ‚Deutsch ist der, urdeutsch!‘ ruft D – […] – ‚Er ist sowohl gekünstelt, überflüssig, grundlos, unwitzig, dumm, deutsch als auch geschmacklos!‘ schließt F – und schleudert das Buch fort in seinem billigen Ärger.58

Kiel hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Aufklärung entwickelt, und nach Oliver Auge solidarisierte sich die Landesuniversität „mit den Anliegen kommunaler Reformpolitik“.59 Sie übernahm sogar „die Führungsrolle bei der Verbreitung aufklärerischen, konstitutionell-liberalen und nationalen Denkens im Land“ und Jens Baggesen kam 1794 gegenüber seinem Freund, dem Philosophen Karl Leonhard Reinhold, angesichts „eines solchen Civismus, einer so großen Humanität“ über Kiel ins Schwärmen.60 Der aufgeklärte Philosoph Reinhold lehrte seit 1792 als Ordinarius in Jena und hatte sich früh mit der „kritischen Philosophie Kants“61 auseinandergesetzt, was

57 Ebd., S. 100 f. Baggesen hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits als „Kulturvermittler“ einen Namen gemacht und Ludvig Holbergs utopischen und auf Latein verfassten Roman „Nicolai Klimii Iter subterraneum“ von 1741 (Niels Klims unterirdische Reise) ins Dänische übersetzt. Mit der Übersetzung hob er die Aktualität des Romans hervor, der deutliche Kritik am Pietismus und an der damit verbundenen Einschränkung literarischer und kultureller Freiheiten übte. 58 Jens Baggesen, Labyrinten, eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankerig, Kopenhagen 1986 (ND 1792/93), S. 11: „Den er dum!“ ubryder C – „Tysk er den, vildtysk!“, raaber D […] „Den er baade søgt, overflødig, grundløs, uvittig, dum, tydsk og smagløs!“ ender F […]. Die hier im Text wiedergegebene deutsche Übersetzung wurde freundlicherweise von Arne C. Suttkus angefertigt. 59 Auge, Kiel, S. 125. Dort finden sich auch die beiden nachfolgenden Zitate. Vgl. ferner Klaus Bohnen und Sven-Aage Jørgensen (Hg.), Zentren der Aufklärung, Teil 4: Der dänische Gesamtstaat: Kopenhagen, Kiel, Altona (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 18), Tübingen 1992. 60 Vgl. Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 97, die Reinholds Abneigung gegenüber Kiel thematisiert. Die holsteinische Stadt empfand er im Gegensatz zu mitteldeutschen Universitätsstädten als zu provinziell und eng. 61 Alexander von Schönborn, Reinhold, Karl Leonhard, in: Neue Deutsche Biographie 21, Berlin 2003, S. 368 f., auch online unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118599410. html#ndbcontent (21.9.2020).

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ihn zu einem „der bekanntesten Kantianer“62 seiner Zeit machte. Reinhold war mit der Tochter des Dichters Christoph Martin Wieland (1733–1813) liiert, der freundschaftliche Beziehungen zu Baggesen pflegte, welcher wiederum Reinhold eine hoch dotierte Professur an der Förde vermittelte.63 Swantje Piotrowski, die in ihrer Sozialgeschichte der Kieler Professorenschaft die „enge Verknüpfung zwischen Geselligkeit und institutioneller Netzwerkbildung“ aufzeigen konnte, betont in diesem Zusammenhang: „Wer sich neben der beruflichen Tätigkeit auch in den richtigen gesellschaftlichen Kreisen bewegte, verschaffte sich damit auch verschiedene Optionen zur Gestaltung einer akademischen Karriere in Kiel.“64 Auch Baggesen profitierte von diesem Nepotismus: 1811 wurde er zum ersten Professor für Dänische Sprache und Literatur an der Kieler Universität ernannt und sollte mit dem Lehrstuhl die nationale Einheit des mehrsprachigen Gesamtstaates stärken.65 Allerdings betrachtete er die Ernennung mehr als lästige Pflicht denn als Auszeichnung, weshalb er keine Vorlesungen hielt. Schon 1814 konnte er sich der Professur wieder entledigen, behielt aber eine Pension. Dass Baggesen in Kiel eher unpopulär ist, hängt auch mit der Rezeptionsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen.66 Ein dänischer Nationalschriftsteller konnte in den politischen Unabhängigkeitsbestrebungen der Herzogtümer Schleswig und Holstein während des 19. Jahrhunderts kaum als Zierde der Kieler Universität dienen.67 Und für den Historiker Otto Brandt (1892–1935) war Mitte der 1920er Jahre klar, dass Baggesen „ohne jeden Nutzen für die Kieler Universität als Professor für dänische Sprache und Literatur nach Kiel berufen“ worden war.68 Brandts Einschätzung mag vor dem Hintergrund der Grenzabstimmungen von 1920 und dem am Historischen Seminar der CAU gepflegten kulturpolitischen

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Hünninger, Universität Kiel, S. 61. Vgl. Schönborn, Reinhold, Karl Leonhard. Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 348. Siehe ferner Ulrike Gerken, …um die Nationaleinheit zu begründen und zu befestigen … Der Beitrag des Kieler Lektorats für dänische Sprache und Literatur zur Identitätsstiftung im dänischen Gesamtstaat (1811–1848) (Imaginatio borealis 11), Frankfurt a. M. 2007. 66 Frandsen, Rezension, S. 15. 67 Jahnke, Geschichte Dänemarks, S. 180 f., betont, dass Schriftsteller, die „in beiden Welten zu Hause“ waren, „in den Jahrzehnten nach 1800 harsch kritisiert“ wurden. Er verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass „zahlreiche klassische Werke der ‚deutschen‘ Literatur, von Friedrich Klopstocks Messias, der mit königlicher Unterstützung und teilweise in Kopenhagen entstand, bis zu Matthias Claudius’ Abendlied (Der Mond ist aufgegangen) in Dänemark oder im Gesamtstaat verfasst wurden.“ Hervorhebungen im Original. Vgl. ferner Adalbert Elschenbroich, Baggesen, Jens Immanuel, in: Neue Deutsche Biographie 1, Berlin 1953, S. 538 f., auch online unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118505904.html#ndbcontent (21.9.2020). 68 Otto Brandt, zit. n. Hans Herbert Thode, Zur Wiederbeisetzung Baggesens und Reinholds auf dem Kieler Eichhof, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 48 (1956), S. 154–157, hier S. 156.

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Grenzkampf der Zwischenkriegszeit verständlich sein.69 Dass seine Bewertung aber im hier zitierten Wortlaut noch 1956, als man in Schleswig-Holstein und der Bundesrepublik zumindest in politischer Hinsicht an einer Verständigung mit Dänemark arbeitete,70 über die Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte verbreitet wurde, spricht für eine relative Unkenntnis von Baggesens Werk und seiner Biographie, die eng mit der Fördestadt verbunden war.71 Dabei bietet der Grabstein Baggesens einen Zugang zur skandinavischen Literaturwissenschaft und -geschichte, wie auch aus der Charakterisierung Karin Hoffs hervorgeht: Die Nähe zum deutschen Kreis, die Beschäftigung mit der deutschen Aufklärungsphilosophie, seine kurzzeitige Kieler Professur und seine häufigen Reisen durch Europa führen dazu, dass Baggesen nicht nur in dänischer, sondern auch in deutscher Sprache publiziert und in beiden Sprachen und Kulturen gleichermaßen zuhause ist.72 69 Vgl. Oliver Auge und Martin Göllnitz, Zwischen Grenzkampf, Völkerverständigung und der Suche nach demokratischer Identität: Die Landesgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zwischen 1945 und 1965, in: Wissenschaft im Aufbruch. Beiträge zur Wiederbegründung der Kieler Universität nach 1945, hg. von Christoph Cornelißen (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 88), Essen 2014, S. 101–129; Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018, S. 51–124, 393–403; Carsten Mish, Otto Scheel (1876–1954). Eine biographische Studie zu Lutherforschung, Landeshistoriographie und deutsch-dänischen Beziehungen (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte B/61), Göttingen 2015. 70 Gemeint sind die Bemühungen zur Klärung der deutsch-dänischen Minderheitenfrage auf Landes- und Bundesebene, die 1949 durch die kontrovers diskutierte einseitige Erklärung der schleswig-holsteinischen Landesregierung zum Schutz der dänischen und friesischen Minderheit und 1955 auf nationaler Ebene durch die wechselseitigen Bonn-Kopenhagener Erklärungen zur Klärung der bis dahin noch unsicheren Grenzsituation führten. Siehe dazu grundlegend Martin Höffken, Die „Kieler Erklärung“ vom 26. September 1949 und die „BonnKopenhagener Erklärungen“ vom 29. März 1955 im Spiegel deutscher und dänischer Zeitungen: Regierungserklärungen zur rechtlichen Stellung der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein in der öffentlichen Diskussion (Kieler Werkstücke A/13), Frankfurt a. M. 1994; speziell zu Kiel siehe Caroline E. Weber, 1920/2020: Elf Kieler Blickwinkel auf die Schleswiger Grenzabstimmungen, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 97 (2019), S. 11–27. 71 Umfangreiche Untersuchungen zu Baggesen liegen in dänischer Sprache vor, zu seinen deutschen Schriften siehe u. a. Sandberg, En grænsegænger. Baggesens Briefnachlass befindet sich in der Universitätsbibliothek Kiel und soll im Rahmen eines langfristigen Projektes des Skandinavischen Instituts erschlossen werden. Ein Teil der Briefe wurde bereits digitalisiert, URL: https://www.ub.uni-kiel.de/Nachlass/Baggesen/index.html (25.9.2020). Vgl. dazu Karin Hoff, „Den sande patriot er kosmopolit“: Nation und Sprache als ästhetische Kategorien in Jens Baggesens literaturtheoretischen und poetischen Schriften, in: Aneignung – Abgrenzung – Auflösung. Zur Funktion von Literatur in den skandinavischen Identitätsdiskursen, hg. von Wolfgang Behschnitt (Identitäten und Alteritäten 8), Würzburg 2001, S. 135–148. 72 Hoff, Aufklärung, S. 100. Thode, Wiederbeisetzung, S. 156 f., attestiert Baggesen, erneut mit Bezug auf Otto Brandt, ein „starkes deutsches Empfinden“. Weiterhin bemerkt er nicht ganz ohne Stolz, dass der „Kosmopolit Jens Baggesen, der ganz Europa bereist hatte, […] in unserer Stadt seine letzte Ruhe gefunden“ hat.

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Eine Zuhilfenahme der fachinternen Rezeption ist gerade im universitären Kontext sinnvoll, zumal wenn die Biographien in wechselnden Staatsformen oder in vornationaler Zeit verortet werden müssen. Wie an Jens Baggesen unter Heranziehung skandinavistischer Fachliteratur deutlich wird, kann eine regionalhistorische Forschung „im modernen kulturhistorischen Verständnis nur interdisziplinär vernetzt denkbar sein.“73 Nimmt man noch einmal die Perspektive der Studierenden ein, die auf dem Eichhof vor dem Doppelgrabstein stehen, so ergeben sich über diese „symbolische Materialisierung des Vergangenen“74 ganz konkrete Fragen: Wer waren die Eheleute Baggesen und Reinhold und aus welchen Verhältnissen stammten sie? Wie gestaltete sich die freundschaftliche Beziehung der Ehepaare und wie waren sie gesellschaftlich vernetzt? Warum ließen sich die Eheleute gemeinsam bestatten?75 Der etwa zwei Meter hohe Grabstein steht „in der Tradition frühneuzeitlicher Selbstdarstellung, die von der bürgerlichen Elite des 19. Jahrhunderts zu Lebzeiten getragen und über den Tod hinaus repräsentiert werden sollte“.76 Neben den eingravierten Namen, Geburts- und Sterbeorten sowie den entsprechenden Daten befindet sich auf der Vorderseite die Gravur „Evang. Matth. V, VIII“ („Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“). Auf der Rückseite wurde „Evang. Joh. XIV, II“ („In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?“) eingraviert. Über die individuell zugeordneten Bibelzitate wurden die Eheleute und ihr Lebenswerk charakterisiert. Dabei war für das Bürgertum des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr die Herkunft „das entscheidende Kriterium für Denkmalswürdigkeit, sondern allein der persönliche Beitrag zur Gesellschaft erschien vorbildhaft.“77 Ausgehend vom Grabstein, können also gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in europäischer Dimension aufgezeigt und es kann dadurch die Regionalgeschichte als Werkzeug einer überregionalen Sozialgeschichte genutzt werden.

Das Familiengrab Hegewisch: Ehe, Emanzipation und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert In unmittelbarer Nähe zum Doppelgrab Baggesen/Reinhold findet sich eine wesentlich unscheinbarere Grabplatte, die beim ersten Besuch der Studierendengruppe im Sommer 2017 und auch im Sommer 2018 erst gesucht werden musste: Die Grabplatte 73 Auge, Regionalgeschichte, S. 16. 74 Vgl. Fischer/Herzog, Tod, S. 12. 75 Der von Stolz, Friedhof Eichhof, S. 93, genannte „enge Freundschaftsbund, der ein Leben lang hielt und seinen Ausdruck in dem gemeinsamen Grabstein fand“, kann als zeitgenössisches Phänomen auch außerhalb der Kieler Professorenschaft verstanden werden. Siehe dazu die Beiträge in Andree Michaelis-König und Erik Schilling (Hg.), Poetik und Praxis der Freundschaft (1800–1933) (Beihefte zum Euphorion 106), Heidelberg 2019. 76 Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 280. 77 Pfäfflin, Leben, S. 53.

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liegt am Fuße eines Nadelbaumes und die langen Nadeln verstecken die eigentlich weiße Marmorplatte, die zudem stark von Moos bewachsen und durch die waagerechte Lage schnell verschmutzt ist. In die Platte sind die Namen und Lebensdaten von Franz Hermann Hegewisch (1783–1865) und Caroline von Linstow (1786–1856) sowie von den gemeinsamen Töchtern Leonore (1826–1866) und „Lotte“ (Charlotte Friederike Dorothea) (1822–1903) eingraviert.78

Abb. 8: Das Familiengrab Hegewisch. Foto: Caroline E. Weber.

Der Grabstein fiel den Studierenden vor allem deshalb auf, weil sich drei weibliche Namen auf ihm befinden, was im Vergleich mit den anderen Steinen der Traditionsstätte einmalig ist. Allein über die Familie Hegewisch und ihr soziales, berufliches und politisches Engagement und die daraus resultierenden Netzwerke ließe sich 78 Siehe zu den genannten Personen u. a. Anette Hüsch (Hg.), Gute Gesellschaft. Lotte Hegewisch und das Mäzenatentum: von Georg Friedrich Kersting bis Gerhard Richter. Ausstellungskatalog der Kunsthalle zu Kiel, München 2012; Rainer Postel, Hegewisch, Franz Hermann, in: Schleswig-Holsteinisches Biografisches Lexikon 5, Neumünster 1979, S. 120–124; Caroline Hegewisch, Auszüge aus ihren Briefen an Eltern und Geschwister 1807–1856 und Briefe ihres Vaters Detlef von Linstow an seine Braut Lotte von Witzleben von 1776, Kiel 1892, S. 1–4.

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eine eigene umfangreiche Arbeit verfassen. Der Mediziner Franz Hermann Hegewisch, Sohn des Kieler Historikers Dietrich Hermann Hegewisch (1740–1812), war über zwei personell durchaus unterschiedlich besetzte Netzwerke in der regionalen und lokalen Elite verankert. Im sogenannten Emkendorfer Kreis, einem literarisch-musischen Salon, der sich 1783 im Herrenhaus Emkendorf bildete, verkehrte das Bildungsbürgertum mit Einfluss nach Kopenhagen und zur Kieler Universität. Der konservative Kreis sah sich als Gegenbewegung zur Aufklärung und die Mitglieder „ergriffen jede Möglichkeit, gegen den in ihren Augen ‚falschen Zeitgeist‘ tätig zu werden“.79 Konkret beeinflussten sie die Berufungspolitik der CAU; und die Geselligkeit im Rahmen des Salons festigte den gesellschaftlichen Einfluss der einzelnen Professoren. Hegewisch trat darüber hinaus auch publizistisch auf und positionierte sich durch die Herausgabe der Kieler Blätter gemeinsam mit Kollegen, deren Namen in jedem Standardwerk zur schleswig-holsteinischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auftauchen. Die Kieler Blätter wurden erstmals 1815 „von einer Gesellschaft Kieler Professoren“80 herausgegeben und fanden aufgrund des „liberalen und gemäßigt nationalen Inhalts […] in Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland eine positive Aufnahme.“81 Neben Hegewisch publizierten in dem Organ u. a. die Professoren Niels Nicolaus Falck, Christoph Friedrich Dahlmann (1785–1860)82, Christoph Heinrich Pfaff (1773–1852)83 und andere ihre politischen Ansichten zu Verfassungsfragen der Herzogtümer und ihrem Verhältnis zum dänischen König.84 Am Beispiel der Familie Hegewisch lässt sich die wechselvolle politische Geschichte der Herzogtümer Schleswig und Holstein im 19. Jahrhundert über einen personengeschichtlichen Zugang und so „im kleinen Raum die regionale Dimension der europäischen Geschichte beziehungsweise Regionalität als ein Charakteristikum in der Entwicklung Europas“85 erschließen. Dies wurde unter Hinzunahme der Briefe und Schriften Franz Hermann Hegewischs und seines (männlichen) Umfelds bereits umfangreich getan86 – dabei bieten aber gerade die Frauen der Familie Hege79 80 81 82 83 84

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Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 345; Hünninger, Universität Kiel, S. 57 f., 60 f. Kieler Blätter 1 (1815), S. 1. Auge, Kiel, S. 31 f. Siehe zur Person insb. Utz Schliesky und Wilhelm Knelangen (Hg.), Christoph Friedrich Dahlmann (1785–1860), Husum 2012. Pfaff war von 1797 bis 1845 Professor für Chemie, Physik und Medizin in Kiel. Laut Piotrowski, Sozialgeschichte, S. 57, „entwickelte sich [Pfaff] zu einem der angesehensten Lehrer und Publizisten seiner Zeit und bildete die Chemie in Kiel zu einem selbstständigen Fach aus.“ Siehe zu den durchaus unterschiedlichen Meinungen der Professoren zum dänischen König als Landesherrn der Herzogtümer etwa Reimer Hansen, Die Kieler Professoren im aufkommenden Nationalkonflikt 1815–1852, in: Gelehrte Köpfe an der Förde. Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665, hg. von Oliver Auge und Swantje Piotrowski (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73), Kiel 2014, S. 87–138. Auge, Regionalgeschichte, S. 9. Vgl. Hansen, Kieler Professoren; Jelena Steigerwald und Lena Cordes, Die politische Rolle der Kieler Professoren zwischen der schleswig-holsteinischen Erhebung und der Reichsgründung, in: Gelehrte Köpfe an der Förde. Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und

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wisch aktuelle Perspektiven auf die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Zumindest für die Kieler Stadtgeschichte wird „Lotte“ Hegewischs Biographie gerne als Beispiel der unabhängigen Mäzenin genannt, die als „außergewöhnlich selbstsicher und respektlos für ihre Zeit und Gesellschaftsschicht“87 galt und unverheiratet „selbstverständlich, zielstrebig und entscheidungsfreudig in einer weitgehend männlich dominierten Gesellschaft“ agierte. Sie vermachte der Universität das familiäre Grundstück Klein Elmeloo, auf dem bis heute die universitäre Kunsthalle steht. Weit weniger im Interesse der (regionalen) Geschichtsforschung scheinen die Briefe Caroline Hegewischs geb. von Linstow88 gewesen zu sein, die über geschlechtliche Rollenbilder, das Miteinander innerhalb der Ehe, Kindererziehung oder die Ängste einer schwangeren Frau Auskunft geben, die aber auch vom Interesse einer Professorengattin an der Tagespolitik und gesellschaftlichen Fragen zeugen. Als ihre Schwägerin Julie Dahlmann geb. Hegewisch (1795–1826) einen Sohn zur Welt brachte, offenbarte Caroline Hegewisch ihrer Schwester im Mai 1818: „Ich gönne es ihr ganz und bin wirklich nicht ein Bischen neidisch, aber mit wehmüthiger Sehnsucht, mit Sorge oft bemerke ich, daß ich älter werde, daß die Wahrscheinlichkeit einer solchen Hoffnung nicht zu, sondern abnimmt.“89 Dabei bezeugen ihre Briefe ein enormes Vertrauen ihrer Schwester gegenüber, denn sie gibt auch intime Details aus ihrem Eheleben preis, die auf ein offenes Miteinander innerhalb der Beziehung schließen lassen: „Mein geliebter Mann sieth es nicht gern wenn ich so spreche und sucht immer mich von solchen Gedanken zu zerstreuen, aber der Gedanke ist ihm selbst sehr traurig, und ich kann mit ihm noch den Gedanken mit voller Ergebung nicht fassen, daß dieser gute, herrliche, liebende Mann kinderlos arbeiten und wirken sollte.“ Als Caroline Hegewisch schließlich schwanger wurde, war sie bereits 35 Jahre alt und die Sorge um die eigene Gesundheit sowie die des Kindes überschatteten

Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665, hg. von Oliver Auge und Swantje ­Piotrowski (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73), Kiel 2014, S. 139–180. 87 Siehe diesbezüglich und zu den Zitaten Nicole Schultheiß, Charlotte „Lotte“ Hegewisch, in: „Geht nicht gibt’s nicht …“: 24 Portraits herausragender Frauen aus der Kieler Stadtgeschichte, hg. von Annegret Bergmann, Kiel 2007, S. 29–31; ferner Brigitte Schubert-Riese, Lotte Hegewisch, Lilli Martius, Gertrud Völcker: drei Frauenbilder aus der Kieler Stadtgeschichte, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73 (1987), S. 1–18. 88 Den Studierenden des Projektseminars 2018 fiel als Erstes auf, dass es zu Caroline Hegewisch keinen eigenen Wikipedia-Artikel gibt und sie lediglich in den Einträgen zu ihrem Ehemann und ihrer ältesten Tochter genannt wird. Auch im Schleswig-Holsteinischen Biografischen Lexikon sucht man einen Eintrag zu ihrer Person vergeblich. Dies ist symptomatisch für Frauen, nicht nur in der Geschichte Schleswig-Holsteins, wie die Autorin dieses Beitrages gemeinsam mit Nina Gallion im Wintersemester 2017/18 im Rahmen einer Ringvorlesung aufzeigen konnte. Die Ergebnisse der Ringvorlesung erscheinen demnächst im gleichnamigen Sammelband: Nina Gallion und Caroline E. Weber (Hg.), Frauen im Fokus der Regionalgeschichte. Schleswig-Holstein vom Mittelalter bis heute (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 3; zeit + geschichte 47), Kiel 2021 [im Druck]. 89 Hegewisch, Auszüge, S. 52. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat.

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die Schwangerschaft.90 Im September 1821 teilte sie ihrer Mutter mit, dass sie „guter Hoffnung“91 sei und sich, anders als ihr Mann, ein Mädchen wünsche. Der Brief enthält zudem differenzierte Gedanken zu den gesellschaftlichen Anforderungen an Mädchen und Jungen aus bürgerlichem Hause, vor allem aber eine ehrliche Freude darüber, nun endlich Mutter zu werden. Einem Folgebrief, den sie etwa einen Monat vor der Geburt ihrer Tochter „Lotte“ verfasst hat, lassen sich dagegen konkrete Todesängste angesichts der nahen Geburt entnehmen: [E]ins liegt mir noch am Herzen Dir zu sagen, […] aber ich muß es doch sagen für jeden nöthigen Fall. Ich gehe mit gutem Muth und Vertrauen meinem Ziele entgegen und an Vorsicht soll es in keiner Sache fehlen, aber, es komme wie es wolle, das können sich meine lieben Eltern und Geschwister sagen, daß ich den Seegen des Lebens gefühlt habe […] und ich sage dies nur auf allen Fall und glaube wir werden noch fröhlich unter Gottes Sonne einhergehen und ein liebes Kind auf unserm Arm tragen.92

Die bereits genannten geschlechtsspezifischen Rollenbilder tauchen in weiteren Briefen Caroline Hegewischs an ihre Schwester auf und ermöglichen zudem konkrete Einblicke in das professorale Familienleben.93 Die beiden Töchter Charlotte und Leonore erhielten etwa zu Weihnachten 1823 „ein klein Theeservice, hölzerne Spaten und Harken, blechne Gießkannen, sogar Baumwollenzeug für Gartenkittel und zwei kleine Microskope um die Blattläuse durch zu sehen“94, was von einem äußerst aufgeklärten und – der Natur des Familienvaters als Arzt entsprechend – an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen interessierten familiären Umfeld zeugt. 90 Zur geschichtswissenschaftlichen Thematisierung von Schwangerschaften siehe Barbara Duden, Jürgen Schlumbohm und Patrice Veit (Hg.), Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 170), Göttingen 2002; eine historische Analyse von Emotionen während der Schwangerschaft findet sich bei Lisa Malich, Die Gefühle der Schwangeren. Eine Geschichte somatischer Emotionalität (1780–2010) (Histoire 99), Bielefeld 2017; einen regionalgeschichtlichen und zugleich interdisziplinären Zugang zur Geburtsmedizin liefert für das 19. Jahrhundert Christian Hoffahrt, Konservierte Lebensspuren – Patientinnen der Kieler Gebäranstalt im 19. Jahrhundert. Ein Forschungs- und Publikationsprojekt des Instituts für Personengeschichte in Kooperation mit der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, in: Mitteilungen des Instituts für Personengeschichte 23 (2020), H. 1, S. 16–26; Ders., Ab osse ad os. Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung, Gebäranstalten und die Schicksale schwangerer Frauen im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Familiengeschichtsforschung 17 (2013), H. 4, S. 143–152. 91 Hegewisch, Auszüge, S. 55. 92 Ebd., S. 56. 93 Zu Überlegungen in Bezug auf Mutterschaftskonzepte in historischer Perspektive siehe exemplarisch Lesley H. Walker, A Mother’s Love: Crafting Feminine Virtue in Enlightenment France, Lewisburg 2008; Ann Taylor Allen, Feminismus und Mütterlichkeit in Deutschland 1800–1914 (Frauen- und Geschlechterforschung in der historischen Pädagogik 4), Weinheim 2000. 94 Hegewisch, Auszüge, S. 58.

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Caroline Hegewisch stand den Weihnachtsgeschenken allerdings skeptisch gegenüber und schrieb etwa im Januar 1825, dass sie den „Kasten mit Bauhölzer [sic]“ eher „für Jungens passend finde als für Mädchen“.95 Als sie aber sah, wie liebevoll ihr Mann mit den Mädchen „auf der Erde lagert […] und ganze Thürme errichtet“, überwog die reine Freude über das Familienglück – „wenn nur das prasselnde umstoßen nicht die Pointe vom Ganzen wäre“. Die edierten Briefe ermöglichen den Zugang zu Kindheit, Erziehung und Eltern-Kind-Beziehungen und können so einmal mehr als regionale Fallbeispiele für kulturwissenschaftliche Konzepte und überregionale Untersuchungen analysiert werden.96 Die hier vorgestellten Briefe bestätigen auf den ersten Blick das bürgerliche Rollenbild von der fürsorglichen Ehefrau, die sich um die Erziehung der Kinder sorgte und mit ihren engsten Vertrauten schriftlich über private Themen korrespondierte.97 Wie bereits erwähnt, wurden mit Blick auf die schleswig-holsteinische Politikgeschichte und die politischen Positionen im universitären Umfeld vor allem männliche Meinungen herangezogen. Caroline Hegewischs Briefe bieten daher eine bislang kaum genutzte Quellensammlung, um die aufmerksamen Beobachtungen zu den Verflechtungen aus persönlichen Bekanntschaften, politischen Ansichten und Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, was abschließend mittels zweier Beispiele verdeutlicht werden soll. In seinem kleinen „Führer über den Parkfriedhof Eichhof “ bemerkt Gerd Stolz, dass durch die Überführung der ausgewählten (Grab-)Steine die ursprüngliche Anordnung auf dem St. Jürgen-Friedhof aufgehoben worden sei. Deutlich werde dies etwa an den Steinen Hegewisch und Lornsen, die ursprünglich in einer „räumlichen Verbindung“98 zueinander standen. Durch die Neuplatzierung im Rahmen der Umbettung sei die „einst durch die Lage der Steine dokumentierte persönliche Beziehung […] heute nicht mehr erlebbar“. Stolz bezieht sich dabei auf den Gedenkstein für Uwe Jens Lornsen, den Franz Hegewisch nach dessen Tod auf dem Grab von Lornsens Eltern in Kiel aufstellen ließ. Der schlichte naturbelassene Stein trägt eine Bronzeplatte mit der Inschrift: „Dem Andenken / Uwe Lornsens / Landvogts auf Sylt / Er kam von Kopenhagen nach Kiel / 1830 / hoffend und wirkend,   starb in Genf / 1837 / [das L]and der Gerechtigkeit / [mit der] Seele suchend“.99 95 Ebd., S. 60. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat. 96 Zur Geschichte der Kindheit und zu Konzeptionen von Familienleben siehe Reidar Aasgard, Marcia J. Bunge und Merethe Roos (Hg.), Nordic Childhoods 1700–1960: From Folk Beliefs to Pippi Longstocking, New York 2018; Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 2007; Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017; Bryan Ganaway, Toys, Consumption, and Middle-Class Childhood in Imperial Germany, 1871–1918 (German Life and Civilization 48), Oxford 2009. 97 Vgl. zu Konstruktion und Dekonstruktion von Rollenbildern Esther Suzanne Pabst, Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts (Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung 12), Göttingen 2007. 98 Stolz, Park-Friedhof Eichhof, S. 100 f. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat. 99 Zit. n. ebd., S. 101. Die eckigen Klammern markieren die heute nicht mehr leserlichen bzw. zerstörten Stellen.

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Lornsen ist bis heute für seine Flugschrift Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein, wohlgemerkt ohne ein „und“ oder einen Bindestrich, bekannt.100 Für die Veröffentlichung der Schrift verbüßte er eine Haftstrafe und verließ daraufhin die Herzogtümer. Er verstarb im Exil am Genfer See, sein Grab ist nicht erhalten.101 Da die Verbindung der Familien über die Traditionsstätte St. Jürgen nicht mehr nachvollzogen werden kann, zumal sich auf dem Gedenkstein kein Hinweis auf den Stifter findet, dienen ausschließlich schriftliche Quellen der Rekonstruktion. Caroline Hegewisch schrieb im November 1830 vermutlich ihrer Schwester: „Du glaubst nicht, wie dieser Lornsen uns in Shock setzt.“102 Lornsen befand sich zu diesem Zeitpunkt in Rendsburger Festungshaft, konnte aber Besuche empfangen, was Franz Hegewisch regelmäßig nutzte. Aus den Briefen von Caroline Hegewisch an ihre Familie lassen sich neben ihrer persönlichen Meinung zur Flugschrift auch Urteile über die zeitgenössischen Meinungen entnehmen: Wenn er in seinen Principien die Gedanken entwickelt, die ich gewissermaaßen in mir von Kindheit auf kannte, die aber Hegewisch und Dahlmann in mir zur klaren Erkenntniß und Reife brachten, so ist mir gehoben zu Muthe, und ich hoffe für’s Volk und seine Zukunft das Beste.

Sie positionierte sich klar als Befürworterin von Lornsens Positionen, die auch durch ihren Mann, dessen Kollegen und seinen Schwager Dahlmann unterstützt wurden.103 Dabei wird aus dem Brief ferner deutlich, dass die Professoren mit ihren Ehefrauen über tagespolitische Ansichten diskutierten und sich diese wiederum individuell außerhalb ihres lokalen Netzwerks zur Politik zu Wort meldeten. Lornsen, der posthum nicht nur in Schleswig-Holstein als Vorkämpfer der Unabhängigkeitsbestrebungen104 gefeiert wurde, zog sich zu Lebzeiten deutliche Kritik zu, was wiederum Caroline Hegewisch kritisierte: „Ja wohl finden viele Menschen Lornsen’s Handlung eine verbrecherische. Ich bin aengstlich in Urtheilen und darin so 100 Uwe Jens Lornsen, Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein, Kiel 1830. Der Text wurde in der Folge, auch schon zeitgenössisch, durchaus mit Bindestrich zitiert. Vgl. etwa Karl Friedrich Hermann Klense, Ueber das Verfassungswerk von Schleswig-Holstein, eine Beleuchtung der Schrift des Herrn Kanzleiraths und Landvogts U. J. Lornsen über denselben Gegenstand, Altona, 1830. 101 Siehe Stolz, Park-Friedhof Eichhof, S. 100 f.; Jensen, Uwe Jens Lornsen. 102 Hegewisch, Auszüge, S. 64. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat. 103 Vgl. Stolz, Park-Friedhof Eichhof, S. 100. 104 Reimer Hansen, Kieler Professoren, S. 100, verweist darauf, dass Franz Hegewisch mit seinem Nachruf auf Lornsen im Kieler Correspondenzblatt 1838 „nicht unerheblich zu dessen bis heute ungebrochener Mythifizierung beigetragen“ habe. Siehe dazu auch den Brief Caroline Hegewischs an ihre Familie vom August 1846, in der sie sehr kritisch zur rückwirkenden Heroisierung Lornsens Stellung nimmt und die ursprüngliche Bewertung Lornsens in Bezug zur neuen politischen Situation des Jahres 1846 stellt. Hegewisch, Auszüge, S. 81 f.: „Jetzt, nach Leid und Tod kommt unser Freund Lornsen zur Ehren, zur Anerkennung. Mit Andacht wird jetzt, sein gutes, edles, ernstes Buch studirt von denen, die ihn früher für einen Verräther, in meiner Stube ansahen. In seiner kleinen Verfassungschrift damals, die gleichsam unter unsern Augen entstanden, ist auch, glaub ich, kein Wort, daß nicht der Gemäßigste unterschriebe.

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schwach von Kopf, aber das scheint mir ein verkehrter Gesichtspunkt.“105 Ihre Wortwahl drückt eine gewisse Unsicherheit aus, was vielleicht daher rührt, dass Lornsen „unter den Kieler Professoren mit Ausnahme Hegewischs kaum und auch bei diesem […] nur bedingt Akzeptanz“106 gefunden hat, was für eine kritische Analyse und Neubewertung der regionalen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spricht. Wir wissen heute, dass es sich bei der schleswig-holsteinischen Unabhängigkeitsbewegung nicht um eine homogene Gruppe mit einheitlichen Forderungen gehandelt hat.107 Es lohnt sich aber auch heute noch, nach Zwischentönen zu suchen und gerade mit Blick auf aktuelle politische Unabhängigkeits- und Nationalisierungsbestrebungen sowie die politische Arbeit von Frauen108 weibliche Ansichten zu historischen Konflikten stärker zu berücksichtigen.109 Caroline Hegewisch forderte beispielsweise im Januar 1831 eine einheitliche Verfassung für die Herzogtümer Schleswig und Holstein, bei gleichzeitiger Akzeptanz des dänischen Königs: „Man hat hier seit dem ersten Versprechen einer Verfassung solche immer wieder von Neuem, von Zeit zu Zeit lebhafter gewünscht, erbeten. […] Meine Losung ist: den lieben König ehren, und doch beharren in aller Ehrfurcht um eine Verfassung zu bitten.“110

Wäre damals die Ritterschaft, die Bürgerkollegien, das ganze Land eins gewesen, so hätten wir alles Erwünschte haben können, und lebten in Frieden, aber, man treibt die Menschen zur Revolution.“ 105 Hegewisch, Auszüge, S. 64. 106 Hansen, Kieler Professoren, S. 100. 107 Zu den unterschiedlichen Positionen, Forderungen und sozialen Zugehörigkeiten siehe die Beiträge in Michael Bregnsbo und Kurt Villads Jensen (Hg.), Schleswig Holstein – Contested Region(s) Through History (University of Southern Denmark Studies in History and Social Sciences 520), Odense 2016. 108 Vgl. exemplarisch die Entwicklungen in Belarus, die auch eine genderspezifische Ebene thematisieren. Siehe u. a. Jasper Steinlein, Protestbewegung in Belarus. Die Revolution der Frauen, in: Tagesschau, 22.8.2020, https://www.tagesschau.de/ausland/belarus-proteste-frauen-101.html (21.9.2020); o. V., Proteste in Belarus. Mit aller Härte gegen Frauen, in: Tagesschau, 13.9.2020, https://www.tagesschau.de/ausland/belarus-211.html (21.9.2020). 109 Siehe dazu etwa Shereen Abouelnaga, Women in Revolutionary Egypt. Gender and the New Geographics of Identity, Kairo 2016; Anna C. Korteweg und Gökçe Yurdakul, Kopftuchdebatten in Europa. Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen, Bielefeld 2016; Dáša Frančíková, Women as Essential Citizens in the Czech National Movement. The Making of the Modern Czech Community, Lanham 2017; Françoise Berger und Anne Kwaschik (Hg.), La „condition féminine“: Feminismus und Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Féminismes et mouvements de femmes aux XIXe-XXe siècles (Schriftenreihe des DeutschFranzösischen Historikerkomitees 12), Stuttgart 2016. Zur Rolle von Frauen im religiösen Fundamentalismus siehe u. a. Britt Ziolkowski, Die Aktivistinnen der Ḥamās. Zur Rolle der Frauen in einer islamistischen Bewegung (Studien zum modernen Orient 29), Berlin 2017. 110 Hegewisch, Auszüge, S. 67.

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Caroline Elisabeth Weber

Friedhöfe als Gedächtnislandschaften der Regionalgeschichte – ein Fazit Die vorliegenden Ausführungen nahmen ihren Ausgangspunkt in der universitären Lehre und den Erfahrungen der Studierenden, die, nach vorbereitenden Sitzungen und entsprechender Lektüre, auf dem Parkfriedhof Eichhof physische Überreste der schleswig-holsteinischen Geschichte vorfanden – sie aber trotz eines gewissen Vorwissens nicht unmittelbar erfahren konnten. Im Projektseminar äußerten die Studierenden den Wunsch, ihr Wissen über die Traditionsstätte St. Jürgen und einige ausgewählte (Grab-)Steine für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen und unmittelbar vor Ort so aufzubereiten, dass ein Zufallspublikum sich unkompliziert zumindest oberflächlich informieren kann. Das Stichwort „Zufallspublikum“ ist in diesem Kontext relevant, schließlich sind die wenigsten Besucher*innen des Parkfriedhofes Eichhof mit der Motivation vor Ort, sich historisch zu informieren. Dennoch konnten im Rahmen des Projektseminars zwei bebilderte Informationstafeln und ein fest montiertes Handbuch mit Kurzbiografien vor Ort aufgebaut werden, sodass den Friedhofsbesucher*innen und Spaziergänger*innen eine erste Zugangsmöglichkeit zur Historizität des Ortes gegeben werden kann.111 Deutlich wurde im Seminar sowie bei der Verschriftlichung des vorliegenden Beitrages, dass über einen regionalgeschichtlichen Zugang stets neue aktuelle Fragen an die Vergangenheit gestellt werden können und müssen, die wiederum unser Verständnis der Vergangenheit verändern. Dabei sind wir Regionalhistoriker*innen in der glücklichen Position, mit unserer gewählten „Heuristik und Interpretation auf eine unbegrenzte Synthesen- und Methodenvielfalt“112 zurückgreifen zu können und je nach Fragestellung und Forschungsinteresse mit benachbarten Fachdisziplinen zu kooperieren oder zumindest deren Perspektiven zu berücksichtigen. Über die reine Recherche- und Analysearbeit hinaus gilt es schließlich immer wieder, die gewonnenen Erkenntnisse auch außerhalb der Universität zu präsentieren beziehungsweise in modifizierter, „leichter verdaulicher“ Form zu vermitteln.113 Wenn dies unter Einbeziehung der studentischen Perspektive und Mitwirken universitätsexterner Institutionen gelingt, wird in jedem Fall deutlich, dass die Regional111 Zur Vermittlung und zu unterschiedlichen Zugängen für (Museums-)Besucher*innen siehe die Beiträge in Ann Davies und Kerstin Smeds (Hg.): Visiting the Visitor: An Enquiry into the Visitor Business in Museums (Edition Museum 18), Bielefeld 2016; siehe zum Vermittlungspotential regionaler Denkmäler und Erinnerungsorte auch Miloš Řezník, Erinnerungsorte im regionalen Kontext. Überlegungen und Thesen zu Regionalität und Identität, in: Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, hg. von Stefan Berger und Joana Seiffert (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen A/59), Essen 2014, S. 143–161. 112 Auge, Regionalgeschichte, S. 11. 113 Siehe dazu neuerdings auch Martin Göllnitz, An der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit? Fachjournale, Blogs und Soziale Medien in der Landesgeschichte, in: Landesgeschichte und public history, hg. von Arnd Reitemeier (Landesgeschichte 3), Ostfildern 2020, S. 197‒216.

Friedhöfe als Gedächtnislandschaften der Regionalgeschichte

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Abb. 9: Die Studierenden des Projektseminars „Vergessene Grabsteine Kieler Professoren?“ bei der Enthüllung der Informationstafeln auf dem Eichhof Friedhof in Kiel. Foto: Rolf Ingenfeld.

geschichte regelmäßig ihren Beitrag zur „Öffnung der Hochschule in Richtung der Gesellschaft“114, also zur viel geforderten Dritten Mission leistet. Dabei ist von zentraler Relevanz – auch dies konnte gezeigt werden, dass sich die Universität „gegenüber den Erwartungen und Fragen, die aus der Gesellschaft an sie herangetragen werden“115, öffnet und so ihre Forschung stets vor dem Hintergrund tagesaktueller Debatten und Diskurse vorantreibt. Im Falle der Kieler Lehrveranstaltungen kann die Kommunikation mit der Öffentlichkeit als gelungen bezeichnet werden, zumal sich in der von der Presse genutzten Sprache erneut die Relevanz des Projektseminars zeigte. So wurde die Enthüllung der Informationstafeln mit der Überschrift „Zurückholen in die Gegenwart“116 angekündigt – womit sich der Kreis zur Einleitung dieses Textes schließt: Jeder aufmerksamen Person auf dem Eichhof Friedhof fällt auf, dass die gesondert 114 Isabell Roessler, Third Mission. Die ergänzende Mission neben Lehre und Forschung, in: Wissensmanagement 2 (2015), S. 46 f. 115 Ebd.; Thomas Kerstan, Die Dritte Mission, in: Zeit Campus, 14.11.2018, https://www.zeit. de/2018/47/gesellschaftliches-engagement-hochschulen-universitaeten-arbeitsfeld-akademiker (21.9.2020). Siehe auch Oliver Auge, Outreach-Aufgaben und Wissenschaftskommunikation an den Universitäten: Eine regionalhistorische Standortbestimmung im Herbst 2019, in: Landesgeschichte und public history, hg. von Arnd Reitemeier (Landesgeschichte 3), Ostfildern 2020, S. 147‒158. 116 Vgl. Carstens, Forschung.

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auf dem Kapellenvorplatz liegenden und stehenden Steine und Platten „alt“ sind beziehungsweise im Vergleich zu den übrigen Gräbern deutlich älter. Eine weitere Einordnung kann aber vor Ort nicht erfolgen, da die Steine von ihrem Ursprungsort entkoppelt und auf den Eichhof überführt wurden. Auf dem Eichhof ergibt sich also die seltene Begebenheit eines in mehrfacher Hinsicht überschriebenen Gedächtnisorts der regionalen Geschichte, dessen Historizität zwar ersichtlich ist, aber nicht schichtweise entschlüsselt werden kann. Aus der Presseüberschrift spricht somit das Vertrauen in eine moderne Geschichtswissenschaft, die gewissermaßen tote Erinnerung117 wieder lebendig zu machen, in diesem Fall also aus den Überbleibseln eines zerstörten Friedhofs unter Zugriff auf die individuellen Biographien (wieder) eine Erinnerungslandschaft der gegenwärtigen Gesellschaft zu schaffen.118

117 Vgl. dazu Aleida Assmann, Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften 9), Göttingen 2016. 118 Ob eine Reaktivierung von Erinnerungskultur, wie sie der Presseartikel suggeriert, realistisch ist, muss bezweifelt werden, jedoch zeigen Berger/Seiffert, Erinnerungsorte, S. 13, mit Verweis auf Pierre Nora auf, dass das kulturwissenschaftliche Konzept der Erinnerungsorte erst dann greifen kann, wenn es eben keine aktive Erinnerungsgemeinschaft mehr gibt: „There are lieux de mémoire, sites of memory, because there are no longer milieux de mémoire, real environments of memory.“

4. Handlungsspielräume in der Regionalgeschichte

Franziska Hormuth

Kaiserfern und königsnah? Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg zwischen Dänemark, Schweden und dem Reich (1296–1689)

Abstract The Duchy of Sachsen-Lauenburg was situated in the North of the Holy Roman Empire far away from the imperial court. Due to the long lasting journey to the imperial residences which were mainly located in southern parts of the Empire, the Dukes of Sachsen-Lauenburg took rarely part in imperial politics and limited their ambitions primary to their dynastic concerns like their claim on the position of palatine elector. In the 17th century, some of the non-ruling sons of Duke Franz II were serving in military offices in the imperial army. Julius Heinrich, for example, succeeded notably in gaining own territories in Bohemia. The offices at the imperial court caused closer contact to the court society and inaugurated further contacts for dynastic projects, especially marriages. Instead of participating in imperial businesses the Dukes of Sachsen-Lauenburg focussed on the regional political power structure, even beyond the borders of the Empire. First of all, the King of Denmark was a powerful neighbour to whom the Dukes stayed in close contact. Between 1296 and the end of the 16th century, most of the Dukes of Sachsen-Lauenburg were serving the Danish King even though they were imperial lieges. Especially during the 16th century they were connected to the Danish King by dynastic affairs as marriage and godparenthood. At the same time, the newly independent King of Sweden, Gustav Vasa, became an aspiring power at the region of the Baltic Sea and was also connected to the Dukes of Sachsen-Lauenburg by dynastic engagement. The marriage of Katharina of Sachsen-Lauenburg, sister of Dorothea (by marriage Queen of Denmark), and Gustav Vasa was the basis for further close contact between both dynasties. The male members of the ducal family of Sachsen-Lauenburg held especially during the Thirty Years War military offices, in Swedish service as in imperial.

Die Lage einer Region, eines Fürstentums, einer Herrschaft, einer Stadt oder einer Residenz hängt immer von der Perspektive des Betrachters ab und verrät viel über dessen thematische Schwerpunkte, Untersuchungsansätze und Erkenntniswünsche. Für viele Fürstentümer besonders im Norden des Reichs, die im regionalen Rahmen um eine Hegemonialstellung konkurrierten, war das Reich beziehungsweise der kaiserliche Hof nicht der einzige und oftmals auch nicht der wichtigste Referenzpunkt im Feld der auswärtigen Bündnisoptionen. So waren im Norden auch Däne-

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Franziska Hormuth

mark und Schweden bedeutsame Referenzmächte, die als politische und dynastische Betätigungsfelder durch die geographischen Gegebenheiten für viele Fürstentümer naheliegender sein konnten als der kaiserliche Hof im fernen Süden.1 Die Optionen der Fürsten und ihrer Familien, die durch die Lage eines Fürstentums zwischen Dänemark, Schweden und dem Reich entstanden, sind bisher kaum beleuchtet worden und werden im Folgenden für die Herzöge von Sachsen-Lauenburg analysiert. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg gehörten der Gruppe der mindermächtigen Fürsten an und waren im Norden des Reiches belehnt. Die Herzöge besaßen neben ihrer Funktion als Reichsfürsten auch dänische Lehen und wirkten in unterschiedlichem Maße präsent an den Höfen in Dänemark, Schweden und dem Reich. Besonders die Belange der Dynastie standen dabei im Mittelpunkt, denn auch die „Bündnispolitik war dynastisch verankert und motiviert.“2 Ihre dänischen Besitzungen waren zwar nur temporär und die Güter nicht erblich verliehen, die besondere Nähe zu Dänemark lässt sich jedoch über die gesamte Zeitspanne des Bestehens dieser Dynastie von 1296 bis 1689 hinweg beobachten: als Vasallen, als Vermittler, als Ehepartner, als Diplomaten. Grundlegend für den gewählten prosopographischen Ansatz ist die Interaktion der Akteure in unterschiedlichen Räumen, wodurch die regionale Ausrichtung eines Fürstentums bestimmt wurde. Auch wenn „[…] die einzelnen Länder im Regelfall den Dynastien ihre Entstehung verdanken, agierten diese Dynastien mit ihrer weitausgreifenden Familienpolitik über die territorialen Einheiten hinaus.“3 Die Mitglieder der fürstlichen Familie prägten mit ihrem Rang, ihrem Stand, ihren Ansichten und letztlich mit ihren Kontakten die regionale Ausgestaltung fürstlicher Spielräume. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg stammten väterlicherseits von einer sächsisch-askanischen Linie, mütterlicherseits vom schwedischen und dänischen Könighaus ab. Ihre Stammmutter Ingeborg war die Tochter von Birger Jarl und der gleichnamigen schwedischen Königstochter Ingeborg, welche die dritte Tochter König Eriks X. und dessen Ehefrau Rixa von Dänemark war.4 Die dynastischen Verbindungen gen Norden waren schon im ausgehenden 13. Jahrhundert stark ausgeprägt, die Verbindungen an den kaiserlichen Hof waren jedoch auch vorhanden:

1

Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009, S. 347. 2 Ebd., S. 349. 3 Oliver Auge, Dynastiegeschichte als Perspektive vergleichender Regionalgeschichte. Das Beispiel der Herzöge und Grafen von Schleswig und Holstein (Anfang 13. bis Ende 17. Jh.), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 135 (2010), S. 23‒45, hier S. 26. 4 Otto Brenner, Wer war Ingeborg, die Gemahlin des Herzogs Johann I. von Sachsen-Lauenburg, in: Familie und Volk 4 (1961), S. 2‒8, hier S. 4 f.; Adolf von Duve, Mittheilungen zur näheren Kunde des Wichtigsten der Staatsgeschichte und Zustände der Bewohner des Herzogthums Lauenburg von der Vorzeit bis zum Schlusse des Jahres 1851, Ratzeburg 1851, S. 98 f.

Kaiserfern und königsnah?

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Der Vormund und Onkel dieser ersten Generation der Herzöge von Sachsen-Lauenburg war mit Agnes, Tochter von Rudolf von Habsburg, verheiratet.5 Insbesondere die dynastische Politik sogenannter kleiner Fürsten richtete sich auf das regionale Umfeld, wobei die Verortung je nach Generation und politischem Themenfeld variieren konnte. Vor allem dynastische Belange, etwa die Ehen der Familie, die Versorgung der Kinder oder auch die Repräsentation des Ranges der eigenen Dynastie, konnten gestaltet werden, wurden aber auch von der regionalen (Adels-)Gesellschaft beeinflusst. Die Frage nach der Art der Anlehnung an eine überregionale Hegemonialmacht und den Optionen von Fürsten auf der Suche nach einem Verbündeten, der durch seinen Einflussradius die eigenen Handlungsspielräume erweitern konnte, wird im Folgenden anhand der Verbindungen der Herzöge von Sachsen-Lauenburg zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, zu den Königen von Dänemark sowie den Königen von Schweden untersucht.

Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg und die Kaiser des Heiligen Römisches Reiches Aufgrund der geographischen Entfernung zu den kaiserlichen Residenzen und Aufenthaltsorten, die vor allem im Süden des Reiches zu finden sind, sind die Gestaltungsspielräume von Fürsten des nördlichen Reichsgebietes in der Reichspolitik als gering einzustufen. Reisen nach beispielsweise Prag, Wien, Regensburg, Frankfurt oder auch Aachen nahmen viel Zeit in Anspruch, sodass entweder eine lange Abwesenheit vom eigenen Territorium oder die Absendung von Stellvertretern an den Hof notwendig waren. Als 1422 die Linie der Wittenberger Sachsenherzöge im Mannesstamm ausstarb, beanspruchte Erich V. von Sachsen-Lauenburg deren Erbe. Sobald die Nachricht des Todes von Albrecht III. von Sachsen-Wittenberg in Lauenburg eingetroffen war, soll sich Herzog Erich V. auf den Weg nach Böhmen gemacht haben. Als er jedoch am kaiserlichen Hof ankam, war Friedrich I. von Meißen bereits von Kaiser Sigismund mit dem Herzogtum Sachsen-Wittenberg belehnt worden. Für Friedrich von Meißen machte sich seine Anwesenheit am Hof genauso wie seine militärische Unterstützung des Kaisers in Böhmen bezahlt. Erich V. von Sachsen-Lauenburg war nicht präsent und dementsprechend nicht in der Lage, vor dem Belehnungsakt Protest einzulegen. Erst nach seiner Ankunft konnte er seine Ansprüche auf die bereits vergebenen Rechte am Erbe der sächsischen Seitenlinie der Lauenburger vorbringen. Nun ist es sicherlich fraglich, ob die Belehnung des kaisernahen Meißners durch eine kürzere Reisezeit hätte verhindert werden können, allerdings gab es durchaus Unterstützer der Erbansprüche der Lauenburger,

5 Heinrich Kühne, Die Askanier. Aus der Geschichte der sächsisch-askanischen Herzöge und Kurfürsten von Sachsen-Wittenberg, Wittenberg 1999, S. 30 f.; Friedrich Lammert, Der Streit um die Kurwürde zwischen Sachsen-Lauenburg und Sachsen-Wittenberg, in: Historische Vierteljahresschrift 30 (1935), S. 305‒315, hier S. 305.

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deren Zuspruch entscheidenden Einfluss hätte nehmen können.6 Die Interessenslage der Herzöge von Sachsen-Lauenburg an der Politik des Reiches resultierte vor allem aus ihren Ansprüchen auf das Amt eines Kurfürsten und des Erzmarschalls, welche sie faktisch mit der Umsetzung der Goldenen Bulle von 1356 an die Wittenberger Sachsen verloren. Im Jahr 1273 war Herzog Johann I. von Sachsen, der Vater der herzoglichen Lauenburger Linie, als Senior der Herzöge von Sachsen bei der Königswahl anwesend und unterzeichnete den Willebrief zur Krönung.7 Nach Johanns Tod 1285 gab sein jüngerer Bruder Albrecht bei der Wahl von 1292 als einziger volljähriger Sachsenherzog die Kurstimme für Adolf von Nassau ab. Seine einflussreiche Position konnte er durch seine aktive Teilnahme an der Reichspolitik und seine wichtige Rolle bei den folgenden Wahlen sichern und ausbauen. Seine Neffen befanden sich unter seiner Vormundschaft und waren nicht an der kaiserlichen Politik beteiligt. Allerdings wurden deren Ansprüche auf das Kurrecht ihres Vaters Johann I. von anderen Kurfürsten, etwa aus Brandenburg oder Köln, anerkannt.8 Gründe für die Vormachtstellung der Wittenberger innerhalb der beiden sächsischen Linien sind in der Person Albrechts, der als Onkel und Vormund seinen Neffen gegenüber im Vorteil war, und in seiner Ehe mit der Tochter Kaiser Rudolfs von Habsburg, die einen enormen Einflussgewinn mit sich brachte, zu suchen. Hinzu kam eine erste Landesteilung, bei der 1296 die Herzogtümer Lauenburg und Wittenberg entstanden und die Albrecht weitreichende Unabhängigkeit gegenüber seinen nun volljährigen Neffen garantierte. Eine weitere Teilung kurze Zeit später versursachte eine zunehmende Zersplitterung des Teilherzogtums Lauenburg.9 Bei der Wahl 1308 waren die Herzöge von Sachsen-Lauenburg nicht persönlich anwesend, ließen sich aber durch ihren Bündnispartner, den Kurfürsten von Brandenburg, vertreten. Beide Fürsten hatten zuvor ein Wahlbündnis geschlossen, in das außerdem Heinrich von Luxemburg sowie der Erzbischof von Köln involviert waren.10 Im Jahr 1313 konnte Johann II. wegen Leibesschwachheit11 nicht an der Wahl teilnehmen und schickte seinen Bruder Erich, dessen Rechte allerdings nicht fundierter waren als die der Wittenberger, da es sich bei ihm nicht um den erstgeborenen Erben Johanns I., sondern um den jüngeren Bruder handelte. Erichs Legitimation war die Entsendung durch den Bruder.12 Seine Teilnahme an der Wahl war seit 1273 die erste nachweisbare persönliche Interaktion eines Nachfahren Johanns I. als Kur  6 Unter ihnen befand sich u. a. der Kurfürst von Köln: Joachim Leuschner, Der Streit um Kur­ sachsen in der Zeit Kaiser Siegmunds, in: Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann zum 80. Geburtstag am 26. September 1959, hg. von Wilhelm Wegener, Aalen 1959, S. 315‒344, hier S. 338 f.   7 Alexander Begert, Die Entstehung und Entwicklung des Kurkollegs. Von den Anfängen bis zum frühen 15. Jahrhundert (Schriften zur Verfassungsgeschichte 81), Berlin 2010, S. 118 f.   8 Lammert, Kurwürde, S. 306; Wolf-Dieter Mohrmann, Lauenburg oder Wittenberg? Zum Problem des sächsischen Kurstreits bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Hildesheim 1975, S. 22 f.   9 Lammert, Kurwürde, S. 305. 10 Mohrmann, Lauenburg oder Wittenberg, S. 32‒36. 11 Es war wahrscheinlich Blindheit. 12 Lammert, Kurwürde, S. 307.

Kaiserfern und königsnah?

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fürst im Kontext kaiserlicher Politik.13 Aber auch die Wittenberger Sachsenherzöge bildeten Wahlbündnisse und hatten mit den Habsburgern eine einflussreiche Verwandtschaft, in deren Umkreis sie politisch, aber auch dynastisch, etwa durch die Vermittlung von Ehen und Pfründen, und vor allem persönlich agierten.14 Die Frage nach der Kurwürde ist jedoch nicht als ein grundsätzliches Gegeneinander der beiden sächsischen Linien zu sehen, sondern nur als einer von vielen Berührungspunkten zwischen ihnen. Da bei der Landesteilung von 1296 unter den beiden Linien zunächst keine Regelung zur Wahrnehmung der Kur getroffen wurde, war dieser Schwebezustand möglicherweise gar nicht so konfliktträchtig.15 Erst mit der Aberkennung der Kurwürde im Zuge der Umsetzung der Goldenen Bulle von 1356 scheint ein Konflikt entstanden zu sein, sodass die Lauenburger während des Lüneburger Erbfolgekrieges bis 1374 auf der Seite der Braunschweiger Herzöge gegen die Wittenberger zu finden sind und sich mit Eheschließungen und Erbverbrüderungen an diese neuen Verbündeten dynastisch eng anschlossen.16 Die Wittenberger Linie gewann vor allem durch die Ehe Albrechts II. mit Agnes von Habsburg an politischer Bedeutung. Die dynastische Zusammengehörigkeit zwischen den beiden Linien wird immer wieder durch die Diskussionen um ein gemeinsames Erbe, gemeinsame Belehnungen, das gleiche Wappen sowie konkurrierende Erbansprüche deutlich thematisiert. Mit den späteren Generationen, die einen schwindenden Bezug zueinander hatten, und dem Mitte des 14. Jahrhunderts ausbrechenden Konflikt um die Ausübung der Kur mag die Distanz zwischen den Vertretern der Linien zugenommen haben, aber noch beim Aussterben der Wittenberger Linie im Jahr 1422 waren die Lauenburger Erbansprüche, die sich auf den gleichen Stamm bezogen, Grund genug für ausführliche rechtliche Erörterungen. Diese Erbansprüche waren das bestimmende Thema für den Kontakt an den kaiserlichen Hof im Jahrzehnt nach dem Erbfall in Wittenberg. Durch die eheliche Ver13 Mohrmann, Lauenburg oder Wittenberg, S. 39. 14 Ebd., S. 81. 15 Nach dem Gewohnheitsrecht der gemeinsamen Erbschaft aller männlichen Nachkommen hat Albrecht II. mit der Volljährigkeit seiner Neffen spätestens 1296 die Herzogtümer geteilt. Dass diese Teilung möglicherweise keine zwingend dauerhafte und vollständig vollzogene Totteilung werden sollte, lassen die Kurwürde wie auch die Lehnsrechte, die nicht geregelt waren, erahnen. Die territoriale Abgeschlossenheit der Landesteile mag eine dauerhafte Erbteilung mit der Zeit verfestigt haben. Anfang des 14. Jahrhunderts könnte man nach den Befunden allerdings auch eine noch vorhandene gemeinsame Identität und dynastisches Handeln annehmen: Der Vater der drei Lauenburger lag immerhin in Wittenberg begraben, eine Schwester wurde in Plötzky, das unter dem Einfluss der Wittenberger stand, Nonne und Erich I. möglicherweise durch die Vermittlung der Wittenberger Koadjutor in Passau. Zudem wurde noch 1308 eine Erbverbrüderung zwischen den Linien geschlossen, was eher auf eine enge Zusammenarbeit und eine gewisse Zusammengehörigkeit schließen lässt als auf eine konfliktträchtige familiäre Situation. Erich I., Albrecht III. sowie Johann II. kannten sehr wahrscheinlich durch die Vormundschaft ihres Onkels dessen Söhne in Wittenberg persönlich, sodass eine positive Einflussnahme füreinander gar nicht abwegig sein muss. 16 Franziska Hormuth, Strategien dynastischen Handelns in der Vormoderne. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1296‒1689) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 5), Kiel/Hamburg 2021, Kap. 3.2 und 7.2.1.

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bindung Herzog Erichs V. von Sachsen-Lauenburg mit Elisabeth von Weinsberg, Tochter des kaiserlichen Erzkämmerers Konrad von Weinsberg, wurde erstmals eine Ehe weit außerhalb des regionalen Heiratskreises der Lauenburger geschlossen, dadurch aber der Kontakt an den kaiserlichen Hof intensiviert. Konrad setzte sich für die Interessen seines Schwiegersohnes Erich V. von Sachsen-Lauenburg sowie seines Enkelsohnes Heinrich an dem Erbe in Wittenberg ein.17 Zentral bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit der lauenburgischen Erbansprüche der Lauenburger sowie der Einsetzung Friedrichs von Meißen als Kurfürst von Sachsen durch den Kaiser waren Urkunden der Lauenburger, die eine gemeinsame Belehnung, eine bestehende und kaiserlich konfirmierte Erbverbrüderung sowie eine Privilegienverleihung zum gemeinsamen Erbe nachwiesen.18 Datiert waren alle eingereichten Urkunden vor 1422, dem Zeitpunkt des Aussterbens der Wittenberger. Ausgestellt wurden sie tatsächlich wohl erst danach. Die Anweisungen für die inhaltliche Gestaltung der Urkunde wurden allerdings auch nicht vom Kaiser gegeben, sondern von dem dafür zuständigen Kanzler Konrad von Weinsberg. In seiner Rolle als Kanzler hat er mit den gegebenen Anweisungen seine Kompetenzen nicht übertreten. Die nachträgliche Ausfertigung einer Urkunde zur tatsächlich 1414 erfolgten Belehnung ist an sich nicht ungewöhnlich. Allerdings bedeutete die Unterstützung des Kanzlers einen politischen Einfluss, den die Lauenburger im Jahr 1414, als die eheliche Verbindung mit dessen Tochter noch nicht bestand, nicht hatten.19 Die Frage, ob bei der Lehnsurkunde tatsächlich eine Fälschung vorliegt, lässt sich nicht abschließend beantworten, zumal der Kaiser selbst keine Fälschung vorwarf, sondern dass die Urkunde ohne sein Wissen ausgestellt worden sei. Sigismund hatte ein eigenes Interesse an der Abschwächung beziehungsweise Verneinung der lauenburgischen Erbansprüche, da er Sachsen-Wittenberg als anheimgefallenes Lehen betrachtete und die Rechtmäßigkeit seiner Belehnung der Wettiner nicht anzuzweifeln gedachte.20 Nachdem die verwandtschaftliche Verbindung mit einem einflussreichen kaiserlichen Amtsträger nicht den gewünschten Erfolg gebracht und die Niederlage der Lauenburger im Kampf um das Wittenberger Erbe allgemeine Akzeptanz gefunden hatte, waren die Vertreter der lauenburgischen Dynastie in den folgenden Jahrzehnten am kaiserlichen Hof aktiv eingebunden. Sicherlich gab es Auseinandersetzungen und Verhandlungen, im Zuge derer der Kaiser den Lauenburgern Stra17 Sicherlich bildeten auch andere Belange wie etwa die Auseinandersetzungen mit den Hansestädten Hamburg und Lübeck um die Erbschaft im Teilherzogtum Sachsen-Bergdorf-Mölln weitere Ansatzpunkte für einen ständigen einflussreichen Vertreter für lauenburgische Angelegenheiten am kaiserlichen Hof. Die dort zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen im Kontext der Erbangelegenheiten sowie der Kurwürden waren jedoch alternativlos, da bei diesen rechtlichen Vorgängen der kaiserliche Hof unabdingbar war. 18 Hans-Georg Krause, Rückdatierte Urkunden des Spätmittelalters aus Norddeutschland, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986 (MGH Schriften 33), 5 Bde., Hannover 1988, Bd. 3, S. 461‒500, hier S. 465. 19 Ebd., S. 472. 20 Ebd., S. 473.

Kaiserfern und königsnah?

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fen androhte, weil sein Verbot, das Kurwappen und den Titel des Erzmarschalls zu nutzen, nicht befolgt wurde. Aber der Prozess wurde nicht wieder aufgenommen.21 Aufgrund der Uneinigkeiten bezüglich der Kurwürde wurde nach 1414 kein Herzog von Sachsen-Lauenburg mehr vom Kaiser belehnt.22 Herzog Magnus rollte die Frage nach der Kurwürde wieder auf und wollte unter anderem mit dem Kurfürsten von Sachsen verhandeln, wobei er seinen Verzicht auf die Kur und Obersachsen als Tausch für den Titel des Herzogs von Sachsen anbot. Diese Verhandlungen blieben aber ohne Ergebnis. Auf dem Reichstag von Augsburg 1530 konnte Herzog Magnus vor Kaiser Karl V. dennoch einen Teilerfolg erringen. Er wurde nach mehr als 100 Jahren am 12. November offiziell als „hertzog zu der Lauenburg“ mit dem Text der Urkunden von 1414 belehnt. Den Titel des Herzogs zu Sachsen konnte er in dem offiziellen Dokument zwar nicht durchsetzen, aber der Text, der Grundlage für die Erbansprüche auf Kursachsen war, blieb für die folgenden fünf Privilegienund Lehnsrechtsverleihungen bestehen.23 Erst mit dem beginnenden 17. Jahrhundert nahmen Mitglieder des Herzogshauses von Sachsen-Lauenburg offizielle Ämter am kaiserlichen Hof wahr. Mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges finden sich mehrere nachgeborene Söhne des Herzogs Franz II. im Militärdienst für den Kaiser. Vorreiter war Julius Heinrich, der sich zunächst in schwedischen Diensten früh dem kaiserlichen Heer anschloss. Unter seiner Vermittlung wechselten auch seine Brüder Rudolf Maximilian, Franz Albrecht und Franz Karl in kaiserliche Dienste.24 Aber auch andere Geschwister suchten den Kontakt zum Kaiserhof, so bewarb sich 1631 Franz Julius um den Posten des Reichshofratspräsidenten und die gemeinsame Schwester Maria Franziska Hedwig wurde zur Hofdame der Kaiserin.25 Am erfolgreichsten war jedoch Julius Heinrich, der als Entlohnung seiner militärischen Aufgaben die Herrschaft Schlackenwerth in Böhmen vom Kaiser bekam. Durch weitere Ankäufe, vorteilhafte Eheschließungen und weitere militärische Kampagnen, die zusätzliche Einnahmen 21 Hormuth, Strategien dynastischen Handelns, Kap. 6.1.2. 22 Krause, Urkunden, S. 473. 23 Ebd. 24 Walter Dührsen, Archivalische Erhebungen über die Herzöge von Sachsen-Lauenburg, in: Archiv des Vereins für die Geschichte des Herzogthums Lauenburg 6 (1890), S. 1‒44; HansGeorg Kaack, Die Herzöge Julius Heinrich und Franz Albrecht als kaiserliche Bestallte seit 1617. Die Askanier in Böhmen, in: Krieg und Frieden im Herzogtum Lauenburg und in seinen Nachbarterritorien vom Mittelalter bis zum Ende des Kalten Krieges, hg. von Eckardt Opitz (Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Kolloquium 12), Bochum 2000, S. 139‒173; Peter von Kobbe, Geschichte und Landesbeschreibung des Herzogthums Lauenburg, 3 Bde., Altona 1836/1837, Bd. 3, S. 56 f.; Christopher Freiherr von Warnstedt, Herzoglich Lauenburgische Regimenter in schwedischen Diensten im 17. Jahrhundert, in: Lauenburgische Heimat 37 (1962), S. 1‒10. 25 Petr Maťa, Wandlungen des böhmischen Adels im 17. Jahrhundert und der Aufstieg des Hauses Sachsen-Lauenburg in Böhmen, in: Barockes Erbe. Markgräfin Sibylla Augusta von Baden-Baden und ihre böhmische Heimat, hg. vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 2010, S. 5‒27, hier S. 10; Siegfried Fitte, Franz Albrecht von Sachsen-Lauenburg. Ein Abenteurerleben aus dem Dreißigjährigen Kriege, in: Archiv des Vereins für die Geschichte des Herzogtums Lauenburg 7 (1904), Nr. III, S. 1‒54, hier S. 50.

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mit sich brachten, gelang es Julius Heinrich nicht nur, ein eigenes Auskommen unabhängig von der Dynastie zu erlangen, sondern er erarbeitete sich mit Schlackenwerth eine standesgemäße und überregional bekannte Residenz in günstiger Lage zwischen dem Reich und Prag.26 Die Geschwister am kaiserlichen Hof nutzen ihre Kontakte und Einflussmöglichkeiten auch für dynastische Zwecke: Julius Heinrich schrieb etwa im Jahr 1653 an seinen Bruder August, den regierenden Herzog in Lauenburg, dass er an dem verabredeten Treffen mit diesem doch nicht teilnehmen könne, da er die Interessen der Lauenburger bei dem nächsten Treffen der Kurfürsten, die zur Wahl zusammenkamen, und dem anschließenden Reichstag, bei dem es den Rang des Hauses etwa in Hinblick auf die Session zu wahren galt, vertreten wolle.27 Die Nähe zum kaiserlichen Hof schlug sich etwa auch in den Besitztümern der Lauenburger nieder: Sie hatten sowohl in Prag direkt vor den Toren des Hradschin als auch in Regensburg Palais.28 Im Konnubium spiegelten sich die verstärkten Aktivitäten der Lauenburger am kaiserlichen Hof und die damit verbundene Loslösung von der überwiegend regional im Norden orientierten Politik ebenfalls wider. Unter den Ehepartnern, die in den drei Jahrhunderten zuvor dem regionalen Umfeld des Herzogtums entstammten, finden sich nun Vertreter der Familien der Piccolomini, der Grafen von Württemberg und der Medici, deren Bekanntschaft überwiegend aus dem militärischem Engagement der Lauenburger resultierte.29 Zudem konnten die heiratswilligen Herzogssöhne aus dem Haus Lauenburg am kaiserlichen Hof, einer überregionalen Kontaktbörse zur Vermittlung von Ehen, reiche Witwen von sich überzeugen.30 Julius Franz, dem letzten Herzog von Sachsen-Lauenburg, sollte es gegen den Widerstand der Kurfürsten von Sachsen gelingen, die kaiserliche Erlaubnis zu bekommen, die Kurschwerter im Wappen tragen zu dürfen. Sie wurden im Jahr 1671 in Anlehnung an die Wappen der Ahnen des 15. Jahrhunderts im vierten Feld des

26 Weiterführend siehe Hormuth, Strategien dynastischen Handelns, Kap. 4.3.1.2. 27 Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 210, Nr. 150, Brief vom 24. Mai 1653. 28 Jörg Hillmann, Das Herzogtum Sachsen-Lauenburg von 1500‒1689, in: Herzogtum Lauenburg. Das Land und seine Geschichte, hg. von Eckardt Opitz, Neumünster 2003, S. 148‒230, hier S. 223; Maťa, Wandlungen, S. 12 f. 29 Oliver Auge, Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg und der dynastische Heiratsmarkt in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 148 (2012), S. 119‒152. 30 Das Beispiel Franz Karls wird in den Tagebüchern des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach deutlich dargelegt: „Herzog Frantz Albrecht [sic!] entschuldiget sein der frau burgräfin gegeben parola mit deme, das er zwar gentzlich der intention gewesen, aber weill sie ihn auf ihre mittvormünder gewisen, und er auch vermeldet, das er zuvor sehen wolle, wie die mittell ihres vermögens bestehen, damit sie baide mit reputation leben khünnen, hernach aber befunden, das sich die vormünder in die sach nichts legen wollen, auch die heürath nicht absonderlich verlangen, und das gelt, so die burgrafischen erben der wittib herausgeben solle, nicht so baldt erfolgen khan, habe er sich woll eines anderen resolvieren müeßen, estimire sie sonsten eben sovil alß zuvor.“ Siehe Katrin Keller und Alessandro Catalano (Hg.), Die Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1593‒1667), Bd. 4, Weimar 2010, S. 586 (27. August 1638).

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Wappens aufgenommen, im Gegensatz zu den Kursachsen, welche die Schwerter im Herzstück führten.31 Die Anwesenheit eines Fürsten am kaiserlichen Hof beziehungsweise dessen Kontakte und Unterstützer in der näheren Umgebung des Kaisers waren ein wichtiger Faktor für den Erfolg der politischen Ambitionen, jedoch kein Garant dafür. Bei einem Reiseweg von mehreren Wochen zwischen Fürstentum und Hof waren regelmäßige Anwesenheiten des Fürsten keine Selbstverständlichkeit. Die meisten, vor allem mindermächtigen Fürsten beschränkten ihr Handeln oftmals auf die Nachbarschaft. Ob dies nun Ursache für die Mindermächtigkeit oder deren Resultat war, muss offenbleiben. Der Blick auf die Aktivitäten der Herzöge von Sachsen-Lauenburg am kaiserlichen Hof zeigt, dass die Loslösung von der Region und der regionalen Ausrichtung, etwa durch den Militärdienst, in Richtung des kaiserlichen Hofes einen Erfolg für dynastische Projekte, etwa die Rückgewinnung der Kurschwerter oder auch die hochrangige Ausweitung des Konnubiums, brachte. Die Ausübung von Ämtern am Hof beziehungsweise der Militärdienst sollte sich daher auch auf den Rang des Hauses positiv auswirken, die Versorgung der jüngeren nicht regierenden Brüder durch Sold und lukrative Ehepartnerinnen erleichtern sowie durch die Einflussnahme der letzteren dynastische Projekte vorantreiben. Die Raumverlagerung bedeutete in diesem Fall eine Erweiterung der Handlungsspielräume.

Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg und die Könige von Dänemark Die Kontakte der Herzöge von Sachsen an den dänischen Königshof bestanden schon vor Entstehung der sächsischen Linie der Lauenburger durch eine Landesteilung um 1296, da mit Judith/Jutta von Sachsen die Tante der ersten Herzöge von Lauenburg Johann II., Albrecht III. und Erich I. mit dem König von Dänemark verheiratet war. Auch ihre Mutter Ingeborg war mütterlicherseits mit dem dänischen Königshaus verwandt. Besonders an der vermeintlichen Peripherie des Reiches war eine Mehrfachvasallität nicht ungewöhnlich. Je nach Situation konnte die Entfernung zum Lehnsherrn Vor- und Nachteile mit sich bringen: Ein weit entfernter Lehnsherr ermöglichte weitreichende Freiheiten und Gestaltungsoptionen in Hinblick auf eigene Ambitionen, allerdings war er als starker Bündnispartner oder Schutzmacht zu weit entfernt, als dass er starken Einfluss hätte ausüben können.32 Der Unterschied zwischen dem Lehenswesen im deutschen und im dänischen Reich war die Erblichkeit. In Dänemark waren die Lehen oftmals nicht erblich und konnten durch persönliche Nähe zum Königshaus, Leistungen und Dienste erworben werden.33 Daher konnte es aber auch durchaus vorkommen, dass eine Generation 31 Leuschner, Der Streit um Kursachsen, S. 344; Kobbe, Geschichte 3, S. 84; Hormuth, Strategien dynastischen Handelns, Kap. 6.1.2. 32 Ebd., S. 348. 33 Harald Ehrhard, Lehen. VI. Skandinavien, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 1820 f.

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über ein Lehen verfügte, aber schon in der folgenden Generation nicht mehr auf die Gebiete zugegriffen werden konnte, da diese neu verliehen worden waren.34 Nach einer Landesteilung Anfang des 14. Jahrhunderts, bei der die sachsenlauenburgischen Linien Ratzeburg-Lauenburg und Bergdorf-Mölln entstanden, orientierten sich die beiden Linien an unterschiedlichen konkurrierenden Parteien der Region nördlich des Herzogtums. Während Albrecht III. von Ratzeburg-Lauenburg und nach ihm Erich I. sich eng an den König von Dänemark anlehnten, schloss sich Johann II. von Bergdorf-Mölln Graf Gerhard III. von Holstein an. Johann II. heiratete 1315 dessen Schwester Elisabeth von Holstein.35 Albrecht III. hingegen wurde während seines Aufenthalts am Hof vom dänischen König zum Ritter geschlagen, verstarb aber kurz darauf 1308 in Dänemark, woraufhin sich der Gegensatz zwischen den beiden verbleibenden Brüdern verstärkte.36 So war Johann II. 1319 an der Seite Gerhards bei dessen Zug nach Dithmarschen zu finden und Erich ging 1320 einen Bündnisvertrag mit König Christoph von Dänemark ein.37 In einem Dienstvertrag aus dem gleichen Jahr verpflichtete sich Herzog Erich, für König Christoph 100 Bewaffnete von Lauenburg aus und 60 von der See aus für einen Krieg zur Verfügung zu stellen. Dafür sollte er 1.000 Mark bekommen, seine Kosten und sein Schaden sollten ersetzt und gegebenenfalls anfallende Lösegelder vom dänischen König gezahlt werden.38 Zuvor hatte der König von Dänemark Herzog Erich I. in seine Lehnsdienste aufgenommen und dessen Zusage der Vasallendienste zu Ribnitz empfangen.39 Ein weiterer Dienstvertrag mit Dänemark folgte im Jahr 1327.40 Nach dem Tod Johanns II. von Bergdorf-Mölln 1322 und der erneuten Heirat Elisabeths mit dem dänischen Erben Erik41 zerbrach auch das Bündnis mit den Holsteinern, wobei sich Johanns Sohn Albrecht IV. zunehmend an seinem lauenburgischen Onkel und dem König von Dänemark orientierte. Albrecht IV. von Sachsen-Lauenburg ist seit den 1340er Jahren an der Seite des dänischen Königs Waldemar IV. zu finden, der ihm 1340 die Schenkung des Landes Taasing bestätigte und ihm eine Schuldverschreibung über 1.000 Mark Silber ausstellte.42 Vor allem war aber die an34 Ebd., Sp. 1820 f. 35 Kobbe, Geschichte 2, S. 43. 36 Ebd., S. 40; Jörg Meyn, Zur Dynastie der Askanier. Die askanischen Herzöge von SachsenLauenburg, vornehmlich im 14. Jahrhundert, in: Herrscherwechsel im Herzogtum Lauenburg, hg. von Eckardt Opitz (Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Kolloquium 10), Mölln 1998, S. 289‒320, hier S. 309; Duve, Mittheilungen, S. 114. 37 Kobbe, Geschichte 2, S. 44 und 77. 38 Urkundenbuch [UB] der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande, Tl. 7: Vom Jahre 1390 bis zum Jahre 1394, hg. von Hans Friedrich Georg Julius Sudendorf, Hannover 1871, S. 217 f., Nr. 4 in der Fußnote (1320 Apr. 8). 39 Mecklenburgisches Urkundenbuch, Bd. VI: 1313‒1321, hg. vom Verein für Meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, Schwerin 1870, Nr. 3811, S. 193 (1316 Febr. 29). 40 UB der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 7, S. 220 f., Nr. 6 in der Fußnote (1321 Okt. 5 u. 6). 41 Die Ehe wurde nach nur einem Jahr annulliert. Detlev Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F., Bd. I/2: Přemysliden, Askanier, Herzöge von Lothringen, die Häuser Hessen, Württemberg und Zähringen, Frankfurt a. M. 1999, Taf. 197. 42 Lammert, Kurwürde, S. 312.

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dere lauenburgische Linie eng an das dänische Könighaus angelehnt. Erich II. von Sachsen-Lauenburg schlug möglicherweise während einer gemeinsamen Pilgerfahrt im Jahr 1347 Waldemar von Dänemark am Grab Jesu zum Ritter.43 Schon zuvor hatten Dienstverträge zwischen den beiden bestanden, wie eine Verleihung der Rechte zu Giddesöre (Gedserodde) auf Falster durch König Waldemar beweist.44 Deutlicher wird das Verhältnis zwischen Erich und Waldemar in einem Friedensschluss zwischen der Stadt Lübeck und Herzog Erich für drei Jahre mit dem Hinweis, dass er als Dienstmann des dänischen Königs bei einer Auseinandersetzung mit Lübeck an dessen Seite stehen würde. Vom dänischen König erhielt er Schlösser und Länder als Lehen.45 Bei einem Tag zu Nyköping auf Falster im Jahr 1363 trat der dänische König gemeinsam mit dem Herzog von Sachsen auf.46 Gegenüber Lübeck fungierte Erich ein Jahr darauf als Vermittler des Königs bezüglich dessen Angebot eines Friedensvertrages.47 Im Jahr 1366 unterstützte Erich II. König Waldemar bei militärischen Kampagnen in Schweden und hatte von 1363 bis 1365 die norwegische Festung Bohus und weitere Grenzfestungen zu Schweden unter seinem Befehl.48 Erich II. reiste nach Dänemark und verstarb dort 1368 in Kallundborg. Er wurde zunächst in Restved beigesetzt, aber später nach Ratzeburg überführt.49 Nicht nur Erich II. stand Waldemar nahe, sondern auch dessen Bruder Johann. Mit der Hilfe Waldemars wurde dieser zum Bischof von Kammin erwählt und trat ebenfalls als Unterhändler Waldemars gegenüber den Städten auf.50 Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg waren offenbar nicht nur treue Vasallen, sondern auch mächtige Fürsten innerhalb des dänischen Königreichs. Sie vertraten den König regelmäßig als Unterhändler, etwa bei Verhandlungen mit den Hanse43 Niels Bracke, Die Regierung Waldemars IV. (Kieler Werkstücke A/21), Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 36; Meyn, Zur Dynastie der Askanier, S. 309. Es gibt auch Berichte, dass diese Handlung von einem anderen Reichsfürsten durchgeführt wurde. 44 UB der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 7, S. 221, Nr. 9 in der Fußnote (1349 Mai 17); Meyn, Zur Dynastie der Askanier, S. 315. 45 Die Regesten des Kaiserreichs unter Kaiser Karl IV. 1346–1378, hg. von Alfons Huber (Regesta Imperii 8/1), Innsbruck 1877, Nr. *348, S. 566 (1361 März 6); Urkundenbuch [UB] der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande, Tl. 3: Vom Jahre 1357 bis zum Jahre 1369, hg. von Hans Friedrich Georg Julius Sudendorf, Hannover 1862, Nr. 134, S. 84 f. (1361 März 6); für weitere Beispiele zu den urkundlich nachweisbaren Kontakten zwischen den Lauenburgern und dem dänischen König in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts siehe u. a.: UB der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 7, Nr. 197, S. 216 (1393): Der Bischof von Ratzeburg beglaubigt dem Herzog Erich folgende Urkunden: 1329 der dänische König Christoph verpfändet Albrecht für 1.000 Mark die Münze zu Randers für seine Hilfe; 1329 König Christoph schenkt 1329 (28. September) die Insel Taasing an Albrecht mit der Zustimmung seiner Söhne; 1340 König Christoph verspricht die 1.000 Mark in vier Terminen an Albrecht zurückzuzahlen; 1356 König Waldemar nimmt den jungen Herzog Albrecht in seinen Dienst und verspricht, den im Dienst erlittenen Schaden nach Angaben Herzog Erichs zu ersetzen. 46 Hanserecesse, Abt. 1, Bd. 1, bearb. von Karl Koppmann, Leipzig 1870, S. 224. 47 Bracke, Die Regierung Waldemars, S. 66 und 73. 48 Meyn, Zur Dynastie der Askanier, S. 313. 49 Kobbe, Geschichte 2, S. 94. 50 Bracke, Die Regierung Waldemars, S. 177.

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städten Hamburg und Lübeck, und hielten sich regelmäßig am Hof auf. Im Jahr 1369 schlossen Herzog Erich IV. von Sachsen-Lauenburg und Adolf von Holstein in ihrer Funktion als Vormünder des Reiches einen Vertrag, der die Aufteilung des Königreichs festlegte.51 In einem weiteren Bündnis 1376 zwischen König Olaf von Dänemark, Hakon von Schweden und Margarethe von Norwegen sicherte Herzog Erich seine Hilfe gegen die Herzöge von Mecklenburg zu.52 Im 15. Jahrhundert finden sich kaum konkrete Hinweise auf einen engen Kontakt zwischen den Herzögen von Sachsen-Lauenburg und dem dänischen Königshaus, wobei für dieses Jahrhundert grundsätzlich sehr wenig Quellen überliefert sind.53 Besonders die Vertragswerke rund um größere Konflikte finden sich in der Überlieferung wieder, sodass ein neutrales bis freundschaftliches Verhältnis angenommen werden kann. Allerdings waren die Könige Dänemarks im 15. Jahrhundert durch ihre Aktivitäten in Schleswig und Holstein regional eng an die Gebiete der Herzöge von Sachsen-Lauenburg und an das Reich angebunden, weshalb ein vorhandener Kontakt anzunehmen ist. Die Interessensphären überschnitten sich, sodass eine Art der Kommunikation stattgefunden haben muss, wobei keine Konflikte zwischen diesen Parteiungen bekannt sind. Hinzu kommt die Opposition beider Fürsten zu den Hansestädten Hamburg und Lübeck, die sicherlich einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt bot. Vier überlieferte Kontakte seien als wahrscheinlich exemplarische Handlungen für den gesamten Zeitraum, der, wie beschrieben, durch nur sehr wenige Quellen dokumentiert werden kann, genannt: Im Jahr 1404 vermittelte Königin Margarethe von Dänemark eine Eheschließung zwischen Elisabeth von Holstein und Erich V. von Sachsen-Lauenburg. Als Gegenleistung für die von Margarethe geleistete Mitgift musste Elisabeth das Schloss Apenrade an die Königin abtreten.54 Herzog Bernhard II. schloss 1441 in Kopenhagen mit dem König von Dänemark ein Bündnis.55 Herzog Johann IV. begleitete König Christian I. von Dänemark in dessen Gefolge auf seiner Pilgerreise im Jahr 1474 nach Rom und anschließend nach Köln.56 Für das Jahr 1497 findet sich ein Hinweis darauf, dass Herzog Magnus I. mit 200 Reisigen im Sold König Johanns von Dänemark stand,57 was die Annahme freundschaftlicher Beziehungen und gar eines Dienstverhältnisses stützt. Die erste dynastische Verbindung zwischen der sächsischen Linie der Lauenburger und dem dänischen Königshaus findet sich in der ersten Hälfte des 16. Jahr51 Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 4: 1341‒1375, hg. von Volquart Pauls, Kiel 1924, Nr. 1303, S. 796 (1369 März 3); UB der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 3, Nr. 405, S. 274 (selbes Datum). 52 UB der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg 7, S. 223 f., Nr. 12 in der Fußnote (1376 Nov. 1); Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden, Bd. 6/I: 1376‒1388, bearb. von Werner Carstens und Heinrich Kochendörffer, Neumünster u. a. 1971, Nr. 69, S. 48 (1376 Nov. 1). 53 Siehe Hormuth, Strategien dynastischen Handelns, Kap. 1.2. 54 Ihr Vater Klaus war bereits 1397 verstorben. Kobbe, Geschichte 2, S. 134. 55 Ebd., S. 163. 56 Ebd., S. 186. 57 Ebd., S. 217.

