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German Pages 280 Year 2014
Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.) Alter: unbekannt
Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.)
Alter: unbekannt Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven
Dieses Buch wurde durch die Robert Bosch Stiftung gefördert.
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Inhalt
Einleitung Carolin Kollewe | 7
I. B ILDER DES A LTERS Ästhetik des Alters Christoph Türcke | 19
Vorhang auf für die neuen Alten! Vom allmählichen Wandel unseres kulturellen Altersbildes Herrad Schenk | 27
»Ich werde immer allein sein.« Diskurse zum Alter bei Simone de Beauvoir Ilse Nagelschmidt | 41
Des Alters neue Kleider? Alter im Blick von Theater, Tanz und Film Veronika Darian | 57
II. A LTERNDE G ESELLSCHAFTEN Altern in Unsicherheit Gesundheit und Pflege von alten Menschen in Indonesien und Tansania Peter van Eeuwijk | 83
Generationenbeziehungen in alternden Gesellschaften Ein Blick auf Deutschland und nach Tansania Harald Künemund/Nele Marie Tanschus | 113
Generationenbeziehungen und ihre Ausformung in Migrantenfamilien Eine psychologische Perspektive Haci-Halil Uslucan | 133
Absicherung und Situation alter Menschen in der Volksrepublik China Renate Krieg | 151
Altern in Mexiko – Altern in gesellschaftlicher Ungleichheit Carolin Kollewe | 175
III. K ÖRPER , G EIST , S EELE Friseur und Fitnessstudio Altersbilder, Schönheit und Körperpraktiken Jutta Buchner-Fuhs | 199
Sexualität im Alter unter lebenslaufbezogener Perspektive Vera Bamler | 223
Offenheit, Generativität und Integrität als Entwicklungsaufgaben des hohen Alters Andreas Kruse | 243
Die Suche nach der Vollkommenheit Medizinische Utopien und ihre ethischen Konsequenzen am Anfang und am Ende des Lebens Ortrun Riha | 261
Verzeichnis der Autoren/-innen | 273
Einleitung Carolin Kollewe
Das Altersthema ist aktuell in aller Munde. In Zeiten, in denen eine »Inflation der Alters- und Generationendiskurse« (Haller/ Küpper 2010: 439) konstatiert wird, erscheint daher eine Publikation mit dem Titel »Alter: unbekannt« auf den ersten Blick etwas befremdlich. Allerdings ist das Alter trotz der jahrzehntelangen Erforschung durch verschiedene Disziplinen oftmals etwas Schwammiges geblieben. Es erscheint wie ein Schatten, der sich verändert, sobald man ihn zu fassen versucht. So weist der Begriff eine große Interpretationsbreite auf und in der Sozialgerontologie gibt es bis heute keinen allgemein anerkannten Begriff von Alter und Altern. Zwar stellt das Alter eine grundlegende Kategorie zur Strukturierung, Ordnung und Differenzierung innerhalb von Gesellschaften dar. Gleichzeitig aber verändert sich das »Alter« im Lebenslauf ständig. Damit unterscheidet es sich weitgehend von einer anderen zentralen Struktur- und Differenzierungskategorie, dem Geschlecht. Alter ist also relativ. Wer als alt beziehungsweise jung begriffen wird, hängt immer auch vom Alter der Person ab, die diese Zuschreibung vornimmt. Somit wird das Alter in gewisser Weise durch die Betrachtenden geformt (Schroeter 2008: 238ff.). Als soziales und kulturelles Konstrukt ist Alter nicht nur innerhalb einer Gesellschaft veränderlich, sondern auch zwischen Kulturen unterschiedlich. Das Alter – verstanden als höheres und hohes Lebensalter – erscheint Menschen oftmals aber auch als Unbekanntes, weil sie es von sich weisen und dem Alter so etwas Fremdes zuschreiben.