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hunderts. Christian III. rückte erst kurz vor der Eheschließung mit Dorothea von Sachsen-Lauenburg im Jahr 1525, nachdem sein Vater Friedrich I., zuvor Herzog von Schleswig und Holstein, den dänischen Thron übernommen hatte, in der Erbnachfolge in Dänemark nach.58 Dorothea von Sachsen-Lauenburg und Prinz Christian III. heirateten 1525 in Lauenburg gegen den Willen seines Vaters. Ein Teil der Festlichkeiten sowie ein Hopfenmarkt und ein Turnier fanden in der nahegelegenen Stadt Hamburg und nicht in den fürstlichen Residenzen statt.59 Nach dem Tod Friedrichs I. begründeten Christian III., in seiner Funktion als Herzog von Holstein, und sein Schwager Franz I. im Jahr 1533 eine Erbverbrüderung, welche die bestehende eheliche Verbindung als ein weiteres Puzzleteil der dynastischen Verbindungen stärkte. Christian III. schloss diesen dynastischen Vertrag jedoch in seiner Rolle als Reichsfürst, der er als Herzog von Schleswig und Holstein war, nicht als König von Dänemark. Die Gültigkeit dieser Erbverbrüderung stand daher unter dem Vorbehalt der kaiserlichen Konfirmation, die später erlangt werden sollte, sowie der kompletten Auszahlung des Brautschatzes von Dorothea.60 Durch die Notwendigkeit der kaiserlichen Konfirmation wird hier ganz deutlich, dass sich die beiden Fürsten als Reichsfürsten und Vasallen des Kaisers betrachteten und auch als solche agierten. Die persönliche Verbindung der beiden Schwager wurde durch weitere dynastische Handlungen, wie etwa die Patenschaft Christians 1544 für Franz’ Tochter, gepflegt. Im Rang und Ansehen der Herzogswürden versuchten die Lauenburger ihren Nachbarn in nichts nachzustehen, allerdings hatten sie nicht die gleichen territorialen Grundlagen, sodass eine finanzintensive Ausgestaltung der Hofkultur wie in anderen Fürstentümern schwerlich möglich war.61 Spätestens mit dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Vorreiterrolle Dänemarks als Referenz einer regionalen Hegemonialmacht für die Herzöge von Sachsen-Lauenburg durch die Könige von Schweden gebrochen. Die Verbindungen nach Dänemark blieben zwar bestehen, doch weilten die fürstlichen Söhne während ihrer Erziehung mehrheitlich am schwedischen Hof, wo ihre militärischen Karrieren begannen, und traten auch oftmals auf schwedischer Seite in den Dreißigjährigen Krieg ein. Die drei Söhne Franz’ II., Franz Julius, Julius Heinrich und Ernst Ludwig, wurden nach ihrer Ausbildung in Tübingen und Helmstedt zwar auch nach Dänemark und Norwegen entsandt, traten aber bei anderen Herren, überwiegend beim schwedischen König in den Dienst. Lediglich Ernst Ludwig kehrte nach seinem Dienst beim Herzog von Bayern im Jahr 1615 als Oberst in den Dienst des dänischen Königs zurück.62 Mit Franz Karl war ein weiterer Sohn Franz’ II. eben58 Auge, Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg, S. 142 f. 59 Kobbe, Geschichte 2, S. 222. 60 Jörg Hillmann, Territorialrechtliche Auseinandersetzungen der Herzöge von Sachsen-Lauenburg vor dem Reichskammergericht im 16. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe 202), Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 146. 61 Ebd., S. 147. 62 Walter Dührsen, Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Lauenburg, in: Archiv des Vereins für die Geschichte des Herzogtums Sachsen-Lauenburg 3 (1890), Nr. I, S. 65‒70, hier S. 67 f.; Kobbe, Geschichte 2, S. 410.

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falls, aber nur sehr kurzzeitig in dänischen Diensten, als er 1626 Truppen für den dänischen König warb.63 Dynastische Projekte verbanden vor allem in einer gewissen regionalen Nähe die meisten ansässigen Fürstenhäuser, sodass die weitverzweigte Verwandtschaft oftmals die Funktion von Vermittlern einnahm. Den innerdynastischen Erbvertrag der Lauenburger aus dem Jahr 1619, der die Erbfolge nach dem Tod Herzog Franz’ II. und die Einführung der Primogenitur festlegte, vermittelte auf Bitten der Herzoginwitwe Maria König Christian IV. von Dänemark.64 Auch in den folgenden Streitigkeiten zwischen den Brüdern um das Erbe ihrer Mutter, wobei es um deren Anspruch auf Neuhaus aus der darauf verschriebenen Mitgift Marias in Höhe von 20.000 Reichstaler plus Widerlage ging, findet sich Christian als Vermittler. Unter seiner Leitung kam 1635 der Kompromiss zustande, dass Franz Karl Neuhaus und Joachim Sigismund Franzhagen als Residenzen bekommen sollte.65 Die Interaktion der Herzöge von Sachsen-Lauenburg mit den Königen von Dänemark war naheliegend, da sich jene im regionalen Kontaktbereich der Herzöge befanden und als Herzöge in Schleswig und Holstein zeitweise zu den direkten Nachbarn gehörten. So finden sich enge Kontakte nach Dänemark über den gesamten Untersuchungszeitraum. Die Könige von Dänemark waren oftmals selbst Reichsfürsten und alles andere als reichsfern,66 sodass eine Anlehnung an die dänische Königskrone keineswegs einen Gegensatz zur Rolle der Lauenburger als Reichsfürsten darstellte, sondern eher eine Zuordnung zu einer regionalen Hegemonialmacht im Norden war, auch über die Grenzen des Reichs hinaus.

Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg und das Königreich Schweden Nachdem Gustav Vasa am 6. Juni 1523 zum König von Schweden gekrönt worden war und damit die dänische Herrschaft endgültig beendet hatte, war eines seiner Anliegen seine dynastische Integration in die fürstlichen Heiratskreise des Ostseeraums.67 Zur ersten Wahl seiner potenziellen Ehepartnerinnen gehörte unter anderem eine Tochter des Herzogs von Mecklenburg. Da Vasa als Emporkömmling galt, wurden seine Gesuche abgelehnt.68 Nach einer achtjährigen Suche und langen Verhandlungen heiratete Gustav Vasa am 29. September 1531 in der Stockholmer 63 64 65 66

Kobbe, Geschichte 2, S. 410. Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM), 4 f SL 12. Kobbe, Geschichte 3, S. 4. König Waldemar IV. verbrachte beispielsweise seine Kindheit und Jugend am kaiserlichen Hof und agierte mit einer Vielzahl an Reichsfürsten innerhalb der Reichspolitik. 67 Auge, Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg, S. 143. 68 Hans-Jürgen Vogtherr, „… eine frissche parsone, recht na Juwer gnade geiste …“. Gustav Vasas Werbung um Katharina von Sachsen-Lauenburg 1530/1531 im Spiegel der Briefe seines Lübecker Faktors Hinrick Niebur, in: Gemeinsame Bekannte. Schweden und Deutschland in der Frühen Neuzeit, hg. von Ivo Asmus, Heiko Dorste und Jens E. Olesen (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 2: Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte 4), Münster 2003, S. 17‒33, hier S. 17.

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Nikolai-Kirche Katharina von Sachsen-Lauenburg, Tochter von Magnus I. von Sachsen-Lauenburg. Die Herzogsmutter Katharina von Braunschweig-Wolfenbüttel war engagierte Katholikin, wie auch ihre Verwandtschaft, die nicht nur enge Kontakte zum Kaiser pflegte, sondern sich auch für die Einsetzung von Vasas politischen Gegnern in Schweden stark machte. Denn ursprünglich hatte eine Tochter aus dem Hause Sachsen-Lauenburg nicht zur Wahl gestanden.69 Die Verhandlungen wurden aufgrund der Uneinigkeit über die Modalitäten des Ehevertrages, insbesondere über die Regelungen für ein mögliches Exil Vasas und seiner zukünftigen Ehefrau, kontrovers geführt. Die Forderung von Herzog Magnus für seine Tochter waren nicht nur ein Leibgeding in Schweden, das jährliche Erträge von 3.000 Gulden abwarf, sondern zudem ein zweites Leibgeding im Wert von 60.000 Gulden in Lauenburg, falls das Ehepaar ins Exil gehen müsste. Die Verhandlungen wurden zunächst 1530 von Gustav Vasa abgebrochen, da nicht nur der Herzog auf diesen Forderungen bestand, sondern vor allem dessen Ehefrau Katharina, die mit einer wohl recht resoluten Meinung in die Verhandlungen integriert war.70 Im Jahr 1531 wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, und unter der Bürgschaft der Vertreter Lübecks, welche die Vermittlungen organisiert hatten, kam eine Einigung zustande.71 Bezüglich des Leibgedings einigte man sich dahingehend, dass Katharina ein Leibgeding in Öland, Kalmar und Korsholm mit jährlichem Einkommen von 3.000 Gulden bekam. Sollte sie im Falle ihrer Witwenschaft ihr Leibgeding abgeben wollen, so stünden ihr 40.000 Gulden zu, zahlbar in Lübeck oder einer anderen Stadt im Reich.72 Mit Katharina und ihrer Schwester Dorothea waren ab 1531 nun Schwestern aus dem Hause Lauenburg die Königinnen von Schweden und Dänemark, wobei deren Rolle als Kontaktträgerinnen dynastischer Interessen aufgrund von Katharinas frühem Tod kaum Bedeutung erlangen konnte. Katharina verstarb nur vier Jahre nach der Eheschließung 22-jährig, gebar Gustav Vasa allerdings 1533 den Sohn Erik, der ihm als König von Schweden folgen sollte. Gustav Vasa heiratete ein Jahr später erneut und bekam mit seiner zweiten Gemahlin fünf Söhne und fünf Töchter. Seit 1560 regierte Erik  XIV. als Erbe seines Vaters und hielt die Kontakte zur Familie seiner Mutter aufrecht. So befand sich sein noch jugendlicher Cousin Magnus II. von Sachsen-Lauenburg an seinem Hof. Magnus war der älteste Sohn von Herzog Franz I., dem Bruder von Eriks Mutter, und diente nach seiner Erziehung am schwedischen Hof dem dortigen Militär.73 Gegen Dänemark agierte er als – erfolgloser – Oberbefehlshaber, verlor diese Stellung jedoch zügig wieder und lebte erneut am schwedischen Königshof. Im Jahr 1568 heiratete Magnus mit Sophie von Schweden eine Tochter aus der zweiten Ehe Gustav Vasas und Halbschwester König Eriks, wobei Letzterer der Braut eine enorme Mitgift von 100.000 Reichstaler zur Verfügung stellte.74 Diese Zahlungen sollten der Siche69 70 71 72 73 74

Hillmann, Auseinandersetzungen, S. 120. Vogtherr, … eine frissche parsone, S. 20 f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Kobbe, Geschichte 2, S. 306 f. LASH, Abt. 210, Nr. 18.

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rung der Herrschaft von Magnus II. in dem umfänglich verschuldeten Herzogtum Lauenburg dienen. Von der Mitgift wurden jedoch zuvor 12.000 Reichstaler der ausstehenden Ehegelder aus der Verbindung von Katharina von Sachsen-Lauenburg mit Gustav Vasa, die 37 Jahre zuvor stattgefunden hatte, einbehalten.75 In den Ämtern Tremsbüttel und Steinhorst sollten die Pfandschaften ausgelöst und als Leibgeding Sophies gesichert werden.76 Aus Schweden gab es für Magnus II., wie soeben bereits angerissen, eine derart hohe Mitgift, die ausdrücklich zur Entschuldung des Herzogtums eingesetzt werden sollte, um einen erstarkten Bündnispartner an der so wichtigen strategischen Stelle an Dänemarks Südgrenzen zu gewinnen. Durch die Schuldentilgung sollte die Rolle des Herzogs wieder gestärkt werden.77 Allerdings verließ Sophie den schwedischen Hof zugunsten einer Residenz im Lauenburgischen zu keinem Zeitpunkt der Ehe. Magnus löste die Pfandschaften nicht aus und sicherte ihr weder Leibgeding noch Wittum im Herzogtum. Dort konnte er seine Herrschaft trotz der enormen finanziellen Mittel nach langen, auch militärisch geführten Auseinandersetzungen und trotz der Unterstützung aus Schweden nicht gegen seinen jüngeren Bruder Franz II. durchsetzen.78 Während der Auseinandersetzungen konnte Magnus II. immer wieder in Schweden Asyl in Anspruch nehmen und fand dort trotz zunehmender Kritik, unter anderem an seinen charakterlichen Diskrepanzen, seinem Lebensstil sowie der Behandlung seiner Ehefrau, immer wieder Unterstützung und ein Auskommen.79 Auf der Rückreise von Schweden ins Herzogtum Lauenburg wurde der verkleidet reisende Magnus II. allerdings vom dänischen König Friedrich II. festgenommen. Erst nach Interventionen aus dem schwedischen Königshaus kam er Anfang Oktober 1572 wieder frei.80 Nach seiner Niederlage im Kampf um das Herzogsamt zog er sich auf seine Güter nach Schweden zurück, wurde aber bald als unliebsamer Gast mit Gütern auf der Insel Oesel belehnt. Sein dortiges Vorgehen führte letztlich doch zum Verlust der Unterstützung seines Schwagers, sodass er 1588 nach Lauenburg zurückkehrte, erneut mit seinem militärischen Eingreifen scheiterte und bis zu seinem Tod 1603 von seinem Bruder Franz II. in Ratzeburg gefangen gesetzt wurde.81 75 Kobbe, Geschichte 2, S. 263; LASH, Abt. 210, Nr. 18. 76 Otto Scharnweber, Franz II. Herzog von Sachsen-Lauenburg 1584‒1619 (Lauenburgische Heimat, Sonderheft), Ratzeburg 1960, S. 18. 77 Auge, Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg, S. 136. 78 Kobbe, Geschichte 2, S. 268; Scharnweber, Franz II., S. 22. 79 Negative Berichte über Magnus II. gibt es zahlreiche, bei denen besonders im Kontext der Auseinandersetzung zwischen den lauenburgischen Brüdern ein Teil Verleumdung gewesen sein dürfte. Die Verdeutlichung, wie unrechtmäßig das Vorgehen von Magnus II. gewesen war, um die Maßnahmen des letztlich siegreichen Franz II. gegen seinen Bruder zu legitimieren, umfasste auch die deutlichen Aussagen bezüglich dessen Verfehlungen. Allerdings sind über Magnus auch Berichte über dessen Grausamkeit, dessen unschickliches Benehmen und Ausschweifungen aus Schweden bekannt, die kaum Interesse an dessen Schmähung gehabt haben dürften, sodass man von Übertreibungen, aber auch einem wahren Kern ausgehen kann. Siehe zu den Berichten u. a. Scharnweber, Franz II., S. 15. 80 Kobbe, Geschichte 2, S. 268 f. 81 Ebd.; Hillmann, Auseinandersetzungen, S. 168.

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Gegen diese Maßnahme Franz’ II. wurde weder von Sophie noch von ihrem königlichen Bruder Einspruch erhoben.82 Gustav, der Sohn von Magnus II., wurde nach seinem schwedischen Großvater benannt und lebte überwiegend bei seiner Mutter Sophie in Stockholm. Die Familie von Magnus II. wurde von der Verwandtschaft seiner Frau in Schweden versorgt. Für Gustav machte sein königlicher Onkel Johann III. von Schweden die Erbansprüche im Herzogtum Lauenburg bei der kaiserlichen Kommission geltend, worüber jedoch nicht endgültig verhandelt wurde.83 Trotz der Gefangenschaft seines Vaters und seines verlorenen Erbes in Lauenburg unterhielt Gustav Kontakt zu seiner Verwandtschaft im Herzogtum. Über die Familie seiner Mutter wurde er als Gouverneur von Kalmar versorgt und versuchte von Schweden aus, seine Erbansprüche etwa über Kontakte zu seinem Onkel Moritz, der oftmals in Opposition zu dem regierenden Franz II. stand, geltend sowie die Gefangenschaft seines Vaters publik zu machen und zu beenden.84 Er war zudem in Begleitung seines Onkels Moritz im Jahr 1592 beim kaiserlichen Hoflager in Prag zu finden. Gustav starb vorzeitig 1597 im Alter von 27 Jahren bei einem Unfall mit einem Gewehr.85 Eine weitere wichtige Verbindung zum schwedischen Königshaus war der Militärdienst, in dem sich schon Herzog Franz I. befunden hatte. Er diente allerdings sowohl unter seinem schwedischen Schwager als auch im kaiserlichen Heer mit wenig Erfolg.86 Franz II. scheint freundschaftliche Kontakte nach Schweden unterhalten zu haben, obwohl er in Opposition zu seinem vom schwedischen König unterstützten Bruder Magnus stand. Franz’ Sohn Franz Albrecht wurde am schwedischen Hof erzogen.87 Franz II. hatte zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges neben dem Erben August noch acht weitere Söhne im Alter zwischen 15 und 35 Jahren.88 Diese versuchten, ihren Unterhalt in militärischen Diensten zu sichern, wobei sich eine gewisse Flexibilität sowohl in Hinblick auf den Dienstherren als auch die religiöse Ausrichtung herauskristallisierte. Julius Heinrich trat als Erster in kaiserliche Dienste, wobei ihm bald einige Brüder folgten, andere blieben länger etwa in schwedischen Diensten. Auch war es Julius Heinrich, der als Erster konvertierte und sich an der Gründung des katholischen Ritterordens Ordo Militiae Christianae beteiligte.89 Wie erwähnt, sind zahlreiche seiner Söhne– vor allem am Anfang ihrer Laufbahn – in schwedischen Diensten zu finden. 82 83 84 85 86 87 88 89

Kobbe, Geschichte 2, S. 358. Ebd., S. 332. Hillmann, Auseinandersetzungen, S. 168. Kobbe, Geschichte 2, S. 360. Zu seinen Nachkommen in Schweden, die zwar mit dem Namen auf ihre Herkunft aus Sachsen-Lauenburg verwiesen, dort aber keine Rolle mehr spielten, siehe Schwennicke, Europäische Stammtafeln N. F. I/2, Taf. 199 D: Rutenkrantz in Schweden. Kobbe, Geschichte 2, S. 305. Ebd., S. 410. Details zu den militärischen Karrieren bei Warnstedt, Herzoglich Lauenburgische Regimenter. Maťa, Wandlungen, S. 9.

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Franziska Hormuth

Julius Heinrich wurde mit der Herrschaft Schlackenwerth entlohnt und verblieb im kaiserlichen Dienst. Für seinen Bruder Franz Albrecht endete der Dienst beim Kaiser mit der Belehnung mit Hadersleben, die er allerdings nicht gegen den dänischen König durchsetzen konnte. Er bat um seine Entlassung und war spätestens 1632 wieder in die Dienste des schwedischen Königs getreten,90 nahm an der Schlacht zu Lützen teil und war wohl Zeuge des Todes König Gustav II. Adolfs.91 Der dritte Bruder Franz Karl92 versuchte, zunächst noch in schwedischen Diensten, neben dem Militärdienst über Ehen mit (reichen) fürstlichen Witwen ein eigenes, von der Familie unabhängiges Auskommen zu finden und heiratete im Jahr 1628 die Witwe des Herzogs von Pommern, Agnes von Brandenburg. Die Mitgift betrug 20.000 Gulden, wobei deren Residenzrecht in ihrem Wittum Barth ein zusätzlicher lukrativer Aspekt gewesen sein dürfte. Während einer Belagerung Barths fand die Hochzeit statt, mit der Franz Karl Agnes’ Schutz sicherstellte.93 Agnes starb nur ein Jahr nach Hochzeit, wobei Franz Karl noch 1636 in Verhandlungen mit Herzog Bogisłav von Pommern um die Auszahlung der vertraglich zugesicherten Ehegelder aus dem Ehevertrag zwischen Agnes und ihrem ersten Ehemann Philipp Julius von Pommern stand und deswegen Barth als Pfand besetzt hielt.94 Im Zuge der Eroberungen Gustav II. Adolfs in Pommern verlieh er Franz Karl Barth als Lehen, das dieser allerdings nicht dauerhaft für sich behaupten konnte.95 Nur Franz Heinrich, ein weiterer Bruder der bisher Genannten, diente ausschließlich auf schwedischer Seite. Er erhielt ähnlich wie seine Brüder in kaiserlichen Diensten als Entlohnung Gebiete in unterlegenden Fürstentümern – in diesem Fall das ehemals pommersche Kloster Marienfließ.96 Auch in der folgenden Generation absolvierte mit Franz Erdmann ein Lauenburger seine militärische Laufbahn in schwedischen Diensten, obwohl mit den Neuerwerbungen von seinem Vater in Böhmen der regionale Schwerpunkt der Dynastie weg vom Norden in Richtung des kaiserlichen Hofes in Prag und Wien gewandert war. Franz Erdmann war einer von nur zwei männlichen Lauenburgern dieser Generation. Als Könige einer europäischen Adelsgesellschaft im 17. Jahrhundert blieben die Schweden wichtige Kontaktpartner, nicht nur für die Lauenburger.

90 Fitte, Franz Albrecht, S. 2‒11. 91 Ebd., S. 15. In der Literatur, etwa bei Conrad Ferdinand Meyer, Gustav Adolf ’s Page. Novelle, Leipzig 1883, nimmt er oftmals den Part des Bösewichtes oder des Mörders des Königs ein, auch wenn nachgewiesen ist, dass er mit dem Tod des Königs nichts zu tun hatte. 92 Ein Enkelsohn Franz Karls, der aus einer außerehelichen Verbindung hervorgegangen war, befand sich noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Oberst in schwedischen Diensten. Siehe Hermann Mayer, Zur Familiengeschichte derer von Rautenkranz als Nachkommen Herzog Franz Karls, in: Lauenburgische Heimat 10 (1934), Nr. II, S. 37‒43, hier S. 38. 93 LASH, Abt. 210, Nr. 124 I. 94 LASH, Abt. 210, Nr. 124 I, Brief vom 11. Mai 1636, sowie LASH, Abt. 210, Nr. 124 II. 95 Warnstedt, Herzoglich Lauenburgische Regimenter, S. 4. 96 Fitte, Franz Albrecht, S. 3; Kobbe, Geschichte 2, S. 410.

Kaiserfern und königsnah?

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Kaiserfern und königsnah? Für viele Fürsten besonders im Norden des Reichs, die im regionalen Rahmen um eine Hegemonialstellung konkurrierten, stellte das Reich und mit ihm der kaiserliche Hof nicht den einzigen respektive wichtigsten Bezugspunkt dar, an dem die auswärtigen Bündnisoptionen ausgerichtet wurden. So waren auch die Königreiche Dänemark und Schweden bedeutsame Referenzmächte, die durch die geographischen Gegebenheiten naheliegender waren als der Hof im fernen Süden. Die Anlehnung an Hegemonialmächte fand im regionalen Raum über die Bindung durch dynastische Ressourcen statt, seien es Eheschließungen, Erbverbrüderungen oder auch die gemeinsame Organisation zwecks Versorgung der Familienmitglieder. Der im Ostseeraum lange dominante Königshof in Dänemark fand ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in dem Königshof in Schweden eine Konkurrenz. Eine Raumverlagerung beziehungsweise -erweiterung der dynastischen Kontakte der Herzöge von Sachsen-Lauenburg im regionalen Bezugsraum der Ostseeregion geschah durch die Ehen von Katharina mit Gustav Vasa und von Magnus II. mit dessen Tochter Sophie. Der Kaiser fungierte eher als überregionaler Bezugspunkt, als Akteur mit schwankender Bedeutung, der je nach dynastischer Interessenslage der Herzöge von Sachsen-Lauenburg an Bedeutung gewann oder wieder verlor, wie das Beispiel des Kampfes um die Kurwürde aufzeigt. Wegen der Entfernung kam es kaum zu ehelichen Verbindungen mit der kaiserlichen Familie und deren Umgebung. Eine Ausnahme bildete die Ehe mit Elisabeth von Weinsberg. Erst mit dem 17. Jahrhundert gewann der kaiserliche Hof als Ort der Versorgung der zahlreichen nachgeborenen Kinder eine neue Bedeutung, wobei hier nicht nur Karrieren in kaiserlichen Diensten der Weg ins eigene Auskommen waren, sondern auch gewinnbringende Ehen vermittelt und geschlossen wurden. Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg, ihre Ehefrauen, Söhne und Töchter bildeten somit ein informelles Bindeglied zwischen den skandinavischen Königshäusern und dem Reich. Im 14. Jahrhundert dienten sie vor allem als Vasallen mit einer starken persönlichen Bindung zu den jeweiligen Königen in Dänemark. Als Ehepartner waren sie im 16. Jahrhundert mit dem Könighaus in Dänemark und der neu entstehenden Großmacht Schweden verbunden. Spätestens mit den ersten verwandtschaftlichen Beziehungen über die Ehen der beiden Töchter von Franz I. wurden die Höfe in Kopenhagen und Stockholm zudem für die Erziehung der fürstlichen Kinder genutzt. Im Rahmen des Dreißigjährigen Krieges dienten die Brüder des neutral gebliebenen Herzogs August in beiden Lagern und wurden oftmals als Diplomaten für Unterhandlungen eingesetzt. Über den gesamten Untersuchungszeitraum finden sich ferner lauenburgische Herzöge als Unterhändler und Vermittler der dänischen Könige wieder, aber umgekehrt lassen sich auch Mitglieder des dänischen Königshauses in dieser Funktion bei Verhandlungen der Herzöge von Sachsen-Lauenburg nachweisen. Nach der Niederlage im Kampf um die Kurwürde gegen die sächsische Linie der Wittenberger in den 1360er Jahren und dem erneuten Misserfolg gegen die

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Markgrafen von Meißen in den 1420er Jahren verschwanden die Lauenburger aus der Reichspolitik, an der sie zuvor nur sporadisch teilgenommen hatten. Ihre zahlreichen dynastischen Kontakte führten die Herzöge kaum an den kaiserlichen Hof, ihre Aktivitäten beschränkten sich überwiegend auf den regionalen Raum der umliegenden Fürstentümer. Setzt man den Fokus der Betrachtung ausschließlich auf die politische Ausrichtung des Fürstentums in seiner Funktion als Teil des Reiches, muss also eine gewisse Kaiserferne konstatiert werden. Erst als die regionalen Zuschnitte aufbrachen und zusätzliche böhmische Besitzungen beziehungsweise das Loslösen jüngerer Brüder, die keine Aussicht auf die Regierung hatten, von der väterlichen regionalen Zuordnung zu beobachten ist, werden erste engere Kontakte an den kaiserlichen Hof und eine regelmäßige Anwesenheit sichtbar. Der Erfolg einer militärischen Karriere zur Versorgung nicht regierender Söhne beziehungsweise Brüder war neben den eigenen Befähigungen vom Erfolg des Dienstherrn abhängig. Julius Heinrich entschied sich nach einer kurzen Zeit im schwedischen Dienst früh für den Dienst im kaiserlichen Heer, in dem er ein vom Herzogtum unabhängiges Auskommen fand. Sein Bruder Franz Karl diente bei der schwedischen Landung in Pommern unter Gustav II. Adolf. Von diesem wurde Franz Karl mit dem von ihm gewünschten Land Barth belehnt. Nach dem Tod des schwedischen Königs konnte er die Besitzung allerdings nicht halten und zog sich auf eine Residenz im Herzogtum Sachsen-Lauenburg zurück, bevor er unter Vermittlung seiner Brüder in kaiserliche Dienste eintrat. Die Schlaglichter, die hier durch einzelne Beispiele aufgeführt wurden, zeigen nur einen Ausschnitt aus den vielfältig verwobenen Kontakten und Einflüssen der Höfe und deren Akteure untereinander. In einer personenzentrierten Adelsgesellschaft mit der Dynastie als zentralem Medium der Herrschaft, legitimiert durch ein Amt, waren die mindermächtigen Fürsten an die Region gebunden.

Frederieke Maria Schnack

In die Kirche, aus den Augen, aus dem Sinn? Abgeschichtete Söhne des Hauses Holstein-Schaumburg als Bischöfe und die Bedeutung ihrer Handlungsspielräume für die Dynastie

Abstract Among the various potentials of regional history, one of the most important advantages is the chance to use variable spatial concepts depending on the object of investigation. This can be proved by looking at medieval dynasties and especially at those descendants who entered the clergy and obtained episcopal sees both near and far from the dynastic territory. Hence, the purpose of this study is to examine the Earls of Holstein-Schaumburg and primarily those members of the family who were able to rule a diocese and its prince-bishopric. Questions such as the following are tackled: How many men from the different parts of the dynasty became bishops or at least elects and how can their familial background, e. g. the number of brothers and sisters including their careers, be characterised? In which situations can we observe a cooperation between the clerics and the relatives who remained secular and ruled the earldom? What did these forms of cooperation look like? Who could expect to profit from those relationships and what impact did they have on both the bishops’ and the earls’ rooms for manoeuvre? Thus, the study not only contributes to further research about the House of Holstein-Schaumburg, but also shows how dynastic and clerical history can be approached coherently by using methods of regional history in order to understand how different political areas were connected by noble kinship.

Hinführung Das Jahr 1366 hielt einen schweren Schicksalsschlag für die Grafen von HolsteinSchaumburg1 bereit: Gleich zwei Mitglieder dieser Dynastie verstarben auf einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. Auch wenn Adolf VIII. und sein als Mindener Bischof wirkender Bruder Gerhard (* nach 1330) fernab der Heimat auf oder bei Zypern den 1 Für diese Dynastie ist nördlich der Elbe die Bezeichnung „Holstein-Schauenburg“ geläufig, während südlich der Elbe, d. h. im Weserraum, wo sich auch der Stammsitz der Familie befand, „Holstein-Schaumburg“ verwendet wird. Dies illustrieren bereits die beiden zumeist auf die jeweilige Region fokussierten Sammelbände, die sich in den vergangenen Jahren dem Grafenhaus gewidmet haben: Oliver Auge und Detlev Kraack (Hg.), 900 Jahre Schauenburger im Norden. Eine Bestandsaufnahme (Quellen und Forschungen zur Geschichte SchleswigHolsteins 121; zeit + geschichte 30), Kiel/Hamburg 2015; Stefan Brüdermann (Hg.), Schaumburg im Mittelalter (Schaumburger Studien 70), Bielefeld 2014. Da, wie im Folgenden deut-

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Tod fanden und die Nachricht ihres Ablebens erst mit einiger Verzögerung in ihre Herrschaftsgebiete gelangte, war der Chronist Hermann von Lerbeck (* um 1345, † um 1410), der das Ereignis in seiner Cronica comecie Holtsacie et in Schouwenbergh und im Catalogus episcoporum Mindensium erwähnte, nicht um einen Bericht zum Unternehmen und zu seinem traurigen Ausgang verlegen. Hermann verzeichnete den Tod der beiden Protagonisten und seinen Zusammenhang mit der Pilgerfahrt, kritisierte die Abreise des Bischofs aus seinem Bistum2 und widmete jedem der Brüder einige Verse, die in Gerhards Fall dessen episkopale Herrschaft insgesamt aber doch lobten3 und bei Adolf zumindest seinen Tod in lyrischer Form nannten.4 Allenfalls eine Randnotiz dieser Episode ist, dass die drei jüngeren Handschriften des Catalogus eine deutlich umfassendere, jedoch eher sagenhafte Version dieses Vorfalls enthalten.5 Abseits dessen zeigen Hermanns Schilderungen, dass sich hier lich werden wird, die im vorliegenden Aufsatz thematisierten Personen fast ausnahmslos dem südlich der Elbe ansässigen Zweig der Familie zuzurechnen sind, wird die in diesem Raum gebräuchliche Bezeichnung „Schaumburg“ verwendet. 2 Hermann von Lerbeck, Cronica comecie Holtsacie et in Schouwenberg, hg. von Sascha Hohlt, Kiel 2012, hier S. 120, Z. 19‒21. Hermann beklagt hier, dass Gerhard seine Diözese „ach! fast wie eine Witwe“ zurückgelassen habe: „Gerhardus uero secundus genitus, eiusdem propositi ecclesiam et sedem suam heu quasi uiduam derelinquens in mari cum sancto Clemente diem clausit extremum.“ Im Catalogus episcoporum Mindensium heißt es, Gerhard sei ins Heilige Land gereist, während sein Bistum sich in einem verzweifelten Zustand – „in magnam suae ecclesiae desolationem“ – befunden habe. Siehe Hermanns von Lerbeck „Catalogus episcoporum Mindensium“, in: Die Bischofschroniken des Mittelalters (Hermanns v. Lerbeck Catalogus episcoporum Mindensium und seine Ableitungen), hg. von Klemens Löffler (Mindener Geschichtsquellen 1), Münster 1917, S. 17‒90, hier S. 74. Dieses Werk wird fortan zitiert als: Catalogus episcoporum Mindensium. 3 Catalogus episcoporum Mindensium, S. 74: „Tandem anno Domini MCCCLXVI. cum fratre suo Adolpho, comite de Schowenborch, in magnam suae ecclesiae desolationem ad terram sanctam vadens in mari clausit diem extramum in vigilia sancti Michaelis, de cuius commendatione versus exstant: Hic est Gerhardus de Schowenborch nullibi tardus, / Qui cum processit, prudenter singula gessit. / Clerum Mindensem bene rexit clavem et ensem, / Oppida construxit destructaque castra reduxit. / In mensa princeps, in militia fuit anceps, / Cur sibi non poena, sed sit Domini, peto, coena.“ Zu den fast wortgleichen Versen im anderen chronikalischen Werk Hermanns von Lerbeck: Cronica comecie Holtsacie et in Schouwenberg, S. 122, Z. 7‒12; zu Gerhards Pilgerreise ebd., S. 120. 4 Catalogus episcoporum Mindensium, S. 75: „Obiit autem comes Adolphus in Famagustate, civitate Cypri, in vigilia sancti Edewardi confessoris eodem anno, unde de eo tales exstand versus: Ter CCC milleno sexageno quoque sexto / Adolphus dictus comes Schowenborch benedictus / Octobris pleno surgente die duodeno / Emisit flatum Domino gratumque beatum.“ Dazu, allerdings mit falscher Datierung auf 1370: Cronica comecie Holtsacie et in Schouwenberg, S. 120, Z. 15‒18. 5 Diesen Fassungen zufolge soll Adolf auf Zypern im Kampf „contra infideles“ zu Tode gekommen sei, woraufhin ein dortiger Fürst den Leichnam habe zerteilen, braten und mit aromatischen Kräutern in einer kostbaren Tumba zurück in den Weserraum senden lassen. Dort habe man die Überreste des Grafen in der Mindener Kathedrale beigesetzt: Catalogus episcoporum Mindensium, S. 75, Anm. a. Laut Lerbecks Cronica comecie Holtsacie et in Schouwenberg, S. 120, Z. 13, ist Adolf aber im Dominikanerkonvent auf Zypern begraben worden. In Handschrift A, die Ende des 14. Jahrhunderts entstanden und vom Herausgeber Klemens Löffler als Basis seiner Edition gewählt worden ist, findet sich diese Episode nicht. Vgl. zur

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zwei Brüder, die hinsichtlich ihres herrschaftlichen Wirkens und ihrer Bedeutung für die eigene Dynastie höchst unterschiedliche Positionen besetzten, gemeinsam einem langfristigen und gefährlichen Unternehmen widmeten. Während der 1330 erstmals urkundlich erwähnte Adolf6 nach dem Tod seines gleichnamigen Vaters7 1353 die Regierung der Grafschaft Schaumburg übernommen hatte, war Gerhard als mutmaßlich ältester von drei nachgeborenen Söhnen in den geistlichen Stand getreten und hatte mehrere geistliche Würden in der Diözese Minden erworben, ehe er Mitte der 1350er Jahre als Generalvikar des häufig abwesenden Mindener Bischofs Dietrich von Portitz († 1367)8 dessen Bistum verwalten und diesem nach dessen Transferierung auf die erzbischöfliche Kathedra von Magdeburg sogar selbst als Mindener Kirchenfürst nachfolgen konnte.9 Die gemeinsame Pilgerreise der beiden Schaumburger legt nahe, dass Adolf auch nach der Abschichtung seines Bruders zu diesem weiterhin engere Kontakte mindestens auf persönlicher Ebene pflegte. Da das Hochstift Minden als Gerhards weltlicher Machtbereich zudem direkt an der westlichen Grenze der Grafschaft Schaumburg gelegen war, dürften sich zusätzliche politische Verbindungen ergeben haben, möglicherweise erwuchsen Adolf auch herrschaftliche Vorteile aus der Stellung seines Bruders im geistlichen Fürstentum jenseits der Weser. Genau diese Auswirkungen adliger Abschichtungspolitik sollen im Folgenden untersucht werden. Insbesondere der Erwerb eines Bischofsamtes war an einen

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Handschrift A die editorischen Anmerkungen in: Die Bischofschroniken des Mittelalters (Hermanns v. Lerbeck Catalogus episcoporum Mindensium und seine Ableitungen), hg. von Klemens Löffler (Mindener Geschichtsquellen 1), Münster 1917, S. XV. Helge Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie. Stammtafeln der Grafen von Holstein und Schaumburg – auch Herzöge von Schleswig – bis zu ihrem Aussterben 1640, Melle 21999, Nr. 74, S. 96‒98. Zu Adolf VII. siehe ebd., Nr. 66, S. 89‒91. Zu Dietrich, der u. a. als Berater Kaiser Karls IV. tätig und daher oft in Böhmen oder auf Gesandtschaftsreisen, etwa an die Kurie, unterwegs war, siehe bspw. Jiří Fajt und Michael Lindner, Dietrich von Portitz. Zisterzienser, kaiserlicher Rat, Magdeburger Erzbischof. Politik und Mäzenatentum zwischen Repräsentation und Askese (ca. 1300–1367), in: Die Altmark von 1300 bis 1600. Eine Kulturregion im Spannungsfeld von Magdeburg, Lübeck und Berlin, hg. von Jiří Fajt, Wilfried Franzen und Peter Knüvener, Berlin 2011, S. 156–201; ferner Dieter Scriverius, Die weltliche Regierung des Mindener Stifts von 1140–1397, Bd. 1, Marburg 1969, S. 135; Georg Sello, Erzbischof Dietrich Kagelwit von Magdeburg, in: Jahresbericht des Altmärkischen Vereins 23 (1890), Nr. 1, S. 1–90; Karl Hengst, Christian Radtke und Michael Scholz, Dietrich von Portitz (gen. Cagelund, Kagelweit, Kagelwitt, Kogelwit u. ä.) OCist († 1367), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 391 f.; Peter Moraw, Dietrich v. Portitz, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1029. Zu Gerhard siehe Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 77, S. 99‒101; ferner Karl Hengst, Gerhard, Graf von Holstein-Schaumburg († 1366), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 459; Scriverius, Die weltliche Regierung 1, S. 135‒146; zu Gerhards Ämtern neuerdings Frederieke Maria Schnack, Zwischen geistlichen Aufgaben und weltlichen Herausforderungen. Die Handlungsspielräume der Mindener Bischöfe von 1250 bis 1500 (in Vorb.), Anhang II, Nr. 11.

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Frederieke Maria Schnack

hohen zeitlichen wie finanziellen Aufwand geknüpft, sodass es naheliegt, dass ein solcher prestigereicher Karrieresprung für die Dynastie mehr als nur repräsentative Auswirkungen hatte. Es ist also zu analysieren, aus welchen familiären Kon­ stellationen heraus Schaumburger Abkömmlinge Bischöfe wurden, in welchen Bistümern dies geschah und wie während ihres Amtsantritts sowie darüber hinaus das Zusammenwirken mit der Dynastie aussah: Welche Verbindungen lassen sich zum unmittelbaren familiären Umkreis nachweisen? Welche Bedeutung hatten Verwandte für die Herrschaft des Oberhirten? Mehr noch: Wie sah rückwirkend dessen Einfluss auf die Belange und Handlungsspielräume10 seiner Familie aus? Trugen geistliche Fürsten dazu bei, aus ihrem Fürstentum heraus die Herrschaft der weltlichen Verwandten zu fördern, und auf welchen Aktionsfeldern ist dies gegebenenfalls zu beobachten? Diese Fragen sollen, wie bereits angedeutet, am Beispiel des Hauses HolsteinSchaumburg im Mittelalter beleuchtet werden, womit der Aufsatz an verschiedene Forschungskontexte aus dem regionalgeschichtlichen Bereich anschließt. Unter dem Titel Dynastiegeschichte als Perspektive vergleichender Regionalgeschichte hat Oliver Auge am Beispiel der Herzöge und Grafen von Schleswig und Holstein deutlich gemacht, dass gerade die Untersuchung von Dynastien, die „mit ihrer weitausgreifenden Familienpolitik“ jenseits heutiger Landesgrenzen agierten, „zwangsläufig“ weit über die traditionelle Landesgeschichte hinausführe.11 Dynastiegeschichte bedeute also, so wiederum Auge, „tatsächlich und punktgenau Regionalgeschichte“ im Hinblick auf die „Wandelbarkeit geographischer Dimensionen“12 – und dies lässt sich am Beispiel der Grafen von Holstein-Schaumburg ganz besonders gut zeigen, da Mitglieder dieser dank mehrerer Landesteilungen13 weit verzweigten Familie nicht nur in Teilen des heutigen Schleswig-Holsteins und Dänemarks herrschten, sondern die Pinneberger Linie zudem die soeben schon genannte Grafschaft Schaumburg mit der gleichnamigen Burg in ihren Händen hielt. Zudem ist bereits die Heiratspolitik dieser Grafenfamilie – ebenfalls von Oliver Auge14 – untersucht worden, woran nun mit einem ergänzenden Blick auf geistlich gewordene männliche Nachkommen angeschlossen werden soll. Dezidiert auf ab10 Der Begriff Handlungsspielräume wird im Folgenden nach der Definition Oliver Auges verstanden. Siehe dazu Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009, S. 8. 11 Ders., Dynastiegeschichte als Perspektive vergleichender Regionalgeschichte. Das Beispiel der Herzöge und Grafen von Schleswig und Holstein (Anfang 13. bis Ende 17. Jh.), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 135 (2010), S. 23‒45, hier S. 26. 12 Ebd. 13 Hierzu im Überblick Erich Hoffmann, Spätmittelalter und Reformationszeit (Geschichte Schleswig-Holsteins 4,2), Neumünster 1990, S. 33‒42, mit einer Karte auf S. 35 und einer Stammtafel auf S. 36 f. 14 Oliver Auge, Die Familien- und Heiratspolitik der Schauenburger Dynastie (bis ca. 1500), in: 900 Jahre Schauenburger im Norden. Eine Bestandsaufnahme, hg. von Dems. und Detlev Kraack (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 121; zeit + geschichte 30), Kiel 2015, S. 211‒233.

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geschichtete Söhne zu schauen, die ein Bischofsamt erhielten, erweitert die dynastiegeschichtliche Perspektive und die behandelte Region, da der familiäre Einfluss mit den Bistümern beziehungsweise Hochstiften, die den jeweiligen Schaumburgern unterstanden, mutmaßlich geographisch ausgedehnt wurde. Zugleich zeigt sich hier die zitierte „Wandelbarkeit“ des Regionsbegriffs, da die Herrschaft in den Diözesen häufigen Wechseln unterworfen war und die jeweiligen regionalen Dispositionen Schaumburger Wirkens somit Veränderungen erfuhren. Indem Bistümer einbezogen werden, bietet sich ferner die Chance, Bezugspunkte zum Forschungsfeld der in den vergangenen Jahren wieder stärker in den Fokus gerückten Bischofsgeschichte herzustellen und über die zu streifenden episkopalen Handlungsspielräume, die sowohl auf das Bistum als geistlichen als auch auf das Hochstift als weltlichen Herrschaftsbereich eines Oberhirten rekurrieren konnten, einen wiederum neuen, in sich fluiden regionalen Zugriff zu schaffen.

Schaumburger Bischöfe und ihr dynastisches Umfeld Die Frage nach dem dynastischen Umfeld der Bischöfe aus dem Haus HolsteinSchaumburg ist zwingend daran geknüpft, wie viele Männer der jeweiligen Linien überhaupt ein episkopales Amt antraten und wie die Abschichtungspolitik dieser Familienzweige als grundsätzliche Basis für solche Karrieren aussah. Auf jenes zweitgenannte Thema hat Oliver Auge bei seiner Untersuchung der Schaumburger Konnubien einen Blick geworfen,15 um hieran die heiratspolitischen Erkenntnisse zu spiegeln. Stellt man den von Auge ermittelten Abschichtungszahlen gegenüber, wie viele der entsprechenden Männer bis ca. 1500 ein Bischofsamt erhielten, ergibt sich ein recht eindeutiges Bild:16 Tab. 1: Abschichtungen und Bischöfe in der Kieler, Plöner, Rendsburger und Pinneberger Linie des Grafenhauses. Linie

Abschichtungen

Bischöfe

Männer

Frauen

Kieler Linie

1

-

-

Plöner Linie

-

-

-

Rendsburger Linie

3

3

1 (+ 1 prov. Bischof)

Pinneberger Linie

9

9

5

15 Ebd., S. 222‒225. 16 Zahlen nach ebd., S. 222 f.; sowie Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 55, S. 78 f., Nr. 67, S. 91 f., Nr. 68, S. 93 f., Nr. 77, S. 99‒101, Nr. 95, S. 120 f., und Nr. 98, S. 123 f.

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Während in der Kieler Linie, die allerdings bereits Anfang des 14. Jahrhunderts ausstarb und daher kein repräsentatives Zahlenmaterial bietet, nur ein Mann in den geistlichen Stand trat und der Anteil der Abschichtungen somit bei nur 12,5 Prozent lag, lassen sich in der Plöner Linie gar keine Abschichtungen feststellen.17 Blickt man auf den Rendsburger und den Pinneberger Zweig, so fällt bei allen hier zusätzlich erkennbaren Unterschieden insgesamt auf, dass deutlich mehr Personen geistlich wurden. Die Rendsburger Linie weist je drei abgeschichtete Männer und Frauen auf, wobei sich diese Zahlen noch einmal in die Zeit vor und nach dem Jahr 1326, als die Linie zum ersten Mal für wenige Jahre die Herzogswürde von Schleswig erlangte,18 differenzieren lassen. Hinsichtlich des gräflichen beziehungsweise fürstlichen Standes ist dies eine durchaus wichtige Unterscheidung, da die Rendsburger Linie das Herzogtum Schleswig 1326 für kurze und ab 1386 dann für längere Zeit beherrschen konnte und somit zusätzlich zu fragen ist, wie sich die Standeserhöhung auf die Zahl der Abschichtungen auswirkte. Vor 1326 schlug ein Mann eine klerikale Laufbahn ein (16 Prozent des gesamten Personenbestandes), während die übrigen fünf Personen nach 1326 Geistliche wurden und somit einen Anteil von 26 Prozent ausmachten – eine Rate, die nach Auge über den Zahlen bei zeitgenössischen reichsfürstlichen Dynastien liegt, die ihre Abkömmlinge aus Statusgründen eher seltener im geistlichen Stand versorgten als niederadlige Familien.19 Unter den insgesamt drei Rendsburger Grafensöhnen, die in die geistliche Laufbahn eintraten, findet sich mit Heinrich III. († 1421) einer, der ein Bischofsamt erlangen konnte und ab 1402 als Elekt ohne höhere Weihen in der Diözese Osnabrück wirkte.20 Giselbert († um 1344‒46), ein Großonkel Heinrichs und Bruder Graf Gerhards III. (* um 1291‒94, † 1340), war zwar bereits 1324 von Papst Johannes XXII. (* 1245/49, † 1334) gegen den eigentlichen Oberhirten Albrecht von BraunschweigLüneburg († wohl 1359) mit der Halberstädter Bischofswürde providiert worden, hatte sich aber nicht gegen den welfischen Amtsinhaber durchsetzen können, weshalb Benedikt XII. (* um 1285, † 1342) die Entscheidung seines Vorgängers schließlich wieder kassierte.21 In den folgenden Ausführungen soll auf Giselbert dennoch ebenfalls ein Seitenblick gerichtet werden. Aufseiten der Pinneberger Linie, die mit Adolf VI. (* um 1256, † 1315) begann, zugleich die Stammgrafschaft Schaumburg im Weserraum beherrschte und von Helge Bei der Wieden daher auch als „Jüngeres Haus Schaumburg“ bezeichnet

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Auge, Familien- und Heiratspolitik, S. 223. Dazu und zum Folgenden siehe ebd., S. 214. Ebd., S. 223. Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 55, S. 78 f. Dazu, dass Heinrich nie die höheren Weihen erhielt, vgl. Bernd-Ulrich Hergemöller, Heinrich von Schleswig und Holstein († 1421), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 531 f., hier S. 532. 21 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 45, S. 66 f.; Walter Zöllner, Gieselbrecht von Holstein-Rendsburg († 1346), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2003, S. 224 f.

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wird,22 sind deutlich mehr Abschichtungen zu verzeichnen, was einmal mehr zeigt, dass die Kirche als Versorgungsinstitution nachgeborener Söhne und natürlich auch Töchter für Grafen- und Herrendynastien eine deutlich größere Attraktivität besaß als für reichsfürstliche Familien. Konkret traten 18 Abkömmlinge, je neun Männer und neun Frauen, in den geistlichen Stand. Da zwei von ihnen (ein Mann und eine Frau) dies vor 1326 getan hatten, lag der prozentuale Anteil der abgeschichteten Personen an der Linie bis zu jenem Jahr bei 22 Prozent und damit nur wenig höher als auf Rendsburger Seite.23 Nach 1326 zeigte sich jedoch auch in familienpolitischer Hinsicht deutlich, dass die Pinneberger Linie nicht an den fürstlichen Stand der Rendsburger Verwandten anschließen konnte: Mit insgesamt 16 geistlich gewordenen Söhnen wie Töchtern waren ganze 51,6 Prozent der Linie Angehörige der Institution Kirche.24 Unter ihnen fanden sich fünf Bischöfe, denn drei Abkömmlinge gelangten auf die Mindener Kathedra und zwei weitere auf die Sedes von Hildesheim. Zusätzlich lässt sich feststellen, dass im sogenannten Älteren Haus Schaumburg, nach Bei der Wieden von Adolf I. († 1130) bis zu den Kindern Adolfs IV. († 1288) gezählt, mit Bischof Bruno von Olmütz († 1281) ebenfalls ein kirchlicher Oberhirte auftrat25 – insgesamt sind im Folgenden somit, den schon genannten Giselbert eingeschlossen, der seine päpstliche Providierung allerdings realpolitisch nicht umsetzen konnte, acht Oberhirten aus dem Haus Schaumburg zu betrachten. Bei allen diesen Männern stellt sich die Frage, aus welchen dynastischen Situationen heraus sie in den geistlichen Stand traten. Das unmittelbare familiäre Umfeld, insbesondere die Größe und Zusammensetzung der jeweiligen Geschwistergruppe, kann bereits allererste Hinweise auf mögliche dynastiepolitische Intentionen liefern und dabei helfen, die Grundlage für die späteren familiären Kontakte der Bischöfe zu eruieren. Hierbei zeigt sich, dass es durchaus nicht nur große Geschwistergruppen waren, denen die Kirchenfürsten entstammten. Der soeben genannte Bruno besaß nur noch zwei weitere Brüder, Konrad († 1237/38) und Adolf IV. († 1261), sowie mindestens eine Schwester namens Mechthild († 1262‒64).26 Da Konrad unverheiratet verstarb,27 hing die dynastische Nachfolge nach Brunos Eintritt in den geistlichen Stand allein an Adolf IV. und seiner Ehe mit Heilwig zur Lippe († um 1246/50) – eine Situation, die angesichts des unkalkulierbaren dynastischen Zufalls durchaus nicht ohne Risiko war, aber gleichzeitig die hochrangige Versorgung eines Abkömmlings im geistlichen Reichsfürstenstand garantierte. Da Bruno vor Erlangung eines Bischofsamtes als Dompropst zu Lübeck, Domherr zu Magdeburg und Dompropst 22 Zur Bezeichnung und zum Beginn dieser Linie vgl. wiederum Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, S. 87; ferner Detlev Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. Bd. I/3: Die Häuser Oldenburg, Mecklenburg, Schwarzburg, Waldeck, Lippe und Reuß, Marburg 2000, Taf. 299. 23 Auge, Familien- und Heiratspolitik, S. 223. 24 Ebd. 25 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, S. 9‒26, zu Bruno Nr. 8, S. 21 f. 26 Ebd., S. 18‒23. Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 298, erwähnt nur die drei Brüder. 27 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 6, S. 18 f.

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zu Hamburg gewirkt hatte,28 waren durch ihn wichtige geistliche Ämter in der unmittelbaren Umgebung der familiären Herrschaftsgebiete besetzt und damit die schaumburgischen Einflüsse in der Region gesteigert worden.29 Auch die beiden Geistlichen aus der Rendsburger Linie waren ohne allzu große Geschwistergruppen aufgewachsen: Heinrich, der Elekt von Osnabrück, hatte neben einer unverheiratet verstorbenen Halbschwester namens Mechthild († nach 1365 März 12) aus der ersten Ehe seines Vaters30 noch zwei Brüder, Gerhard V. (* um 1367, † 1404) und Albrecht († 1403), sowie eine weitere Schwester mit Namen Sophie († nach 1448), die alle Ehen eingingen, wobei sich die nächste und zugleich vorletzte Rendsburger Generation auf Gerhard V. stützte. Heinrichs Großonkel Giselbert, der die Bischofswürde von Halberstadt letztlich trotz seiner Provision doch nicht antreten konnte, entstammte einer fünfköpfigen Geschwistergruppe, der neben ihm und dem älteren Bruder Gerhard  III., dessen Nachkommen die Linie fortsetzten, noch drei verheiratete Schwestern namens Adelheid (Agnes, * um 1293‒98, † 1350), Elisabeth (* wohl 1300, † wohl vor 1340) und Irmgard († 1326 Dez. 27 oder später) angehörten.31 Giselberts Abschichtung erzeugte somit eine ähnliche Konstellation wie in Brunos Generation, da hier ebenfalls nur ein männlicher Abkömmling weltlich geblieben war. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass aus Gerhards III. um 1315 geschlossener Ehe spätestens bei Giselberts Provision zum Bischof von Halberstadt 1324 bereits mindestens ein männlicher Nachkomme hervorgegangen war und die Abschichtung deshalb ein geringeres Risiko für die dynastische Nachfolge mit sich brachte: Heinrich II. († 1384/85) wurde wohl zwischen 1316 und 1318 geboren, sein Bruder Nikolaus († 1397) nach 1320.32 Brunos Neffen erblickten dagegen erst das Licht der Welt, nachdem er selbst bereits mehrere hochrangige Pfründen erlangt hatte.33 Schaut man auf die fünf Bischöfe beziehungsweise Elekten aus der Pinneberger Linie, so fällt gleich bei den ersten dreien, den Brüdern Gerhard (* um 1300, † 1353) und Erich (* um 1304, † 1350/51) sowie ihrem schon genannten Neffen Gerhard, neben ihrer Verwandtschaft die Größe der jeweiligen Geschwistergenerationen auf. Als Söhne Adolfs VI. besaßen Gerhard und Erich mit Adolf VII. (* 1297/98, † 1353), Elisabeth († nach 1332 Nov. 2), Helene († wohl vor 1353 Okt. 21), Lutgard († nach 1348) und Mechthild († 1341) fünf Geschwister; die gesamte Gruppe zählte sieben 28 Ebd., Nr. 8, S. 21; Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 298. 29 Zum Mechanismus, dass das Engagement jüngerer Söhne in nahegelegenen Domkapiteln das politische Gewicht der Dynastien stärkte, vgl. Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 2 2015, S. 304. 30 Vgl. insgesamt Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 301. Zu Mechthild siehe Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 52, S. 75. Heinrich II. war in erster Ehe mit Mechthild zur Lippe und nach deren Tod mit Ingeborg von Mecklenburg verheiratet gewesen: ebd., Nr. 48, S. 70‒72, insb. S. 70. 31 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 44‒47a, S. 65‒70. 32 Ebd., Nr. 48 f., S. 70‒73. 33 Ebd., Nr. 12, 22, 11, S. 25 f.

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Personen.34 Von ihnen traten nicht nur die beiden genannten Männer in den geistlichen Stand, was die Fortsetzung der Linie rein an Adolf  VII. knüpfte, sondern auch Helene als Kanonisse zu Fischbeck, die allerdings um 1320 Heinrich IX. von Schwarzburg († nach 1350 Juni 11) heiratete, und Lutgard, die wie ihre Schwester im Konvent zu Fischbeck wirkte.35 Abschichtungen erschienen demnach bereits in dieser Generation des Hauses Pinneberg beziehungsweise des Jüngeren Hauses Schaumburg als probates Mittel, um Familienmitglieder, darunter nicht nur Söhne, ohne Eheschließungen und mit geringerem finanziellen Aufwand zu versorgen – allerdings mit der stets präsenten Gefahr, dass die Linie aussterben könnte.36 Umgekehrt dürfte es ein Vorteil gewesen sein, dass die zwei Brüder Adolfs VII. Kanonikate in Halberstadt, Hildesheim und Minden (Gerhard in der Mitte der 1320er Jahre) beziehungsweise Hamburg (Erich, spätestens 1328) erwerben konnten und damit sowohl in der Nähe des Pinneberger wie auch des Schaumburger Herrschaftszentrums einflussreiche kirchliche Positionen besetzten.37 In der nächsten Generation zeigt sich ein ähnliches Muster: Nach seinem gleichnamigen Onkel gelangte auch Gerhard, einer der Söhne Adolfs VII., als Bischof auf die Mindener Kathedra.38 Unter den insgesamt neun Kindern, davon fünf Söhne und vier Töchter, traten neben Gerhard auch Simon († 1361), Bernhard († 1399) und Mechthild († nach 1394 Nov. 18), die als Nonne im Dominikanerinnenkloster zu Lemgo lebte, in den geistlichen Stand.39 Zusätzlich wurde für Otto († 1404) zunächst ebenfalls eine kirchliche Laufbahn ins Auge gefasst.40 Um neuen Landesteilungen sowie einer Herrschaft mehrerer Söhne vorzubeugen, waren somit alle jüngeren Söhne für den geistlichen Stand vorgesehen worden – eine familienpolitische Entscheidung, die zwar dem ältesten Sohn den unbeschränkten Herrschaftsanspruch sicherte, aber im Falle seines kinderlosen Todes das Ende der Dynastie bedeutet hätte. Betrachtet man die Pfründenkarriere Simons, Bernhards und Ottos etwas genauer, drängt sich daher der Eindruck auf, dass zumindest Otto eher nicht unumkehrbar für den Klerus bestimmt, sondern als dynastische Reserve gedacht worden war: Anders als Simon, der mehrere Präbenden erhielt, aber dennoch ein dem Anschein nach eher weltliches Leben führte,41 und Bernhard, der Mitglied meh34 Ebd., Nr. 66‒73, S. 89‒96, zu Gerhard und Erich Nr. 67 f., S. 91‒94. Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 301. 35 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 71 f., S. 95 f. 36 Da für Adolf VIII. kein genaues Geburtsjahr überliefert ist, lässt sich nicht nachvollziehen, welchen Stand die geistlichen Karrieren seiner beiden Onkel hatten, als er und damit der erste Stammhalter geboren wurde. Vgl. ebd., Nr. 74, S. 96 f. Nimmt man wie Bei der Wieden spätestens das Jahr 1330 an, hätten Gerhard und Erich schon erste Domherrenpfründen erlangt, vgl. zu den Nachweisen die folgende Anmerkung. 37 Ebd., Nr. 67, S. 92, und Nr. 68, S. 93. 38 Ebd., Nr. 77, S. 99‒101. 39 Zur Geschwistergeneration vgl. insgesamt ebd., Nr. 74‒82, S. 96‒106. 40 Ebd., Nr. 80, S. 103‒105, insb. S. 103 f. 41 Ebd., Nr. 78, S. 101 f.: Simon soll 1361 im Rahmen eines Turniers bei Petershagen, einem Residenzort der Mindener Bischöfe und damit seines Bruders Gerhard, eine tödliche Verletzung erlitten haben.

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rerer Domkapitel wurde und sogar – letztlich erfolglos – die erzbischöfliche Sedes zu Bremen im Blick hatte,42 ist für Otto nur ab 1363 das Amt eines Propstes im Hamelner Bonifatiusstift überliefert. Dies machte es ihm leicht, 1366 nach Adolfs und Gerhards Tod aus dem geistlichen Stand zurückzutreten und die dynastische Linie der Schaumburger Grafen fortzusetzen.43 Schon während der Pilgerreise seiner Brüder hatte er vertretungsweise in der Grafschaft geherrscht.44 Auch die Brüder Ernst (* um 1430, † 1471) und Heinrich († 1508), die beiden übrigen Männer aus der Pinneberger Linie, die am Ausgang des Mittelalters Bischöfe von Hildesheim beziehungsweise Minden wurden, entstammten einer größeren Generation, die mit acht Männern und drei Frauen insgesamt elf Personen zählte.45 Während Mechthild († 1468) und Anna († 1495) Ehen eingingen, lebte Helene († vor 1508) unverheiratet;46 aufseiten ihrer Brüder traten neben Ernst und Heinrich auch Bernhard (* 1443 Februar), der unter anderem im Hildesheimer Domkapitel und damit in Ernsts Umfeld wirkte,47 und Anton († 1526), der seine Pfründen in Köln, Lemgo und Paderborn aber offenbar nach dem Tod seines Bruders Erich resignierte und schließlich zwei Ehen einging,48 in den geistlichen Stand. Ein Vergleich nach dem Tod Graf Ottos II. (* 1400, † 1464), des Vaters dieser Generation, hatte die Regierung des Herrschaftsgebiets an Adolf  XII. (* um 1419, † 1474) und Erich (* 1420/21, † 1492) geknüpft – eine Regelung, von der die Brüder in den folgenden Jahren immer weiter abwichen, nachdem Adolf bereits 1474 verstorben war.49 Erichs Tod 149250 bereitete endgültig den Weg für die Regierungsbeteiligung Ottos  III. (* 1426, † 1510), Antons und Johanns IV. (* um 1450, † 1527), an dessen einzigem Kind Jobst (* 1483, † 1531) auch die dynastische Nachfolge hing.51 Dass sich der Fortbestand der Linie somit risikoreich auf eine einzige Person verengte, war das Ergebnis des dynastischen Zufalls, denn die im Vorfeld getroffenen familienpolitischen Entscheidungen hatten im Gegenzug sogar geholfen, flexibel mit dem Tod der eigentlich für die weltliche Regierung bestimmten Söhne umzugehen. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass das Haus Holstein-Schaumburg Abschichtungen gerade im Falle großer Kindergenerationen als familienpolitisches Instrument begriff, um die vielen Söhne halbwegs adäquat finanziell zu versorgen und zumindest einige mit der Chance zu versehen, in episkopalen Bahnen Herrschaft 42 43 44 45

46 47 48 49 50 51

Ebd., Nr. 79, S. 102 f. Ebd., Nr. 80, S. 103‒105. Ebd., S. 104. Ebd., Nr. 93‒102a, S. 117‒130, zu Ernst und Heinrich Nr. 95, S. 120 f., und Nr. 98, S. 123 f. Im Groben hierzu auch Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 300. Da diese Auflistung aber von der fundierteren Geschwisterreihe bei Bei der Wieden abweicht, soll im Folgenden die Schaumburgische Genealogie herangezogen werden. Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 96, S. 121 f., Nr. 99, S. 124 f., und Nr. 102a, S. 130. Ebd., Nr. 101, S. 127 f. Ebd., Nr. 100, S. 125‒127. Ebd., S. 117. Ebd., S. 118. Ebd., Nr. 103, S. 132.

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auszuüben. Südlich der Elbe boten sich angesichts der höheren Dichte geistlicher Institutionen und der zugehörigen lukrativen Pfründen weit größere Möglichkeiten für ein solches Vorgehen, etwa in Osnabrück, Hildesheim und Minden,52 weshalb der größere Teil der zu untersuchenden Fälle, wie bereits gezeigt, auf die auch Schaumburg regierende Pinneberger Linie entfällt. Der unmittelbare Vorteil dieser Strategie lag darin, die dynastische Nachfolge auf wenige männliche Nachkommen zu zentrieren. Der mehrfach aufscheinende Vorgang, dass ein Familienmitglied den geistlichen Stand wieder verließ, um an die Stelle säkular gebliebener, verstorbener Brüder zu treten, legt aber ein weiterhin enges Verhältnis der abgeschichteten wie weltlichen Personen nahe, das sich ausweislich des eingangs zitierten Berichts Hermanns von Lerbeck auch auf die Bischöfe der Dynastie erstreckt haben dürfte. Auch wenn sie nicht mehr in der familiären Erbfolge berücksichtigt wurden und anderenorts, aber zumeist im näheren geographischen Umfeld der holstein-schaumburgischen Gebiete eine eigene Herrschaft besaßen, muss somit untersucht werden, wie die Beziehungen zwischen den jeweiligen Familienmitgliedern konkret aussahen und in welchen Situationen Kooperationen beobachtet werden können.

Zusammenwirken zwischen den Bischöfen und der Dynastie Das eingangs aufgeworfene, sich an den vorangegangenen Abschnitt anschließende Fragenbündel rund um die langfristigen Kontakte und Interaktionen Schaumburger Bischöfe und Elekten mit ihren Dynastiemitgliedern soll im Folgenden anhand eines exemplarischen Blicks auf aussagekräftige Konstellationen und Episoden aus den Episkopaten der genannten Oberhirten behandelt werden. Im besonderen Fokus sollen die Mindener Kirchenfürsten stehen, da diese Sedes in unmittelbarer Nachbarschaft zur Grafschaft lag sowie von Schaumburger Seite gleich dreimal und damit häufiger als die übrigen Kathedren besetzt werden konnte. Wichtig ist vorab, dass es ausdrücklich nicht darum geht, die Amtszeiten der Kirchenfürsten insgesamt darzustellen, sondern vielmehr eine punktuelle Analyse beispielhafter Situationen und Ereignisse vorgenommen werden soll, auf deren Basis später auf die Handlungsspielräume nicht nur der bischöflichen Protagonisten, sondern auch ihrer Verwandten geschlossen werden kann. Wenn man zuallererst den Eintritt ins Bischofsamt als Grundlage aller eventuellen späteren Kooperationen betrachtet und fragt, auf welchem Wege die Schaumburger bei solchen Vorgängen Einfluss nehmen konnten, so lassen sich hier durchaus bereits einige Schlüsse ziehen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass oft keine Quellen über die jeweiligen Verhandlungen, die zu den Wahlen und Postulationen führten, erhalten sind. Im Hinblick darauf, dass auch die vorangegangene Pfründenkarriere der Geistlichen – so zu erkennen etwa bei der Wahl Erichs von Holstein-

52 Dazu bereits Auge, Familien- und Heiratspolitik, S. 224.

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Schaumburg zum Hamburger Dompropst 132753 – von der Familie gefördert wurde, lässt sich an den hochrangigeren Präbenden der späteren Bischöfe aber durchaus ein Muster erkennen: Tab. 2: Pfründen der untersuchten Bischöfe und Elekten.54 Nachweis: Daten nach Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 8, S. 21 f., Nr. 45, S. 66 f., Nr. 55, S. 78 f., Nr. 67, S. 91 f., Nr. 68, S. 93 f., Nr. 77, S. 99‒101, Nr. 95, S. 120 f., und Nr. 98, S. 123 f.; Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 298‒301. Bischof/Elekt

Bischofsamt

Diginitäten/ Personate

Kanonikate

Bruno

1246‒81 Olmütz (BF)

1229 DP Lübeck 1236 DP Hamburg

1229 DH Magdeburg

Giselbert

1324 Halberstadt (nur prov.)

1333 DKant Bremen 1339 DP Bremen

K an St. Gereon zu Köln 1327 DH Bremen 1327 DH Lübeck 1327/28 DH Schwerin (Tausch gegen Lübeck)

Heinrich III.

1402‒10 Osnabrück (EL), resign.



DH Münster

Gerhard

1347‒53 Minden (BF)

1338 DK Minden

1326 DH Hildesheim 1326 DH Minden 1439 DH Halberstadt

Erich

1331‒1350/51 Hildesheim (EL)

1328 DP Hamburg

1328 DH Hamburg

Gerhard

1361‒66 Minden (BF), vorher dort Generalvikar, 1356/57 Administrator von Verden

1353 DT Minden

Ernst

1458‒71 Hildesheim (BF)



DH Minden 1445‒58 DH Hildesheim

Heinrich

1473‒1508 Minden (BF)



DH Münster DH Hildesheim (außerdem Propst von St. Moritz zu Hildesheim) DH Minden

53 Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke (Bearb.), Das Bistum Hildesheim, Bd. 4: Die Hildesheimer Bischöfe von 1221 bis 1398 (Germania Sacra N. F. 46), Berlin/New York 2006, S. 391. 54 Folgende Abkürzungen werden in der obigen Tabelle verwendet: BF = Bischof, EL = Elekt, prov. = providiert, DP = Dompropst, DK = Domdekan, DKant = Domkantor, DT = Domthesaurar, DH = Domherr, K = Kanoniker, resign. = resigniert. Im Falle der neben dem Bischofsamt angegebenen Pfründen sind die genannten Jahre die Zeitpunkte, ab denen die Geistlichen als Inhaber der Präbenden überliefert sind.

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Von acht Schaumburger Geistlichen, die ein Bischofsamt innehatten oder darauf fundierte Ansprüche erheben konnten, wirkten drei in Minden. Diese Diözese schloss nicht nur die besagte Grafschaft Schaumburg ein, sondern es bestand zusätzlich eine Grenze zwischen dem Hochstift als weltlichem Herrschaftsbereich des Bistums und dem gräflichen Gebiet.55 Insofern dürfte die Pinneberger Linie, der die drei Bischöfe angehörten, ein gesteigertes Interesse daran gehabt haben, einen ihrer Abkömmlinge auf der Sedes zu installieren – dafür spricht insbesondere, dass alle drei Oberhirten von Minden vor ihrem Episkopat entweder als Domherren oder Domdekan beziehungsweise -thesaurar Teil des Mindener Domkapitels gewesen waren, ebenso wie Ernst, der später in Hildesheim wirkte. Offenbar versuchte man, der eigenen Dynastie eine gute Ausgangsposition im Mindener Domkapitel zu sichern, die wohl nicht nur für spätere Sedisvakanzen ins Auge gefasst, sondern auch als Chance gesehen wurde, um während der Herrschaft anderer Bischöfe einen Einblick in deren Entscheidungen und Einflussmöglichkeiten zu erhalten. Derjenige Gerhard, der 1361 auf die Mindener Kathedra gelangte, hatte beispielsweise schon, wie erwähnt, unter seinem Vorgänger Dietrich von Portitz, der als hochrangiger Berater Kaiser Karls IV. (* 1316, † 1378) zumeist gar nicht im Bistum weilte, als Generalvikar gewirkt;56 zudem war er der Neffe von Dietrichs Vorgänger, was wiederum die Bedeutung dynastischer Netzwerke gerade im Umfeld geistlicher Fürstentümer betont. Aber auch die Verteilung der übrigen Kanonikate und Dignitäten beziehungsweise Personate fördert Schwerpunkte zutage. Südlich der Elbe wurden weitere Domherrenpfründen in Hildesheim und Münster (je 2), Halberstadt (1), Magdeburg (1) sowie ein Kanonikat an einem Stift in Köln erlangt. Darüber hinaus wurden Abkömmlinge der Dynastie Mitglieder der Domkapitel im näheren geographischen Umfeld der gräflichen Gebiete in Nordelbien, etwa in Lübeck (Giselbert als Domherr, Bruno als Dompropst), Hamburg (Erich als Domherr und Dompropst, Bruno als weiterer Dompropst), Bremen (Giselbert als Domherr, Domkantor und Dompropst) und Schwerin (wiederum Giselbert als Domherr). Auch wenn somit die lukrativeren Bischofswürden tatsächlich ausschließlich im südelbischen Raum erlangt wurden und die Pfründenkarrieren der drei Mindener Bischöfe ein langfristiges Kalkül insbesondere in Bezug auf diese Diözese vermuten lassen, lag ein zweiter räumlicher Schwerpunkt, den die acht Schaumburger mit Ansprüchen auf eine Kathedra ebenfalls mitbedienten, auf den Bistümern rund um den Holsteiner Landesteil. Abgeschichtete Familienmitglieder gelangten so in der Nachbarschaft beider Herrschaftsmittelpunkte zu Einfluss.57 Im selben Maße, wie dieses Vorgehen eher zielgerichtet erscheint, lässt sich annehmen, dass man im Umkehrschluss darauf hoffte, aus den Ämtern und Würden des jeweiligen Prälaten Nutzen für die weltliche Grafenherrschaft ziehen zu können. 55 Ernst Bruckmüller und Peter Claus Hartmann (Hg.), Putzger Historischer Weltatlas, Berlin 103 2008, S. 80 f. 56 Dazu Scriverius, Die weltliche Regierung 1, S. 135 f. 57 Mit dieser Deutung und einem eingehenderen Blick auf verschiedene Pfründenlaufbahnen Kruppa/Wilke (Bearb.), Das Bistum Hildesheim 4, S. 393 f.

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Wie eng der Weg eines Geistlichen auf einen Bischofsstuhl mit dynastischem Engagement verknüpft sein konnte, zeigt exemplarisch der Werdegang des Schaumburgers Ernst: Er wurde 1458 Bischof von Hildesheim, nachdem er dort bereits Domherr gewesen und sein Vorgänger Bernhard von Braunschweig-Lüneburg († 1464) in den weltlichen Stand zurückgetreten war. Ebenjener Bernhard hatte nicht nur Ernsts Schwester Mechthild geheiratet, sondern gegen eine Geldzahlung zusätzlich mit seiner Resignation verfügt, dass sein neuer Schwager ihm auf die Hildesheimer Kathedra nachfolgen sollte. Infolgedessen wurde Ernst vom Domkapitel zum neuen Oberhirten gewählt.58 Auch wenn sich nicht eruieren lässt, inwieweit Ernsts Vater Otto II., der erst 1464 verstarb,59 oder seine Brüder Mechthilds Heirat und Bernhards damit verbundenes Einwirken auf Ernsts weitere geistliche Laufbahn politisch förderten, lässt sich davon ausgehen, dass die von der Familie aufzubringende Mitgift ein wichtiger Baustein für die Resignation des Welfen zugunsten des Schaumburgers war. Insofern darf durchaus von einem dynastischen Anteil am gesamten Vorgang ausgegangen werden, der Ernst ein nahegelegenes Bistum sicherte, dessen Hochstift zudem an die Grafschaft angrenzte. Die sehr engen geographischen Verflechtungen zwischen weltlich gebliebenen Familienmitgliedern und ihren zumeist in Minden oder Hildesheim als Kirchenfürsten installierten männlichen Verwandten sowie die Zusammenhänge mit säkularen Herrschaftsfragen lassen sich zudem an beidseitigen Bündnissen und Vermittlungen erkennen: Der Chronist Heinrich Tribbe (* spätestens um 1410, † 1464) berichtet, dass Bischof Gerhard (II.) von Minden in einer Allianz mit seinem Bruder Adolf VIII., Wedekind vom Berge und Johann II. von Hoya († 1377) gegen den Koadjutor des Hochstifts Osnabrück, Dietrich von der Mark (* 1336, † 1406), und seinen Bruder Engelbert III. (* um 1330, † 1391), der während Dietrichs Gefangenschaft in der Kathedralstadt Minden jene belagerte, vorgegangen sei.60 Insgesamt handelte es sich um eine bündnispolitisch mehrdimensionale Angelegenheit, da Gerhard wohl zunächst nicht offen gegen Dietrich opponiert, sondern vielmehr 58 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 95, S. 120 f.; Hans-Georg Aschoff, Ernst, Graf von Schaumburg († 1471), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 1996, S. 160; Johannes Simon, Stand und Herkunft der Bischöfe der Mainzer Kirchenprovinz im Mittelalter, Weimar 1908, S. 82; Adolf Bertram, Geschichte des Bisthums Hildesheim, Bd. 1, Hildesheim 1899, S. 413. Dass Ernst gewählt worden war, bezeugt eine päpstliche Urkunde, in der er als Elekt bezeichnet wird. Regest in: Die Regesten der in Niedersachsen und Bremen überlieferten Papsturkunden 1198‒1503, bearb. von Brigide Schwarz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37; Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 15), Hannover 1993, Nr. 1943, S. 483 f. (1458 Apr. 5). Das Chronicon Hildesheimense berichtet nicht über den so erfolgten Tausch, erklärt aber, dass Ernst 1458 gewählt worden sei. Vgl. insgesamt zu Ernsts Episkopat: Chronicon Hildesheimense, in: MGH SS 7, hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1846, S. 845‒873, hier S. 873, Z. 20‒23. 59 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 90, S. 113 f. 60 Die jüngere Bischofschronik von Heinrich Tribbe, in: Die Bischofschroniken des Mittelalters (Hermanns v. Lerbeck Catalogus episcoporum Mindensium und seine Ableitungen), hg. von Klemens Löffler (Mindener Geschichtsquellen 1), Münster 1917, S. 91‒263, hier S. 205.

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versucht hatte, in einem Prozess um die Besteuerung der Stadt Minden gegen diese auch mit auswärtiger Hilfe vorzugehen – für die obige Fragestellung lässt sich, wenn man die internen Mindener Querelen beiseitelässt,61 festhalten, dass der Bischof im Verbund mit den Verwandten hochstiftspolitisch agierte. Damit wahrte er offenbar auch Schaumburger Interessen, da die Grafenfamilie einen märkischen Einflussgewinn nahe der Stadt Minden in unmittelbarer Nähe zur Weser und damit zu den eigenen Gebieten strikt abgelehnt haben dürfte. Breitere, nicht nur einzelne Akteure, sondern gleich die Herrschaftsträger der gesamten Region umfassende Friedensverträge sind ein weiterer Punkt, der Kooperationen aufzeigt: Am 8. Februar 1348 wurde ein fünfjähriger Landfrieden geschlossen, an dem neben Gerhard (I.) von Minden (dem Onkel des soeben genannten gleichnamigen Bischofs) unter anderem auch der Oberhirte von Osnabrück und Graf Adolf VII. von Holstein-Schaumburg, Gerhards Bruder, beteiligt waren.62 Als weitere Bündnispartner schlossen sich Otto I. Herr zur Lippe († 1360) als Schwager Adolfs VII.,63 Hermann II. Graf von Everstein († 1350/53) als Ottos Schwager64 sowie die Städte Herford, Osnabrück, Minden, Lübbecke und Lemgo an, was hinsichtlich der geographischen Ausdehnung des Pakts zeigt, dass dieser eindeutig vorrangig auf das Gebiet zwischen der Grafschaft Schaumburg und dem Hochstift Osnabrück ausgerichtet war – der damalige Elekt von Hildesheim, wie bereits erwähnt einer von Gerhards Brüdern, war dagegen nicht im Landfrieden vertreten. Im Mindener Episkopat des Schaumburgers Heinrich lassen sich sogar mehrere Landfrieden und andere Bündnisse als Beleg für das dynastische Zusammenwirken mit den benachbarten Verwandten anführen:65 Am 10. März 1483 war der Kirchenfürst gemeinsam mit seinen Brüdern Erich und Anton Teil einer groß angelegten Koalition, die außerdem die Bischöfe von Osnabrück und Paderborn, Herzog Friedrich II. von Braunschweig-Calenberg († 1495), den Grafen Johann I. von Rietberg († 1516) sowie zwei Edelherren aus den Häusern Lippe und Diepholz einschloss.66 Gut vier Jahre später folgte ein Bündnis Heinrichs, Erichs und An61 Dazu Scriverius, Die weltliche Regierung 1, S. 144 f. Zur Osnabrücker Sicht auf die Angelegenheit Ertwini Ertmanni Cronica sive catalogus episcoporum Osnaburgensium, in: Die Chroniken des Mittelalters, hg. von Friedrich Philippi und Hermann Forst (Osnabrücker Geschichtsquellen 1), Osnabrück 1891 (ND Osnabrück 1977), S. 19–174, hier S. 102 f. 62 Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins oder des Erzstifts Cöln, der Fürstenthümer Jülich und Berg, Geldern, Meurs, Cleve und Mark, und der Reichsstifte Elten, Essen, und Werden, Bd. 3, hg. von Theodor Josef Lacomblet, Düsseldorf 1853, Nr. 456, S. 366–368 (1348 Febr. 8), zu den Beteiligten S. 366. Auch zum Folgenden. 63 Adolf VII. hatte Heilwig zur Lippe, Ottos Schwester, geheiratet: Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 66, S. 89‒91, hier S. 91; Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 299 und 335. 64 Nach Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. I/3, Taf. 335, war Hermann mit Adelheid zur Lippe verheiratet. 65 Vgl. insgesamt Dirk Brandhorst, Untersuchungen zur Geschichte des Hochstifts Minden im Spätmittelalter, (unpubl. Magisterarbeit Göttingen 1993), S. 96–98. 66 Lippische Regesten. Aus gedruckten und ungedruckten Quellen bearbeitet, Bd. 4: Vom J. 1476 bis zum J. 1536 nebst Nachträgen zu den ersten drei Bänden, bearb. von Otto Preuß und August Falkmann, Detmold 1868, Nr. 2663, S. 83 (1483 März 10).

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tons mit Bernhard VII. zur Lippe (* um 1429, † 1511) und wiederum einem Welfen, in diesem Fall mit Heinrich dem Mittleren (* 1468, † 1532).67 Für Juni 1491 ist ein Landfrieden zwischen dem Mindener Bischof Heinrich, Herzog Wilhelm von Jülich (* 1455, † 1511), der gleichzeitig über die Grafschaft Ravensberg herrschte, Erich von Holstein-Schaumburg und Bernhard  VII. zur Lippe belegt.68 Wilhelm Schroeder führt darüber hinaus – allerdings ohne einen Anlass zu nennen – eine „Fürstenversammlung“ an, bei der sich in Minden im Frühjahr 1492 Heinrich, sein Bruder Anton, der Osnabrücker Bischof Konrad (* um 1456, † 1508), Herzog Heinrich von Braunschweig, Johann von Oldenburg (* 1460, † 1526), Bernhard und Simon zur Lippe (* 1430, † 1498), Nikolaus von Tecklenburg († 1508) und sein gleichnamiger Sohn († 1541) sowie Johann von Rietberg mit seiner Tochter Margarethe zusammengefunden haben sollen.69 Insgesamt belegt dies, dass Heinrich insbesondere im bündnispolitischen Rahmen auch noch knapp 20 Jahre nach seinem Mindener Amtsantritt enge Verbindungen zu seinen weltlichen Brüdern pflegte – übrigens auch abseits von Koalitionen: Beispielsweise quittierte er im August des Jahres 1476 gemeinsam mit seinem Bruder Erich den Erhalt eines Abschlags für den Brautschatz von dessen Frau Heba von Ostfriesland (* 1457, † wohl um/nach 150870) und war somit anscheinend in die Eheanbahnung oder zumindest in deren finanzielle Organisation involviert.71 Die Stiftung eines Franziskanerklosters in Grevenalveshagen (Stadthagen) unternahmen Heinrich, Erich und Anton von Holstein-Schaumburg ausweislich einer in den vatikanischen Quellen zum 27. März 1484 überlieferten Supplik gemeinsam72 – eine Übereinstimmung in geistlichen wie finanziellen Fragen, die an die eingangs zitierte Pilgerreise Bischof Gerhards (II.) von Minden und seines weltlich gebliebenen Bruders 1366 erinnert. Heinrichs gutes Einvernehmen mit seinem näheren dynastischen Umfeld äußerte sich ferner in Hilfeleistungen seiner Brüder, die gezielt seine Herrschaftsposition in Minden stärkten: In den 1470er und 1480er Jahren vermittelte Erich die Rückgabe der Mindener Stiftsburg Rahden73 und war am 1. April 1483 als Mitsiegler an einer Urkunde beteiligt, mit der Heinrich der Ritterschaft, seiner Kathedralstadt 67 68 69 70 71 72

Ebd., Nr. 2719, S. 116 f. (1487 Aug. 21). Ebd., Nr. 2771, S. 145 f. (1491 Juni 3). Wilhelm Schroeder, Chronik des Bistums und der Stadt Minden, Minden 1886, S. 397. Dazu Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, S. 120. Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Aurich, Rep. 1, Nr. 263 (1476 Aug. 12). Archivio Apostolico Vaticano, Reg. Suppl. 833, fol. 239v (1484 März 27). Siehe hierzu Repertorium Germanicum, Bd. 10: Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Sixtus’ IV. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutsches Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1471–1484, Tl. 1: Text, Bd. 2, hg. von Ulrich Schwarz u. a., Berlin/Boston 2018 (RG X,1,2), Nr. 3472, S. 836. – Im neugegründeten Konvent von Stadthagen wurde Erich später auch bestattet: Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 94, S. 118‒120, hier S. 119. 73 LAV NRW W, Msc. VII, Nr. 2411 b, darin Nr. 205 (1475), Nr. 206 (1481 Aug. 16) und Nr. 208 (1482 Apr. 11); LAV NRW W, Msc. VII, Nr. 2423 b, fol. 284r (1483 März 26). Vgl. hierzu Matthias Kuck, Burg und bischöfliche Herrschaft im Stift Minden, online publ. Diss. Münster 2000, S. 143.

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und den anderen Städten seines Stifts gegen die Zahlung einer einmaligen, wohl dringend benötigten finanziellen Hilfe in Höhe von insgesamt 1.180 Rheinischen Gulden ihre Privilegien bestätigte.74 Im Jahr 1501 besiegelten Heinrichs Brüder Anton und Johann sowie Bernhard VII. zur Lippe als Schwager der drei Schaumburger einen von ihnen verhandelten Friedensvertrag zwischen Heinrich und der Stadt Minden.75 Bernhard hatte 1450 Anna von Holstein-Schaumburg geheiratet76 und mit seinem Bruder Simon als Bischof von Paderborn bereits 1479 gemeinsam mit dem genannten Erich einen Vertrag mit dem welfischen Herzog Wilhelm I. von Braunschweig-Lüneburg (* 1392, † 1482) ausgehandelt, der Bischof Heinrich den Besitz des Hochstifts Minden im Bereich zwischen dem Höhenzug Deister und dem Fluss Leine verbriefte.77 Heinrichs Mindener Episkopat war somit nicht nur von größer angelegten Bündnissen unter Einschluss der Verwandten zur Verständigung und Friedenswahrung in der Region geprägt, sondern der Oberhirte erfuhr daneben eine massive Unterstützung durch seine eigenen Brüder, was seine Handlungsspielräume in seiner äußerst langen, mehr als drei Jahrzehnte dauernden Amtszeit immens weitete. Die Folgen solcher Aktionen dürften wechselseitig gewesen sein: Indem Heinrichs Herrschaft in Minden gestützt wurde, konnten seine weltlich gebliebenen Verwandten auf der östlichen Seite der Weser ihre Westgrenze als gesichert betrachten und sich gleichzeitig eines nahen, ihnen verpflichteten Bündnispartners sicher sein. Insofern ist von einer beidseitigen Stabilisierung der jeweiligen Herrschaften und Handlungsspielräume auszugehen – eine Konstellation, die sich ganz so detailreich für die übrigen hier untersuchten Prälaten in den vorangegangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten nicht nachweisen lässt, woran aber höchstwahrscheinlich auch die zum Teil großen Überlieferungslücken ihren Anteil haben. Wohl kaum in einer anderen Handlung kommt die Verbundenheit eines Geistlichen mit der eigenen Dynastie deutlicher zum Tragen als in seinem Rücktritt in den säkularen Stand aufgrund familiärer Verpflichtungen. Genau dies lässt sich an Heinrich III. von Holstein-Rendsburg beobachten: Er war am 2. Februar 1402 vom Osnabrücker Domkapitel zum neuen Oberhirten gewählt worden, wirkte aber nur die folgenden rund zwei Jahre im Bistum. Im Jahr 1404 wandte er sich, nachdem seine beiden einzigen Brüder, Gerhard V. und Albrecht, zuvor kurz nacheinander verstorben waren, wieder zurück in den Rendsburger Landesteil,78 während in der 74 Mindener Stadtrecht. 12. Jahrhundert bis 1540, bearb. von Johann Karl von Schroeder (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen VIII; Westfälische Stadtrechte 2), Münster 1997, Nr. 151, S. 284 f. (1483 Apr. 1), hier S. 285. 75 Kommunalarchiv Minden, Stadt Minden A I, Nr. 433 (1501 März 24). Ein Regest findet sich in: Mindener Stadtrecht, Nr. 162, S. 289. Druck: Ernst Albert Friedrich Culemann, Sammlung derer Vornehmsten Landes-Verträge Des Fürstenthums Minden, Minden (Johann August Enax) 1748, Nr. 6, S. 22 f. Hierzu Brandhorst, Geschichte des Hochstifts Minden, S. 105. 76 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 99, S. 124 f. 77 Regest: LAV NRW W, Msc. II, Nr. 189 a, Nr. 176, S. 70 (1479 Mai 20). Dazu mit weiteren Bündnisverträgen Kuck, Burg und bischöfliche Herrschaft, S. 144. 78 Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 55, S. 78 f. Zum Tod Gerhards V. und Albrechts siehe ebd., Nr. 53 f., S. 76 f.