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In Anbetracht unzähliger negativer Konnotationen des Alters können sich viele in unserer Gesellschaft nicht mit der Kategorie »alt« identifizieren. Alter erscheint somit als »das Andere« (Schachtner 1999). In diesem Buch nähern sich Wissenschaftler/-innen aus unterschiedlichen Fachbereichen dem Alter(n) an und werfen einen Blick auf ausgewählte Facetten dieses Phänomens. Alter(n) wird dabei nicht in seinen biologischen oder medizinischen Dimensionen analysiert, sondern vornehmlich aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Vertreter/-innen aus den verschiedensten Geisteswissenschaften (Literatur- und Theaterwissenschaften, Geschichte, Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Ethnologie und verschiedener Regionalwissenschaften) betrachten das Alter(n) aus ihrer jeweiligen Fachperspektive. Damit geben sie Einblicke in aktuelle wissenschaftliche Debatten um das Alter(n) und setzen sich kritisch mit gegenwärtigen Thematisierungen und Diskussionen des Alters auseinander. Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt: Im ersten Teil nehmen die Autoren/-innen Bilder des Alters in unserer Gesellschaft in den Blick. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Altern von Gesellschaften. Im Zentrum von Teil III stehen Konstellationen von Körper, Seele, Geist. Altersbilder sind aktuell ein viel diskutiertes und bedeutsames Thema in unserer Gesellschaft, wie auch die Beiträge im ersten Teil des Buches zeigen. Nicht ohne Grund steht das Altersbild im Fokus des Sechsten Altenberichts, der 2010 vorgelegt wurde (DZA 2010). Abgesehen davon beschäftigt sich aber auch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen aus unterschiedlichen Perspektiven damit, wie Alter in der Öffentlichkeit dargestellt wird, wie es in unterschiedlichen Medien präsentiert wird, wie sich Selbst- und Fremdbilder alter Menschen voneinander unterscheiden und wie sich Altersbilder auf ältere Menschen selbst auswirken. In Anbetracht des wachsenden Bewusstseins über den demografischen Wandel wird die Notwendigkeit eines neuen Altersbildes betont. Ziel der Gerontologie und politischer Spieler/-innen ist es häufig, das Älterwerden nicht mehr nur als negativen Abbauprozess darzustellen, sondern positive Seiten des
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Lebensabschnitts Alter hervorzuheben. Dies hat unter anderem zu einer Anzahl von Konzepten geführt, welche die Kompetenzen und Potenziale älterer Menschen aufzeigen und darstellen, wie diese produktiv in die Gesellschaft eingebracht werden können – wie etwa durch ehrenamtliche Aktivitäten (zum Beispiel BMFSFJ 2005). Allerdings werden solche Diskurse in letzter Zeit zunehmend kritisch betrachtet und in ihren Auswirkungen sowohl auf ältere Menschen als auch auf die Wahrnehmung von älteren Menschen innerhalb der Gesellschaft hinterfragt (zum Beispiel Backes 2008; Pichler 2010). Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten nähern sich die Autoren/-innen dieses Bandes unseren Bildern vom Alter und betrachten diese auch aus ungewohnten Perspektiven. So beschäftigt sich der Philosoph Christoph Türcke zunächst mit der »Ästhetik des Alters«. Er fragt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden alter Dinge und alter Menschen sowie ihrer Bewertung. Aus dieser Analyse heraus plädiert er für einen »biografischen Blick« – nicht nur auf die Schönheit von Objekten, sondern auch auf die der Menschen. Herrad Schenk, Sozialwissenschaftlerin und freischaffende Autorin, zeigt auf, dass die oftmals negativen Altersbilder mit der Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland tatsächlich wenig zu tun haben. Die Altersphase ist gegenwärtig häufig von einigen Spielräumen geprägt – ein Blick in die Zukunft zeigt allerdings auch große Herausforderungen. Simone de Beauvoirs Auseinandersetzung mit dem Alter(n) ist das