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Diözese Otto von Hoya († 1424), bereits Elekt von Münster, sein Koadjutor und nach der Resignation 1410 schließlich als Administrator sein Nachfolger wurde.79 Ohnehin hatte Heinrich ohne die höheren Weihen im Bistum geherrscht: Noch 1408, als faktisch bereits Otto die Regierungsbefugnisse versah, ließ sich Heinrich mit einem Dispens, der kurz vor seiner Resignation noch einmal verlängert wurde, von der Pflicht, die Weihegrade zu empfangen, freisprechen.80 Eine Ehe ging Heinrich nie ein; notwendig war seine Rückkehr samt Bestellung eines Osnabrücker Koadjutors aber offenbar, da Gerhards Söhne, die späteren Grafen Heinrich IV. (* 1397, † 1427), Adolf XI. (* 1401, † 1459) und Gerhard (* 1404 als Posthumus, † 1433), noch minderjährig waren und sich die Vormundschaftsregierung mit der zwischen Osnabrück und dem Rendsburger Herrschaftszentrum liegenden geographischen Distanz wohl nicht adäquat führen ließ.81 Umgekehrt war wohl diese räumliche Entfernung ein wichtiger Grund dafür, warum die Kontakte zwischen den auch in Schaumburg herrschenden Dynastieangehörigen und ihren Verwandten auf dem unmittelbar benachbarten Mindener Bischofsstuhl sehr viel enger erscheinen als bei Geistlichen auf anderen Kathedren beziehungsweise aus anderen Linien des Grafenhauses. Verantwortlich für diese sich aufdrängende Sichtweise können natürlich auch Überlieferungsverluste gewesen sein, aber große Allianzen über mehrere hundert Kilometer, wie sie dann beispielsweise beim Olmützer Bischof Bruno und seinen Verwandten aus dem Älteren Haus Schaumburg etabliert worden wären, hätten höchstwahrscheinlich einen Niederschlag in den Quellen gefunden. Völlig abgerissen sind die Verbindungen zum dynastischen Herrschaftsbereich allerdings wohl auch in Brunos Fall nicht, denn in den ca. 200 Dörfern sowie sechs Städten, die dieser Oberhirte in Mähren gründete, fanden, wie Jan Bistřický erklärt, Siedler „seiner [Brunos] norddeutschen Heimat und des mährischen Binnenlandes“ eine neue Wirkungsstätte.82 Trotz großer Distanzen konnten demnach Kontakte zu den weltlich gebliebenen Verwandten 79 Vgl. den Eintrag in der kurialen Überlieferung zur Übernahme des Bistums durch Otto von Hoya, der zugleich Elekt von Münster war: RG online, RG III 01757 zu 1410 Juli, URL: http:// rg-online.dhi-roma.it/RG/3/1757 (26.6.2020). Siehe zudem Hergemöller, Heinrich von Schleswig und Holstein († 1421), S. 532; Alois Schröer und Bernd-Ulrich Hergemöller, Otto von Hoya († 1424), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 532 f., hier S. 532. 80 Repertorium Germanicum (RG) online, RG II 08954 zu 1408 Febr. 17 und Juni 27, URL: http:// rg-online.dhi-roma.it/RG/2/8954 (26.6.2020); RG III 00054 zu 1410 März 6, URL: http://rgonline.dhi-roma.it/RG/3/54 (26.6.2020). 81 Albert von Hoya, der Vorgänger Heinrichs von Holstein-Schaumburg auf der Mindener Sedes, gab dagegen seine Bischofswürde nicht auf und setzte auch keinen Koadjutor ein, als er der Vormund für seinen unmündigen Neffen Jobst wurde – allerdings grenzte die Grafschaft Hoya direkt an das Hochstift Minden, sodass sich beide Funktionen räumlich und auch realpolitisch gut verbinden ließen. Siehe Schnack, Zwischen geistlichen Aufgaben, Kap. VI.4.1.1. Zu Heinrichs Neffen und Nichten vgl. Bei der Wieden, Schaumburgische Genealogie, Nr. 58‒62, S. 80‒85. 82 Jan Bistřický, Bruno von Schauenburg (Schaumburg) (um 1205‒1281), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin Gatz, Berlin 2001, S. 507‒509, hier S. 508.

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und ihrem Herrschaftsgebiet aufrechterhalten werden, wenngleich deutlich engere Kooperationen eher unter den unmittelbar benachbart ansässigen Geistlichen und ihren Dynastiemitgliedern zu beobachten sind.

Fazit Abschließend erscheint genau diese Erkenntnis als eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung: Je geringer die Entfernung zwischen dem jeweiligen Hochstift und dem Herrschaftszentrum der Grafenfamilie war, desto enger und vielseitiger gestalteten sich die Beziehungen zwischen dem Bischof beziehungsweise Elekten und seinen weltlich gebliebenen Verwandten. Dies mag auf den ersten Blick banal erscheinen, lenkt aber den Blick auf die grundsätzlichen Dispositionen bischöflicher und gräflicher Herrschaft innerhalb einer größer gefassten Region. Spätmittelalterliche Kirchenfürsten waren zugleich Landesherren und in der Hochstiftspolitik – zumal angesichts oft leerer Kassen und einer Fülle von Gegnern – zwingend auf tragfähige Koalitionen angewiesen; ihre weltlichen Familienmitglieder strebten ebenfalls danach, sich im Umfeld der übrigen geistlichen wie weltlichen Akteure zu behaupten. Handlungsspielräume für eine nach Möglichkeit nicht nur rein passive, auf die verschiedensten Zwänge reagierende Herrschaft ließen sich somit am besten in Kooperation mit Familienmitgliedern erlangen. Aus diesem Grunde erscheint es nur logisch, dass insbesondere die auch in Schaumburg ansässigen Vertreter der Pinneberger Linie für ihre nachgeborenen Söhne hochrangige geistliche Pfründen vorrangig im Weserraum (sowie hinsichtlich der Kanonikate nahe Holstein) im Blick hatten, von denen ausgehend dann der Sprung auf eine Kathedra im südelbischen Gebiet gelingen konnte. Ein wichtiger Fokus lag hierbei auf dem Bistum Minden, das wegen seiner Grenze zur Grafschaft Schaumburg quasi für eine zumindest temporäre Arrondierung beziehungsweise Erweiterung dieses Herrschaftsgebiets mit politischen und möglicherweise auch wirtschaftlichen Vorteilen sorgen konnte. Gelang es dann beispielsweise noch, einen Onkel und einen Neffen auf dieser Sedes zu installieren, wie Mitte des 14. Jahrhunderts in Minden geschehen, konnten die Bande noch enger geknüpft werden, auch wenn das Bistum dann wieder für längere Zeit im Zugriff anderer, konkurrierender Niederadelsfamilien lag. Das weiter östlich gelegene Hildesheim scheint weniger stark im Fokus gestanden zu haben; im Falle Osnabrücks zeigte sich am Rücktritt des Rendsburgers Heinrich  III. bei der Übernahme der Vormundschaft über seine unmündigen Neffen und Nichten der Nachteil großer räumlicher Entfernungen. Gelangte aber ein Schaumburger beispielsweise auf die Mindener Kathedra, so bedeutete dies Frieden an der Grenze zwischen Hochstift und Grafschaft, ein Ausbleiben von Konflikten bei gleichzeitiger Einbindung geistlicher wie weltlicher Dynastiemitglieder in regionale Bündnisse und auf diese Weise – soweit auf Basis der oft eingeschränkten Überlieferungslage festzustellen – eine beidseitige Erweiterung der Handlungsspielräume. Wählt man also einen dynastischen Zugriff, um die Akteure und politischherrschaftlichen Mechanismen einer Region zu untersuchen, ist es demnach

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zwingend nötig, mindestens auch einen Seitenblick auf die abgeschichteten Familienmitglieder und ihr Wirken in hochrangigen kirchlichen Funktionen wie Bischofsämtern zu werfen, da dies einen zum Teil erheblichen Einfluss auf den engeren weltlich gebliebenen Verwandtenkreis haben konnte – bei Weitem nicht nur dann, wenn ein Brüderpaar gemeinsam eine Pilgerreise antrat.

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Das Regierungsziel Herzog Ulrichs von Mecklenburg Abstract The study of Lutheran writings deeply influenced Ulrich’s, Duke of Mecklenburg understanding of his duties and his governmental program. With the common good in mind, he had committed himself to several wide-ranging goals, ranging from the physical protection of his subjects to the promotion of their souls’ salvation. For this purpose, he not only issued numerous regulations for both the Mecklenburg state and church in his 48 years of government, but was also keen to ensure their implementation. He therefore assumed a significant part of the responsibility for the day-to-day administration of justice himself, in order to ensure that his official duties were conscientiously fulfilled. Despite Ulrich’s efforts to keep order, cases of homicide and sexual offences of a violent or immoral nature at best slightly decreased in Mecklenburg during his reign although offenders were usually brought to justice. If this was not achieved it was believed at that time that the wrath of God would be incurred affecting the entire Duchy in the form of wars, epidemics, crop failures and other great evils. It was imperative to avoid this in the interest of the common good. Ulrich devoted himself seriously and tirelessly to his governmental duties throughout his life. Despite this, he experienced increasing threats of war and hunger towards the end of the 16th century. Since values-based action is measured primarily by adherence to precepts and less by success, Ulrich continued to pursue his goal even in the crisis of the 1590s. With his striving towards an orderly state, he consistently served the public welfare and alleviated the hunger crisis of 1597/98 through providing direct aid.

Am Beispiel Mecklenburgs und Pommerns lotete Oliver Auge Handlungsspielräume fürstlicher Politik in den fünf Bereichen Finanzen, Familie, Stände, Stellung im Reich sowie dynastische Repräsentation aus und gelangte zu dem Ergebnis, dass mittelalterliche Landesherren nicht zweckrational ihre Handlungsmöglichkeiten erweiterten, sondern häufiger reagierten als agierten.1 Wie verhielt sich dies jedoch in der Frühen Neuzeit? Der von 1555 bis 1603 regierende Herzog Ulrich von Mecklenburg-Güstrow wirkte als Oberst des Niedersächsischen Reichskreises wie auch durch verwandtschaftliche Verflechtungen über Landes- und Reichsgrenzen hinaus. In der Kürze eines Aufsatzes können die Handlungsspielräume der nahezu 1

Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009.

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ein halbes Jahrhundert währenden Regierung dieses bedeutenden Fürsten freilich nicht umfassend analysiert werden. Deswegen wird ein methodisch anderer Weg beschritten, der sich auf den Kern beschränkt, von dem aus sich alles erschließt: Welches Ziel verfolgte Herzog Ulrich von Mecklenburg mit seinem Regierungshandeln? Trotz der enormen landesgeschichtlichen Bedeutung Herzog Ulrichs beschäftigte sich die Forschung bislang kaum mit seiner Regierungsweise. Es sind ausschließlich Kurzbiographien und Chroniken vorhanden, die ihn übereinstimmend charakterisieren: So meinten Erika und Jürgen Borchardt, prägend für Herzog Ulrichs Regierung seien dessen Sinn für die Ordnung des Staatswesens wie auch seine Sparsamkeit gewesen.2 Damit wiederholen sie eine aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammende Einschätzung des Schweriner Archivars Friedrich Lisch, der außerdem noch bemerkte, Ulrich habe regiert als „der wahre Vater des Vaterlandes, das er über alles liebte und pflegte und dessen Glück ihm weithin hohes Vertrauen erwarb.“3 Ordnung und Sparsamkeit Ulrichs seien demnach Ausdruck seiner landesväterlichen Liebe gewesen, was wiederum weniger ein eigenes Forschungsergebnis Lischs sein dürfte, sondern wohl auf den ein Jahrhundert zuvor sich als Chronist betätigenden Pastor David Franck zurückgeht. Dieser befand bereits, Herzog Ulrich habe mit seiner „unverrücklichen Sorgfalt für das Beste des Vater-Landes“ gewirkt und hierzu das Staats- und Kirchenwesen geordnet.4 Zur Regierungsprogrammatik Herzog Ulrichs finden sich allerdings verstreut unter den Akten des Landeshauptarchivs Schwerin einige aussagekräftige Quellen, die zu einer Gegenprüfung dieser Ansicht einladen. Enthalten sind sie in den vier Beständen Regierungskollegien und Gerichte, Gesetze und Edikte, Amtliche Drucksachen sowie Kirchen und Schulen.5

2 Erika und Jürgen Borchardt, Mecklenburgs Herzöge. Ahnengalerie Schloß Schwerin, Schwerin 1991, S. 56 f. 3 Friedrich Lisch, Mecklenburg in Bildern, Bremen 1994, S. 62. 4 David Franck, Des Alt- und neuen Mecklenburgs eilftes Buch. Von Mecklenburgs Ruhestand unter Herzog Ulrich zu Güstrow. Worin von Verbesserung der Landesordnungen, Lehn- und Landesrecht, Türckensteuern, Land- und Convocationstägen, auch was unter den Gelehrten, besonders im Güstrowschen Predigtampt und wegen Unterschreibung der Formulae concordiae vorgefallen, Güstrow/Leipzig 1755, S. 138. 5 Landeshauptarchiv Schwerin (LHAS), 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte; ebd., 2.12–2/3 Gesetze und Edikte; ebd., 2.13–1 Amtliche Drucksachen; ebd., 2.12–3/4 Kirchen und Schulen.

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Ordnungstätigkeit Herzog Ulrichs umfangreiche Ordnungstätigkeit fand in Mecklenburg nicht ihresgleichen. Er ordnete verschiedentlich Landeskirche6 und Landgericht,7 erließ zwei Policeyordnungen8 und versah mit diversen Ordnungen auch den herzoglichen Hof,9 die Kanzlei10 sowie die Amtsverwaltungen.11 Zudem war er darauf bedacht, Ordnungen nicht allein im Druck herauszugeben, sondern auch für ihre Anwendung   6 Kerckenordeninge. Wo ydt mit christlyker lere, vorrekinge der sacramente, ordination der denere des evangelii, ordentlyken ceremonien in den kerken, visitation, consistorio unde scholen im hertochdome tho Meckelenborch etc. geholden werde, Rostock 1557; Revidirte kirchenordnung. Wie es mit christlicher lehre, reichung der sacrament, ordination der diener des evangelii, ordentlichen ceremonien in der kirchen, visitation, consistorio und schulen im hertzogthumb Meckelnburg etc. gehalten wirdt, Rostock 1602; Der durchleuchtigen hochgebornen fürsten und herren, herrn Johans Albrechts und herren Ulrichs, gebrüdern, hertzogen zu Meckelnburgk, fürsten zu Wenden, grafen zu Schwerin, der lande Rostock und Stargart herren, kirchengerichts- oder consistoriiordnung. In ihrer fürstlichen gnaden universitet zu Rostock angerichtet, Rostock 1570; Constitution der hertzogen zu Meckelburgk etc. wie es hinfüro mit den superintendentzen, auch kirchenpersonen und -gütern und etlicher dabey befundener mengel halben in ihrer fürstlichen gnaden landen gehalten werden soll, Rostock 1571.   7 Reformation und landtgerichtsordnung unserer von gots gnaden Johans Albrechten und Ulrichen, gebrüdern, hertzogen zu Mecklenburgk, fürsten zu Wenden, grafen zu Schwerin, Rostock und Stargardt der lande herrn, Rostock 1558; Reformation und hoffgerichtsordnung unser von gotts gnaden Johans Albrechten und Ulrichen, gebrüdern, hertzogen zu Meckelnburg, fürsten zu Wenden, graven zu Schwerin, der lande Rostock und Stargart herrn. Auffs neue ubersehen und verbessert, Rostock 1568; Der durchleuchtigen hochgebornen fürsten unnd herren, herrn Johans Albrechts und herren Ulrichs, gebrüdern, hertzogen zu Meckelnburgk, fürsten zu Wenden, graffen zu Schwerin, der lande Rostock und Stargart herren, hoffgerichtsordnung. Auffs neu ubersehen und verbessert. Mit angehengter römischer kayserlicher mayestät confirmation und privilegio, Rostock 1570.   8 Der durchleuchtigen hochgebornen fürsten und herren, herrn Johans Albrechten und herrn Ulrichen, gebrüder, hertzogen zu Meckelnburg, fürsten zu Wenden, graven zu Schwerin, der lande Rostock und Stargardt herren, policey- und landtordenunge. Auffs neue ubersehen, vermehret und mit irer fürstlichen gnaden underthanen und stende rath und bewilligung zu wolfahrt und auffnemunge irer fürstlichen gnaden landen und leute publicirt und ausgangen, Rostock 1562; Der dürchleuchtigen hochgebornen fürsten und herren, herrn Johans Albrechts und herrn Ulrichs, gebrüdern, hertzogen zu Meckelnburgk, fürsten zu Wenden, grafen zu Schwerin, der lande Rostock und Stargardt herren, policey- und landtordenunge. Auffs neue ubersehen, vermehret und mit ihrer fürstlichen gnaden underthanen und stende rath und bewilligung zu wolfart und auffnemunge ihrer fürstlichen gnaden landen und leute publicirt und ausgangen, Rostock 1572.   9 LHAS, 2.12–1/26 Hofstaatssachen, Hof- und Rangordnungen, Nr. 31, Hofordnung [vor 1564] und Hofordnung 1564, Nr. 1, Hofordnung 1581, Nr. 11, Hofordnung [1590er Jahre], und Nr. 12, Hof- und Amtsordnung 1602. 10 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 60, Kanzleiordnung 1571, Nr. 62, Kanzleiordnung 1573, und Nr. 59, Kanzleiordnung [nach 1576]. 11 LHAS, 2.22–10/14 Domanialamt Güstrow Nr. 5a/1, Amtsordnung 1569; ebd., 2.22–10/26 Domanialamt Stavenhagen Nr. 106, Amtsordnung 1583; ebd., 2.22–10/23 Domanialamt Schwaan Nr. 141, Amtsordnung 1597.

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zu sorgen. Im kirchlichen Bereich wachte er hierüber mittels Visitationen.12 Ebenso drang er auf Umsetzung der Policeyordnung. So merkte Ulrich seinem Bruder Herzog Johann Albrecht I. gegenüber kritisch an: Wenn „einem dinge ein guter anfangk gegebenn und darnach nicht das weinigste exequiret wirdet, darvon ist weinig zu ruhmenn.“13 Desgleichen prüfte er jährliche Abrechnungen der Amtsleute stets persönlich und achtete sowohl auf Unregelmäßigkeiten wie Einsparpotentiale. Vor allem zog er jedoch einen ansehnlichen Teil der Rechtsprechung über die herzogliche Kanzlei an sich. Wie aus einer frühen Kanzleiordnung ersichtlich ist, brachte er anfänglich vier Tage pro Woche mit im Land aufgetretenen Rechtsstreitigkeiten zu.14 Infolge seiner Alleinregierung ab dem Jahr 1576 verdoppelte sich für Ulrich die juristische Arbeit. Die daraufhin abgeänderte Kanzleiordnung sah nunmehr das tägliche Zusammentreten des herzoglichen Rats vor.15 Eine derart penible Ausfüllung einer Funktion über Jahrzehnte hinweg bedeutete für den Amtsträger deutlich mehr Last als Lust. Dementsprechende Spuren hinterließ das Amt in der Persönlichkeit Ulrichs, wie eine Briefstelle des mit den Abläufen am herzoglichen Hof bestens vertrauten Güstrower Domschulrektors Franz Ömeke erhellt. Jenem war bekannt, dass der Herzog auf der Jagd Erholung von den Regierungsgeschäften suchte, dort mitunter sogar fröhlich gestimmt war. Genau einen solchen heiteren Augenblick wollte Ömeke genutzt wissen, um sein Anliegen durch einen Vertrauten beim Landesherrn direkt vortragen und günstiger bescheiden zu lassen: „Ob irgent in der jaget, da dan unser gnediger furst und her pflecht bisweilen lustiger zu sein alß an den orten, da deglichs allerlei beschwerliche sachen und hendell furfallen, euch gelegenheitt furfelle, hievon mith seiner furstlichen gnaden underthenigk zu reden.“16 Selbst auf der Jagd holte den Herzog das Regierungsamt ein. Erst als über 70-jähriger gab Ulrich dem Drängen nach, seinen persönlichen Regierungsstil etwas zu verändern. Während der Herzog selbst seine Reiseherrschaft bis zuletzt fortsetzte, blieben Rechtssachen infolge der 1599 vorgenommenen Kanzleiumstrukturierung den ständig in der Hauptresidenz Güstrow verbleibenden juristischen Räten überlassen, so wie ihm dies Kanzler Jakob Bording nahegelegt hatte: „Wie es dan auch seiner furstlichen gnaden selbst zu etwas erleichterung der muhe, so zu der teglichen verabscheidung der gemeinen parteisachen gehören, in diesem seiner furstlichen gnaden godtlob erreichten hohen löblichen alter dienlich sein konte, welches je seiner furstlichen gnaden auch numehr underthenig gern und

12 Kersten Krüger, Frühmoderner Staat und Konfessionalisierung. Visitationen in Mecklenburg nach der Reformation, in: Menschen in der Kirche. 450 Jahre seit der Einführung der Reformation in Mecklenburg, hg. von Helge Bei der Wieden (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Mecklenburg B/11), Rostock 2000, S. 65–86. 13 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 1075, Herzog Ulrich an Johann Albrecht I., 9.6.1569. 14 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 62, Kanzleiordnung 1573. 15 Ebd., Nr. 59, Kanzleiordnung [nach 1576]. 16 LHAS, 2.12–3/4 Kirchen und Schulen, Nr. 486, Franz Ömeke an Melchior Dankwart, 23.6.1585.

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billig solte gegunnet werden.“17 Mit verbliebener Kraft widmete Ulrich sich auch danach der Ordnung Mecklenburgs. Bereits krank daniederliegend, ließ er zum 13. März 1603 noch die neue Kirchenordnung in Kraft setzen.18 Tags darauf verstarb er. Sein Lebenswerk hatte einen würdigen Abschluss gefunden. Für den Chronisten David Franck stand anderthalb Jahrhunderte später fest: Aufgrund der großen Bemühungen Herzog Ulrichs um die Wohlfahrt des Landes sei dessen Regierungszeit die glücklichste in der bisherigen Geschichte Mecklenburgs gewesen.19 Mecklenburg erhielt nicht wieder einen dermaßen emsig um das Gemeinwohl bemühten Herzog. An der in der landesgeschichtlichen Literatur wiederholt betonten Ordnungstätigkeit dieses Herzogs zum Wohl des Landes besteht also überhaupt kein Zweifel. Nicht beantwortet ist jedoch die Frage, worin er einerseits Anleitung und andererseits einen dermaßen starken Antrieb fand, sich ein halbes Jahrhundert lang nahezu ausschließlich dieser Aufgabe zu widmen.

Lutherische Staatstheorie Ulrich wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. Als Zweitgeborener sollte ein Grundlagenstudium des Rechts und der Theologie in Bayern ihn dazu qualifizieren, Bischof in einem katholischen Reichsbistum zu werden. Rasch nach dem 1547 erfolgten Tod des Vaters Albrecht VII. trat indessen der 20-jährige Ulrich gleich seinen Brüdern offen zur lutherischen Lehre über. Anschließend folgte er seinem im Jahr 1550 unerwartet verstorbenen Vetter Magnus III. als evangelischer Administrator des Hochstifts Schwerin nach, heiratete dessen Witwe Elisabeth von Dänemark und regierte seit der Landesteilung des Jahres 1555 von Güstrow aus halb Mecklenburg. Einen guten Einstieg, um die Amtsauffassung dieses außergewöhnlichen Herzogs im Kern zu verstehen, bietet ein an Johann Albrecht I. adressierter Brief, in welchem es um die unterschiedliche Regierungsweise der miteinander zerstrittenen herzoglichen Brüder geht. Ulrichs persönliche Beschreibung seiner Regierungsprogrammatik lautet dabei: „Da wir doch, ohne rhumb und gleichwoll mit warheit zu melden, aufnemen und gedeÿen unserer landt und leute bei wherender unserer regierung dermassen und mit einer sollichen sorgfeltigkeit in acht gehapt, wie uns sollichs als dem landesfursten in allewege woll angestanden unnd gebueret hatt und wir es fur dem angesicht gottes und in unserm gewissen godtlob wissen zu verantworten.“20 Als Landesherr betrachtete es Ulrich als seine Pflicht und Schuldigkeit, in erster Linie dafür zu sorgen, dass Land und Leute unter seiner Regierung gediehen. Er war bereit, eine Rechenschaft darüber nach dem eigenen Tod vor dem 17 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 354, Jakob Bording an Herzog Ulrich, 3.10.1597. 18 LHAS, 2.12–3/4 Kirchen und Schulen, Nr. 489, Publikationspatent zur Kirchenordnung, 5.3.1603. 19 Franck, Mecklenburgs eilftes Buch, S. 3 f. 20 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 1075, Herzog Ulrich an Johann Albrecht I., 26.5.1569.

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Schöpfer abzulegen. Daher galt seine Sorge bis zuletzt unverändert dem Gemeinwohl. Als weiteren Pfeiler betonte er sein Gewissen. Im herkömmlichen Begriffssinn stellt Gewissen eine moralische Instanz dar. Selbst im Luthertum setzte sich dieses Verständnis gegen die spezifische Deutung Martin Luthers durch, wonach der Mensch nicht über ein Gewissen verfüge, sondern Gewissen sei.21 Sein Jurastudium erwies sich für Ulrich nach Regierungsantritt von Nutzen, da er von nun an den größten Teil seines Lebens mit regelmäßiger Beratung rechtlicher Streitigkeiten zubrachte. Zugleich stand er der mit dem Sternberger Reformationsbeschluss des Jahres 1549 zu errichtenden mecklenburgischen Landeskirche vor, sodass Ulrichs theologisches Wissen ebenfalls Verwendung fand. Evangelische Theologie verinnerlichte er so weit, dass er gegen Lebensende sein persönliches Glaubensbekenntnis in Form eines lutherischen Katechismus niederlegte und publizierte.22 Daher darf vorausgesetzt werden, dass dem zutiefst frommen Herzog die reformatorische Standardschrift Von weltlicher Obrigkeit bestens bekannt war, in der Martin Luther einst einen jeden deutschen Fürsten ermahnt hatte: „Auffs erst muß er ansehen seyn unterthan und daselb seyn hertz recht schicken. Das thut er aber denn, wenn er alle seynen synn dahyn richtet, das er denselben nutzlich und dienstlich sey. […] Das alßo eyn furst ynn seynem hertzen sich seyner gewallt und uberkeyt eussere und nehme sich an der notturfft seyner unterthanen und handele darynnen, als were es seyn eygen notturfft.“23 Dieses erste Gebot praktizierte Herzog Ulrich genau. Seine Regierung orientierte sich eng an den Maßgaben Luthers, wenngleich diese weder ein geschlossenes gedankliches Gebäude bildeten noch eine moderne Staatsidee darstellten.24 Ulrichs Regierung war einer der seltenen Momente in der Geschichte, von denen Luther geschrieben hatte: „Geredt nu eyn furst, das er klug, frum odder eyn Christen ist, das ist der großen wunder eyns und das aller theurist zeychen gotlicher gnaden uber dasselb landt.“25 Die göttliche Segnung eines Landes mittels eines ausgezeichneten Fürsten steht gedanklich der mittelalterlichen Königsheil-Vorstellung nahe, wonach „die Existenz des Herrschers das Wohlergehen des beherrschten Volkes beeinflusst und Kriegsglück (Krieg), gutes Wetter, Erntesegen, Wohlstand sowie den Bestand der ethnischen Gemeinschaft (mit)bewirkt.“26 Reichte nach mittelalterlicher Vorstellung die vom gesegneten Herrscher ausgehende Magie zur Sicherung des Landeswohls aus, genügte dies den Schriften Luthers zufolge nicht mehr, sondern es bestand die Forderung nach Hingabe des 21 Siehe dazu insb. Gerhard Ebeling, Lutherstudien, Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen –Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, S. 108–125. 22 Ulrich von Mecklenburg, Kurtze wiederholung etlicher fürnemer heuptstücke christlicher lehre nach ordnung des catechismi. Durch eine hohe fürstliche person zusammengetragen. Mit einer vorrede Andreae Celichii Meckelnburgischen superintendenten, Leipzig 1595. 23 Martin Luther, Von welltlicher uberkeytt. Wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey, in: D. Martin Luthers Werke, Bd. 11, Weimar 1900, S. 245–281, hier S. 273. 24 Christian Hillgruber, Die lutherische Reformation und der Staat (Schönburger Gespräche zu Recht und Staat 29), Paderborn 2017, S. 10, 65. 25 Luther, Von welltlicher uberkeytt, S. 268. 26 Franz-Reiner Erkens, Königsheil, in: HRG, Bd. 3: Konfliktbewältigung – Nowgorod, Berlin 2 2016, S. 50 f.

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Landesherrn ans Gemeinwohl. Gemeinsam ist beiden Vorstellungen hingegen, dass sich unter guter Landesherrschaft kein großes Unglück ereignet. Im Wissen um die segensreiche Herrschaft ihres Bruders Ulrich sorgte sich Herzogin Anna von Kurland nicht um ihre mecklenburgische Heimat, solange jener dort regierte, desto mehr jedoch um die Zeit danach. Sie richtete daher ihr „betten zu got, das euer liebden mugen lange leben. Wen das ist, so hat das lant und di drinen wonnen keine not. Unnd mugen got danken.“27

Göttliche Strafen An Luthers Schriften orientierte Landesherren hatten sich folglich der Katastrophenabwehr mittels Reorganisation des christlichen Gemeinwesens zu widmen. Die von den Wittenberger Theologen maßgeblich mitgestaltete mecklenburgische Kirchenordnung von 1552 wartete hierzu mit zwei wegweisenden Passagen auf: „So sol auch durch weltliche oberkeit ein ernst erzeigt werden, uneheliche beiwonungen und ehebruch und andere unzucht unnachlesslich zu strafen, uff das weniger leut in unzucht leben. Denn das ist gewislich war, das von wegen solcher sünden ganze land gestraft werden.“28 Weiter heißt es in derselben Kirchenordnung: „Denn das ist ganz gewiss, das die grossen strafen, krieg und verwüstungen, gemeine blindheit und finsternis in der lere, elend der kinder und nachkomen, durch die welt gehen furnemlich von wegen der abgötterei, todschlags und unzucht.“29 Lutherischen Landesherren oblag es demnach, in ihrem Machtbereich Landesordnungen in der Erwartung zu errichten, Verfehlungen wie Unzucht und Totschlag dadurch zu reduzieren. Verbleibende Verstöße waren unnachgiebig zu bestrafen, um Schlimmeres zu verhüten. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, weshalb Herzog Ulrich nicht allein zahlreiche Ordnungen erließ, sondern auch noch täglich viele Stunden mit juristischen Fällen zubrachte, die qualitativ mitunter kaum über Eierdiebstähle hinausreichten. Denn bei frühzeitiger Behandlung ließen sich unangenehmere Folgen vermeiden, die schließlich in Krieg und Verderben münden mochten. Persönlich versehene Rechtspflege war essenzieller Teil der intensiven Bemühungen Ulrichs um das Gemeinwohl, die sich aber nicht darin erschöpften, sondern weit darüber hinaus reichten. Eine Erfüllung der Gebote Luthers war unter lutherischen Landesherren des 16. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich, sondern hing maßgeblich vom Charakter des Landesfürsten ab. Ulrich vertraute auf das Recht und handelte stets durchdacht, war penibel, ernst und friedliebend, außerdem nachtragend und sarkastisch. 27 LHAS, 2.12–1/22 Korrespondenz der herzoglichen Familie untereinander, Nr. 33, Herzogin Anna von Kurland an Herzog Ulrich, 6.6.1592. 28 Mecklenburgische Kirchenordnung 1552, in: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 5: Livland, Estland, Kurland, Mecklenburg. Freie Reichsstadt Lübeck mit Landgebiet und Gemeinschaftsamt Bergedorf. Das Herzogtum Lauenburg mit dem Lande Hadeln. Hamburg mit Landgebiet, hg. von Emil Sehling, Leipzig 1913, S. 161‒219, hier S. 186. 29 Ebd., S. 187.

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Das vertrug sich äußerst schlecht mit seinem cholerischen und spontanen Bruder Johann Albrecht I., der trotz ungenügender Finanzverwaltung wiederholt Söldner einsetzte, wodurch er in so tiefe Schulden geriet, dass sein Landesteil schließlich unregierbar wurde. Die Unterschiedlichkeit der herzoglichen Brüder legte Pastor David Franck treffend in einem Satz offen: „Als Hertzog Johann Albrecht darauf dachte, wie den Rostockern beyzukommen, so ließ sich Hertzog Ulrich der Kirchen und Schulen in seinem Antheil Landes angelegen seyn.“30 Ulrichs Verständnis von Gemeinwohl beinhaltete auch die Förderung von Kirchen und Schulen. Hierzu findet sich aus dem Jahr 1569 eine geeignete Briefstelle: „Uns dan wegen unsers tragenden ambts sonderlich dahin zu trachten geburet, das inforderst in unsern landen gottes ehr unnd unser underthanen seelenheil unnd seeligkeit befurdert werde.“31 Damit stimmt auch das Vorwort der kurz vor Ulrichs Tod noch erlassenen Revidierten mecklenburgischen Kirchenordnung überein: „Nachdem die ewige göttliche maiestet alle christliche fürstenthumb, stedte und herschafften zu diesem fürnembsten und letzten ende geordnet, erhelt und bewaret, das es wonungen und tempel gottes sein, darin ware erkentniß und anruffung gottes und unsers heilandes Jesu Christi leuchte und gott eine ewige kirche durch sein wort und predigampt gesamlet werde.“32 Mit all seinen Regelungen letztlich der Untertanen Seelenheil zu befördern, war Herzog Ulrichs größtmöglicher Dienst am Gemeinwohl. Höchst verärgert reagierte er daher in einem Schreiben des Jahres 1569 an den Stadtrat Neubrandenburgs, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass ein stadtbekannter mehrfacher Mörder dort frei herumlief. Er ermahnte die Städter, den Täter endlich zu verhaften, bei dem sie bisher „durch die finger gesehenn und sollich ubel […] vorsetzlich nicht offenbaren“33 wollten. Handelten die Stadtoberen nun nicht schleunigst, so stand aus Ulrichs Sicht zu befürchten, dass „godt der almechtige entlich nicht alleine eine stadt, sondern ein gantz landt aus seinem gerechten zorn straffen“ müsse. Durch Begünstigung eines stadtbekannten Mörders hätten die Neubrandenburger Ratsleute das gesamte Land der Gefahr göttlicher Bestrafung ausgesetzt, „darob wir dan nicht alleine ein besonders grosses ungnedigs misfallen tragen, sondernn euch auch zum hochsten darumb strafwürdigk erkennen.“ Damit Strafvereitelung im Amt nicht dazu führe, dass Gott die Stadt Neubrandenburg schwer heimsuche oder womöglich sogar das gesamte Land Mecklenburg deshalb in Haftung nehme, war es zur Abwendung solchen Unheils aus Sicht Ulrichs unerlässlich, den Mörder schnellstmöglich vor Gericht zu bringen. 30 David Franck, Des Alt- und neuen Mecklenburgs zehntes Buch. Von Mecklenburgs Ordnungen in geist- und weltlichen Dingen. Darin die Geschicke der Landgerichts-, Policey-, Kirchen-, Consistorii-, Superintendenten- und Closterordnung, auch was in der Stadt Rostock unter den Fürsten, Adel und Gelehrten vorgegangen, Güstrow/Leipzig 1755, S. 149. 31 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 1076, Herzog Ulrich an die von Behr, von Zarnekow, von Barsdorf und von Fahrenholz, 21.12.1569. 32 Kerckenordeninge 1602, S. IIr. 33 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 1076, Herzog Ulrich an Neubrandenburg, 8.9.1569. Dort finden sich auch die folgenden Zitate.

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Kurz zuvor war die nahegelegene mecklenburgische Stadt Waren vollständig niedergebrannt. Als Strafe Gottes „aus seinem gerechtenn zorn uber euwer vielfaltigenn boßheit und mißhandtlungen“ interpretierte Herzog Ulrich den verheerenden Stadtbrand von 1568.34 Wie er allerdings „mit schwermut“ feststellte, führte dies nicht dazu, dass die Warener „hinfurter frommer werdenn und godtseeliger lebenn,“ sondern „unbetrachtet angeregter straffe von tage zu tage mutwilliger und frecher werdenn.“ Dabei war in Ulrichs Augen den Städtern ein überdeutliches Zeichen gegeben worden, dass „godt der almechtige gericht und gerechtigkeit wolle erhalten haben,“ indem vom Brand in der gesamten Stadt einzig und allein der Pranger verschont geblieben und nicht wie der Rest in Schutt und Asche versunken war, was, wie Ulrich hervorhob, „zu vorwundern und eine anzeigung“ sei. Es handele sich um ein göttliches Zeichen, das die Einwohner Warens dringend zur Umkehr gemahnen solle, von diesen aber offensichtlich nicht so verstanden werde. Die Fortsetzung gottlosen Lebens in Waren beschwöre die Gefahr herauf, dass „ßie dan anderweit gottes straff […] ungezweifelt viel herter und scherffer uber sich erregen wurden.“ Eine erneute Bestrafung der Stadt oder diesmal gar des ganzen Landes müsse Ulrich als Landesherr jedoch verhüten, weil er „vonn godt den almechtigenn zum schutz der frommen und straff der bosen“ eingesetzt sei. Daher erging an den Pastor die Weisung, den Bürgern die Situation nochmals „zu gemuet“ zu führen, die Ratsherren aber sollten „ane ansehent der personen und also den reichen sowoll als den armen“ für die Vergehen strafen. Bereits in antiker Vorstellung riefen menschliche Verfehlungen göttlichen Zorn herauf, der sich entweder in einem Unheils- und Vernichtungsgericht oder gar dem Endgericht entlud.35 Diese Anschauung hielt sich die gesamte Frühe Neuzeit über. Ausgesprochen großen Raum nahm der Zorn Gottes in Luthers Theologie ein,36 was nicht ohne Einfluss auf die lutherische Staatslehre blieb. So formulierte der Staatstheoretiker Veit Ludwig von Seckendorff noch Mitte des 17. Jahrhunderts, oberstes Ziel der Gerichtsbarkeit sei es, göttlichen Zorn zu verhüten, indem Verbrechen und Laster gestraft würden.37 Dagegen befand Wolfgang Behringer in seiner Untersuchung zu den Hungerkrisen der 1570er Jahre, dass der Zorn Gottes als echtes Argumentationsmuster vor allem unter den Theologen des 16. Jahrhunderts weit verbreitet gewesen sei, während es sich bei Politikern, Juristen und Ärzten häufig

34 Ebd., Herzog Ulrich an den Stadtrat in Waren, 29.7.1570; ebd., Herzog Ulrich an den Pastor in Waren, 29.7.1570. Dort finden sich auch die folgenden Zitate. 35 Reinhard von Bendemann, Zorn Gottes (NT), in: WiBiLex, 20.8.2018, www.bibelwissenschaft. de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/zorn-gottes-nt/ch/3b1f6d378 c1dc48b358b17610000eb39/ (2.7.2019). 36 Stefan Volkmann, Der Zorn Gottes. Studien zur Rede vom Zorn Gottes in der evangelischen Theologie (Marburger theologische Studien 81), Marburg 2004, S. 77. 37 Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürsten stat, in: Staatslehre der frühen Neuzeit, hg. von Notker Hammerstein, Frankfurt a. M. 1995, S. 237–482, hier S. 406.

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nur um Lippenbekenntnisse gehandelt habe.38 Insofern stellt sich die Frage, welche Bedeutung Herzog Ulrich seiner eigenen Handlungsbegründung zumaß. Die beigebrachten Fallbeispiele Neubrandenburg und Waren entstammen beide dem Ausgangsbuch der herzoglichen Kanzlei, aber die Handlungsbegründung geht mitnichten auf dortige Kanzleischreiber oder Sekretäre zurück, sondern wurde zuvor vom Herzog persönlich mit seinem Kanzler und anderen juristischen Räten abgestimmt. Ulrich verfügte zwar über enge Ratgeber, einige finden sich über Jahrzehnte in seiner Nähe, aber Ulrichs Regierung währte länger als das Leben jedes seiner Vertrauten. Der Wechsel von Räten veränderte jedoch die grundsätzliche Ausrichtung seiner Regierung auf das Gemeinwohl nicht. Katastrophenabwehr als Argumentation findet sich über seine gesamte Regierungszeit hinweg. Zudem lieferte Ulrich diese Handlungsbegründung nicht allein in auf seinen Namen ausgestellten und eindeutig zur Veröffentlichung bestimmten Ordnungen und Mandaten. Diesbezüglich aufschlussreich ist ein Protokoll einer internen Hofgerichtsberatung vom Januar 1585. In der Diskussion, ob gegen den aus mecklenburgischem Adel stammenden Totschläger Otto Ihlenfeld ein Prozess angestrengt werden solle, sprach sich erstens der Landrat Hans Linstow als adliger Standesgenosse im Interesse des Angeklagten für die Einstellung des Verfahrens gegen Verhängung einer Geldstrafe aus. Dies war aus Sicht des Juraprofessors Johann Albin allerdings nicht möglich, weil es ein „ärgerliches Ansehen“39 mit sich bringen konnte. Das abschließende Votum Herzog Ulrichs in der Ratssitzung war gegenüber seinen beiden Vorrednern völlig eigenständig, denn er wog die möglichen Folgen dieser Einzelfallentscheidung nicht allein für sein persönliches Seelenheil und Gewissen, sondern ebenso für das zukünftige Wohl des gesamten Landes ab und kam zum Schluss: „Konne seine furstliche gnade uff sein gewissen allein nicht nemen, er soll recht richten,“ ansonsten „muß godt nicht allein den heren, sondern auch das gantze landt straffen.“ Die Einstellung des Verfahrens gegen Otto Ihlenfeld kam für Ulrich überhaupt nicht in Betracht. Damit folgte er einer Linie, die er zwei Jahrzehnte zuvor durchgesetzt hatte, denn zu seinem Leidwesen hatten schon in den 1560er Jahren Totschläge im Land dermaßen „uberhand genomen, das derselbigen gewonlich des jares mehr gegen hoffe geclagt werden, als tage im jare sein,“ weshalb die mecklenburgischen Herzöge „ainiger vorbitt fur ainigen mutwilligen dodschleger hinfuro mitnichten stadgeben, sondern denselbigen mit ordentlichen rechten ohne alle erbarmunge, ohne underscheid der personen stracks verfolgen“ wollten.40 In Ulrichs Vorstellung bestand das Heil seiner Herrschaft nur so lange, wie er seine Amtspflichten penibel versah. Gesetzesübertreter konnten nicht Gnade vor Recht erwarten, wenn dadurch Ulrichs Landesregierung Glück und Segen abhandenkäme 38 Wolfgang Behringer, Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit, in: Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, hg. von Manfred Jakubowski-Thiessen und Hartmut Lehmann, Göttingen 2003, S. 51–156, hier S. 114. 39 LHAS, 2.12–2/4 Regierungskollegien und Gerichte, Nr. 1103, Protokoll der Ratssitzung vom 27.1.1585. Dort findet sich auch das nachfolgende Zitat. 40 Ebd., Nr. 1070, Herzöge Johann Albrecht I. und Ulrich an Herzog Johann Friedrich von Pommern, 9.8.1569.

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und womöglich das gesamte Herzogtum großer Gefahr ausgesetzt werden würde. Die Zerstörung seines Lebenswerks am Herzogtum Mecklenburg war ihm als Preis für einen falsch verstandenen Gnadenakt eindeutig zu hoch. Als Herzog Christoph von Mecklenburg seinen Bruder 1571 um Wiedereinsetzung eines Pastors bat, welcher bereits zum dritten Mal seine Frau hintergangen hatte, mochte Ulrich dieser Bitte ebenfalls nicht entsprechen, da dies ohne „vorletzunge des gewissens“ nicht geschehen könne und außerdem abzuwägen sei, „ob nicht dardurch gottes zorn wider uns erwecket“ werde.41 In einem speziellen Rundschreiben an seine Amtleute wendete sich Ulrich übrigens zwei Jahre später gegen die von der Unzucht ausgehende große Gefahr für das gesamte Land und erteilte den Auftrag, Verstöße „mit eusserstem ernst“ zu bestrafen, „das wir daher gottes zorn uber uns nicht laden.“42 Furcht vor Gottes Zorn war kein in der Öffentlichkeit abgegebenes bloßes Lippenbekenntnis Herzog Ulrichs, um auf diese Weise womöglich Maßnahmen zur Sozialdisziplinierung leichter durchzusetzen, sondern seine wiederholt auch im kleinen Kreis geäußerte Sorge war echt. Diesbezüglich verhielt er sich weniger wie ein Politiker oder Jurist des 16. Jahrhunderts, sondern glich – wohl infolge intensiven Studiums lutherischer Schriften – in dieser Hinsicht eher den Theologen. Die wiederholten Mahnungen Ulrichs vor dem Zorn Gottes aus den 1560er Jahren fallen besonders auf, weil die Welt damals weitgehend in Ordnung schien.

Krisen des ausgehenden 16. Jahrhunderts Hingegen traten ab den 1570er Jahren in immer kürzeren Abständen Missernten auf. Parallel dazu lässt sich nicht nur bei Ulrich die Argumentation mit dem Zorn Gottes häufiger nachweisen. Vielmehr erfuhr diese Argumentation allgemeinere Verbreitung. Hatten die Policeyordnungen von 1562 und 1572 maßvolle Beschränkungen der Feierlichkeiten bei Hochzeiten, Taufen etc. vorgesehen, ohne einen expliziten Hinweis auf göttliche Strafen bei Zuwiderhandlung zu liefern,43 findet sich ein solcher in einem Mandat Herzog Ulrichs des Jahres 1578. Darin rief er nach Beginn seiner Alleinregierung diesbezügliche Bestimmungen der Policeyordnung nochmals ins Gedächtnis „in dissen gefahrliken tyden, dar sick gades des allmechtigen straff und wolvordente torn allenthalven ogenschynlick sehen leth.“44 Sichtlich häuften sich seit den 1570er Jahren klimatische Auffälligkeiten und Missernten in ganz Europa. Das Klima kippte mit Einbruch der Kleinen Eiszeit, deren Auswirkungen von den Menschen als große Strafen Gottes begriffen wurden. Wovor Theologen, aber auch Herzog Ulrich eindringlich gewarnt hatten, war 41 Ebd., Nr. 1074, Herzog Ulrich an Herzog Christoph, 4.8.1569. 42 LHAS, 2.12–2/3 Gesetze und Edikte, Nr. 1936, Herzog Ulrich an die Amtleute, 9.11.1571. 43 Mecklenburgische Policeyordnung 1562, S. 106–124; Mecklenburgische Policeyordnung 1572, S. 118–142. 44 LHAS, 3.3–1 Landschaft des mecklenburgischen und wendischen Kreises, Nr. 1851, Mandat Herzog Ulrichs gegen übermäßige Feste, 10.5.1578.

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nun scheinbar eingetreten. Im Gegensatz zu urbaneren Gegenden wie Süddeutschland oder Oberitalien betraf Mecklenburg diese Entwicklung anfänglich jedoch nur geringfügig, denn im Land wurde so viel Getreide produziert, dass auch mit schlechteren Ernten nicht allein die hiesige Bevölkerung gut versorgt werden konnte, sondern darüber hinaus immer noch reichlich Korn zum Export zur Verfügung stand. Bei großen Agrarproduzenten führte der krisenbedingt höhere Roggenverkaufspreis sogar eine Gewinnsteigerung herbei. In seiner Kornexportbeschränkung des Jahres 1579 benannte Ulrich nur eine Ursache für die Missernte: „Nachdem durch gottes gerechtenn zornn umb der menschenn vielfaltigenn sunde unnd boßheit willen dieß jhar vast an allenn öhrtenn in unserm furstenthumb unnd landen grosser mißwachs gefueret.“45 Der Handlungsdruck auf die mecklenburgische Landesherrschaft stieg in den 1570er Jahren nur geringfügig an. Noch reichte es aus, den Kornhandel etwas einzuschränken, um Versorgungssicherheit im Land zu gewährleisten. Als Symptom eigener Sündhaftigkeit wurde nicht minder das Vordringen des Osmanischen Reichs nach Mitteleuropa interpretiert. Diese permanent vorhandene Kriegsbedrohung erlangte im großen osmanischen Feldzug der Jahre 1593 bis 1606 einen Höhepunkt. In dieser Lagezuspitzung wies Herzog Ulrich 1593 die mecklenburgischen Superintendenten an, flächendeckend Gebete abzuhalten: „Wann nun hochnötig, das gott der almechtige umb die linderung seines gerechten zorns und abwendung der wollverdienten straff und das er die arme christenheit vor des tÿrannen gewalt schutzen muge, empsiglich angeruffen werde. […] Der ungezweivelten zuversicht, es wirdt ohne frucht nicht abgehen.“46 Gemäß dieser Vorstellung war gegen die Osmanen mit Waffengewalt allein keine dauerhafte Lösung zu erzielen. Der Parchimer Superintendent Anton Bock merkte bei der Weiterleitung des herzoglichen Befehls an seine Pastoren diesbezüglich an: „Denn wo nicht also der grausame feind furerst geistlicherweise in kirchen, heusern unnd gleubigen hertzen fromer christen geschlagen unnd erlegt wirdt, ist zu besorgen, das die reuter unnd knechte im felde, wie sehr man sich auch darumb bemuhet, ihm schwerlich allein wiederstandt thun werden.“47 Auf dem Sternberger Landtag des Jahres 1595 stellte Ulrich wiederum die osmanische Gefahr als Strafe Gottes dar. Erneut ordnete der gottesfürchtige Herzog tägliche Gebete an und ließ außerdem ein spezielles Gebetsbuch abfassen und drucken,48 doch erschien ihm darüber hinaus eine Luxusverordnung notwendig, um schändlichem Hochmut im Land zu begegnen.49 In übermäßiger 45 LHAS, 2.12–2/3 Gesetze und Edikte, Nr. 705, Herzog Ulrichs Kornexportbeschränkung, 23.10.1579. 46 LHAS, 2.12–3/4 Kirchen und Schulen, Nr. 141, Herzog Ulrich an Johann Niefind, 3.11.1593; ebd., Herzog Ulrich an Anton Bock, 3.11.1593. 47 Ebd., Rundbrief Anton Bocks an Pastoren, 24.11.1593. 48 Andreas Celichius, Eine offene herzliche leicht und tröstliche Absolution nach beschehenen früepredigten, auch ein hertzlich gebett wider den wüsten Türcken, in christlicher versamlung zu sprechen auff gnedige anordnung unserer durchleuchtigen und christliebenden oberkeit im hertzogthumb Mecklenburg, Rostock 1595. 49 Joachim Heinrich Spalding, Mecklenburgische öffentliche Landesverhandlungen aus öffentlichen Landtags- und Landesconventsprotocollis gezogen, Bd. 1, Rostock 1792, S. 233.

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Pracht der Kleidung und Üppigkeit der Feste erblickte Herzog Ulrich eine Ursache für den Zorn Gottes. Schüfe man hier Abhilfe, würde sich dessen Zorn etwas legen, wodurch sich letztlich die Osmanen auf dem Schlachtfeld leichter schlagen ließen. Die Dramatik bestand darin, dass der Höhepunkt der osmanischen Gefahr zeitlich mit einer nochmaligen Verschärfung des Klimaeinbruchs zusammenfiel. In den 1590er Jahren war die Witterung so ungünstig wie seit Jahrhunderten nicht.50 Nach den aufeinanderfolgenden Missernten der Jahre 1596 und 1597 erging in Mecklenburg eine wesentlich eindringlichere Kornexportbeschränkung, als dies noch 1579 der Fall gewesen war, damit die grosse beschwerliche teurung, welche der liebe gott sowol uber diese unsere alse andere benachbarte lande nu eine geraume zeithero umb unserer vielfeltigen sünde und undanckbarheit willen alse eine gemeine dürchgehende straff väterlich verhengt, so viel müglich gelindert und derselben auch künfftig nebenst warer und busfertiger erkentnüs unser sünde und besserung unsers leben durch fleissige und von gott dem almechtigen einer jedern obrigkeit anbefohlene getreue auffsicht fürgebauet und gewehret werden müchte.51

Auch in diesem Mandat folgte auf die Ursachenbenennung die landesherrliche Pflicht zur Fürsorge. Erste Linderung der Not versprach die angeordnete Kornexportbeschränkung. Zwar konnte eine Landesherrschaft versuchen, Hungerkrisen mittels solcher Interventionen zu lindern, doch war es im Verständnis der Zeit fahrlässig zu übersehen, dass es sich um eine göttliche Mahnung zu christlicherem Leben handelte. Da in Mecklenburg Getreide eigentlich im Überfluss angebaut wurde, waren die aufeinanderfolgenden Missernten der Jahre 1596 und 1597 und die daraus resultierende Hungersnot 1597/98 beispiellos.52 An dieser krisenhaften Zuspitzung in den 1590er Jahren ließ sich für Ulrich ablesen, dass sich im Lande offensichtlich nach wie vor große Missstände befanden, die er als von Gott eingesetzter Landesherr beseitigen musste, bevor Besserung eintreten mochte. Die Hungerkatastrophe von 1597/98 begriff Herzog Ulrich als erneute Mahnung, die schon in der mecklenburgischen Kirchenordnung des Jahres 1552 benannten Ursachen zu bekämpfen, nämlich Unzucht und Totschläge strenger zu verfolgen, wenn sich diese schon nicht mittels erlassener Ordnungen reduzieren ließen. Nach überstandener akuter Krise bestand eine Reaktion Herzog Ulrichs daher in einem Rundschreiben an seine Amtsleute, ihm sämtliche Fälle von Totschlag und Unzucht der letzten Jahre zu melden, damit solches nicht ungestraft

50 Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 176. 51 LHAS, 2.13–1 Amtliche Drucksachen, Nr. 2040, Herzog Ulrichs Kornexportbeschränkung, 14.10.1597. 52 Tobias Pietsch, Der mecklenburgische Umschlag, in: Mecklenburgische Jahrbücher 122 (2007), S. 7–46, hier S. 39–44.

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geschehe und „dadurch der allmechtige hoch erzürnet und dessen gerechte straff uber das gantze land und alle einwohner verursachet wird.“53 Obwohl Ulrichs Regierungshandeln darauf abgestellt war, dass dasselbe möglichst keinen Anlass zu göttlichen Strafen biete, ereilte Mecklenburg in seiner Regierungszeit nichtsdestotrotz die schwerste Hungerkatastrophe seit Menschengedenken. Diese wurde ihm jedoch nicht persönlich zugerechnet, denn ganz Europa litt damals unter den Auswirkungen der Kleinen Eiszeit. In der Krise unterstützte Ulrich zudem die Untertanen nach Kräften mit Lebensmitteln und Saatgut.54 Zugleich stellte die Hungersnot von 1597/98 für ihn einen Ansporn dar, die Verhältnisse im Land noch besser zu ordnen, um wenigstens künftigem Unheil vorzubeugen. Als ursächlich für göttliche Strafen wurden insbesondere Unzucht und Totschlag angesehen. Wenngleich zum 16. Jahrhundert keine Kriminalstatistiken vorliegen, darf füglich bezweifelt werden, dass Herzog Ulrichs auf das Gemeinwohl ausgerichtete Regierungsprogrammatik die Anzahl trieb- und affektgesteuerter Straftaten merklich reduzierte. Dank der funktionierenden Justiz fand aber zumindest eine strafrechtliche Ahndung solcher Vergehen statt.

Würdigung Unter den adligen Landräten Mecklenburgs erfuhren Ulrichs umfassende Bemühungen zum Gemeinwohl bereits zu Lebzeiten die höchste Wertschätzung, wofür sie Gott dankten und bei diesem ein möglichst langes Leben ihres Landesherrn erbaten: Wir alse underthanen vor gott undt aller werldt ane einegen affect rohmen mußen, we gantz vatterlich undt sorghfeltich eure furstliche gnade derselben landenn undt leutten mit dem reinen, heÿelsamen, unvorfalschedem worte gottes eine guete, lange tzeitraume zeit vorsorget, auch bei guetem fride in diesen landen nicht weineger erhaltenn, sich auch der justitien in der personen undt sonsten vor die allegemeinen underthanen in allen stenden zum hogesten angelegen sein laßen, das wir auch bei unß nicht ermessen oder bedencken konnen, das eine oberichgeit mehr zue thuende oder auch schuldich sein muchte, worfur auch alle underthanen, die unter euer furstlichen gnaden schutz sich enthalten, dem alleinehtegen getreuen gott für solche eine christleiche oberichgeit billich danken und von gott dem allmechtegen wunschen undt bitten, das eure furstliche gnade den iregen undt diesem lande zue troste bei solcher christleichen, fridesamen reigerunge erhalten wolle.55

53 LHAS, 2.12–2/3 Gesetze und Edikte, Nr. 308, Rundschreiben Herzog Ulrichs an die Amtleute, um 1600. 54 Pietsch, Der mecklenburgische Umschlag, S. 41. 55 LHAS, 2.12–1/11 Testamente und Erbschaften, Nr. 52, Landräte an Herzog Ulrich, 27.1.1597.

Das Regierungsziel Herzog Ulrichs von Mecklenburg

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Ähnlich dankbar für die bisherige Regierung Ulrichs erwies sich Superintendent Johann Neovin: Das hochgedachter unser gnediger furst unnd her sich ihres hochtragenden unnd von gott befohlenen ambts gnedichlich erinnere, das ire furstliche gnade nicht alleine darumb zum regenten vorordnett von gott, daß sie solten friede in diesem lande erhalten, gericht unnd gerechtigkeitt handthaben, die frommen schutzen, die bösen straffen, einen jeden rechts verhelffen. Wie den solch ambt ire furstliche gnade hochsten vleißes vorrichtede, worfur wir auch gott den herrn nimmermehr genuchsamb danken konten. Besondern das ire furstliche gnade auch hierzu furnehmblich von gott erweckett, das sie solten ein nutriticius unnd pfleger sein der kirchen unnd schuelen dieser lande unnd daß irer furstlichen gnaden underthanen mitt dem reinen sehlichmachenden wortt gottes zur ewigen sehlicheitt furgesehen unnd vorsorgett werden.56

Desgleichen wünschte Superintendent Johann Freder zu Beginn des Jahres 1603 etliche weitere Regierungsjahre Ulrichs: „Das solche gottliche zusage in euer furstlichen gnaden nach dem gnädigen willen des almechtigen noch viel jar muge erfullet werden, wunscht euer furstlichen gnaden vielgeliebtes vaterland unterthäniglichen […] in billich, dieweil euer furstlichen gnaden demselben gut zu thun […] nicht auffhoret.“57 Die Bewertungen der Zeitgenossen stimmen dahingehend überein, dass mehr als Ulrich für das Herzogtum Mecklenburg leistete, einem Menschen kaum möglich sei. Nach Bekanntwerden der schweren Erkrankung Ulrichs erschollen daher Anfang März 1603 im Land Gebete zu Gott, „das er unsern löblichen landesfursten und herrn, da es ihme also gefellich, auß dieser seiner schweren schwacheit gnediglich helffen und dieser ihrer furstlichen gnaden stadt und lande zu schutz, heil und trost noch beÿ langen gesundem leben erhalten wolle.“58 Diesmal hatten die Gebete aber nicht die gewünschte Wirkung. Eine halbhundertjährige, stets im Interesse des Gemeinwohls geführte Landesregierung ging in diesen Tagen unweigerlich dem Ende entgegen. Damit kann an den Ausgangspunkt zurückgekehrt werden: Wenn Oliver Auge das Handeln spätmittelalterlicher mecklenburgischer Landesherren nicht als zweckrational, sondern zumeist reaktiv beschrieb, wie verhielt es sich mit dem frühneuzeitlichen Herzog Ulrich von Mecklenburg? Der Klassifizierung Max Webers zufolge war Herzog Ulrichs soziales Handeln keineswegs traditional, überzog er doch das Land in nicht gekannter Weise mit neuen Ordnungen. Ebenso wenig kann es – wie noch im Fall der spätmittelalterlichen Fürsten Mecklenburgs – als affektuell bezeichnet werden, war es doch überaus durchdacht, planvoll und gestalterisch. Schließlich passt es auch nicht in die Kategorie zweckrational, denn mitnichten verfolgte er 56 LHAS, 2.12–3/5 Kirchenvisitationen, Nr. 57, Generalvisitation im Hochstift Schwerin, 17.6.1593. 57 LHAS, 2.12–3/4 Kirchen und Schulen, Nr. 2454, Johann Freder d. J. an Herzog Ulrich, 1.1.1603. 58 Ebd., Nr. 489, Rostocker Mandat, 6.3.1603.

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sein Regierungsziel auf jede erdenkliche Weise. Vielmehr wog er die Mittel sorgsam ab, ob sie mit dem Gemeinwohl vereinbar waren oder nicht. Das dem Herzog aus der lutherischen Staatslehre vertraute Regierungsziel Gemeinwohl stellte einen Wert dar. Nach Weberscher Systematik steht Ulrichs Regierungshandeln also dem wertrationalen Idealtypus nahe, weil es sich an Geboten und nicht so sehr am Erfolg orientierte.59 Fehlende Erfolgsorientierung wertrationalen Handelns erklärt außerdem, weshalb Herzog Ulrich trotz gestiegener außenpolitischer und klimatischer Bedrohungen in den 1590er Jahren keineswegs an seiner Regierungsprogrammatik zweifelte, sondern bisherige Anstrengungen verstärkte. Wenngleich weder den Osmanen noch dem Klimaeinbruch mit Bekämpfung von Unzucht und Totschlägen im eigenen Land faktisch beizukommen war, so stand Ulrichs Regierungszeit auch 150 Jahre später noch in höchstem Ansehen, weil der friedliebende Herzog zeitlebens die Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen vermieden, sich stattdessen in den Dienst der Untertanen gestellt und sowohl das Staatswesen als auch die Landeskirche maßgeblich aufgebaut hatte. Weniger fähigen Nachfolgern hinterließ Ulrich ein gut geordnetes Vermächtnis.

Zusammenfassung Das Studium lutherischer Schriften prägte Herzog Ulrichs Amtsauffassung und Regierungsprogrammatik zutiefst. Mit dem Gemeinwohl hatte er sich einem sehr umfangreichen Ziel verschrieben, das vom physischen Schutz der Untertanen bis hin zur Beförderung deren Seelenheils reichte. Hierzu erließ er in 48 Regierungsjahren für das mecklenburgische Staats- und Kirchenwesen nicht allein zahlreiche Ordnungen, sondern war darauf bedacht, diese jeweils auch umzusetzen. Darüber hinaus zog er einen beträchtlichen Teil der Rechtsprechung an sich, um der persönlichen Amtsverpflichtung gerecht zu werden. Wenn in Mecklenburg trotz aller Ordnungsbemühungen Ulrichs die Fälle von Totschlag oder Unzucht gleichwohl kaum zurückgingen, so wurden Straftäter in der Regel gerichtlich belangt. Andernfalls stand im Verständnis der Zeit zu befürchten, den Zorn Gottes auf sich zu lenken, der in Form von Kriegen, Seuchen, Missernten und anderem großen Übel das gesamte Herzogtum in Mitleidenschaft ziehen mochte. Dies galt es im Interesse des Gemeinwohls unbedingt zu vermeiden. Ernsthaft und unermüdlich widmete sich Herzog Ulrich zeitlebens seiner Regierungsaufgabe. Gleichwohl musste er erleben, dass Ende des 16. Jahrhunderts trotzdem die Bedrohung durch Krieg und Hunger anstieg. Da sich wertrationales Handeln aber vor allem an der Einhaltung von Geboten und weniger am Erfolg bemisst, hielt Herzog Ulrich auch in der Krise der 1590er Jahre an seinem Ziel fest. Mit seinen Bemühungen um ein geordnetes Staatswesen diente er ebenso dem allgemeinen Wohl wie durch unmittelbare Hilfsmaßnahmen in der Hungerkrise 1597/98. 59 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1980, S. 12.

Laura Potzuweit

„So ward mit dem Tode der Gemahlin sein Haus einsam und blieb es während seines langen Lebens“1. Beweggründe und Handlungsspielräume des Witwers Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg zwischen 1785 und 1829

Abstract After the early death of his wife Friederike of Württemberg-Mömpelgard, Duke Peter Friedrich Ludwig of Oldenburg did not enter into another marriage and remained a widower for 44 years. Their marriage was originally initiated at the end of the 1770s by the Gottorf relatives in St. Petersburg and primarily served the politics of Catherine the Great, who wanted to achieve a greater independence of smaller German principalities from Austria and Prussia through dynastic marriages between the House of Gottorf and them. Despite the fact that the marriage was obligatory, an intensive affection between Friederike and Peter developed at the latest after the birth of their first son. Those emotions can also be seen as an important influence on the Duke’s longstanding widowhood. Besides, because the marriage had produced two sons before Friederike’s death, Duke Peter Friedrich Ludwig was not forced out of “dynastic reason” to remarry. The heavy debt burden of the Duchy of Oldenburg was another aspect that could have made an expensive second wedding unattractive for Peter. A closer look at the Duke’s “Handlungsspielräume” after his wife’s death revealed that his widowhood had little influence on them. Although it brought with it financial savings due to the reduced household, on a family-dynastic level there was at most an emotional deepening of the already existing dynastic connections to Russia.

Nach gerade einmal vier Jahren und fünf Monaten Ehe verstarb die 20-jährige Friederike Elisabeth Amalie Auguste von Württemberg-Mömpelgard (1765–1785), Frau des Herzogs Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg (1755–1829), Ende November 1785 kurz nach der Totgeburt eines dritten Sohnes. Anstatt jedoch ein weiteres Mal zu heiraten, verblieb der erst 30-jährige Herzog für insgesamt 44 Jahre, bis zu seinem Lebensende, im Witwerstand. Während sich ihm bereits umfangreiche Forschungs1 Günther Jansen, Peter Friedrich Ludwig. Herzog von Oldenburg. Ein Rückblick in Anlass der Enthüllung des Denkmals des Herzogs auf dem Schloßplatz in Oldenburg am 6. Juli 1893, Oldenburg 1893, S. 23.

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arbeiten in der Rolle des Regenten und seinem politischen Agieren2 widmeten, bildet der Zugang zur Person Peter Friedrich Ludwigs noch ein weitgehendes Desiderat,3 allen voran seine Ehe mit Friederike, die Gründe für seine 44-jährige Witwerschaft und die Auswirkungen ebenjener auf sein politisches und persönliches Handeln. Diese Forschungslücke stellt keine Ausnahme dar, sondern ist Teil der epochenübergreifenden, fehlenden Auseinandersetzung mit der Gruppe der Witwer in der Geschichtswissenschaft.4 Denn obwohl verwitwete Frauen bereits seit den 1990er Jahren Mittelpunkt umfangreicher wissenschaftlicher Betrachtungen waren, fristet die Beschäftigung mit Witwern bis dato eher ein Schattendasein. Grund dafür ist unter anderem die allgemeine Annahme, dass Männer nach dem Tod ihrer Ehefrau rasch eine weitere Ehe eingingen5 beziehungsweise sich aus „dynastischer Vernunft“ kein weiteres Mal verheirateten, um die Erb- und Versorgungsansprüche vorhandener Söhne und Töchter nicht durch weitere Nachkommen zu gefährden.6 2 Siehe exemplarisch Bernd Müller, Die Außenpolitik Peter Friedrich Ludwigs von HolsteinOldenburg. Außenpolitisches Handeln, Argumentationen und Ordnungsvorstellungen eines mindermächtigen Fürsten vom Alten Reich bis zum Deutschen Bund 1785–1829 (Oldenburger Studien 70), Oldenburg 2011; Ders. (Hg.), Herzog Peter Friedrich Ludwig von HolsteinOldenburg (1755–1829). Die außenpolitischen Instruktionen, Denkschriften und Testamente. Kommentierte Edition (Oldenburger Studien 77), Oldenburg 2014; Friedrich-Wilhelm Schaer (Bearb.), Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg (1755–1829). Der Begründer eines modernen oldenburgischen Staates. Ausstellung 25. Febr.–25. März 1986, Hannover 1986; Heinrich Schmidt (Hg.), Peter Friedrich Ludwig und das Herzogtum Oldenburg. Beiträge zur oldenburgischen Landesgeschichte um 1800, Oldenburg 1979; Albert C. Schwarting, Oldenburg unter Herzog Peter Friedrich Ludwig von 1785–1811 (Oldenburger Forschungen 2), Oldenburg 1936; Rudolf Vierhaus, Oldenburg unter Peter Friedrich Ludwig, in: Oldenburger Jahrbuch 80 (1980), S. 59–75. 3 Siehe dazu u. a. Günther Jansen, Aus den Jugendjahren des Herzogs Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg, in: Oldenburger Jahrbuch 15 (1906), S. 1–40; Bernd Müller, Die frühen Jahre von Herzog Peter Friedrich Ludwig von Holstein-Oldenburg 1755–1785 (Oldenburger Studien 84), Oldenburg 2016. 4 Erste Versuche, die Forschungslücke zumindest für das Spätmittelalter zu schließen, finden sich bei Oliver Auge und Frederieke Maria Schnack, Fürstliche Witwer im spätmittelalterlichen Reich zwischen dynastischer Räson und persönlicher Motivation: Ein Problemaufriss, in: Archiv für Kulturgeschichte 101 (2019), H. 2, S. 289–315; Laura Potzuweit, Zwischen dynastischer Räson und persönlicher Motivation: Handlungsspielräume fürstlicher Witwer im Spätmittelalter (1250–1550), in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF 8 (2019), S. 121–128. Zum Ausnahmefall für die Position der Witwer in den Kreuzfahrerherrschaften vgl. Philippe Goridis, Gefährten, Regenten, Witwer. Männliche Herrschaft im Heiligen Land der Erbköniginnen, in: Mächtige Frauen? Königinnen und Fürstinnen im europäischen Mittelalter (11.–14. Jahrhundert), hg. von Claudia Zey (Vorträge und Forschungen 81), Ostfildern 2015, S. 163–197. 5 Ulrike Ilg, Fürstliche Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: Fürstliche Witwen in der Frühen Neuzeit. Zur Kunst- und Kulturgeschichte eines Standes, hg. von Ders., Petersberg 2015, S. 5–13, hier S. 5.   6 Vgl. Karl-Heinz Spieß, Fürsten und Höfe im Mittelalter, Darmstadt 2008, S. 50; Ders., Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 111), Stuttgart 1992, S. 421.

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Dennoch finden sich epochenübergreifend immer wieder auch Fürsten, die trotz unzureichender Klärung der dynastischen Nachfolgesituation nach dem Tod ihrer Frau(en) keine erneute Ehe mehr schlossen. Auch die Söhne des Herzogs Peter Friedrich Ludwig waren im Herbst 1785 erst ein beziehungsweise zwei Jahre alt und konnten somit angesichts einer erhöhten Kindersterblichkeit im 18. Jahrhundert noch nicht als sichere Nachfolger ihres Vaters im Herzogtum Oldenburg gelten.7 Ungeachtet dessen blieb der Herzog für über vier Jahrzehnte Witwer. Im Folgenden stehen nach einer Betrachtung der Eheanbahnung von Peter und Friederike daher zunächst die Beweggründe für seine langjährige Witwerschaft im Fokus, bevor sich im zweiten Teil der Blick darauf richtet, ob und wie sich sein Dasein als Witwer auf seine Handlungsspielräume als Fürst auswirkte.8

1. In „stillem Frieden“ – Die Ehe von Peter Friedrich Ludwig und Friederike Der politische Aspekt der Ehe und ein gewisses Pflichtgefühl gegenüber seinem Herzogtum und der eigenen Dynastie waren Peter Friedrich Ludwigs zentrale Motive, sich überhaupt auf Brautschau zu begeben.9 Denn er selbst behauptete unter anderem in Briefen an seinen früheren Erzieher Oberst Karl Friedrich von Staal (1721–1789), dass er kein „Courmacher“10 sei und gleichermaßen aufgrund seines verhärteten Herzens keinen Sinn für das Verliebtsein habe.11 Daher bedurfte es auch des verwandtschaftlichen Drucks aus Russland, damit der noch junge Herzog eine Heirat anstrebte. Im Oktober 1777 wandte sich Graf Nikita Iwanowitsch Panin (1718–1783), Minister für auswärtige Angelegenheiten unter Zarin Katharina II. (1729–1796) und mit der Leitung der Erziehung des Großfürsten Paul (1754– 1801) betraut, in einem Schreiben an Peter Friedrich Ludwig, in dem er die unmissverständliche Bitte nach einer baldigen Hochzeit des Herzogs im Sinne des Gesamthauses Holstein-Gottorf formulierte. Gleichzeitig werden in Panins Schreiben als mögliche Heiratskandidatinnen bereits die noch minderjährigen und unverheirateten württembergischen Prinzessinnen und Schwestern der Großfürstin ins Gespräch gebracht, zu denen Peters spätere Ehefrau Friederike zählte. Da nach außen allerdings der Schein gewahrt werden sollte, dass die Ehe Peters mit einer   7 Siehe u. a. Arthur E. Imhof, Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert, Weinheim 1990.   8 Definition der Handlungsspielräume nach Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009, S. 8; Ders., Zu den Handlungsspielräumen „kleiner“ Fürsten. Ein neues Forschungsdesign am Beispiel der Herzöge von Pommern-Stolp (1372–1459), in: Zeitschrift für historische Forschung 40 (2013), S. 183–226, hier S. 184 f.   9 Vgl. Jansen, Jugendjahren, S. 19 f.; Müller, Jahre, S. 113. 10 Veraltete Bezeichnung dafür, einer Frau den Hof zu machen. Vgl. den Artikel: Courmacher, in: Duden Online, https://www.duden.de/rechtschreibung/Courmacher (9.3.2020). 11 Jansen, Jugendjahren, S. 20.

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Württembergerin nicht auf Basis einer vorherigen Absprache geschlossen worden war, schlug der Minister dem jungen Herzog vor, er möge doch als Vorwand eine Lustreise an mehrere deutsche Höfe unternehmen und im Zuge dessen unter anderem auch den württembergischen besuchen.12 Im Eheprojekt Peters und in Panins Vorschlag, eine württembergische Herzogstochter zu ehelichen, spiegelt sich deutlich die Heiratspolitik von Zarin Katharina II. wider. Durch dynastische Eheverbindungen mit mittleren deutschen Fürstenhöfen13 beziehungsweise dem späteren sogenannten „dritten Deutschland“ und dem königlichen Hof in Schweden bemühte sich die Zarin, ihre Einflusssphäre auf die Gebiete des heutigen Deutschlands auszudehnen und zu festigen, um letztlich eine größere Unabhängigkeit der kleineren Herzogtümer von Österreich und Preußen zu erwirken.14 Eine erste Grundlage war bereits durch die Hochzeit von Friederikes älterer Schwester Sophie Dorothee Auguste (Maria Feodorowna)15 (1759–1828) mit Katharinas ältestem Sohn, dem russischen Thronfolger Paul I., im Jahr 1776 gelegt worden. Eine weitere Ehe zwischen Gottorf und Württemberg sollte somit die zuvor geschaffene Verbindung weiter vertiefen.16 12 Niedersächsisches Landesarchiv Abteilung (NLA) Oldenburg, Best. 6 D, Nr. 430, zit. n. Müller, Jahre, S. 90–92. 13 Die Begrifflichkeit bezieht sich ursprünglich auf das Spätmittelalter, kann aber auch in Teilen für die Neuzeit übernommen werden. Vgl. dazu Peter Moraw, Fürstentum, Königtum und „Reichsreform“ im deutschen Spätmittelalter, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 122 (1986), S. 117–136, hier 123. Für die Neuzeit siehe Johannes Arndt, Monarch oder der „bloße Edelmann“? Der deutsche Kleinpotentat im 18. Jahrhundert, in: Die frühneuzeitliche Mo­nar­ chie und ihr Erbe. Festschrift für Heinz Durchhardt zum 60. Geburtstag, hg. von Roland G. Asch, Münster 2003, S. 59–90. 14 Vgl. Oliver Auge, Das Konnubium der fürstbischöflichen oder jüngeren Gottorfer Linie bis zur Eheschließung Peter Friedrich Ludwigs (1781), in: Die Fürsten des Bistums. Die fürstbischöfliche oder jüngere Linie des Hauses Gottorf in Eutin bis zum Ende des Alten Reiches. Beiträge zum Eutiner Arbeitsgespräch im April 2014, hg. von Dems. und Anke Scharrenberg (Eutiner Forschungen 13), Eutin 2015, S. 15‒37, hier S. 34; Eckard Hübner, Zwischen Stettin und Petersburg. Der Faktor Norddeutschland in Leben und Politik Katharinas II., in: Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, hg. von Claus Scharf (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz: Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 45), Mainz 2001, S. 535–550, hier S. 547 f.; Müller, Jahre, S. 92; Claus Scharf, Katharina II., Deutschland und die Deutschen (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz: Abteilung für Universalgeschichte 153), Mainz 1995, S. 307–312; Gerd Steinwascher, Die Oldenburger. Die Geschichte einer europäischen Dynastie, Stuttgart 2011, S. 241. Das Konnubium mit Württemberg muss wohl gerade wegen der Nähe dieser Dynastie zum preußischen Königshaus besonders interessant für Katharina gewesen sein. Sowohl Sophie als auch Friederike waren Großnichten von Friedrich II. von Preußen. Siehe dazu Auge, Konnubium, S. 34. 15 Im Folgenden nur noch mit Maria Feodorowna benannt. 16 Auge, Konnubium, S. 35. Auch Graf Friedrich Leopold zu Stolberg betont in einem Brief vom 1. Oktober 1779 an den Minister Friedrich von Holmer, dass ihm eine Ehe zwischen Peter Friedrich Ludwig und Friederike „wohl überlegt von Seite der Politik erscheint“. Siehe dazu Johann Heinrich Hennes (Hg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg. Aus ihren Briefen und anderen archivalischen Quellen, Bern 1870, S. 76. Katharina sah Peter angeblich zwischenzeitlich auch als „dynastische Reserve“ in

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Auch wenn zumindest für St. Petersburg weitgehend feststand, dass Peter Friedrich Ludwigs zukünftige Ehefrau aus dem Haus Württemberg stammen sollte, zeigten sich zahlreiche weitere Dynastien an einer Eheverbindung mit ihm interessiert, denn aufgrund der „Geisteskrankheit“ und Regierungsunfähigkeit17 seines Cousins Peter Friedrich Wilhelm (1754–1823) war er zum designierten Nachfolger seines Onkels Friedrich August (1711–1785) im frisch zum Herzogtum erhobenen Oldenburg geworden, wodurch er für viele Fürstenhäuser zu einem besonders interessanten Heiratskandidaten aufgestiegen war.18 In einem Schreiben vom 25. Dezember 1778 an Baron Friedrich Melchior Grimm (1723–1807) in Paris bezeichnet Katharina II. Peter gar als „le coq du village de l’Allemagne“19, weil nicht nur der schwedische König, sondern auch ihre Schwiegertochter Maria Interesse an einer Eheverbindung zwischen dem Herzog und ihren jeweiligen Schwestern bekundet habe. Zudem zeigt sich die Zarin in jenem Schreiben von weiteren Heiratsvorschlägen in Verbindung mit dem Herzogtum Braunschweig angetan, die Baron Grimm ihr unterbreitet haben muss.20 Letztlich interessierte es sie demnach weniger, wer genau Peter Friedrich Ludwigs zukünftige Ehefrau werden sollte, als vielmehr, dass die Frau den Ansprüchen an ihre dynastische Heiratspolitik entsprach.21 Zusammen mit dem Brief Panins wird daher deutlich, dass die jüngere Linie des Hauses Gottorf und in dem Sinne Peter Friedrich Ludwig keinen oder zumindest nur ein bedingtes Mitspracherecht in Bezug auf die Ehepolitik besaß, zumal sie von der letztgültigen Zustimmung des Großfürsten abhängig waren.22 Obwohl mehrere Dynastien ihr Interesse bekundeten, vollzog sich die Suche nach einer Ehefrau auf dezidierten Wunsch des jungen Herzogs überwiegend im Geheimen, denn Peter fürchtete, dass seine Tante Ulrike Friederike Wilhelmine von Hessen-Kassel (1722–1787) als Reaktion auf seine Heiratsambitionen sofort Peter Friedrich Wilhelm verheiraten würde, da sie noch immer an die Heilung ihres

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Russland, falls Paul frühzeitig verstorben wäre oder sich als nicht regierungsfähig erwiesen hätte. Vgl. Jansen, Jugendjahre, S. 3 f.; Müller, Jahre, S. 11; Detlev Kraack, Herzog Peter Friedrich Wilhelm von Oldenburg (1754–1823). Armer Irrer oder Opfer einer politischen Intrige?, in: Die Fürsten des Bistums. Die fürstbischöfliche oder jüngere Linie des Hauses Gottorf in Eutin bis zum Ende des Alten Reiches. Beiträge zum Eutiner Arbeitsgespräch im April 2014, hg. von Oliver Auge und Anke Scharrenberg (Eutiner Forschungen 13), Eutin 2015, S. 132; Gustav Rüthning, Oldenburgische Geschichte, Bd. 2, Bremen 1911, S. 188, 228; Gisela Thietje, Der Gottorfer Prinz Peter Friedrich Ludwig, seine Englandreise (1775/1776) und ihre Bedeutung für den Eutiner Schlossgarten, Eutin 2012, S. 19. Peter Friedrich Wilhelm war am 14. Februar 1777 offiziell für regierungsunfähig erklärt worden. Jansen, Jugendjahren, S. 20. Sbornik Imperatorskago Russkago Istoričeskago Obščestva (SIRIO), Bd. 23., St. Petersburg 1878, Nr. 69, S. 122 f., zit. n. Müller, Jahre, S. 93, Anm. 308. SIRIO 23, Nr. 69, S. 122 f., zit. n. Müller, Jahre, S. 93. Müller, Jahre, S. 93 f. Vgl. ebd., S. 92; Auge, Konnubium, S. 36.

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einzigen Sohnes glaubte.23 In diesem Kontext stand kurzzeitig sogar die Möglichkeit im Raum, dass Peter Friedrich Ludwig die ehemalige Verlobte seines Cousins, Charlotte von Hessen-Darmstadt (1755–1785), ehelichen sollte, was er jedoch als „ungeziemend“ ablehnte.24 Stattdessen begab sich der junge Fürst, wie vorgeschlagen, am 7. Juni 1778 schließlich auf besagte Brautreise an die deutschen Höfe.25 Als er allerdings bei der favorisierten württembergischen Familie Maria Feodorownas in Étupes in der Grafschaft Mömpelgard ankam, schwankte der junge Herzog jedoch zunächst noch zwischen der 13-jährigen Friederike und ihrer 9-jährigen Schwester Elisabeth Wilhelmine Louise (1767–1790). In Briefen an Staal schilderte er seinem früheren Erzieher die beiden Mädchen. Den ersten Eindruck von seiner späteren Ehefrau fasste er in einem Schreiben noch während seines Besuchs in Mömpelgard 1778 wie folgt zusammen: Friederike, die älteste, wird in diesem Monat dreizehn Jahre voll, sie ist für ihr Alter klein und wird in allen Stücken noch für ein Kind angesehen. Wenn sie auswächst, kann sie von einer ganz artigen Figur werden; sie ist nichts weniger als hübsch, nicht einmal angenehm von Gesicht, sie hat ein paar schöne Augen […] so glaube ich, daß die älteste [gemeint ist Friederike, Anm. d. Verf.] Verstand, ein wenig Eigendükel und Eigensinn besitzt.26

Im Vergleich zwischen Friederikes Beschreibung mit der ihrer jüngeren Schwester wird schnell offenkundig, dass Elisabeth Peter Friedrich Ludwig auf den ersten Blick mehr zusagte, denn gegenüber Staal gab er unter anderem zu: „Wenn ich warten könnte, so wäre es die jüngste, und kann ich es nicht so sei es die älteste.“27 Anscheinend konnte der junge Herzog nicht mehr allzu viel Zeit bis zu einer Heirat verstreichen lassen, denn kurz vor Ende seiner Reise entschloss er sich dazu, Friederike zur Ehefrau nehmen zu wollen.28 Auch wenn seine Entscheidung zugunsten der älteren Schwester zunächst wohl pragmatischer Natur war, intensivierte er seine Bemühungen um sie bereits kurz nach der ersten gemeinsamen Begegnung in ­Étupes. Unter anderem formulierte er im März 1779 in einem Schreiben an ihre ältere Schwester Maria die Bitte, dass sie sich doch für ihn und seine Heiratsabsichten mit ihrer jüngeren Schwester bei ihrer Familie einsetzen möge.29

23 Vgl. Jansen, Jugendjahren, S. 20, 24; Kraack, Herzog, S. 142; Müller, Jahre, S. 84, 98. Vgl. zur Deutung, dass man Peter Friedrich Wilhelm ganz bewusst von der Regierung ferngehalten habe und er nach dem Modell von Christian VII. in Dänemark hätte regieren können, insb. Kraack, Herzog, S. 127. 24 Jansen, Jugendjahren, S. 20, 25. 25 Ebd., S. 21. 26 Ebd., S. 23. 27 Ebd., S. 25. 28 Vgl. ebd., S. 26; Müller, Jahre, S. 98. 29 Hennes, Friedrich, S. 74 f.

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Nichtsdestotrotz vollzog sich seine Brautwerbung zunächst weiter im Geheimen, bis deren Eltern, Friedrich Eugen von Württemberg (1732–1797) und Friederike Sophia Dorothea von Brandenburg-Schwedt (1736–1798), im September 1779 Peter Friedrich Ludwig letztendlich um die Bekanntmachung der Verlobung baten.30 Im Verlauf mehrerer Aufenthalte bei seiner zukünftigen Braut und ihrer Familie über das Jahr 1780 verteilt äußerte sich Peter schließlich zufrieden mit seiner Wahl, auch wenn er mehrfach in Briefen betonte, dass Friederike äußerlich keine Schönheit sei und noch einiges zu lernen habe.31 Die Vermählung erfolgte letztlich nach fast zweijähriger Wartezeit am 26. Juni 1781 auf Schloss Étupes. Trotz des Umstandes, dass es sich anfänglich um keine Liebesheirat handelte, war die Beziehung der beiden Eheleute in den folgenden Jahren von der Geburt der beiden Söhne und einer gewissen Zuneigung zueinander geprägt, die anfangs jedoch besonders von Peters Seite beinahe ausschließlich aus Freundschaftsbekundungen bestand.32 Der Herzog sah seine junge Ehefrau wohl nicht als gleichgestellte Lebenspartnerin, was ebenso wie „Liebe“ in fürstlichen Ehen im 18. Jahrhundert noch nicht als wichtiger Bestandteil einer Ehe galt.33 Gleichzeitig offenbart seine Korrespondenz, dass er sich seiner Frau gegenüber vor allem in der Rolle des Erziehers wahrnahm.34 Friederike hingegen äußerte ihre Zuneigung für Peter direkt und offen, womit sie in der Forschung bereits als Teil der sogenannten deutschen Empfindsamkeit angesehen werden kann.35 Aus dem Sommer 1785, nur wenige Monate vor ihrem Tod verfasst, stammen schließlich einige Schreiben, die bisweilen ihre intensive Zuneigung für ihren zehn Jahre älteren Ehemann erkennen lassen.36 Während ihres Krankenaufenthalts37 in Pyrmont schrieb sie ihm jeden 30 Jansen, Jugendjahren, S. 27. 31 NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 36, zit. n. Müller, Jahre, S. 112. 32 Vgl. z. B. NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 36; NLA Oldenburg, Best. 6 D, Nr. 13; NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 36, sämtlich zit. n. Müller, Jahre, S. 108, 113, 121. 33 Ebd., S. 126, 134. Die Liebesheirat und ihre rasch wachsende Beliebtheit finden sich erst seit dem frühen 19. Jahrhundert. Vgl. Peter Borscheid, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, hg. von Dems. und Hans Jürgen Teuteberg (Studien zur Geschichte des Alltags 1), Münster 1983, S. 112‒134; Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914 (Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung 1), Köln 2003; Monika Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014. 34 NLA Oldenburg, Best. 6 D, Nr. 13, zit. n. Müller, Jahre, S. 115. 35 Ebd., S. 114. 36 Es sind nur wenige Briefe von Friederike an Peter Friedrich Ludwig erhalten, da sich beide zumeist gemeinsam an einem Ort aufhielten. Die Ausnahme bilden auch Briefe aus der Zeit vor ihrer Eheschließung. 37 Hinweis darauf, dass Friederike erkrankt war, gibt ein Brief an ihren Mann vom 13. Juli 1785. Darin schreibt sie: „[…] und mache doch wenn Du mich nicht willst krank wiedersehen […]“. Womöglich handelte es sich um eine ernsthafte Erkrankung an der Brust, auf die im Folgenden noch näher eingegangen werden soll („[…] er [Stein] hat mir versprochen mir was für meine Brust zu geben […]“). Zu den Zitaten siehe Hennes, Friedrich, S. 270.

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zweiten Tag. Besonders in einem Brief vom 9. Juli 1785 drückte sie ihre Zuneigung für Peter Friedrich Ludwig und die gemeinsamen Söhne ganz dezidiert aus: „Es sind erst wenige Stunden daß ich nicht mehr das Glück habe, Dich zu sehen, und es kommt mir schon vor als wär’ es eine Ewigkeit. Ich würde glücklich und zufrieden sein, wenn ich nur wüßte daß Du Dich wohl befindest. Schone Dich doch ja, und denke daß ich nur für Dich und meine herzliebe Kinder auf der Welt bin; das ist mein ganzes Glück. […] Aber ich weiß daß Du mich lieb hast, und das ist Alles was ich wünsche.“38 Auch in den weiteren Schreiben aus Pyrmont drückte Friederike ihre Sehnsucht und ihren Kummer darüber aus, nicht bei ihrem Mann und ihren Kindern sein zu können. Sie wünschte sich, dass Peter Friedrich Ludwig zu ihr kommen möge oder sie zurück zu ihrer Familie reisen dürfe.39 Darüber hinaus berichtete sie ihrem Mann jedoch voller Stolz, dass sich jeder nach ihm erkundige – für Friederike augenscheinlich eine Selbstverständlichkeit, denn: „Aber es gibt auch keinen bessern Mann auf der Welt wie mein Peterchen.“40 Spätestens nach der Geburt des ersten gemeinsamen Sohnes ist auch eine Intensivierung der Gefühle des jungen Fürsten für seine Frau feststellbar.41 Die Ehe von Peter Friedrich Ludwig und Friederike kann daher besonders in ihrer letzten Phase durchaus als glücklich bezeichnet werden, zumal der Herzog selbst begann, sein irdisches Glück über seine Ehefrau zu definieren, die sich, wie er ihrer Schwester in einem Schreiben gestand, zum Besseren verändert habe. Demnach besitze Friederike alle Eigenschaften, „einen Mann glücklich zu machen der nicht dem Ton der Welt nachläuft“, womit er auf sich selbst anspielte.42 Das gemeinsame Zusammenleben vollziehe sich zudem in „stillem Frieden“ und sie würden zum beiderseitigen Glück nur die Empfindungen für den jeweils anderen und ihre beiden Söhne benötigen.43 Mit der Totgeburt des dritten gemeinsamen Sohnes am 30. Oktober 1785 fand jener „stille Friede“ jedoch ein jähes Ende. Vier Tage später meldete Peter Friedrich Ludwig den Verlust seines Kindes und den schlechten gesundheitlichen Zustand seiner Frau an Graf Friedrich Leopold zu Stolberg (1750–1819). In den Anfangszeilen dieses Briefes heißt es: „Der Mensch jagt dem Glück nach, und sein Leben ist ein langes Kapitel von Verlusten und Entbehrungen die schmerzlich für ihn sind in dem Maß als sein Herz gefühlvoll ist. Der Himmel der in der kleinen Zahl von Jahren die ich durchlebt, mir in besondrer Weise Gnaden erzeigt hat, scheint dies Jahr 1785 für die empfindlichsten Verluste bestimmt zu haben.“44 Weitere Briefe belegen, dass es Friederike zunächst besser ging.45 Ab Mitte November berichten die 38 39 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 266. Ebd., S. 267 f., 270 f. Ebd., S. 267. Müller begründet diesen Umschwung bei Peter mit der Intensität der Erfahrung der dramatischen Geburt seines ersten Sohnes Paul Friedrich August. Vgl. Müller, Jahre, S. 140. Hennes, Friedrich, S. 288. Ebd., S. 288. Ebd., S. 299. Am 6. Juli 1785 war bereits sein Onkel Herzog Friedrich August von SchleswigHolstein-Gottorf verstorben. Ebd., S. 302 f.

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Schreiben der Gräfin Agnes von Stolberg (1761–1788), die nach der Totgeburt an der Seite der Herzogin weilte, jedoch davon, dass sich deren Gesundheit sukzessive verschlechtert habe und sie mit ihrem baldigen Tod rechne.46 Am 24. November 1785 gegen halb zehn am Morgen verstarb Herzogin Friederike schlließlich im Alter von 20 Jahren.

2. Beweggründe der langjährigen Witwerschaft 2.1 Zuneigung Nach Friederikes Tod verblieb der 30-jährige Herzog Peter Friedrich Ludwig für beinahe 44 Jahre im Witwerstand. Mehrere schriftliche Zeugnisse, vor allem seine Korrespondenzen nach dem Verlust seiner Ehefrau, geben Aufschluss darüber, dass die Zuneigung zu ihr einen entscheidenden Anteil an seiner langjährigen Witwerschaft hatte. In einem Schreiben drei Tage nach ihrem Tod bezeichnete der Herzog die Ehe mit Friederike als die glücklichste Zeit seines Lebens. Mit ihrem Ableben habe er „die einzige Freude“ und „Zuflucht in unglücklichen Stunden“ verloren und sei nunmehr vollkommen allein.47 Auch die Briefe an seinen einstmaligen Erzieher Staal sind nach dem Verlust von einem trübsinnigen und trauernden Grundtenor geprägt. In den überlieferten Schriftstücken reflektierte der verwitwete Herzog offen und direkt seine eigenen Empfindungen: „Ich habe nie Umgang mit dem anderen Geschlecht gehabt, war also nie in dem Falle gewesen wahre Liebe für eine zu empfinden.48 Ich beging die Torheit und hing mich leidenschaftlich an ein sterbliches Wesen. Dieses gute Geschöpf liebte mich tausendmal mehr als ich es verdiene und ward ein Opfer unserer Liebe.“49 Auch in einem Brief an seine Schwägerin Maria in St. Petersburg wenige Tage nach dem Tod seiner Ehefrau gestand er, dass es Friederikes einzige Sünde im Leben gewesen sei, ihn „zu sehr geliebt zu haben“.50 Zur Trauer des Herzogs könnte, nach Bernd Müller, ferner das Gefühl einer gewissen Mitschuld am Tod seiner Frau gekommen sein, wie sie auch in der zitierten Formulierung „Opfer unserer Liebe“51 erkennbar ist.52 Bereits die zweite Schwangerschaft war von Peter Friedrich Ludwig 46 Ebd., S. 304 f., 307. Müller, Jahre, S. 157, weist daraufhin, dass Peter Friedrich Ludwig nach der Diagnose ihres Brustleidens, im Laufe der dritten Schwangerschaft, aber auf jeden Fall bereits im Juli 1785 mit Friederikes baldigem Tod gerechnet haben soll. 47 Hennes, Friedrich, S. 308. 48 Tatsächlich ist über das Liebesleben Peter Friedrich Ludwigs vor Friederike nichts bekannt. 1797 begegnet jedoch der Vorwurf des Dienstmädchens Amalia Oldenstedten (geb. 1771 oder 1772) aus Neuruppin, dass sie die uneheliche Tochter Peters gemeinsam mit seiner Haushälterin aus seiner Zeit in Hamburg sei. Vgl. dazu NLA Oldenburg, Best. 6 D, Nr. 633, zit. n. Müller, Jahre, S. 88. 49 Jansen, Jugendjahren, S. 35. 50 Hennes, Friedrich, S. 311. 51 Jansen, Jugendjahren, S. 35. 52 Müller, Jahre, S. 165.

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als Fehler angesehen worden, den sowohl er als auch seine Frau zu verschulden hätten.53 In ihrem speziellem Fall war sich der Herzog allerdings nicht nur der Lebensgefahr für Mutter und Kind bewusst, die mit einer weiteren Geburt einherging, sondern gleichermaßen der zusätzlichen Unsicherheit, die von einem Brustleiden seiner jungen Ehefrau ausging, das ihr bereits seit mehreren Jahren Schmerzen bereitete und kurz vor ihrem Tod vom Arzt Johann Georg Zimmermann als „Scir­ rhus in der Brust“54 diagnostiziert wurde. Im Endeffekt kann Peter Friedrich Ludwig vermutet haben, dass die Strapazen der dritten Schwangerschaft sich nachteilig auf das Brustleiden seiner Frau auswirkten, wodurch er eine Mitschuld an ihrem frühen Tod bei sich selbst sah.55 Schließlich hatte sich auch beinahe ein Jahr nach dem Tod Friederikes der Gemütszustand Herzog Peter Friedrich Ludwigs nicht gebessert. Auf die Glück- und Freudenwünsche seines Gesandten Graf Friedrich Leopold zu Stolberg reagierte der Herzog nur verhalten: „Für Ihre guten Wünsche, mein werther Graf, danke ungemein. Allein Glück ist ein Wort, welches ich nicht kenne. Zwischen mir und der Welt ist eine Mauer, und mein Inneres ein Abgrund. Doch führt die mütterliche Natur immer ihre eigenes Mittel bei sich; mein Herz ist wie die Hand eines Taglöhners hart durchgebraucht und mit Schwielen bedeckt.“56 Angesichts solcher Äußerungen blieb sein langjähriges und wohl auch bewusstes Witwerdasein seinen Zeitgenossen nicht verborgen. Sein Schicksal, den frühzeitigen Tod der Ehefrau, teilte sich der Herzog zudem mit Graf von Stolberg, dessen Frau Agnes 1788 ebenfalls infolge einer Geburt verstorben war. Anders als der Herzog entschied sich Stolberg für eine zweite Heirat, sodass er 1790 die Gräfin Sophie Charlotte von Redern (1765–1842) ehelichte. In einem Brief Ende Dezember 1789 teilte er Peter Friedrich Ludwig seine Absichten mit: „Euer D. gnädige Gesinnungen gegen mich sind mir zu schätzbar, als daß ich nicht mit einiger Besorgniß Ihnen einen Entschluß melden sollte welcher Ihnen vielleicht mißfallen könnte. Ich wage es nachdem ich die Wonne meines Lebens verloren habe, eine neue Verbindung einzugehen.“57 Weiter versicherte Stolberg, dass diese zweite Ehe nichts am Andenken an seine verstorbene Frau ändern werde, er jedoch „nicht länger an Freudenlosigkeit verschmachten“58 könne. Das Schreiben offenbart letztlich zwei Männer, die ein ähnliches Schicksal erlitten, aber auf unterschiedliche Art und Weise damit umgingen. Während sich der Herzog einer weiteren Ehe verschloss, wählte Graf von Stolberg

53 NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 28, Nr. 48, zit. n. Müller, Jahre, S. 143. 54 NLA Oldenburg, Best. 6 D, Nr. 950, zit. n. Müller, Jahre, S. 159. Scirrhus (gr. σκίρρος) bezeichnet einen „kleinknotige[n] Umbau von Gewebe infolge einer chronischen Infektion“. Tritt etwa als Karzinom in Brust oder Magen auf. Siehe den Artikel: Scirrhus, in: Pschyrembel, https:// www.pschyrembel.de/Scirrhus/K0KMD (23.3.2020). 55 Müller, Jahre, S. 165. 56 Hennes, Friedrich, S. 325. 57 Ebd., S. 413. 58 Ebd.

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aus persönlichen Gründen bewusst eine zweite Heirat.59 Dennoch kommt das Schreiben einer Rechtfertigung gleich, da Stolberg davon ausging, dass Peter Friedrich Ludwig seine neuerliche Heirat nicht gutheißen würde. Diese Befürchtung wies dieser in seiner Antwort vom 3. Januar 1790 allerdings scharf zurück: „Wie können Sie glauben daß ich Ihren mir mitgetheilten Entschluß tadeln werde […]“.60 Darüber hinaus versicherte er dem Grafen, dass, wenn der Sinn seines Lebens das Streben nach irdischem Glück sei, ihm der erneute Eheschluss seines Gesandten natürlich zusagen werde.61 Der Herzog selbst strebte nach dem Tod seiner Frau Friederike demnach nicht mehr nach jenem „irdischen Glück“, das er in einer Ehe realisiert sah. Vielmehr meinte er, dass Gott ihn aus „gewiß sehr weisen Absichten“62 in diese Lage versetzt habe, wodurch seine Witwerschaft gleichermaßen das Gefühl einer gewissen Schicksalsergebenheit erweckt. Dabei bemühte sich jedoch sein näheres Umfeld durchaus, allen voran seine Schwägerin Maria, die einen engen Briefkontakt zu Peter Friedrich Ludwig unterhielt, ihm mehrfach mögliche Heiratskandidatinnen vorzuschlagen. Doch der Herzog habe nie eine weitere Ehe angestrebt.63 Seine Lebensausrichtung war nach Friederikes Tod womöglich in der Tat jenseitiger geprägt. Dieser Aspekt findet sich auch in einem späteren Brief Peter Friedrich Ludwigs wieder. Als Graf von Stolberg im Herbst 1791 auf einer Reise in Italien weilte, bat der Fürst ihn darum, dort zwei Büsten anfertigen zu lassen: eine für Graf Anton Günther von Oldenburg (1583–1667) und eine zweite für seinen verstorbenen Onkel, Herzog Friedrich August von Oldenburg. Beide sollten Teil zweier Denkmäler für die beiden Vorfahren werden. Innerhalb der schriftlichen Bitte meinte der Herzog auch: „Sie [gemeint ist Stolberg] wissen daß ich für die Todten lebe.“64 In eine ähnliche Richtung weisen auch Peter Friedrich Ludwigs Bemühungen in Bezug auf die Grabstätte für seine verstorbene Frau. Nachdem das Mausoleum auf dem Gertrudenfriedhof in Oldenburg in Auftrag gegeben worden war, beteiligte sich der Herzog aktiv an der Gestaltung des Bauwerks.65 Fünf Jahre nach ihrem Tod konnte Friederikes Leichnam schließlich in den fertiggestellten Bau überführt werden. Im Handeln Peter Friedrich Ludwigs spiegelte sich neben seiner Trauer somit vor allem nach dem Tod seiner Ehefrau der Aspekt der memoria wider.

59 Dynastische Komponenten spielten bei Graf von Stolberg keine Rolle, da er zum Zeitpunkt von Agnes’ Tod bereits zwei Söhne und zwei Töchter hatte. Vgl. Claus Ritterhoff, Stolberg Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu, in: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 1992, S. 699–705, hier S. 702; Erich Schmidt, Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold, Graf zu, in: ADB 36 (1893), S. 350–367, hier S. 354. 60 Hennes, Friedrich, S. 414. 61 Ebd. 62 Jansen, Jugendjahren, S. 35. 63 Vgl. ebd., S. 33; Ders., Peter, S. 23. 64 Hennes, Friedrich, S. 442. 65 Michael W. Brandt, Das Oldenburger Mausoleum. Grablege einer neuen Dynastie, in: Dem Wohle Oldenburgs gewidmet. Aspekte kulturellen und sozialen Wirkens des Hauses Oldenburg 1773–1918, hg. von der Oldenburgischen Landschaft (Veröffentlichungen der Oldenburgischen Landschaft 9), Oldenburg 2004, S. 65–68.

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2.2 Ausreichende Nachkommenschaft Nach dem Tod Friederikes 1785 ergab sich für Peter Friedrich Ludwig eine ähnliche familiäre Konstellation wie 1763, als seine Eltern Georg Ludwig von Schleswig-Holstein-Gottorf (1719–1763) und Sophie Charlotte von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Beck (1722–1763) kurz hintereinander verstarben. Mit zwei männlichen Nachkommen war die Nachfolge des 30-jährigen administrativ regierenden Herzogs in Oldenburg auf den ersten Blick gesichert.66 Anders als sein Bruder Wilhelm August (1753–1774) und er selbst waren seine Söhne Paul Friedrich August (1783–1853) und Peter Friedrich Georg (1784–1812) jedoch erst zwei Jahre beziehungsweise ein Jahr alt, sodass ihre Position als Nachfolger im Herzogtum zum Zeitpunkt von Friederikes Tod noch äußerst vage war. Für Peter Friedrich Ludwig schienen zwei Söhne allerdings auszureichen. Schon nach der Geburt des ersten Sohnes Paul Friedrich August zeigte sich der Herzog verärgert darüber, dass Friederike bereits kurz danach wieder schwanger war.67 In seinen Äußerungen ist deutlich zu erkennen, dass der junge Fürst keine Notwendigkeit drin sah, sofort oder überhaupt weitere Kinder zu bekommen. Die junge Fürstin hingegen meinte wohl, dass ihre Aufgabe an der Seite des Herzogs vor allem in der Geburt der Nachkommen bestand.68 Da in Friederikes Korrespondenz mit Maria in St. Petersburg auch häufig eine gewisse Bewunderung für die ältere Schwester durchscheint,69 ist es durchaus möglich, dass die Herzogin von Oldenburg sich in ihrem Kinderwunsch auch an der Großfürstin, die zum Zeitpunkt von Friederikes zweiter Schwangerschaft bereits drei Kinder hatte und, wohl noch unwissend, mit ihrem vierten Kinder schwanger war, orientierte und ihr dementsprechend nacheiferte. Spätestens nach der Geburt des zweiten Sohnes sollten weitere Kinder zunächst für einige Jahre kein Thema mehr sein, wie Peter Friedrich Ludwig seiner Schwägerin Maria mitteilte.70 Womöglich hatten die dramatischen Umstände der ersten Geburt bei ihm den Eindruck hinterlassen, dass weitere Schwangerschaften das Leben seiner Frau zu stark gefährden würden, weshalb er dieses Risiko kein weiteres Mal eingehen wollte.71 Gleichzeitig hatten sowohl sein Vater als auch sein Onkel lediglich zwei Kinder, sodass sich der junge Herzog eventuell beide zum familiären Vorbild nahm. 66 Müller, Jahre, S. 174, weist daraufhin, dass eine Dynastie mit zwei Söhnen „nach damaligen Vorstellungen als gesichert gelten“ konnte. 67 Vgl. NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 28, Nr. 47; NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 28, Nr. 48, sämtlich zit. n. Müller, Jahre, S. 143. Dabei war es, laut Müller, Jahre, S. 127, vor dem Tod Friedrich Augusts die Aufgabe des noch jungen und nicht-regierenden Paares, für eine ausreichende Nachkommenschaft zu sorgen. 68 Müller, Jahre, S. 142. 69 Ebd., S. 139. 70 „Basta pour quelques années“. NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 28, zit. n. Müller, Jahre, S. 146, Anm. 506. 71 Müller, Jahre, S. 147.

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2.3 Finanzen Mit der Regierung nach dem Tod seines Onkels Herzog Friedrich August übernahm der junge Fürst gleichzeitig eine Gesamtschuldenlast von 690.000 Reichstalern.72 Bereits im Familienvertrag vom 7. Juli 1777 war er zur Tilgung der Summe verpflichtet worden, die man zu diesem Zeitpunkt allerdings noch mit 450.000 Reichstalern beziffert hatte.73 Seine Ehe mit Friederike hatte zudem weitere Kosten verursacht: Die 20.000 Reichstaler Heiratsgut waren von Oldenburger Seite mit 20.000 Reichstalern widerlegt worden. Dazu kamen noch 6.000 Reichstaler Morgengabe, die zu 5 Prozent verzinst wurden.74 Die Summe von 3.000 Reichstalern, die quartalsweise zu 750 Reichstalern an seine Ehefrau Friederike ausbezahlt wurde, stand der jungen Fürstin zusätzlich zur freien Verfügung. Besonders dieses „Taschengeld“ ist als finanzielles Entgegenkommen Peters und seiner Familie zu werten.75 Mit diesen Summen, zu denen noch die Kosten für die standesgemäßen Hochzeitsfeierlichkeiten hinzuzuzählen sind, war Peter Friedrich Ludwigs Eheschließung „moderater fürstlicher Standard“.76 Eine zweite Ehe des jungen Fürsten hätte ähnliche, wenn nicht sogar noch höhere Ausgaben mit sich gebracht, da er mittlerweile vom designierten Nachfolger zum administrativ regierenden Herzog aufgestiegen war. Stattdessen reduzierte er die Kosten für seinen eigenen Hofstaat, indem er seine Lebensverhältnisse nach dem Tod seiner Frau stark vereinfachte und sich jedweder Vergnügungen enthielt.77 Darunter fiel auch eine weitere kostenintensive Eheschließung, denn Peter Friedrich Ludwig selbst hatte gegenüber dem Minister Friedrich Levin von Holmer (1741–1806) anlässlich seiner Haushaltsplanung für das Jahr 1781 und seiner ersten Hochzeit gestanden, dass nichts teurer sei, als das Reisen, Bauen und Heiraten.78

3. Auswirkungen der Witwerschaft auf die herzoglichen Handlungsspielräume? Die Betrachtung fürstlicher Handlungsspielräume bildet seit den frühen 2000er Jahren ein zentrales und aktuelles Forschungsfeld. Durch den Rückgriff auf die Philosophie der Orientierung nach Werner Stegmaier entwickelte Oliver Auge maßgeblich ein Instrumentarium, mit dem er anhand von fünf Koordinaten die Handlungsspielräume der Fürsten und Herren von Mecklenburg, Werle-Wenden, Pommern und Rügen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert herausarbeitete und somit für 72 73 74 75 76 77 78

Vgl. ebd., S. 85; Ders., Herzog, S. 308; Schwarting, Oldenburg, S. 12. Articulus VI. n. Müller, Herzog, S. 25–27. NLA Oldenburg, Best. 7, Urk. Nr. 34, 20. Juni, 26. Juni und 25. Oktober 1781. Auge, Konnubium, S. 35. Ebd., S. 29. Schwarting, Oldenburg, S. 13. NLA Oldenburg, Best. 40, Nr. 3–2, zit. n. Müller, Jahre, S. 120.

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die Untersuchung weiterer Fürsten beziehungsweise Dynastien nutzbar machte. Obwohl somit ursprünglich für ein mediävistisches Forschungsdesign konzipiert, konnten Studien der vergangenen Jahre zeigen, dass sich dieser Ansatz auch für eine Übertragung auf weitere Epochen,79 wie im vorliegenden Fall auf die Neuzeit eignet. Dahingegen kommen jedoch nicht alle Koordinaten für die sozialgeschichtliche Fragestellung infrage, ob und wie sich eine langfristige Witwerschaft auf die Handlungsspielräume eines Fürsten auswirkte. Da Fürstinnen bei ihrem Eheschluss in der Regel auch einen Erbverzicht leisteten,80 veränderte sich für den Witwer, besonders im vorliegenden Beispiel, häufig nichts an seinem räumlichen Ausgreifen, weshalb die Koordinate Raum bei einer Betrachtung der Handlungsspielräume nach dem Tod der Ehefrau an dieser Stelle nur bedingt von Nutzen ist. Ähnliches gilt aufgrund der nachrangigen Stellung von Peters Schwiegervater für die Koordinate verfassungsrechtliche Stellung im Reich. Daher wird das Beispiel von Peter Friedrich Ludwig im Folgenden lediglich anhand von drei der fünf von Oliver Auge benannten Koordinaten betrachtet. 3.1 Wirtschaft und Finanzen Wie bereits aufgezeigt, sprach der verwitwete Herzog in seinem umfangreichen Briefverkehr nach Friederikes Tod offen seine Freudlosigkeit und Betrübnis an. Allerdings versicherte er seinen Korrespondenzpartnern darin mehrfach, dass weder sein Amt noch seine landesherrlichen Geschäfte jemals unter seinen Empfindungen gelitten hätten.81 Auf der finanziellen und wirtschaftlichen Ebene des Herzogtums, in die er stets aktiv involviert war, folgte nach 1785 tatsächlich eine Blütephase, allen voran durch die Einnahmen im Zuge des lukrativen Elsflether Weserzolls82 bis 1803, sodass sich diesbezüglich keine bewusste Veränderung nach dem Tod der Herzogin feststellen lässt. Mit ihrem Ableben setzte nichtsdestotrotz eine Veränderung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage des herzoglichen Haushalts ein. Da die Bediensteten seiner Frau nicht mehr benötigt wurden, folgte dahingehend wohl eine Entschlackung des herzoglichen Hofes. Laut Ehevertrag umfasste dies eine Hofmeisterin, eine Hofdame, zwei Kammerfrauen, mehrere Garderobenmägde und weitere standesgemäße Die-

79 Siehe dazu u. a. Martin Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945) (Kieler Historische Studien 44), Ostfildern 2018; Melanie Greinert, Zwischen Unterordnung und Selbstbehauptung. Handlungsspielräume Gottorfer Fürstinnen (1564–1721) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 1), Kiel 2018. 80 Müller, Jahre, S. 124. 81 Jansen, Jugendjahren, S. 35. 82 Vgl. Klaus Lampe, Wirtschaft und Gesellschaft Oldenburgs um 1800, in: Peter Friedrich Ludwig und das Herzogtum Oldenburg. Beiträge zur oldenburgischen Landesgeschichte um 1800, hg. von Heinrich Schmidt, Oldenburg 1979, S. 15–41, hier S. 17; Schwarting, Oldenburg, S. 21.

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ner.83 Gleichzeitig sparte Peter Friedrich Ludwig sich die jährlichen 3.000 Reichstaler, die seiner Frau pro Jahr zur freien Verfügung zugestanden hatten, wie auch das Witwengeld in Höhe von 16.000 Reichstalern, das man Friederike ausgezahlt hätte, wenn ihr Ehemann vor ihr verstorben wäre. Gemäß des Heiratskontrakts fielen außerdem ihre Besitztümer nicht an ihre Familie in Mömpelgard zurück, sondern gingen in die Hände ihrer Kinder über.84 Da beide Söhne jedoch noch im Kleinkindesalter waren, verwaltete wohl Peter Friedrich Ludwig die Güter in ihrem Namen bis zu deren Volljährigkeit. 3.2 Dynastie und Familie Die familial-dynastische Verbindung hatte bereits im Mittelalter weitreichenden Einfluss auf wirtschaftliche, politische und rechtliche Belange.85 Peter Friedrich Ludwigs Verbindung zu seiner angeheirateten Familie in Württemberg brach auch nach Friederikes Tod nicht ab. Noch am 29. August 1792 schrieb er an Graf von Stolberg, dass er beabsichtige, in einigen Tagen seine Schwiegereltern, Herzog Friedrich Eugen von Württemberg und dessen Ehefrau Dorothea von Brandenburg-Schwedt, in der Nähe von Frankfurt zu besuchen.86 Besonders von württembergischer Seite aus bestand ein großes Interesse an einer Beziehung nach Oldenburg auch über den Tod der jungen Fürstin hinaus. Denn als viertgeborener Sohn waren die geldlichen Mittel von Friederikes Vater begrenzt, zumal er seine zwölf Kinder, von denen nur eines nicht das Erwachsenenalter erreichte, versorgen und unterbringen musste. Bereits mit der Eheschließung von Paul und Maria war die Gottorfer Linie demnach auch eine Art Fürsorgepflicht für die weniger finanzstarke Württemberger Verwandtschaft eingegangen.87 Auch nach dem Tod seiner Frau wird sich Peter Friedrich Ludwig dieser Verantwortung nicht entzogen haben, war er doch schon vor der Hochzeit der Bitte seiner Schwiegermutter Dorothea nachgekommen, ihr 40.000 Louis d’or zu leihen.88

83 NLA Oldenburg, Best. 7, Urkunde Nr. 34, zit. n. Müller, Jahre, S. 125. Bemerkenswert an Friederikes Dienerschaft ist der Umstand, dass sie ihre weiblichen Bediensteten laut Heiratskontrakt selbst aussuchen durfte (Artikel 8). 84 NLA Oldenburg, Best. 7, Urkunde Nr. 34, zit. n. Müller, Jahre, S. 125. 85 Spieß, Familie, S. 8 f. 86 Hennes, Friedrich, S. 455. Allerdings gab es für einige Zeit Unstimmigkeiten zwischen Peter Friedrich Ludwig und seiner Schwiegermutter Dorothea, nachdem der Herzog nicht gewollt hatte, dass sie angesichts der ersten Schwangerschaft Friederikes und der erwarteten Geburt nach Oldenburg kam. Vgl. dazu NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 45; NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 28; NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 25 [Nr. 28], zit. n. Müller, Jahre, S. 138, Anm. 469, 470. 87 Marianna Butenschön, Maria, Kaiserin von Russland. Die Württembergerin auf dem Zarenthron, Darmstadt 2015, S. 48–51. 88 NLA Oldenburg, Best. 6 D, Nr. 481, zit. n. Müller, Jahre, S. 122. Ähnliches gilt auch für die Versorgung seiner Tante Ulrike und seines Cousins Peter Friedrich Wilhelm, zu der er seit dem Familienvertrag von 1777 sogar verpflichtet war. Siehe dazu Müller, Herzog, S. 12–19.

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Für die Beziehung nach Russland zeigte sich nach 1785, dass die Erinnerung an die verstorbene Fürstin zu einem verbindenden Element zwischen dem verwitweten Herzog, Maria und Paul I. wurde. Die Großfürstin versicherte Peter dementsprechend in einem Schreiben vom 4./15. Dezember 1785, dass „wir uns zärtlich lieben bis zum Grabe“.89 Mit ihrem Brief übersandte sie gleichzeitig Haare ihrer verstorbenen Schwester Friederike, hier nur „Fifi“ genannt, als Zeichen der Freundschaft zu ihrem Schwager.90 Der intensive, bisweilen als schwärmerisch beschriebene Briefwechsel zwischen dem Witwer und seiner Schwägerin in Russland wurde auch über das Jahr 1785 hinaus fortgeführt.91 Dabei blieb häufig die verstorbene Friederike das entscheidende Verbindungsglied. Auch erinnerte Peter Friedrich Ludwig Maria in einem Schreiben vom 23. November 1800 daran, dass sich am nächsten Tag der Tod der Schwester und Ehefrau bereits zum 15. Mal jähre.92 Mit der Thronbesteigung seines Neffen Alexander intensivierten sich die Verbindungen zwischen Oldenburg und Russland erneut, was sich auch in der Übergabe der Herrschaft Jever 1813 beziehungsweise dann vollständig 1818 zeigte.93 Auch der vergleichsweise milde Umgang Napoleon Bonapartes (1769–1821) mit dem Ende 1806 okkupierten Oldenburg wird in der Forschung auf Peters gutes Verhältnis nach Russland zurückgeführt.94 In der postnapoleonischen Zeit benutzte er zudem bewusst seine verwandtschaftlichen Verbindungen nach Kopenhagen und St. Petersburg, die er als ein Abhängigkeitsverhältnis skizzierte, um eine Veränderung der oldenburgischen Verfassung, vor allem in Bezug auf die Beteiligung einer Ständevertretung, zu verhindern.95 Bei einem Blick in die nachfolgende Generation, genauer auf die Ehe von Peter Friedrich Georg, zeigt sich, dass der Wunsch nach einer engen Verbindung, die man bereits mit der Ehe von Friederike und Peter Friedrich Ludwig hatte vertiefen wollen, auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch fortbestand. Während sein älterer Bruder Paul Friedrich August nach einer Brautschau an den „kleinstaatlichen Höfen Deutschlands“ 1817 Adelheid von Anhalt-Bernburg-Schaumburg-Hoym (1800–1820), 1825 deren Schwester Ida von Anhalt-Bernburg-Schaumburg-Hoym (1804–1828) und 1831 in dritter Ehe Cäcilie von Schweden (1807‒1844) ehelichte, heiratete der jüngere Peter Friedrich Georg 1809 seine Cousine Katharina Pawlowna 89 Hennes, Friedrich, S. 317. 90 Ebd., S. 318. 91 Müller, Jahre, S. 136, verweist vor allem darauf, dass in Peters Briefen vom 29. September bis zum 30. Oktober 1782 an seine Schwägerin Maria in St. Petersburg eine Zuneigung für die Großfürstin in den Zeilen mitschwinge. Diese könne mit dem geringeren Altersunterschied von nur etwas weniger als fünf Jahren erklärt werden, wodurch Maria auf den älteren Peter reifer als ihre jüngere Schwester gewirkt haben könnte. 92 Hennes, Friedrich, S. 524. 93 Friedrich-Wilhelm Schaer, Peter Friedrich Ludwig, in: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg (1992), S. 557–561, hier S. 560. 94 Heinrich Schmidt, Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg. Dynastische Voraussetzungen und wichtigste Lebensdaten, in: Peter Friedrich Ludwig und das Herzogtum Oldenburg. Beiträge zur oldenburgischen Landesgeschichte um 1800, hg. von Dems., Oldenburg 1979, S. 9–14, hier S. 12. Vgl. dagegen Schaer, Peter, S. 559. 95 Schaer, Peter, S. 560.

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(1788–1819), die Tochter des Großfürstenpaares Paul und Maria.96 Albert C. Schwarting behauptet hingegen, dass Maria mit der Ehe zwischen ihrer Tochter und ihrem Neffen lediglich einer Eheverbindung zwischen Katharina mit Napoleon vorgreifen wollte und sich der angeblich stotternde Georg schlicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufgehalten habe.97 Die Ehe der beiden endete schließlich bereits 1812 mit dem Tod Georgs infolge einer Typhus-Erkrankung. Allerdings entstammten der Verbindung auch die zwei Söhne Alexander (1810–1829) und Peter (1812–1881). 3.3 Fürstliches Rangbewusstsein und dynastische Repräsentation Nach Friederikes Tod zog sich Peter Friedrich Ludwig, wie bereits mehrfach erwähnt, weitgehend in seine Arbeit und ins Private zurück. Als ihm Staal „Vergnügungen und Zerstreuungen“ empfahl, wiegelte der Fürst mit der Begründung ab, dass es ihm „wahre Pein“ bereite und er allein mit seinen „Geschäften, Büchern und Kindern“ glücklich sei.98 Schon als junger Mann, als er 1780 an die Höfe in Kopenhagen und Stockholm gereist war, hatte er sich mit seiner Abneigung des Höfischen nicht zurückgehalten. Gegenüber Staal drückte er sich wie folgt aus: „Nichts ist meiner Natur so zuwider wie das Hofleben“.99 Während seiner Ehe versuchte er sich jedoch an einer standesgemäßen Repräsentation, indem er unter anderem 1782 einen Maskenball in Oldenburg für seine Frau veranstalten ließ.100 Der Witwerstand scheint ihm dann in einiger Hinsicht einen Rückzug von dieser Art der fürstlichen Verpflichtung ermöglicht zu haben. Dennoch war sich der Herzog durchaus seines Standes und des sich daraus ergebenden Anspruchs bewusst, wie seine Briefe belegen. Allerdings verstand er das Fürst sein vermehrt auch als Beruf und somit in der Idee als Erster Diener des Staates, wodurch er in direkter Tradition zu Friedrich II. von Preußen (1712–1786) und des aufgeklärten Absolutismus gesehen werden kann.101 Eine gewisse Ambivalenz dieser Haltung zeigt sich nach der napoleonischen Besetzung Oldenburgs und dessen Erhebung zum Großherzogtum: Auf der einen Seite weigert er sich, sich als Großherzog zu bezeichnen, auf der anderen Seite lehnte er jedoch eine Ständevertretung in seinem Herzogtum ab.102

 96 Endogame Ehen bildeten im Haus Gottorf keine Ausnahme. Siehe dazu exemplarisch die Ehe von Karl (XIII.) von Södermanland (1748–1818) und Hedwig Elisabeth Charlotte (1759–1818) bzw. die Ehe der Eltern Peter Friedrich Ludwigs, Georg Ludwig und Sophie. Vgl. Auge, Konnubium, S. 24.  97 Schwarting, Oldenburg, S. 54.  98 Jansen, Jugendjahren, S. 36.  99 Ebd. S. 28. 100 Müller, Jahre, S. 132. 101 Vgl. Jansen, Jugendjahren, S. 35; Schaer, Peter, S. 561. 102 Schaer, Peter, S. 560.

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4. Zusammenfassung Trotz seiner umfangreichen und erhaltenen Korrespondenz liefert uns Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg in letzter Konsequenz keine direkte Erklärung für seine Entscheidung, für 44 Jahre im Witwerstand zu verbleiben. Seine Schreiben gewähren jedoch einen Einblick in seine situative Gefühlswelt nach dem Tod seiner Ehefrau Friederike. Besonders in den Briefen an seinen einstmaligen Erzieher Staal und an Graf Friedrich Leopold von Stolberg, mit dem der Herzog von Oldenburg das Schicksal als Witwer teilte, wird deutlich, dass der junge Fürst sein irdisches Glück nicht mehr in einer weiteren Eheschließung suchte. Generell lehnte er weitere Verbindungen nicht ab, wie er gegenüber Graf von Stolberg behauptete, allerdings spricht vieles dafür, dass er sich selbst aus persönlichen, dynastischen und finanziellen Gründen bewusst gegen eine zweite Heirat entschied. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob der Heiratsmarkt des ausgehenden 18. Jahrhunderts überhaupt angemessene Kandidatinnen bereithielt. Eine stichprobenartige Betrachtung jener Optionen, die mit dem besprochenen Brief Katharinas an Graf Grimm in Zusammenhang stehen, ergab, dass die meisten Töchter und Schwestern 1785 aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr für eine Ehe zur Verfügung standen. Im Königshaus Schweden, das 1778 noch Interesse an einer Eheverbindung mit Peter Friedrich Ludwig gezeigt hatte, war zum Beispiel die einst angedachte Sophie Albertine von Schweden (1753–1829) mittlerweile zur nachfolgenden Äbtissin in Quedlinburg gewählt worden.103 Auch aus dem Hause Württemberg-Mömpelgard waren zum Zeitpunkt von Friederikes Tod keine weiteren Töchter mehr vorhanden, die Peter Friedrich Ludwig hätte ehelichen können. Sophie war, wie bereits erwähnt, mit dem russischen Großfürsten Paul verheiratet, die jüngere Schwester Elisabeth Kaiser Franz II. (1768–1835) versprochen. Neben seinen persönlichen Beweggründen muss daher ebenfalls in Betracht gezogen werden, dass das Angebot an möglichen Frauen zumindest kurz nach Friederikes Tod nicht den Ansprüchen an eine herzogliche Ehefrau genügte. Dafür bedarf es aber letztgültig noch einer grundständigen Auswertung des Heiratsangebots Ende des 18. Jahrhunderts. Im Hinblick auf seine Handlungsspielräume spielte die Witwerschaft Peter Friedrich Ludwigs nur eine untergeordnete Rolle. Die langjährige Ehelosigkeit Peters vertiefte womöglich auf einer emotionalen Ebene die Beziehung zwischen ihm und seiner Schwägerin Maria und somit zwischen Oldenburg und Russland, jedoch war der entscheidende Grundstein bereits mit seiner Eheschließung 1781 gelegt worden. Angesichts der ohnehin bestehenden gemeinsamen Zugehörigkeit zum Haus Gottorf hatte die Witwerschaft demnach nur einen geringen Einfluss auf Peters Handlungsspielräume im Kontext von Dynastie und Familie. Da die Ehe der bei-

103 Vgl. Carin Bergström, Självständig prinsessa. Sophia Albertina. 1753–1829, Stockholm 2011; Fabian Persson, Sophia Albertina av Sverige, in: Svenskt biografiskt lexikon 32 (2003–2006), S. 680.

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den zudem ihre Funktion durch zwei männliche Nachfolger erfüllt hatte, setzte die Witwerschaft den Herzog im Sinne der dynastischen Vernunft nicht unter Druck. Finanziell brachte Friederikes Tod durchaus Einsparnisse und somit Handlungsmöglichkeiten für den Hof mit sich, zumal sich Peter Friedrich Ludwig in seine Arbeit als Fürst zurückzog und sich kostspieliger Vergnügungen enthielt, wie er sie noch gemeinsam mit seiner Ehefrau zum Beispiel während ihrer Zeit in Hamburg genossen hatte.104 Alles in allem „ward [zwar] mit dem Tode der Gemahlin sein Haus einsam“105, aber im Vergleich muss der Besetzung Oldenburgs 1806 und Peters anschließendem Exil in Russland, beides Ereignisse, die seine Handlungsfreiheiten erheblich beschränkten, ein weitaus entscheidenderer Einfluss auf seine Handlungsspielräume zugeschrieben werden als seiner Witwerschaft.

104 NLA Oldenburg, Best. 4, Nr. 46, zit. n. Müller, Jahre, S. 130. 105 Jansen, Peter, S. 23.

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Die Bedeutung von Handlungsräumen und deren Verlagerung am Beispiel von Matrosenund Freikorpsbewegung 1918–1920 Abstract With the end of World War I, two movements influenced the political development of Germany. On the one hand, there was the movement of imperial sailors originating from the naval port of Kiel. Through their uprising in November 1918, they had brought about the end of the rule of the German Emperor and thereby laid the foundation for the first German Republic. On the other hand and only a little later, so-called “Freikorps”, paramilitary associations out of the political right, were formed as an answer to the perceived threats of a communist overthrow and the fluid development on the eastern borders of Germany. While the short-lived sailors’ movement disappeared from the course of further events soon after their successful participation in the coup the members of the Freikorps soon proved themselves as tough and brutal opponents of the young republic – especially those who had fought against communists as well as national movements in the Baltic States. While they first fought the enemies of the Republic many of their members later worked as underground fighters on its defeat ‒ basically until the Nazis came to power in 1933. Many more were absorbed into the Nazi party and its organizations. It is intended to investigate why the two groups developed so differently in terms of their lifespan in a longitudinal analysis and by comparison of their areas of activity during the early phase of the German Republic between 1918 and 1920.

1. Einleitung In der an gewaltsamen Auseinandersetzungen reichen Frühphase der Weimarer Republik zwischen 1918 und 1923 kämpften zahllose Akteursgruppen um ihre jeweilige Vorstellung von einer politischen Neugestaltung Deutschlands. Die Vorstellungen der Nachkriegsgesellschaft über ihr künftiges Zusammenleben rangierten von sozialistischer bis völkisch-nationaler Gemeinschaft – über den Wunsch großer Teile der Bevölkerung hinaus, möglichst vieles so zu belassen, wie es war. Besonders zwei Gruppierungen wurden zum Sinnbild der extremen politischen Außenpositionen, der politischen Linken und der politischen Rechten: Zum einen war dies die Bewegung der „Kieler Matrosen“, die im Spätherbst 1918 mit ihrem Aufstand im Reichskriegshafen Kiel für ein beschleunigtes Ende des Ersten Welt-

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kriegs gesorgt und zugleich den Anlass dafür gegeben haben, das just in Wandlung zur parlamentarischen Monarchie befindliche Kaiserreich zu Fall zu bringen.1 Auf der anderen Seite standen die Freikorps, paramilitärische Verbände, die sich mit der Auflösung der deutschen Weltkriegsarmee als Söldner, Glücksritter und brutale Ordnungskräfte verdingten – innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen.2 Auch wenn die politischen Positionen ihrer Mitglieder durchaus schwach konturiert waren und eine klare Zuordnung zu konkreten politischen Anliegen mitunter schwer fällt, wurden diese Bewegungen von jenen politischen Lagern, die sich am intensivsten der Ausübung politischer Gewalt bemühten, zu typisierten Symbolfiguren gemacht. Dem linksradikalen Spektrum galten die „Kieler Matrosen“ als revolutionäre Avantgarde, deren Revolutionsansatz durch den vermeintlichen „Verrat“ der Mehrheitssozialdemokratie auf halbem Wege zum Stillstand gebracht wurde. Nicht umsonst identifiziert Wolfgang Niess in seiner Typisierung klassischer Deutungsmuster das Narrativ von der „unvollendeten Revolution“ als eines der langlebigsten der Rezeptions- und Historiographiegeschichte der Novemberrevolution.3 Den autoritär-reaktionären, rechtsradikalen und völkischen Gruppierungen galten hingegen die Freikorpskämpfer als Sinnbild letzter Mannestugend, die den deutschen Soldaten nach einem in verschiedensten Verratsnarrativen behaupteten „Dolchstoß“ geraubt worden war.4 Die Bedeutung beider Bewegungen reichte bis in die beiden totalitären Politsysteme des NS-Herrschaftssystems von 1933 bis 1945 sowie des SED-Regimes zwischen 1949 und 1990 hinein. Dort wurden sie von den beiden Regimen vehement abgelehnt beziehungsweise als vorbildgebend inszeniert und prominente Vertreter zu jeweiligen Heldenfiguren stilisiert, etwa der spätere Stasi-Chef Ernst Wollweber oder der SA-Führer Franz Pfeffer von Salomon.5 Bei all diesen Gemeinsamkeiten zeigen sich in der Geschichte von Matrosen- und Freikorpsbewegung allerdings Unterschiede. Während sich die Letztere konstant

1 Zu den Ereignissen siehe Dirk Dähnhardt, Revolution in Kiel. Der Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik 1918/19 (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 64), Neumünster 1978; Martin Rackwitz, Kiel 1918. Revolution – Aufbruch zu Demokratie und Republik, Kiel/Hamburg 2018; mit kritischer Bewertung Karl Heinrich Pohl, Revolution in Kiel?, in: Revolution 1918/19 in Norddeutschland, hg. von Detlef Lehnert (Historische Demokratieforschung 13), Berlin 2018, S. 21‒98. 2 Zu den Freikorps nach wie vor Hagen Schulze, Freikorps und Republik 1918–1920, Boppard a. R. 1969. 3 Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2013, S. 93‒96. 4 Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914‒1933 (Schriften des Bundesarchivs 61), Düsseldorf 2003; ferner Robert Gerwarth und John Horne, Vectors of Violence. Paramilitarism in Europe after the Great War, 1917–1923, in: Journal of Modern History 83 (2011), H. 3, S. 489‒512. 5 Jan von Flocken und Michael Scholz, Ernst Wollweber. Saboteur, Minister, Unperson, Berlin 1994; Mark Fraschka, Franz Pfeffer von Salomon. Hitlers vergessener Oberster SA-Führer, Göttingen 2016.

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in Richtung des Nationalsozialismus entwickelte,6 in welchem sie in großen Teilen aufging, klafft in der mythologischen Linie der Matrosenbewegung eine erhebliche Lücke. Nach 1920 sind die „Kieler Matrosen“ als solche nicht mehr wahrnehmbar, was im Vergleich mit den revolutionären Matrosen der vorbildgebenden russischen Revolutionen von 1905 und den beiden von 1917 überrascht.7 Diese spielten auch nach der Machtübernahme der Bolschewiki eine gewichtige Rolle und galten weiterhin als Vorkämpfer und Garanten für die Bewahrung der sozialistischen Idee, was sie im Kronstädter Matrosenaufstand von 1921 unter Beweis stellten – wenn nun auch gegen die kommunistische Parteiführung.8 In Deutschland hingegen schmolz die Bedeutung des „Kieler Matrosenaufstandes“ rasch dahin und wurde bald überlagert von der Zuschreibung als „Meuterei“, als „bolschewistischer Aufruhr“ oder dem Vorwurf, die Matrosenbewegung habe sich die vermeintliche Chance zur drastischen Umgestaltung Deutschlands hin zu einem Rätestaat von den Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) aus der Hand nehmen lassen.9 Über die verschiedenen „was-wäre-wenn“-Szenarien ist in den vergangenen 100 Jahren bereits reichhaltig spekuliert worden, wobei sich die Diskussionen stets im Kreis zu drehen schienen.10 Das liegt nicht nur in der Natur der kontrafaktischen Erörterung, sondern auch in dem Umstand begründet, dass bisher umfassende Untersuchungen zur deutschen Matrosenbewegung jenseits der ereignisgeschichtlichen Aufarbeitung für das Kieler Beispiel fehlen. In dieser Hinsicht soll sich der vorliegende Beitrag daher nicht auch noch in jenes Karussell einreihen, sondern sich vielmehr mit der Teilfrage befassen, warum der Matrosenbewegung die Nachhaltigkeit fehlte, die ihr Widerpart, die Freikorpsbewegung, offenbar besaß. Hierfür bietet sich als erster Ansatz eine regionalhistorische Perspektive an. Kern der regionalgeschichtlichen Methodik sind die räumlich zugeschnittenen Be  6 Matthias Sprenger, Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zu Genese und Wandel des Freikorpsmythos, Paderborn 2008; Jan-Philipp Pomplun, Keimzellen des Nationalsozialismus? Sozialgeschichtliche Aspekte und personelle Kontinuitäten südwestdeutscher Freikorps, in: Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933, hg. von Daniel Schmidt, Michael Sturm und Massimiliano Livi (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte 19), Essen 2015, S. 73‒88.   7 Knut Kollex, Impulse und Parallelen. Die russischen Revolutionen und der Kieler Matrosenaufstand, in: Erster Weltkrieg im östlichen Europa und die russischen Revolutionen 1917, hg. von Alexander Trunk und Nazar Panych (Schriften des Zentrums für Osteuropa-Studien der Universität Kiel 9), Frankfurt a. M. 2019, S. 165‒191.   8 Ders., Matrosen als ‚Avantgarde‘? Marinerevolten im revolutionären 20. Jahrhundert, in: Zeiten des Aufruhrs (1916–1921). Globale Proteste, Streiks und Revolutionen gegen den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen, hg. von Marcel Bois und Frank Jacob (Alternative/Demokratien. Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie und des Sozialismus 6), Berlin 2020, S. 138‒166, hier S. 156‒160.   9 Vgl. Niess, Revolution, S. 93; Ulrich Kluge, Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 14), Göttingen 1975, S. 45‒47. 10 Zum Stand des Revolutionsdiskurses bis zum Jubiläum 2018 siehe Niess, Revolution, S. 578‒586.

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trachtungsweisen und deren Vergleich.11 Insofern lässt sich fragen, ob sich im Blick auf spezifische Aktionsräume beider Bewegungen Unterschiede erkennen lassen, die Aufschluss über die jeweils anders geartete Entwicklung geben können. Im Rückgriff auf die Überlegungen aus dem cultural beziehungsweise dem spatial turn lässt sich Raum als Teil des kulturellen „Koordinatensystems“ allen gesellschaftlichen Lebens verstehen, wobei Räume als Teil soziokultureller Wirklichkeiten wie diese selbst einem steten Wandel unterworfen sind.12 Oft wird gar angeführt, dass sich die menschliche Umwelt ohne die räumliche Dimension „weder kognitiv erfassen noch empirisch denken lässt.“13 So misst etwa Oliver Auge in seinem Konzept des Handlungsspielraums dem physischen Raum eine erhebliche Bedeutung bei14 ‒ nicht nur, weil dieser die politischen Rahmenbedingungen, wie die materiellen und personellen Ressourcen, bestimmte, die den von ihm untersuchten Akteuren zur Verfügung standen und ihr Handeln vorgaben. Vielmehr sieht Auge die räumlich gebildeten Beziehungsgeflechte für die Ausprägung jener Handlungsspielräume als bedeutungsvoll an, schließlich seien „die Beziehungen im Inneren eines bestimmten Raumes doch zumeist dichter […] als die nach außen.“15 Maßgeblich, und damit steht Auge nicht allein, sei „das Verständnis von Raum als sozial konstituierte beziehungsweise‚ produzierte‘ Größe“ insbesondere für die Herstellung sozialer Beziehungen.16 Mittlerweile wird Kultur als Prozess verstanden, der sämtliche Gesellschaftsbereiche durchdringt und an ihrer Ordnung mitwirkt. Soziale Praxis bedeutet somit stets Selbst- und Fremddeutung, Bewertung und Interpretation.17 Insofern wird das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“, in das der Mensch verstrickt ist, durch den 11 Zu Aufgaben und Möglichkeiten der Regionalgeschichte siehe exemplarisch Oliver Auge und Martin Göllnitz, Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Das Beispiel des Kieler Historikers Wilhelm Koppe (1908‒1986), in: Hansische Geschichtsblätter 131 (2013), S. 229‒273; Ernst Hinrichs, Regionalgeschichte, in: Landesgeschichte heute, hg. von Carl-Hans Hauptmeyer, Göttingen 1987, S. 16‒34; Wolfgang Köllmann, Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeptionen, in: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), S. 43‒50. 12 Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität (Münstersche historische Forschungen 5), Köln 1994, S. 448‒453; Matthias Middel, Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 22009, S. 103‒124. 13 Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. 2004, S. 13. 14 Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009, S. 11. 15 Ebd., mit Bezug auf Peter Moraw (Hg.), Raumerfassung und Raumbewusstsein im späteren Mittelalter (Vorträge und Forschungen 49), Stuttgart 2002. 16 Auge, Handlungsspielräume, S. 11. Vgl. ferner Henri Lefebvre, The Production of Space, transl. by Donald Nicholson-Smith, Malden 2007. 17 Karl Hörning, Julia Reuter, Doing Culture. Kultur als Praxis, in: Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, hg. von Dens., Bielefeld 2004, S. 9‒19, hier S. 9.

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Raum beziehungsweise die Wechselwirkungen von Raumordnungen und Raumtechniken, mithilfe derer „sich Kulturen verkörpern, abgrenzen, stabilisieren und ihren materiellen Stoffwechsel sowie ihren symbolischen Austausch organisieren“, mitgeprägt.18 Der spezifische Raum, so betont etwa Julian Aulke, werde „zum wesentlichen Bestandteil bei der Sinnkonstituierung von Menschen“, die ihn mit unterschiedlich relevanten Bedeutungen aufladen und ihre Lebenswelt und ihre Umwelt dadurch überhaupt erst „zu sinnhaften Wirklichkeiten gestalten“.19 Dadurch könne Raum am Ende zur „Projektionsfläche für die Vorstellungen, Werte und Normen sozialer Gruppen“ werden.20 Dies gilt, wie Aulke zeigt, vor allem dort, wo „Menschen ihre räumliche Umwelt als gefährdet oder gefährdend“ sahen.21 Schließlich habe sich nicht nur mit dem Ersten Weltkrieg das Verhältnis der Menschen zu Zeit und Raum „unter extremsten Bedingungen nachhaltig verändert.“ Gerade im Zuge der umfangreichen Demobilisierungsprozesse sei „Raum erneut zur zentralen lebenswichtigen Kategorie zahlreicher Menschen geworden“ und er konstatiert, dass die „zentralen Probleme einer krisenbehafteten Moderne […] als räumliche Probleme aufgefasst werden können.“22 Insofern stellt sich ergänzend zu den bisherigen Untersuchungen über die Bedeutung von Raumaspekten in der Frühphase der Weimarer Republik die Frage, ob und wie Angehörige von Matrosen- beziehungsweise Freikorpsbewegung ihre Aktionsräume gedanklich oder physisch gestalteten und welche Rückkoppelungsprozesse hieraus zu erkennen sind.

2. Die Matrosenbewegung 2.1. Vom Endkampf zum Aufstand Die erste zu untersuchende Bewegung nahm ihren Ursprung im provinziellen Raum Schleswig-Holsteins. Gemeinhin wird der „Kieler Matrosenaufstand“ aber dennoch als entscheidende Wegmarke der Novemberrevolution des Jahres 1918 in Deutsch18 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt a. M. 132015, S. 9; Hartmut Böhme, Einleitung. Raum – Bewegung – Topographie, in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Dems., Stuttgart 2005, S. IX‒XXIII, hier S. XXI; ferner Hörning/Reuter, Doing Culture, S. 9. 19 Julian Aulke, Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918‒1920 (Studien zur Geschichte des Alltags 31), Stuttgart 2015, S. 14 f. 20 Ebd. S. 17; ferner Kirsten Wagner, Topographical Turn, in: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Stephan Günzel, Stuttgart 2010, S. 100‒105, hier S. 101. 21 Aulke, Räume, S. 13. Siehe auch Wolfgang Hardtwig, Einleitung, in: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, hg. von Dems. (Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 22), München 2007, S. 11‒17, hier S. 13. 22 Aulke, Räume, S. 13, der in seiner Studie allerdings vor allem auf kleinräumliche Aspekte abzielt.

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land angesehen.23 Dem verhängnisvollen Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918 zu einem „Endkampf “24 gegen die britische Royal Navy hatten sich vor Wilhelmshaven zahlreiche Matrosen verweigert, wohl wissend, dass sie ernsthafte Konsequenzen zu befürchten hatten.25 Schon nach den weit weniger intensiven Flottenunruhen des Jahres 1917 waren zwei Rädelsführer nach einem umstrittenen Verfahren zum Tode verurteilt und erschossen worden.26 So blieb die Situation innerhalb der Marine bis Ende Oktober 1918 zunächst oberflächlich ruhig, doch waren die Todesurteile des Vorjahres keinesfalls vergessen. Daher konnte die Entscheidung Admiral Franz von Hippers, nach erfolgreicher Niederschlagung der Meuterei die Flotte in ihre Heimathäfen zurückzuschicken, die Lage nicht beruhigen, denn die beteiligten Marinesoldaten fürchteten ein ähnliches Schicksal.27 Besonders in der Marinestadt Kiel, in die das III. Geschwader am 1. November einlief, war die Lage mit einer stark politisierten Arbeiterschaft bereits explosiv und wurde nur durch die gemäßigte Haltung der Gewerkschaften und der MSPD im Zaum gehalten. Umgehend bemühten sich Teile der Besatzungen um eine Freilassung ihrer verhafteten Kameraden, doch unterschätzte die Kieler Marineführung unter dem just im Amt befindlichen Gouverneur, Admiral Wilhelm Souchon, die Lage.28 Er zögerte Gewaltmaßnahmen lange hinaus, weil sein Stabschef fürchtete, die Situation könne durch den unüberlegten Einsatz von Gewalt rasch „in ein völlig falsches Fahrwasser“ geraten.29 Diese Passivität verhinderte einerseits zwar größeres Blutvergießen, leistete aber der sukzessiven Ausbreitung des Aufstandes Vorschub, weil andererseits die Anliegen der einfachen Marinesoldaten ignoriert wurden. Als sich am Abend des 3. Novembers nach einer öffentlichen Kundgebung mehrere tausend Matrosen 23 Die Bewertung der Revolution blieb jahrzehntelang umstritten. Zu den grundlegenden Auseinandersetzungen siehe Niess, Revolution, S. 303‒319, 539‒548; vgl. auch Barth, Dolchstoßlegenden. 24 Mark Jones, Founding Weimar. Violence and the German Revolution of 1918–1919, Cambridge 2016, S. 37 f. 25 Vgl. dazu Wilhelm Deist, Die Politik der Seekriegsleitung und die Rebellion der Flotte Ende Oktober 1918, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14 (1966), H. 4, S. 341‒368; Gerhard Groß, Eine Frage der Ehre? Die Marineführung und der letzte Flottenvorstoß 1918, in: Deutsche Marinen im Wandel, hg. von Werner Rahn, München 2005, S. 287‒304. 26 Zum Schicksal der Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis sowie zum Folgenden Christoph Regulski, Lieber für die Ideale erschossen werden, als für die sogenannte Ehre fallen. Albin Köbis, Max Reichpietsch und die deutsche Matrosenbewegung 1917, Wiesbaden 2014. 27 Zum schwierigen Begriff der „Meuterei“ vgl. Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19. Wie war es wirklich?, München 1979, S. 57; für die im Folgenden wiedergegebenen Ereignisse siehe Rackwitz, Kiel, S. 45‒98. 28 Rackwitz, Kiel, S. 59. 29 Zum Vorgehen der Kieler Marineführung siehe Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1981, S. 60 f. Einschlägige Vorschriften sahen ein zügiges, entschiedenes und im Zweifel gewaltsames Vorgehen gegen sich abzeichnende Aufstandsbewegungen vor. Vgl. John Horne und Alan Kramer, Deutsche Kriegsgräuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.

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auf den Weg machten, ihre Forderungen in die Tat umzusetzen, konnte sie selbst der um Mäßigung bemühte Kieler Gewerkschaftsvorsitzende Gustav Garbe nicht mehr aufhalten.30 Erst als dem Gouverneur die Kontrolle entglitten war, wandte er sich an das Reichsmarineamt und berichtete von den „gefährlichen Zuständen“ in der Stadt. Seine Bitte, „wenn irgend möglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen“31, zeigt, in welch ausweglose Lage Souchon innerhalb kürzester Zeit geraten war. Zwar war es seinen hastig mobilisierten Patrouillen gerade noch gelungen, den Demonstrationszug von der Marinearrestanstalt fernzuhalten, aber die in der Nähe stattfindende Gewalteskalation mit Toten und Verletzten hatte auch deren Überforderung mit der Lage gezeigt.32 Dieses Fanal führte nicht nur zu einer Radikalisierung der Matrosen, sondern auch zu solidarischen Arbeitsniederlegungen in den großen Industriebetrieben der Hafenstadt.33 Politische Forderungen aus den Reihen der Matrosenbewegung gingen bereits am 4. November deutlich über die Freilassung von Gefangenen hinaus: Abdankung des Hohenzollernhauses und ein Ende des Belagerungszustandes.34 Souchon empfing notgedrungen eine Matrosenabordnung unter Karl Artelt, einem Anhänger der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), was dessen Gruppe vor den zahllosen noch unentschlossenen Soldaten legitimierte und ihrer Bewegung gewaltigen Zulauf bescherte. Innerhalb kürzester Zeit war die Stadt unter der Kontrolle bewaffneter Aufständischer. Um „die erregten Massen bis zur Ankunft des unterwegs befindlichen MSPD-Abgeordneten Gustav Noske und des Staatsekretärs Conrad Haußmann durch Verhandlungen hinzuhalten“35, gab Souchon schließlich einigen Forderungen nach und entließ alle aus politischen Gründen inhaftierten Matrosen. Damit hatten die Matrosen ihr Kernanliegen erreicht, waren nun aber an einem Punkt angelangt, an dem ihnen eine klare politische Zielrichtung für das weitere Vorgehen fehlte. In dieser Situation richteten sich die Hoffnungen beider Seiten daher auf Gustav Noske, der nach sei30 Vgl. Bundesarchiv Freiburg (BArchF), Militärarchiv (BA-MA), RM 31/2373, Polizeibericht vom 3.11.1918; sowie Lothar Popp, Ursprung und Entwicklung der November-Revolution 1918. Wie die deutsche Republik entstand, Kiel 1918, S. 14. Siehe ferner Dähnhardt, Revolution, S. 62‒64. 31 Wilhelm Deist (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe 2: Militär und Politik, Bd. 1: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914–1918, Düsseldorf 1970, Nr. 502, S. 1361. 32 Ob die Soldaten auf Befehl oder in Panik das Feuer eröffneten bzw. ob es zuerst aus den Reihen der Demonstranten heraus eröffnet worden war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Siehe die widersprüchlichen Angaben in BArchF, BA-MA, RM 31/2373; Popp, Ursprung, S. 13. 33 Dähnhardt, Revolution, S. 68. Zur Rolle der Arbeiter in Kiel siehe Bernhard Rausch, Am Springquell der Revolution. Die Kieler Matrosenerhebung, Kiel 1918, S. 16. 34 BArchF, BA-MA, RM 31/2373; Popp, Ursprung, S. 15. Zum Folgenden siehe Dähnhardt, Revolution, S. 71‒75. 35 BArchF, BA–MA, RM 31/2366, Bericht Souchons vom 7.3.1920; Dähnhardt, Revolution, S. 74.

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ner Ankunft am Abend des 4. Novembers 1918 allerdings die Initiative übernahm, um im Sinne der Regierung die weitere Ausdehnung der Bewegung zu verhindern.36 Auf der anderen Seite formulierten einige Matrosenvertreter weitere politische Positionen wie das Ende der Monarchie oder die Schaffung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts – auch für Frauen –37, vertraten damit jedoch nicht die Ziele ihrer Bewegung insgesamt. Denn die vom – in der Nacht des 4. auf den 5. November – gebildeten Soldatenrat proklamierten „14 Kieler Punkte“ waren im Vergleich ein klarer Rückschritt.38 Sie hoben in ihrer Mehrzahl auf eine Verbesserung des Soldatenalltags ab und verfolgten nur wenige allgemeinpolitische Ziele wie das Ende der Zensur und die Freilassung politischer Häftlinge. Forderungen nach Abschaffung der Monarchie oder einer Wahlrechtsreform fehlten dagegen gänzlich.39 Zu ihrer Unterstützung hatten sie zudem noch die USPD-Abgeordneten Hugo Haase und Georg Ledebour herbeigerufen, was sich als weiteren Beleg für die Unsicherheit und politische Orientierungslosigkeit der Matrosen deuten lässt, die offensichtlich auf externen politischen Sachverstand angewiesen waren.40 Das ist insofern bemerkenswert, als die Matrosen zu diesem Zeitpunkt das Marinegouvernement als bedeutenden Akteur ausgeschaltet hatten und damit zumindest in der Hafenstadt Kiel völlige Handlungsfreiheit besaßen. Dabei sollte es, zumindest nach dem Willen der Reichsregierung, allerdings auch bleiben. 2.2. Von der Peripherie ins Zentrum Neben den (misslungenen) militärischen Versuchen, die Ausbreitung der Matrosenbewegung zu verhindern, wurde auch von politischer Seite versucht, diese zumindest auf Kiel beschränkt zu halten. Das allerdings war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Denn schon am 3. und 4. November des Jahres, also vor der Ankunft Gustav Noskes in Kiel, hatten zahlreiche Matrosen die Stadt verlassen und so für die Ausweitung der Unruhen auf Norddeutschland und das gesamte Reichgebiet gesorgt.41 Ob diese „Sturmvögel der Revolution“ tatsächlich vom Kieler USPD-Vorstands­

36 Dähnhardt, Revolution, S. 84. 37 BArchF, BA-MA, RM 31/2373, Protokoll der Sitzung; Dähnhardt, Revolution, S. 87. 38 „14 Kieler Punkte“, in: Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung (5.11.1918). Vgl. Knut-Hinrik Kollex, Blaupause für die Revolution. Die „Kieler 14 Punkte“, in: Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918, hg. von Sonja Kinzler und Doris Tillmann, Darmstadt 2018, S. 122‒127. 39 Dähnhardt, Revolution, S. 91, bezeichnet das Programm als „Sammelsurium“, das die heterogene Zusammensetzung des Soldatenrats belege. 40 BArchF, BA-MA, RM 31/2390, Flugblatt des Kieler Soldatenrats vom 5.11.18. 41 Dähnhardt, Revolution, S. 108.

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mitglied Lothar Popp „nach vielen Orten, auch nach Berlin, entsandt“ worden sind, muss dahingestellt bleiben.42 Dennoch blieb ihre Initiative entscheidend. So wurde unter Führung von Matrosen des III. Geschwaders, das ironischerweise in die Lübecker Bucht verlegt worden war, um der Aufstandsbewegung in Kiel die Machtbasis zu entziehen und eine Ausweitung zu verhindern, schon am 5. November in Lübeck ein Soldatenrat gebildet.43 Am selben Tag forderte in Hamburg der USPD-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Dittmann auf einer ersten Versammlung von Soldaten und Arbeitern einen Sympathiestreik für die Matrosen in Kiel. Doch überrollten die Ereignisse die Akteure: Schon am nächsten Tag wurde hier wie andernorts ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, der die Kontrolle über die städtische Verwaltung übernahm.44 Damit standen die beiden Hansestädte freilich nicht allein, noch am 6. November entstanden weitere Räte etwa in Wismar, Schwerin und Rostock. In Bremen befreiten aufständische Matrosen symbolträchtig ihre am 30. Oktober verhafteten und in der Haftanstalt Bremen-Oslebshausen gefangen gehaltenen Kameraden.45 Am 7. November 1918 war schließlich der gesamte norddeutsche Raum in der Hand von lokalen Arbeiter- und Soldatenräten. Bemerkenswert ist dabei, dass es kaum zu nennenswerten gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, doch fällt bei näherem Hinsehen auf, dass es sich stets um kleinere Gruppen von Matrosen handelte, denen sich dann Truppen aus den jeweiligen Garnisonsstädten anschlossen. So konnte sich eine Machtübernahme in aller Regel rasch und zumeist gewaltlos vollziehen.46 Ihrer Ankunft waren zumeist Presseberichte über den Aufstand vorausgegangen, die trotz der vielerorts herrschenden Militärzensur gedruckt werden durften, sofern sie sich auf die Meldungen der Kieler Zeitungen vom 4. November bezogen. Vor dem Hintergrund der von vielen erwarteten und von nicht wenigen erhofften „Revolution“ reichten wenige Zeilen aus, um als Signal zum Umsturz verstanden zu werden, sobald Matrosen vor Ort erschienen. Dabei übernahmen Kieler Matrosen aber in keinem Fall „Machtpositionen auf örtlicher Ebene ohne die Garnisonstruppen, sondern stets gemeinsam mit ihnen“ und wo es keine gab, blieben in aller Regel auch keine Matrosenvertreter als zentrale Entscheidungsträger vor Ort zurück.47 Militärbefehlshaber und zivile Behörden fügten sich vor diesem Hintergrund, wie es schon in Kiel geschehen war, rasch in ihr Schicksal und zeigten sich 42 Popp, Ursprung, S. 26. Zu dem Terminus siehe Sonja Kinzler und Jens Buttgereit, „Sturmvögel der Revolution“. Zur Verbreitung der Revolution durch (Kieler) Matrosen, in: Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918, hg. von Sonja Kinzler und Doris Tillmann, Darmstadt 2018, S. 140‒151. 43 Dähnhardt, Revolution, S. 109; ferner Kluge, Soldatenräte, S. 48. 44 Kluge, Soldatenräte, S. 47 f. Zur Revolution in Hamburg siehe Hans-Jörg Czech, Olaf Matthes und Ortwin Pelc, Revolution! Revolution? Hamburg 1918/19, Hamburg 2018. 45 Peter Kuckuk, Bremer Linksradikale bzw. Kommunisten von der Militärrevolte im November 1918 bis zum Kapp-Putsch im März 1920. Ihre Politik in der Hansestadt und in den Richtungskämpfen innerhalb der KPD, Hamburg 1970, S. 2; Kluge, Soldatenräte, S. 50. 46 Hierzu und zum Folgenden Dähnhardt, Revolution, S. 108‒110. 47 Kluge, Soldatenräte, S. 51.

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zu Verhandlungen oder gleich zur Kooperation bereit.48 Nur in wenigen Fällen – wie beispielsweise in Altona – kam es zu gelegentlichen bewaffneten Auseinandersetzungen von allerdings geringer Intensität. Ein weiterer Faktor für den weitgehend friedlichen Verlauf während der Ausweitung der politischen Umwälzung liegt in der raschen Bildung von Arbeiterräten begründet, die meist unmittelbar den Soldatenräten folgten und schon vielfach politische Erfahrungen aufwiesen. Wie Eberhard Kolb gezeigt hat, stellten zudem oft die MSPD beziehungsweise gemäßigte Gewerkschaften den überwiegenden Personalanteil der Räte. Ihnen lag eine allzu radikale Umgestaltung des politischen Systems fern, vielmehr arbeiteten sie durch das Beiordnungsprinzip an der evolutionären Entwicklung bestehender Institutionen.49 Mit dieser weitgehend geordneten Form der Machtübernahme durch die Arbeiter konnten sich – fürs Erste – auch Bürgerliche arrangieren. Der Ausgangspunkt der Revolte, die Marinestadt Kiel, war fortan jedoch nicht mehr relevant. Zwar betont Dirk Dähnhardt, dass das Kieler Modell für die weitere Entwicklung häufig eine Vorbildfunktion besessen habe, vor allem in Bezug auf die Bildung, Zusammensetzung und Aufgabenstellung der Räte, und dass eine „vom Zentrum Kiel ausgehende wellenförmige Ausbreitung der Umsturzbewegung“ eine „zentrale Funktion Kiels“ nahelege, doch bleibt sein Argument in Bezug auf die damit einhergehende „Bedeutung der Kieler Räte“ eher vage.50 Nicht verhehlen kann aber auch Dähnhardt den Umstand, dass nach dem 7. November kaum noch Impulse von den Kieler Räten ausgingen und sie lediglich für die preußische Provinz Schleswig-Holstein ihre Bedeutung behielten. Viel entscheidender für die politische Situation im Deutschen Reich sollten hingegen die Ereignisse in München werden. Denn mit der von Kurt Eisner am 8. November ausgerufenen bayerischen Republik trat eine Entwicklung ein, die zuvor weder erkennbar noch zwangsläufig war. Damit wurde deutlich, dass auch in der Reichshauptstadt das bestehende politische System vor dem Kollaps stand und nicht mehr zu halten war.51 2.3. Von der Revolution in Berlin zum Ende der Matrosenbewegung Nach Ausrufung der Weimarer Republik am 9. November 1918 in Berlin spielten Akteure aus dem Umfeld der Matrosenbewegung für deren Ausgestaltung so gut wie keine Rolle mehr. Durch die Ernennung Noskes zum Vorsitzenden des Kieler Soldatenrats sowie seine Wahl zum Kieler Gouverneur hatte sich die Bewegung in

48 Hierzu und zum Folgenden siehe Dähnhardt, Revolution, S. 110. 49 Zur Typisierung der Räte siehe Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918‒1919, Frankfurt a. M. 1978, S. 71‒113; ferner Kluge, Soldatenräte, S. 105‒125. 50 Dähnhardt, Revolution, S. 110. 51 Zu München siehe etwa Martin Hille, Revolutionen und Weltkriege. Bayern 1914 bis 1945, Köln 2018, S. 35‒50.

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zweifacher Hinsicht ihrer Optionen beraubt.52 Nicht nur hatte sie ihr wichtigstes politisches Gremium dem erklärten Gegner einer allzu umfassenden Revolution unterstellt, sondern ihm auch ihre eigene, regionale Machtbasis ausgehändigt, sodass ausgerechnet Kiel bald zum Hort der Konterrevolution werden konnte.53 Noskes USPD-nahe Gegenakteure in Kiel, Karl Artelt und Lothar Popp, hatten nach Maßgabe der Entwicklung jedenfalls nicht das Format, dem erfahrenen und geschickt agierenden Politiker Paroli zu bieten. Energisch stemmte sich jener gegen eine politische Betätigung der von der Matrosenbewegung dominierten Räte, sofern dies über ihre Mitwirkung bei der Stabilisierung der politischen Zustände hinausging.54 Deutlich wird dies etwa in Bezug auf die Tätigkeit des Zentralrats der Marine in Berlin, der das Reichsmarineamt kontrollierte. So warf Noske im Dezember 1918 dem Zentralrat öffentlichkeitswirksam auf dem Berliner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte vor, sich „seit Wochen mit politischen Problemen“ zu beschäftigen, was „zu einer geradezu unerträglichen Verschleppung der wichtigsten Angelegenheiten“ geführt habe.55 Trotz seiner Haltung geriet Noske zu keiner Zeit in eine offene Konfrontation mit dem Arbeiter- und Soldatenrat. Zwar bescheinigt ihm Dähnhardt „ein hohes Maß an organisatorischer Fähigkeit“, das dazu beigetragen habe, „relativ schnell geordnete Zustände wiederherzustellen“.56 Es deutet aber auch darauf hin, dass die Matrosenvertreter kein Interesse an einer politischen Eskalation hatten oder den Wunsch nach einer radikalen Umwälzung verspürten. Ihnen galt Noske als Garant dafür, dass zumindest ihre Anfang November durchgesetzten Errungenschaften nicht wieder rückgängig gemacht wurden. Der Kieler Soldatenrat formulierte folglich keine wesentlichen, eigenen Forderungen mehr. Gänzlich aus den weiteren Ereignissen schieden die Matrosen aber noch nicht aus. Neben verschiedenen Republik- und Arbeiterwehren hatte sich in Berlin im November eine ca. 1.700 Mann starke, revolutionär eingestellte Volksmarinedivision 52 Siehe dazu Kluge, Soldatenräte, S. 118 f.; zu Noske siehe Wolfram Wette, Gustav Noske und die Revolution in Kiel 1918, Heide 2010. 53 Vgl. dazu Clemens Bogedain, Lothar von Arnauld de la Perière. Erfolgreichster U-Bootkommandant der Seekriegsgeschichte – ein vergessener „Kriegsheld“? (Historia altera. Alternative Sichtweisen auf die deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 3), Stuttgart 2016, S. 116 f. Zum konterrevolutionären Kapp-Putsch in Kiel siehe Martin Göllnitz, Paramilitärs, Terroristen und Verschwörer: Revolutionsangst und konterrevolutionäre Gewalt in Kiel 1919–22, in: Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918, hg. von Sonja Kinzler und Doris Tillmann, Darmstadt 2018, S. 202‒209; Regina Rocca, Der KappLüttwitz-Putsch in Kiel, in: Demokratische Geschichte 3 (1988), S. 285‒305. Für die Region Schleswig-Holstein siehe ferner Martin Göllnitz, Knut-Hinrik Kollex und Thomas Wegener Friis, Blandt revolutionære og „Rigsfjender“ i Slesvig-Holsten 1917‒1920, in: Arbejderhistorie. Tidsskrift for historie, kultur og politik (2017), H. 2, S. 126‒149. 54 Dähnhardt, Revolution, S. 122. 55 Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, hg. vom Zentralrat der sozialistischen Republik Deutschlands, Berlin 1919, S. 91; BArchF, BA-MA, RM 23/6, Broschüre des 53er Ausschusses „Zur Aufklärung“ vom 19.12.18, S. 5. 56 Dähnhardt, Revolution, S. 123.

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etabliert und das dortige Stadtschloss besetzt.57 Als der Berliner Stadtkommandant Otto Wels (MSPD) auf Anweisung Friedrich Eberts diese Truppe auf 600 Mann reduzieren wollte, sie aus dem Stadtschloss auszuquartieren plante und dafür als Druckmittel den Wehrsold der Matrosen einbehielt, besetzten bewaffnete Angehörige der Volksmarinedivision am 23. Dezember vorübergehend die Reichskanzlei und setzten Teile der Regierung ebenso wie den Stadtkommandanten fest. Als Gerüchte von der Misshandlung Wels’ durch die Matrosen aufkamen, gaben die drei MSPD-Vertreter im Rat der Volksbeauftragten ohne Rücksprache mit den Vertretern der USPD dem preußischen Kriegsminister Heinrich Schëuch den Befehl zum Einschreiten, wodurch die Lage endgültig eskalierte. Am 24. Dezember ließ die Heeresleitung das Schloss durch Gardetruppen mit Artillerie beschießen, während die Volksmarinedivision ihrerseits Unterstützung durch bewaffnete Arbeiter und die Sicherheitswehr des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) erhielt. Der Angriff auf das Stadtschloss scheiterte zum Entsetzen Eberts kläglich, was ihn angesichts großer Verluste (56 getötete Gardesoldaten und 11 Matrosen) zu Verhandlungen zwang und die politische Situation zuspitzte. Die USPD-Vertreter im Rat der Volksbeauftragten sahen sich nicht nur in der Frage des Militäreinsatzes von Ebert übergangen, sondern auch durch ihre Anhänger unter Druck gesetzt, die erhebliche Sympathien für die Matrosen empfanden. Am 29. Dezember 1918 traten die USPD-Abgeordneten aus der Regierung aus.58 Zwischen den beiden Koalitionspartnern bestanden ohnehin kaum noch Gemeinsamkeiten, da Differenzen sowohl bezüglich der zukünftigen politischen Verfasstheit des Staates als auch der konkreten Regierungsarbeit überwogen. Nach außen hin war allerdings das Auftreten der revolutionären Volksmarinedivision zum Anlass für die (erneute) Spaltung der Arbeiterbewegung geworden. Das Bild der bis dahin friedlichen und im Ergebnis moderaten, von Matrosen vorangetragenen Revolution wandelte sich hin zu dem Bild eines von Matrosen entfachten Chaos mitsamt der politischen Gewalt, die nun große Teile des Deutschen Reiches zu erfassen begann.59 Über den Jahreswechsel 1918/19 gründete sich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als radikale Alternative, um der vermeintlich steckengebliebenen sozialistischen Revolution doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Als der preußische Innenminister Paul Hirsch (MSPD) am 4. Januar 1919 den Berliner Polizeipräsidenten wegen seiner Unterstützung der Volksmarinedivision während der Weihnachtsunruhen entließ, brachen erneut schwere Unruhen aus. In der Folge begannen radikale Arbeiter, deren Sympathien von der USPD bis zur KPD reichten, am 5. Januar 1919 einen Umsturzversuch gegen die Reichsregierung. 57 Zur Volksmarinedivision siehe Klaus Gietinger, Blaue Jungs mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19, Münster 2019. 58 Zur Weihnachtskrise siehe Volker Ullrich, Die Revolution von 1918/19, München 2009, S. 63‒67; Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin 2017, S. 271‒283. 59 Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017, S. 153‒171.

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Nun rächte sich, dass sich die Führung der MSPD mit ihrem eigenmächtigen militärischen Vorgehen gegen die Volksmarinedivision einer eigenen Machtoption beraubt hatte und sich mangels eigener loyaler Truppen in eine fatale Abhängigkeit der Heeresleitung begeben musste.60 Von dort erhielt sie nicht nur Unterstützung durch reguläres Militär, sondern auch von den paramilitärischen Freikorps, die außerhalb der offiziellen Befehlsgewalt agierten und deren Milieu sich größtenteils durch einen militanten Antibolschewismus sowie eine drastisch zunehmende Gewaltbereitschaft auszeichnete.61

3. Die Freikorpsbewegung 3.1. Die Gründungsphase Auf den ersten Blick erschien die Überlegung Friedrich Eberts, eine „Armee aus Freiwilligen“ aufzustellen, naheliegend, ähnelte sie doch im Grundsatz der Idee eines „demokratischen Volksheeres“.62 Die ersten Versuche, dies mittels einer von sozialdemokratischer Seite Ende 1918 ins Leben gerufenen „Republikanischen Soldatenwehr“63 umzusetzen, hatten sich jedoch spätestens mit der Unzuverlässigkeit solcher Verbände bei den Weihnachtsunruhen beziehungsweise den Aufständen zum Jahresbeginn 1919 als gescheitert erwiesen. Mit dem Austritt der USPD-Mitglieder aus der Regierung am 27. Dezember 1918 musste Ebert bei der Aufstellung alternativer Freiwilligenformationen ohnehin keine Rücksicht mehr auf diese nehmen. Für solche Freiwilligenverbände wurde innerhalb kurzer Zeit die Bezeichnung „Freikorps“ üblich, ein Begriff der in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert für Einheiten gebräuchlich war, die neben dem regulären Heer aufgestellt wurden.64 Deutsche Freikorps hatten besonders in den napoleonischen Kriegen eine nationale Konnotation gewonnen, die sich für die Freikorps der Weimarer Republik überwiegend 60 Ulrich Kluge argumentiert, Ebert habe sich bewusst in diese Abhängigkeit begeben: Kluge, Soldatenräte, S. 263. 61 Vgl. dazu exemplarisch Robert Gerwarth und John Horne, Bolschewismus als Fantasie. Revolutionsangst und konterrevolutionäre Gewalt 1917 bis 1923, in: Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, hg. von Dens., Göttingen 2013, S. 94‒107; Bernhard Sauer, Freikorps und Antisemitismus in der Frühzeit der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56 (2008), S. 5‒29; Martin Göllnitz, Radikalität, Unbedingtheit, Kälte. Zur Beteiligung deutscher und österreichischer Jungakademiker an politischen Gewaltakten nach dem Ersten Weltkrieg (1919–1922), in: Zeiten des Aufruhrs (1916–1921). Globale Proteste, Streiks und Revolutionen gegen den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen, hg. von Marcel Bois und Frank Jacob (Alternative/Demokratien. Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie und des Sozialismus 5), Berlin 2020, S. 464‒491. 62 Gerwarth, Die Besiegten, S. 209; Schulze, Freikorps, S. 16 f. 63 Siehe dazu Peter Borowsky, Zwischen Volksheer und Reichswehr. Die Auseinandersetzungen über die deutsche Wehrverfassung 1918/1919, in: Ders., Schlaglichter historischer Forschung. Studien zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass herausgegeben von Rainer Hering und Rainer Nicolaysen, Hamburg 2005, S. 217‒234. 64 Schulze, Freikorps, S. 22.

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ins Nationalistische steigern sollte. Schon Anfang Oktober 1918 hatte der Generalstabsoffizier Albrecht von Thaer Überlegungen entwickelt, Freiwilligentruppen für den Fall einer schon damals nicht unwahrscheinlichen Revolution aufzustellen.65 Insofern schwangen zwei politische Grundprämissen schon im Bildungsprozess jener Freiwilligenverbände mit: Nationalismus und Antirepublikanismus, zumindest aber eine der Revolution gegenüber feindlich eingestellte Haltung, wobei man dieses Ergebnis, auch wenn es im späteren Verlauf der Ereignisse tatsächlich seinen Niederschlag fand, nicht als von vornherein zwingend ansehen darf. Zunächst nämlich ergaben sich jenseits der innenpolitischen Lage durchaus pragmatische Notwendigkeiten für die schnelle Bildung von Freiwilligenformationen. Am 15. November, vier Tage nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens mit den Westalliierten, sandte der deutsche Oberbefehlshaber Ost, Generalfeldmarschall Prinz Leopold von Bayern, ein dringendes Hilfeersuchen an die Oberste Heeresleitung (OHL).66 Die Nachricht von der Revolution, dem Ende des Krieges und der Demobilisierung der Streitkräfte hatten dazu geführt, dass sich seine Truppen in voller Auflösung befanden. Dies erwies sich aufgrund der riesigen Gebiete, die die deutschen Truppen in Osteuropa nach dem Friedensschluss mit Sowjetrussland im März 1918 nach wie vor besetzt hielten, als fatal. Schließlich war die Rückführung von Truppen und Kriegsmaterial eine logistische Herausforderung, die durch die oftmals von erheblicher Gewalt begleiteten Staatsneugründungen in Osteuropa neben dem Vordringen der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg nicht gerade erleichtert wurde.67 Eine längere Besetzung des strategisch bedeutsamen Gebietes Ober-Ost (was neben dem Baltikum auch Teile des heutigen Weißrusslands umfasste), erschien mittlerweile ausgeschlossen. Um aber wenigstens die für den Rückzug des Ostheeres benötigten Bahnlinien zu sichern, bat er um Erlaubnis zur Aufstellung von Freiwilligenformationen. Diese sollten zwar aus „vaterländisch gesinnten […] Mannschaften“ bestehen, andererseits konnte er bereits auf die Zustimmung des Großen Soldatenrats in Kaunas verweisen.68 Angesichts der drohenden Gefahren befahl Wilhelm Groener als faktischer Chef der OHL am 16. November, „mit Bildung freiwilliger Verbände, nicht nur für Deutschland, sondern auch für wichtige Punkte im Ober-Ostgebiet“ zu beginnen.69 Neben geostrategischen Überlegungen lag das Hauptmotiv in der Absicherung des Rückzugs deutscher Osttruppen mitten durch die chaotischen Neuordnungs65 Vgl. dazu den Tagebucheintrag vom 7.2.1919 in Albrecht von Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der O.H. L. Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915–1919, hg. von Siegfried Kaehler (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse 40), Göttingen 1958, S. 297. 66 Siehe hierzu und zum Folgenden Schulze, Freikorps, S. 24. 67 Zum Zerfall des Zarenreichs siehe Laura Engelstein, Russia in Flames. War, Revolution, Civil War 1914–1921, New York 2018, S. 235‒380. 68 Zit. n. Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen deutscher Truppen und Freikorps, Bd. 1: Die Rückführung des Ostheeres, hg. von der Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte, Berlin 1936, S. 19 f. 69 Zit. n. Schulze, Freikorps, S. 25. Vgl. auch Emil Barth, Aus der Werkstatt der deutschen Revolution, Berlin 1919, S. 75.