Thema der Literaturwissenschaftlerin Ilse Nagelschmidt. Dabei bezieht sie in ihrer Analyse nicht nur de Beauvoirs Buch Das Alter ein, das als erste kulturwissenschaftliche Betrachtung dieses Themas gilt, sondern nimmt auch deren Beschäftigung mit körperlichem Abbau und dem Tod in anderen Werken mit in den Blick. Veronika Darian nähert sich Darstellungen alter Menschen in Theater, Tanz und Film aus theaterwissenschaftlicher Perspektive. In ihrer Analyse von unterschiedlichen Werken von Shakespeares King Lear bis zu Andreas Dresens Wolke 9 erkennt sie, dass »ein anderer Umgang mit Alter, Körper und künstlerischem Material denkbar wird«. Das Altern von Gesellschaften und damit verbundene Fragen nach dem Zusammenleben von Generationen und den Lebensbe-
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dingungen älterer Menschen nehmen die Artikel im zweiten Teil des Buches in den Fokus. Dabei betrachten die Autoren/-innen sowohl unsere eigene Gesellschaft als auch Alter(n) in anderen Ländern. Denn der demografische Wandel stellt einen weltweiten Prozess dar, der in vielen sogenannten Schwellen- und Industrienationen voraussichtlich sehr viel schneller ablaufen wird als in Deutschland. Auch unsere Gesellschaft ist durch zunehmende kulturelle Diversität gekennzeichnet. Im Kontext der Debatten um das Altern unserer eigenen Gesellschaft, des globalen Alterungsprozesses und der Globalisierung ist daher in der Gerontologie sowie in vielen Regionalwissenschaften ein stärker werdendes Interesse an dem Thema Alter(n) im internationalen Vergleich zu verzeichnen. Die Betrachtung von Lebenslagen älterer Menschen in anderen Ländern sowie kulturelle und gesellschaftliche Kontexte der Lebensphase Alter(n) können unseren Blick auf dieses Phänomen erweitern. Dies lädt dazu ein, unsere eigenen Konzepte und Bilder vom Alter und den Umgang mit älteren und alten Menschen zu hinterfragen. Dabei ist es allerdings wichtig, eigene Wünsche und Hoffnungen beziehungsweise Befürchtungen nicht auf andere Gesellschaften zu projizieren. Altern ist überall ein ambivalenter Prozess und nirgendwo nur mit positiven oder allein negativen Entwicklungen verbunden. Eine differenzierte Betrachtung des Alter(n)s ist sowohl hierzulande als auch in anderen Ländern notwendig. Dies machen auch die Artikel deutlich, die in diesem Band das Alter(n) in anderen Ländern in den Blick nehmen. Peter van Eeuwijk vom Ethnologischen Seminar der Universität Basel beleuchtet »Altern in Unsicherheit«. Er warnt davor, dass der aktuell in der Gerontologie verbreitete Humanressourcen-Ansatz zu einer Überromantisierung der Möglichkeiten des Alters führen könnte. Am Beispiel von Tansania und Indonesien zeigt er Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in der sozialen und ökonomischen Absicherung sowie in der Pflege alter Menschen. Die Gestaltung von Generationenbeziehungen in solch unterschiedlichen Kontexten wie Deutschland und Tansania nehmen die Gerontologen Harald Künemund und Nele Marie Tanschus in den Blick. Dabei arbeiten sie heraus, welche unterschiedlichen Faktoren sich in Tansania auf das Verhältnis der Generationen auswirken können und wie in Deutschland im Reden
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über angebliche Generationenkonflikte andere soziale Ungleichheiten überdeckt werden. Der Psychologe Haci-Halil Uslucan betrachtet die Beziehung von Eltern und Kindern in Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland. Er geht dabei der Frage nach, wie Erziehung in solchen Familien vonstatten geht und welche Rolle dabei auch Vorstellungen von Erziehung in deutschen Familien und in Familien in der Türkei spielen. Damit wirft Uslucan einen Blick auf einen weiteren wichtigen Aspekt des Generationenthemas. Denn unsere Gesellschaft wird »älter – bunter – weniger« – wie oft konstatiert wird –, und Migranten/-innen sind in der Gesamtbevölkerung die Gruppe, die am