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prozesse Osteuropas sowie im Schutz deutscher Grenzen vor den nachrückenden Bolschewiki. Damit deckten sich die Ziele der OHL durchaus noch mit den Interessen der Republik, was sich auch darin zeigt, dass die „Eiserne Brigade“ im Baltikum auf einen Entschluss der Soldatenräte in Riga und Jelgava vom 28. November zurückging.70 Vor diesem Hintergrund mag es verständlich erscheinen, dass Friedrich Ebert den Aufbau von Freikorps also zumindest billigte, wobei er sich anfangs noch mit den USPD-Mitgliedern im Rat der Volksbeauftragten heftige Auseinandersetzungen zu liefern hatte, die eine „Verhaftung Groeners“ verlangten, weil sie eine konterrevolutionäre Verschwörung witterten.71 Damit lagen sie – wie wir heute wissen – nicht ganz falsch, wobei die obersten Militärs zumeist selbst kaum Kontrolle über die Freikorps besaßen. Tatsächlich waren die ersten Verbände ohne Wissen der OHL aufgestellt worden. So ist für Lüneburg bereits ab dem 11. November, fünf Tage vor der Entscheidung Groeners, ein Freikorps nachweisbar.72 Zudem war das Gros dieser paramilitärischen Verbände noch für die Sicherung des Ostheeres und den freiwilligen Grenzschutz vorgesehen.73 Lediglich die „1. Marinebrigade“ war von vorherein für den Kampf im Inneren gedacht. Sie wurde ausgerechnet auf Anregung des MSPD-Politikers Noske vom Deckoffizierbund sowie dem Bund der Marineberufssoldaten zur Bekämpfung linksradikaler Unruhen aufgestellt.74 Dennoch richtete sich der Blick fast aller Freikorps von Anfang an auch auf die Lage innerhalb des Reiches. So verzeichnet das Kriegstagebuch des in vielerlei Hinsicht vorbildgebenden „Freiwilligen Landesjägerkorps“ anlässlich seiner Aufstellung am 6. Dezember 1918 den Entschluss ihres Kommandeurs, General Georg Maercker, „freiwillige Truppen zum Schutze der Ostgrenzen gegen Bolschewisten und Polen und zum Kampfe gegen Spartakus zu bilden“.75 Andererseits betrachteten zu Beginn viele Militärs die Freikorps äußerst skeptisch. Als im Baltikum die ersten Freiwilligeneinheiten entstehen sollten, lehnte der Oberbefehlshaber der 8. Armee dieses Ansinnen noch rundheraus ab.76 Auch einigen amtlichen Darstellungen der Zeit ist zu entnehmen, dass „die Kommandostellen sich der Bildung der Freiwilligentruppen nicht überall mit genügendem Nachdruck 70 Siehe dazu August Winnig, Am Ausgang der deutschen Ostpolitik. Persönliche Erlebnisse und Erinnerungen, Berlin 1921, S. 64 f. Die „Eiserne Brigade“ wurde später in „Eiserne Division“ umbenannt. 71 Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg, hg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 473; Barth, Werkstatt, S. 75. 72 Herbert Volck, Rebellen um Ehre. Mein Kampf für die nationale Erhebung 1918–33, Gütersloh 1932. Aufgrund der mangelnden Dokumentation sind Gründungsdaten aber höchst problematisch. Vgl. Schulze, Freikorps, S. 26. 73 Nach Waldemar Erfurth, Die Geschichte des deutschen Generalstabes von 1918 bis 1945, Göttingen 1957, S. 19, war die Bildung eines Freiwilligen Grenzschutzes am 24.11.1918 von der OHL befohlen worden. 74 Vgl. Bogedain, de la Perière, S. 116 f.; ferner Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971. 75 Zit. n. Ernst von Salomon, Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, Berlin 1938, S. 54. 76 Winnig, Am Ausgang, S. 64 f.

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angenommen“ hätten.77 Das lag vor allem daran, dass Freiwilligenverbände anfangs nur von wenigen Militärs als wirklich notwendig erachtet wurden. So beschränkte das preußische Kriegsministerium die Anwerbung von Freiwilligen zunächst erheblich, erst am 16. Dezember wurde die Aufstellung von Freikorps im gesamten Reichsgebiet gestattet.78 Zu einem generellen Umdenken kam es schließlich durch die eskalierende Situation an den deutschen Ostgrenzen und besonders durch das katastrophale Ergebnis der Berliner Weihnachtskämpfe. Bereits am Abend des 24. Dezember hatte Groener während einer Besprechung festgestellt, dass man in Zukunft auf die alten Frontverbände des Feldheeres nicht mehr rechnen könne. Nun sei es an der Zeit, auch im Kampf nach innen in verstärktem Umfang Freiwilligenverbände aufzustellen, wie sie sich an der Ostgrenze bereits bewährt hätten.79 Die Regierung Ebert sah sich angesichts tobender Aufstände folglich hilflos, wenn auch nicht unverschuldet, der faktischen Erpressung Groeners ausgesetzt, diese so lange ihrem Schicksal zu überlassen, bis die Heeresleitung über genügend zuverlässige Freiwilligeneinheiten verfüge.80 Der Rat der Volksbeauftragten stimmte zu, wobei die Hoffnung auf Gustav Noske lag, der schon in Kiel eine Militärbewegung unter Kontrolle gebracht hatte und dem Ebert zutraute, neben der Niederschlagung der Unruhen auch die Freikorps im Zaum halten zu können. Am 6. Januar 1919 wurde Noske zum Oberbefehlshaber der Truppen in und um Berlin ernannt und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet.81 Die Hoffnung Eberts sollte sich aber als kaum zu bewältigende Herausforderung erweisen, da die fragwürdige Legalität der Freikorps zur Folge hatte, dass zu keiner Zeit eine zentrale Instanz existierte, die sie vollständig kontrollieren konnte oder wollte. Die OHL jedenfalls begnügte sich damit, Offiziere auf eigene Verantwortung ihre Einheiten aufstellen zu lassen. 3.2. Im Baltikum 1919/20 Das Problem der mangelnden Kontrolle ergab sich in besonderer Weise im Baltikum, vor allem in den lettischen Gebieten südwestlich von Riga, wo deutsche Freikorpsverbände seit dem Jahreswechsel 1918/19 eingesetzt waren. Dies lag in erster Linie an dem Machtvakuum, das sich mit dem Abzug der bisherigen deutschen Besatzungsmacht ergab: Neben den russischen Bürgerkriegsparteien der weißen und der roten Armeen versuchten auch die nationalen Bewegungen der Esten, Letten und Litauer die Gunst der Stunde zur Etablierung eigener Nationalstaaten zu nutzen, wie dies im Dezember 1917 bereits der Republik Finnland gelungen 77 78 79 80 81

Zit. n. Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen, Bd. 1, S. 138. Gerhard Thomée, Der Wiederaufstieg des deutschen Heeres 1918–1938, Berlin 1939, S. 13. Friedrich Wilhelm von Oertzen, Die deutschen Freikorps 1918‒1923, München 61939, S. 249 f. Groener, Lebenserinnerungen, S. 476. Gustav Noske, Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920, S. 68.

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war.82 Dabei konnten sie durchaus mit den Sympathien der Alliierten rechnen, die ihnen zur Sicherung der neugewonnenen Eigenständigkeit jedoch keine Truppen zur Verfügung stellten, zumal diese aufgrund der potentiellen Fragilität der neuen Staatsgebilde eine eher zögerliche Politik an den Tag legten. Einerseits richteten sich die Unabhängigkeitsbestrebungen gegen das Zarenreich, dessen fragmentarische Reste in Form reaktionärer Bürgerkriegsarmeen nach wie vor existierten, während andererseits zu fürchten stand, dass die fragilen Staaten zur leichten Beute für die Bolschewiki werden könnten. Vor diesem Hintergrund machten die Ententemächte sich den Umstand zunutze, dass sich noch deutsche Truppen in diesen Gebieten befanden, und verpflichteten sie durch den Artikel 12 des Waffenstillstandsvertrages auf deren Sicherung, solange die Alliierten dies für erforderlich hielten.83 Für eine derartige Aufgabe reichten die wenigen deutschen Verbände allerdings nicht aus. Daher vereinbarte die geflohene lettische Regierung unter Karlis Ulmanis mit dem deutschen Sonderbevollmächtigten für das Baltikum, August Winnig, am 29. Dezember 1918 ein Abkommen, das die Anwerbung zusätzlicher deutscher Freiwilliger regelte.84 Wer sich für mindestens vier Wochen verpflichtete, am Kampf zur „Befreiung Lettlands“ teilzunehmen, sollte neben seinem Sold einen Anspruch auf die lettische Staatsbürgerschaft erhalten. Dies war die rechtliche Voraussetzung für den Erwerb von Grundbesitz in Lettland und wurde, obgleich damit keine direkten Siedlungszusagen verbunden waren, zum schlagenden Argument für die Anwerbung deutscher Freiwilliger.85 Von ihrer Berliner Zentrale aus organisierte die Anwerbestelle „Baltenland“ mit offizieller Unterstützung der Reichsregierung ab dem 9. Januar den personellen Nachschub ins Baltikum. Die dortigen Kämpfe intensivierten sich ab März 1919 und fanden ihren Höhepunkt in der Eroberung Rigas am 22. Mai 1919.86 Den zunehmenden Erfolg der Freiwilligenformationen betrachteten die Alliierten im Laufe der Zeit allerdings mit Argwohn, zumal sie sich nicht auf die Sicherung des Gebietes und die Unterstützung der lettischen Regierung beschränkten. Im Nachhinein musste der Befehlshaber der „Eisernen Division“, Major Josef Bischoff, sogar selbstkritisch ein-

82 Vgl. exemplarisch Manfred Menger, Zur Rolle Deutschlands bei der Erringung der Selbstständigkeit Finnlands, in: Konflikt und Kooperation. Die Ostsee als Handlungs- und Kulturraum, hg. von Martin Göllnitz u. a., Berlin 2019, S. 211‒219. 83 Siehe hierzu und zum Folgenden Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten, Hamburg 2002, S. 281 f.; Sigmar Stopinski, Das Baltikum im Patt der Mächte. Zur Entstehung Estlands, Lettlands und Litauens im Gefolge des Ersten Weltkriegs (Nordeuropäische Studien 11), Berlin 1997, S. 187. 84 Schulze, Freikorps, S. 131. Die Anwerbungen erfolgten zumeist für die „baltische Landeswehr“, die vor allem aus der deutschbaltischen Minderheit bestand. Vgl. dazu Michael Garleff, Deutschbalten in Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik und dem Dritten Reich. Zur Forschungssituation und Problemlage, in: Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 1, hg. von Dems., Köln 2001, S. 1‒10. 85 Liulevicius, Kriegsland, S. 282. 86 Siehe dazu und zum Folgenden Schulze, Freikorps, S. 139‒145.

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gestehen: „Wir haben uns totgesiegt!“87, wobei er freilich außer Acht ließ, dass die deutschen Verbände ihr Mandat drastisch überschritten hatten. Denn spätestens mit dem sogenannten „Baltenputsch“ zeigte sich, dass die deutschen Freikorps eine eigene Agenda verfolgten.88 Mitte April 1919 hatten Einheiten der baltischen Landeswehr unter Hans von Manteuffel die Regierung Ulmanis gestürzt und Anfang Mai eine Marionettenregierung um den lettischen Pastor Andrievs Niedra eingesetzt. Aus einem Einsatz zur Abwehr des Bolschewismus war ein Kampf um die Kontrolle von Gebieten geworden, welcher die Letten von Verbündeten in Feinde verwandelt hatte. Folgerichtig begannen die Alliierten auf ein Ende des deutschen Einsatzes zu drängen, auch wenn sie die Deutschen noch über den Sommer 1919 hinaus im Baltikum gewähren ließen. Ohnehin ergaben sich aus dem eigenständigen Wesen der Freikorps heraus für die Reichsregierung Schwierigkeiten bei der Beendigung des Einsatzes. Denn jenen widerstrebte es, Anweisungen zum Abzug Folge zu leisten, sahen doch viele Kämpfer darin das Ende für das – zu keinem Zeitpunkt faktisch existierende – Siedlungsversprechen. Ferner hatten die Kämpfe einen erheblichen Blutzoll gefordert, den die Kämpfer kompensiert wissen wollten. Am 24. August 1919 appellierte Major Bischoff an die Soldaten seiner „Eisernen Division“, sich dem von der deutschen Regierung befohlenen Abtransport zu verweigern.89 Seinem Aufruf folgte der Großteil der deutschen Freikorps im Baltikum und organisierte sich nun unter dem Befehl des Kapitäns zur See Paul Siewert in der am 25. August gegründeten „Deutschen Legion“. Unter der formellen Hoheit des schillernden russischen Obersten Fürst Paul Michailowitsch Awalow-Bermondt, der am 5. September zum Oberbefehlshaber der weißen Truppen in Kurland und Litauen ernannt worden war, sahen die verbliebenen deutschen Verbände ihren Traum von einem deutschen „Ostland“ im Baltikum als Kompensation für die Gebietsverluste nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg doch noch erreichbar.90 Am 6. Oktober des Jahres traten die „Eiserne Division“, die „Deutsche Legion“ sowie das „Freikorps von Plehwe“ formell in die russische „Westarmee“ ein, die damit zum weit überwiegenden Teil aus deutschen Kämpfern bestand: Etwa 40.000 der insgesamt 52.000 Mann waren Freikorpsangehörige.91 Zu dieser Zeit hatte die deutsche Regierung auf alliierten Druck hin bereits die Besoldung sowie die Lieferung von Nachschub eingestellt und die ostpreußische Grenze geschlossen. 87 Josef Bischoff, Die letzte Front. Geschichte der Eisernen Division im Baltikum 1919, Berlin 1935, S. 123. 88 Siehe hierzu und zum Folgenden Schulze, Freikorps, S. 141‒150. 89 Ebd., S. 166 f. 90 Vgl. Bernhard Sauer, Vom „Mythos eines ewigen Soldatentums“. Der Feldzug deutscher Freikorps im Baltikum im Jahre 1919, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), H. 10, S. 870‒902, hier S. 887; Liulevicius, Kriegsland, S. 282, 296. Zum Hintergrund ihrer Vorstellungen siehe Klaus Hildebrand, Das deutsche Ostimperium 1918. Betrachtungen über eine historische „Augenblickserscheinung“, in: Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, hg. von Wolfram Pyta und Ludwig Richter (Historische Forschungen 63), Berlin 1998, S. 109‒124. 91 Siehe dazu und zum Folgenden Sauer, Mythos, S. 886‒893; Schulze, Freikorps, S. 181‒185.

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Anfangs erwiesen sich die Maßnahmen der Reichsregierung als wenig wirkungsvoll.92 Zwar waren die Freikorpstruppen im Sommer 1919 nach Niederlagen gegen die Letten aus Riga vertrieben und weit nach Südwesten zurückgedrängt worden, doch konnten sie am 7. Oktober als russische „Westarmee“ zum Angriff übergehen und bereits nach drei Tagen erneut die Außenbezirke Rigas erreichen. Mittlerweile hatten die Alliierten ihre bisherige Politik überdacht. Zuvor schon war ihre Intervention im russischen Westen nicht besonders nachdrücklich verfolgt worden, was die Rolle der deutschen Freikorps – formell noch als Kriegsgegner – eindrücklich belegt. Als sich die Niederlagen der weißen Armeen im russischen Bürgerkrieg häuften, reduzierte die britische Regierung deren Unterstützung und begann sogar erste Annäherungen an die sowjetische Regierung.93 Zudem befürchteten sie, ein Zusammenwirken deutscher und russischer Armeen könnte in ein Bündnis und damit eine erhebliche Machtverschiebung zugunsten des Deutschen Reiches münden.94 Ohnedies lag eine deutsche Machtbasis im Baltikum nicht in ihrem Interesse. An dieser Einschätzung war die Reichsregierung nicht ganz unschuldig, hatte sie in der Räumungsfrage doch einen zwielichtigen Schlingerkurs verfolgt. Die Anwerbungen für das Baltikum wurden zwar am 5. Mai 1919 verboten, liefen aber dennoch unbehelligt weiter. Die ostpreußische Grenze war zwar offiziell gesperrt worden, dennoch gelangte weiterhin Nachschub zu den Freikorps. Auch der verantwortliche deutsche General Rüdiger von der Goltz verließ das Baltikum endgültig erst am 14. Oktober, obwohl die Alliierten seine Abberufung bereits am 5. Mai gefordert hatten.95 Dabei war die Reichsregierung weniger von regionalstrategischen Überlegungen als vielmehr von der innenpolitischen Situation beeinflusst, in der sie auf die Freikorps als Element ihrer inneren Sicherheitspolitik noch nicht verzichten konnte. Daneben fürchtete sie eine reaktionäre Gegenrevolution, sollte sie die Interessen der Baltikumskämpfer nicht ausreichend berücksichtigen. Besonders Gustav Noske wies darüber hinaus beständig auf die entscheidende Rolle der Freiwilligenverbände bei der Wiederherstellung der Ordnung in Deutschland hin.96 Diese Haltung führte allerdings nicht nur zu Missverständnissen mit der Entente, auch die Freikorps im

92 Schulze, Freikorps, S. 189. 93 Im Foreign Office Memorandum vom 22.12.1919 wurde auf die mangelhafte Unterstützung des russischen Generals Koltschak hingewiesen und die Zweckmäßigkeit weiterer Zusammenarbeit infrage gestellt. Ein Abdruck des Memorandums findet sich in: Documents on British Foreign Policy 1919–1939, Series 1, Vol. 3: 1919, hg. von Ernest Llewellyn Woodward und Rohan Butler, London 1949, S. 736 f. Siehe ferner David Lloyd George, The Truth about the Peace Treaties, Vol. 1, London 1938, S. 319. 94 Im Sinne eines „barbed wire entanglements“ sollte verhindert werden, dass Russland mit Deutschland allzu eng zusammenarbeitet. Siehe das Protokoll der interalliierten Besprechung vom 11. bis zum 12.12.1919 in London, abgedruckt in: Documents on British Foreign Policy, Nr. 55, S. 735 f., und Nr. 56, S. 744 f. 95 Siehe hierzu und zum folgenden Schulze, Freikorps, S. 198‒200. 96 Siehe Noskes Rede vor der sozialdemokratischen Parteileitung am 29.9.1919, in: Vorwärts (29.9.1919).

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Baltikum leiteten hieraus fälschlicherweise ein Bündnis mit der Reichsregierung und deren insgeheime Billigung ihres Treibens ab.97 Zur alliierten Neubewertung der Lage im Baltikum hatte mittlerweile allerdings beigetragen, dass Esten und Letten zwischenzeitlich bewiesen hatten, sich sowohl der bolschewistischen als auch der deutschen Angriffe allein erwehren zu können. Damit waren sie die bessere Alternative in Bezug auf die regionale Stabilität. Vor diesem Hintergrund griffen britische Kriegsschiffe schließlich direkt ins Kampfgeschehen ein und halfen, den deutschen Vormarsch auf Riga zu stoppen.98 Damit begann das langsame, aber unaufhaltsame Ende des deutschen Baltikumabenteuers. Nur mit Mühe gelang es den deutschen Freikorps im einbrechenden Winter, sich zur ostpreußischen Grenze zurückzuziehen, und auch erst, nachdem Ende Oktober 1919 Oberleutnant a. D. Gerhard Roßbach mit Teilen seines Freikorps die inzwischen eingeschlossenen deutschen Truppen entsetzt hatte. Nach erbitterten und mit teils äußerster Brutalität geführten Rückzugsgefechten gelangte am 13. Dezember der Großteil der Baltikumer, wie sich die Kämpfer mittlerweile nannten, auf ostpreußischen Boden. Drei Tage später überschritt das Freikorps Roßbach als letzte deutsche Formation die Grenze, beendete somit das BaltikumUnternehmen und begründete seinen besonderen Nimbus in den Kreisen der ehemaligen Freikorpsangehörigen.99 3.3. Der „Freikorpsgeist“ Trotz ihrer Befehlsverweigerung, trotz ihrer immer deutlicher zutage tretenden antirepublikanischen Gesinnung, ihrer bereits jetzt berüchtigten Gewaltaffinität und trotz des Umstandes, dass sie die deutsche Regierung gegenüber den Alliierten in eine schwierige außenpolitische Lage gebracht hatten, hob diese alle angedrohten Sanktionen, von der Strafverfolgung bis zum Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft, auf.100 Obwohl sie das tat, um das Aggressions- und Gewaltpotential der Baltikumer nicht herauszufordern, sah sich die Reichsregierung umgehend breiten Verratsvorwürfen ausgesetzt. Die Baltikumskämpfer, die sich neben handfesten materiellen Interessen durchaus mit großem Idealismus dem Kampf gegen die Bolschewiki verschrieben hat 97 Den Briten war allerdings auch bewusst, dass die deutsche Regierung nicht über alle Freikorpsoperationen im Bilde war. Vgl. dazu Foreign Office Memorandum vom 15.11.1919, abgedruckt in: Documents on British Foreign Policy, Nr. 197, S. 225. Ein weiterer Bericht vom 30.10.1919 stellte fest, dass dem Reichswehrminister und der Regierung bewusst viele Tatsachen vorenthalten würden. Vgl. ebd., Nr. 175, S. 207. Schließlich bemerkte Noske selbst in seinen Erinnerungen: „Manche Einzelheiten über das Bermondtsche Unternehmen habe ich erst erfahren, als es schon gescheitert war“. Noske, Von Kiel, S. 180.  98 Hierzu und zum Folgenden siehe Schulze, Freikorps, S. 193 f.; Sauer, Mythos, S. 895 f.  99 Vgl. Bernhard Sauer, Gerhard Roßbach. Hitlers Vertreter für Berlin. Zur Frühgeschichte des Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), S. 5‒21. 100 Siehe hierzu und zum Folgenden Sauer, Mythos, S. 896.

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ten, setzten den vermeintlichen Verrat durch die ausgebliebene Unterstützung mit einem Verrat an der gesamten Nation gleich: In ihrem Kampf gegen Kommunisten und lettische Nationalverbände seien sie bis zur Blockade des Nachschubs durch die Reichsregierung unbesiegt geblieben. An dieser Haltung änderten auch die hohen Verluste nichts, die sie während der von äußerster Brutalität geprägten Kämpfe erlitten hatten – im Gegenteil, durch ihr Blutopfer im Osten sahen sie sich in besonderem Maße privilegiert, Ansprüche auf Land im Baltikum oder zumindest auf eine Zukunft im Kern einer neuen Reichswehr geltend machen zu können. Kaum ein Jahr nach der Novemberrevolution 1918 schien sich die Situation zu wiederholen: Vermeintlich siegreiche Truppen wurden von der eigenen Regierung zum Rückzug gezwungen, die ihnen – einem weiteren „Dolchstoß“ gleich – von hinten in den Rücken gefallen sei.101 Dabei war der Reichsregierung gar keine andere Wahl geblieben, wollte sie keine alliierte Besetzung und weitere territoriale oder wirtschaftliche Einbußen riskieren. Ohnehin hätten die dezimierten und schlecht ausgestatteten Verbände den Winter kaum überstanden.102 Aus diesem Gefühl, Opfer einer Intrige geworden zu sein, entwickelte sich in der Memorialliteratur der Baltikumer ein „Pathos des Trotzes“, der ihren ungebrochenen Willen und das Gefühl, „die letzten Deutschen überhaupt“ zu sein, symbolisieren sollte.103 Er fand in dem Wahlspruch „Und doch!“104, den die „Eiserne Division“ pflegte, seinen Ausdruck. Diese realitätsverzerrende Wahrnehmung wurde auch durch eine Mystifizierung gefördert, die in verschiedenen Teilen der deutschen Gesellschaft in Bezug auf die Baltikumer herrschte und gepflegt wurde.105 Galten sie im sozialistischen Arbeitermilieu aufgrund der rezipierten Gewalttaten, Übergriffe auf Zivilisten oder ihrem Ruf, keine Gefangenen zu machen, zumeist als Bestien in Menschengestalt, so empfanden viele andere die Baltikumsunternehmung als „eines der unglaublichsten Abenteuer“, das ganz Deutschland in Atem gehalten habe.106 101 Siehe dazu Schulze, Freikorps, S. 200 f. So berichtete etwa Generalstabsoffizier Major von Fritsch im Juni 1919: „Im besetzten Gebiet haben sich die Verhältnisse seit der Erzbergerschen Note, daß wir räumen werden, wesentlich ungünstiger gestaltet. Wir stehen dort unter dem Stern der Verlogenheit. Neben den Knüppeln, die die Entente uns zwischen die Beine wirft, liegt ein Hauptmoment für unsere schiefe Stellung darin, daß das Bolschewistenherz Herrn Philipp Scheidemanns dort oben mehr für unsere Feinde – die Bolschewisten und UlmanisLeute – als für die Deutschen schlägt […].“ Zit. n. Francis Carsten, Reichswehr und Politik 1918–1933, Köln 1964, S. 73 f. Vgl. auch Rüdiger von der Goltz, Als politischer General im Osten (Finnland und Baltikum) 1918 und 1919, Leipzig 21936, S. 150 f. 102 Eine solche Entwicklung hatte der Staatskommissar für öffentliche Ordnung, Herbert von Berger, bereits in seiner Denkschrift vom 12.11.1919 vorausgesagt. Siehe dazu Schulze, Freikorps, Anm. 275. 103 Rüdiger von der Goltz, Meine Sendung in Finnland, Leipzig 1920, S. 240. Zum Freikorpsmythos siehe Sprenger, Landsknechte, S. 42 f., 89‒102; Göllnitz, Radikalität, S. 465‒468; Gregor Fröhlich, Soldat ohne Befehl. Ernst von Salomon und der soldatische Nationalismus, Paderborn 2018. 104 Bischoff, Front, S. 237. 105 Nach Barth, Dolchstoßlegenden, S. 255, sei sie gar die „mythenumrankteste Episode der Nachkriegszeit“. 106 Sauer, Mythos, S. 869.

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In ihren Erinnerungen zeichneten viele ehemalige Baltikumskämpfer ein bit­ ter­süßes Bild aus verklärender Landschaftsromantik einerseits und einer überbordenden Gewaltdarstellung andererseits, die allerdings stets dem Gegner die Verantwortung hierfür zuschrieb.107 Gerade hieraus ergab sich ein auf den ersten Blick einfach nachzuvollziehendes Freund-Feind-Schema, das sich von den komplizierten innenpolitischen Zuständen des Deutschen Reiches abhob, weil im Baltikum gerade nicht Deutsche auf Deutsche schossen. So ließen sich die Gewaltexzesse der Freikorps zum einen in ein Rechtfertigungsnarrativ einbetten, zum anderen konnte den Baltikumsfreiwilligen der Nimbus eines durch notwendige Härte gestählten deutschen Zukunftskämpfers anheimgegeben werden. Der harte und unerbittliche Kampf wurde zur Schule eines ebensolchen Männlichkeitsideals: „Gefangennahme bedeutete qualvollen Tod“108 wurde den Kämpfern zur Gewissheit, „Gefangene werden auf beiden Seiten fast nie gemacht“109 wurde zu einer Prämisse, welche die vielen ins Baltikum gepilgerten Kämpfer mit in die Heimat brachten. Das Kampfgebiet im Baltikum wurde zur Projektionsfläche einer vermeintlich heilen Welt, die doch so viele Gemeinsamkeiten mit den Zuständen Nachkriegsdeutschlands zu haben schien. Aus ihr könne die Rettung aus dem Chaos in der Heimat erwachsen, womit sich die ehemaligen Baltikumer an der Spitze einer deutschen Erneuerungsbewegung sahen.110 Nicht einmal ein Jahr, nachdem sie im Auftrag der Republik in das Baltikum gezogen waren, kehrten sie mit dem Vorsatz zurück, eben jener den Garaus zu machen, sollte sie sich ihnen in den Weg stellen. Denn als Kern einer neuen Armee wollten sie die Erneuerung Deutschlands gestalten.111 3.4. Freikorps im Reich als unkontrollierbare Ordnungsmacht Neben ihren Einsätzen in Berlin hatten Freikorps schon im Frühjahr 1919 deutlich gemacht, dass sie ein sozialistisches Deutschland unter keinen Umständen hinnehmen würden. Nachdem der Münchener Zentralrat am 4. April 1919 die Räterepublik ausgerufen hatte, waren in erster Linie Freikorps angetreten, um diese

107 Goltz, General, S. 145, formulierte etwa folgendermaßen: „[…] der eigenartige Zauber der baltischen Landschaft und der Freiheit in ihr, wie seit 700 Jahren die Balten, auch meine Soldaten verzaubert hatte und ihre Losung hieß: Nach Ostland wollen wir reiten.“ Zur eskalierenden Gewaltspirale im Baltikum siehe Sprenger, Landsknechte, S. 135. Eindrückliche Beispiele hierfür liefert ferner Edwin Dwinger, Die letzten Reiter, Jena 1935, S. 67, 103‒107, 111 f., 190, 223, 344, 417. 108 Bischoff, Front, S. 48 f. 109 Friedrich Wilhelm von Oertzen, Kamerad, reich mir die Hände. Freikorps und Grenzschutz, Baltikum und Heimat, Berlin 1933, S. 130 f. 110 Erich Balla, Landsknechte wurden wir … Abenteuer aus dem Baltikum, Berlin 1932, S. 16: „Wenn dort draußen, fern und unberührt vom Chaos des Inlands sich der Kern einer neuen Armee bildet, dann ist vielleicht Hoffnung, daß von Osten irgendwie die Rettung des Vaterlandes kommt“. 111 Vgl. Ernst von Salomon, Die Geächteten, Berlin 1935, S. 106, 110 f., 172.

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einen Monat später zu zerschlagen.112 Dabei waren sie nicht nur als Einheiten für den Grenzschutz Ost getarnt, auch aufgrund der personellen Fluktuation, die in den vielen Freikorps herrschte, kamen hier Freiwillige zum Einsatz, die im Baltikum ihr Handwerk gelernt hatten. Innerhalb kürzester Zeit besetzten sie München, wobei sie in blutigen Straßenkämpfen den Widerstand ihrer Gegner brachen.113 Das exzessive Ausmaß der Gewalt, das sie dabei anwendeten, schockierte die deutsche Öffentlichkeit. „Der Baltikumer“ wurde zum Sinnbild des mordlüsternen Freikorpskämpfers, wobei er weiten Teilen des Bürgertums dennoch als Garant zur Verhinderung einer bolschewistischen Machtübernahme galt und daher mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtet wurde, was in gewissem Rahmen mit der Akzeptanz seiner Gewalthandlungen einherging, solange sie bürgerlichen Sicherheitsinteressen diente.114 Die Freikorps waren zum Machtfaktor geworden, der zwar zum Bestand der Republik beigetragen hatte, aber auch in Konflikt mit der Regierung geraten war. Erneut war diese in ein Dilemma geraten, wollten die Alliierten doch die im Friedensvertrag vorgesehene Obergrenze deutscher Streitkräfte auch auf die Freikorps angewendet wissen. Eine Übernahme großer Teile der republikfeindlichen Kämpfer in die drastisch verkleinerte Reichswehr musste einerseits das fragile politische System Weimars einer erheblichen Gefahr aussetzen – ganz zu schweigen von den politischen Konsequenzen in Bezug auf die freikorpsfeindliche Anhängerschaft der Sozialdemokratie. Andererseits sah man die Gefahr durch einen möglichen bolschewistischen Umsturz noch nicht gebannt, wofür erneut Freikorps hätten herangezogen werden müssen. Zudem waren die Bestrebungen vonseiten reaktionärer, nationalistisch-völkischer Zirkel, diverser Reichswehroffiziere und Freikorpsführer, den Sturz der Regierung und das Ende der Republik herbeizuführen, kaum zu übersehen. Jenen erschien sie nicht zuletzt vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung als zu schwach, um sich gegen weitere sozialistische Revolutionsversuche oder die alliierte „Knebelung“ durchzusetzen. Am 29. Februar 1920 ordnete Reichswehrminister Gustav Noske schließlich die Auflösung der besonders umstrittenen Marinebrigaden „Ehrhardt“ und „Loewenfeld“ an, welche sich einst unter seiner Verantwortung als Kieler Gouverneur gebildet hatten.115 Damit löste er ungewollt den vorzeitigen Putsch der Regierungsgegner unter Generalleutnant Walther von Lüttwitz und dem rechtsradikalen Politiker Wolfgang Kapp am 13. März aus. Zwar konnten sie Berlin besetzen und Kapp mit Unterstützung von Freikorps im ganzen Land zur Spitze einer neuen Reichsregierung erklären, doch gelang es der alten, rechtzeitig ins Stuttgarter Exil zu fliehen und von dort ihre Anhänger zu mobilisieren. Entgegen ihrer Erwartung schaff112 Siehe hierzu und zum Folgenden Schulze, Freikorps, S. 90‒95. 113 Vgl. Hille, Revolutionen, S. 69‒74. 114 Vgl. Dirk Schumann, Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz. Politische Grundpositionen des deutschen Bürgertums nach 1918, in: Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, hg. von Hans Mommsen, Köln 2000, S. 83‒106. 115 Siehe hierzu und zum Folgenden Barth, Dolchstoßlegenden, S. 276‒278.

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ten es die neuen Machthaber nicht, außerhalb des Militärs breite Unterstützung zu gewinnen.116 Nach wenigen Tagen war der schlecht vorbereitete Putsch gescheitert, Kapp floh am 17. März nach Schweden, Lüttwitz einige Zeit später nach Ungarn. Trotz ihrer nochmals drastisch zur Schau getragenen Illoyalität verzichtete die Reichsregierung erneut auf drastische Konsequenzen für die Freikorps. Ausschlaggebend dafür war der unmittelbar nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch ausbrechende Ruhraufstand der Roten Armee, der erneut Ängste vor einer zweiten, bolschewistischen Revolution real werden ließ. Ihr könne man, so war man in der Regierung überzeugt, nur mit Hilfe der Freikorps Herr werden und so griff sie ausgerechnet auf jene Freiwilligenformationen zurück, die sich ihrer zuvor noch hatten gewaltsam entledigen wollen.117 Erst im Juni 1920 wurden die Freikorps offiziell aufgelöst, wobei einige zumindest in Teilen noch semilegal weiterexistierten.118 Hierfür spielten vor allem die Auseinandersetzungen mit Polen um Oberschlesien eine Rolle. Weitere Teile wurden in die Reichswehr oder andere paramilitärische Einheiten wie die Sicherheitspolizei übernommen. Viele Freikorpskämpfer, in erster Linie die ehemaligen Baltikumer, blieben in sogenannten „Arbeitsgemeinschaften“ verbunden und nutzten solche Netzwerke, um sich im Bedarfsfall schnell wieder formieren zu können.119 Ein besonders radikaler Teil der Zeit- und Freiwilligenverbände, vielfach ehemalige Mitglieder der Marinebrigade „Ehrhardt“ und militante Studenten, betätigte sich sogar über die Frühphase der Weimarer Republik hinaus als Untergrundkämpfer gegen die Republik.120 Nicht wenige ehemalige Freikorpssoldaten und Baltikumer fanden sich später in den Reihen der NSDAP wieder, wo sie, etwa in der Sturmabteilung beziehungsweise in der Schutzstaffel, Karriere machten.

4. Fazit Der schlaglichtartige Vergleich von Matrosen- und Freikorpsbewegung zeigt auf, wie relativ die Frage ihres jeweiligen Erfolges zu bewerten ist. In kurzfristiger Perspektive müsste man die Matrosenbewegung als die erfolgreichere ansehen, gelang es ihr doch in kürzester Zeit, sämtliche Ziele, die aus hier heraus formuliert wur116 Selbst bei den Einwohnerwehren fanden Kapp und Lüttwitz kaum Unterstützung. Vgl. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg (Veröffentlichungen des Instituts für Soziale Bewegungen A/17), Essen 2001, S. 81, 361. 117 Barth, Dolchstoßlegenden, S. 281; George Eliasberg, Der Ruhrkrieg, Bonn 1974, S. 231‒234; Wilfried Reininghaus, Der Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet 1920. Quellenkritik und Edition der zeitgenössischen Darstellungen von Carl Brenner, Josef Ernst, Arthur Zickler, Gerhard Colm, Willi Cuno und Siegfried Schulz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 53), Münster 2020. 118 Siehe dazu und zum Folgenden Schulze, Freikorps, S. 319‒325. 119 Hans-Joachim Mauch, Nationalistische Wehrorganisationen, Frankfurt a. M. 1982, S. 49. 120 Göllnitz, Radikalität, S. 482‒485; Krüger, Ehrhardt, S. 73‒94; Howard Stern, The Organisation Consul, in: Journal of Modern History 35 (1963), S. 20‒32.

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den, zu verwirklichen: Von einer ‚innerbetrieblichen‘ Mitbestimmung in der Marine mithilfe der Soldatenräte über ein baldiges Kriegsende und die Abschaffung der Monarchie bis hin zum Frauenwahlrecht. Die Freikorpsbewegung hingegen scheiterte mit ihren unmittelbaren Anliegen: Das Baltikum blieb baltisch und in der Masse wurden ihre Angehörigen nicht in die neue Reichswehr übernommen. Allein der Kommunismus konnte soweit abgewehrt werden, dass es seinen Vertretern nicht gelang, die Kontrolle über die deutsche Republik zu übernehmen. Damit konnten sich die Freikorpskämpfer, obwohl sie einen erheblichen Anteil an der Destabilisierung der Republik hatten, als Bewahrer von „Ruhe und Ordnung“ stilisieren. Zudem etablierte sich auf der langfristigen Ebene ein „Freikorpsgeist“, zu dessen Ausprägungen insbesondere der Dienst im Baltikum beigetragen hatte. Dort waren sie durch die von ihnen gemachten Erfahrungen zu einer eingeschworenen, exklusiven Gewaltgemeinschaft geworden.121 Der äußere Druck, welcher die Bindung verstärkte, blieb auch nach ihrem Einsatz durch das Gefühl erhalten, von der eigenen Regierung abgelehnt zu werden. Als ausgestoßene, selbstempfundene Elite sahen sie ihre Aufgabe nun in der Fortführung des Kampfes gegen jene Republik, die sie verachteten und deren Vertreter sie als „Novemberverbrecher“ verabscheuten. Hierfür kam ihrem Handlungsraum im Baltikum entscheidende Bedeutung zu. Bekamen sie innerhalb des Reiches die Skepsis ihrer Landsleute zu spüren – neben dem Gefühl, als Mittel zum Zweck bis zu dessen Erreichen lediglich geduldet zu werden –, so konnten sie doch diesen nahezu vollständig durch Frontlinien definierten Raum zur Projektionsfläche einer idealisierten Welt machen, die nur durch ständigen Kampf zu erhalten sei und deren Gewaltspirale die Freikorpskämpfer, gleich welches Motiv sie dorthin auch ursprünglich verschlagen hatte, zu einer Schicksalsgemeinschaft formte. Die vergleichsweise kurze Zeit im Baltikum sollte, wie der Boom der Freikorpsliteratur zeigt, bis weit in die 1930er Jahre und darüber hinaus fortwirken, was die Langlebigkeit dieses nunmehr gedanklich auskonturierten Raumes demonstriert. Gerade das Scheitern der deutschen Kämpfer im baltischen Kampfgebiet konstituierte, teils im Gegensatz zu ihren Erfolgen gegen vermeintliche und tatsächliche linke Umstürzler in der Heimat, für jene einen zukünftigen Lebenssinn und sorgte für die Verfestigung der im Baltikum geschlossenen rechten, nun entschlossen antirepublikanischen Netzwerke. Die Rückschläge, Niederlagen und der mythifizierbare Opfergang fehlten der Matrosenbewegung. Die im Widerspruch zur Realität stehende Auffassung der Baltikumer, sich zu Tode gesiegt zu haben, wie es Josef Bischoff annahm, dürfte viel eher auf die Kieler Matrosen Anwendung finden. Ihre Bewegung, die im November 1918 einem Wirbelsturm gleich durch Deutschland fegte, riss zwar vieles mit sich, doch gelang es ihr auf der anderen Seite nicht, dauerhaft Fuß zu fassen. Matroseninstitutionen, der Zentralrat der Marine etwa, nahmen nur in äußerst überschau121 Vgl. exemplarisch Peter Haslinger u. a., Frontiers of violence. Paramilitärs als Gewaltgemeinschaften im Ostmitteleuropa der 1920er Jahre, in: Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall, hg. von Winfried Speitkamp, Göttingen 2017, S. 233‒253.

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barem Rahmen am politischen Geschehen teil – es bleibt fraglich, inwieweit sie überhaupt eine allgemeinverbindliche Agenda betrieben. Wurde der Freikorpsgeist in „hartem und unerbittlichem Kampf “ geformt, so blieb Ähnliches für die Matrosenbewegung mangels Widerstands potentieller Gegner in der entscheidenden Phase aus. Die Ausbreitung ihrer Revolution war linear, von Kiel nach Berlin, von der Peripherie ins Zentrum, Rückbindungsprozesse sind kaum zu erkennen. So konnte sich zu keinem Zeitpunkt ein Raumgebilde formen, dass ihnen als gedankliche Projektions- und gemeinschaftliche Integrationsfläche, als Utopia ihrer Zukunftsvorstellung, hätte dienen können. Insofern zeigt sich, dass neben dem Aspekt des Raumes auch die zeitliche Ebene für dessen Konstruktion Bedeutung hat. Als sich der Sturm gelegt hatte, waren, auch aufgrund des Erfolges der Matrosen, die entscheidenden Machtpositionen jedenfalls bereits besetzt: Durch Arbeiterräte im Allgemeinen und durch den Mehrheitssozialdemokraten, Gouverneur und späteren Reichswehrminister Gustav Noske im Speziellen. Die ausgezogenen Matrosen kehrten in aller Regel nicht nach Kiel zurück und die dort verbliebenen ordneten sich Noskes pragmatischer Ordnungspolitik unter. Weder Kiel, schon gar nicht Schleswig-Holstein konnten unter diesen Voraussetzungen zur Projektionsfläche einer sinnhaften Wirklichkeit werden, wie es das Baltikum für die romantisierenden Sehnsüchte der Freikorpskämpfer nach einer grotesken Facette „heiler Weltvorstellungen“ wurde. Der Ausgangspunkt der Matrosenrevolte, der „Ursprung der Novemberrevolution“ blieb immer Provinz. Das kurze Intermezzo der Volksmarinedivision im Berliner Stadtschloss war gleichfalls nicht geeignet, ging es ihnen doch nach überwiegend einhelliger Meinung um subjektiv-materielle Forderungen und weniger um ideologische Gesichtspunkte – immerhin rebellierten sie ja gegen die sozialistisch kontrollierte Regierung. Wofür auch hätten die Matrosen einen Projektionsraum gebraucht? Ihre Ansprüche waren zu weiten Teilen erfüllt. Wenn dies heute mitunter angezweifelt wird, liegt es allerdings daran, dass die Matrosen selbst zur Projektionsfläche anderer Interessen, nämlich denen radikalerer Strömungen deutscher Sozialisten wurden. Insofern sind die Matrosen des Jahres 1918 tatsächlich kaum als Sinnbild zu begreifen.

5. Akteure in der Regionalgeschichte

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„Conrat Prünig erber und wis / bracht daher ein neuw fenlin mit fliß.“ Die Bedeutung der Tübinger Stadtelite im 15. und 16. Jahrhundert

Abstract Tübingen on the Neckar, a foundation of the Counts Palatine of the same name, rose to one of the most important cities of the whole territory after its transition to the Counts of Württemberg in 1342. This was particularly evident when Count Eberhard V established a university at this point in 1477 which triggered a proper buil­ ding boom – the municipality prospered. The favourable development also had an impact on the urban elite which served as a recruitment pool for the court as real town government, which was closely related and which possessed a comparatively large fortune. As Tübingen though filled a major and – together with Stuttgart – even a leading position within the territorial fabric, the urban elite was given the opportunity for political participation at territorial level at the same time, whether as reeves in lordly attendances or as representatives of the so-called “Landschaft” at the diets. Konrad Breuning, the bailiff of Tübingen, in particular, excelled as a protagonist: He ensured the completion of the notable Tübingen Treaty in 1514, but only a few years later he was executed because of an alleged conspiracy against the reigning duke.

Im Jahr 1514 erlebte das Herzogtum Württemberg einen äußerst turbulenten Sommer. Erst erhob sich der Aufstand des „Armen Konrad“, bei dem Teile der Bevölkerung zunächst gegen eine Lebensmittelsteuer protestierten und im Lauf des Konflikts politische Partizipation forderten. Dann einigten sich Herzog Ulrich und die württembergische Landschaft auf den epochalen „Tübinger Vertrag“, der zwar Mitspracherechte vorsah, dabei aber primär die Interessen der städtischen Eliten und nicht des gemeinen Mannes berücksichtigte. Und schließlich wurden die letzten Aufständischen, die sich enttäuscht und desillusioniert auf dem Kappelberg bei Beutelsbach verschanzt hatten, mit Waffengewalt besiegt und verurteilt.1 Von die1 Zum „Armen Konrad“, seinem Verlauf und seinen Hintergründen sowie zum „Tübinger Vertrag“ siehe z. B. Andreas Schmauder, Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514. Ein Beitrag zum bäuerlichen und städtischen Widerstand im Alten Reich und zum Territorialisie­ rungsprozeß im Herzogtum Württemberg an der Wende zur frühen Neuzeit (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 21), Leinfelden-Echterdingen 1998; Götz Adriani und An­ dreas Schmauder (Hg.), 1514. Macht, Gewalt, Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs, Tübingen 2014; Sigrid Hirbodian, Robert Kretzschmar und Anton Schindling (Hg.), „Armer Konrad“ und Tübinger Vertrag im interregionalen Vergleich. Fürst, Funktions-

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sem Triumph berichtet unter anderem die so genannte Herzogliche Reimchronik, ein aus 806 Paarreimen bestehendes Werk, das die Ereignisse vom Beginn des Aufstands bis zur Hinrichtung der Rädelsführer zusammenfasst und aus seiner proherzoglichen Positionierung keinen Hehl macht: Die verbrecherischen Aufrührer hätten nämlich nur Mord, Raub und Umsturz im Sinn gehabt, was der edle Herzog aber habe abwenden können.2 Denn „was sol ein herrschaft on ein haupt?“, so fragt der unbekannte Verfasser am Ende seiner Schrift und zementiert damit eine naturgegebene Unterordnung der Bevölkerung unter ihren Herrn.3 Neben dieser grundsätzlichen Ausrichtung der Reimchronik fällt auf, dass ein besonderes Augenmerk auf der Rolle Tübingens und seiner Vertreter liegt. Nach Abschluss des „Tübinger Vertrags“ nämlich hätten Vogt und Rat sogleich die ganze Gemeinde zur Huldigung zusammengerufen, wodurch man sich als absolut loyal

eliten und „Gemeiner Mann“ am Beginn der Neuzeit (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/206), Stuttgart 2016; Uwe Jens Wandel (Hg.), Der arme Konrad. Die Vorträge und Referate des Schorndorfer Symposiums 1986 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Schorndorf 5; Heimatblätter Sonderband), Schorndorf 1991; Katja Nellmann (Red.), 500 Jahre Armer Konrad. Der Gerechtigkeit einen Beistand tun, Tübingen 2014; Peter Rückert (Bearb.), Der ‚Arme Konrad‘ vor Gericht. Verhöre, Sprüche und Lieder in Württemberg 1514. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart 2014; Reinhold Rau, Zum Tübinger Vertrag 1514, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 9 (1949/50), S. 147–174; Jürgen Sydow, Der Tübinger Vertrag von 1514. Zum Problem kaiserlicher Schiedsverfahren unter Maximilian I. (Kleine Arbeitsreihe des Instituts für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte an der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz 5), Graz 1973; Nina Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde. Städtewesen, städtische Führungsgruppen und Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (1250–1534) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 78), Ostfildern 2017, S. 318–362. 2 Karl Steiff und Gebhard Mehring (Hg.), Geschichtliche Lieder und Sprüche Württembergs, Stuttgart 1912, Nr. 27, S. 98–110, hier S. 104: „Nun sag ich wider vom Rämßtal. / Die rotten sich on underlaß; / allweg ir můt und meinung was, / ob zů in kämen ander vogti, / die in [in] nöten stůnden bi / und möchten herrschen mit gewalt / über jung und über alt, / so wölten sie on alle recht / verdriben die herrn und die knecht / und all richen schändlich töten, / auch die priester grausam nöten / und in nemen, das sie hetten, / biß sie ihre willen teten; / und was ir meinung und ir můt, / daß sie wollten das edel blůt / von Württenberg, den fürsten rich, / vertriben also grausamklich / uß seinem väterlichen land. / […] / Fürbaß will ich euch bedeuten: / wann herzog Ulrich hochgenant / sein eigne botschaft zů in sant, / ob sie sein gnaden hulden wollten, / das sie von recht auch tůn sollten, / so tobten sie als wůtig hund; / das selb ward alles samet kund. / Von Würtenberg so hochgeborn / ein loblich herzog ußerkorn / bedacht sich hin, bedacht sich her, / wie ganz kein beßer anschlag wer; / schrib gen Tübingen zů der frist, / die im ganz untertänig ist, / daß im schickten fünfhundert man, / er wölt ein anders heben an / mit den uß Schorndorfer vogti, / wölt strafen söliche böfleri.“ Siehe zur Herzoglichen Reimchronik auch Adriani/Schmauder (Hg.), 1514, S. 302; Schmauder, Württemberg im Aufstand, S. 255; Peter Seibert, Aufstandsbewegungen in Deutschland 1476–1517 in der zeitgenössischen Reimliteratur (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 11), Heidelberg 1978, S. 353 f. 3 Steiff/Mehring (Hg.), Geschichtliche Lieder, S. 110.

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erwies.4 Gegen die Aufständischen im Remstal habe man 500 Mann entsendet, mehr als alle anderen Städte, und sei für die erfolgreiche Mission ebenso wie für die dadurch demonstrierte Treue mit einem verbesserten Wappen belohnt worden: Das selbig was, als ich hie meld, ein rot fan in eim gelwen feld und zwen arm darüber geschrengt, fünf ring an ieden arm gesprengt, in ieglich hand ein schwarz hirßhorn; schenkt alls der herzog hochgeborn den zu Tübing zu lob und eer.“5

Eine Schlüsselposition kam bei alldem offenbar dem Vogt Konrad Breuning zu, dessen Name mehrfach in der Reimchronik erwähnt wird. Er brachte nicht nur das „neuw fenlin“ nach Tübingen, wo er von einem mehr als 500-köpfigen Triumphzug willkommen geheißen wurde, sondern auch drei neue Geschütze, die der Herzog der Stadt schenkte.6 Aus anderen Quellen wissen wir, dass sich auch die Stadt selbst gegenüber ihrem Vogt erkenntlich zeigte und einen jährlichen Gedächtnistag zu seinen Ehren stiftete.7 Bei der Verurteilung der Aufständischen schließlich fungierte Konrad Breuning als Ankläger des Herzogs und stand folglich in sehr hohem Ansehen.8 4 Ebd., S. 103: „Zů Tübing in der werden stat / ein erber vogt und wiser rat / besanten alles, jung und alt, / do wurd in der ußspruch erzalt; / darnach fiengen sie an zů schwern / irem rechten natürlichen herrn / und hulten im all mit treuwen, / das ward sich arm und rich freuwen; / von Würtenberg ein edler stamm / den eid er selber von in nam.“ 5 Ebd., S. 109. Das neue Wappen ist abgebildet in einer frühneuzeitlichen Abschrift der herzoglichen Urkunde. Siehe Adriani/Schmauder (Hg.), 1514, S. 300. 6 Steiff/Mehring (Hg.), Geschichtliche Lieder, S. 109. Zu Konrad Breuning siehe z. B. Walther Pfeilsticker (Bearb.), Neues Württembergisches Dienerbuch, 3 Bde., Stuttgart 1957–1974 [künftig: NWD], hier Bd. 1, §§ 1143 und 1454, und Bd. 2, § 2889; Rudolf Seigel, Gericht und Rat in Tübingen. Von den Anfängen bis zur Einführung der Gemeindeverfassung 1818–1822 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/13), Stuttgart 1960, Nr. 37, S. 183 f.; Sigrid Hirbodian, Konrad Breuning und die Bedeutung der städtischen Führungseliten für Württemberg, in: 1514. Macht, Gewalt, Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs, hg. von Götz Adriani und Andreas Schmauder, Tübingen 2014, S. 206–210; Manfred Eimer, Konrad Breuning, Vogt zu Tübingen, Mitglied der Landschaft und des Regimentsrates. Um 1440–1517, in: Schwäbische Lebensbilder, Bd. 4, hg. von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, Stuttgart 1948, S. 1–14; Josef Forderer, Konrad Breuning. Ein Beitrag zur württembergischen Geschichte unter Herzog Ulrich, in: Tübinger Blätter 22, 1931, S. 1–9. 7 Außerdem sollte künftig immer je ein Familienmitglied freie Kost im Tübinger Spital erhalten und ein Geistlicher aus der Familie auf seinen Wunsch hin mit einer städtischen Pfründe ausgestattet werden. Vgl. Eimer, Konrad Breuning, S. 9; Forderer, Konrad Breuning, S. 6. 8 Steiff/Mehring (Hg.), Geschichtliche Lieder, S. 109: „Fürbaß sag ich euch dise ding. / Do dise sach het nu[n] ein end, / die landschaft kam auch dar behend, / saßen gericht, will ich jehen, / als zů Stůtgart ist geschehen. / Conrat Prúnig so lobesam / claget alle gefangen an / von anwalds des edlen fürsten milt; / Hans Sechel von Tübing den stab hielt.“ Siehe auch Ludwig

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An dieser Stelle verlassen wir die Herzogliche Reimchronik, die uns einen Einblick in die Ereignisse des Jahres 1514 gewährt, gleichsam durch einen herrschaftskonformen Filter betrachtet, und uns mit Fragen zurücklässt: Warum etwa kam es zu dieser starken Akzentuierung Tübingens, die in der Reimchronik vorzufinden ist? Diese Frage zielt weniger auf eine quellenkritische Betrachtung des Werkes, denn wir dürfen sowohl den Verfasser als auch die Auftraggeber in Tübingen vermuten, sodass sich eine besondere Hervorhebung ihrer Heimatstadt beinahe von selbst versteht.9 Es soll stattdessen um die grundsätzlichere Frage gehen, wie es im Württemberg des 15. und 16. Jahrhunderts um die Bedeutung der Stadt Tübingen und insbesondere ihrer städtischen Führungsgruppe, als deren Vertreter wir Konrad Breuning kennengelernt haben, bestellt war. Dafür wird im Folgenden zuerst die Stellung der Stadt Tübingen innerhalb Württembergs thematisiert, weil dies einen Eindruck ermöglicht, unter welchen Rahmenbedingungen die städtische Führungsgruppe überhaupt agieren konnte. Diese Führungsgruppe soll anschließend im Mittelpunkt stehen, indem zuerst zu hinterfragen ist, was „Führungsgruppe“ oder „Stadtelite“ eigentlich bedeutet, und indem anschließend die Charakteristika am Tübinger Beispiel vorgeführt werden. Der letzte Abschnitt zeigt, welche Bedeutung die Tübinger Elite für die Stadt selbst hatte und welche Rolle sie für das Herzogtum Württemberg spielte.

Die Stellung der Stadt Tübingen im spätmittelalterlichen Württemberg Dass sich Städte und die Menschen, die in ihnen leben, gegenseitig beeinflussen, ist unbestreitbar. Die regionalgeschichtliche Forschung beschäftigt sich daher unter anderem mit der wichtigen Aufgabe, die urbanen Zentren des Mittelalters und der Neuzeit im Kontext ihres territorialen Umfelds zu betrachten und zu analysieren. Denn keine Stadt liegt im luftleeren Raum ohne jeden Kontakt zum Umland, sondern steht im Gegenteil beständig unter der Wechselwirkung mit der sie umgebenden Region, die zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Stadt beiträgt und ihrerseits urban geformt wird.10 Dies gilt für die Gegenwart ebenso wie für die Friedrich Heyd, Ulrich, Herzog zu Württemberg. Ein Beitrag zur Geschichte Württembergs und des deutschen Reichs im Zeitalter der Reformation, 3 Bde., Tübingen 1841–1844, Bd. 1, S. 346; Eimer, Konrad Breuning, S. 8; Forderer, Konrad Breuning, S. 6; Hirbodian, Konrad Breuning, S. 209.   9 Die Auftraggeber der Herzoglichen Reimchronik sind wahrscheinlich in den Reihen der Tübinger Stadtelite zu suchen, als Verfasser fungierte vielleicht der Tübinger Dichter und Humanist Heinrich Bebel oder eine dem Tübinger Humanistenkreis nahestehende Person. Siehe Adriani/Schmauder (Hg.), 1514, S. 302. 10 Vgl. dazu mit Hinweisen zur einschlägigen Forschungsliteratur Nina Kühnle, „Mein Land hat kleine Städte“. Perspektiven der Kleinstadtforschung am Beispiel des spätmittelalterlichen Württemberg, in: Städte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als Forschungsthema in den letzten zwanzig Jahren. Abhandlungen und erweiterte Beiträge der 30. wissenschaftlichen Konferenz des Archivs der Hauptstadt Prag, veranstaltet am 11. und 12. Oktober 2011 im Palais

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spätmittelalterlichen Verhältnisse. Das Beispiel Tübingen macht sichtbar, wie die städtischen Voraussetzungen und der urbane Aufstieg überhaupt erst das Feld bereiteten für den Einfluss der dortigen Stadtelite. Die frühe Geschichte Tübingens führt ins Hochmittelalter: Im Jahr 1078 tauchte es zum ersten Mal in den Quellen auf und verfügte im Lauf des 12. Jahrhunderts bereits über zentralörtliche Funktionen, die sich in einem herrschaftlichen Fronhof, einem Markt, Kirchenbauten und einer vielleicht schon vorhandenen Münzstätte manifestierten.11 Im Jahr 1231 wurde es erstmals als „civitas“ genannt, und diese zügige urbane Verdichtung hing sehr eng mit der Bedeutung seiner Stadtherren zusammen, der Pfalzgrafen von Tübingen. Diese verfügten mit ihren verschiedenen pfalzgräflichen Linien über territoriale Schwerpunkte um Asperg und den Schönbuch, um Blaubeuren und im Raum Bregenz.12 Tübingen konnte also bereits auf eine längere Geschichte zurückblicken und bildete ein wichtiges regionales ZentClam-Gallas in Prag, hg. von Olga Fejtová u. a. (Documenta Pragensia 32), 2 Bde., Prag 2013, Bd. 2, S. 531–561, hier S. 538. Die beschriebene Wechselwirkung ist das zentrale Element der Urbanisierung, siehe Jan de Vries, European Urbanization 1500–1800, London 1984, S. 10–13. Vgl. z. B. auch Jörg Oberste und Susanne Ehrich, Einführung: Stadt, Stadtraum, Städtelandschaft – Räume als Analysekategorien der mediävistischen Städteforschung, in: Städtische Räume im Mittelalter. Städtische Räume in der Vormoderne, hg. von Dens. (Forum Mittelalter, Studien 5), Regensburg 2009, S. 7–16; Monika Escher-Apsner und Frank G. Hirschmann, Die urbanen Zentren des hohen und späten Mittelalters. Vergleichende Untersuchungen zu Städten und Städtelandschaften im Westen des Reiches und in Ostfrankfreich (Trierer Historische Forschungen 50), 3 Bde., Trier 2005. 11 Siehe z. B. Oliver Auge, Die Pfalzgrafen und die Anfänge der Stadt Tübingen, in: Tübingen. Aus der Geschichte von Stadt und Universität, hg. von Sigrid Hirbodian/Tjark Wegner (landeskundig 4), Ostfildern 2018, S. 11–30; Sönke Lorenz, Tübingens Anfänge in historischer Per­ spektive, in: Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag, hg. von Dems. und Volker Schäfer (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 10), Ostfildern 2008, S. 27–46; Hans-Dieter Lehmann, Das frühe Tübingen. Burg und Markt an einer vergessenen Reichsstraße, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 52 (1993), S. 450–457; Jürgen Sydow, Geschichte der Stadt Tübingen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Übergang an Württemberg 1342, Tübingen 1974, S. 29–43; Ders., Adlige Stadtgründer in Südwestdeutschland, in: Südwestdeutsche Städte im Zeitalter der Staufer, hg. von Erich Maschke und Jürgen Sydow (Stadt in der Geschichte 6), Sigmaringen 1980, S. 173–192, hier S. 175–177; Sönke Lorenz, Tübingen im Silberglanz. Der Tübinger Pfennig und der Aufstieg der Stadt, in: Silber, Kupfer, Kobalt. Bergbau im Schwarzwald, hg. von Gregor Markl und Sönke Lorenz (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts 72), Filderstadt 2004, S. 159–191, hier S. 162–169. 12 Zu den Pfalzgrafen von Tübingen siehe z. B. Auge, Die Pfalzgrafen; Sönke Lorenz, Herrenbergs Gründer und Herren. Die Pfalzgrafen von Tübingen (11.–14. Jahrhundert), in: Herrenberg. Herrenberger Persönlichkeiten aus acht Jahrhunderten, hg. von Roman Janssen und Oliver Auge (Herrenberger historische Schriften 6), Herrenberg 1999, S. 11–32, hier S. 13–32; Hansmartin Decker-Hauff, Franz Quarthal und Wilfried Setzler (Hg.), Die Pfalzgrafen von Tübingen. Städtepolitik – Pfalzgrafenamt – Adelsherrschaft im Breisgau, Sigmaringen 1981; Heinz Bühler, Wie gelangten die Grafen von Tübingen zum schwäbischen Pfalzgrafenamt? Zur Geschichte der Grafen und Pfalzgrafen von Tübingen und verwandter Geschlechter, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 40 (1981), S. 188–220; Ludwig Schmid, Geschichte der Pfalzgrafen von Tübingen nach meist ungedruckten Quellen, nebst Urkundenbuch. Ein Beitrag zur schwäbischen und deutschen Geschichte, Tübingen 1853. Zum Nach-

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rum, ehe es im Jahr 1342 an die Grafschaft Württemberg gelangte. Seine Bedeutung kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Graf Ulrich III. von Württemberg die stolze Summe von 20.000 Pfund Heller für den Erwerb Tübingens aufbringen musste.13 Damit stellte Tübingen im 14. Jahrhundert, einer Phase massiver Expansion seitens der Württemberger, den teuersten Neuzugang dar.14 Schon bald nach seinem Übergang an Württemberg dürften Tübingen und der damit verbundene umliegende Besitz in ein Amt überführt worden sein. Das Amt bezeichnet einen lokalen Verwaltungsbezirk, in dem ein herrschaftlicher Diener, nämlich der Vogt, den abwesenden Landesherrn vertrat und dessen herrschaftliche Rechte ausübte.15 Dieser Verwaltungsbezirk setzte sich zusammen aus der Amtsstadt als Verwaltungszentrum und einer variierenden Zahl von Amtsorten. Im frühen 16. Jahrhundert war die Ämterstruktur Württembergs bereits voll entwickelt und bestand aus 45 Bezirken ganz unterschiedlicher Größe.16 Im 14. Jahrhundert war

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weis von 1231 siehe Wirtembergisches Urkundenbuch, hg. vom Königlichen Staatsarchiv in Stuttgart, 11 Bde., Stuttgart 1849–1913, in erweiterter Form online unter www.wubonline.de, Bd. 3, Nr. 799, S. 295 f. (1231 Sept. 29): „[…] infra civitatem Tuwingen […].“ Württembergische Regesten von 1301 bis 1500, Bd. 1: Altwürttemberg, hg. vom Königlichen Haus- und Staatsarchiv in Stuttgart (Urkunden und Akten des K. Württ. Haus- und Staatsarchivs 1), 3 Teilbde., Stuttgart 1916–1940. Der zugrunde liegende Archivbestand im Hauptstaatsarchiv (HStA) Stuttgart, A 602, ist in erweiterter Form online einsehbar unter: https:// www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/startbild.php?bestand=3703 [im Folgenden zitiert als: WR], Nr. 13106 (1342 Dez. 5). Siehe auch Sigrid Hirbodian, Landesherrliche Stadt, Amtsstadt, Universitätsstadt: Tübingen im Spätmittelalter, in: Tübingen. Aus der Geschichte von Stadt und Universität, hg. von Ders. und Tjark Wegner (landeskundig 4), Ostfildern 2018, S. 157–175, hier S. 159–163; Sydow, Geschichte, S. 151–158; Manfred Eimer, Tübingen. Burg und Stadt bis 1600, Tübingen 1945, S. 62–66. Teurer war im 14. Jahrhundert lediglich die Herrschaft Nagold, die im Jahr 1363 stolze 25.000 Gulden kostete: WR, Nr. 10932 (1363 Juni 23). Sie umfasste aber im Vergleich zum Erwerb Tübingens ein ganzes Konglomerat an Besitzungen und Rechten. Zum Stadterwerb der Grafen von Württemberg siehe Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, Kap. 2.2.1, v. a. S. 46–48. Zu den Aufgaben des Vogtes siehe Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 81–83; Rudolf Seigel, Die württembergische Stadt am Ausgang des Mittelalters. Probleme der Verfassungsund Sozialstruktur, in: Die Stadt am Ausgang des Mittelalters, hg. von Wilhelm Rausch (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 3), Linz 1974, S. 177–193, hier S. 180 f.; Christian Hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg, 1350–1515 (Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 70), Göttingen 2005, S. 176. Vgl. die Karte bei Peter Rückert (Red.), Landschaft, Land und Leute. Politische Partizipation in Württemberg 1457 bis 2007. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart und des Landtags von Baden-Württemberg, Stuttgart 2007, S. 115. Siehe auch Elmar Blessing, Einteilung Württembergs in Ämter um 1525 (Historischer Atlas von Baden-Württemberg Erläuterungen VI,10), Stuttgart 1972. Zum Amt und seiner Entstehung siehe Walter Grube, Vogteien, Ämter, Landkreise in BadenWürttemberg, Bd. 1: Geschichtliche Grundlagen, Stuttgart 1975, S. 10–17; Ders., Stadt und Amt in Altwürttemberg, in: Stadt und Umland. Protokoll der X. Arbeitstagung des Arbeitskreises für südwestdeutsche Stadtgeschichtsforschung Calw 12.–14. November 1971, hg. von Erich Maschke und Jürgen Sydow (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/82), Stuttgart 1974, S. 20–28; Peter Rückert, Von der Stadt

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dieser Aufbau noch im Entstehen begriffen, was die ältesten überlieferten Urbare belegen.17 Die administrative Stellung Tübingens als Amtsstadt war sehr wichtig, weil sich damit eine Reihe von Kompetenzen verband: In der Amtsstadt saß der schon erwähnte Vogt, der gemeinsam mit Gericht und Rat das Stadtregiment bildete und die hohe Gerichtsbarkeit ausübte. Dies bescherte auch dem städtischen Gericht hohe Befugnisse, das zum Anlaufpunkt für Kriminalsachen wurde.18 In der Amtsstadt war aber auch die Kellerei beheimatet, die für die Abwicklung der herrschaftlichen Einnahmen verantwortlich zeichnete, sowie der Stadtschreiber, der schon bald als Amtsschreiber fungierte.19 Hinzu trat die militärische Bedeutung der Amtsstadt, weil hier die Musterungen des Landesaufgebots stattfanden und die Amtsbewohner in Kriegszeiten Zuflucht fanden. Innerhalb des Amtes erfolgte also eine starke Ausrichtung der Amtsorte auf die Amtsstadt, und gleichzeitig wurde die Amtsstadt fest im territorialen Aufbau verankert. Tübingen sollte aber mehr als nur administrative Bedeutung erlangen. Nachdem es circa hundert Jahre lang eine von vielen württembergischen Städten gewesen war, änderte sich seine Rolle mit der Landesteilung im Jahr 1442.20 Nun war

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zum Amt: Zur Genese württembergischer Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 72 (2013), S. 53–73; Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh, Stuttgart 1983, S. 66–143, hier S. 81–99. Die ältesten Urbare von 1350 sind ediert in: Altwürttembergische Urbare aus der Zeit Graf Eberhards des Greiners (1344–1392), bearb. von Karl Otto Müller (Württembergische Geschichtsquellen 23), Stuttgart/Berlin 1934. Vgl. auch Rückert, Von der Stadt zum Amt, S. 65 f.; Grube, Vogteien, S. 2 f. und 11. Zum Instanzenzug siehe Siegfried Frey, Das württembergische Hofgericht (1460–1618) (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/113), Stuttgart 1989, S. 73–75. Zu den Aufgaben des städtischen Gerichts vgl. Rudolf Seigel, Die Stadtgerichte in der Grafschaft und im Herzogtum Württemberg, in: Protokoll der 61. Sitzung des Arbeitskreises für Landes- und Ortsgeschichte im Verband der württembergischen Geschichts- und Altertumsvereine am 26. Februar 1983 in Stuttgart, S. 2–9, hier S. 3–5; Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 81 f.; Seigel, Gericht und Rat, S. 79–119 (speziell am Tübinger Beispiel). Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 77 und 86. Vgl. zu den württembergischen Amtsstädten im Allgemeinen auch Volker Trugenberger, Ob den portten drey hirschhorn in gelbem veld – Die württembergische Amtsstadt im 15. und 16. Jahrhundert, in: Landesherrliche Städte in Südwestdeutschland, hg. von Jürgen Treffeisen und Kurt Andermann (Oberrheinische Studien 12), Sigmaringen 1994, S. 131–156. Zur Landesteilung siehe Hans-Martin Maurer, Von der Landesteilung zur Wiedervereinigung. Der Münsinger Vertrag als ein Markstein württembergischer Geschichte, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 43, 1984, S. 89–132, hier S. 96–101; Sönke Lorenz, Württemberg: Vormundschaft (1419), Landesteilung (1442), Wiedervereinigung (1482), Herzogserhebung (1495). Herrschaft und Stände in der Krise der Dynastie, in: Der Vertrag von Ripen und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa. Ergebnisse einer internationalen Tagung der Abteilung für Regionalgeschichte der CAU zu Kiel vom 5. bis 7. März 2010, hg. von Oliver Auge und Burkhard Büsing (Kieler Historische Studien 43; zeit + geschichte 24), Ostfildern 2012, S. 327–349, hier S. 333 f.; Thomas Fritz, Ulrich der Vielgeliebte (1441–1480). Ein Württemberger im Herbst des Mittelalters. Zur Geschichte der

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Tübingen nämlich die größte Stadt des südlichen Landesteils, und wenngleich zum eigentlichen Herrschaftsmittelpunkt Urach auserkoren wurde, so sollte sich Tübingen doch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zur zweiten Haupt- und Residenzstadt neben Stuttgart aufschwingen. Das zeigte sich vor allem während der Herrschaft Graf Eberhards im Bart, der die Stadt nachhaltig förderte und 1477 die Universität gründete.21 Dieses für die Tübinger Stadtgeschichte überragende Ereignis hatte zur Folge, dass die Neckarstadt zum geistigen Zentrum der Grafschaft Württemberg avancierte und als Kaderschmiede zudem ganze Generationen gut ausgebildeter Verwaltungsbeamter hervorbrachte.22 Zudem löste Eberhard im Bart einen regelrechten Bauboom aus: Innerhalb weniger Jahrzehnte entstanden nicht nur die zur Universität zählenden Gebäude, sondern zum Beispiel auch der große Fruchtkasten und die Almosenscheuer, der Bau der Stiftskirche fand sein erfolgreiches Ende und die steinerne Neckarbrücke wurde eingeweiht; im frühen 16. Jahrhundert folgte dann noch der Neubau des Tübinger Schlosses.23 Diese Großbauprojekte verdeutwürttembergischen Politik im Spannungsfeld zwischen Hausmacht, Region und Reich (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 25), Leinfelden-Echterdingen 1999, S. 32 f.; Hansmartin Decker-­Hauff, Landeseinheit und Landesteilung. Wunsch und Wirklichkeit in der Vorstellung spätmittelalterlicher Landesherren, in: Münsingen. Geschichte, Landschaft, Kultur. Festschrift zum Jubiläum des württembergischen Landeseinigungsvertrags von 1482, red. von Rudolf Bütterlin, Sigmaringen 1982, S. 31–36. Die Teilungsurkunde findet sich unter WR, Nr. 88 (1442 Jan. 25). Siehe auch Ausgewählte Urkunden zur Württembergischen Geschichte, hg. von Eugen Schneider (Württembergische Geschichtsquellen 11), Stuttgart 1911, Nr. 15, S. 38–46; Joachim Fischer, Peter Amelung und Peter Irtenkauf (Bearb.), Württemberg im Spätmittelalter. Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und der Württembergischen Landesbibliothek. Katalog, Stuttgart 1985, Nr. 28, S. 37. Eine Karte zur Landesteilung ist enthalten bei Elmar Blessing, Die territoriale Entwicklung von Württemberg bis 1796, einschließlich der linksrheinischen Besitzungen (Historischer Atlas von Baden-Württemberg Erläuterungen VI,2), Stuttgart 1972, S. 3. 21 Zur Universitätsgründung siehe Sönke Lorenz, Eberhard im Bart und seine Universität. Eine Einführung, in: Tübingen in Lehre und Forschung um 1500. Zur Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Festgabe für Ulrich Köpf, hg. von Dems., Dieter R. Bauer und Oliver Auge (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 9), Ostfildern 2008, S. 1–59; Dieter Mertens, Eberhard im Bart als Stifter der Universität Tübingen, in: Attempto – oder wie stiftet man eine Universität? Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich, hg. von Sönke Lorenz (Contubernium 50), Stuttgart 1999, S. 157–173; Waldemar Teufel, Die Gründung der Universität Tübingen. Wagnis und Gelingen – Anstöße und Vorbilder, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477–1977. 500 Jahre EberhardKarls-Universität Tübingen, hg. von Hansmartin Decker-Hauff, Gerhard Fichtner und Klaus Schreiner, Tübingen 1977, S. 3–32; Johannes Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen 1477–1537. Zur Feier des 450jährigen Bestehens der Universität, 2 Bde., Stuttgart 1927–1929, hier Bd. 1, S. 1–50; Nina Gallion, Attempto! Die Universität Tübingen und ihre Beziehungen zu Stadt und Land, in: Universitäten und ihr Umfeld. Südwesten und Reich in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Benjamin Müsegades und Ingo Runde (Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte 7), Heidelberg 2019, S. 15–33, hier S. 18–23. 22 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 145–150. 23 Zur städtischen Infrastruktur siehe z. B. Tilmann Marstaller, Vom architektonischen Monstra zum schönen gebrochenen Dach. Der Wandel der Tübinger Altstadt im Spiegel ihrer mittelalterlichen und neuzeitlichen Bauwerke, in: Tübingen. Aus der Geschichte von Stadt und Universität, hg. von Sigrid Hirbodian und Tjark Wegner (landeskundig 4), Ostfildern 2018, S. 81–

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lichen, dass Tübingen herrschaftlich vereinnahmt und mit wichtigen Funktionen ausgestattet wurde. Die Stiftskirche diente bald als Grablege des Hauses Württemberg, das Schloss als eine der sieben Landesfestungen, und 1514 trat außerdem noch die dauerhafte Einrichtung des Hofgerichts hinzu.24 Die mit all diesen Faktoren verbundene Prosperität trug zum Wachstum Tübingens bei: Nicht nur hielten die Universitätsangehörigen Einzug in die Stadt, auch der gräfliche Hof mit all seinen Bedürfnissen dürfte sich zusammen mit seinem Herrscher immer wieder hier aufgehalten haben.25 Zudem entstanden zahlreiche neue Bürgerhäuser, sodass die Einwohnerzahl vorsichtig auf 3.000 bis 4.000 geschätzt werden kann.26 Tübingen war damit die größte württembergische Stadt hinter Stuttgart; beide zusammen bildeten die einzigen Mittelstädte und übertrafen alle anderen Städte der Grafschaft, die häufig weit unter 2.000 Einwohnern blieben, bei Weitem.27

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156, hier S. 117–132; Ders., Herrschaftliche Großbauprojekte in Tübingen zwischen 1475 und 1500, in: Hausbau im 15. Jahrhundert im Elsaß und am Oberrhein sowie in weiteren Regionen. La construction de maisons au XVe siècle en Alsace, dans la région du Rhin supérieur et dans d’autres régions, hg. von Michael Goer u. a. (Jahrbuch für Hausforschung 58), Marburg 2008, S. 421–449; Oliver Auge, Kongruenz und Konkurrenz: Württembergs Residenzen im Spätmittelalter, in: Der württembergische Hof im 15. Jahrhundert. Beiträge einer Vortragsreihe des Arbeitskreises für Landes- und Ortsgeschichte, hg. von Peter Rückert (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/167), Stuttgart 2006, S. 53–74, hier S. 66–68 und 71; Hirbodian, Landesherrliche Stadt, S. 168 f.; Hans-Wolf Thümmel, Universität und Stadt Tübingen, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477–1977. 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen, hg. von Hansmartin DeckerHauff, Gerhard Fichtner und Klaus Schreiner, Tübingen 1977, S. 33–84, hier S. 33 f.; Sönke Lorenz, Tübingen, in: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 3, hg. von Wolfgang Adam und Siegrid Westphal, Berlin/ Boston 2012, S. 1963–2004, hier S. 1966 f.; Eimer, Tübingen, S. 85–100 und 179–183; Wilfried Setzler, Eine Stadt im Umbruch. Tübingen zwischen Universitätsgründung und Reformation, in: Leonhart Fuchs (1501–1566). Mediziner und Botaniker, bearb. von Gerd Brinkhus und Claudine Pachnicke (Tübinger Kataloge 59), Tübingen 2001, S. 25–48, hier S. 27–30. Adriani/Schmauder (Hg.), 1514, Nr. 120, S. 300; Heyd, Ulrich, Herzog zu Württemberg, Bd. 1, S. 356 f.; Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 32–36. Dies dürfte vor allem unter der Herrschaft Graf Eberhards V. (als Herzog Eberhard I.) der Fall gewesen sein, wohingegen sich Herzog Ulrich und Herzog Christoph nach Auskunft von Manfred Eimer weniger häufig oder sogar (im Fall des letzteren) mit der Zeit weniger gerne in Tübingen aufhielten. Vgl. Sönke Lorenz, Tübingen, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Teilbd. 2: Residenzen, hg. von Werner Paravicini (Residenzenforschung 15/2), Ostfildern 2003, S. 592–595; Eimer, Tübingen, S. 195 und 210. Lorenz, Tübingen (2012), S. 1968; Erich Keyser (Hg.), Württembergisches Städtebuch (Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte 4/2/2), Stuttgart 1962, S. 464. Zu den neuen Bürgerhäusern siehe Marstaller, Vom architektonischen Monstra, S. 117. Die geschätzten, in der Regel auf Steuerlisten oder ähnlichen Verzeichnissen basierenden Einwohnerzahlen einiger württembergischer Städte des späten Mittelalters finden sich bei Keyser (Hg.), Württembergisches Städtebuch, z. B. S. 226 (Stuttgart). Siehe dazu auch Kühnle, „Mein Land hat kleine Städte“, S. 540. Zur Einordnung mittelalterlicher Städte in Klein, Mittel- und Großstädte siehe ebd., S. 535 f.; Hektor Ammann, Wie groß war die mittelalterliche Stadt?, in: Die Stadt des Mittelalters, Bd. 1, hg. von Carl Haase (Wege der Forschung 243), Darmstadt

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Die Formierung der Tübinger Stadtelite Die geschilderten Entwicklungen mussten sich zwangsweise positiv auf die Handlungsspielräume der urbanen Elite auswirken, deren Bedeutung nun im Mittelpunkt stehen soll. Zuerst ist aber zu erläutern, warum besser von der urbanen Elite oder synonym von der städtischen Führungsgruppe gesprochen werden sollte, nicht aber von der „Ehrbarkeit“, einem in der älteren Forschung fest verankerten Begriff. Folgt man der Geschichte dieses Begriffs, dann stößt man auf die Forschungen des großen Hansmartin Decker-Hauff, der die württembergische Landesgeschichte geprägt hat wie kein anderer.28 In seiner während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Doktorarbeit hielt Decker-Hauff die Beobachtung fest, dass in den überlieferten Quellen viele Personen in hohen städtischen Ämtern mit dem Attribut „ehrbar“ angesprochen werden29 – was übrigens gleichermaßen im Titel dieses Beitrags der Fall ist, in dem Konrad Breuning als „erber und wis“, ehrbar und weise, bezeichnet wird. Decker-Hauff deutete „ehrbar“ als „ein Amt tragend“ und wollte den „Ehrbaren“ daher wortwörtlich als einen Amtsträger verstanden wissen. Die „Ehrbarkeit“ als Ganzes interpretierte er als die Gesamtheit der politisch und gesellschaftlich einflussreichen Familien stadtbürgerlicher Herkunft und betrachtete sie als eine landesherrliche Schöpfung.30 Dieser Ansatz war eine wichtige Inspiration für die nachfolgenden Generationen von Forschenden. Bei genauem Hinsehen zeigt sich aber, dass sich das Konzept auf die spätmittelalterlichen Verhältnisse nur unzulänglich anwenden lässt. Schon der Gebrauch des Attributs „ehrbar“ ist in den Quellen keineswegs so einheitlich, dass sich eine Systematik daraus ableiten ließe. Und auch das in der Überlieferung des 15. und frühen 16. Jahrhunderts auftauchende Substantiv „Ehrbarkeit“ erweist sich semantisch als nicht eindeutig; es begegnet zwar durchaus als Gruppenbezeichnung, aber auch als sozialer Status und als sittliche Eigenschaft.31

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1977, S. 408–415; Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 61 f. Siehe dazu die beiden Nachrufe von Dieter Mertens, Mensch – Rhetorik – Geschichte. Zu Werk und Wirkung Hansmartin Decker-Hauffs, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 52 (1993), S. 518–529; Franz Quarthal, Zum Leben und Werk von Hansmartin Decker-Hauff, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 52 (1993), S. 535–546. Hansmartin Decker-Hauff, Die Entstehung der altwürttembergischen Ehrbarkeit 1250–1534, Diss. masch., Wien 1946, v. a. S. 156–208. Ebd., S. 119. Vgl. zur „Ehrbarkeit“ bei Hansmartin Decker-Hauff auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 9–13. Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 19–23. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der „Ehrbarkeit“ siehe v. a. auch Christian Kübler, Der Stuttgarter Magistrat im Spätmittelalter. Prolegomena auf eine neue Sicht der württembergischen Ehrbarkeit, Magisterarbeit, Tübingen 2010; Gabriele Haug-Moritz, Die württembergische Ehrbarkeit. Annäherungen an eine bürgerliche Machtelite der Frühen Neuzeit (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 13), Ostfildern 2009, bes. S. 1 f.

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Und nicht zuletzt suggeriert der Sammelbegriff „Ehrbarkeit“ eine homogene und zugleich statische Gruppe, was mitnichten der Fall war. Die als „Ehrbarkeit“ zusammengefassten Personen und Familien waren im Gegenteil sehr heterogen in ihren Ausprägungen, verfolgten nicht zwangsläufig die gleichen Interessen und erwiesen sich, was ihre soziale Durchlässigkeit angeht, als relativ dynamisch.32 Daher eignen sich die Ausdrücke „städtische Führungsgruppen“ oder „urbane Eliten“ weit besser, weil hier schon die Begrifflichkeiten die Rückbindung an den städtischen Kontext unterstreichen. Durch die Differenzierung der Führungsgruppen unterschiedlicher Städte fällt zudem die angemessene Berücksichtigung der genannten Diversität leichter. Und schließlich lässt der in der Geschichtswissenschaft etablierte Terminus „Führungsgruppe“ einen Vergleich mit außerwürttembergischen Territorien und Städten wesentlich besser zu, als es bei dem eigentümlichen und Exklusivität heischenden Begriff der „Ehrbarkeit“ der Fall ist.33 Beschäftigt man sich mit urbanen Führungsgruppen, begegnet eine Reihe von Charakteristika immer wieder, die sich gleichermaßen bei der Tübinger Stadtelite beobachten lässt. Dazu zählt an erster Stelle das politisch-administrative Engagement, das schon Decker-Hauff aufgefallen war. Familien wie die Breuning, Fritzinger, Holzwart und Ochsenbach hatten gemein, dass sie die wichtigen Leitungsgremien besetzten, vor allem das zwölfköpfige Gericht.34 Diesem kam keineswegs nur eine rechtliche Funktion zu; es bildete im Gegenteil zusammen mit dem Vogt die eigentliche Stadtregierung und war als solche mit vielfältigen Aufgaben betraut, die von der Spital- und Stiftspflege über Bezeugungen und Besiegelungen bis hin zur Bauaufsicht reichten. In Tübingen war das Gericht seit dem Übergang an Württemberg von hoher Bedeutung, wohingegen der Rat erst 1477 wieder in Erscheinung trat und als eigentliche Vertretung der Bürgerschaft dem Gericht untergeordnet blieb.35 Gewählt wurde das Gericht jährlich Ende April, doch handelte es sich in der Regel um eine Bestätigung der bereits amtierenden Richter, die auf diese Weise nahezu lebenslang im Amt bleiben konnten. Dies zeigt sich zum Beispiel bei den Richtern Ludwig Keller und Hans Ezechiel, die im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert 32 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 442–444; Dies., Richter, Vögte, Landschaftsvertreter. Die „Ehrbarkeit“ im spätmittelalterlichen Württemberg, in: Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas. Internationale Tagung, Kiel, 23.–25.11.2011, hg. von Elisabeth Gruber u. a. (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 56), Innsbruck/Wien/ Bozen 2013, S. 217–241, hier S. 223 f. Vgl. zur sozialen Mobilität auch jüngst Nina Gallion, Von Aufsteigern und Adelsgleichen. Soziale Mobilität in den württembergischen Amtsstädten des späten Mittelalters, in: Soziale Mobilität in der Vormoderne. Historische Perspektiven auf ein zeitloses Thema. Akten der internationalen Tagung Brixen, Bischöfliche Hofburg und Priesterseminar, 11. bis 14. September 2019, hg. von Kurt Andermann und Gustav Pfeifer (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 48), Innsbruck 2020, S. 111–127. 33 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 24–27. 34 Zu den erwähnten Familien siehe Seigel, Gericht und Rat, S. 181–184 (Breuning), 201 (Fritzinger), 219 f. (Holzwart) und 252 f. (Ochsenbach); Eimer, Tübingen, S. 244 f. (Breuning) und 246–249 (Ochsenbach). Zu den Breuning vgl. außerdem Anm. 6. 35 Seigel, Gericht und Rat, S. 11–13.

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20 beziehungsweise sogar 30 Jahre lang im Gericht saßen.36 Schied ein Richter aus, dann ergänzten sich die übrigen selbst, indem sie einen Kandidaten ihrer Wahl ins Gericht beriefen. Durch dieses Verfahren der Kooptation spielten personelle Netzwerke eine große Rolle. Einigen Familien wie den Last und den Schnider gelang es so, über mehrere Generationen hinweg im Gericht vertreten zu sein.37 Für den dauerhaften Erhalt des politischen Einflusses erwies sich aber auch eine gezielte Heiratspolitik als probates Mittel, was auf das nächste Spezifikum der städtischen Führungsgruppen hinweist. Rudolf Seigel hat dies für Tübingen zu verdeutlichen versucht und dabei gezeigt, wie hochgradig die Tübinger Elite verwandtschaftlich miteinander vernetzt war und was für eine zentrale Rolle die Familie Breuning innehatte.38 Familiäre Bindungen entstanden aber nicht nur innerhalb der urbanen Führungsgruppe, sondern – als Charakteristikum einer Universitätsstadt – auch zu den Professoren, die auf diese Weise in die Führungsgruppe integriert wurden. Ein Beispiel dafür ist der Jura-Professor Johannes Kingsattler, der mit Agnes Stoffel die Tochter des Bürgermeisters Gregor Stoffel heiratete.39 Aber auch über Tübingen hinaus knüpfte man Familienbande, sei es zu anderen württembergischen Städten wie bei den Tübinger Schnider und den Stuttgarter Welling, in die nahe Reichsstadt Reutlingen wie bei den Tübinger Lutz und bei den Reutlinger Becht und in das hohenbergische Rottenburg, das zeitweilig der Witwensitz Mechthilds von der Pfalz war, der Mutter Eberhards im Bart.40 Für die Erlangung von politischem Einfluss war neben der richtigen Verwandtschaft auch ein hohes wirtschaftliches Vermögen notwendig. Denn die Richter und anderen städtischen Amtsträger mussten für ihr Amt abkömmlich sein und erhielten keine eigentliche Entlohnung.41 Wirft man einen Blick auf die überlieferten Steuer- und Herdstättenlisten des 15. und 16. Jahrhunderts, dann wird schnell klar, dass sich unter den wohlhabendsten Steuerzahlern fast durchweg städtische und herrschaftliche Amtsträger sowie ihre Familien befanden, die besonders finanzkräftig waren. So konnte Rudolf Seigel zeigen, dass bei der Schatzung von 1470 nur 36 37 38 39

Ebd., S. 153. Zum Wahlprozedere und zur Amtsdauer siehe ebd., S. 24–36. Ebd., S. 239 f. (Last) und 271 f. (Schnider). Ebd., S. 60–62. Georg Bahls, Die Gattin des Tübinger Professors Dr. Johann König genannt Kingsattler von Öttingen (etwa 1470–1534), in: Blätter für württembergische Familienkunde 3 (1928/29), S. 127–129; Stefanie A. Knöll, Die Grabmonumente der Stiftskirche in Tübingen (Beiträge zur Tübinger Geschichte 13), Stuttgart 2007, S. 84–87 und 90 f.; Seigel, Gericht und Rat, S. 282; Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 153 f. Zu den verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen der Tübinger Stadtelite und der universitären Elite siehe auch Seigel, Gericht und Rat, S. 66 f.; Thümmel, Universität und Stadt Tübingen, S. 63–65. 40 Seigel, Gericht und Rat, S. 67 f. Vgl. auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 113– 116. 41 Vgl. zur Abkömmlichkeit z. B. Margret Wensky, Städtische Führungsschichten im Spätmittelalter, in: Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001, hg. von Günter Schulz (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 25), München 2002, S. 17–27, hier S. 18 f.; Isenmann, Die deutsche Stadt, S. 394–398.

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10 Prozent der Steuerpflichtigen über fast 60 Prozent des zu versteuernden Vermögens verfügten.42 Ihren Reichtum generierte die Spitzenkohorte der Tübinger Stadtelite dabei zum Beispiel durch den Fernhandel mit Tuch, Getreide und Wein, aber auch durch Zinse und Gülten.43 Andere Richter übten indes einen normalen Handwerksberuf aus, waren etwa Schuhmacher, Fischer oder Gerber, und konnten keinen fabelhaften Reichtum vorweisen – was einmal mehr das breite Spektrum innerhalb einzelner Führungsgruppen vor Augen führt.44 Als weiteres Charakteristikum ist ein repräsentativer Lebensstil zu nennen, was etwa die Wohnkultur, das Stiftungsengagement und memoriale Praktiken angeht. So findet sich in der Tübinger Stiftskirche zum Beispiel der von den Breuning gestiftete Taufstein oder auch das Grabmonument des Schultheißen Albrecht Hurnus.45 Und die Weltchronik des Johannes Vergenhans konnte mit finanzieller Unterstützung Konrad Breunings gedruckt werden.46 Zu den Spezifika zählen schließlich auch das zunehmende Streben nach universitärer Ausbildung und die Platzierung einiger Nachkommen in den Reihen der hohen Geistlichkeit. Ein Beispiel für letzteres ist in Johannes Schultheiß zu sehen, Sohn des Tübinger Kellers Wilhelm Schultheiß und der Agnes Heller, der Abt des Klosters Hirsau wurde.47 42 Seigel, Gericht und Rat, S. 51–57, v. a. S. 53. Die Tübinger Steuerliste von 1470, die Herdstättenliste von 1525 und die Türkensteuerliste von 1545 liegen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart unter A 54a: Steuerlisten, St. 15 (1470), St. 45 (1525) und St. 159 (1545). Siehe auch die Edition: Die ältesten Tübinger Steuerlisten, hg. von Reinhold Rau, Tübingen 1970. 43 Seigel, Gericht und Rat, S. 51–53 und 57 f. Vgl. auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 91–108. Die wirtschaftlichen Grundlagen der württembergischen städtischen Eliten sind allerdings noch nicht ausreichend erforscht. Siehe dazu ebd., S. 107, Anm. 579. 44 Seigel, Gericht und Rat, S. 57–60. Vgl. auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 104 f. Decker-Hauff hatte primär den Rat als dasjenige Gremium betrachtet, in das Handwerker maximal aufsteigen konnten (Decker-Hauff, Die Entstehung, S. 211), wohingegen das Gericht für sie nicht erreichbar gewesen sei. Siehe Hansmartin Decker-Hauff, Die gesellschaftliche Struktur der mittelalterlichen Städte Württembergs, in: Protokoll des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte 119 (1964), S. 119–133, hier S. 123: „[…] ich möchte gleich betonen, es gehören nicht zur Ehrbarkeit diejenigen Ratsfamilien, die nicht aufstiegsfähig sind ins Gericht. Wir haben also schon um 1440/60 erkennbar und dann etwa um die Jahrhundertwende, um 1500, ganz eindeutig festgelegt in Ordnungen, daß im Rat, also in der bei uns sehr stark nachgeordneten Behörde auch Handwerker sitzen können, allerdings nur reiche und solche, die über eine gewisse Unabhängigkeit verfügen und die Zeit haben zu den vielfachen Tätigkeiten, daß diese aber nicht ins Gericht aufsteigen können […].“ 45 Der Taufstein mit dem Breuning-Wappen ist abgebildet bei Hirbodian, Konrad Breuning, S. 208. Zum Grabmonument des Albrecht Hurnus siehe Knöll, Die Grabmonumente, S. 127 f. Vgl. zu ihm außerdem Seigel, Gericht und Rat, S. 221. Siehe zum Gesamtkomplex auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 121–143. 46 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 144; Seigel, Gericht und Rat, Nr. 37, S. 183 f., hier S. 184. Zur Weltchronik des Johannes Vergenhans, auch Naucler genannt, siehe Thomas Lehr, Nauclerus (Verge, Vergenhans), Johannes, in: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 2, hg. von Franz Josef Worstbrock, Berlin u. a. 2009–2013, S. 403–408, hier S. 404–407. 47 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 163; Klaus Schreiner, Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen zu den Benediktinerkonventen im östlichen Schwarzwald (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württem-

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Die Bedeutung der Tübinger Stadtelite für Stadt und Land Die Angehörigen der Tübinger Stadtelite konnten sich langfristig nicht nur städtische Ämter sichern, sondern stiegen schnell auch in herrschaftliche Ämter auf – was ihre Bedeutung für die Grafschaft beziehungsweise das Herzogtum Württemberg potenzieren sollte. So geriet alsbald das Amt des Vogtes in Reichweite. Dies hing mit dem wachsenden Verwaltungsbedarf zusammen, der Spezialkenntnisse erforderlich machte und die Mitglieder der urbanen Eliten begünstigte, die über richterliche Erfahrungen und meist auch kaufmännisches Know-how verfügten und mit den lokalen Verhältnissen vertraut waren.48 In Tübingen gelangte um die Mitte des 15. Jahrhunderts nach einer langen Reihe adliger Vögte mit Martin Holzwart erstmals ein städtischer Bürger in die lokale Spitzenposition.49 Dies signalisierte eine Wachablösung: Künftig waren es nur noch Bürger, die als Vogt wirkten, während die Adligen als Obervögte mit vor allem militärischer Kompetenz ein neues Betätigungsfeld erhielten.50 Diese Entwicklung führte zur Entstehung einer territorialen Funktionselite stadtbürgerlicher Herkunft und zu erweiterten Handlungsmöglichkeiten der urbanen Führungsgruppen, was für Tübingen mit seiner Bedeutung im territorialen Gefüge besonders ins Gewicht fiel. Schnell war eine Laufbahn im herrschaftlichen Dienst ein erstrebenswertes Ziel. Meisterlich beherrschte dies die Familie Heller, die gleich mehrere Funktionen auf sich vereinte. Während Johannes Heller zeitweilig die Vogtei in Tübingen versah und auch als Schreiber wirkte, war sein Bruder Jörg als Tübinger Keller bestallt und sein Bruder Heinrich sogar als Landschreiber in der Stuttgarter Zentralverwaltung.51 Ein über Tübingen hinausreichendes Netzwerk unterhielt auch die im 15. Jahrhundert extrem einflussreiche Familie Lutz, die sehr hoch in der Gunst Graf Ulrichs V. stand und mit den Brüdern Werner, Konrad und Hans temporär die Vogteien von Stuttgart, Urach, Tübingen und Nagold besetzen konnte.52 Neben dem herrschaftlichen Dienst, der eine enge Bindung zum Haus Württemberg schuf, entstand im Lauf des 15. Jahrhunderts mit der Landschaft ein weiterer wichtiger Einflussbereich. Die Landschaft meint die Gesamtheit aller Städte und Ämter Württembergs, die bei den noch unregelmäßig stattfindenden Landtagen wenig überraschend von Angehörigen der urbanen Eliten vertreten wurde. Dabei wird schon früh eine Vorrangstellung Stuttgarts und Tübingens erkennbar. Seinen Anfang nahm dies im Zuge der Vormundschaftsstreitigkeiten um die Mitte

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berg B/31), Stuttgart 1964, Nr. 39 f., S. 148 f. Vgl. insgesamt Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 154–164. Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 82 f. Seigel, Gericht und Rat, Nr. 162, S. 219; NWD 2, § 2892. Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 82; Hesse, Amtsträger, S. 176 f., 214 f. und 218 f. Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 89; Seigel, Gericht und Rat, S. 216; NWD 1, § 1665 (Heinrich Heller), und 2, §§ 2891 (Johannes Heller) und 2898 (Jörg Heller). NWD 2, §§ 2647, 2812, 2892 und 2965; Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 203; Seigel, Gericht und Rat, S. 243 f.

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des 15. Jahrhunderts, als Graf Ulrich V. von Württemberg nach dem Tod seines Bruders die Vormundschaft für dessen junge Söhne gegen den Pfalzgrafen bei Rhein, Onkel mütterlicherseits, erstritt.53 Als er seine Vormundschaft vom Kaiser bestätigt wissen wollte, bestimmte er explizit, dass die Anfrage dafür von Tübingen und einer beliebigen anderen Stadt des Uracher Landesteils besiegelt werden sollte.54 Darüber hinaus hatte Tübingen sicher auch Anteil am erweiterten Vormundschaftsrat, für den laut der Leonberger Regimentsordnung sieben Vertreter der Landschaft vorgesehen waren.55 Der Vorrang Tübingens und Stuttgarts wird am Ende des 15. Jahrhunderts erneut sichtbar: Nach der Absetzung Herzog Eberhards II. im Jahr 1498 wurden am Vormundschaftsrat für Herzog Ulrich auch vier Landschaftsvertreter beteiligt, zwei aus Stuttgart und mit Johannes Heller und Konrad Breuning auch zwei aus Tübingen.56 Von den Ereignissen des Jahres 1514 mit dem bedeutenden Tübinger Landtag, dem dort entstandenen „Tübinger Vertrag“ und den anschließenden Auszeichnungen für die Stadt Tübingen war schon am Anfang dieses Beitrags die Rede. Sie reihen sich ein in die Tübinger Erfolgsgeschichte, die auch in den weiteren Jahren ihre Fortsetzung fand. So wurde mit der Einziehung der im „Tübinger Vertrag“ festgesetzten Hilfsgelder ein vierköpfiger Ausschuss betraut, zu dem wiederum mit Konrad Breuning und Kilian Veßler zwei Tübinger gehörten.57 Und seit 53 Zu den Hintergründen und zum Verlauf des Konflikts siehe Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 270–279; Fritz, Ulrich der Vielgeliebte, S. 121–126 und 144–148. 54 WR, Nr. 279, Nr. 5h (1457 Dez. 4). Darin wird beschrieben, „wie Ir dann […] denselben brieff besigelnt mit uwer dryer Insigeln“, und am Rand des Dokuments ist vermerkt: „und ouch mit der von Tuwingen und noch einer unser vettern Stat Insigeln von Ir und der gantzen landtschafft wegen“. 55 WR, Nr. 279, Nr. 5a (nach 1457 Nov. 16), abgedruckt bei Rückert (Bearb.), Landschaft, Land und Leute, S. 211. Zur Leonberger Regimentsordnung und zum vorangegangenen Leonberger Landtag siehe Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457–1957. Von den Landständen zum demokratischen Parlament, Stuttgart 1957, S. 13–17; Joachim Fischer, Der Leonberger Landtag von 1457, in: Wilfried Setzler u. a., Leonberg. Eine altwürttembergische Stadt und ihre Gemeinden im Wandel der Geschichte, Stuttgart 1992, S. 77–82, hier S. 79–81; Fritz, Ulrich der Vielgeliebte, S. 169–174; Clemens Heucke, Der sogenannte „Leonberger Landtag“ (Beiträge zur Stadtgeschichte 1), Leonberg 1993, S. 11–17. 56 Württembergische Landtagsakten, Bd. 1: 1498–1515, bearb. von Wilhelm Ohr und Erich Kober (Württembergische Landtagsakten 1/1), Stuttgart 1913 [künftig: WLA], Nr. 5, S. 23–35 (1498 März 30), hier S. 28 und 32. Zur Absetzung Herzog Eberhards II. insgesamt siehe Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 300–311; Axel Metz, Der Stuttgarter Landtag von 1498 und die Absetzung Herzog Eberhards II., in: Auf dem Weg zur politischen Partizipation? Landstände und Herrschaft im deutschen Südwesten, hg. von Sönke Lorenz und Peter Rückert (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/182), Stuttgart 2010, S. 103–120; Ders., Der Stände oberster Herr. Königtum und Landstände im süddeutschen Raum zur Zeit Maximilians I. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/174), Stuttgart 2009, S. 101–128; Wilhelm Ohr, Die Absetzung Herzog Eberhards II. von Württemberg. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte des Ständestaats, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N. F. 15 (1906), S. 337–367. 57 Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze, hg. von August Ludwig Reyscher, 19 Bde., Stuttgart/Tübingen 1828–1851, hier Bd. 17, Nr. 18, S. 33–35. Siehe auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 362.

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1515 bestimmte die Verordnung zur Abhaltung künftiger Landtage, dass Stuttgart und Tübingen das Recht erhielten, einen Landtag zu beantragen.58 Die Bedeutung und der Einfluss der Tübinger Stadtelite manifestiert sich darüber hinaus besonders eindrucksvoll in dem eingangs erwähnten Tübinger Vogt Konrad Breuning als einer der zentralen politischen Figuren seiner Zeit. Der am Tübinger Rathaus verewigte Breuning59 legte eine Bilderbuchkarriere hin: Als Sohn des gleichnamigen Richters gelangte Konrad Breuning seinerseits ins Richteramt, wurde Vogt, Beisitzer im Hofgericht und Vormundschaftsrat und im Jahr 1495 von Maximilian I. sogar in den Adelsstand erhoben.60 Im turbulenten Jahr 1514 bestärkte er Herzog Ulrich in der Entscheidung, den ursprünglich für Stuttgart angesetzten Landtag nach Tübingen zu verlegen, und fungierte als herzoglicher Unterhändler bei den Landtagsverhandlungen.61 Sein Wirken macht in jedem Fall verständlich, warum die Herzogliche Reimchronik ihn mehrfach erwähnt und warum ihn auch der Tübinger Magistrat mit Ehrerweisungen auszeichnete. Allein sein Ruhm währte nicht lange, denn im Zuge der Ermordung des Hans von Hutten und der Flucht der Herzogin Sabina ließ der außer Kontrolle geratene und eine Verschwörung witternde Herzog Ulrich Breuning seines Amtes entheben und bereitete ihm bald darauf ein Ende mit Schrecken: Im Jahr 1516 wurde Konrad Breuning gemeinsam mit seinem Bruder Sebastian gefangengenommen.62 Während man Sebastian sogleich hinrichtete, wurde Konrad noch ein Jahr lang mehrfach unter Folter befragt, ehe 58 Vollständige Sammlung, Bd. 2, S. 53–57 (1515 April 23), hier S. 56: „Haben auch wir [Herzog Ulrich] uns vorbehalten, zu ieder zyt, ainen lanndtag mögen ußzuschreiben, und doch da neben unser Landtschafft uff obangezaigt ir undertenig anbringen, uß gnaden zugeben, unnd thuen das wissentlich hiemit inn krafft dießs brieffs, wan unßer underthonen unnd lieb getruwen, vogt, gericht und rat unserer baider hauptstet, Stutgarten, und Tüwingen, für gut wurd ansehen, uns, unsern erben und nachkomen, regierenden herren, der gleichen land und leuten zu nutz unnd gutem ainen lanndtag fürzunemen, das sie sollichs iederzyt, so das die noturfft erfordert an uns zubringen macht haben sollen.“ Siehe auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 362 f. 59 Im späten 19. Jahrhundert wurde die Fassade des Tübinger Rathauses durch Ludwig Lesker mit Sgraffiti bemalt, die Persönlichkeiten der Stadtgeschichte zeigen. Siehe zum Rathaus Jürgen Sydow, Rathaus Tübingen, Tübingen 1976. 60 Biographische Hinweise zu Konrad Breuning finden sich in Anm. 6. Siehe zuletzt auch Gallion, Von Aufsteigern, S. 111 f. 61 Zum Schreiben Konrad Breunings an Herzog Ulrich siehe WLA, Nr. 47, S. 148 f. (1514 Juni 16). Vgl. auch Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 344 und 347; Heyd, Ulrich, Herzog zu Württemberg 1, S. 272; Hirbodian, Konrad Breuning, S. 209. 62 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 374 f. Auch ein vorheriger verteidigender Brief Konrad Breunings, der sich zu erklären versuchte, nützte nichts. Vgl. Wilhelm Ohr, Ein Brief Conrad Breunings, in: Literarische Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg 1904, S. 242– 247. Zu den Ereignissen um Hans von Hutten und Herzogin Sabina siehe Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 363–365; Franz Brendle, Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B/141), Stuttgart 1998, S. 33–36 und 40–42; Georg-Wilhelm Hanna, Mänade, Malefiz und Machtverlust. Herzog Ulrich von Württemberg und Hans von Hutten. Politische Folgen eines Mordfalles, Köngen 2003, v. a. S. 49–53; Metz, Der Stände oberster Herr, S. 151–157.

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man auch ihm auf dem Stuttgarter Marktplatz den Kopf abschlug. Erst die Habsburger setzten ab 1519 die Zusammenarbeit mit der Familie Breuning fort.63

Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Tübinger Stadtelite die politische Führung ihrer Heimatstadt innehatte und als städtisches Sprachrohr sowie als Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde fungierte.64 Durch den Aufschwung Tübingens vergrößerten sich auch ihre Aktionsradien und Entfaltungsmöglichkeiten. Dies erlaubte einem kleinen Teil der Elite Karrieren im herrschaftlichen Dienst und eine nicht unerhebliche politische Einflussnahme im Zuge der Landschaft. Die Tübinger Führungsgruppe war folglich von großer Bedeutung für ihre Stadt und für die Geschicke des Herzogtums. Auf der Makroebene erschließt das Tübinger Beispiel das erhebliche regionalgeschichtliche Potential, das sich in der sozialgeschichtlichen Untersuchung einer Stadt verbirgt. Denn Städte waren und sind nicht nur auf das Engste mit ihrem Umland, ihrer Region und ihrem Territorium verbunden, wie oben geschildert, sondern stellen zudem keine gesichtslosen Entitäten dar. Die Stadtbürger waren es, die mehr oder weniger großen Anteil an den Geschicken ihrer Heimat hatten, aber auch ihrerseits als Akteure in ganz unterschiedlichen Kontexten begegnen konnten. Die Mitglieder der Tübinger Stadtelite waren als Richter und Ratsherren in die städtische Regierung involviert, standen als Vögte und Keller in herrschaftlichen Diensten und hatten bei den Landtagen die Landschaft mit ihren Interessen zu vertreten. Diese Gemengelage unterschiedlicher und durchaus widerstreitender Positionen unterstreicht zugleich, wie sehr nicht nur die Städte, sondern auch ihre Einwohner in engen Beziehungen zum umliegenden Raum standen. Und aus diesem Grund bietet der Themenkomplex zahlreiche Anknüpfungspunkte für die regionalgeschichtliche Forschung und wurde noch längst nicht erschöpfend behandelt.

63 Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 408. In diesem Zusammenhang ist auch der Bericht von Konrad Breunings Sohn Hans zu sehen, den jener im Dezember 1519 verfasste. Siehe HStA Stuttgart, J 1: Allgemeine Sammlung von ungedruckten Schriften zur Landesgeschichte, Nr. 36, fol. 175r–186v, abgedruckt bei: Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Anekdoton aus der Reformationszeit; Folter-Justiz und Mord-Absolution betr. nebst Vergehen gegen die Geschichte als Lehrerin der Menschheit, in: Ders., Sophronizon oder unpartheyisch-freymüthige Bey­träge zur neueren Geschichte, Gesetzgebung und Statistik der Staaten und Kirchen, Bd. 2, Heft 4, Frankfurt a. M. 1821, S. 1–42. Vgl. Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde, S. 377. 64 Vgl. auch im gleichnamigen Sammelband Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde den Aufsatz Kühnle, Richter, Vögte, Landschaftsvertreter.

Katja Hillebrand

Der Fall Heinrich Meyer Amtsmissbrauch und Bestechung – ein mittelalterlicher Kriminalfall

Abstract In the Middle Ages, criminal acts were not prosecuted according to a uniform and binding legal system. Precisely defined legal definitions for criminal offenses did not yet exist. Only in the course of the 16th century a system of rules did slowly develop in the form of legal norms. In the late Middle Ages, secular jurisprudence was subject to a multitude of regional differentiations. By contrast, canon law with its collection of canonical texts has been a constant over the centuries. Procedures and the determination of the penalty were determined by the respective discretion of the judges. Within the monastic orders, the case law on rule violations was always subject to a situational assessment, despite a fixed set of rules. In the last third of the 15th century, the clashes within the Dominican Order between the Conventuals and the Observants in the Order of Saxonia reached their climax. Two of the main protagonists in the dispute were the conventual Heinrich Meyer and the observant Nikolaus Beyer who was elected provincial in 1480. Meyer succeeded by discrediting Beyer that he resigned his office in favor of Meyer. The election took place against the rules without the participation of the observant-run convent. Meyer began by assigning leadership positions to conventuals to push the observants out of the decision-making processes in the order. Beyer tried to intervene and thus protect the observant convents. Meyer supported a wide personal network as far as the Vatican. Strengthened by this encouragement he began to dissolve the regulated leadership of the observant convents without a majority decision by the province. Beyer again used his connections to the observant monasteries throughout the order and there were hearings at the level of the general chapters. Through his personal contacts, Meyer saw himself in a position within this power struggle to violate the strict administrative rules of the order. His actions eventually culminated in forgery of documents and bribery of officials in the Vatican. The Order punished these offenses with the fact that all members of the province were relieved of their oaths and obligations to Meyer and Meyer returned to his convent as a simple master’s degree. A far-reaching punishment was omitted. The sanctioning of the norm violations remained mild, since the judicial body consisted of members of the order who represented their position even in the dispute between the Conventuals and Observants. The case law in the Meyer case shows that only an independent instance could have passed a judgement that takes the overall situation into account. But that would have contradicted the legal thinking within the order which stipulated a judgement only on the arbitration award of the majority.

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Um es vorwegzunehmen: Die Bezeichnung Kriminalfall für die nun im Folgenden zu schildernden Ereignisse aus der Zeit um 1487/88 beschreibt eine Wertbeurteilung aus heutiger Sicht. Die moderne Rechtsprechung sieht im kriminellen Verhalten eine Verletzung der gemeinschaftlichen Ordnung, die durch einen Gerichtsspruch sanktioniert wird. Was als kriminelle Handlung definiert wird, ist durch ein kodifiziertes Strafrecht geregelt, das ein staatliches Rechtssystem garantiert und durchsetzt. Die so ermittelten normwidrigen und damit devianten Zuwiderhandlungen werden mittels staatlich legitimierter Institutionen in einem klar vorgegebenen Rechtsverfahren verfolgt und gegebenenfalls bestraft.1 Eine solche Strafrechtsordnung war im Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit nicht bekannt. Erst langsam setzten sich ab dem 16. Jahrhundert Regelsysteme in Form von rechtlichen Normen durch, die den Normbruch als kriminelle Handlung genau analysierten und mit verbindlichen Rechtsfolgen belangten, womit sich die wesentlichen Strukturen eines gelehrten Rechts und obrigkeitlichen Strafrechtssystems ausformten.2 Im 15. Jahrhundert war Kriminalität rechtlich nicht eindeutig bestimmt. Hinzu kam, dass eine klare Definition einer Straftat nicht existierte und eine exakte Trennung von Zivil- und Strafrecht für das Mittelalter nur ansatzweise bestand.3 Strafbare Handlungen nach Ordnungswidrigkeit, Vergehen oder Verbrechen zu klassifizieren, war sowohl im weltlichen wie auch im kirchlichen Recht nicht bekannt, auch wenn es Unterscheidungskriterien gab, die die Form der Strafe beeinflussten. Eine entscheidende Rolle innerhalb der Rechtsprechung spielte der gesellschaftliche Rahmen, in dem das Vergehen geschah, sowie die ständische Zugehörigkeit des Täters und des Geschädigten. Zudem gab es in der weltlichen Rechtsprechung viele regionale Ausdifferenzierungen der Rechtsauslegung, die die Heterogenität der strafrechtlichen Verfolgung kennzeichneten.4 Damit unterlag die Strafverfolgung vor dem weltlichen Gericht einer Vielzahl an gesellschaftlichen, politischen und territorialen Entwicklungen. Dem gegenüber bildete die Kirche innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft mit ihrer Rechtsprechung, dem kanonischen Recht, eine gewisse Konstante. Das aus einer Vielzahl von Rechtsquellen, Papstbriefen und Dekretalen bestehende kanonische Recht entstand ab dem 5. Jahrhundert als Sammlung, die mit weiteren kirchenrechtlichen Texten kombiniert wurde. Es diente als Anweisung in der Gesetzgebung, war aber verallgemeinerungsfähig. Erstmals wissenschaftlich bearbeitet wurde das kano1 Gerd Schwerhoff, Kriminalität, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, hg. von Friedrich Jaeger, Stuttgart 2008, S. 206–226. 2 Heiner Lück, Zur Entstehung des peinlichen Strafrechts in Kursachsen. Genesis und Alternativen, in: Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, hg. von Harriet Rudolph und Helga Schnabel-Schüle, Trier 2003, S. 271–286, hier S. 274. 3 Siehe hierzu den einleitenden Beitrag von Ingrid Baumgärtner, Gerichtspraxis und Stadtgesellschaft. Zu Zielsetzung und Inhalt, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, hg. von Franz-Josef Arlinghaus u. a. (Rechtsprechung. Materialien und Studien 23), Frankfurt a. M. 2006, S. 1–18. 4 Karl Härter, Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit (methodica ‒ Einführung in die rechtshistorische Forschung 5), Berlin/New York 2018, S. 41.

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nische Recht in der 1139/40 gegründeten Universität von Bologna. Aber erst die knapp 100 Jahre später im Jahr 1234 vom Dominikaner Raimund von Peñaforte vorgenommene normierte Kodifizierung der bisherigen Sammlungen zusammen mit den Dekretalen Papst Gregors IX., in dessen Auftrag er arbeitete, enthielt eine einheitliche und ausschließliche Gesetzeskraft.5 Um 1311/12 wurde diese Sammlung ein letztes Mal unter amtlicher Autorisierung erweitert. Im 15. und 16. Jahrhundert folgten Modifizierungen in Bezug auf die Pfründenvergabe oder die Durchsetzung von Reformbestimmungen. Diese und weitere päpstliche Erlasse fanden nun jedoch nicht mehr als amtliche Publikation ihren Weg in die Gesetzessammlung, sondern wurden auf Eigeninitiative einzelner Kirchenrechtler durch Druckwerke verbreitet.6 Wie das weltliche Recht bot das kanonische Recht keine genaue Anleitung in der Verfahrensform, auch gab es keine einheitlichen Vorgaben für die rechtsprechenden Institutionen. Es ist hervorzuheben, dass sich aufgrund der zumeist universitär ausgebildeten Juristen ab dem 13. Jahrhundert innerhalb der kirchlichen Gerichtsbarkeit und deren Rechtsprechung ein prozessualer Formalismus durchsetzte.7 Diese Entwicklung zeigte sich schon früh in den norditalienischen Städten. Innerhalb des dortigen Prozesswesens war es nicht nur die generelle Vertrautheit mit dem römischen Recht, die den Ausgang des Verfahrens beeinflusste, sondern auch das Verständnis und der gelehrte Umgang mit den sich herauskristallisierenden Prozessmechanismen und -instrumenten.8 Infolge der nicht klar geregelten Verbindlichkeiten der Statuten und Satzungen in den Verfahrensabläufen und der Festlegung von Strafmaßnahmen war auch im kirchlichen Recht der Ermessensspielraum groß. Hinzu kam, dass das kanonische Recht häufig keine Zuordnung von konkreten Sanktionen zu bestimmten Vergehen kannte und eine Klageerhebung sich damit an den Gegebenheiten und Begleiterscheinungen orientierte, insbesondere da die zu verhandelnden Tatbestände zumeist komplexer waren als der Maßnahmenkatalog.9 5 Stephan Kuttner, Zur Entstehungsgeschichte der Summa de casibus des hl. Raimund von Peñafort, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 39 (1953), S. 419‒434; William A. Hinnebusch, The History of the Dominican Order, Bd. 2: Intellectual and Cultural Life to 1500, New York 1973, S. 248–252. 6 Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, 6 Bde., Berlin 1869‒1897. 7 Zur praktischen Tätigkeit universitär ausgebildeter Juristen und ihrem Einfluss auf die Strafrechtsverfahren siehe Franz Dorn, Zur Entwicklung der Strafrechtswissenschaft in Deutschland, in: Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500‒2000, hg. von Heinz-Günther Borck, Koblenz 2002, S. 168–209. 8 Hierzu Massimo Vallerani, Tra astrazione e prassi. Le forme del processo nelle città dell’Italia settentrionale del secolo XII, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, hg. von Franz-Josef Arlinghaus u. a. (Rechtsprechung. Materialien und Studien 23), Frankfurt a. M. 2006, S. 135–153. 9 Zu diesem Umstand, der auch im Bereich der territorialen, städtischen und niederen Gerichtsbarkeit gilt, siehe Reinhold Schorer, Die Strafgerichtsbarkeit der Reichsstadt Augsburg 1156‒1548 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 3), Köln 2001, S. 157. Noch in der Frühen Neuzeit gab es keine klaren strafrechtlichen Normen, die Rechtsprechung war durch Diversität, Pluralismus und Multinormativität gekennzeichnet. Siehe dazu Härter, Kriminalitätsgeschichte, S. 65.

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Die Qualität der Verurteilung war in diesem Fall mit einem Rechtsstandpunkt verbunden, der sich an den Maßstäben und Interessen eines jeden Einzelnen beziehungsweise einer Gruppe orientierte.10 Diese Maßstäbe und Interessen folgten verschiedenen Zielen, so der Wiederherstellung des Friedens innerhalb der Gruppe, dem Beharren auf eine zu erbringende Sühne oder der Schaffung eines Vergleichs. Der Vorgang der Rechtsfindung war damit immer an die jeweiligen Umstände und Beteiligten gebunden und konnte durchaus unterschiedliche Ausformungen für den gleichen Tatbestand beinhalten. Normverstöße von Angehörigen des Weltklerus oder der monastischen und stiftischen Gemeinschaften wurden anhand von Regeln beurteilt, die den christlichen Wertevorgaben nach Demut, Askese und Nächstenliebe sowie der priesterlichen Fürsorge für die Gemeinde folgten. Neben dem kanonischen Recht waren es für die Angehörigen der einzelnen Orden und Stiftsgemeinschaften deren strenge Regelwerke, die mit dem Ablegen der Profess bindend waren und denen man sich in allen Belangen des Lebens unterwarf. Sie besaßen Gesetzeskraft und regelten neben den liturgischen Verrichtungen, der Unterordnung des Alltags unter ein kontemplatives Leben, der wirtschaftlichen Verwaltung und inneren Organisation auch die Ahndung von Fehlverhalten und die Festlegung von Strafmaßnahmen bei Normverstößen.11 Das tägliche Schuldkapitel, das capitulum culparum, in dem Verfehlungen gegen die Ordensvorgaben vorgetragen wurden, hatte jeder Ordensangehörige vor der Gemeinschaft abzulegen.12 Dieses Schuldkapitel speiste sich aus der Einsicht von der Unvollkommenheit der menschlichen Existenz. Nach der Moralphilosophie mit ihrem ethisch-theologischen Diskurs brachte die Schuld den Menschen in Widerspruch zu dem von ihm anzustrebenden höchsten Gut, der Ausrichtung seines Handelns auf Gott. Darüber hinaus galt aber auch, dass die menschliche Willensfreiheit von Gott gegeben ist und sie damit als göttliche Gabe partielle Entscheidungsfreiheiten besitzt.13 Demzufolge wurden Normverstöße zwar als ahndungswürdiges Unrecht angesehen, die Sanktionierung dieses Unrechts geschah aber nicht einzig 10 Zum Sachbestand innerhalb der Rechtsprechung im Mittelalter, wonach nicht die Durchsetzung der Rechtsnorm oberste Priorität genoss, sondern dass vorrangig im Interesse aller Beteiligten gehandelt wurde und somit die Wiederherstellung von Recht oder die Wahrheitsfindung als Selbstzweck eher untergeordnete Bedeutung besaß, siehe Neithard Bulst, Richten nach Gnade oder nach Recht. Zum Problem spätmittelalterlicher Rechtsprechung, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, hg. von Franz-Josef Arlinghaus u. a. (Rechtsprechung. Materialien und Studien 23), Frankfurt a. M. 2006, S. 465–486, hier S. 470. 11 Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensform, München 2012, S. 37; Ders., Ordensstatuten und allgemeines Kirchenrecht. Eine Skizze zum 12./13. Jahrhundert, in: Proceedings of the 9th International Congress of Mediaval Canon Law, hg. von Peter Landau und Jörg Müller, Città del Vaticano 1997, S. 691–712. 12 Uwe Kai Jacobs, Die Regula Benedicti als Rechtsbuch. Eine rechtshistorische und rechtstheologische Untersuchung (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte 16), Köln 1987, S. 112– 116. 13 Insbesondere die Schriften von Thomas von Aquin bildeten einen wesentlichen Beitrag in der im 13. Jahrhundert intensiv geführten Diskussion, wonach die Ausrichtung des menschlichen Lebens auf Gott moralisch verpflichtend sei und dass das auf der Vernunft basierende mensch-

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auf der Ebene eines rechtlichen Grundsatzes, sondern gleichfalls aus einer normativ-ethischen Beurteilung, die wiederum durch die einzelnen Protagonisten unterschiedliche Wertungen erfuhr. Entsprechend dieser Ausrichtung sind die Ereignisse um den Dominikanermönch, Prior des Hamburger Konvents und Provinzial Heinrich Meyer im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen den Konventualen und Observanten innerhalb des Ordens zu bewerten.

Abb. 1: Detail aus der Stadtansicht von Hamburg. Nr. 17 zeigt das Dominikanerkloster neben dem Franziskanerkloster (Nr. 16), Stich von Matthäus Merian um 1650. Nachweis: Universitätsbibliothek Kiel, Q 232.

Die wichtigsten Kritikpunkte der Observanten waren: die Aufgabe der vita communis und der Klausur, der Genuss von Fleischspeisen, die Vernachlässigung der Hausordnung und des Chorgebets sowie Trinkgelage in- und außerhalb des Klosters und Unfug auf den Terminen.14 Der Konventuale Heinrich Meyer war einer der wichtigen und zugleich umstrittensten Protagonisten im internen Ordensstreit. Hier in der Saxonia entwickelte sich der Streit zu einer äußerst ernstzunehmenden Zerreißprobe für die gesamte Gemeinschaft. Seit dem ersten Drittel des 14. Jahrliche Handeln der durch die göttliche Vorsehung geschaffenen Wirklichkeit unterliege. Siehe Wolfgang Röd, Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Bd. 1: Altertum, Mittelalter, Renaissance, München 1994, S. 354. 14 Gabriel Maria Löhr, Die Kapitel der Provinz Saxonia im Zeitalter der Kirchenspaltung 1513‒1540 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 26), Köln 1930, S. 3*. Insbesondere die beiden letzten Punkte wiederholen oft geäußerte Klagepunkte vonseiten der Reformparteien auch anderer Orden bei internen Auseinandersetzungen. Sie gehören zu einem wiederkehrenden Topos, der den absoluten Verfall der hohen sittlichen Zielsetzung unterstreichen soll. Abseits der Polemik zeichnen die Kritikpunkte ein Bild, nach dem sich in den Klöstern der Konventualen ein Tagesablauf etablierte, der sich dem von Stiftsherren angenähert hat.

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hunderts wurde auf den Generalkapiteln intensiv die strenge Umsetzung der primären Ordensinhalte – die Armut in der Nachfolge Christi, die Nächstenliebe und die Predigttätigkeit – propagiert und ordenstheologisch durch Vorgaben und Erlasse definiert. Auslöser dieser intensiven und kritischen Auseinandersetzung des Ordens mit der eigenen Entwicklung waren die unter Papst Johannes  XXII. entwickelten Reformvorhaben. Sie sollten Vorgaben und Rahmenbedingungen für eine geistliche Erneuerung innerhalb der einzelnen Orden schaffen.15 Und so waren die Provinziale des Dominikanerordens aufgefordert, die im Generalkapitel immer wieder formulierten Anweisungen zu einem streng der Regel unterworfenen Leben umzusetzen.16 Unter dem Eindruck der katastrophalen Ereignisse wie den Missernten zu Beginn des 14. Jahrhunderts und besonders der Pestepidemie 1348 kam es zu grundlegenden Diskussionen in religiösen Fragestellungen. Armut, Barmherzigkeit, Demut und Nächstenliebe wurden von zentraler Bedeutung für die Gemeinden und rückten immer mehr in den Mittelpunkt eines zutiefst spirituell verstandenen Glaubens. Zwar lagen diese Prinzipien der Regel des Dominikanerordens zugrunde, doch der umfassende Zuspruch von weltlicher Seite, gerade durch die sich konsolidierenden städtischen Eliten wie die Ratsfamilien oder die städtischen Kooperationen, die Gilden und Zünfte, führte zu einem hohen gesellschaftlichen Ansehen, das mit wachsendem fiskalischen Reichtum durch Spenden, Legate und testamentarische Überschreibungen verbunden war. Ihr wachsender Einfluss auf städtepolitische, aber auch landesherrliche Entscheidungsprozesse, fußend auf dem hohen Bildungsniveau jedes einzelnen Ordensmitglieds, stand bald im Widerspruch zu einem Leben in Armut streng nach dem Vorbild der Apostel. Darüber hinaus machte der Orden sich durch seine Einbindung in die politischen Interessen der Landesherren oder der Stadtregimenter immer angreifbarer.17 Denn parallel zu dieser Entwicklung im Orden zeigte doch das Abendländische Schisma die innere Zerrissenheit der Kirche als Institution. Das national zerstrittene Kardinalskollegium führte deutlich vor Augen, dass das nationalpolitisch orientierte Handeln die Einheit der Kirche nicht nur gefährdete, sondern nachhaltig zerrüttete,18 und es offenbarte sich, wie wichtig Reformbemühungen waren, um der Kritik an einer durch politische Ränke und Parteilichkeit korrumpierten Kirchenpolitik zu begegnen. Im Dominikanerorden erfolgte bereits auf dem Generalkapitel in Wien 1388 ein Beschluss, wonach sich mindestens ein Konvent in jeder Ordensprovinz streng an 15 Melanie Brunner, Johannes XXII. als Reformer?, in: Papst Johannes XXII. Konzepte und Verfahren seines Pontifikats. Freiburger Colloquium 2012, hg. von Hans-Joachim Schmidt und Martin Rohde (Scrinium Friburgense 32), Berlin/Boston 2016, S. 119–148, hier S. 145. 16 Löhr, Kapitel, S. 7*. 17 Viele Konvente übernahmen Kanzleiaufgaben für die Ratsregierungen der Städte und waren somit involviert in deren stadtpolitische und juristische Belange. Für den Hamburger Konvent siehe Katja Hillebrand und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Hamburg, Dominikaner, in: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, Bd. 1, hg. von Oliver Auge und Katja Hillebrand, Regensburg 2019, S. 418–449, hier S. 423. 18 Joëlle Rollo-Koster, Avignon and Its Papacy, 1309‒1417. Popes, Institutions and Society, Lanham u. a. 2015, S. 239–286.

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den Ordensidealen ausrichteten sollte. Diese observant geführten Klöster kamen der absoluten persönlichen Besitzlosigkeit nach, hier wurde das mehrmalige, tägliche Chorgebet begangen, die strengen Fastenregeln wurden eingehalten und Fleischgenuss untersagt. Jeder Mönch ging an mehreren Tagen im Monat in die stille Klausur. Für die Provinz Saxonia wurde das Kloster in Utrecht, in der Nation Hollandia, der Observanz unterstellt.19 In der Provinz Lombardia inferior wurde Bologna als observantes Zentrum ausgewählt. Dieses hatte für die Reformbewegung im Orden eine nachhaltige Wirkung. Das dortige Studium Generale war wie in Paris oder Köln an der großen internationalen Universität angeschlossen. Aus allen Ordensprovinzen kamen hier Mönche zum Studium zusammen und erlangten ihren höchsten Abschluss, ihren Magister und schließlich den Doktorgrad. Das befähigte sie wiederum zum Erreichen der höchsten Ämter innerhalb des Ordens, aber auch zu einem Karriereweg am apostolischen Stuhl als Berater im Umkreis des Papstes oder Kanzleibeamter im Vatikan. Bologna war Ort der ersten Generalkapitel unter dem Ordensgründer Dominikus, der hier auch bestattet worden war. Der Orden besetzte an der Universität einen Lehrstuhl für Theologie und man traf sich zu theologischen Disputationen und Bibelexegesen.20 Diese zentrale Rolle des Konvents in Bologna innerhalb des Ordens führte unter anderem dazu, dass die Observanz immer mehr Zuspruch insbesondere im Kreis der religionsphilosophischen Gelehrten des Ordens erhielt. Unterstützung fand die Bewegung auch und gerade vonseiten wohltätiger Gönner, die in den Vertretern dieser strengen Ordensrichtung die wahren Fürsprecher vor Gott sahen. Im Anschluss an das Generalkapitel von Wien 1388 förderten in der Provinz Teutonia der Provinzial Konrad von Preußen und sein Schüler Johann Nider, Dekan der Theologischen Fakultät in Wien, intensiv die Reformbestrebungen einzelner Konvente.21 Niders wichtige Schrift De reformatione religiosorum war hoch angesehen und vielgelesen und hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Observanzbewegung auch in der Provinz Saxonia.22 Im Jahr 1444 wurde neben dem Kloster in Utrecht von Bologna aus das Reformkloster in Rotterdam gegründet. Die Klöster in Haag und Kalkar schlossen sich Mitte des 15. Jahrhunderts der Reformausrichtung an und schließlich bewog der Ordensgeneral Martialis Auribelli die zur Provinz Francia gehörenden Klöster in Gent und Lille, der Observanz beizutreten. Alle Klöster wurden nun zusammengefasst und dem Genter Prior unterstellt. Zwar gehörten die Gemeinschaften organisatorisch immer noch der jeweiligen Provinz an, in Fragen des inneren Ordenslebens regelte jedoch der Genter Prior als Vikar autark alle Angelegenheiten.23 Diese observanten Klöster schlossen sich zur Congregatio Hollandia zusammen und bildeten nun über 19 Löhr, Kapitel, S. 3*. 20 Max Heimbucher, Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche, Bd. 1, Paderborn u. a. 51987, S. 487. 21 Kaspar Elm, Franziskus und Dominikus. Wirkung und Antriebskräfte zweier Ordensstifter, in: Saeculum 23 (1972), S. 127–147, hier S. 133. 22 Weitere kleinere Schriften behandelten wichtige Themen der strengen Observanz, z. B. De abstinentia esus carnium und De paupertate perfecta. Siehe Hinnebusch, History 2, S. 262–267. 23 Löhr, Kapitel, S. 2*.

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die Provinzgrenzen hinaus einen eigenen Verband mit einem eigenen jährlichen Kapitel.24 Damit erhielt die Observanz eine selbstständige, rechtsverbindliche Stellung mit gut ausgebildeten Gelehrten, die ihr Studium an den sich entwickelnden reformorientierten Schulen absolvierten. Neben den Klöstern der Congregatio Hollandia gab es in der Provinz Saxonia weitere Zentren der Ordensreform wie die 1452 reformierte Niederlassung in Leipzig.25 Der Leipziger Konvent wurde mit Unterstützung des sächsischen Herzogs und Landgrafen von Thüringen Wilhelm III. reformiert. Dieser Anschluss an die Observanz wog für die Konventualen innerhalb der Saxonia schwer, da damit ein großer Konvent in der Provinz an den Reformzweig fiel. Hier am Kloster hatte sich ein Studium Generale speziell für die Observanten herausgebildet.26 Im Jahr 1459 folgte das Kloster Erfurt der Reform, das mit seinem Studium Generale an der dortigen Universität eine herausgehobene Stellung innerhalb der Provinz besaß.27 In dieser Zeit wurde die ordenspolitische Ausrichtung innerhalb der Saxonia durch den Groninger Magister und strengen Konventualen Bernt van Dülmen geprägt. Im Jahr 1448 urkundete er als Provinzial. Nach dem Tod seines Nachfolgers Fredericus Molitoris wurde er auf dem Provinzkapitel in Leeuwarden 1461 erneut zum Provinzial gewählt.28 Er hatte bereits als herausragender Jurist eine Reihe von Inquisitionsprozessen erfolgreich geführt. Als strikter Gegner der Observanz begann er bereits in seiner ersten Amtszeit einen langjährigen und harten Kampf gegen sie, sah er doch die innere Ordnung und den Zusammenhalt der Provinz durch die auf weitgehende Unabhängigkeit zielende Congregatio Hollandia und das Entstehen weiterer Reformkonvente, die sich seiner Aufsicht entzogen, ge24 Ab 1464 umfasste die Congregatio Hollandia die Klöster Gent, Haarlem, Rotterdam, Kalkar, Brüssel, Douai, Zutphen, Haag und Lille. Siehe ebd., S. 4*. 25 Hier gründete sich die Congregatio Lipziensis mit den weiteren Konventen Freiberg, Eisenach, Plauen, Luckau, Jena, Pirna und Eger. Vgl. ebd., S. 8–11*. 26 Gabriel Löhr, Die Dominikaner an den deutschen Universitäten am Ende des Mittelalters, in: Mélanges Pierre Mandonnet, Teilbd. 2 (Bibliothéque thomiste 14), Paris 1930, S. 403–435, hier S. 427 f. Innerhalb der Saxonia waren die Generalstudia in Erfurt, Rostock und Greifswald den Universitäten inkorporiert. Leipzig besaß kein eigentliches Generalstudium, hatte aber laut den Satzungen der Saxonia ein Studium am Konvent etabliert, das ebenfalls zu den hohen Abschlüssen berechtigte. Damit wollte man reformorientierten Ordensmitgliedern innerhalb der Provinz eine Möglichkeit des Studiums bieten. Vgl. hierzu Löhr, Kapitel, S. 11*. In der Folgezeit jedoch traten Erfurt und Rostock und schließlich 1475 der Konvent in Greifswald der Ordensreform bei. Rostock und Greifswald gliederten sich in die Congregatio Hollandia ein. In Magdeburg gab es ab 1479 ebenfalls ein Generalstudium, das als Hauptstudienhaus der Congregatio Hollandia diente. Zu den Studienorten innerhalb der Saxonia siehe KlausBernward Springer, Die Dominikaner, in: Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform, 1500‒1700, Bd. 2, hg. von Friedhelm Jürgensmeier und Regina Elisabeth Schwerdtfeger (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 66), Münster 2006, S. 9–47. 27 Löhr, Kapitel, S. 13*. 28 Paulus von Loë, Statistisches über die Ordensprovinz Saxonia (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens 4), Leipzig 1910, S. 21; Fritz Bünger, Beiträge zur Geschichte der Provinzialkapitel und Provinziale des Dominikanerordens (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens 14), Leipzig 1919, S. 95.

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fährdet.29 Dies war ein Umstand, den es aufzuhalten galt. Im Jahr 1460 versuchten Konventsmitglieder unter der Führung des Priors der angesehenen Niederlassung in Wesel und mit landesherrlicher Fürsprache,30 der Congregatio Hollandia beizutreten. Der Reformversuch traf jedoch auf den Widerstand im Kloster selbst, da die Familien der Konventsmitglieder um ihren Einfluss fürchteten. Auch der Stadtrat sprach sich mehrheitlich gegen die Reform aus. Die Konventualen, die das Kloster verlassen mussten, blieben ebenfalls nicht untätig und bezichtigten den neu eingesetzten observanten Prior und den Subprior vor dem Generalmagister der Unterschlagung von Geldern. Dieser setzte beide ab und verlieh Bernt van Dülmen weitgehende Vollmachten über den Konvent.31 Auf Bitte des Kölner Generalvikars verhängte schließlich der Erzbischof die Exkommunikation gegen die der Observanz angehörenden Konventsmitglieder.32 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass van Dülmen die Verhängung dieser überaus harten Strafe forcierte.33 Es zeigte sich aber, dass es immer schwieriger wurde, gerade vonseiten der Landesherren eine klare Haltung gegen die observante Bewegung einzufordern. So ließ Herzog Heinrich IV. von Mecklenburg 1468 auf Bitten seines Schwagers Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg die Niederlassungen in Wismar und wenige Zeit später in Rostock reformieren.34 Ebenfalls im Jahr 1468 schloss sich das Magdeburger Kloster auf Anraten des Magdeburger Erzbischofs Johann Pfalzgraf von 29 Zu untersuchen wäre hierbei auch, inwieweit territorialpolitisch motivierte Vorbehalte eine Rolle spielten. Die Congregatio Hollandia bestand aus Klöstern, die in den neuburgundischen Staaten lagen, der Grafschaft Flandern, dem Herzogtum Brabant und dem Herzogtum Geldern. Sie standen in der Zeit des Abendländischen Schismas im Einflussbereich der französischen Krone. Dem entgegen lagen die meisten Klöster der Saxonia in den Herzogtümern und Grafschaften des römisch-deutschen Reiches, womit sich ein kirchenpolitischer tiefer Riss durch die Provinz zog, der den Orden vor schwierige Aufgaben stellte. 30 Gestützt wurden die Reformversuche des Konvents in Wesel vom Herzog Johann I. von Kleve-­ Mark. Damit folgte er dem Vorbild seiner burgundischen Verwandten, die bereits die Observanz in ihrem Territorium förderten. Verbunden war diese Reformunterstützung auch mit der politischen Zielsetzung, sich in der Klosterpolitik vom Erzbischof von Köln zu emanzipieren. Vgl. Elke-Ursel Hammer, Monastische Reform zwischen Person und Institution. Zum Wirken des Abtes Adam Meyer von Groß St. Martin in Köln (1454‒1499) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 165), Göttingen 2001, S. 419. Zum Konvent siehe Paulus von Loë, Die Dominikaner in Wesel, Kempen 1896; Ders.: Reformationsversuche im Dominikanerkloster zu Wesel, in: Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsverein (1897), S. 82– 130. 31 Loë, Statistisches, S. 38. 32 Bernhard Neidiger, Erzbischöfe, Landesherren und Reformkongregationen. Initiatoren und treibende Kräfte der Klosterreformen des 15. Jahrhunderts im Gebiet der Diözese Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 54 (1990), S. 19–77, hier S. 49. 33 Löhr, Kapitel, S. 3*. 34 Ingo Ulpts-Stöckmann, Wismar, Kloster S. Peter und Paul, in: Mecklenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte, Kommenden und Prioreien (10./11.‒16. Jh.), Bd. 2, hg. von Wolfgang Huschner u. a., Rostock 2016, S. 1179–1188, hier S. 1181 f.; Bodo Keipke, Rostock, Kloster S. Johannes der Täufer, S. Johannes Evangelist, in: Mecklenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte, Kommenden und Prioreien (10./11.‒16. Jh.), Bd. 2, hg. von Wolfgang Huschner u. a., Rostock 2016, S. 847–856, hier S. 849 f.

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Pfalz-Simmern der Congregatio Hollandia an. Im Jahr 1470 folgte auch der Konvent von Halle, wiederum durch die Fürsprache des Erzbischofs.35 Beide Klöster waren bereits 1456 reformiert worden. Jedoch wurde vonseiten der Provinziale durch die Versetzung der dortigen observanten Mönche in andere Klöster und die Verlegung konventualer Mönche in beide Klöster die angestrebte Reform wieder aufgelöst.36 Mit dieser Praxis versuchte auch Bernt van Dülmen, die Reformzentren innerhalb der Provinz auszuhöhlen. Er erkannte aber auch, dass die Methode der Versetzung von Ordensbrüdern in andere Konvente ‒ einen stabilitas loci gab es nicht innerhalb des Dominikanerordens ‒ die Hinwendung vieler Konvente zur Observanz nicht aufhielt. Als hervorragender Jurist sah er die Möglichkeit einer Stärkung der Konventualen darin, ihre ordensinterne Ausrichtung in Abgrenzung zur Observanz eindeutig zu formulieren. Entsprechend seiner Haltung ist anzunehmen, dass er ‒ immer legitimiert durch die Konstitutionen des Ordens ‒ die vita canonica der Regularkanoniker, aus der der Ordensgründer Dominikus selbst kam, in vielen Bereichen des Ordenslebens als Vorbild sah. Die Konstitutionen des Ordens selbst zitieren zu Beginn die Statuten der Prämonstratenser dahingehend, dass die Abteien eine Einheit bilden und die Regel von allen in gleicher Weise ausgelegt wird, dass allen die gleiche Lebensform, der gleiche Habit und die gleichen liturgischen Bücher gemein seien.37 Hierauf wollte er in der Zeit des inneren Zerwürfnisses einwirken. Ein regelgerechtes Leben nach den Vorgaben des Ordensgründers zu führen, war auch für ihn eine grundlegende Voraussetzung. Das Studium und die Predigt bildeten jedoch die zentralen Aufgaben, zu denen man sich mit dem Eintritt in den Orden verpflichtete und denen man nach bestem Ermessen und Können nachzukommen hatte. Die Konstitutionen des Ordens boten die Möglichkeit des Dispensrechts immer dann, wenn die primären Ordensaufgaben wie das Studium oder die Predigttätigkeit durch das innere Ordensleben beschränkt wurden. Und so konnte ein Dispens von den Ordensoberen gegenüber den Verrichtungen des Alltags, wie dem täglichen Abhalten des Schuldkapitels, dem Stundengebet, dem Fasten oder dem gemeinsamen Essen im Refektorium, ausgesprochen werden.38 Diese klar definierten Tätigkeiten, die das kollektive, innere Klosterleben strukturierten, waren den auf individuelle Leistung ausgerichteten Ordenszielen somit unterzuordnen. Eine umfassende Ausbildung war für Bernt van Dülmen die Grundvoraussetzung für eine gute Predigttätigkeit. Für ihn verband sich die Predigt mit dem aktiven Mitwirken an gesellschaftlichen 35 Löhr, Kapitel, S. 7 f.*. 36 Ebd., S. 12 f.*. 37 Heinrich Denifle, Die Constitutionen des Predigerordens vom Jahre 1228, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 1 (1885), S. 165–227, hier S. 173; Heribert Christian Scheeben, Die Konstitutionen des Predigerordens unter Jordan von Sachsen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 38), Leipzig 1939, S. 21. 38 Florent Cygler, Zur Funktionalität der dominikanischen Verfassung im Mittelalter, in: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville und Jörg Oberste (Vita regularis 11), Münster/Hamburg 2000, S. 385–428, hier S. 401–405.

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und gerade auch politischen Prozessen. Ein gutes Studium befähigte die Brüder darüber hinaus, in den städtischen und landesherrlichen Zentren als Berater, aber auch als Akteure zu wirken. Entsprechend dieser Zielsetzung förderte Bernt van Dülmen junge Brüder im Orden und ermöglichte ihnen durch Zuspruch und Empfehlung eine Ordenskarriere. Gerade in der Zeit der ordensinternen Auseinandersetzungen schuf er durch die gezielte schulische und universitäre Förderung junger Konventualen eine Gruppe von Ordensmitgliedern, die in den internen Disputationen einen bestens ausgebildeten Flügel stellten. In dem jungen Mönch Hermann Meyer erkannte van Dülmen einen begabten Kandidaten für eine solche erfolgreiche Ausbildung. Schon früh sah er sein rhetorisches Geschick und seinen disziplinierten Eifer. Hermann trat als junger Mann in das Kloster in Wismar ein. Hier verbrachte er die Zeit seines Noviziats und bekannte sich zur Ordenslinie der Konventualen. Als das Wismarer Dominikanerkloster am 11. Juni 1468 reformiert und der Congregatio Hollandia unterstellt wurde, war Meyer einer der Brüder, der die Annahme der Reform verweigerte und daher den Konvent verlassen musste. Er wurde in das konventuale Kloster nach Hamburg versetzt. Hier beendete er sein Noviziat und setzte seine vom Orden vorgeschriebene Ausbildung fort.39 Diese umfasste, wie allgemein festgelegt, drei Jahre für das Studium der artes mit ihren Unterweisungen in die lateinische Sprache, Grammatik und Dialektik, zwei Jahre für das Studium der Philosophie und vier Jahre für das der Theologie.40 Als mobile Personalverbände wurden diese Studien vom Provinzkapitel aus jedes Jahr einem anderen Konvent unterstellt, sodass der Standort jährlich wechselte. Nach dieser neunjährigen Ausbildung wurde Hermann Meyer auf Zuspruch des Provinzials Andreas Comitis zum höheren Studium 1476 nach Köln entsendet. Im Mai 1477 wurde er wiederum auf Wunsch des Provinzials und mit Empfehlung Bernt van Dülmens als Sententiar an die Universität nach Perugia geschickt. Bereits im Juli des Jahres wurde seine Lektura approbiert und sein Magister angenommen. Sein bereits zu dieser Zeit fortgeschrittener Karriereweg wurde deutlich, als er 1478 auf dem Generalkapitel zu Perugia als Definitor die Provinz Saxonia vertrat.41 Der Provinzial Comitis hielt sich in diesem Jahr im Kloster von Hamburg auf.42

39 Löhr, Kapitel, S. 14*. 40 Fritz Bünger, Die Studienordnung der Dominikanerprovinz Saxonia (ca. 1363‒1376), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 35 (1914), S. 40–63, hier S. 43. 41 Löhr, Kapitel, S. 14*. 42 Cipriano Francisco Gaedechens, Martin Gensler und Karl Koppmann, Das St. Johanniskloster in Hamburg, Hamburg 1884, S. 96.

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Abb. 2: Der Innenraum der Hamburger Klosterkirche nach Nordosten. Nachweis: Cipriano Francisco Gaedechens, Martin Gensler und Karl Koppmann, Das St. Johanniskloster in Hamburg, Hamburg 1884, S. X.

Es ist anzunehmen, dass die herausgehobene Stellung, die der junge Meyer nach seiner Rückkehr 1478 im Hamburger Konvent erhielt – er wurde vom Generalmagister zum Subprior des Klosters ernannt –, durch Comitis’ Zuspruch geschah. Im Jahr 1480 ist Meyer als Magister im Hamburger Kloster erwähnt.43 Der Konvent von Hamburg genoss zu dieser Zeit ein hohes Ansehen und so fand 1480 hier das Provinzkapitel statt,44 auf dem ein neuer Provinzial gewählt wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich Hermann Meyer aufgrund der Protek43 Ebd., S. 92. Als Magister war er Repetitor, Studienpräfekt, Sekretär des Studiums, Leiter der Disputationen und Lektor der Moralphilosophie. Damit besaß er einen umfassenden Einfluss auf die Ausbildung und Ausrichtung der Inhalte. Siehe Löhr, Kapitel, S. 37*. 44 Hillebrand/Lorenzen-Schmidt, Hamburg, S. 425.

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tion vonseiten Andreas Comitis’ hier im heimischen Konvent gute Chancen ausrechnete, gewählt zu werden. Aber anscheinend war die Reformpartei stärker, denn ein ausgewiesener Observant wurde Provinzial. Nikolaus Beyer war Magister der Theologie und entschied sich schon früh für die observante Richtung im Orden. Er kam aus dem Reformkonvent in Leipzig, war dort über mehrere Jahre Lesemeister gewesen und hatte 1473 seinen baccalarius formatus erhalten.45 Damit war er berechtigt, an Disputationen teilzunehmen. Seine tief empfundene Religiosität und sein diplomatisches Geschick machten ihn zu einem beliebten Prediger und Redner sowie angesehenen Verhandlungspartner. Eines seiner dringlichsten Ziele war es, eine Einigung in der zunehmend zerstrittenen Provinz zu erreichen. Es zeigte sich jedoch, dass Hermann Meyer als einer der führenden Vertreter der Konventualen zu keinem Kompromiss bereit war. Im Jahr 1481 legte Hermann Meyer sein Priorat in Hamburg nieder und erhielt das Amt des Vikars in der Nation Slavia,46 zu der die Niederlassungen Hamburg, Lübeck, Meldorf sowie Wismar, Rostock, Röbel und Stralsund gehörten. Verfügungsgewalt über die zur Congregatio Hollandia gehörenden Klöster in Wismar und Rostock besaß er jedoch nicht. Doch allein der Rückhalt durch die vermögenden und einflussreichen Klöster Hamburg, Lübeck47 und Stralsund reichte, um Meyer in eine strategisch günstige Position gegen die Observanz zu bringen. Er setzte nun alles daran, als Provinzial gewählt zu werden, und versuchte, Beyer zu diskreditieren. Am 10. Juni 1487 schließlich wurde Meyer vom Generalmagister Joachim Turriani als Provinzial der Saxonia auf dem Generalkapitel in Venedig bestätigt. Wie konnte Meyer jedoch zu diesem Zeitpunkt seine Wahl zum Provinzial durchsetzen, mitten in der Amtszeit Nikolaus Beyers? Die genauen Umstände der Absetzung Beyers sind nicht bekannt. Aus den ordensinternen Urkunden ist belegt, dass er sich bereits vor dem 30. Mai 1487 als Vikar bezeichnete. Die Wahl Meyers musste also davor erfolgt sein, auf einem früh angesetzten Provinzkapitel im März oder April, auf dem die Observanten gar nicht zur Beteiligung an der Wahl aufgefordert wurden.48 Das Generalkapitel, das einzig eine Amtsenthebung vornehmen durfte,49 tagte aber erst ab dem 3. Juni in Venedig. Die Absetzung Beyers scheint demnach über ein päpstliches Breve erfolgt zu sein, da außer dem Generalkapitel nur der Papst als höchste Autorität eine solche Amtshandlung tätigen konnte. Hermann Meyer wurde jedoch von den Konventen, die der Observanz angehörten, nicht anerkannt. In dieser Zeit betiteln Urkunden Her-

45 Bünger, Beiträge, S. 97. 46 Die Vikare wurden auf dem jährlich stattfindenden Provinzkapitel für die Amtszeit von einem Jahr gewählt. Unterstellt waren den Vikaren die Klöster der von ihnen vertretenen Nation. Siehe William Hinnebusch, The History of the Dominican Order, Bd. 1: Origins and Growth to 1500, New York 1966, S. 174. 47 Hiram Kümper, Lübeck Dominikaner, in: Klosterbuch für Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, Bd. 2, hg. von Oliver Auge und Katja Hillebrand, Regensburg 2019, S. 6–70, hier S. 6–18. 48 Bünger, Beiträge, S. 98, Anm. 1. 49 Scheeben, Konstitutionen, S. 28.

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mann Meyer als vermeintlichen (pretensus) Provinzial.50 Besonders der observante Konvent in Leipzig stellte sich vehement gegen Meyer und hatte auch als eines der geistigen Zentren der Provinz im argumentativen Kampf gegen die Konventualen große Autorität und Durchsetzungskraft. Meyer nutzte jedoch seine Beziehungen zu einflussreichen Personen innerhalb und außerhalb des Ordens. Ihm ging es nicht um eine Einigung und einen Ausgleich zwischen den Parteien, ihm ging es um Geltung und Machtausbau. Sein Ziel war es, die Observanz, die letztlich durch den regen Zuspruch vieler Adeliger und städtischer Führungsgruppen eine moralische Instanz geworden war, zu zerschlagen. Und so wurde der Ton unter den Parteien schärfer. In diesem Sinn sahen beispielsweise die Konventualen, die das reformierte Jenaer Kloster verlassen mussten, ihre Chance zur Rückkehr, da sie mit dem Schutz des Provinzials nun die observanten Brüder davonjagen konnten. Die sächsischen Landesfürsten wurden durch Nikolaus Beyer auf die Gefahr, die den Observanten in den Klöstern ihrer Territorien drohte, informiert und sie gaben Anweisung, diese in den Niederlassungen von Jena, Plauen, Wartburg und Eisenach zu schützen.51 Hermann Meyer fing bereits wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus Venedig an, mit gezielten Verordnungen und Anweisungen die Reformzentren innerhalb der Provinz zu destabilisieren, beginnend mit der Congregatio Hollandia. Hier nahm er durch eine eigenmächtige Anweisung den Utrechter Konvent aus dem Verbund der Congregatio heraus und unterstellte ihn direkt der Provinz. Diese Maßnahme beinhaltete vor allem einen symbolischen Akt, da der Konvent, wie beschrieben, vom Generalkapitel 1388 per Erlass als erstes observantes Kloster innerhalb der Provinz bestimmt worden war. Das Vorgehen Meyers bedeutete demnach ein bewusstes Konterkarieren von Ordensanweisungen und die Missachtung von Vorgaben, die aus dem höchsten verfassungsgebenden Gremium des Ordens gekommen waren. Doch scheiterte er mit diesem Ansinnen, da der Konvent gegen diese Verfügung beim Generalmagister Einspruch einlegte52 und sich zudem der Vikar der Nation Orientalis, einem Teil der Hollandia, beim Generalmagister und beim Papst über das Vorgehen Meyers beschwerte.53 Ein konsequentes Durchgreifen vonseiten des Generalmagisters unterblieb jedoch. So steckte Hermann Meyer seine Ziele weiter ab und besetzte nun immer eigenmächtiger Ämter innerhalb der Provinz mit Konventualen, wobei er ein besonderes Augenmerk auf die Besetzung der Vikarstellen in der Nation Meißen und Thüringen legte, zu der auch der observant geführte Leipziger Konvent, Herz des zweiten großen Observantenzentrums in der Saxonia, der Congregatio Lipziensis, zählte. 50 Löhr, Kapitel, S. 15*. 51 Ebd. So sollten die Amtleute die observanten Dominikanerklöster in ihren Bezirken „vor schnelligklichen infall, gewalt, unrecht und schaden“ schützen. Die Amtleute bekamen die Disziplinargewalt übertragen, um gegen eine mögliche Umbesetzung der Leitungsämter in den Klöstern durch Konventualen vorzugehen. Siehe Manfred Schulze, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 2), Tübingen 1991, S. 155. 52 Löhr, Kapitel, S. 16*. 53 Bünger, Beiträge, S. 129–132.

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Meyer versuchte, das Leipziger Kloster aus den inneren Entscheidungsprozessen des Ordens auszuschließen. Damit verstieß er gegen ein bindendes Abkommen, das auf dem Generalkapitel in Venedig verabschiedet worden war, wonach einzig der Leipziger Konvent einen Vikar für die Nationen Meißen und Thüringen vorschlagen dürfe.54 Doch der Generalmagister Joachim Turriani griff auch hier nicht energisch durch und appellierte in einem Schreiben vom 2. August 1487 einzig an den Frieden in der Provinz. Hermann Meyer sah sich dadurch nicht in seinem Handeln eingeschränkt und beauftragte den von ihm ernannten Vikar für Meißen Nikolaus Marquiz mit der Visitation der dortigen Klöster. Die Zielsetzung war klar: eine Zurückdrängung der Observanten aus den Klöstern und die Absetzung reformorientierter Priore. Der Stadtrat von Eger wehrte sich gegen diese Visitation, und Nikolaus Beyer, als vom Generalmagister beauftragter Vikar der reformierten Klöster, behielt die Erlasse von Meyer ein, ohne sie durchzuführen. Er instruierte die Konvente, nur die von ihm als Vikar der reformierten Niederlassungen erteilten Erlasse als rechtsbindend anzuerkennen. Der Generalmagister versuchte zu lavieren, obwohl das Vorgehen von Nikolaus Beyer im juristischen Sinn richtig war und Hermann Meyer gegen die vom Generalkapitel erteilten Weisungen verstieß. Es scheint, dass Meyer über ein gutes personelles Netzwerk verfügte, das sowohl im Orden als auch im Vatikan sein Handeln unterstützte und rechtliche Konsequenzen in Bezug auf seine Überschreitungen von Ordensvorgaben und -regeln verhinderte. Im Januar 1488 ließ der Generalmagister prüfen, ob Meyer oder Beyer gegen die vom Generalkapitel in Venedig erlassenen Vorgaben verstieß. Einer direkten Rüge an Meyer und damit an die Konventualen versuchte er aus dem Weg zu gehen und ließ die Klöster Freiberg, Eisenach, Plauen, Luckau, Pirna, Jena und Eger selbst entscheiden, ob sie dem Provinzial direkt oder dem Vikar unterstellt sein wollten.55 Die Stellung Beyers war insbesondere auch durch die Fürsprache der sächsischen Landesherren gestärkt und Meyer verlor zunehmend an Argumenten. Er ging nun offensiv vor, indem er der Observanz und besonders Nikolaus Beyer Verleumdung, Ungehorsam und Herrschsucht vorwarf. Beyer appellierte an den Papst, die Observanz zu stärken.56 Die Herzöge hingegen reagierten zeitgleich mit einem Schreiben an den Generalmagister, endlich eine klare Position zu beziehen.57 Der Generalmagister Joachim Turriani sah in diesem ausufernden Disput zwischen den Parteien eine grundlegende Schwächung des Ordens. Er versuchte, ohne eine diesbezügliche Anhörung der observanten Seite eine Ordnung der Angelegenheit in der Provinz herbeizuführen, indem er die Sonderstellung der Congregationen aufhob. Dieser Vorgang beinhaltete eine eindeutige Positionierung für die Konventualen und eine Maßnahme, die konträr zu den Anweisungen der vorhergehenden Generalkapitel stand, die Reformbestrebungen innerhalb des Ordens zu unterstützen. Vielleicht 54 Löhr, Kapitel, S. 16*. 55 Ebd., S. 17*. 56 Bünger, Beiträge, S. 140–145, hier abgedruckt die Appellation von Nikolaus Beyer gegen Hermann Meyer. 57 Löhr, Kapitel, S. 17*.

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erkannte er auch, da besonders die Landesherren die Reformklöster unterstützten, dass eine Regelung der Angelegenheit einzig über einen unanfechtbaren Ordenserlass von höchster Stelle im Sinne der Konventualen durchgesetzt werden konnte. Am 19. Juni 1488 unterstellte er alle Reformklöster der Provinz dem Provinzial, der nun wieder als juristische Person für alle Konvente der Provinz sprach. Einzig die Visitation der reformierten Klöster sollte in der Hand der Observanten bleiben, die jährlich einen Vikar damit beauftragen sollten.58 Diese Anordnung ließ Turriani von Papst Innozenz VIII. bestätigen. Meyer ergriff die Chance und unterstellte sofort große Reformklöster wie Bremen und Erfurt konventualen Prioren. Des Weiteren unterteilte er die Nationen neu. Er schuf Gruppen von kleinen, schwachen Observantenklöstern und schnitt sie von den reichen Partnern ab.59 Das Vorgehen des Generalmagisters, das nachhaltig die Reformbemühungen im Orden schädigte und bereits geleistete Arbeiten auf diesem Gebiet gefährdete beziehungsweise zu vernichten drohte, stieß jedoch innerhalb des Ordens auf große Kritik. Der Generalvikar der Observanz, der Niederländer Adrianus de Mera,60 appellierte in dieser Sache daher am 29. Mai und erneut am 23. August 1488 ebenfalls an den Papst, wobei er in beiden Schreiben von Meyer als dem „pretensus provincialis“ spricht und damit nochmals die unrechtmäßige Ernennung Meyers zum Provinzial betont.61 Der Generalmagister lud Hermann Meyer bereits nach dem ersten Schreiben an den Papst am 21. August zu einer Anhörung vor. Acht Tage später wurde eine Kommission gegründet, die auf eine Verständigung zwischen Meyer und Beyer hinwirken sollte. Nikolaus Beyer unternahm in dieser Situation eine diplomatische Offensive und erreichte, dass sich die durch die starke Bedrängung immer uneiniger gewordenen Reformklöster auf eine Vorgehensweise verständigten. Ihm gelang wohl eine Einigung der Konvente. Denn Anfang September wurde Hermann Meyer erneut vor den Generalmagister zitiert, um hier gegen die Vorwürfe der Congregatio Hollandia, dass die Reformklöster bei seiner Wahl zum Provinzial nicht abstimmungsberechtigt gewesen seien, Stellung zu nehmen. Es dauerte bis zum 4. November, ehe ein Urteil vonseiten des Generalmagisters kam. Zuerst unterstellte er die reformierten Klöster wieder der Congregatio Hollandia. Dann setzte er Hermann Meyer mit sofortiger Wirkung als Provinzial ab, ernannte Johannes Crawinkel, Magister und Prior aus dem Dortmunder Konvent,62 zum Vikar der Provinz und klagte Nikolaus Marquitz, den von Meyer eingesetzten Vikar für die Nation Meißen, der Verleumdung Nikolaus Beyers an, wobei Mar58 Ebd. 59 Ebd. 60 Adrianus de Mera war im Wintersemester 1470/71 an der Rostocker Universität eingeschrieben und erwarb dort seinen Doktorgrad. Siehe die URL: http://purl.uni-rostock.de/ matrikel/10001567 (9.3.2021). Er war Beichtvater der Katharina von Bourbon, Herzogin von ­Geldern. Vgl. Nieuw Nederlands Biografisch Woordenboek, Teil 2, red. von Philipp Chris­ tiaan Molhuysen und Petrus Johannes Blok, Leiden 1912, S. 897. 61 Bünger, Beiträge, S. 132–140, hier abgedruckt die Appellationen des Adrianus de Mera an den Papst. 62 Loë, Statistisches, S. 34.

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quitz sich hierin wohl nicht allein schuldig gemacht hatte und es somit eher nach einem strategischen Bauernopfer aussah. Das rechtsbindende Urteil seiner Absetzung nahm Hermann Meyer jedoch nicht an. Auch in dieser Situation konnte er wohl wieder auf gute personelle Verbindungen im Umfeld des Papstes zurückgreifen, denn seine Appellation an den Papst wurde umgehend beantwortet und er wurde durch ein päpstliches Breve wiedereingesetzt.63 Dieser personelle Rückhalt auch innerhalb des Ordens, dessen innere Streitigkeiten wohl auch die Einheit und die disziplinare Geschlossenheit stark unterhöhlt hatten, ließ ihn dazu verleiten, in der folgenden Zeit gegen die Konstitutionen in eklatanter Weise zu verstoßen, indem er die verordnete Gehorsamkeitspflicht gegenüber dem Generalmagister missachtete.64 Die besondere Situation, dass sich die Reformorden in eigenen Congregationen befanden, führte dazu, dass innerhalb der regulären Provinzverwaltung mehrheitlich die Konventualen agierten und Ämter wie die der Definitoren durch Konventualen besetzt wurden. So nutzte Meyer in betrügerischer Absicht die Siegel der Definitoren der Provinz zur Ausstellung einer Vollmacht, mit der er in Rom ein Bankdarlehen in Höhe von 225 Gulden aufnahm, gegen einen Zins zu Lasten der Provinz.65 Dieses Geld verwendete er, um Beamte in der päpstlichen Kanzlei zu bestechen, die ihm eine päpstliche Bulle ausstellten.66 Diese falsche Bulle hob einen wichtigen Gesetzesteil des Ordens auf: Die Absetzung eines Provinzials vonseiten des Generalmagisters konnte nun nur mit einem von allen Anwesenden zu tragenden einstimmigen Beschluss erfolgen und nicht, wie durch die Konstitutionen vorgegeben, durch eine einfache Mehrheit. Es zeigte die innere Zerrissenheit des Ordensverbands und die wohl starke Polarisierung zwischen den beiden Parteien zu diesem Zeitpunkt, dass erst im Sommer des nächsten Jahres ein Urteil zu diesem die Kompetenz des Generalmagisters und die Unverletzlichkeit der Konstitutionen missachtenden Vorgehen gesprochen wurde. Am 3. August 1489 enthob Papst Innozenz VIII. Hermann Meyer von seinen zu Unrecht erlangten Privilegien. Davon gesondert, wurde Meyer zudem der Urkundenfälschung angeklagt und am 20. Oktober rechtskräftig verurteilt. Neun Tage später folgte dann auch die Enthebung Meyers von all seinen Ämtern durch ein päpstliches Breve und ein offizielles Schreiben des Generalmagisters. Doch auch in dieser Situation sah sich Meyer in der Lage, juristisch gegen das Urteil vorzugehen, indem er dieses aufgrund von Verfahrensfehlern anfocht. Am 16. Februar 1490 wurde auch dieses Verfahren durch ein päpstliches Breve gegen Meyer entschieden.67 Einen Monat später schrieb der Generalmagister nochmals an die Provinz Saxonia, dass Hermann Meyer aller Ämter entledigt sei. Er entband alle 63 Löhr, Kapitel, S. 18*. 64 Denifle, Constitutionen, S. 179. 65 Monumenta Ordinis fratrum Praedicatorum historica, hg. von Benedikt M. Reichert, Bd. 8: Acta Capitulorum Generalium: 1380‒1498, Rom 1900, S. 399; Löhr, Kapitel, S. 18*. 66 Axel Vorberg, Beiträge zur Geschichte des Dominikanerordens in Mecklenburg. Das Dominikanerkloster zu Röbel (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland 9), Leipzig 1913, S. 33; Löhr, Kapitel, S. 19*. 67 Löhr, Kapitel, S. 19*, Anm. 92.

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Mitglieder der Provinz der Eide und Verpflichtungen gegenüber Meyer. Auf dem kommenden Provinzkapitel sollte Meyer dann Rechenschaft ablegen.68 Hier erfolgte das endgültige Urteil, indem nochmals festgelegt wurde, dass alle Eide und Verpflichtungen gegenüber Meyer aufgehoben wurden, er musste das Provinzgeld dem Kapitel übergeben und nahm schließlich den letzten Platz unter den Magistri ein. Im Gegensatz zu seinem Parteigänger, dem Hamburger Bruder Hermann Nygenberg, der für die Urkundenfälschung im Kerker saß und schließlich den akademischen Titel eines Baccalaureus verlor, blieb die Bestrafung von Hermann Meyer in einem moderaten Rahmen, der wohl seiner einstigen Stellung, aber auch der unangefochten starken Stellung der Konventualen in der Provinz geschuldet war. So wurde der Vertrauensmann von Meyer, Daniel von Egher, als neuer Provinzial gewählt.69 Meyer wurde im Jahr 1493 zum Vikar des Hamburger Konvents bestimmt,70 ein Amt, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1528 innehatte.71 Seine von ihm eingebrachten finanziellen Mittel stellte er einem Stipendium zur Verfügung. Damit konnten jeweils zwei junge Mönche nach Köln zum Studium gesandt werden. Ein schriftliches Dokument aus dem ehemaligen Glockenturm der Klosterkirche in Hamburg von 1506 besagt, dass Hermann Meyer finanzielle Mittel gab, um die Klosterbauten zu reparieren und auszubauen.72 Nach seinem Tod entschied das Provinzkapitel, dass jeder Priester eine Messe zu seinem Todestag lesen sollte.73 Der Fall Hermann Meyer zeigt, dass die Sicherung und Bewahrung einer Verfasstheit wie die eines Ordens in der gesamten Konsequenz und Tragweite nur durch die Einigkeit aller Mitglieder gewährleistet war. Die parteilichen Differenzen im Orden führten zu personellen Allianzen, die gegeneinander agierten und sich teils unversöhnlich gegenüberstanden. Hermann Meyer machte sich diese besondere Lage zunutze. Die Ernennung der Congregatio Hollandia, die sich über die Ordensprovinzen Saxonia und Francia erstreckte und deren Klöster unter einem eigenen Vikar standen, führte zu einem schwerwiegenden Problem. Das durch die Konstitutionen vorgegebene System von gegenseitiger Kontrolle und Verwaltung der Gesamtgemeinschaft erhielt einen folgenschweren Riss, da die Frage der endgültigen Kompetenz nicht hinreichend geklärt war und Kontrollinstanzen zwischen der Congregatio und den Provinzen nicht existierten. So war die Saxonia nicht mehr in ihrer Gesamtheit vertreten, da Konvente aus dem Zuständigkeitsbereich des Provinzials ausscherten. Für Hermann Meyer bedeutete diese Situation, dass er auch ohne die notwendige Zustimmung der durch einen eigenen Vikar vertretenden Observanten handeln konnte, er war ihnen gegenüber nicht mehr zur 68 69 70 71

Ebd., S. 19*. Loë, Statistisches, S. 22; Bünger, Beiträge, S. 101–103. Löhr, Kapitel, S. 20*. Hermann Meyer wird urkundlich am 4. April 1500, am 14. Mai 1502 und im Jahr 1506 als „vicarius magistri generalis super conventu Hamburgensis“ genannt. Siehe Gaedechens/Gensler/Koppmann, St. Johanniskloster, S. 142 f. In dieser Funktion wird er am 4. April und in der Urkunde aus dem Jahr 1506 vor dem Prior genannt. 72 Ebd., S. 137. 73 Löhr, Kapitel, S. 20*, 21, 38, 61, 85, 100, 129, 143, 157, 170, 189, 200, 208 und 217.

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Abb. 3: Die Ostansicht der Hamburger Klosterkirche mit den anschließenden Klausurbauten. Quelle: Gaedechens/Gensler/Koppmann, St. Johanniskloster, S. IX.

Rechenschaft verpflichtet. Er setzte alles daran, die Observanten innerhalb der Provinz zu isolieren. Durch die Verselbstständigung der Congregatio Hollandia sah er das Einstehen für eine Einheit aller Konvente nicht mehr gegeben und so wurden die Instrumentarien, die der Orden auf Provinzebene vorsah, auf die Bedürfnisse der Konventualen ausgerichtet. Ein Unrechtsbewusstsein zeigte sich bei ihm kaum, das belegen die immer wieder von seiner Seite unternommenen Versuche, Urteile durch angebliche Verfahrensfehler aufheben zu lassen. Er wird eine breite Zustimmung bei den Konventualen gehabt haben. So verhielt sich sein Nachfolger, der Provinzial Daniel von Egher, gegenüber den Observanten ebenfalls abweisend, indem er die Belange der reformorientierten Konvente nur zögerlich bearbeiten ließ und Reformanordnungen des Generalmagisters zum großen Teil ignorierte.74 74 Löhr, Kapitel, S. 21 f.*.

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Für viele Konventualen in der Saxonia war ein loyales Verhalten den Observanten gegenüber nicht mehr bindend. Sie nutzten eine Vielzahl an juristischen Strategien, um eigene Zielsetzungen innerhalb des Ordens durchzusetzen. So war es nur konsequent, dass Meyer bei der Nutzung der Siegel der Definitoren, die in der Mehrzahl Konventualen waren, kein grundlegendes Vergehen sah, handelte er doch auch in ihrem Interesse. Deutlich wird, dass ein urteilsgebendes Gremium wie das, vor dem sich Meyer rechtfertigen musste, nur dann Klärung bringen konnte, wenn es unabhängig von der Verfahrenssache Recht sprach. Hier lag die Schwierigkeit in der Rechtsprechung gegen Meyer. So konkret und verbindlich die Vorgaben der Konstitutionen waren, hätte es jedoch einer übergeordneten Schiedsstelle bedurft, die frei von jeder Weisung und unabhängig ein Urteil fällt. Der Vorgang der Rechtsfindung orientierte sich wie in allen Wahlentscheidungen innerhalb des Ordens an dem Urteilsspruch der Majorität, in diesem Fall an dem der mehrheitlich konventualen Definitoren im Gremium auf dem Provinzkapitel. Die Definitoren sahen in ihrem Urteilsspruch eine angemessene Sanktionierung. Diese ermöglichte es, und das war von den Definitoren beabsichtigt, dass Hermann Meyer seinen herausgehobenen Platz im Konvent von Hamburg wieder einnahm. Als vom Generalmagister eingesetzter Vikar übernahm er auch bald wieder die juristische Verantwortung innerhalb des Konvents. Eine für die Observanten befriedigende juristische Beurteilung der Vorgänge fand jedoch nicht statt. Ein Verfahren im Interesse einer gleichartigen Behandlung, die auch die Anliegen der Minorität berücksichtigt, hätte die Objektivierung des Streitfalls bedeutet. Ein solches Vorgehen war aber durch die Verfahrensvorgaben nicht gegeben. Und so blieb der Konflikt zwischen den Konventualen und den Observanten innerhalb der Provinz Saxonia bis zur Reformation ein ständiger Streitpunkt, der eine endgültige Klärung nicht mehr erhielt.

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Paul Johann Friedrich Boysen (1803–1886) Vom Dithmarscher Kirchspielvogt zum Bürgermeister in Hildesheim: Eine Beamtenkarriere zwischen Dänemark und Preußen

Abstract The article introduces Paul Johann Friedrich Boysen, former bailiff of the German region Norderdithmarschen and later mayor of Hildesheim, reflects a person whose life mirrors many facets of North German history in the 19th century. He started his career as a secretary to the bailiff of Norderdithmarschen before he was appointed bailiff of the parish of Büsum and then became bailiff in 1838. During this time, he was significantly involved in the negotiations on the repeal of the exemption from duties and represented liberal ideas. During the Schleswig-Holstein uprising, he opposed Danish sovereignty over Holstein and thus represented a Schleswig-Holstein patriotism which cost him his office in 1852. But already in 1853, he took up his new office as mayor in Hildesheim. Here, he shows in a last extensive writing that he had changed from a Schleswig-Holstein patriot to a Prussian nationalist advocating the “Lesser Germany” solution.