schnellsten wächst (Zeman 2005: 6). Im Zentrum des Artikels von Renate Krieg steht die aktuelle Situation älterer und alter Menschen im Kontext eines schnellen demografischen Wandels in China. Als Sinologin zeigt sie unter anderem auf, wie die Pflege älterer Menschen im Spannungsfeld zwischen traditionellen Vorstellungen von Kindespflicht, sozialem Wandel und einem schwach ausgebauten öffentlichen sozialen Sicherungssystem organisiert wird. Altern im Kontext großer sozialer Ungleichheiten stellt Carolin Kollewe am Beispiel Mexikos dar. Sie beleuchtet dabei die Lebenslagen älterer Menschen und zeigt an einem ethnografischen Beispiel auf, wie sich das Leben Älterer im ländlichen Raum in einer der ärmsten Gegenden im Süden des Landes gestaltet. Die Artikel des dritten Teils lassen sich unter den Begrifflichkeiten »Körper, Seele, Geist« gruppieren. Die Erforschung dieser Bereiche des menschlichen Daseins spielte in verschiedenen Phasen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alter(n) unterschiedlich wichtige Rollen. Während man lange Zeit auf biologisch-physiologische Abbauprozesse im Kontext des Alterns fokussiert hatte, bedeutete die Hinwendung zur Innenperspektive des Individuums und zu psychologischen Fragestellungen eine neue Etappe in der wissenschaftlichen Untersuchung des Alter(n)s. Durch diese Neuorientierung gelang es der Gerontologie, sich im 20. Jahrhundert als von der Medizin unabhängige Wissenschaft zu etablieren. Außerdem wendete man sich von Defizitmodellen des Alters ab und einer Betrachtung von Kompetenzen älterer Menschen zu (Kruse/Schmitt/Wachter 2003: 59f.).
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An psychologischen Fragestellungen und Theorien zum Altern ist bis heute ein großes Interesse zu verzeichnen. Aktuelle Forschungen in der Soziologie und den Kulturwissenschaften richten ihren Blick allerdings wieder stärker auf den alternden Körper, betrachten ihn dabei aber als soziale und kulturelle Konstruktion. Des Weiteren gehen sie der Frage nach, welche Bedeutungen körperlichen Erscheinungen zugemessen werden (zum Beispiel Schroeter 2008; Kunow 2005). Die Autoren/-innen der Beiträge in diesem Buchteil nähern sich Körper, Seele oder Geist aus ganz unterschiedlichen Richtungen. So verdeutlicht die Kulturwissenschaftlerin Jutta BuchnerFuhs in ihrer Betrachtung von Arbeit am alternden Körper die Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Altersbilder. An den Beispielen Fitnessstudio und Friseursalon stellt sie exemplarisch dar, wie sich Körperpraxen im Alter aus der Perspektive älterer Menschen darstellen. Mit dem Thema Sexualität im Alter im Spannungsfeld von Körperbildern, Geschlechter-, Sexualitäts- und Moralvorstellungen beschäftigt sich die Sozialpädagogin Vera Bamler. Anhand biografischer Interviews mit Frauen zeigt sie die Individualität von Sexualität im Alter auf und setzt damit gängigen Altersbildern von den »sexlosen« Alten eine differenziertere Sicht entgegen. Andreas Kruse geht der Frage nach, wie Menschen im Alter psychisch mit den Herausforderungen umgehen, die sich ihnen stellen. Er zeigt, dass Menschen auch im hohen Alter trotz körperlicher Einschränkungen, sozialer und kognitiver Verluste über Entwicklungsfähigkeiten und Kompetenzen verfügen, ihr Leben positiv zu bewerten. Am Beispiel Johann Sebastian Bachs verdeutlicht er die Kreativität, die auch im hohen Alter zu schöpferischen Hochleistungen führen kann. Im Zentrum des Beitrags von Ortrun Riha stehen medizinische Versuche, »die Unvollkommenheit des menschlichen Körpers« zu überwinden. Die Medizinhistorikerin blickt auf die Humangenetik und ihren aktuellen gesellschaftlichen Kontext. Dabei findet sie Erwartungen, Hoffnungen und ethische Fragestellungen, deren Entstehung sie im 19. Jahrhundert verortet. Kritisch diskutiert sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der aktuellen Humangenetik und der Eugenik.