Die Ehrung, die Paul Johann Friedrich Boysen anlässlich seiner Silberhochzeit vom Norderdithmarscher Landesvorsteherkollegium im Jahr 1863 erfuhr, zeigt die Wertschätzung, die der Beamte noch immer in der Landschaft genoss, in der er einen großen Teil seiner zunächst dänischen, dann preußischen Beamtenkarriere verbrachte. So erhob sich Kirchspielvogt Niemand in der Landesversammlung vom 13. Mai 1863 – zu dieser Zeit befand sich Boysen bereits seit elf Jahren nicht mehr in Norderdithmarscher, sprich dänischen Diensten, aus denen er entlassen worden war, – und beantragte mit folgenden Worten eine Glückwunschadresse an den ehemaligen Landvogt: Das Norderdithmarscher Landesvorstehercollegium wolle seinem verehrten vormaligen Landvogt und Präses, dem Herrn Bürgermeister Boysen in Hildesheim und seiner Frau Gemahlin zur Feier ihrer silbernen Hochzeit am Pfingstmontage den 25. d. M. seine herzlichen Glückwünsche ausbringen.1

1 Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 22: Landesschlussprotokoll, 13.5.1863. Das Protokoll findet sich zudem abgedruckt in den Dithmarscher Blättern, Nr. 757 (13.5.1863).

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Die Anwesenden „erhoben sich daraufhin in sichtlich freudiger Erregung.“2 Boysens Dankadresse auf diesen Glückwunsch macht deutlich, worum es ihm in politischer Hinsicht ging: Möge die Vorsehung dem Ditmarscher Lande und seinen Bewohnern, meinen mir so theuren Landsleuten seinen Segen geben, möge es unter seiner altbewährten freien Gemeinde-Verfassung fort und fort gedeihen! Möge auch Schleswig-Holstein im alt bestandenen Verein Ruhe und Frieden wieder erlangen! Möge gleiche Einigkeit, wie sie einst unter Ditmarschen zur Vertheidigung und Erhaltung seiner Freiheit gegen zahlreiche und mächtige Feinde in den Stand setzte, auch dem Deutschen Vaterlande den Muth und die Kraft geben, die Rechte aller seiner Söhne zu wahren!3

Ihm war es zunächst bis 1848 hauptsächlich um seine Norderdithmarscher Heimat gegangen, was sich während der schleswig-holsteinischen Erhebung zur Hoffnung auswuchs, dass beide Herzogtümer unter Führung des Deutschen Bundes vereinigt werden mögen, und schließlich ergab es sich nach seinem beruflichen Wechsel an die neue Dienststelle in Hildesheim, dass er auch preußisch und deutsch-national dachte. Literarisch war er ebenfalls ein äußerst umtriebiger Geist, denn im Laufe seines Lebens verfasste er etliche Schriften, die sich im Wesentlichen mit der Verwaltung beschäftigen.4 Darüber hinaus publizierte er eine Chronik zu seinem alten Kirchspiel Büsum und nahm gelegentlich zu aktuellen politischen Themen Stellung, wobei seine Haltung noch einmal ganz besonders deutlich wird.5 Im Folgenden soll der Karriereweg des Dithmarscher Kirchspielvogts Boysen nachgezeichnet werden, der 1838 zum Norderdithmarscher Landvogt avancierte und nach der preußischen Annexion der Herzogtümer Schleswig und Holstein als Bürgermeister beziehungsweise Oberbürgermeister der Stadt Hildesheim reüssieren konnte. Anhand seiner politischen Tätigkeit sollen sowohl seine Überzeugungen als auch seine Motive herausgearbeitet werden, die ein Spiegelbild schleswig-holsteinischer und norddeutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts darstellen.6

2 LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 22: Landesschlussprotokoll, 13.5.1863. 3 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 93, Dankadresse Boysens an das Landesvorsteherkollegium, 18.6.1863. 4 Vgl. ausführlich folgende Beiträge: Paul Johann Friedrich Boysen, Die Norderdithmarsische Verfassung, in: Dithmarsische Zeitung, Nr. 35, 36, 37, 39 und 40 (1843); Ders., Vorschläge zur Erbauung eines neuen Haftgefängnisses und einer Zwangsarbeiteranstalt für die Landschaft Norderdithmarschen, Heide 1843. 5 Vgl. Ders., Büsum – eine Kirchspielschronik, hg. von Walther Dührsen, Mölln 1888; Ders., Schleswig-Holstein’s Verbindung mit dem Preußischen Staat, Kiel 1867. 6 In die folgenden Ausführungen fließen etliche Überlegungen hinsichtlich meiner Arbeit zu Norderdithmarschen ein, die mein Interesse an der Person Boysens geweckt haben: Jörg Mißfeldt, Norderdithmarschen im dänischen Gesamtstaat (1773–1864). Die Verwaltung einer Landschaft im Spannungsfeld von Föderalismus und Landesherrschaft, unpubl. Diss., Kiel 2020.

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Norderdithmarschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und Boysens Jugendjahre Paul Johann Friedrich Boysen wurde 1803 in Heide als Sohn des Provinzialchirurgen Boysen geboren.7 Der Flecken Heide war mit dem ihn umgebenden Kirchspiel Teil der Landschaft Norderdithmarschen, die wiederum seit 1773 zum dänischen Gesamtstaat gehörte und als Landschaft durch Privilegien erworbene Selbstverwaltungsrechte genoss, die der Region durch die Gottorfer Herzöge infolge der Niederlage Dithmarschens 1559 und der Zweiteilung des Landes im Jahr 1581 verliehen worden waren. Norderdithmarschen bestand aus einem föderativen System von elf Kirchspielen, denen unterschiedliche Verfassungen und Wahlrechtsmodi zugrunde lagen und deren Vertreter – die Kirchspielvögte und die Landesgevollmächtigten – mit dem sogenannten Landespfennigmeister und dem Landvogt die Landesversammlung bildeten, in der nach dem Kuriatstimmrecht, also kirchspielsweise, abgestimmt wurde. Die Beamten wurden lebenslänglich in ihre Bedienungen eingesetzt. Die Selbstverwaltungsrechte zeigten sich besonders in dem Privileg des Indigenatsrechts der Land- und Kirchspielvögte, die geborene Dithmarscher sein mussten, wonach sich sowohl die Gottorfer Herzöge als auch die dänischen Könige in der Regel richteten. Zudem hatten die Dithmarscher nach ihrer Niederlage im Jahr 1559 folgende wichtige Vorrechte erhalten: die Zollfreiheit, das Recht der Wahl des Propstes, der die Prediger ordinieren und die Visitation vornehmen durfte, die Gewerbefreiheit, die Freiheit von der Einquartierung, die nicht zu den regulären Privilegien zählte, sowie die Autonomie im Deichwesen. Als Boysen am 6. Juni 1803 geboren wurde, begann sich die längere Friedensperiode des dänischen Gesamtstaates allmählich dem Ende zuzuneigen.8 Die politischen wie kriegerischen Auseinandersetzungen während der napoleonischen Kriege von 1792/97 bis 1815 blieben auch für Norderdithmarschen keineswegs folgenlos; so litt die Landschaft bis in die 1830er Jahre hinein unter den finanziellen Pro­blemen, die sich in dieser Zeit angehäuft hatten. Nach dem Besuch der Meldorfer Gelehrtenschule studierte Boysen in Bonn, Heidelberg und Kiel und legte 1824 in Glückstadt sein Examen ab, wo die holsteinischen Jura-Absolventen geprüft wurden.9 Anschließend kehrte er in seine Heimat zurück, wo er eine Anstellung als Landvogteisekretär annahm, die ihm etliche Kenntnisse in der Verwaltung der Landschaft eröffnete.10   7 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 150, Bericht des Landvogts Griebel an den Statthalter Landgraf Carl zu Hessen, 8.3.1828; Dietrich Korth, Mitteilungen zur Familie des Heider Landvogts Paul Johann Friedrich Boysen (1803–1886), in: Zeitschrift Dithmarschen 3 (1978), S. 73‒82, hier S. 77.   8 Korth, Mitteilungen, S. 77.   9 Ebd., S. 78. 10 Ebd.

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Boysen als Kirchspielvogt Nachdem die Büsumer Kirchspielvogtei 1827 vakant geworden war, bewarb sich Boysen neben Möller, dem Sohn des Kirchspielvogts Möller aus Hemmingstedt, und Paulsen, dem Sohn des verstorbenen Kirchspielschreibers Paulsen, um diese Stelle.11 Er erhielt dazu von dem Landvogt Griebel ein äußerst günstiges Gutachten, das dieser an den Statthalter Carl zu Hessen am 8. März 1828 sandte, um Boysen bei seiner Bewerbung zu unterstützen. Schon hier wurde Boysens außerordentliches Talent in Verwaltungsdingen hervorgehoben. So sei er trotz seiner 24 Jahre „an Gesetztheit und bedachtsamer Umsicht seinem jugendlichen Alter in einem seltenen Grade vorgerückt.“12 Nach seinem Dienst als Landvogteisekretär habe er weitergehende Erfahrungen gesammelt, denn „jetzt hält er sich auf bei dem Kirchspielvogt Mohr in Wesselburen, welchem er auf dessen Ansuchen behülflich ist, die dortigen ziemlich verwickelten und in bedrückenden Zustand gerathenen Kirchspielvogteigeschäfte aufzuräumen.“13 Nach Griebel habe Boysen außerdem die Gelegenheit genutzt, „mit dem Geschäftswesen der hiesigen Unterbeamte[n], namentlich der Kirchspielvögte, bekannt zu werden.“14 Nicht zuletzt dieses günstige Bewerbungsschreiben dürfte dazu geführt haben, dass Boysen mit dem Amt des Büsumer Kirchspielvogts betraut wurde, womit umfangreiche Aufgaben einhergingen.15 In dieser Funktion wurde er in der Landesversammlung vom 30. September 1833 zu einem der ständigen Mitglieder der wichtigen Revisionskommission gewählt, deren Zweck es war, die landschaftlichen Hebungen zu kontrollieren.16 Boysens fruchtbarste Jahre als Norderdithmarscher Beamter fielen in eine Zeit des Aufbruchs und der Reformen in Dänemark, im Herzogtum Holstein, aber auch in der Region Norderdithmarschen: Nach der französischen Julirevolution von 1830 und der Etablierung von Provinzialständeversammlungen in den Herzog­tümern Schleswig und Holstein kam es auch hier vermehrt zu Reformwünschen. So wurde fortan verstärkt über die lebenslange Amtsdauer von Beamten, die Trennung der Administration von der Justiz und die Abschaffung des Kuriatstimmrechts diskutiert. An den verschiedenen Standpunkten kann deutlich gemacht werden, welche politischen Ansichten die Beamten vertraten. Besonders die Aufnahme von Verhandlungen über die Aufhebung der Zollfreiheit sorgten in der Landschaft für etliche Querelen. Bereits 1808 und dann wieder seit 1831 gab es Beratungen in den Landesversammlungen und Verhandlungen mit der Landesherrschaft, unter welchen Bedingungen die Landschaft bereit sei, dieses Privileg aufzugeben. Schon während seiner Zeit als Kirchspielvogt hatte sich Boy11 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 150. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Vgl. zu den Aufgaben der Kirchspielvögte insb. Friedrich Lemke, Die frühere stattlich politische Verfassung Dithmarschens. Ein heimatgeschichtlicher Beitrag, Heide 1927, S. 53 f. 16 Vgl. LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Nr. 19: Landesschlussprotokoll, 30.9.1833.

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sen gegen eine von der dänischen Landesherrschaft initiierte Aufhebung des Zollprivilegs gewandt. Bis 1835 konnte man sich jedoch nicht über die Modalitäten einigen, wobei es in erster Linie darum ging, ob die für die Zollfreiheit gezahlten 100.000 Reichstaler (Rtl.) zurückgezahlt und die jährlich zu entrichtenden 1.000 Rtl. Cronen wegfallen sollten. In der Landesversammlung vom 15. Dezember 1835 schlug Boysen vor, bei den in Itzehoe versammelten Provinzialständen eine Rechtsverwahrung wegen der Zollabhandlung einzureichen, um die Privilegien der Landschaft zu unterstützen.17 Dieser Vorschlag stieß auf eine allgemeine Zustimmung, woraufhin Boysen gemeinsam mit dem Landespfennigmeister Griebel und dem Landessekretär Ottens die Rechtsverwahrung in Angriff nehmen sollte – die Maßnahme blieb allerdings erfolglos. Noch während der laufenden Verhandlungen gelang Boysen ein weiterer Karriereaufstieg, nachdem Landvogt Griebel am 19. Dezember 1837 mitgeteilt hatte, dass er wegen mehrjähriger Krankheit seine Entlassung erbeten und dafür die Zustimmung erhalten habe.18

Boysen als Norderdithmarscher Landvogt und seine Haltung zur dänischen Landesherrschaft Die Kirchspielvögte Boysen und Arens wurden von der Landesversammlung gewählt, um die Amtsgeschäfte des Landvogts vorerst kommissarisch wahrzunehmen. In der Bestätigung der Gottorfer Regierung vom 18. Januar 1838 hielt man sich aber nicht an den Vorschlag der Landesversammlung, da nur Boysen die Landvogtei interimistisch übertragen wurde.19 Dies lässt darauf schließen, dass man sich seitens der Regierung wohl schon zu diesem Zeitpunkt dafür entschieden hatte, den Büsumer Kirchspielvogt länger im Amt der Landvogtei belassen zu wollen. Da Boysen nun de facto nicht mehr die Ämter des Kirchspielvogts ausführen konnte, musste für dieses Amt so lange ein anderer Amtsträger ernannt werden, bis die Verhältnisse geklärt waren. Ab dem 18. Januar 1838 verwaltete zunächst der Norderwöhrdener Kirchspielvogt Engelbrecht das Büsumer Kirchspiel.20 In seiner neuen Funktion verhandelte Boysen auch federführend mit der Landesherrschaft hinsichtlich der Aufgabe des Privilegs der Zollfreiheit und der dafür für die Landschaft zu erhaltenden Gegenleistungen. Ohne zu einem Abschluss der Verhandlungen gekommen zu sein, wurde die für beide Herzogtümer gültige Zollverordnung zum 1. Januar 1839 in Kraft gesetzt, sodass es in der Silvesternacht zu regionalen Unruhen kam. Dabei ergriff der Landvogt durchaus Partei für das Volk und 17 Vgl. LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 19. Vgl. zum Folgenden Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 313‒344. 18 LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 19. Vgl. ferner das Landesschlussprotokoll, 19.12.1837, das in der Dithmarsischen Zeitung, Nr. 3 (20.1.1838), abgedruckt wurde. Zum Wechsel in der Landvogtei siehe auch LASH, Abt. 49, Nr. 4927, Abt. 101 IV A II, Nr. 92; LASH, Abt. 80, Nr. 950; sowie LASH, Abt.101 IV A II, Nr. 69a, Extrakt aus dem Landesschlussprotokoll. 19 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 93. 20 Zur Umbesetzung in der Büsumer Kirchspielvogtei vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 151.

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wandte sich wiederholt gegen die missliebigen landesherrschaftlichen Zollbeamten. Am 1. Januar 1839 berichtete Boysen von den Unruhen, die er als einen Umzug des „Niederen Pöbels“, als einen „Volkshaufen, der sich friedfertig zeigte“, bezeichnete.21 Dagegen schilderte Deichinspektor von Christensen, dem man vorwarf, Zollbeamte in seinem Haus aufgenommen zu haben, die Tumulte mit äußerst drastischen Folgen für seine Person. Nach Boysen hätten die Demonstranten den Deichinspektor jedoch in keiner Weise beleidigt; zudem, so der Landvogt in einem Bericht vom 4. Januar 1839, sei Christensen in der Landschaft äußerst unbeliebt, was diesen wohl auch zu etlichen Übertreibungen veranlasst habe.22 Diese Auffassung wurde durch den Heider Kirchspielvogt Dührsen am 11. Januar 1839 bestätigt, der in einem Schreiben vermerkte, ihm sei nicht bekannt, dass der Deichinspektor „in der Neujahrsnacht von dem versammelten Volkshaufen auf irgend eine Weise insultirt“ worden sei, obgleich er sich „fast während der ganzen Zeit unter und in der Nähe der Volksmenge“ aufgehalten habe.23 Auch anderweitig habe er selbst, Dührsen, von derartigen Ausfällen keine Kenntnis. Die Ethnologin Silke Göttsch-Elten hat bereits 1995 in einem Aufsatz die unterschiedlichen Sichtweisen von Landvogt Boysen und Deichinspektor von Christensen erläutert, indem sie deutlich machte, dass Boysen vorrangig die Heider Bürger verteidigt habe.24 Weiterhin war ihm offenbar daran gelegen, diese zu entlasten – wie auch einem Schreiben vom 15. Januar 1839 entnommen werden kann, in dem Boysen der Dank für seine Unterstützung ausgesprochen wird und das von mehr als 140 Personen unterschrieben wurde.25 Demnach habe er durch „weise Mäßigung und persönliches Auftreten“ ein unnötiges Blutvergießen verhindern können.26 Schließlich kam auch die Regierung in Gottorf zu dem Schluss, dass Christensens Schilderung nicht den Tatsachen entspreche, was überdies eine Maßregelung zur Folge hatte, da dessen Bericht am 5. Januar im Kieler Correspondenzblatt abgedruckt worden war.27 Zugleich wird an dem Vorgang deutlich, dass Boysen sich nicht zu schade war, gegen andere landesherrliche Beamte vorzugehen. Dabei unterstützte er auch Unterbeamte, etwa als es um die Kritik des Oberzollbeamten Pechtau an der Unter-

21 Vgl. LASH, Abt. 49, Nr. 1895II; Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 326. 22 „Dieser schon früher bei der Mehrzahl seiner Mitbürger wenig beliebte Beamte hat sich durch verschiedene Aeußerungen über die Ereignisse in der Neujahrsnacht noch mehr wie früher verhaßt gemacht und ist allerdings in Gefahr, persönliche und unangenehme Aeußerungen des Unwillens seiner Mitbürger über sein Benehmen zu erleiden.“ Vgl. LASH, Abt. 49, Nr. 1895II, Bericht Boysens, 4.1.1839. 23 Vgl. LASH, Abt. 49, Nr. 1895II, Bericht Dührsens, 11.1.1839. 24 Vgl. Silke Göttsch, „… ebenso unpassend wie lächerlich …“. Feier wegen Hemmingstedt, 17. Februar 1839, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 27 (1995), S. 45‒57, hier S. 49. Siehe auch Kieler Correspondenzblatt, Nr. 2 (5.1.1839), S. 7 f. 25 Vgl. das Beiblatt der Dithmarsischen Zeitung (26.1.1839). 26 Ebd. 27 Vgl. dazu ausführlich LASH, Abt. 49, Nr. 1895; LASH, Abt. 65.2, Nr. 4397. Christensens Bericht erschien im Kieler Correspondenzblatt, Nr. 2 (5.1.1839).

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suchungspraxis des Kirchspielvogts Dührsen wegen einiger Vorfälle im Rahmen der Zollfreiheit ging: Schließlich bemerke ich rücksichtlich des so eben mir zugegangenen Berichts des Herrn Kirchspielvogts über die in Veranlassung der qu. Angelegenheit zwischen Ihnen und dem Oberzollinspektor, Rittmeister von Pechtau entstandenen Differenzen, daß ich Ihr in dieser Sache dem gedachten Zollbeamten beobachtetes Verhalten nicht tadeln kann und alle Prätensionen desselben, die auf einen Einfluß auf die Polizei und Criminalrechtpflege Bezug haben mögten, zurückweisen, und es stets für meine Pflicht halten werde, die Ehre und die Stellung Civilbehörde dem Zollpersonal gegenüber zu behaupten und in den Augen des Publicums und der vorgesetzten Behörde mit Nachdruck zu vertreten.28

Deutlich tritt aus diesem Zitat auch die Meinung eines Mannes hervor, der willens war, die heimatliche Verwaltung vor landesherrlichen Einflüssen zu schützen, wobei man nicht vergessen darf, dass Boysen zu dieser Zeit nur interimistisch als Landvogt amtierte. In seiner ambivalenten Stellung zeigt er sich hier also weniger als landesherrlicher, denn als ein in der Landschaft verwurzelter Beamter, der die Belange der Einwohner vertrat. Obwohl es Norderdithmarschen gelang, in Bezug auf die Zollfrage eine Übereinkunft mit der Landesherrschaft zu erreichen, hatte die Aufgabe des Zollprivilegs innenpolitisch für große Unruhe gesorgt. Nach dem Tod des dänischen Königs Friedrich VI. wurde innerhalb des Landesvorsteherkollegiums sogar darüber diskutiert, ob man überhaupt eine Deputation zu den Krönungsfeierlichkeiten des neuen Königs am 28. Juni 1840 entsenden solle, was die Mehrzahl der Kirchspiele jedoch verneinte.29 Im Folgenden trat nun wieder das diplomatische Geschick Boysens zutage, der die Angelegenheit in der Landesversammlung vom 16. Juni 1840 erneut auf die Tagesordnung brachte, da er einerseits meinte, gehört zu haben, dass der König derartigen Abordnungen positiv gegenüberstehe, andererseits auch Süderdithmarschen eine Deputation zu den Krönungsfeierlichkeiten entsende.30 Boysens Vorschlag wurde schließlich mehrheitlich stattgegeben; unter den Gesandten befand sich dann auch der Landvogt. Dass Boysen durchaus liberale Ansichten vertrat, wird in einem Bericht an die Regierung vom 30. Juli 1841 deutlich.31 So konstatierte er in Bezug auf die Wahlmodi 28 Stadtarchiv Heide (StAH), Abt. I, Nr. 740, Schreiben Boysens an Kirchspielvogt Dührsen, 29.1.1839. 29 Vgl. Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 331 f. 30 Vgl. LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 20. Inwieweit Boysen karrieristische Motive verfolgte, lässt sich den Quellen leider nicht entnehmen. Diese Motive dürften für ihn jedoch keine unwichtige Rolle gespielt haben. 31 Vgl. LASH Abt. 65.2, Nr. 4368. Die im Folgenden geäußerten Nachteile der Verfassung macht Boysen auch in seiner Büsumer Chronik deutlich, wozu er „die lebenslängliche Amtsdauer der Vollmachte und Vorsteher, die Ausschließung der kleineren Landbesitzer von aller Theilnahme an der Wahl ihrer Vertreter, sodann den Mangel des Ineinandergreifens der allgemeinen

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in den Kirchspielvorsteherkollegien, „daß das Selbstergänzungsrecht des Grundprinzips der Wahrheit und Gerechtigkeit entbehre, weil demselben a) die innere […] Bildung zum selbständigen Handeln fehle […].“32 Noch deutlichere Kritik an der Kooptation äußert Boysen in einem weiteren Abschnitt: Zu leicht bildet sich in einem Collegio, welches sich selbst ergänzt, ein gewisser Kastengeist, […] der zur Verhandlung stehende Gegenstände ausschließt. Fast unvermeidlich wird die Wahl neuer Vorsteher auf eine gewisse Einwohnerclasse beschränkt und jeder andere, der nicht mit den vorhandenen Vorstehern befreundet ist, von der Wahl ausgeschlossen. […] Dadurch sind häufig Klagen über eine unverhältnismäßige Vertheilung der Steuern hervorgerufen, die nicht immer ganz unbegründet seyn mogten, und das Vorstehercollegium kann schwerlich behaupten, daß es stets das Vertrauen seiner Committenten gehabt habe, daß seine Wahlen immer zur Zufriedenheit der Gemeinde ausgefallen seyn und Leute getroffen haben, die des Amtes würdig und nicht anderen vorgezogen waren, die eines allgemeineren Ansehens sich erfreueten.33

Mit diesen Ausführungen bezog er sich auf einen aufstrebenden, politisch interessierten Bürgerstand in der Region, der seiner Meinung nach an der Verwaltungstätigkeit partizipieren müsse.34 Zugleich wandte er sich aber gegen das ausgedehnte Präsentations- und Wahlrecht, womit er letztlich einem Zensuswahlrecht Vorschub leistete. Die lebenslängliche Amtsdauer der Kirchspielrepräsentanten wies er zudem zurück, da es den ersten Grunderfordernissen einer guten Repräsentationsverfassung widerspreche, die Repräsentanten der Commune lebenslänglich zu ernennen, und der Gemeinde das Recht zu nehmen, anstatt solcher Vertreter, die das Vertrauen der Gemeinde im Laufe der Zeit verlieren, sich desselben nicht mehr würdig zeigen und gegen die Wünsche und Interessen der Gemeinde handeln, neue zu wählen.35

Im Sinne einer modernen Realpolitik lehnte er jedoch punktuelle Reformen ab und wies darauf hin, dass es nicht sinnvoll sei,

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Kirchspielscommune und der kleineren, namentlich der Bauerschaftscommunen, wodurch leicht eine gewisse Opposition hervorgerufen und ein kräftiges Wirken für gemeinsame Zwecke erschwert wird“, zählt. Vgl. Boysen, Büsum, S. 206. Darüber hinaus sprach er sich für eine Vereinfachung des Steuerwesens aus, um damit die Kosten der Hebung zu minimieren. Vgl. zum Folgenden auch Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 267 f. LASH, Abt. 65.2, Nr. 4368, Bericht Boysens an die Regierung, 30.6.1841, S. 28. Die Kirchspielvorsteherkollegien verwalteten ein Kirchspiel und bestanden aus dem Kirchspielvogt, den beiden Landesbevollmächtigten und einer unterschiedlichen Zahl von Deputierten Ebd., S. 32. Zur Definition des Bürgertums vgl. Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009. LASH, Abt. 65.2, Nr. 4368, Bericht der Landesversammlung, 30.7.1841.

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in einem einzelnen oder einigen wenigen[,] wenn auch wesentlichen Punkten, wie es die jetzigen Supplicanten beabsichtigen, Veränderungen in der Verfassung der Landschaft und deren einzelnen Kirchspielen auszuführen, da unsere ganze Gemeindeverfassung einer zeitgemäßen Reform und Ordnung bedarf.36

Nachdem mehrjährige Verhandlungen hinsichtlich einer Trennung der Administration von der Justiz keine Erfolge gezeitigt hatten, regte Boysen auf der Landesversammlung vom 9. Juli 1842 an, dieses Thema bei der anstehenden Reise des Königs durch Norderdithmarschen erneut zur Sprache zu bringen.37 Nach eingehender Prüfung teilte die Gottorfer Regierung der Landvogtei im Juli des Folgejahres schließlich mit,38 dass man grundsätzlich nichts gegen eine Trennung der beiden Bereiche habe. Der Bogen wurde geschlossen, als Boysen 1845 zum ordentlichen Landvogt ernannt wurde,39 was er dem Landesvorsteherkollegium am 23. Oktober 1845 mündlich mitteilte.40 In diesem Zusammenhang gab er außerdem bekannt, dass der König eine Trennung der Justiz von der Administration genehmigt habe, weshalb er für die Justizverwaltung demnächst einen neuen Beamten vorschlagen werde – allerdings kam es bis zum Beginn des Deutsch-Dänischen Krieges 1864 zu keiner entsprechenden Ernennung.

Boysen und die schleswig-holsteinische Erhebung Nachdem Boysen am 1. Oktober 1845, nach sieben Jahren kommissarischer Amtsführung, endgültig zum Landvogt ernannt worden war, avancierte er bald zu einer 36 Ebd. 37 Vgl. LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 20: Landesschlussprotokoll vom 9.7.1842; abgedruckt in der Dithmarsischen Zeitung vom 15.10.1842, Nr. 42. 38 Vgl. LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 20: Landesschlussprotokoll vom 20.7.1843; abgedruckt in der Dithmarsischen Zeitung vom 5.8.1843, Nr. 31. 39 Die Bestallung findet sich unter LASH, Abt. 80, Nr. 71: „Bis die durch Unsere allerhöchste Resolution vom 29sten September v. J. beschlossene Trennung der Verwaltung der Justiz von dem bisherigen Geschäftskreise der Landvogtei zur Ausführung kommt, soll er bei Behandlung der Rechtssachen die Gerechtigkeit gebührend, ohne Ansehen der Person, handhaben.“ Er erhielt ein jährliches Gehalt von 396 Rbtl. oder 247 Rtl. 24 ß Cour. aus der Finanzkasse und als Inspektor des Carolinenkooges ein jährliches Gehalt von 100 Rbt. oder 62 Rthl. 24 ß Cour. aus der Koogskasse. Hierbei verpflichtete er sich, sich die „von Uns durch Unsere obengedachte allerhöchste Resolution vom 29sten September d. J. beschlossene Trennung der Verwaltung der Justiz von dem bisherigen Geschäftskreise der Landvogtei, so wie überhaupt jede allerhöchst beschlossene Veränderung […] gefallen zu lassen.“ Die künftige Einnahme sollte nicht niedriger als 3.200 Rbtl. sein. Zudem macht W. Dührsen in dem kurzen Lebenslauf deutlich, den er als Herausgeber von Boysens Chronik vorangestellt hat, dass der König Christian VIII. selbst bei einem Besuch der Landschaft die endgültige Ernennung vornahm. Vgl. Boysen, Büsum, S. VII. 40 Vgl. LASH, Abt. 101, Manuskripte, Bd. 20; abgedruckt in der Dithmarsischen Zeitung vom 28.2.1846, Nr. 9.

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bestimmenden Figur der schleswig-holsteinischen Erhebung in Norderdithmarschen.41 Infolge der Anordnung Christians VIII. 1846, dass fortan in den Herzog­ tümern die weibliche Erbfolge gelten solle, kam es in Schleswig und Holstein vermehrt zu Protesten und Widerständen, sodass sich die Schleswig-HolsteinLauenburgische Kanzlei am 16. Juli 1846 zu einer Reaktion genötigt fühlte: Es werde im allgemeinen vorausgesetzt werden dürfen, daß die Unterthanen diese allerhöchste Kundgebung mit der schuldigen Ehrerbietung entgegen nehmen und ihr Verhalten darauf einrichten würden. Sollten gleichwohl unzulässige Demonstrationen in dieser Hinsicht unternommen werden, so werde denselben mit demjenigen Ernst und Nachdruck zu begegnen seyn, welche die Wichtigkeit der Sache erfordern.42

Darüber hinaus wurden die Kirchspielvögte aufgefordert, der Landvogtei vom 11. September 1846 an mitzuteilen, ob es in den Kirchspielen Versammlungen gebe, die auf die politischen Verhältnisse zielten – derlei Zusammenkünfte waren seit dem 31. Juli 1846 verboten.43 Vom 16. September bis zum 13. Oktober 1846 musste Landvogt Boysen sogar wöchentlich über alle Vorkommnisse sowie über die getroffenen Maßnahmen an die Gottorfer Regierung Bericht erstatten.44 Die mit der Zensur befassten Behörden – in Norderdithmarschen war Boysen dafür zuständig – wurden zudem am 16. September 1846 noch einmal explizit aufgefordert, die Presse gewissenhaft zu prüfen.45 Boysen scheint dies jedoch nur halbherzig verfolgt zu haben. Nachdem am 28. August 1846 ein landvogteiliches Rundschreiben an die Kirchspiele zum Verbot der Schrift einiger Heidelberger Professoren, die sich zum Vorfall geäußert hatten, ergangen war, wandte sich der Heider Kirchspielvogt Dührsen am 6. September des Jahres an den Landvogt als den Vorsitzenden des Heider Bürgervereins und klagte, dass die verbotenen Schriften beim Bürgerverein ausgelegt worden seien und dies dem Landvogt als dem polizeilich Verantwortlichen, der aber auch gleichzeitig als Vorsitzender des Bürgervereins für diesen Missgriff verantwortlich gemacht wurde, anzuzeigen sei.46 Schließlich wurde der Streit beigelegt, der überdies deutlich macht, wie ablehnend Boysen den dänischen

41 Vgl. LASH, Abt. 65.2, Nr. 4369, sowie LASH, Abt. 101 II, Manuskripte, Bd. 20: Landesschlussprotokoll vom 23.10.1845, abgedruckt in der Dithmarsischen Zeitung vom 28.2.1846, Nr. 9. 42 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A IV, Nr. 15. Vgl. auch Dörte Wiedemann, Norderdithmarschen und die Erhebung 1848, in: Zeitschrift Dithmarschen 2 (1977), S. 29‒56, hier S. 32. 43 Zum Folgenden vgl. Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 345 f. Die von Wiedemann, Norderdithmarschen, S. 32, gemachte Aussage bezieht sich jedoch nur auf ein Schreiben des Kirchspielvogts Dührsen vom 14.9.1846. 44 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A IV, Nr. 15; Wiedemann, Norderdithmarschen, S. 32. 45 Vgl. StAH, Abt. 1, Nr. 164. In einem Schreiben vom 30.6.1845 war Boysen mit der Wahrnehmung der Zensur beauftragt worden und ernannte Kirchspielvogt Dührsen im Falle seiner Abwesenheit zu seinem Stellvertreter. 46 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A IV, Nr. 15; Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 346 f.

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Vorschlägen gegenübergestanden haben dürfte, da er zunächst nicht gegen diese Bücherauslagen vorgegangen war.47 Infolge der schleswig-holsteinischen Erhebung 1848 kam es im März des Jahres zu einer Versammlung in Rendsburg, an der auf Einladung des lokalen Bürgervereins auch 40 Personen aus Heide teilnahmen.48 Unter ihnen befand sich Kirchspielvogt Johannsen aus Lunden, den Boysen beauftragt hatte, mitzufahren und am 19. März vor der Landesversammlung Bericht zu erstatten.49 Deutlicher wird Boysens Rolle aus seinem Bericht an die Regierung in Gottorf vom 24. März, in dem er sich zu tumultartigen Zuständen bei Zusammenrottungen am 21. März in Heide äußerte. Den Grund des Aufruhrs meinte Boysen zunächst „in der allgemeinen politischen Aufregung und in dunkeln unklaren Hoffnungen der unteren Volksklassen auf Verbesserung ihrer allerdings trüben und unglücklichen Lage durch Staatsumwälzungen“ zu sehen, gab dann jedoch zu bedenken, „daß einzelne hiesige Bürger am vorigen Freitag in einer zahlreich besuchten Versammlung auf eine etwas unvorsichtige Weise zur Theilnahme an der Rendsburger Versammlung aufgefordert und sich in nicht geringer Zahl dorthin begeben hatten“.50 Anschließend schwächte er die politische Sicht jedoch ab, indem er meinte, dass die nächste Absicht gewesen zu sein scheine, „sich einen unrechtmäßigen Gewinn im Tumult zu verschaffen, und die ärmere Volksklasse durch Aussicht auf eine zu erzwingende Geldvertheilung aus öffentlichen Kassen zur Theilnahme an Excessen zu verleiten“. Im Folgenden nannte er sogar einen „Krugwirth“ als „Hauptanstifter“, der mit einigen seiner Gäste, die „wegen ihrer Neigung zu Schlägereien und Unfug verrufen sind“, die Unruhen forcieren wolle, dessen Meinung aber bei dem Volksauflauf nicht aufgenommen worden sei. Wieder, wie schon 1839, versuchte er deeskalierend zu wirken. Festzustellen ist aber auch, dass er sich bemühte, politisch motivierte Aufstände herunterzuspielen und sozial zu begründen. Als Folge gab Boysen am 22. März 1848 bekannt, dass alle Bürger darauf zu achten hätten, „daß von 8 Uhr abends an ihre Kinder, Lehrjungen und Dienstboten das Haus nicht ohne ihre Zustimmung und ohne einen von dem Familienhaupt als begründet anerkannten Grund verlassen“51 dürften und sie sich „des Zusammenrot47 Deutlich wird dies besonders in der Zurechtweisung Dührsens durch Boysen. Vgl. LASH, Abt. 101 IV A IV, Nr. 15, Brief Boysens an Dührsen, 11.9.1846: „[…] muß ich Ihnen erwidern, daß der Oberbeamte zu beurtheilen hat, ob und welche ihm untergebenen Beamten zu ertheilenden Instruktionen, Weisungen er für erforderlich und zweckmäßig erachtet; daß daher auch die Lvtei [Landvogtei, Anm. d. Verf.] deren Befolgung gewärtigt, und Ihnen unbehörige Demonstrationen, wie Ihre heutige, worin Sie meine Stellung als Oberbeamter resp. zu Ihnen und zu dem Bürgerverein mit einander vermengen, ernstlich verweisen muß.“ 48 Vgl. Georg Marten und Karl Mäckelmann, Dithmarschen. Geschichte und Landeskunde Dithmarschens, Heide 1927, S. 317. 49 In der Dithmarsischen Zeitung vom 25.3.1848 ist ein ausführlicher Bericht über die Vorgänge abgedruckt, in dem eine gewisse Sympathie für die revolutionären Ereignisse fassbar wird. Vgl. ebd., S. 317. 50 LASH, Abt. 49, Nr. 1895I (115a). Dort findet sich auch das folgende Zitat. Vgl. Wiedemann, Norderdithmarschen, S. 34; Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 350. 51 StAH, Abt. 1, Nr. 171, Bekanntmachung Boysens, 22.3.1848.

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tirens auf dem Markt und den Straßen zu enthalten“52 hätten. Der Landvogt organisierte die nächtliche Überwachung in dem Flecken. Die Unruhen wiederholten sich jedoch nicht, weshalb Boysen bereits am 24. März des Jahres die Polizeigehilfen entließ.53 Weiterhin stellte er es jedem Staatsbürger sogar frei, sich der Provisorischen Regierung anzuschließen. Er selbst hatte sich dafür ausgesprochen, dieselbe anzuerkennen, womit er sich gegen den dänischen König positionierte – was überdies dadurch sichtbar wird, dass er fragte, ob die Beamten der Provisorischen Regierung „als Diener der Landschaft sich ihr unterwürfen“. Klar erkennbar erfolgte damit die Abgrenzung gegenüber Dänemark – eine Haltung, die im Wesentlichen zu seiner späteren Absetzung geführt haben dürfte. Auch an zwei weiteren Maßnahmen werden seine Ansichten deutlich, denn er sorgte für eine Benachrichtigung der im Jahr 1848 ausgehobenen Landsoldaten durch die Kirchspielvögte. Die ersten Freiwilligen sollten sich bereits am 25. März nach Rendsburg begeben.54 Und als Ende August 1848 das 9. Schleswig-Holsteinische Bataillon in Heide einrückte, hielt Boysen eine kurze Ansprache, in der er die Verdienste der Freiwilligen lobte und ein Hoch auf diese ausbrachte, was nicht zuletzt seine Sichtweise der Dinge hervorhebt, die deutlich der schleswig-holsteinischen Sache zugetan war. Trotz aller durch die Erhebung hervorgerufenen Probleme fand Boysen noch ausreichend Zeit, sich persönlich einiger Verfassungsänderungen in der Landschaft anzunehmen, und sandte am 6. August 1848 ein Rundschreiben an die Kirchspielsvorsteherkollegien,55 in dem er sich mit der Lebenslänglichkeit der Landesvorsteher und deren Wahl befasste. Darin benannte er etliche Mängel und betonte, dass eine allgemein gültige Landkommunalordnung in hohem Maße erstrebenswert sei. Durch den Tod mehrerer Landesgevollmächtigten hätten ferner die Einwohner der Kirchspiele Lunden und Norderwöhrden auf ein allgemeines Wahlrecht zur Wiederbesetzung dieser Ämter gedrängt. Deshalb schlage er dem Landesvorsteherkollegium und den Kirchspielsvorsteherkollegien folgende Veränderungen vor, bevor es eine neue Kommunalordnung gebe: Beschränkung der Amtsdauer der Vorsteher sowie der Kirchspielschreiber auf fünf Jahre, Wahlrecht für alle Einwohner, welche das 21. Lebensjahr vollendet hätten, nicht unter Kuratel stünden, keine Zuchthausstrafe abgesessen und welche im vergangenen Jahr für sich sowie ihre Ehefrauen die Landes- und Kirchspielanlage entrichtet sowie im letzten Jahr keine Armutsunterstützung genossen hätten. Wählbar sollten alle sein, die das 25. Lebensjahr vollendet hätten. Der Wahl sollte eine Präsentation durch das erweiterte Kirchspielsvorsteherkollegium vorausgehen. Das Landesvorsteherkollegium sollte die bisherige Mitgliederzahl behalten, das Kuriatstimmrecht jedoch aufgehoben werden, sodass jeder in der Versammlung persönlich abstimmen könnte. Bei Stimmengleichheit sollte 52 Ebd.; ferner Wiedemann, Norderdithmarschen, S. 35. 53 StAH, Abt. 1, Nr. 171. Das Schreiben ist nicht nur mit dem entsprechenden Datum, sondern sogar mit der Uhrzeit versehen, nämlich „Nachmittags 5 Uhr“, was letztlich die Schnelllebigkeit der Ereignisse zeigt. 54 LASH, Abt. IV D II, Nr. 41; Wiedemann, Norderdithmarschen, S. 35. 55 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 24.

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in der Landesversammlung die Stimme des Landvogts und in der Kirchspielsversammlung die des Kirchspielvogts als ausschlaggebende Stimme gelten. Die Versammlungen sollten öffentlich und nur auf Antrag geheim sein. Diese Vorschläge Boysens zusammen mit seiner Haltung zur schleswig-holsteinischen Erhebung sagen viel über seine politische Einstellung aus; hier zeigen sich vor allem seine liberalen Ideen, indem er eine Beschränkung der Amtsdauer der Beamten und ein allgemeines Wahlrecht sowie öffentliche Versammlungen forderte. Damit war er noch über seine Vorstellungen des Jahres 1841 hinausgegangen. Mit seinen Forderungen stand er zwar nicht den Vorstellungen der dänischen Landesherrschaft entgegen, offenbarte sich aber durchaus als kritischer Geist auf dem Boden eines erstarkenden Antidänentums. Die Beschlussfassungen reichten von allgemeiner Zustimmung Heides und Delves bis zur kompletten Ablehnung durch das Kirchspiel Wesselburen.56 An dieser Stelle werden erneut die Schwierigkeiten des föderalen Norderdithmarscher Systems deutlich, sodass Boysen sich letztlich mit seinen Forderungen nicht durchzusetzen vermochte, aber sich trotzdem Respekt und Ansehen mit seinen modernen Ansichten in der Landschaft verschaffte. Der bereits am 26. August 1848 geschlossene Waffenstillstand zu Malmö führte zum Rücktritt der Provisorischen Regierung und der Bildung einer Gemeinsamen Regierung, die vom 22. Oktober 1848 bis zum 26. März 1849 als oberste Exekutivbehörde der Herzogtümer fungierte und in die Landvogt Boysen im Oktober 1848 berufen wurde.57 Nach deren Auflösung kehrte er nur für kurze Zeit nach Heide zurück, da er am 14. April 1849 das Ministerialdepartement des Innern übernahm.58 Dieses Amt hatte er bis zum 1. Februar 1851 inne und verwaltete vom 6. Oktober bis zum 4. Dezember 1849 zusätzlich noch das Departement des Krieges.59 Der dann wieder in sein ursprüngliches Amt zurückgekehrte Landvogt Boysen60 machte am 31. Mai 1851 mit einem Bericht deutlich, wie realistisch er Veränderungen einschätzte, womit er gar der Meinung des vormaligen Interimslandvogts Dührsen, der Boysen während seiner Abwesenheit vertreten hatte, widersprach: Die Gemeindeverfassung der Landschaft und der Kirchspiele leidet an zu vielen Mängeln, als daß es nicht wünschenswerth wäre, denselben sei es auf einmal oder successive abzuhelfen. Einer allgemeinen gleichmäßigen Umgestaltung für alle Communen stellen sich aber so viele Hindernisse entgegen, daß man sie nicht als nahe bevorstehend betrachten kann.61 56 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 24. Die jeweiligen Protokollextrakte ganz unterschiedlichen Umfangs wurden von den Kirchspielvogteien an die Landvogtei geschickt. 57 Vgl. dazu Marten/Mäckelmann, Dithmarschen, S. 322 f.; Boysen, Büsum, S. VIII; Gerd Stolz, Die schleswig-holsteinische Erhebung. Die nationalen Auseinandersetzungen in und um Schleswig-Holstein von 1848/51, Husum 1996, S. 100 f., 192. 58 Vgl. Boysen, Büsum, S. VIII. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd. 61 LASH, Abt. 80, Nr. 5413.

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Ein Visionär war er nicht. Er zeigte sich hier wieder als Realpolitiker, der seine Ansichten modifiziert hatte und nun meinte, selbst punktuelle positive Veränderungen könnten Nachahmer in den Institutionen finden, wodurch eine allmähliche Verbesserung eintreten werde. Die Landesherrschaft forderte nun aber von etlichen Beamten, ihre Bestallungen erneuern zu lassen, da man ihnen vorwarf, nicht zur dänischen Landesherrschaft gestanden zu haben. In einem Rundschreiben vom 26. April 1852 wies Boysen den Landespfennigmeister Griebel, den Landsekretär Ottens und den Kirchspielschreiber Volquarts darauf hin, dass sie ihre Gesuche um Verbleib in ihren Ämtern an die Landvogtei richten mögen, die diese dann an das Departement des Innern weiterleiten würde, da er von diesem auf seine Nachfrage noch keine Antwort erhalten habe.62 Das prominenteste Opfer dieser Entlassungswelle von unerwünschten Beamten war Boysen selbst. Dem Landesherrn war wohl dessen Engagement während der schleswig-holsteinischen Erhebung bekannt geworden. So verfügte das Departement des Innern am 15. Juni 1852: Nachdem das Gesuch des Landvogts Boysen in Heide um Bestätigung der ihm seiner Zeit ertheilten Allerhöchsten Bestallung zur Gewährung nicht geeignet befunden, ist demselben unterm heutigen Datum in Gemäßheit Schreibens des Königlichen Ministeriums […] eröffnet worden, daß er seine Funktionen sofort einzustellen habe.63

Kirchspielvogt Johannsen wurde die interimistische Verwaltung der Landschaft übertragen. Schon in der Landesversammlung vom 18. August 1852 war Boysen nicht mehr anwesend und Landespfennigmeister Griebel verlas während der Sitzung dessen Abschiedsworte.64

Boysen als Bürgermeister in Hildesheim Boysen schuf sich schon kurz darauf eine neue Wirkungsstätte. Bereits Anfang 1853 übernahm er das Bürgermeisteramt in Hildesheim,65 das er 22 Jahre lang verwaltete. Hier verfasste er auch einige literarische Werke und wurde 1871 sogar zum Ober-

62 Im Gesetzblatt für das Herzogtum Holstein vom 20.4.1852 werden die Bestimmungen des Patents genauer spezifiziert. Siehe LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 75. Zu Boysen vgl. Mißfeldt, Norderdithmarschen, S. 359 f. 63 LASH, Abt. 101 IV A II, Nr. 93. Die von Boysen eingezogene Bestallung findet sich in den Akten des Ministeriums für die Herzogtümer Holstein und Lauenburg. Siehe dazu LASH, Abt. 80, Nr. 71. 64 Vgl. LASH, Abt. 101 IV A II, Manuskripte, Bd. 20. 65 Vgl. Boysen, Büsum, S. VIII. Der Herausgeber dieser Chronik, Dührsen, erwähnt in diesem Zusammenhang, dass Boysen auch in Buxtehude einstimmig zum Bürgermeister gewählt worden sei. Dies zeigt sein hohes Ansehen in Verwaltungsdingen. Er zog jedoch die Stelle in Hildesheim vor.

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bürgermeister ernannt, bevor er 1875 in den Ruhestand ging.66 Dührsen, der Boysens Chronik von Büsum herausgegeben hat, zählt etliche Ämter auf, die Boysen in Hildesheim innegehabt hat. Er schuf die neuen Stadtteile im Norden und Osten, forcierte die Anfänge einer Kanalisation, initiierte die Gasbeleuchtung und sorgte für Aufforstungen verschiedener Gebiete67 in einer Stadt, die im 19. Jahrhundert eine wechselvolle Geschichte durchgemacht hat.68 Im Vertrag von Paris 1802 wurde das Hildesheimer Land Preußen zugesprochen und das geistliche Fürstentum 1803 säkularisiert. Nach der Niederlage Preußens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 wurde die Region von Frankreich übernommen und 1807 in das neu entstandene Königreich Westphalen eingegliedert. Napoleons Niederlage 1813 führte dann dazu, dass das Gebiet an Kurhannover übergeben, infolge der Niederlage Österreichs und der Unentschlossenheit Georgs V. 1866 wieder preußisch wurde. Während seiner Zeit als Hildesheimer Bürgermeister hat Boysen ferner sein umfangreiches Werk Schleswig-Holstein’s Verbindung mit dem Preußischen Staat veröffentlicht, das einen generellen Einblick in seine politischen Ansichten und Vorstellungen zur Verwaltungsreform erlaubt. Inwieweit der Autor dabei von den Motiven getrieben war, den neuen preußischen Stadtherren zu gefallen, ist unklar, dies kann jedoch nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden. So gibt die Monographie auch überwiegend die persönliche Einschätzung eines preußischen Beamten wieder, der die dänische Herrschaft über die Herzogtümer Schleswig und Holstein kritisiert. Bereits die einleitenden Worte machen dies mehr als deutlich: Das Ziel seines [gemeint ist Schleswig-Holstein, Anm. d. Verf.] zähen Widerstandes gegen fremdländische Machtgelüste, seines unermüdlichen Kampfes gegen bald gleisnerisch schmeichelnde und schleichende, bald gewaltsam eingreifende Danisirungs-Versuche ist erreicht.69

Weiterhin zeigte er sich als ein preußisch nationaler Zeitgenosse mit kleindeutschnationalen Zielen, wenn er sich auch gegen Österreich wandte.70 So sprach er sich 66 Siehe exemplarisch Ders., Das Hildesheimer Hölting-Buch, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 10 (1877), S. 249‒286; Ders., Das Hildesheimer Mühlending, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 10 (1877), S. 286‒319; Ders., Dat Bok der Bedechtnisse und Des Rades Bok zu Hildesheim, in: Zeitschrift des HarzVereins für Geschichte und Altertumskunde 13 (1881), S. 72‒138; Ders., Einige Nachrichten über die Anfänge des Königreichs Westfalen unter besonderer Berücksichtigung des Fürstbistums Hildesheim, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 17 (1885), S. 58‒73. 67 Siehe dazu beispielhaft Menno Aden, Hildesheim von der Gründung bis heute, Hildesheim 2001. 68 Zum Folgenden vgl. Herbert Reyer, Kleine Geschichte der Stadt Hildesheim, Hildesheim 1999, S. 76‒79. 69 Boysen, Schleswig-Holstein’s Verbindung, S. 5. 70 Ebd.: „Es [Schleswig-Holstein, Anm. d. Verf.] wird dadurch Theil des […] Norddeutschen Staates werden, dessen einköpfiger Adler hoffentlich bald auch seine Fittige über Süddeutschland wenigstens so weit ausbreiten wird, daß nach Beseitigung des bisherigen Dualismus alle

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nun gegen ein selbstständiges Schleswig-Holstein aus, das ihm noch während der schleswig-holsteinischen Erhebung sehr am Herzen gelegen hatte: Es muß zugestanden werden, daß es besser ist, ein unzertrennliches Glied […] eines mächtigen Staates zu bilden, als nur eine ohnmächtige nur scheinbare Selbstständigkeit zu genießen, in der That aber der Spielball verschiedener größerer Staaten zu sein […].71

Diese Einsichten mögen ihm, der nun mit einem gewissen Abstand auf Schleswig-Holstein blickte, aber auch aus der Rückschau auf die politischen Zustände der Herzogtümer gekommen sein. Für die Wahl zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes am 12. Februar 1867 wurde Boysen als Kandidat der preußischen Regierung aufgestellt.72 Er erhielt jedoch lediglich 2.066 Stimmen, wohingegen sein Kontrahent von Warnstedt, der als Kandidat der liberalen Partei angetreten war, 9.957 Stimmen auf sich vereinigen konnte.73 In der neuen preußischen Provinz Schleswig-Holstein galt die Verfassung des Norddeutschen Bundes ab dem 1. Juli 1867.74 Am 13. November 1886 verstarb Boysen im Alter von 83 Jahren in Hildesheim. Mit ihm schied ein Mann aus dem Leben, der die Geschichte Norddeutschlands in vielen Facetten durchlebt hatte. Er war ein angesehener Verwaltungsbeamter, der aber auch seine politischen Ansichten nicht versteckte, was ihn letztlich die Stellung als Norderdithmarscher Landvogt kostete. Aber auch in Hildesheim fasste er schnell Fuß und wurde ein geachteter Bürgermeister. Seine antidänische Haltung, die während der schleswig-holsteinischen Erhebung besonders deutlich wurde, hat er sich zeit seines Lebens bewahrt. Er war aber auch Realpolitiker genug, sich den politischen Gegebenheiten zu unterwerfen, denn letztlich zeigte sich nach der Übernahme durch Preußen, dass sich seine Einstellung vom überzeugten Schleswig-Holsteiner zu einem Anhänger der kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung gewandelt hatte.

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Deutschen Staaten in eine engere Verbindung treten, welche die Einigkeit und Kräftigung des gesammten Vaterlandes sichert.“ Ebd., S. 9. Vgl. zum Wahlkampf und zum Ausgang der Wahl Sönke Diedrich, Die Stimmung in Dithmarschen während der Einverleibung Schleswig-Holsteins in Preußen, in: Zeitschrift Dithmarschen 2 (1978), S. 25‒56, hier S. 44 f. Der Wahlaufruf Boysens ist abgedruckt in: Dithmarscher Blätter, Nr. 944 (9.2.1867). Vgl. Diedrich, Stimmung, S. 45. Der holsteinische Wahlkreis 5 wurde aus Dithmarschen und Itzehoe gebildet. Vgl. Reglement zur Ausführung des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes, in: Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein, 28.7.1867, S. 84.

Julian Freche

Hanserezeption im Lübeck der Weimarer Republik? Akteure, Hintergründe und Tendenzen

Abstract After its decline, the Hansa was generally received positive from the early 19th century up until today. But the view on it changed during the decades and people interpreted the Hansa depending on the political topics of the occurring “Zeitgeist”. In the Hanseatic city of Lübeck as the old head of the Hansa, the reception of it was overwhelmingly positive and the citizens identified with their interpretation of “Hanseatic ideals”. Those included economic success, fidelity to the hometown, honour, and diligence. During the Weimar Republic, the term “Hanseat” for one impersonating those ideals was used by conservative and liberal politicians and merchants. One prominent example is the “Hanseatischer Volksbund” (Hanseatic People’s Federation), a party formed by conservative and liberal politicians in reaction to the dominance of the social democrats in Lübeck. This parties aspiration to be a Hanseatic one was opposed by all other political parties because of the posi­ tive connotations associated with this term. This essay shows that during the Weimar Republic only few people use the term “Hanseatic” to describe themselves and it was often used to describe deceased old merchants or honoured members of the municipal elite in their obituary. One conclusion is that the “old Hanseatic ideals” faded during World War I.

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Julian Freche

Einleitung Die Hanse war damals ihrer Zeit voraus: Sie bevorzugte die diplomatische Lösung von Konflikten. Die Hanse trug dazu bei, dass ein gemeinsames europäisches Erbe entstehen konnte – in Wirtschaft, in Kultur, in Verfassung und Recht. Natürlich nicht sie allein, aber sie hat zusammengewirkt mit den anderen kulturell und institutionell gestaltenden Institutionen, die es in den Städten von damals gab. Und jede Generation heute steht vor der Aufgabe, sich dieses Erbe und diese Traditionen anzueignen und bewusst zu machen.1

Als der damalige Bundespräsident Joachim Gauck den 34. Internationalen Hansetag der Neuzeit in Lübeck im Jahr 2014 eröffnete, sprach er wie selbstverständlich von einem Erbe der Hanse für das Projekt eines gemeinsamen Europas. Die 1980 in Zwolle gegründete Neue Hanse (offiziell Städtebund Die Hanse) sieht sich in dieser Tradition und bezeichnet sich selbst als „aktives Netzwerk zwischen Städten […] in der Geschichte zum Bund der Kaufmannsstädte“ und „hat sich die Aufgabe gestellt, auf der Grundlage des grenzüberschreitenden Hansegedankens und den geschichtlichen Erfahrungen […] den Geist der europäischen Stadt/Gemeinde wiederzubeleben […].“2 Wie beim historischen Vorbild fungiert beim Städtebund Die Hanse Lübeck als Zentralort, hier befinden sich das geschäftsführende Hansebüro, organisatorisch an die Bürgermeisterkanzlei der Stadt angebunden, und auch das 2015 eröffnete Europäische Hansemuseum.3 Gerade dort aber wird nicht die Erzählung der Hanse als Vorläufer der Europäischen Union weitergeführt, sondern es werden die zeitgenössischen Phänomene in den Vordergrund gestellt, die die Hanse prägten und umgekehrt.4 Diese eher zurückhaltende Einordnung war in den vergangenen 200 Jahren unüblich, eigentlich schon seit dem Ende der Hansetage 1669, und die Hanse oder das mit ihr verbundene Hanseatentum wurde immer wieder umgedeutet und an eigene Zwecke angepasst. Deshalb wird in diesem Beitrag gefragt, wie sich diese Rückbesinnung auf die Hanse im Lübeck der Weimarer Republik darstellte. Welche Bevölkerungsgruppen erinnerten sich an die Hanse? War es gar ein gesamtgesellschaftliches Phänomen? 1

Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der Eröffnung des 34. Internationalen Hansetages der Neuzeit in Lübeck, 22.5.2014, URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Reden/2014/05/140522-Hansetag-Luebeck.pdf;jsessionid=0FBC2CB609747D932C6E685631C293EF.2_cid362?__blob=publicationFile (17.3.2020). 2 So der Städtebund Die Hanse auf seiner offiziellen Internetpräsenz, URL: https://www.hanse. org/die-hanse-heute/aktives-netzwerk/ (17.3.2020). 3 O. V., Merkel eröffnet Europäisches Hansemuseum in Lübeck, 27.5.2015, URL: https://www. abendblatt.de/incoming/article205341295/Merkel-eroeffnet-Europaeisches-Hansemuseumin-Luebeck.html (17.3.2020). 4 Ulla Kypta, Rezension zu: Europäisches Hansemuseum, 28.5.2015 Lübeck, in: H-Soz-Kult, 11.6.2016, URL: www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-239 (17.3.2020).

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Hanserezeption im Wandel der Zeit Da die Hanseforschung in den letzten 150 Jahren immer wieder neue Impulse erhalten hat,5 ist allein in den letzten zwei Jahrzehnten eine schier endlose Masse neuer Publikationen erschienen. Deshalb wird hier auf den 2014 veröffentlichten Tagungsband Hansegeschichte als Regionalgeschichte von Oliver Auge zurückgegriffen, in dem ein kurzer und präziser Überblick über die Rezeption der Hanse vorhanden ist.6 Dazu sei zusätzlich auf die Werke von Rolf Hammel-Kiesow, Johan Jungclaussen, Markus Tiedemann, Lu Seegers und Matthias Wegner verwiesen.7 Diese bieten ebenfalls einen sehr guten Überblick, befassen sich aber zumeist nicht hauptsächlich mit der Hansestadt Lübeck. Seegers referierte zudem auf der Jahrestagung der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Jahr 2019 über Hanseaten und das Hanseatische im 20. Jahrhundert, was die Aktualität der Hanserezeption verdeutlicht.8 Die Phase vom Ende der Hanse bis zum 19. Jahrhundert wird gemeinhin als Zeit des Niedergangs für Lübeck gedeutet, unter anderem weil die Hansestadt nahezu die Hälfte ihrer Einwohner und die beherrschende Stellung im Ostseehandel verlor. Deshalb verwundert es nicht, dass die Blütezeit der Hanse und damit Lübecks schon früh zu einem Ideal verklärt wurde.9 Bereits während der Befreiungskriege entwickelte sich in Lübeck ein Nationalbewusstsein, das in Verbindung mit dem bürgerlich-liberalen Zeitgeist den Blick auf die Hanse für mehrere Jahrzehnte form5 Siehe zur Thematik Oliver Auge, Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Zur Einführung, in: Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012, hg. von Oliver Auge (Kieler Werkstücke A/37), Frankfurt a. M. 2014, S. 9–19. 6 Oliver Auge (Hg.), Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012 (Kieler Werkstücke A/37), Frankfurt a. M. 2014; insb. der darin publizierte Beitrag von Stefan Selzer, Was meint Hansegeschichte heute?, in: ebd., S. 21–33. 7 Rolf Hammel-Kiesow (Hg.), Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Konstrukte der Hanse in den Medien und in der Öffentlichkeit (Hansische Studien 19), Trier 2010; John Frederik Jungclaussen, Risse in weißen Fassaden. Der Verfall des hanseatischen Bürgeradels, München 2006; Markus Tiedemann, „Gute Hanseaten – Sozialdemokraten“. Das Hanseatische in Politik, Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung. Hamburger Sozialdemokraten 1918–1982 (Hamburger Zeitspuren 12), München 2017; Lu Seegers, Hanseaten und das Hanseatische in Diktatur und Demokratie. Politisch-ideologische Zuschreibungen und Praxen, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2014, hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Hamburg 2015, S. 71–83; Matthias Wegner, Hanseaten. Von stolzen Bürgern und schönen Legenden, München 2008. 8 Pia Mecklenfeld und Lukas Weichert, Vom Ende der Hanse zur Geburt der Hanseaten, 03.05.2019–04.05.2019 Bremen, in: H-Soz-Kult, 12.9.2019, URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8435 (17.3.2020). 9 Zur Rezeption dieses Niedergangs vgl. Antjekathrin Graßmann (Hg.), Niedergang oder Übergang? Die Spätzeit der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 44), Köln 1998; insb. Heinz Duchhardt, Die Hanse und das europäische Mächtesystem des frühen 17. Jahrhunderts, in: ebd., S. 11–24, hier S. 19–24.

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te.10 Diesem wirtschaftsliberalen Ansatz lag ein negativer Freiheitsbegriff zugrunde, nämlich die Abwesenheit staatlicher Einschränkungen, und er betonte die positiven Effekte von Freihandel.11 Die Hanse war in diesem Bild ein Bund von Kaufleuten und Städten mit einem starken Fokus auf dem Handel.12 Im 19. Jahrhundert folgte ein wirtschaftlicher Aufschwung für Lübeck, der sich aus der zunehmenden Industrialisierung der Stadt ergab. Nachdem die Gründung eines Nationalstaats in der bürgerlichen Revolution von 1848 gescheitert war, übernahm das Königreich Preußen unter der Führung Otto von Bismarcks in den 1860er Jahren die Initiative. Obwohl in Lübeck größere Sympathien für einen Nationalstaat vorhanden waren als in den beiden Schwesterstädten Hamburg und Bremen, stellten sich auch die Lübecker eher gegen eine preußisch-dominierte Einigung. Das Ultimatum Preußens am Vorabend des Deutschen Krieges und die hoffnungslose militärische Lage der Hansestädte führte aber zu einem Meinungsumschwung, der letztlich die Eigenstaatlichkeit sicherte.13 Mit der Reichsgründung 1871 und der Etablierung des Kaiserreiches wandelte sich auch der Blick auf die Hanse, denn nun wurde diese eher als Städtebund wahrgenommen, der die Interessen des ebenfalls idealisierten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Nord- und Ostseeraum militärisch gewahrt habe. Die Hanserezeption folgte auch hier wieder klar den äußeren Einflüssen.14 Ähnlich verhielt es sich auch beim Aufkommen der Marinebegeisterung im Deutschen Reich Ende des 19. Jahrhunderts. Lübeck hatte sich mehr als Hamburg oder Bremen in das Reich integriert, auch wenn Preußen weiterhin durchaus kritisch wahrgenommen wurde, und auch bürgerliche-republikanische Bedenken gegen die Monarchie beziehungsweise das Kaiserhaus weitgehend abgelegt.15 Mit dem Fokus auf die Rüstung zur See, dem Enthusiasmus Wilhelms II. in Marinefragen und der Arbeit des Deutschen Flottenvereins wandelte sich auch der Blick auf die Hanse.16 Nun galt die Hanse als erster Vorgänger der starken deutschen Marine und somit gleichfalls als Beweis dafür, dass die Zukunft Deutschlands – wie seine Vergangenheit – auf dem Meer liege.17 In Lübeck vertrat besonders die städtische Elite aus Kaufleuten und Industriellen solche Vorstellungen.18 10 Gerhard Ahrens, Von der Franzosenzeit bis zum Ersten Weltkrieg 1806–1914. Anpassung an Forderungen der neuen Zeit, in: Lübeckische Geschichte, hg. von Antjekathrin Graßmann, Lübeck 42008, S. 539–685, hier S. 560–566. 11 Vgl. dazu Julian Freche, Milieus in Lübeck während der Weimarer Republik (1919–1933) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 4), Kiel 2019, S. 41–43. 12 Selzer, Hansegeschichte, S. 22. 13 Freche, Milieus, S. 46–49. 14 Selzer, Hansegeschichte, S. 23. 15 Ahrens, Franzosenzeit, S. 650 f. 16 Eine umfassende Sammlung von Aufsätzen zur deutschen Marinegeschichte findet sich bei Werner Rahn (Hg.), Deutsche Marinen im Wandel, vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit (Beiträge zur Militärgeschichte 63), München 2005. 17 Selzer, Hansegeschichte, S. 23. 18 Siehe dazu Arnold Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1888–1927, Stuttgart 1966, S. 17.

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Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die Hanserezeption erneut. Hierbei spielte nicht nur die Novemberrevolution eine wichtige Rolle, die in Lübeck zwar stattfand und auch hier die Demokratisierung des Staatswesens nach sich zog, insgesamt aber doch ruhig verlief.19 Ideologisch entwickelte sich, katalysiert durch den Weltkrieg, ein völkisch-deutschnationaler Konservatismus, der eine ideologische Grundlage für den Nationalsozialismus bildete (auch bekannt als Konservative Revolution).20 Zusammen mit der zunehmenden Radikalisierung der politischen Öffentlichkeit ab 1929 wurde auch der Blick auf die Hanse radikaler und völkischer. Besonders in Verbindung mit dem Blick des Nationalsozialismus nach Osteuropa wurden nun die angeblichen Erfolge der deutschen Hanse im Osten in den Vordergrund gestellt und völkisch überhöht.21 Nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges wiederum erlebte die Hanserezeption eine vierte Metamorphose. Seitdem wird die Hanse als Vorläufer der Europäischen Union angesehen beziehungsweise instrumentalisiert. Auch jetzt ist also die Wahrnehmung der Hanse in der Öffentlichkeit stark von der Funktion abhängig, die diese Hanse in den Augen der Zeitgenossen wahrnehmen soll. Die Forschung allerdings hat sich von dieser monolithischen Sicht auf die Hanse bereits vor Jahrzehnten verabschiedet.22 Doch für die Zeitgenossen war die Hanse oftmals genau das, was in sie hineininterpretiert wurde, und die grundlegende Frage ist, wie die Interpretation der Lübecker in den 1920er Jahren aussah und wer sich daran beteiligte. Zunächst muss davon ausgegangen werden, dass sich weite Teile der Bevölkerung mit der Hanse und den ihr zugeschriebenen Attributen identifizierten. Dies zeigt sich etwa daran, dass 1937 bei der Umsetzung des Groß-Hamburg-Gesetzes eifersüchtig darauf geachtet wurde, dass Lübeck seinen Beinamen „Hansestadt“ und auch das dazugehörige KFZ-Kennzeichen „HL“ behalten durfte,23 und wie intensiv 1926 das 700-jährige Jubiläum des Reichsfreiheitsprivilegs Kaiser Friedrichs II. gefeiert wurde.24 Doch stimmt dieser Eindruck?

19 Vgl. Julian Freche, Die Novemberrevolution in Lübeck, in: Revolution! Revolution? Hamburg 1918/19, hg. von Hans-Jörg Czech, Olaf Matthes und Ortwin Pelc, Kiel 2018, S. 70–79. 20 Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt ²1995, S. 49–114. 21 Selzer, Hansegeschichte, S. 23. 22 Ebd., S. 23 f. 23 Vgl. Gerhard Ahrens, Selbstmitleid als kommunale Lebensform. Herrschaftszeichen und Stadtsymbolik in der Hauptsatzung der Hansestadt Lübeck, in: Das Ende des eigenständigen Lübecker Staates im Jahre 1937. Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer stadtgeschichtlichen Zäsur, hg. von Jan Lokers und Michael Hundt (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B/52), Lübeck 2014, S. 141–146. 24 Gerhard Meyer, Vom Ersten Weltkrieg bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Lübeck im Kräftefeld rasch wechselnder Verhältnisse, in: Lübeckische Geschichte, hg. von Antjekathrin Graßmann, Lübeck 42008, S. 687–778, hier S. 707.

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Hanseaten in der Politik? Da die Hanse in der Rezeption der Zeitgenossen vor allem eine Organisation von starken Städten und Händlern gewesen ist und zumindest vordergründig national ausgerichtet war, liegt es nahe, auch im nationalen politischen Lager nach Hanseaten zu suchen.25 Der 1923 verstorbene Senator Carl Dimpker (1856–1923) gehörte definitiv dazu, denn er war nicht nur in Bürgerschaft und Senat als Vertreter der Elite gewählt worden, sondern er vertrat Lübeck auch beim Deutschen Industrie- und Handelstag. In seinem Nachruf wurde nicht nur auf seine Erscheinung als „hanseatischer Kaufherr, wie man ihn sich vorzustellen pflegt“, Bezug genommen, sondern auch darauf verwiesen, dass er sich selbst als „echter Hanseat“ gesehen habe.26 Daneben findet sich als prominentes Beispiel für das Hanseatentum in der Politik in Lübeck der 1926 gegründete und mehrere Jahre sehr erfolgreiche Hanseatische Volksbund (HVB), der schon durch den Namen seinen Anspruch klar machte. Zum einen zeigt sich der offene Bezug auf das Attribut „hanseatisch“, zum anderen aber auch der klare Verweis auf ein wie auch immer geartetes „Volk“27, da sich der Hanseatische Volksbund als nationale Sammlungspartei begriff und dementsprechend auch auftrat. Der Versuch, die Grenzen zwischen den Parteien des nationalen Lagers in Frage zu stellen und zu überwinden, wurde an vielen Orten im Deutschen Reich gemacht, aber nirgendwo war dies von so großem Erfolg gekrönt wie in Lübeck. Zeitweise gelang es auf der kommunalen Ebene sogar, die Interessen der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) weitgehend auszugleichen.28 Ausgelöst wurde diese Einigung unter anderem durch den von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) forcierten Rücktritt des Lübecker Bürgermeisters Johann Martin Andreas Neumann (1856–1928) kurz vor den Veranstaltungen zur 700-Jahr-Feier 1926. Dies war der Anlass, der die sonst zerstrittenen 25 Politische Lager funktionieren über eine negative Integration, und die Individuen, die sich einem Lager zugehörig fühlen, grenzen sich darüber von anderen Lagern ab. Neben dem nationalen Lager, vor allem die Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), ist für Lübeck in der Weimarer Republik auch ein sozialistisches nachweisbar, nämlich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Zur Lagertheorie siehe Freche, Milieus, S. 29–31. 26 O. V., Senator Carl Dimpker, in: Vaterstädtische Blätter (21.10.1923), S. 1. 27 Der Begriff „Volk“ und später auch „Volksgemeinschaft“ war je nach politischer Ausrichtung deutlich anders konnotiert. Gerade im nationalen Lager war er eher exkludierend, schloss also gesellschaftliche Gruppen (z. B. Juden oder Sozialisten) aus. Vgl. dazu Michael Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017, S. 51–78. 28 Helmut Stubbe-da Luz, „Hanseatische“ Parteipolitik in der Weimarer Zeit und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sammlungs- und Bürgerblock-Bestrebungen des „Hanseatischen Volksbundes“ sowie der „Deutschen Sammlung“ (Lübeck), der „Bremer Demokratischen Volkspartei“ sowie des „Vaterstädtischen Bundes Hamburg“, in: Geschichte als Verpflichtung. Hamburg, Reformation und Historiographie. Festschrift für Rainer Postel zum 60. Geburtstag, hg. von Michael Hundt (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 25), Hamburg 2001, S. 183–213.

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Parteien endgültig zu einer intensiven Zusammenarbeit veranlasste, da nun nicht nur äußere Umstände, sondern auch eine Galionsfigur vorhanden waren, hinter der man sich sammeln konnte.29 Neumann war für diese Zwecke ganz hervorragend geeignet, da er aus Lübeck stammte und Rechtswissenschaften und Nationalökonomie studiert hatte. Zudem konnte er auf eine lange politische Karriere zurückblicken und war seit 1920 Bürgermeister sowie seit 1919 Vorsitzender des Kirchenrates.30 Er vereinte somit, abgesehen von seiner fehlenden Qualifikation als Kaufmann, viele tatsächliche oder vermeintliche Eigenschaften, die für das nationale Lager einen Hanseaten ausmachten. Dies ist auch seinem Nachruf zu entnehmen, in dem er als „Verkörperung echt hanseatischen Geistes“ bezeichnet wurde, als „echter Lübecker und echter Hanseat“.31 Trotzdem war er als Alldeutscher auch Kritik ausgesetzt, weshalb er nicht Parteivorsitzender wurde.32 Auch viele andere führende Mitglieder des HVB waren Vertreter der Elite der Hansestadt. So wurde der Bund trotz seines Anspruches, eine Sammlungspartei zu sein, viel eher eine klassische Honoratiorenpartei, wodurch er wiederum die politischen Traditionen des Kaiserreiches aufrecht hielt. Abgesehen von einzelnen Beschlüssen, wie etwa der Vorgabe, dass sich Mitglieder für das Wohl Lübecks und die Eigenstaatlichkeit der Hansestadt einzusetzen hätten, findet sich in den Wahlprogrammen der Partei zudem kaum ein Hinweis auf dezidiert „Hanseatisches“.33 In die Bürgerschaftswahl 1926 zog man mit den Schlagworten „Recht und Freiheit“ für das politische und geistige Leben in Lübeck, die persönliche Arbeit in Staat und Stadt sowie die persönliche Meinung. Nach eigener Aussage positionierte man sich zudem gegen parteipolitischen Terror, schlechte Arbeit politischer oder wirtschaftlicher Anführer sowie Hetze. Insgesamt stellte der Hanseatische Volksbund bei mehreren Gelegenheiten die eigene Überparteilichkeit und Sachlichkeit voran, die angeblich die Verwirklichung der Volksgemeinschaft zum Ziel hatte.34 Im Jahr 1932 bedeutete dies auch, dass der Antisozialismus ein Kernpunkt des HVBWahlprogramms war und sich die Partei gleichzeitig dagegen wehrte, als Vertretung der „Bonzen“ wahrgenommen zu werden,35 während sie gleichzeitig weiterhin eine Honoratiorenpartei blieb.36 Damit folgte der HVB im Wesentlichen jener Rhetorik, der sich auch die anderen nationalen Parteien während der Weimarer Republik bedienten. Insbesondere die angenommene „Überparteilichkeit“ und damit der angebliche Gegensatz zu einem 29 Freche, Milieus, S. 174 f. 30 Karl-Ernst Sinner, Tradition und Fortschritt. Senat und Bürgermeister der Hansestadt Lübeck 1918–2007 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B/46), Lübeck 2008, S. 178 f. 31 O. V., Bürgermeister D. Dr. Neumann, in: Vaterstädtische Blätter (15.4.1928), S. 57 f. 32 Freche, Milieus, S. 76. 33 Stubbe-da Luz, „Hanseatische“ Parteipolitik, S. 187. 34 Archiv der Hansestadt Lübeck (AHL), 5.4-11 Deutsche Volkspartei, Nr. 16. 35 AHL, 5.4-11 Deutsche Volkspartei, Nr. 15. 36 Die soziale Zusammensetzung des HVB ist nur bedingt nachvollziehbar, aber die Wahllisten zeigen klar, dass in der Partei vor allem Akademiker und Kaufleute dominierten. Vgl. Freche, Milieus, S. 185.

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von Parteien getragenen politischen System war sehr häufig Bestandteil der Selbstdarstellung.37 Zudem lässt sich die Radikalisierung ja auch in der Hanserezeption nachvollziehen, sodass der HVB und seine Vertreter hier sozusagen dem Zeitgeist folgten. Sie sahen sich trotz der deutlich radikaler werdenden Tendenzen weiterhin als Vertreter des Hanseatentums. Die wichtigsten Eckpunkte dessen waren nach dem eigenen Parteiprogramm Sparsamkeit, Stärkung der Staatsgewalt, eine gerechte Steuer- und Finanzpolitik, Stärkung von Kultur und Kirche, Ertüchtigung des Volkes durch Sport und Leibesübungen, Schulbildung mit Ausrichtung auf die Volksgemeinschaft, eine Verwaltung ohne Parteieinfluss und vor allem die Anerkennung des Unternehmergeistes und des Privateigentums sowie die Unterstützung der maßgeblichen Triebkräfte der Gesellschaft.38 Das nationale Lager präsentierte sich sehr deutlich hanseatisch, doch dies blieb nicht unwidersprochen. Die politischen Gegner des Hanseatischen Volksbundes wollten diesem das positiv konnotierte Attribut nicht überlassen. Die Haltung vermischte sich in Lübeck 1926 mit der Vorgeschichte um Neumann und der Bürgerschaftswahl, die der HVB überraschend gewinnen konnte. Alle Fraktionen in der Bürgerschaft stellten sich gegen den HVB, denn die SPD und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) waren im Vorfeld ebenso scharf attackiert worden, wie die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) und das katholische Zentrum. Zudem wurde dem Hanseatischen Volksbund der Status einer „richtigen“ Partei abgesprochen und vehement bestritten, dass die Vertreter des HVB die einzigen „Hanseaten“ seien.39 Dabei musste nicht unbedingt der Begriff Hanseat Verwendung finden, es reichte schon, die Tugenden und Leistungen herauszustellen, die oft damit assoziiert wurden. Bei der Trauerfeier für den langjährigen Reichstags- und Bürgerschaftsabgeordneten Theodor Schwartz (1841–1922) im April 1922 wurde dessen jahrzehntelange Treue sowohl zur Sozialdemokratie als auch ganz besonders zu seiner „Vaterstadt“ Lübeck herausgestellt. Auch die übrigen Eigenschaften, die ihm zugeschrieben wurden, wie Fleiß oder persönlicher Einsatz gehörten dazu.40 Allerdings verwendeten insbesondere Angehörige des sozialistischen Lagers fast nie die Bezeichnung Hanseat für sich selbst, weil damit die Eliten Lübecks assoziiert wur37 Für die DVP wurde das auf kommunaler Ebene ebenso umfassend nachgewiesen wie für nationale Parteipolitik insgesamt. Vgl. Stephanie Günther, Unpolitische Kommunalpolitik? Die Deutsche Volkspartei in der Weimarer Republik (Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe Geschichtswissenschaft 14), Marburg 2011; Rainer Hering, „Parteien vergehen, aber das deutsche Volk muss weiterleben“. Die Ideologie der Überparteilichkeit als wichtiges Element der politischen Kultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Völkische Bewegung, Konservative Revolution, Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, hg. von Walter Schmitz und Clemens Vollnhals (Kulturstudien 2), Dresden 2005, S. 33–44. 38 AHL, 5.4-11 Deutsche Volkspartei, Nr. 16. 39 Stubbe-da Luz, „Hanseatische“ Parteipolitik, S. 187; Wegner, Hanseaten, S. 347 f., 423–439. 40 O. V., Die Beisetzung des Genossen Schwartz, die Trauerfeier, in: Lübecker Volksbote (13.4.1922), 1. Beilage. Der Lübecker Volksbote ist vollständig digitalisiert online zu finden, siehe dazu die URL: http://library.fes.de/inhalt/digital/volksbote-luebeck.htm (17.3.2020).

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den. Etwas anders verhielt es sich in Hamburg, aber dort gab es auch keine dezidiert hanseatische Partei.41 Dazu kam, dass mit Julius Leber (1891–1945) ein aus dem Elsass stammender Akademiker als Schriftleiter des Lübecker Volksboten und Parteivorsitzender zur wichtigsten Person der Lübecker SPD wurde. Er baute zwar mit der Zeit auch eine enge Verbindung zu der Hansestadt auf, aber er weilte als Mitglied des Reichstages oft in Berlin und siedelte während der nationalsozialistischen Diktatur auch dorthin über.42 Er konnte für sich nicht glaubhaft das Attribut hanseatisch reklamieren und nutzte auch in seinen Artikeln im Lübecker Volksboten eher sozialistische Rhetorik als hanseatische.43 Außerdem umfasste die sozialistische Ideologie Vorstellungen, die weit über die Grenzen der Hansestadt Lübeck hinaus reichten und sich eher auf eine wie auch immer geartete Klasse beriefen als auf eine lokale Identität.44 Somit kann festgehalten werden, dass es in der Politik der Hansestadt Lübeck durchaus selbst ernannte Hanseaten gab, die insbesondere im nationalen Lager zu finden waren. Sie beriefen sich dabei auf nicht genau definierte Eigenschaften, die ihnen vom politischen Gegner allerdings nicht unwidersprochen zugestanden wurden. Genauso gab es aber auch Politiker, besonders ältere, die von Dritten das Attribut hanseatisch erhielten. Insgesamt zeigt sich, dass eine genaue Definition dessen, was ein Hanseat oder hanseatisch sei, nicht notwendig war, da alle beteiligten Personen damit ein bestimmtes Bild verbanden.

Hanseaten in der Wirtschaft? Da sich die Hanse aus einer Gilde privilegiennutzender Kaufleute entwickelt hatte und gerade diese Kaufleute über Jahrhunderte den Kern der Hanse bildeten,45 sind die Vertreter der Wirtschaft für diese Untersuchung von großer Bedeutung. Zu den hanseatischen Traditionen, die allgemein kolportiert wurden, gehörten immerhin auch Kaufmannsehre und wirtschaftlicher Erfolg.46 Ein Blick auf die Politiker in der Hansestadt Lübeck macht schnell deutlich, dass gerade im HVB zahlreiche Kaufleute aktiv waren und diese führende Positionen einnahmen. So war der Präses der Handelskammer Ernst Boie (1863–1930) vier Jahre lang Fraktions- und Parteivorsitzender des Volksbundes, und fünf der 25 Angehörigen des sogenannten Neu41 In Hamburg kann etwa Rudolf Roß als Hanseat gelten. Vgl. Tiedemann, Gute Hanseaten, S. 21–37. 42 Zu Leber siehe Dorothea Beck, Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin ²1994. 43 Vgl. exemplarisch Julius Leber, Der Klassenkampf, in: Lübecker Volksbote (5.11.1921), S. 1; Ders., Arbeitsgemeinschaft der „schaffenden Stände“, in: Lübecker Volksbote (11.11.1921), S. 1. 44 Siehe dazu die Definition von „Sozialismus“ bei Günter Rieger, Sozialismus, in: Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 2, hg. von Dieter Nohlen, München ²2004, S. 595. 45 Selzer, Hansegeschichte, S. 14. 46 Wegner, Hanseaten, S. 423–439.

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mann-Ausschusses, der Keimzelle des HVB, waren Mitglied der Handelskammer (Hermann Eschenburg, Heinrich Heickendorf, Hermann Buck und der Syndikus Rudolf Keibel).47 Doch äußerte sich das Hanseatische auch anderweitig beziehungsweise trugen es die Wirtschaftsvertreter nach außen? Die Institution der Händler an sich wurde nicht als hanseatisch bezeichnet, sondern schlicht als Handelskammer. Aber die Treffen der drei Handelskammern der Schwesterstädte erhielten diese Bezeichnung, wohl auch, um sich von den jeweils einzelnen Handelskammertreffen abzugrenzen.48 Gleichzeitig wurde aber gerade von den Handelskammern die reichhaltige hanseatische Tradition der Kaufleute in Anspruch genommen, da sie sich selbst als legitime Erben der mittelalterlichen Hanse sahen und aus diesem Selbstverständnis auch ihre politischen Ansprüche ableiteten. Interessanterweise wirkte die Lübecker Handelskammer dabei eher hinter den Kulissen und suchte nur selten die Öffentlichkeit, sie verließ sich viel eher auf die informelle und politische Arbeit ihrer herausragenden Mitglieder.49 Die beiden maßgeblich führenden Persönlichkeiten der Lübecker Handelskammer personifizierten geradezu die bürgerlichen Ideale eines Hanseaten (Kaufmannsehre, wirtschaftlicher Erfolg, Treue zur Vaterstadt, zu althergebrachten Institutionen und Traditionen). Hermann Eschenburg (1872–1954) etwa, erstmals 1911 zum Präses der Handelskammer gewählt und zwischen 1919 und 1932 insgesamt zehn Jahre Präses, gehörte vor dem Ersten Weltkrieg als Teilhaber der Firma Jost Hinrich Havemann & Sohn zu den zehn reichsten Lübeckern, war also nachgewiesenermaßen wirtschaftlich erfolgreich.50 Er engagierte sich politisch für die Hansestadt, war zwölf Jahre Mitglied der Bürgerschaft und von 1919 bis 1924 ihr erster stellvertretender Wortführer. Als Vertreter der Lübecker Kaufleute nahm er zudem am Deutschen Industrie- und Handelskammertag teil. Zusätzlich amtierte er neun Jahre als Vorsitzender des Lübecker Yacht-Clubs und war selbst aktiver Segler.51 Trotzdem wurde die Einordnung als Hanseat vermieden, stattdessen wurde bei ihm eher auf eine „alt-lübische Tradition“ verwiesen.52 Ähnlich verhielt es sich bei Ernst Boie, der ebenfalls von 1920 bis zu seinem Tod im Jahr 1930 mehrfach als Präses der Handelskammer amtierte und sich nicht nur als Vorsitzender und Fraktionsvorsitzender des Hanseatischen Volksbunds engagierte. So war er mit kurzen Unterbrechungen Mitglied der Bürgerschaft (1907– 1930), war Beisitzer im Gewerbegericht, saß im Vorstand der Spar- und Leihkasse, war Vorsteher der Seemannskasse und Mitglied im Deutschen Roten Kreuz. Da er 47 Freche, Milieus, S. 252; AHL, 5.4-11 Deutsche Volkspartei, Nr. 3, Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses, 2.8.1926. 48 Als Beispiel sei hier die Positionierung der Hanseatischen Handelskammern im Vorfeld von reichsweiten Verhandlungen zur Sozialisierung im Jahr 1919 genannt. Siehe dazu Freche, Milieus, S. 248. 49 Ebd., S. 253 f. 50 Jan Zimmermann, St. Gertrud 1860–1945. Ein photographischer Streifzug, Bremen 2007, S. 8. 51 Freche, Milieus, S. 251. 52 O. V., Ehrung des Präses der Handelskammer Hermann Eschenburg, in: Vaterstädtische Blätter (22.1.1928), S. 33.

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gleichzeitig die heute noch bestehende Firma Boie führte, die im Mineralölhandel tätig war, kamen auch bei ihm alle Eigenschaften eines Hanseaten zusammen.53 In seinem Nachruf wurde diese Ehrenbezeichnung allerdings nicht verwendet und stattdessen auf seine Rolle an der Spitze der „Einheitsfront des Lübecker Bürgertums“ und sein Einsatz für die „Lebensinteressen Lübecks“ hervorgehoben.54 Ein Gegenbeispiel für diese Zurückhaltung mit der Vergabe des Begriffs Hanseat ist der Nachruf auf den Kaufmann Wilhelm Christern (1851–1930), der kurz vor seinem 80. Geburtstag verstarb. Ihm wurde bescheinigt, dass er „die besten Überlieferungen deutschen und hansischen Geistes in sich wie eine heilige Herzenssache hoch hielt“.55 Christern hatte nach dem Besuch des Katharineums eine Kaufmannslehre absolviert und war dann 1872 nach Venezuela ausgewandert, wo er 1876 eine Firma für In- und Export gründete, die auch bei seinem Tod noch florierte. Er wurde als leuchtendes Beispiel für das „Deutschtum“ in Venezuela hervorgehoben und als „Vorbilde von Pflichttreue, Fleiß, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit des deutschen Kaufmannes im Ausland“ bezeichnet. Ihm wurde das Prädikat eines „echten Hanseaten“ verliehen. Insgesamt kann aber festgestellt werden, dass das Attribut hanseatisch eher in einem die drei Schwesterstädte übergreifenden Kontext Verwendung fand, wenn es um das Wirtschaftsleben ging. Neben der Handelskammer betraf das etwa die Gewerbekammern, die zusammen als Hanseatische Gewerbekammern auftraten,56 oder auch den berufsständischen Zusammenschluss der Rechtsanwälte zur Hanseatischen Anwaltskammer.57 Eine generelle Selbstbezeichnung als Hanseaten ist in beiden Fällen für die Mitglieder nicht nachweisbar und das Attribut wurde sehr häufig als geographische Bezeichnung verwendet. Dabei hatten die Vertreter der drei Hansestädte nicht das alleinige Recht zur Nutzung des Attributs, schlicht weil es sich hierbei nicht um eine rechtlich geschützte Marke handelt. Hierfür war sicherlich die allgemein positive Hanserezeption mitverantwortlich, die es für Geschäftsleute überall im Reich attraktiv machte, diesen Namen zu nutzen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Lufthansa, gegründet 1926 in Berlin als Deutsche Luft Hansa Aktiengesellschaft, die überhaupt keinen Bezug zu den Hansestädten hatte.58 Eine detaillierte Übersicht über alle Unternehmen mit einem Bezug auf die Hanse ohne gleichzeitigen Bezug zu den Hansestädten würde hier zu weit führen, aber die positive Konnotation von Hanse und hanseatisch wirkte weit über die eigentlichen Hansestädte hinaus. Dadurch wurde anderer53 Freche, Milieus, S. 251 f. 54 O. V., Konsul Ernst Boie, in: Vaterstädtische Blätter (22.11.1930), S. 13. 55 O. V., Wilhelm Christern, in: Vaterstädtische Blätter (3.1.1931), S. 25. Dort finden sich auch die Folgezitate. 56 Beispielhaft sei auf die Veröffentlichung gegen die Bedingungen des Versailler Vertrages verwiesen. Siehe AHL, 1.3 Bürgerschaft, Nr. 3217, Entschließung der Hanseatischen Gewerbekammern, 20.6.1919. 57 AHL, Neues Senatsarchiv (NSA), Nr. 5447. 58 Joachim Wachtel und Günter Ott, Im Zeichen des Kranichs. Die Geschichte der Lufthansa von den Anfängen bis 1945, München 2016, S. 72–85.