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Die verschiedenen Beiträge dieses Buches verdeutlichen die Bandbreite und Bedeutung der Fragestellungen, die mit dem Phänomen Altern verbunden sind. Zugleich sind sie nur ein kleiner Ausschnitt aus der sehr breit gefächerten multidisziplinären und internationalen Alternsforschung. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt dabei auf kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Alter(n) und seinen Repräsentationen, einem Bereich, der in der deutschsprachigen Alternsforschung bisher noch eher unterrepräsentiert ist (Haller/Küpper 2010). Die starke Präsenz kulturwissenschaftlicher Artikel in diesem Band ist nicht zuletzt auf den Entstehungskontext dieses Sammelbandes zurückzuführen: Die öffentliche Vorlesungsreihe, aus der diese Artikel entstanden, war Teil des umfangreichen Begleitprogramms zur Ausstellung »FaltenReich – Vom Älterwerden in der Welt«, die 2009 im GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig präsentiert wurde. Diese Schau nahm die kulturellen Aspekte des Themas Alter(n) in den Blick und beleuchtete ausgewählte Fragen kulturvergleichend jeweils am Beispiel Deutschland und einer außereuropäischen Gesellschaft (ausführlicher dazu das Begleitbuch zur Ausstellung: Kollewe/Jahnke 2009). Ziel der Ausstellung war es, mit solchen Gegenüberstellungen zum Nachdenken über das Alter(n) und Altersbilder in unserer eigenen Gesellschaft anzustoßen. Die Vorlesungsreihe, die das GRASSI Museum gemeinsam mit dem Studium universale der Universität Leipzig veranstaltete, bot dabei die Möglichkeit, die Vielgestaltigkeit des Alter(n)s sowohl in unserer eigenen als auch in anderen Gesellschaften in den Blick zu nehmen und Aspekte zu beleuchten, die in der Ausstellung nicht aufgegriffen werden konnten. Aufgrund der spannenden Beiträge und des großen Interesses in Leipzig entstand die Idee, diese Artikel einem größeren Publikum zur Verfügung zu stellen. Dass diese Idee realisiert werden konnte, verdanken wir der Robert Bosch Stiftung, die die Vorlesungsreihe in Leipzig und die Entstehung dieses Buches großzügig unterstützt hat. Danken möchte ich an dieser Stelle aber auch für die hervorragende Zusammenarbeit mit dem Studium universale unter der Leitung von Prof. Dr. Elmar Schenkel. Ein herzliches Dankeschön gilt der Direktion der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen sowie allen Kollegen/innen an den völkerkundlichen Museen in Dresden und
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Leipzig, die zum Entstehen der Vorlesungsreihe und dieses Buches beigetragen haben. Insbesondere Petra Martins Engagement ist es zu verdanken, dass dieses Buch so erscheinen kann.
L ITER ATUR Backes, Gertrud M.: Potenziale des Alter(n)s – Perspektiven des homo vitae longae? In: Amann, Anton/Kolland, Franz (Hg.): Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine Kritische Gerontologie. Reihe Alter(n) und Gesellschaft, Bd. 14. Wiesbaden, 2008, S. 63-100. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Berlin, 2005. Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA): Der Sechste Altenbericht. www.dza.de/nn_11758/DE/Politikberatung/Geschaefts stelle__Al ten bericht/der__sechste__altenbericht/der__sechs te__alten bericht__node.html?__nnn=true (12.07.2010). Haller, Miriam/Küpper, Thomas: Kulturwissenschaftliche Alternsstudien. In: Aner, Kirsten/Karl, Ute (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Wiesbaden, 2010, S. 439-444. Kollewe, Carolin/Jahnke, Karsten (Hg.): FaltenReich – Vom Älterwerden in der Welt. Begleitbuch zur Sonderausstellung im GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig vom 19.3. bis 4.10.2009. Berlin, 2009. Kruse, Andreas/Schmitt, Eric/Wachter, Michael: Der Beitrag der Psychologie zur sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie. In: Karl, Fred (Hg.): Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie. Alter und Altern als gesellschaftliches Problem und individuelles Thema. Weinheim, München, 2003, S. 59-86. Kunow, Rüdiger: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter. In: Hartung, Heike (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld, 2005, S. 21-44.