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seits nicht ausgeschlossen, dass nicht auch Lübecker Unternehmen entsprechend benannt wurden, ein Beispiel hierfür war der Hanseatische Flughafen, durch den die Hansestadt an den internationalen Luftverkehr angeschlossen werden sollte.59 Eventuell führte die weite Verbreitung der Bezeichnung hanseatisch in Bezug auf Unternehmen auch dazu, dass von einer Selbstbezeichnung abgesehen wurde, da es sich nicht um ein exklusives Attribut handelte. Vermutlich wurde von Kaufleuten in Lübeck auch schlicht erwartet, dass sie echte Hanseaten waren, und dies benötigte keine weitere Erläuterung. Die reichsweite positive Rezeption der Hanse über mehrere Jahrzehnte spricht ebenso dafür, wie die Tatsache, dass der im Ausland tätige Wilhelm Christern als Hanseat bezeichnet wurde, da er die Tugenden, die von Lübeckern erwartet wurden, auch im Ausland fern der Heimat weiter vertrat und somit sozusagen als leuchtendes Beispiel fungierte. Da in diesem Fall nicht sofort vom Ort der Tätigkeit auf die Attribute geschlossen werden konnte, bedurfte es hier also einer Bestätigung.

Hanseaten in der Kirche? Die Kirche in Lübeck war seit der Reformation mit dem Bürgertum beziehungsweise der Elite der Hansestadt verbunden, auch weil der Rat seit 1535 die oberste Kirchengewalt ausübte. Damit war die Kirche ein Herrschaftsinstrument, das entsprechend eingesetzt wurde. Das führte auf der einen Seite zwar seit dem 19. Jahrhundert zur Abkehr größerer Teile der Bevölkerung von der Kirche, auf der anderen aber auch dazu, dass die ohnehin starke Verbindung zwischen Kirche und Bürgertum noch stärker wurde. Gleichzeitig gingen Nationalismus und Protestantismus eine symbiotische Verbindung ein. Dieser Nationalprotestantismus wurde in Lübeck nicht nur durch das langsam entstehende kirchliche Vereinswesen verstärkt, sondern ferner dadurch, dass die Kirche ganz bewusst nationale Feste vereinnahmte. Dazu gehörten zuallererst die jährlichen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft am 5. Dezember (1813) und schließlich auch der Sedantag am 2. September (1870).60 Die Teile der Bevölkerung, die sich schon im 19. Jahrhundert von der Kirche abwandten, waren zunächst Liberale, die zwar durchaus den nationalen Anklängen etwas abgewinnen konnten, aber von der verstärkten Frömmigkeit im Zuge der Erweckungsbewegung abgeschreckt wurden. Es folgten anschließend die Arbeiter, und zwar nicht nur, weil sich ein nicht unerheblicher Teil der Arbeiterschaft dem Sozialismus zuwendete, sondern auch, weil die soziale Frage vonseiten der Kirche als Ausdruck des Willen Gottes interpretiert wurde und Maßnahmen gegen das Elend unterblieben. Das zeigte sich zwar nicht in den Mitgliedszahlen der Kirche, 59 Günther Meyer, Zur Geschichte des Hanseatischen Flughafens für Land- und Wasserflugzeige auf dem Priwall, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 5 (2005), S. 215–278. 60 Freche, Milieus, S. 52.

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wohl aber beim Abendmahl und bei den Gottesdienstbesuchen.61 Aus diesen Betrachtungen wird bereits deutlich, dass in der Lübecker Landeskirche kaum Mitglieder des sozialistischen Milieus vertreten waren. Doch bezeichneten sich die national gesinnten Vertreter der Kirche als Hanseaten oder wurden sie als solche bezeichnet beziehungsweise wahrgenommen? Mit dem Hanseatischen Volksbund hatte die Landeskirche einen Fürsprecher in der politischen Öffentlichkeit, da hier sowohl der ehemalige Bürgermeister Neumann als auch sein kirchlicher Amtsnachfolger, der Oberstaatsanwalt Cay Diedrich Lienau (1867–1953), aktiv waren.62 Zudem setzte sich der HVB offensiv für die Landeskirche ein und bezeichnete sie als unabdingbar für das Seelenheil. Dies ging sogar so weit, dass der Begriff der „hanseatisch-christlichen Weltanschauung“ geprägt wurde, der die Verbindung zwischen HVB und Kirche illustrieren sollte.63 Eine genaue Spezifikation des Begriffes oder gar eine inhaltliche Ausgestaltung wurde allerdings nicht vorgenommen, sodass die genauen Ideen dahinter vage bleiben. Betrachtet man die Themen, die während der Weimarer Republik die Auseinandersetzung der Kirche mit sich selbst, mit Politik und Gesellschaft bestimmten, dann wird aber schnell klar, warum bis auf wenige Ausnahmen kein Bezug zum Hanseatischen hergestellt wurde. Für die Kirche und ihre Vertreter ging es nach der Novemberrevolution vielmehr darum, staatliche Eingriffe in die eigene Sphäre so weit wie möglich zu begrenzen. Dies gelang relativ gut, da eine strikte Trennung von Kirche und Staat nicht durchgesetzt wurde. Zudem wurde seitens der Pastoren eine klare antirepublikanische Haltung vertreten und man wirkte als wesentliche Stütze des völkisch-deutschnationalen Konservatismus. Die Verbindung von Nationalismus und Protestantismus wurde somit weiter gefestigt und während der Weltwirtschaftskrise radikaler. Der Fokus auf deutschnationale, antisozialistische und antirepublikanische Themen überdeckte die hanseatische Hinwendung zur eigenen Stadtrepublik.64 Insgesamt lässt sich feststellen, dass es zwar seitens der Lübecker Landeskirche Verbindungen zu den Hanseaten in der Politik gab, die Kirche und ihre Vertreter sich selbst aber nicht als solche sahen oder bezeichneten. Stattdessen lag der Fokus eher auf nationalen und völkischen Themen, sicherlich auch begründet im Kampf gegen die Folgen der Novemberrevolution und in der schwindenden Bedeutung der Kirchen. Dabei radikalisierten sich die protestantischen Kirchen zunehmend und stützten sich auf die Hoffnung, dass eine Zeitenwende nicht nur die ungeliebte Weimarer Republik hinwegfegen, sondern auch eine Re-Christianisierung der Gesellschaft und die Abkehr von liberalen Ideen ermöglichen würde.65 Da in Lübeck 61 Hansjörg Buss, „Entjudete“ Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus 1918–1950, Paderborn 2011, S. 37–39. 62 Zu Lienau vgl. Sinner, Tradition, S. 164. 63 Zit. n. Buss, „Entjudete“ Kirche, S. 147. 64 Ebd., S. 479–482. 65 Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus (Industrielle Welt 61), Köln 2001, hier S. 638–640.

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Nation und Glaube schon lange verschmolzen waren, war somit kein Platz mehr für einen intensiven Bezug auf die Hanse.

Die 700-Jahr-Feier Der Blick auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen hat gezeigt, dass die Selbstbeschreibung als Hanseat nicht allzu häufig vorkam und insbesondere von national gesinnten Personen vorgenommen wurde. Doch wie verhielt es sich mit gemeinschaftlichen Symbolen? Welche Gruppen beteiligten sich an der Repräsentation Lübecks als Hansestadt nach außen und stellten sich in deren Tradition? Wie sah eine Rückbesinnung auf die Hanse in diesen Fällen aus? Hierzu bietet sich der Blick auf die 700-Jahr-Feier von 1926 an, die letzte große Präsentation des eigenständigen Lübecks vor dem Groß-Hamburg-Gesetz und der Angliederung an Schleswig-Holstein. Die Feierlichkeiten wurden aufgrund von Streitigkeiten innerhalb des Senats nicht von der Regierung, sondern stattdessen durch die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit (kurz die Gemeinnützige) ausgerichtet. Trotzdem beteiligten sich auch die politischen Würdenträger an den Planungen.66 Diese Querelen im Vorfeld wurden allerdings hanseatisch umgedeutet und es wurde gemeldet, dass die Veranstaltung aus „reinem Bürgersinn heraus“ ohne größere staatliche Fördermittel finanziert werde,67 sondern vielmehr über Lotterien und Verkäufe.68 Das Hauptaugenmerk lag bei nahezu allen Vorbereitungen auf der Geschichte Lübecks als Haupt der Hanse. So wurde bei der Werft in Lübeck von Bars und Peterson die Nachbildung einer Hansekogge gebaut.69 Außerdem fanden mehrere Ausstellungen zur reichhaltigen Lübecker Kulturgeschichte statt, darunter zu den Themen Buch und Schrift in der Stadtbibliothek, Lübeckische Kunst außerhalb Lübecks in der Katharinenkirche oder Overbeck und sein Kreis im Behnhaus.70 Höhepunkt der Feierlichkeiten war der große Festumzug am 6. Juni mit historisierenden Kostümen durch die Innenstadt. Daran nahmen nicht nur Hunderte Bürger*innen teil, die die zahlreichen wichtigen Ereignisse der Lübecker Stadtgeschichte nachstellten, sondern auch tausende von Schaulustigen. Nach dem historischen Teil folgte der Umzug der Gewerke. Damit verbunden war auch die Hoffnung, zumindest seitens

66 AHL, 5.5 Ohnesorge, Wilhelm, Nr. 6, Schreiben des Hauptausschusses für die 700-Jahr-Feier, 22.7.1925. 67 O. V., Kurzer Überblick über die Geschichte Lübecks, aus Anlass der 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit unserer Vaterstadt (Schluß aus Nr. 14), in: Vaterstädtische Blätter (9.5.1926), S. 62–64, hier S. 64. 68 Meyer, Vom Ersten Weltkrieg, S. 707. 69 O. V., Alt-Hanse-Koggen und die Lübecker Hanse-Kogge zur 700-Jahrfeier, in: Vaterstädtische Blätter (25.4.1926), S. 57 f. 70 O. V., Die Ausstellungen, in: Lübecker Volksbote (4.6.1926), 1. Beilage.

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der Ausrichter, dass „sich der Gedanke des wirtschaftlichen Zusammenschlusses, der hier deutlich Ausdruck fand, endlich wieder in allen Kreisen Bahn bricht.“71 Die Eröffnung der Feierlichkeiten fand am 3. Juni 1926 im Stadttheater statt, kurz nach dem Rücktritt von Bürgermeister Neumann. Deshalb wurde die Eröffnungsrede auch nicht vom Bürgermeister, sondern von Senator Julius Vermehren (1855– 1928)72 gehalten. Er machte in seiner Rede, der zahlreiche Grußworte von Vertretern des Deutschen Reiches, seiner Gliedstaaten und Botschaftern aus dem gesamten Ostseeraum folgten,73 die lange und erfolgreiche Geschichte Lübecks zum Hauptinhalt. Seiner Ansicht nach sollte die gemeinsame glorreiche Vergangenheit eine Richtschnur für die Zukunft sein und die Bürger sollten sich zum Wohle der Stadt vereinen, ganz dem Motto concordia domi foris pax folgend. Auf Hanseaten ging er dabei nicht weiter ein.74 Ganz anders blickte Senator Paul Löwigt (1873–1934), später der erste sozialdemokratische Bürgermeister Lübecks,75 auf die Geschichte. Er sprach von „den alten Hanseaten“, die „ihr Werk auf Schacher und Geld“ ausgerichtet hatten, und bezeichnete sie als tatkräftig, gottesfürchtig und oft bedenkenlos. Außerdem zeigte er deutlich die Demokratiedefizite der Stadtrepublik auf.76 An den Feierlichkeiten und den Reaktionen darauf kann man durchaus ablesen, dass sich nahezu alle Beteiligten durchaus in die Tradition der Hansestadt stellten, und gerade die Gemeinsamkeiten, die während der Feierlichkeiten in der Stadt spürbar schienen, wurden herausgehoben.77 Gleichzeitig blieb auch hier eine ständige Spaltung sichtbar, etwa in den Reaktionen der führenden Sozialisten. So positionierte sich der sozialdemokratisch ausgerichtete Lübecker Volksbote nach dem Ende der Festlichkeiten mehrdeutig. Auf der einen Seite wurden die positiven Effekte gelobt, auf der anderen Seite wurde aber auch kritisch gefragt, ob bei 5.000 Arbeitslosen die Feier der eigenen Vergangenheit Priorität besitze.78 Zudem zeigt sich, dass Attribute wie Hanseatentum und hanseatisch durchaus auch negativ konnotiert Verwendung fanden und deshalb auch seitens der städtischen Elite eine gewisse Zurückhaltung in der Verwendung dieser Begriffe vorhanden war.

71 O. V., Zur 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit Lübecks, in: Vaterstädtische Blätter (13.6.1926), S. 77–80, hier S. 80. 72 Sinner, Tradition, S. 243. 73 O. V., Der Festakt im Stadttheater, in: Lübecker Volksbote (4.6.1926), S. 1 f. 74 O. V., Die Begrüßungsrede Dr. Vermehrens, in: Lübecker Volksbote (4.6.1926), S. 2. 75 Sinner, Tradition, S. 165 f. 76 Paul Löwigt, Lübeck!, in: Lübecker Volksbote (4.6.1926), S. 1. 77 O. V., Die Ausschmückung Lübecks zur 700-Jahrfeier, in: Vaterstädtische Blätter (20.6.1926), S. 82. 78 O. V., Das Ende des Festes, was war und was sein muß, in: Lübecker Volksbote (7.6.1926), Beilage.

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Zusammenfassung Die positive Rezeption der Hanse in der Weimarer Republik lässt sich auch in Lübeck sehr deutlich nachweisen: Der Verweis auf die große Vergangenheit der Hansestadt durfte sowohl bei national gesinnten als auch bei sozialistischen Rednern in vielen Fällen nicht fehlen. Aber die politische und soziale Spaltung, die sich für die Weimarer Republik flächendeckend nachweisen lässt und die bereits mit der Industrialisierung und der sozialen Frage begonnen hatte, ist in diesem Bereich ebenso spürbar.79 Wie aufgezeigt werden konnte, waren die Beiträge sozialistischer Redner eher mit Verweisen auf die soziale und demokratische Ungerechtigkeit der hanseatischen Gesellschaft versehen, während von nationaler Seite oft auf die großen Verdienste der Hanse und ihrer Kaufleute für das Heilige Römische Reich und damit im übertragenen Sinne auch für Deutschland betont wurden. Damit war die Rückbesinnung auf die Hanse stark vom politischen Standpunkt der Zeitgenossen geprägt; eine übergreifende Sichtweise setzte sich nur selten durch. Lediglich der Umzug zur 700-Jahr-Feier wurde allgemein sehr positiv aufgenommen. Gleichzeitig ist auffällig, dass auch national gesinnte Politiker, Kaufleute oder Pastoren davor zurückschreckten, sich selbst oder ihre Bekannten als Hanseaten zu bezeichnen, zumindest in der Presse. Der Hanseatische Volksbund war ein Gegenbeispiel dafür, der Gegenwind gegen diese Selbstzuschreibung war aber deutlich spürbar und trug dazu bei, dass der HVB lange Zeit nicht als gleichberechtigte politische Kraft anerkannt wurde. Auch die Kaufleute, die sich doch am eindeutigsten auf eine hanseatische Vergangenheit berufen konnten, taten das in Bezug auf ihre eigene Person recht zurückhaltend. Bei der Bezeichnung von Geschäften oder Unternehmungen kam es häufiger vor, ebenso bei Einrichtungen, die alle drei hanseatischen Schwesterstädte betrafen, aber gerade im Wirtschaftsleben hatte sich der Begriff Hanse über das gesamte Deutsche Reich verbreitet und wurde nicht mehr genuin mit den Hansestädten in Verbindung gebracht. Ein genauer Blick auf die Rhetorik im öffentlichen Raum lässt aber den Schluss zu, dass die Bezeichnung Hanseat gar nicht explizit genutzt werden musste, sondern schon die Zuschreibung bestimmter Fähigkeiten und Attribute den Zuhörer*innen und Leser*innen klar machte, dass es sich um einen Hanseaten handelte. Sicherlich hängt das auch mit der Zuschreibung sehr positiver Attribute an das Hanseatentum zusammen, was aber gleichermaßen mit der allgemeinen Hanserezeption korreliert. Auf sozialistischer Seite wurde allerdings deutlich offensiver mit genuin sozialistischen Eigenschaften gearbeitet, was auf die gemeinsame ideologische Grundlage zurückzuführen ist, die auf nationaler Seite fehlte. Nicht unwahrscheinlich ist zudem, dass der Erste Weltkrieg sowie die Industrialisierung und Urbanisierung Lübecks mit der zurückhaltenden Zuschreibung des Attributs Hanseat zusammenhingen: „Man war nicht mehr Bürger, sondern 79 Eine detaillierte Betrachtung würde zu weit führen, für eine Zusammenfassung vgl. Freche, Milieus, S. 332–348.

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Staatsbürger, nicht mehr hanseatischer Kaufmann, sondern Unternehmer.“80 Folgt man dieser Einschätzung von Antjekathrin Graßmann, so erklärt sich, warum der Begriff Hanseat häufig in Nachrufen auftauchte, da dann nur diejenigen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg gewirkt hatten, wirklich noch Hanseaten sein konnten. Neben den hier schon genannten Ernst Boie, Wilhelm Christern, Hermann Eschenburg, Carl Dimpker und Johann Martin Andreas Neumann galt das beispielsweise für den Ingenieur Hermann Blohm (1848–1930), der, aus Lübeck stammend, in Hamburg als Mitinhaber der Werft Blohm & Voss große Berühmtheit erlangte und 1930 im Alter von 81 Jahren verstarb.81 Möglich ist zudem, dass mit dem Aussterben der alten Elite und den umwälzenden Ereignissen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, die zu einer Auflösung der Milieugrenzen führten, in der Nachkriegszeit eine andere Form der Selbstbezeichnung Hanseat einsetzte, die allerdings für Lübeck noch zu untersuchen wäre. Dies gilt umso mehr, als es prominente Beispiele für Hanseaten gab und gibt, die aber während der Weimarer Republik mit diesem Attribut nicht versehen wurden. Thomas Mann (1875–1955), in der eingangs zitierten Rede von Joachim Gauck genannt, wäre ein solches Beispiel. Auch der dort genannte Willy Brandt (1913–1992), der als Schüler schon für den Lübecker Volksboten schrieb, wurde von Gauck mit dem „hanseatischen Geist“ in Verbindung gebracht, der dem sozialistischen Lager doch eigentlich abging.82

80 Antjekathrin Graßmann, „Mein Großvater sprach von einer betont gottgewollten Ordnung.“ Bürgerliches Leben in Lübeck um die Jahrhundertwende, in: Geschichtsumschlungen. Sozialund kulturgeschichtliches Lesebuch Schleswig-Holstein 1848–1948, hg. von Gerhard Paul, Uwe Danker und Peter Wulf, Bonn 1996, S. 77–82, hier S. 82. 81 August Düsser, Dr.-Ing. Hermann Blohm, in: Vaterstädtische Blätter (29.3.1930), S. 49 f. 82 Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der Eröffnung des 34. Internationalen Hansetages.

Verzeichnis der beteiligten Autorinnen und Autoren

Stefan Brenner (M.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Hanse-, Rezeptions- und Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie mittelalterliche und frühneuzeitliche Regionalgeschichte mit Schwerpunkt SchleswigHolstein. Karen Bruhn (M.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Universitäts-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte in der NS-Zeit sowie ­Digital Humanities. Dr. Julian Freche, Staatsarchivreferendar im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Forschungsschwerpunkte: Milieu- und Verwaltungsgeschichte sowie die Geschichte der Kaiserlichen Marine und Schleswig-Holsteins (insbesondere Kiel und Lübeck) im 19. und 20. Jahrhundert. Prof. Dr. Nina Gallion, Professorin für Spätmittelalterliche Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeschichte, Geschlechtergeschichte, Kirchen- und Bischofsgeschichte des Mittelalters sowie vergleichende Landesgeschichte mit den Schwerpunkten Südwestdeutschland und SchleswigHolstein. Dr. Martin Göllnitz, Wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Hessische Landesgeschichte der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Gewalt-, Terrorismus-, Polizei-, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie regionale Zeitgeschichte des Ostseeraumes und Hessens. Marvin Groth (M.A.), Doktorand an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkt: Studentische Universitätsgeschichte der Nachkriegszeit auf dem Gebiet der britischen Besatzungszone. Dr. Katja Hillebrand, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Kirchen- und Ordensgeschichte des Hoch- und Spätmittelalters, Architekturgeschichte der Orden und Stifte im Mittelalter.

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Verzeichnis der beteiligten Autorinnen und Autoren

Dr. Franziska Hormuth, Historikerin. Forschungsschwerpunkte: Dynastie und Adel in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, repräsentative Hofkultur, Geschichte der Herzöge von Sachsen-Lauenburg, digitales Sammlungsmanagement, Objektforschung, Hansegeschichte. Knut-Hinrik Kollex (M.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Revolutions- und politische Transformationsgeschichte, deutsche Arktisforschung im 20. Jahrhundert, Geschichte Schleswig-Holsteins im 19. und 20. Jahrhundert. Julia Liedtke (M.A.), Mitarbeiterin am Landesarchiv Schleswig-Holstein und selbständige Ausstellungskuratorin. Forschungsschwerpunkte: Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs sowie Aspekte der schleswig-holsteinischen Regionalgeschichte. Dr. Stefan Magnussen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Herrschaft im Nordseeraum des hohen und späten Mittelalters, mit besonderem Schwerpunkt auf den Burgen und Eliten im Herzogtum Schleswig sowie den Königreichen Dänemark, Norwegen und Schottland. Jörg Mißfeldt (M.A.), Studiendirektor am Gymnasium Marne. Forschungsschwerpunkte: Landesgeschichte Schleswig-Holsteins im 18. und 19. Jahrhundert, Geschichte Dithmarschens, Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit sowie Verwaltungsgeschichte. Jan Ocker (M.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Kirchen-, Landwirtschafts-, Personen- sowie (niederdeutsche) Sprach- und Literaturgeschichte. Thorge Petersen (B.Sc.), Softwareentwickler an der Abteilung Wissenschaftliches Rechnen und Forschungsdaten des Rechenzentrums der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Semantic Web, Linked Open Data, Open Science. Dr. Tobias Pietsch, Historiker. Forschungsschwerpunkte: Politik-, Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mecklenburgs im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Genealogie des mecklenburgischen Niederadels. Dr. Swantje Piotrowski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Digitale Geschichtswissenschaft, Universitäts-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, Historische Biographieforschung und Regionalgeschichte der Frühen Neuzeit.

Verzeichnis der beteiligten Autorinnen und Autoren

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Laura Potzuweit (M.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Diplomatiegeschichte, Geschichte Skandinaviens, Reichsgeschichte und Historische Netzwerke im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Frederieke Maria Schnack (M.A.), Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte und Historische Grundwissenschaften der JuliusMaximilians-Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Dynastiegeschichte sowie Kirchen- und Bischofsgeschichte des Mittelalters. Dr. Jelena Steigerwald, Wissenschaftliche Archivarin in der Abteilung Magdeburg des Landesarchivs Sachsen-Anhalt. Forschungsschwerpunkte: Überlieferungsbildung ab 1990 und elektronische Archivierung, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Jann-Thorge Thöming (M.A.), Referent des Verbandes der Evangelischen Bahnhofsmission in der Nordkirche e. V. sowie Doktorand an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Zeitgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Wohlfahrtspflege. Jens Boye Volquartz (M.A.), Doktorand an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; bis 2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Kleinburgen als Phänomen sozialen und herrschaftsräumlichen Wandels. Die Beispiele Schleswig und Holstein (13.‒16. Jahrhundert)“. Forschungsschwerpunkte: Burgen in Schleswig-Holstein, Nordfriesische Geschichte des Mittelalters, Interdisziplinäre Mittelalterstudien sowie Handel und Nordeuropa im Frühmittelalter. Caroline Elisabeth Weber (M.A.), Postdoktorandin am Centre for Border Region Studies der University of Southern Danmark in Sonderburg. Forschungsschwerpunkte: Mentalitäts- und Kulturgeschichte der deutsch-dänischen Grenzregion vom 19. bis 21. Jahrhundert sowie deutsch-skandinavische Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dr. Frederic Zangel, Historiker und langjähriger Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und des dortigen DFG-Projekts „Kleinburgen als Phänomen sozialen und herrschaftsräumlichen Wandels. Die Beispiele Schleswig und Holstein (13.‒16. Jahrhundert)“. Forschungsschwerpunkte: Schleswig-Holstein und Skandinavien in der Frühen Neuzeit sowie Burgen-, Wahrnehmungs- und Begriffsgeschichte.

Personenregister von Florian Kehm, Katharina Nierula und Helena Knuf Im Register sind alle im Fließtext und in den Fußnoten vorkommenden Personen verzeichnet. Bischöfe sind sowohl unter ihrem Amt als auch unter ihrer Familie zu finden. Die Häuser Braunschweig-Lüneburg, Habsburg, Hessen, Mecklenburg, Oldenburg, Wittelsbach und Württemberg umfassen alle Seitenlinien. Das Adelshaus HolsteinSchaumburg und seine Nebenlinien sind unter seiner alternativen Bezeichnung Holstein-Schauenburg zu finden. Ehefrauen wurden, wenn bekannt, sowohl unter ihrer Herkunfts- als auch unter ihrer Ankunftsfamilie verzeichnet. Der jeweilige Ehepartner, sofern er im Text oder in den Fußnoten auftritt, wurde in der Ankunftsfamilie vermerkt. Adam von Bremen 250 Adenauer, Konrad 42, 294 Adolf von Nassau, röm.-dt. Kg. 356 Adolf von Schleswig 123, 150 Ahlefeld/Ahlefeldt, von Heinrich 140, 154–156, 159–163, 167, 169– 171, 173–175 Henneke 260 Marquard 260 Nikolaus 140, 155 f., 160–163, 169–171, 174 f. Albin, Johann 402 Arndt, Ernst Moritz 286 f., 289 Artelt, Karl 435, 439 Artus (Sagengestalt) 226 Assmann, Aleida 322 Assmann, Jan 322 Auge, Oliver 74, 246, 337, 376 f., 393, 421 f., 432, 513 Augstein, Rudolf 35 Aulke, Julian 433 Auribelli, Martialis 481 Awalow-Bermondt, Paul Michailowitsch 446 Baggesen (Familie) 321, 335, 340 Jens Immanuel 334–340 Sophie verh. mit Jens Immanuel, geb. von Haller 335 f. Balleer, Arndt 240 Bebel, Heinrich 460

Becker, Carl Heinrich 68 Behringer, Wolfgang 401 Bei der Wieden, Helge 378 f. Benedikt XII., Papst 378 Berg, Dieter 317 Berger, Christian Johann 321, 328–334 Berger, Herbert von 449 Berger, Stefan 328 Bernt van Dülmen 482–485 Beyer, Nikolaus 475, 487–490 Birger Jarl 354 Bischoff, Josef 445 f., 453 Bismarck, Otto von 514 Bistřický, Jan 390 Blohm, Hermann 527 Blunck, Hans Friedrich 60 Bock, Anton 404 Bogislaw, Hzg. von Pommern 370 Bonaparte, Napoleon → Napoleon Boerne, Karl-Friedrich (fiktiver TatortCharakter) 32 Bösch, Andreas 9 Boie, Ernst 519 f., 527 Booms, Hans 110 f. Borchardt (Familie) Erika 394 Jürgen 394 Borchling, Conrad 65 Bording, Jakob 396 Borowski, Klaus (fiktiver Tatort-Charakter) 32

534 Bourdieu, Pierre 48 Boykensonsi/Boucken Son, Raleff 154, 160, 169 Boysen, Paul Johann Friedrich 23, 495–510 Brachmann, Botho 98, 103 Brandt, Otto 338 f. Brandt, Willy 310, 527 Braunschweig-Lüneburg, Herzöge von 357 Albrecht I., 252 Albrecht, Bf. von Halberstadt 378 → Halberstadt, Bischöfe von Bernhard, Bf. von Hildesheim 386 → Hildesheim, Bischöfe von Elisabeth, Gfn. von Holstein-Rendsburg, Hzgn. von Schleswig 254 Friedrich III. Hzg. von Braunschweig-Calenberg 387 Heinrich der Mittlere 388 Katharina von Braunschweig-Wolfenbüttel, Hzgn. von Sachsen-Lauenburg 367 Maria von Braunschweig-Wolfenbüttel, Hzgn. von Sachsen-Lauenburg 366 Otto II., Ebf. von Bremen 163 → Bremen, Erzbischöfe von Wilhelm I. Hzg. von BraunschweigWolfenbüttel 389 Breide, Heinrich 253 Breide, Joachim 259 Brenner, Stefan 19 f. Bremen, Erzbischöfe von Otto II. von Bremen 163 → BraunschweigLüneburg, Herzöge von Breshnew, Leonid 316 Breuning (Familie) Konrad 472 Konrad (Sohn des Konrad) 23, 457, 459, 466, 471 f. Sebastian 472 Broke, Ocko tom 240 Browning, Christopher R. 36 Bruhn, Karen 17 Buck, Hermann 520 Bünz, Enno 15 Chaplin, Charlie 29 Chrétien de Troyes 226 Christern, Wilhelm 521 f., 527 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 298, 311 Cimber, Christianus Cilicius 168 Claudius, Matthias 338

Personenregister Comitis, Andreas 485–487 Crawinkel, Johannes 490 Cureus, Joachim 274 Cyriakus Spangenberg (Chronist) 133, 137, 139 Dahlmann (Familie) Christoph Friedrich 342, 346 Julie verh. mit Christoph Friedrich, geb. Hegewisch 343 → Hegewisch, Julie Dähnhardt, Dirk 438 f. Danckwerth, Caspar 133, 137, 150, 176, 261 Danske, Holger 336 Decker-Hauff, Hansmartin 466 f. Detmar (Chronist) 157 Dietrich von Portitz, Bf. von Minden 375, 385 → Minden, Bischöfe von Dimpker, Carl 516, 527 Dirks, Walter 204 Dittmann, Wilhelm 437 Dohse, Richard 65 Dominikus (Ordensgründer) 481, 484 Dorn, Kira (fiktiver Tatort-Charakter) 32 Duck, Donald (Comicfigur) 29 Dude (Häuptlingssohn) 240 Duden, Konrad 64 Dynappele, Rudolf 253 Ebert, Friedrich 440 f., 443 f. Eckermann, Christine 60 Egher, Daniel von 492 f. Eichhorn, Emil 440 Eickenberg, Anna 25 Eimer, Manfred 465 Eisenberg, Tennessee 29 Eisner, Kurt 438 Elben, Christian Gottfried 233 Elias, Norbert 263 Erik von Schleswig 123, 151 f. → Erich IV., Gf. von Sachsen-Lauenburg Erik VII., Kg. von Dänemark 225, 228, 231– 236, 239, 244, 254–257 Eschenburg, Hermann 520, 527 Estridsson (Haus) Abel Valdemarsen, Kg. von Dänemark 242 Christoph II., Kg. von Dänemark 250– 252, 342 f. Erik IV. Plovpenning, Kg. von Dänemark 249 Erik V. Glipping, Kg. von Dänemark 252

Personenregister Erik VI. Menved, Kg. von Dänemark 249 f. Judith/Jutta von Sachsen verh. mit Erik IV., Kgn. Von Dänemark 361 Margarethe Valdemarsdatter, Kgn. von Dänemark 230, 364 Waldemar, Bf. von Schleswig 169 → Schleswig, Bischöfe von Waldemar II., Kg. von Dänemark 249 Waldemar III., Kg. von Dänemark 251 f. Waldemar IV. Atterdag, Kg. von Dänemark 252–254, 362 f., 366 Ezechiel, Hans 467 Falck, Gustav 60 Falck, Niels Nicolaus 322, 342 Fehrs, Johann Hinrich 63, 65 f. Fiedler, Heinz 299 Fischer, Norbert 323 Floyd, George 31 Fock, Gorch 60 Fogg, Phileas 29 Fontane, Theodor 73 Forster, Georg 276, 280 Franck, David 394, 400 Frandsen, Steen Bo 334 Freche, Julian 24 Freder, Johann 407 Frenssen, Gustav 71 Fried, Johann Jacob 329 Fritsch, Werner von 449 Gallion, Nina 22, 343 Garbe, Gustav 435 Gaston (Comicfigur) 29 Gartenschläger, Michael 311 Gauck, Joachim 512, 527 Gawain (Sagengestalt) 226 Georg V., Kg. von Hannover 509 Gerold (Häuptlingssohn) 240 Glauert, Mario 107 Goltz, Rüdiger von der 447 Gorbatschow, Michail 316, 319 Gottorf (Haus) Hans der Ältere, Hzg. von 260 f. Hedwig Elisabeth Charlotte verh. mit Karl XIII., Kgn. Von Schweden und Norwegen 425 Karl XIII. von Södermanland, Kg. von Schweden und Norwegen 425 Göllnitz, Martin 16 f., 25

535 Göttsch-Elten, Silke 500 Graßmann, Antjekathrin 527 Grimm (Brüder) 56 Grimme, Hubert 63, 65 Gregor IX, Papst 477 Griebel, Friedrich Carl 497–499, 508 Groener, Wilhelm 442–444 Groth, Marvin 18 Groth, Klaus 60, 63, 65 f. Grimm, Friedrich Melchior, Baron von 413 Gyseke, Bernd 144 Haase, Hugo 436 Habsburg (Haus) Agnes von Habsburg, Hzgn. von SachsenWittenberg 355, 357 Franz II., Ks. 426 Elisabeth Wilhelmine Louise von Württemberg verh. mit Franz II. 414, 426 Karl V., röm.-dt. Kg., Ks. 359 Maximilian I., röm.-dt. Kg., Ks. 472 Rudolf I., röm.-dt. Kg. 356 Hakon von Schweden 364 Halberstadt, Bischöfe von Albrecht von Braunschweig-Lüneburg 378 → Braunschweig-Lüneburg, Herzöge von Halbwachs, Maurice 321 Haller, von (Familie) Albrecht 336 Sophie 335 f. → Baggesen, Sophie Hammel-Kiesow, Rolf 513 Hänger, Andrea 104 Hansen, Reimer 138 Harrach, Ernst Adalbert von 360 Haußmann, Conrad 435 Heba von Ostfriesland, Gfn. von HolsteinPinneberg 388 → Holstein-SchauenburgPinneberg, Grafen von (Haus) Heesten, Lorenz 174 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 233 Hegewisch (Familie) 321, 340–342 Caroline verh. mit Franz Hermann, geb. von Listow 341, 343–347 → Listow, Caroline Dietrich Hermann 342 Franz Hermann, Sohn von Dietrich Hermann 341 f., 345 f. Julie 343 → Dahlmann, Julie Leonore, Tochter von Franz Hermann 341, 344

536 „Lotte“ (Charlotte) Friederike Dorothea, Tochter von Franz Hermann 341, 343 f. Heickendorf, Heinrich 520 Heimreich, Anton 229 Heinrich Tribbe (Chronist) 386 Heller (Familie) Agnes 469 Heinrich 470 Johannes 470 f. Jörg 470 Helmold von Bosau 249 Hennigsen, Johannes 63 Hentze, Johann Gottlieb 270 Herder, Johann Gottfried 271–275, 278, 282 f., 286, 289 Hermann von Lerbeck 118 f., 374, 383 Hermann II., Gf. von Everstein 387 Herzog, Markwart 323 Hessen (Haus) Charlotte von Hessen-Darmstadt 414 Karl, Lgf. zu Hessen-Kassel, Statthalter von Schleswig und Holstein 498 Ulrike Friederike Wilhelmine von HessenKassel 413 Hessenstein, Gregor 291 Heyne, Christian Gottlieb 268 Hildesheim, Bischöfe von Bernhard von Braunschweig-Lüneburg 386 → Braunschweig-Lüneburg, Herzöge von Erich 380 f., 383 f. → Holstein-Schauenburg-Pinneberg, Grafen von Ernst 382, 384–386 → Holstein-Schauenburg-Pinneberg, Grafen von Hillebrand, Katja 23, 248 Hippers, Franz von (Admiral) 434 Hirsch, Paul 440 Hitchcock, Alfred 29 Hocke, Dietrich 253 Höpker Aschoff, Hermann 68 Hoff, Karin 339 Hoffmann, Erich 118, 253 Hohls, Rüdiger 77 Holberg, Ludvig 337 Hollmann, Michael 104 Holstein-Schauenburg (Haus) 19, 21, 150, 172, 373 Adolf I., Gf. von Holstein und Stormarn 123, 127, 130 f., 141, 169, 379 Adolf IV., Gf. von Holstein und Stormarn 379

Personenregister Bruno, Bf. von Olmütz 379 f., 384 f., 390 → Olmütz, Bischöfe von Heilwig zur Lippe 379 → Lippe, Herren zur Konrad, Gf. von Holstein und Stormarn 379 Mechthild 379 Holstein-Schauenburg-Kiel, Grafen von 377 f. Holstein-Schauenburg-Pinneberg, Grafen von 254, 376–378, 380–383, 385, 391 Adolf VI. 378, 380 Adolf VII. 380 f., 387 Adolf VIII. 231, 256 f., 373 f., 381 f., 386 Adolf XII. 382 Anna von Holstein-Schauenburg 382, 389 → Lippe, Herren zur Anton 382, 387–389 Bernhard, Kanoniker 381 Bernhard, Kanoniker in Hamburg 382 Elisabeth 380 Erich, Bf. von Hildesheim 380 f., 383 f. → Hildesheim, Bischöfe von Erich 382, 387 f. Ernst, Bf. von Hildesheim 382, 384–386 → Hildesheim, Bischöfe von Gerhard I., Bf. von Minden 380 f., 387 → Minden, Bischöfe von Gerhard II., Bf. von Minden 373, 381 f., 384–386, 388 → Minden, Bischöfe von Heba von Ostfriesland verh. mit Erich 388 Heinrich III., Bf. von Minden 382, 384, 387–389 → Minden, Bischöfe von Helene († vor 1508) 382 Helene, Kanonisse in Fischbeck 381 Jobst 382 Johann IV. 382, 389 Lutgard 380 f. Mechthild († 1341) 380 Mechthild († 1394) 381 Mechthild († 1468) 382 Otto 381 f. Otto II. 382, 386 Otto III. 382 Simon, Erzdiakon in Osen 381 Holstein-Schauenburg-Plön, Grafen von 254, 377 f. Adolf VII. 251, 253 f., 360 Mirislawa von Wittenburg verh. mit Johann III. 253 Agnes 252 → Sachsen-Lauenburg-Ratzeburg (Haus) Johann III. 250–252, 262

537

Personenregister Holstein-Schauenburg-Rendsburg, Grafen von 126, 132, 142, 254, 377–380, 389 f. Adolf XI., Gf. von Holstein-Schauenburg 390 Adelheid (Schwester von Gerhard III.) 380 Albrecht II., Gf. von Holstein-Segeberg und Holstein-Rendsburg 380, 389 Albrecht II. 115, 117, 120, 122 f., 123 f., 128, 130 f., 134–138, 141 f., 147, 151–154, 157–159, 162–166, 168, 172 f., 176 Elisabeth (Schwester Gerhard III.) 380 Elisabeth († vor 1340) 362 → SachsenLauenburg, Herzöge von Elisabeth († 1416) 364 → Sachsen-Lauenburg, Herzöge von Elisabeth von Braunschweig verh. mit Gerhard VI./II. 254 → BraunschweigLüneburg (Haus) Giselbert 378, 380, 385 Gerhard III., Gf. von Schleswig und Jutland 378, 380 Gerhard V., Gf. von Holstein-Plön 380, 389 Gerhard VI./II.,Hzg. von Schleswig 115– 118, 120, 123, 126, 128, 131, 136, 138, 140–143, 153–166, 168–177, 390 Gerhard VII., Gf. von Holstein, Hzg. von Schleswig 257, 390 Heinrich II. 157, 176, 380 Heinrich III., Bf.-Elekt von Osnabrück, Gf. von Holstein 117–119, 236, 254, 378, 380, 384, 389, 391 → Osnabrück, Bischöfe von Heinrich IV. 235, 237 f., 390 Ingeborg von Mecklenburg verh. mit Heinrich II. 380 Irmgard (Schwester von Gerhard III.) 380 Mechthild (Halbschwester von Gerhard III.) 380 Mechthild zur Lippe verh. mit Heinrich II. 380 Nikolaus 123, 151 f., 380 Sophie 380 Hohenzollern (Haus) Friedrich, Mgf. von Brandenburg 256 Friedrich II., Kf. von Brandenburg 480 Friedrich II., Kg. von Preußen 425 Wilhelm II., dt. Kaiser 179, 186, 514 Holtmann, Dieter 215 Holtz, Sabine 74

Holzwart, Martin 470 Honecker, Erich 319 Hoppe-Hartmann, Thorsten 85 Hormuth, Franziska 20 Hornig, Heinrich 71 Hovemann, Johann 258 Hoya, Grafen von Albert, Bf. von Minden 390 → Minden, Bischöfe von Johann II. 386 Otto, Bf. von Osnabrück 390 → Osnabrück, Bischöfe von Hugo, Gustav von 268 Huitfeldt, Arild 249 Hurnus, Albrecht 469 Hutten, Hans von 472 Ihlenfeld, Otto 402 Ingenfeld, Rolf 325, 349 Innozenz VIII., Papst 490 f. Jäger, Kurt 304–307 Jesus Christus 363, 480 Johann, Pfalzgf. von Pfalz-Simmern 483 f. Johannes XXII., Papst 378, 480 Jungclausen, Johan 513 Kant, Immanuel 263, 336 f. Kapp, Wolfgang 451 f. Karl der Große 271, 274 Kauffmann, Friedrich 67 f., 70 Kehm, Florian 25 Keibel, Rudolf 520 Keitel, Christian 108 Keller, Ludwig 467 Kiesel, Otto Erich 66 Kinau, Johann Wilhelm 60 Kingsattler, Johannes 468 Klims, Niels 337 Knuf, Helena 25 Klöber, Karl Ludwig 274 Klopstock, Friedrich 338 Köbis, Albin 434 Kohlrausch, Friedrich 286 Kolb, Eberhard 438 Kollex, Knut-Hinrik 22 Koltschak, Alexander 447 Konrad von Preußen 481 Korner, Hermann 150 f., 157 Kortholt, Christian 255

538 Kotzebue, August von 275 Krenz, Egon 319 Kretzschmar, Robert 111 Kroner, Hermann 255 f. Krumm, Hermann 65 f. Krummediek, Erik 174, 231 Kruse, Iven 65 Kühl, Wilhelmine 66 Lackmann, Heinrich 245 Lancelot (Sagengestalt) 226 Lange, Hans-Jürgen 48 Lau, Fritz 66 Laur, Wolfgang 249 Leber, Julius 519 Limbeck/Lembek (Haus) Claus 152, 233 f. Henneke 125, 152, 156, 162, 171, 175 Ledebour, Georg 436 Lessing (fiktiver Tatort-Charakter) 33 Levin, Friedrich, Gf. von Holmer 412, 421 Liedtke, Julia 18 Lienau, Cay Diedrich 523 Linstow, Hans 402 Linstow, Caroline 341, 343–347 → Hegewisch (Familie) Lippe, Herren zur Anna von Holstein-Schauenburg verh. mit Bernhard VII. 382, 389 Bernhard VII. 388 f. Heilwig 379 → Holstein-Schauenburg (Haus) Otto I. 387 f. Simon, Bf. von Paderborn 388 f. → Paderborn, Bischöfe von Lisch, Friedrich 394 Lornsen, Uwe Jens 322 f., 345–347 Löwigt, Paul 525 Lubben, Sibet 240 Lucanus, August Hermann 273 Lüdtke, Alf 36 Luther, Martin 21, 398 f. Lüttwitz, Walther von 451 f. Lutz (Familie) Hans 470 Konrad 470 Werner 470 Luxemburg (Haus) Heinrich VII., röm.-dt. Kg., Ks., Gf., von Luxemburg 356

Personenregister Karl IV., röm.-dt. Kg., Ks. 375, 385 Sigismund, röm.-dt. Kg., Ks. 231, 236, 355, 358 Mackeprang, Rudolph 58 f. Mähl, Albert 71 Maercker, Georg 443 Magnussen, Stefan 19 Mann, Thomas 527 Manteuffel, Hans von 446 Marcuse, Herbert 31 Mark, Grafen von der Dietrich, 386 Engelbert III. 386 Johann I., Hzg. von Kleve 483 Marquiz, Nikolaus 489–491 Marx, Karl 278 Mecking, Sabine 33 Mecklenburg, Herzöge von Albrecht VII. 397 Anna, Hzgn. von Kurland 399 Christoph 403 Elisabeth von Dänemark verh. mit Ulrich 397 → Oldenburg (Haus) Heinrich IV. 483 Ingeborg 380 → Holstein-SchauenburgRendsburg, Grafen von Johann Albrecht I. 396 f., 400 Magnus III. 397 Ulrich 21, 393–408 Meier, Dirk 145 Mejer, Johannes 133, 137, 150, 176, 261 Menne-Haritz, Angelika 111 Mensing, Otto 17, 55 f., 65, 67–71 Mera, Adrianus de 490 Merkel, Garlieb 270 f. Meyer, Gustav Friedrich 65 Meyer, Heinrich 23, 475, 479, 485–492, 494 Meyer, Johann 65 f. Michelsen, Andreas Ludwig Jacob 116, 141, 228 f., 239, 243 Mielke, Erich 292, 294, 298 f., 320 Minden, Bischöfe von Albert von Hoya 390 → Hoya, Grafen von Dietrich von Portitz 375, 385 Heinrich III. von Holstein-Schauenburg-Pinneberg 382, 384, 387–389 → Holstein-Schauenburg-Pinneberg, Grafen von

Personenregister Gerhard I. von Holstein-SchauenburgPinneberg 380 f., 387 → HolsteinSchauenburg-Pinneberg, Grafen von Gerhard II. von Holstein-SchauenburgPinneberg 373, 381 f., 384–386, 388 → Holstein-Schauenburg-Pinneberg, Grafen von Mißfeldt, Jörg 23 Mittig, Rudi 299 Molitoris, Fredericus 482 Mühle, Eduard 270 Müller, Bernd 417 Münkler, Herfried 225 Munk, Mogens 238 Naffin, Berit 329, 335 Napoleon 276, 424, 509, 522 Neiber, Gerhard 297 f. Neocorus 122, 137, 150, 166 Neovin, Johann 407 Neumann, Johann Martin Andreas 516 f., 523, 525, 527 Nider, Johann 481 Niels II., Bf. von Schleswig 233 → Schleswig, Bischöfe von Nierula, Katharina 25 Niess, Wolfgang 430 Nonn, Christoph 14 Nora, Pierre 322, 350 North, Michael 11 Noske, Gustav 435 f., 438 f., 443 f., 447, 451, 454 Nygenberg, Hermann 492 Ochs, Heidrun 25 Ocker, Jan 17, 25, 69 Ömeke, Franz 396 Olaf II., Kg. von Dänemark 364 Olafson, Nicolaus 250 Oldenburg (Haus) 258 f., 261 Adelheid von Anhalt-Bernburg-Schaumburg-Hoym verh. mit Paul Friedrich August 424 Adolf I. von Schleswig 134 f., 143 Anton Günther, Gf. von Oldenburg 419 Cäcilie von Schweden verh. mit Paul Friedrich August 424 Christian Albrecht, Hzg. von SchleswigHolstein-Gottorf 332

539 Christian I., Kg. von Dänemark, Hzg. von Schleswig und Holstein 364 Christian II., Kg. von Dänemark und Norwegen, Kg. von Schweden 260 Christian III., Kg. von Dänemark und Norwegen 363 f. Christian IV. Kg. von Dänemark und Norwegen 261, 366 Christian VI., Gf. von Oldenburg 240 Christian VII., Kg. von Dänemark und Norwegen 329–331, 333 Christian VIII., Kg. von Dänemark 504 Dorothea von Sachsen-Lauenburg 365, 367 → Sachsen-Lauenburg, Herzöge von Elisabeth von Dänemark 397 → Mecklenburg (Haus) Friederike Elisabeth Amalie Auguste von Württemberg-Mömpelgard verh. mit Peter Friedrich Ludwig, Hzgn. 22, 409– 412, 414–427 → Württemberg (Haus) Friedrich August, Hzg. 413, 419 Friedrich I., Hzg. Schleswig und Holstein, Kg. von Dänemark 260, 365 Friedrich II. Kg. von Dänemark 116, 368 Friedrich III., Hzg. von Schleswig-Holstein-Gottorf 9, 26 Friedrich VI., Kg. von Dänemark 501 Georg Ludwig von Schleswig-HolsteinGottorf 420, 425 Ida von Anhalt-Bernburg-SchaumburgHoym verh. mit Paul Friedrich August 424 Johann I., Kg. von Dänemark, Hzg. von Schleswig und Holstein 258–260, 364 Johann V. Gf. von Oldenburg 389 Katharina Pawlowna verh. mit Peter Friedrich Georg 424 f. Konstantin Friedrich Peter 425 Louise Auguste, Prinzessin von Dänemark 330 Paul Friedrich August, Hzg. von Oldenburg 424 Peter Friedrich Georg 420, 424 Peter Friedrich Ludwig, Hzg. von Oldenburg 22, 409–427 Peter Friedrich Wilhelm 413 Peter Georg Paul Alexander 425 Sophie Albertine von Schweden, Äbtissin 426

540 Sophie Charlotte von Schleswig-HolsteinSonderburg-Beck verh. mit Georg Ludwig 420, 425 Wilhelm-August 420 Oldenstedten, Amalia 417 Olearius, Adam 9 Olmütz, Bischöfe von Bruno von Schauenburg 379 f., 386 f., 390 → Holstein-Schauenburg (Haus) Osnabrück, Bischöfe von Heinrich III., Bf.-Elekt von Osnabrück, Gf. von Holstein-Rendsburg 117–119, 236, 254, 378, 380, 384, 389, 391 → HolsteinSchauenburg-Rendsburg, Grafen von Konrad IV. von Rietberg 388 → Rietberg, Grafen von Otto von Hoya 390 → Hoya, Grafen von Paderborn, Bischöfe von Simon zur Lippe 388 f. → Lippe, Herren zur Panin, Nikita Iwanowitsch, Gf. 411–413 Panten, Albert 116, 141, 242 Papritz, Johannes 98–100, 102 f., 106 f. Parzival (Sagengestalt) 226 Pauli, Karl Friedrich 270, 273 Pauls, Volquart 67 Peñaforte, Raimund von 477 Peter I. der Große, Zar 9 Petersen, Johann 150, 154, 158, 177, 255 f. Petersen, Thorge 17 Petry, Ludwig 16, 76 Pfaff, Christoph Heinrich 342 Pfeffer von Salomon, Franz 430 Philipp Julius, Hzg. von Pommern 370 Piotrowski, Swantje 17, 332, 338 Pietsch, Tobias 21 Pogwisch (Haus) Hans 260 Wolfgang 165 Wulf der Ältere 156, 162, 165, 171, 175, 246 Popp, Lothar 437, 439 Potzuweit, Laura 22, 25 f. Presbyter Bremensis 115 f., 118, 120, 126–128, 130–133, 136 f., 141, 150, 153, 234, 255 f. Presser, Jacques 180 Rantzau (Familie) 156, 162, 165, 171, 175 Breide 259 f. Hans 260 Heinrich 122, 126, 137, 150, 163, 261

Personenregister Regulski, Christoph 434 Reichpietsch, Max 434 Reimann, Norbert 111 Reininghaus, Wilfried 106 Reis, Philipp 58 Reitemeier, Johann Friedrich 19 f., 263, 266– 269, 277–289 Renner, Johann 150, 162 Respondek, Peter 205 Reventlow, Detlev von 333 Reventlow, Klaus 259 Rheinhold (Familie) 321, 335, 340 Karl Leonhard 335, 337 f. Sophie verh. mit Karl Leonhard, geb. Wienland 335 Richthofen, Manfred von 191 Rietberg, Grafen von Johann I., Gf. 387 f. Konrad IV. von Rietberg 388 → Osnabrück, Bischöfe von Margarethe (Tochter Johanns) 388 Rinesberg, Gerd 150 Robert I., Kg. von Schottland 226 Rodenberg, Carl 67 Rohr, Wilhelm 110 Romanow-Holstein-Gottorf (Haus) Alexander I., Zar 424 Maria Feodorowna (Sophie Dorothee Auguste von Württemberg) verh. mit Paul I., Zarin 412–414, 417, 419 f., 423–426 Katharina II., Zarin 359, 411–413, 426 Paul I., Zar 411–413, 423–426 Rønnow Eler zu Ejsbol 230 Tonne 230 Roßbach, Gerhard 448 Sachs, Lothar 215 Sachsen (Haus) Judith/Jutta von Sachsen 361 → Estridsson (Haus) Sachsen-Lauenburg, Herzöge von 353–355, 359, 361, 365–367, 371 Agnes von Holstein-Schauenburg-Plön 252 → Holstein-Schauenburg-Plön, Grafen von Albrecht III. 356, 361 f. Albrecht IV. 362 f. August 360, 371 Bernhard II. 364

Personenregister Dorothea von Sachsen-Lauenburg 365, 367 → Oldenburg (Haus) Elisabeth von Weinsberg verh. mit Erich V. 358 Elisabeth von Holstein verh. mit Johann II. († vor 1340) 362 Elisabeth von Holstein verh. mit Erich V. († 1416) 364 Erich I. 356 f., 361 f. Erich II. 363 Erich IV. 117, 122 f., 125 f., 128, 131, 133– 135, 140, 142, 152, 158 f., 162 f., 166, 172, 176, 364 Erich V. 355, 358, 364 Ernst Ludwig (Sohn Franz II.) 365 Franz I. 365, 369, 371 Franz II. 353, 359 f., 365 f., 368 f. Franz Albrecht (Sohn Franz II.) 359 f., 369 f. Franz Erdmann 370 Franz Heinrich (Sohn Franz II.) 370 Franz Julius (Sohn Franz II.) 359, 365 Franz Karl (Sohn Franz II.) 359 f., 365 f., 370, 372 Gustav (Sohn Magnus II.) 369 Heinrich (Sohn Erich V.) 358 Joachim Sigismund (Sohn Franz II.) 366 Johann I. 356 Johann II. 356 f., 360–363 Johann IV. 363 Julius Franz 359 Julius Heinrich 353, 359 f., 365, 369 f., 372 Katharina 353, 367 f., 371 → Wasa (Haus) Katharina von Braunschweig-Wolfenbüttel verh. mit Magnus I., Hzgn. 367 Maria Franziska Hedwig (Tochter Franz II.) 359 Moritz 369 Magnus I. 367 Magnus II. 368 f., 371 Rudolf Maximilian (Sohn Franz II.) 359 Sachsen-Wittenberg, Herzöge von Albrecht II. 357 Albrecht III. 355, 357, 361 Sander, Daniel 26 Sante, Georg W. 110 Sauermann, Ernst 68 Savigny, Friedrich Carl von 268 Saxtorph, Matthias 334 Schacter, Daniel 185

541 Schaumburg/Schauenburg (Haus) 117–119, 122, 132, 237, 253 f., 256, 258 f. → HolsteinSchauenburg (Haus) Schene, Herbord 150 Scheidemann, Philipp 449 Scheüch, Heinrich 440 Schittenhelm, Alfred 87 f. Schleswig, Bischöfe von Niels II. 233 Waldemar 169 → Estridsson (Haus) Schlögel, Karl 11 Schlözer, August Ludwig 273 Schmarje, Johannes 63 Schmeißer, Felix 66 Schnack, Frederieke Maria 21 Schneider, Joachim 14 Schreckenbach, Hans-Joachim 110 Schroder, Wilhelm 388 Schröder (Familie) 181 Hans 18, 178 f., 181, 183–199 Karsten 181 Schulte, Gerhardt 156, 163, 175 Schulte, Severt 162, 171 Schulte, Wolfgang 48 Schultheiß (Familie) Johannes 469 Wilhelm 469 Schulze, Winfried 181 Schumacher, Kurt 294 Schwartz, Theodor 518 Schwarzburg, Grafen von Heinrich IX. 381 Helene von Holstein-Schauenburg-Pinneberg verh. mit Heinrich IX. 381 Seckendorff, Veit Ludwig von 401 Seegers, Lu 513 Seestedten, Siegfried von 174 Seeßlen, Georg 31 Sehestedt (Familie) 230 f. Reimer 228–231, 242 Reimer Hartvigsen 230 f. Reimer Reimersen 242 Wulf 260 zu Maasleben, Reimer Ottesen 230 f., 242 Seiffert, Joana 328 Sex Pistols (Band) 29 Siegloff, Eicke 246 Siewert, Paul 446 Siggen Heinrich von 156, 158, 162, 171, 175

542 Oue/Otto von 156, 162, 171, 175 Soja, Edward W. 10 Sonntag, Ernst 203 Souchon, Wilhelm 434 f. Spangenberg, Cyriakus 122, 126, 150, 172 Speitkamp, Winfried 14 Staal, Karl Friedrich von 411, 414, 417, 425 f. Stalin, Josef 295 Staufer (Haus) Friedrich I., röm-dt. Kg., Ks. 226 Friedrich II., röm-dt. Kg., Ks. 226, 515 Stegmaier, Werner 421 Steigerwald, Jelena 17 Steinhoff, Uwe 328 Stoffel (Familie) Agnes 468 Gregor 468 Stolberg, Grafen von Agnes verh. mit Friedrich Leipold 417–419 Friedrich Leipold 412, 416, 418 f., 423, 426 Sophie Charlotte von Redern verh. mit Friedrich Leipold 418 Stolz, Gerd 325, 328, 345 Storm, Theodor 60 Struensee, Johann Friedrich 330 f., 334 Stuhlmann, Adolf 66 Stüben, Joachim 132, 141 Sturm, Michael 50 Sverker (Geschlecht) Erik X., Kg. von Dänemark 354 Rixa von Dänemark 354 Sywens, Wenni 241 Tecklenburg (Haus) Nikolaus III., Gf. von Tecklenburg 388 Nikolaus IV., Gf. von Lingen 388 Thaer, Albrecht von 442 Thiel, Frank (fiktiver Tatort-Charakter) 34 Thießen, Malte 77 Thomas von Aquin 478 Thöming, Jann-Thorge 20 Tiedemann, Markus 513 Tratzinger, Adam 120, 137 Trede, Paul 66 Trede, Walther 60 f. Treitschke, Heinrich 288 Trump, Donald 33 Turriani, Joachim 487, 489 f.

Personenregister Ukena, Focko 240 Ulbricht, Walter 285 Ulmanis, Karlis 445 f. Vermehren, Julius 525 Veßler, Kilian 471 Volbehr, Friedrich 80 Vollnhals, Clemens 204 Volquartz, Jens Boye 18 Vrese, Johann 240 Wachowski, Nathalie 25 Wallander, Kurt (Romanfigur) 34 Warnstedt, Adolf von 510 Wasa (Haus) Erik XIV., Kg. von Schweden 367 Gustav II. Adolf, Kg. von Schweden 370, 372 Gustav Vasa, Kg. Von Schweden 353, 366– 368, 371 Johann III., Kg. von Schweden 369 Katharina von Sachsen-Lauenburg verh. mit Gustav Vasa 353, 367 f., 371 Weber, Caroline Elisabeth 20, 322 f., 341 Weber, Max 407 f. Wedekind vom Berge 386 Wegner, Matthias 513 Wehner, Bernd 34 Weinhauer, Klaus 31 Weinhold, Karl 67 Weinsberg (Haus) Elisabeth 358, 371 → Sachsen-Lauenburg, Herzöge von Konrad von 358 Wels, Otto 440 Wenker, Georg 17, 55–59, 62, 64, 67, 71 Werners, Mathias 13 Wettin (Haus) Friedrich I. von Meißen, Kurfürst von Sachsen 355, 358 f. Wilhelm III., Gf. von Sachsen, Lgf. von Thüringen 482 Weyl, Richard 80 Wieland (Familie) Christoph Martin 338 Sophie 335 → Rheinhold (Familie) Wiemken, Edo 240 Wilhelm Hzg.von Jülich, Gf. von Ravensberg 388 Winnig, August 445

543

Personenregister Wippermann, Wolfgang 286, 288 Wisser, Wihelm 64, 67 Wittelsbach (Haus) Maximilian I., Hzg. von Bayern 365 Leopold, Prinz von Bayern 442 Sabina, Hzgn. von Württemberg 472 → Württemberg (Haus) Wolf, Markus 299 Wollweber, Ernst 430 Wosnitza, Günther 311 Württemberg (Haus) Christoph, Hzg. 465 Eberhard II., Hzg. 471 Eberhard V., Gf. 457, 465 Elisabeth Wilhelmine Louise 414 Elisabeth Wilhelmina 426 → Habsburg (Haus)

Friedrich Eugen, Hzg. 415, 423 Friederike Sophia Dorothea von Brandenburg-Schwedt verh. mit Friedrich Eugen 415, 423 Mechthild von der Pfalz, Hzgn. 468 Sabina von Bayern verh. mit Ulrich 472 → Wittelsbach (Haus) Sophie Dorothee Auguste 412–414, 417, 419 f., 423–426 → Romanow-HolsteinGottorf (Haus) Ulrich, Hzg. 457 f., 465, 471 f. Ulrich III., Gf. 462 Ulrich V., Gf. 470 f. Zangel, Frederic 19 Zirpins, Walter 34

Ortsregister von Florian Kehm, Katharina Nierula und Helena Knuf Erfasst wurden alle genannten Orte aus dem Fließtext und den Fußnoten. Aachen 355 Aalborg 332 f. Afghanistan 312 Ägypten 264 Ahrensbök (Kloster) 247, 252 f. Albersdorf 129, 135, 142 Alsen 247 Amerika 32, 196, 205 Angeln 230 Apenrade (Schloss) 364 Arkebek 135, 142 Arrö 247 Asperg 461 Auerstedt 509 Augsburg 359 Universität 15 Baden-Württemberg 30, 55, 83 Baltikum 20, 22, 263, 265–257, 270–273, 278–283, 286, 289, 442–454 Bannesdorf 246, 248 Bargenstedt 139, 142 Barkenholm 138, 142 Barlt 18, 179 f. Barth 370, 372 Barsfleth 138 f., 142 f. Bayern 52, 83, 98, 187, 397 Belgien 180 f., 185, 195 Bergedorf (Schloss) 134, 156 Bergewöhrden 136, 142 Berlin 38, 51 f., 296, 329, 437–440, 444 f., 450 f., 454, 519, 521 Berliner Ring 296 Ostberlin 297 f. Prenzlauer Berg 291 Stadtschloss 440, 454 Universität 312 Westberlin 294, 297 f., 304 Bern 336 Blaubeuren 461 Bochum (Universität) 35 Bohus (norwegische Festung) 363

Böhmen 355, 359, 370, 375 Boizenburg 297 Bologna 481 Universität 477 Bonn 51, 303, 339, 497 Universität 206 Bordorf 139, 143 Borgholz 140, 143 Bornhöved 169, 247, 250 Bozen (Universität) 15 Braaken 140, 143 Brabant (Herzogtum) 483 Bramstedt 129, 131, 134 Brandenburg 46, 278 f., 356 Landeshauptarchiv 110 Braunschweig Herzogtum 413 Universität 15, 206 Bregenz 461 Bremen 121–126, 128, 133, 137, 144, 150, 153, 162, 219, 239–241, 429, 490, 513 f. Bremen-Oslebshausen (Haftanstalt) 437 Erzbistum 123, 168, 375, 377 f., Stift 163 Broklandsautal 136 Brothen 311 Brunsbüttel 136 f., 142 f. Büchen 291, 297, 302, 305–309, 311, 313–319 Bahnhof 295, 307, 315 f., 318 Bahnhofsmission 20, 302 f., 308–311, 318–320 Büchen-Schwanheide (Eisenbahnübergang) 292 f., 298 Ladestraße 308 Bunsoh 135, 142 Bundesrepublik Deutschland → Deutschland Burg (Kirchspiel) 136, 143 Burgund (Herzogtum) 483 Busenwurth 139 f., 142 f. Büsum Insel 139 f., 142 f. Kirchspiel 495 f., 498 f., 501, 509

546 Butjadingen 239–241 Camelot 226 Celle 331 Chemnitz (Universität) 15 Dänemark 9, 21, 23, 25, 68, 77, 96, 153, 186, 231 f., 234, 245 f., 250, 252, 254, 259, 261, 269, 314, 329–332, 334, 338 f., 353–355, 361–368, 371, 376, 414, 495, 497 f., 506 f., 509 f. Dänischenhagen 60 Deister (Höhenzug) 389 Dellbrück 117, 138, 151, 154, 156, 159 f., 162, 164, 166 f., 169, 171, 173–176 Dellstedt 135, 142 Delmenhorst (Grafschaft) 333 Delve 136, 142, 507 Den Haag 43 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 16, 20, 40, 51, 53, 98, 101–104, 106 f., 110 f., 202, 291–298, 300, 302–305, 308–315, 317 f., 320 f. Deutsches Reich 12, 24, 29, 33, 41, 49, 56, 179, 186 f., 192–194, 196 f., 250, 265 f., 269–289, 328, 353 f., 356, 360 f. 364, 366 f., 371 f., 398, 412, 414, 438, 440 f., 4342–451, 453, 483, 496, 510, 514–516, 525 f. Deutschland (ab 1945) 12 f., 16, 18, 24 f., 29 f., 32–35, 40 f., 43–45, 49–53, 87, 95 f., 106, 110 f., 198, 201 f., 204 f., 207–210, 221, 268, 295–298, 302 f., 307–313, 315, 317–320, 328, 337, 339, 342, 412, 424, 429–431, 433 f., 441 f., 447, 449 f., 453, 514, 526 Deutschordensstaat 289 Deutsch-Ostafrika 87 Dietsche Hewe 195 Dithmarschen 18, 23, 115–117, 119–124, 126–128, 132–134, 136, 138 f., 141–146, 150–159, 161–166, 168–170, 172–177, 179 f. 199, 236 f., 362, 495–497, 505 Dörpling 135, 142 Dortmund (Kloster) 490 Dudelbüttel 135, 142 Eckernförde 236 Eddelak 139, 142 f. Eger Kloster 489 Stadt 489

Ortsregister Eider (Fluss) 136, 154, 163, 168, 173, 236, 240, 249 Ulendam 136 Eidstedt 241 Eisenach (Kloster) 482, 488 f. Elbe 227, 249, 269, 281, 289, 292, 300, 302, 373 f., 383, 385 Elmshorn 60 Elpersbüttel 138 f., 142 f. Elsfleth 422 Emkendorf (Herrenhaus) 342 England 45, 191, 194, 197 Epenwöhrden 138 f., 142 f. Erfurt Kloster 482, 490 Universität 482 Essen 30 Étupes 414 f. Schloss 415 Eupen 198 Europa 9 f., 15 f., 29, 36, 41, 43, 45, 48, 53, 76, 263 f., 280, 283, 286, 289, 294 f., 330, 332, 336, 340, 342, 370, 403, 406, 512 Eutin 247 Falster 247, 250, 363 Farnewinkel 139, 142 Fedderingen 136, 142 Fehmarn (Insel) 19, 235, 245–255, 257–262 Finnland 444 Fischbeck (Kloster) 381 Flandern (Grafschaft) 483 Flensburg 237 f., 257 Flensburger Förde 235 Francia (dominikanische Ordensprovinz) 481, 492 Frankfurt am Main 30, 355, 423 Frankfurt an der Oder (Universität) 268 Frankreich 45, 52, 179 f., 185, 194–197, 286, 509 Franzhagen 366 Freiberg (Kloster) 482, 489 Freiburg (Universität) 63 Fresendelf 232 Frestedt 139, 143 Friedland 302 Friesenburg 19, 225, 228 f., 231–235, 237, 239–242 Friesland 19, 225, 228, 233, 238–243 Fünen 247

547

Ortsregister Gaushorn 135, 142 Geesthacht 313 Geldern (Herzogtum) 483 Genf 345 Genfer See 346 Gent (Kloster) 481 f. Germania Slavica 267, 273 Glambek (Burg) 19, 245–262 Glückstadt 61, 66, 497 Glüsing 135, 142 Göttingen Stadt 268 Universität 73 Gottorf Amt 232 Herzogtum 332, 500, 503–505 Schloss 9, 26, 225, 228, 232–236, 238, 332 Neuwerkgarten 9 Globushaus 10 Greifswald Kloster 482 Universität 482 Grevecourt 197 Grevenalveshagen 388 Grevesmühlen 300 Griechenland 286, 289 Großbritannien 52, 206, 265, 434, 447 f. Groß Flintbeck 58 Gudow 297, 297, 302, 313, 317 Güstrow 397 f. Haag (Kloster) 481 f. Hademarschen 131 Hadersleben 260, 370 Hagenow-Land (Bahnhof) 305 Halberstadt (Bistum) 380 f., 384 f. Halle an der Saale 484 Hamburg Altona 438 Bistum 129 Kirche St. Johannis 493 Kloster 23, 479 f., 485–487, 492, 494 Staatsarchiv 99, 203, 209 Stadt 79, 129, 153 f., 159 f., 172–174, 185, 204, 218 f., 236 f., 251, 256, 259, 269, 297, 308 f., 358, 363 f., 380 f., 384 f., 417, 427, 437, 514, 519, 527 Universität 18, 65, 205, 210–212, 214, 220 Universitätsarchiv 209 Hameln (Bonifatiusstift) 382

Hammaburg 227 Hamme 119 f., 122, 124, 140, 151–153, 155 f., 161, 169, 171, 175, 177 Hanerau (Burg) 128, 135, 141, 154 f., 159, 162, 165, 167, 170, 173, 176 Hannover (Universität) 205 Haseldorfer Marsch 123 Hashöved 135, 142 Heide Flecken 115, 136–138, 140, 143, 154, 156, 161, 168, 170, 173, 175, 497, 500, 504–508 Kirchspiel 500, 504, 507 Heidelberg 497, 504 Heiligenhafen 247, 257 Heiliges Land 374 Helmstedt 365 Hemme 142 f. Hemmingstedt 115, 140, 143, 177, 498 Hennstedt 136, 142 Herford 387 Hernburg-Lübeck 291, 297 Herzogtum Schleswig 378 Hessen (Bundesland) 34, 42, 46, 58 Hesterberg 234 f. Hildesheim 23, 379, 381–386, 391, 495 f., 508–510 St. Moritz 384 Hirsau (Kloster) 469 Hohenaspe 57 Hollingstedt 232 Holstein 18, 56, 117–124, 126–129, 131–134, 136–138, 140–143, 150, 153, 156, 158–160, 162–167, 169, 171–177, 236, 245, 249, 254 f., 257, 274, 332 f., 338, 342, 347, 364, 366, 385, 391, 496, 498, 504, 509 Holstein-Gottorf (Herzogtum) 332 Hopen 142 Hoya (Grafschaft) 390 Ickenmühle 135, 142 Italien 286, 419 Itzehoe 66, 71, 87, 127, 154, 162, 168, 173, 499, 510 Sude (Stadtteil) 87 Königsberger Allee 87 Memeler Weg 87 Tilsiter Straße 87 Jelgava 443 Jena 337, 509

548 Kloster 482, 488 f. Jürgensburg 234 Kaiserreich → Deutsches Reich Kalkar (Kloster) 481 f. Kallundborg 363 Kalmar 367, 369 Kaunas 442 Ketelsbüttel 138 f., 142 f. Kiel 17, 19 f., 22, 32, 72, 87, 186, 203, 204, 211, 217–219, 225, 247, 268 f., 321, 324–329, 332, 333, 335–338, 349, 429–431, 433–439, 444, 451, 454, 497 Adolf–Lüderitz–Straße 87 Albert–Schweitzer–Weg 87 Carl–Peters–Straße 87 Graf–von–Spree–Straße 87 Kreis 58 Kiellinie 87 Lettow–Vorbeck–Straße 87 Mohrenapotheke 87 Parkfriedhof Eichhof 20, 321–328, 335, 341, 345, 347, 349 f. Paul von Hindenburg Ufer 87 Pries (Stadtteil) 71 Schittenhelm–Straße 87 Schloss 333 Stadtmuseum 86 St. Jürgen–Kapelle 325 f. St. Jürgen–Kloster 324 St. Nikolai 324 Traditionsstätte St. Jürgen 20, 321, 322– 328, 334, 336, 345–347 Universität 15, 17 f., 20, 65, 67–69, 74 f., 80–82, 87 f., 95, 209 f., 212, 214, 217–219, 268, 324, 329, 332–334, 338. 342 f. Universitätsfrauenklinik 330, 334 Klein Elmeloo (Familiengrundstück) 343 Klenzau 64 Kleve 142 Koblenz 110 Kodingborstel 135, 142 Köln 294, 356, 364, 385, 481 Erzbistum 382, 483 St. Gereon 384 Universität 205, 481, 485, 492 Königsburg (Burg) 232 f. Köszeg 319 Konstanz 231, 233 f.

Ortsregister Kopenhagen 269, 329–331, 333 f., 336–339, 342, 345, 364, 371, 424 f. Königlich Dänische Kunstakademie 329 Universität 329, 333 Universitätskrankenhaus FriedrichsHospital 329 f. Korsholm 367 Kremper Marsch 252 Kronshagen 325 Kronstadt 431 Krumstedt 139, 142 Kurhannover 509 Kurland 446 Kyffhäuser 226 Lammersbol 136, 142 Langeland 247 Langenlehsten 308 Lauenburg Herzogtum 21, 129, 176, 291 f., 355–358, 360, 365, 367–370, 372, 508 Kreis 311 Stadt 134, 292, 297, 300, 292, 313, 319 Leeuwarden 482 Lehrsbüttel 139, 142 Leine 389 Leipzig 319, 482 Kloster 482, 487–489 Nikolaikirche 319 Lemgo Kloster 381 f. Stadt 387 Lendernhude 135, 142 Leonberg 471 Lettland 271, 444–446, 449 Lieth 140, 143 Lille (Kloster) 481 f. Lindaunis 233 Linden 136, 142 Litauen 281, 286, 446 Livland 271 Lockstedter Lager 62 Lohe 140, 143 Lolland 235, 247, 251 Lombardia inferior (dominikanische Ordensprovinz) 481 Lübbecke 387 Lübeck 24, 63–65, 121, 123–125, 129, 137, 143, 150, 152–154, 159 f., 167, 172 f., 236 f., 245 f., 251, 253, 255–259, 262, 292, 296 f.,

Ortsregister 300, 308, 311, 319, 358, 363 f., 367, 437, 511–513, 515–517, 520–527 Behnhaus 524 Bistum 379, 384 f., Bürgermeisterkanzlei 512 Europäisches Hansemuseum 512 Hanseatischer Flughafen 522 Hansebüro 512 Katharinenkirche 524 Kloster 487 Lübeck-Hannover (Bahnsteig) 318 Lübeck-Hernburg (Eisenbahnübergang) 30 Stadtbibliothek 524 Luckau (Kloster) 482, 489 Lunden Kirchspiel 140, 155, 160, 163, 170, 174, 506 Stadt 160, 163, 170, 505 Lüneburg 443 Lütjenburg 69, 247 Lützen 370 Lyon 44 Magdeburg Erzbistum 375, 379, 384 f. Kloster 482 f. Stadt 379, 385 Mähren 390 Mainz (Universität) 15 Malmö 507 Marburg Archivschule 98, 106, 111 Universität 41, 43, 57 f., 67 Marienburg 112 f., 121, 123, 125, 128, 133, 137–140, 142, 147, 149, 157, 238 Marienfließ (Kloster) 370 Marne 138 f., 142 f., 185, 197 Marsch-Region 185 Mecklenburg (Herzogtum) 393, 395, 397– 408, 421 Meldorf Kloster 487, 497 Stadt 115, 125 f., 136, 138 f., 143, 148 f., 152, 154, 157, 159, 162 f., 165, 167, 171 f., 176 Memel 266, 281, 289 Mesopotamien 97 Minden Bistum 118, 375, 379, 381, 383–375, 390 f. Hochstift 375, 385, 389 f. Kathedrale 374

549 Stadt 386–389 Stiftsburg Rahden 388 Mitteleuropa 264, 266 f., 270, 275, 280, 286, 288 f., 404 Molfsee 56, 58 f. Mölln 313, 317 Mömpelgard (Grafschaft) 414, 423 Møn 247 Moskau 293, 297, 304 Mühlenbarbek 66 München 30, 438, 451 f. Universität 87 f. Münster Bistum 384 f. Stadt 33, 45, 63 Münster-Hiltrup 46 Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) 46 Villa ten Hompel 45, 47 Universität 205 Nagold 462, 470 Neckar 457, 464 Nehring 140, 143 Neubrandenburg 400, 402 Neuhaus 366 Neuostpreußen 278, 287 Neuruppin 417 Niederdeutschland 55, 60, 63, 124 Niederlande 180, 490 Niedersachsen 41, 61, 66, 83, 218 f., 513 Nienbüttel 135, 142 Niendorf 139, 142 Nienkerken 142 f. Nordamerika 45 Norddeutschland 24 f., 56 f., 495 Nordelbien 123, 385 Norderdithmarschen 139, 495–498, 503 f., 510 Norderhamme 136 f., 154, 162 f., 165, 168, 173, 176 Norderheistedt 135 f., 142 Norderwöhrden 500, 506 Nordfriesland 19, 228 f. Norditalien 477 → Oberitalien Nordkorea 296 Nordmark 63, 65 f. Nordrhein-Westfalen 47, 218 f. Landesarchiv 112 Norwegen 365

550 Oberitalien 404 → Norditalien Obersachsen 359 Oberschlesien 452 Ober-Ost 442 Odderade 139, 142 Odense 79 Oder 268, 277 f., 282 Oesel (Insel) 368 Offenbüttel 135, 142 Öland 367 Oldenburg Herzogtum 254, 333, 409, 411, 413, 420 f., 423 f., 426 f. Stadt 247, 254, 425 Gertrudenfriedhof 419 Oldenwöhrden 115, 142 f., 162 f. Oldenwurden 139 Oldesloe 253 Olmütz (Bistum) 384 Oranienburg 47 Osmanisches Reich 404 f. Osnabrück Bistum 378, 383 f., 389, 391 Hochstift 386 f. Stadt 385, 387, 390 Ostdeutschland 29, 102, 110, 295, 297 Osterrade 135, 142 Österborstel 135, 142 Österreich 319, 409, 412, 519 Osteuropa 442 f., 515 Ostholstein 64, 246, 248 Ostland 450 Ostmitteleuropa 276 Ostpreußen 56, 271, 446–448 Ostrohe 140, 143 Ostsee 265 f., 279 f., 290, 300, 513 Ostseeraum 21, 265, 270, 272 f., 366, 371, 525 Ottenbüttel 59 Paderborn 382 Pahlen 135, 142 Parchim 404 Paris 413, 478, 509 Passau 357 Perugia 485 Petersdorf 248, 250 f. Petershagen 381 Pinneberg 63 Pirnau (Kloster) 489

Ortsregister Plauen (Kloster) 488 f. Plön 247 Polen 218, 273, 279, 282, 286, 288, 309, 312, 443, 452 Polen-Litauen 277, 287 f. Pommern 278 f., 370, 372, 393, 421 Prag 312, 355, 360, 369 f. Preußen 19, 23, 38, 43, 51, 56, 68, 71, 218, 268, 271 f., 275–278, 284–289, 321, 409, 412, 438, 440, 444, 495, 509 f., 514 Priwall 292 Puttgarden 246 Pyrmont 415 Ratzeburg 313, 363, 368 Ratzeburger See 300 Ravensberg (Grafschaft) 388 Regensburg 29, 254, 355, 360 Remstal 458 Rendsburg 185, 187, 236, 346, 389 f., 505 f, Rensburg-Eckernförde (Kreis) 57, 61 Reutlingen 468 Rhein 295, 471 Rheinland-Pfalz 41 Rickelshof 140, 143 Rieseby 57 Riga 443–448 Ripen 17, 61, 72, 89 Ripenburg 156 Röbel 487 Rom 286, 364, 491 Römisches Reich 285 f., 289 Rostock 300, 311, 437, 482 f., 487, 490 Röst 128, 134, 141 f. Rottenburg 468 Rotterdam 481 f. Rügen 421 Ruhrgebiet 38, 51 Rungholt 227 Runstede 135, 142 Russland 411, 413, 424, 426, 431, 442, 444, 447 Rüsdorf 140, 143 Sachsen (Kurfürstentum) 361, 488 f. Sachsen-Anhalt 33 Landesarchiv 95 Sachsen-Bergdorf-Mölln (Teilherzogtum) 358 Sachsen-Lauenburg (Herzogtum) 353, 369, 372

Ortsregister Sachsen-Wittenberg (Herzogtum) 355, 358 Salzburg (Universität) 15 Sarzbüttel 139, 142 Saxonia (dominikanische Ordensprovinz) 23, 475, 479, 481–483, 485, 487 f., 491 f., 494 Schafstede 135, 142 Schaumburg/Schauenburg (Grafschaft) 145, 375 f., 381, 385, 390 f. Schenefeld 131 Schlackenwerth 370 Schlei 233–235, 247, 256 Schlesien 274, 278–280 Schleswig Herzogtum 117, 156, 165, 171, 175–177, 228 f., 233 f., 237, 240, 245, 251, 332 f., 338, 342, 347, 364, 366, 496, 498, 504, 509 Möweninsel 234 Stadt 203, 235 f. Landesarchiv 181, 209 Schleswig-Holstein 15, 17 f., 20, 23, 55–57, 59–61, 63, 65–72, 79, 84, 89, 109, 144, 161 f., 171, 179, 182, 185 f., 198–200, 205, 209, 218 f., 227, 245 f., 248, 291 f., 296 f., 299 f., 313, 318–321, 328, 339, 342 f., 346, 376, 433, 438, 454, 495, 504–508, 510, 524 Schnackenburg 302 Schorndorf 458 Schrum 135, 142 Schuby 233 Schwaben 15 Schwabstedt (Burg) 128, 135 f., 141 f., 154, 159, 162, 165, 167, 173, 176, 232, 242 Schwanheide 303, 314 Schwanheide-Büchen 291, 297 Schweden 21, 32, 353–355, 363, 365–371, 412, 426, 452 Schweiz 336 f. Schwerin 297, 300–302, 311, 314, 384 f., 394, 437 Schwienhusen 136, 142 Slavia (dominikanische Ordensprovinz) 487 Sollbrück 232 Solleruper Heide 238 Sowjetrussland → Sowjetunion Sowjetunion 293–296, 442 Speyer 46 Universität (Verwaltungswissenschaften) 46 Staberhof 248

551 Stadland 239 Steinburg (Kreis) 57, 59, 62, 66, 252, 259 Stekeborg 250 Stelle 140, 143 Sternberg 398, 404 Stockholm 369, 371, 425 Nikolai-Kirche 366 f. Stormarn 253 f., 257 Stralsund (Kloster) 487 Straßburg 185, 329 f. Stuttgart 67, 451, 457, 464 f., 468–472 Marktplatz 473 Vogtei 470 St. Petersburg 9, 409, 413, 417, 420, 424 Südamerika 270 Süddeutschland 23, 404, 509 → Deutschland Südelbisches Gebiet 385, 391 Süderdithmarschen 59, 139, 501 → Dithmarschen Süderhamme 115–118, 124, 126, 137, 139, 141, 143, 149, 155, 160, 163, 165, 169, 174, 177 → Hamme Süderhastedt 139, 143 Süderheistedt 136, 142 Süderholm 135, 142 Süderrade 135, 142 Südkorea 296 Südpreußen 278, 287 Sylt 345 Taasing 362 f. Tellingstedt (Kirchspiel) 129, 135, 142 Tensbüttel 128 f., 134, 141 f. Teutonia (dominikanische Ordensprovinz) 481 Thalingburen 138 f., 142 f. Thüringen 482 Tielenburg (Festung) 117, 128, 135 f., 141, 154, 159, 162, 165, 167, 173, 176, 238 Tiperslo 166 Tondern 96 Tønderhus 230, 236 Treene 225, 232 f., 239 f. Treia 232 f. Tremsbüttel 368 Trittau (Burg) 253 Tschechoslowakei 296, 312 Tübingen 22 f., 67, 365, 457–473 Kellerei 463 Neckarbrücke 464

552 Schloss 464 f. Spital 459 Stiftskirche 464 f., 469 Universität 457, 464 Ungarn 312, 319, 452 Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) → Sowjetunion Urach 464, 470 f. USA 30–32, 53 f. Utrecht (Kloster) 481, 488 Vatikan 388, 475, 481, 489 Venedig 487–489 Venezuela 521 Vereinigte Staaten von Amerika → USA Vilnius (Universität) 276 Vordingborg 247, 257 Vredeburg 238–241, 243 Wagrien 121, 144, 150, 158, 274 Wallen 135, 142 Waren 401 Warnemünde 247, 250 Wartburg (Kloster) 488 Weddinghusen 140, 143 Weddingstedt 140, 143, 155, 160, 163, 170, 174 Weichsel 273, 277 f., 282 Weimar 33 Weimarer Republik 22, 24, 41, 49, 51, 55 f., 68, 99, 429, 433, 438, 441, 451 f., 511 f., 517, 523, 526 f. → Deutsches. Reich Weißrussland 442 Wellspang 232 f. Welmbüttel 135, 142 Wennbüttel 135, 142

Ortsregister Werle-Wenden 421 Wesel (Kloster) 483 Weser 235–241, 373–375, 378, 385, 387, 389, 391, 422 Weslingburen 142 f. Wesselburen 138 f., 145, 498 Kirchspiel 507 Wesseln 140, 143 Westdeutschland 110, 294, 304 Westeuropa 30, 264, 289 Westerborstel 135, 142 Westerrönfeld 61 Westfalen 15 Westpreußen 287 Wiemerstedt 136, 142 Wien 43, 329, 355, 370, 480 f. Universität 481 Wilhelmshaven 434 Wilna 276 Wilster 131 Wilstermarsch 126 Windbergen 139, 142 Winseldorf 62 Wismar 247, 437 Kloster 483, 485, 487 Wittenberg (Herzogtum) 356–358 Wittenburg 305 Wöhrden 59, 142 f. Wolmersdorf 139, 142 Wrohm 135, 142 Württemberg 22 f., 423, 457 f., 460, 462, 464, 467, 470 Ymbria 250 → Fehmarn Zarskoje Selo 332 Zwolle 512