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Pichler, Barbara: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«. In: Aner, Kirsten/Karl, Ute (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Wiesbaden, 2010, S. 415-425. Schachtner, Christina: Alter als »das Andere«. Reflexionen über ein neues kulturelles Modell. In: Treptow, Rainer/Hörster, Reinhard (Hg.): Sozialpädagogische Integration. Entwicklungsperspektiven und Konfliktlinien. Weinheim, München, 1999, S. 197-208. Schroeter, Klaus R.: Verwirklichungen des Alterns. In: Amann, Anton/Kolland, Franz (Hg.): Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine Kritische Gerontologie. Wiesbaden, 2008, S. 235-273. Zeman, Peter: Ältere Migranten in Deutschland. Befunde zur soziodemographischen, sozioökonomischen und psychosozialen Lage sowie zielgruppenbezogene Fragen der Politik- und Praxisfeldentwicklung. Expertise im Auftrag des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration. Berlin, 2005. www.bamf.de/ cln_180/SharedDocs/Anlagen/DE/Migration/Publikationen/ Forschung/Expertisen/zeman-expertise,templateId=raw,pro perty=publicationFile.pdf/zeman-expertise.pdf (12.07.2010).
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I. Bilder des Alters
Ästhetik des Alters Christoph Türcke
Dass von Altem ästhetischer Reiz ausgehen kann, ist wahrlich nicht neu. Die Touristikbranche weiß das längst. Hunderte von Bussen fahren täglich zur Cheops-Pyramide. Was es dort zu bestaunen gibt? Offenbar eine bestimmte Allianz von Größe und Alter. Bauwerke von 146 Metern Höhe sind heute nichts Besonderes mehr. Aber dass Menschen schon vor 4.500 Jahren so etwas hinbekommen haben, und zwar so stabil, dass es heute noch steht: das ist enorm. Bestaunt wird an der Cheops-Pyramide übrigens nicht nur das Know-how, auch die Verschwendung, die Unverhältnismäßigkeit. Zahllose massive Blöcke aus fernen Steinbrüchen heraushauen, sie kilometerweit schleppen, sie passend zurechtschneiden und sie dann zu einem riesigen Bauwerk auftürmen – und das alles nur, um einem einzigen Herrscher schon zu dessen Lebzeiten eine angemessene Grabstelle zu errichten! Der französische Architekt Jean-Pierre Houdin fand kürzlich heraus, dass die Baumeister wahrscheinlich mit der raffinierten Doppelkonstruktion einer äußeren und einer inneren Rampe gearbeitet haben, um die tonnenschweren Granitblöcke aufeinander zu schichten. Und durch eine Computersimulation hat er errechnet: Bei einer Dauerbeschäftigung von 4.000 Arbeitern war die Pyramide mit diesem System tatsächlich in 23 Jahren herstellbar. Das beeindruckt. Nicht nur die Genialität der Baumeister, sondern dieses Bauen ohne Rücksicht auf Verluste an Menschenleben und Material.
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Aber »schön« ist nicht das rechte Wort für die Cheops-Pyramide. Man findet sie eher »faszinierend«. Das ästhetische Fachwort für Monumentalbauten dieser Art ist »erhaben«. Das Erhabene ist um ein Vielfaches größer als sein Betrachter. Es macht ihn klein. Aber es vernichtet ihn nicht. Es lässt sich von ihm erfassen. Es hat ein Maß, eine Proportion, an der er sich aufrichten kann. Weil es wohlgestaltet ist, kann er es mit Wohlgefallen betrachten. Selbst wilde Naturschauspiele wie die Wasserfälle von Niagara werden, solange man nicht direkt in ihren Strudel gerät, als wohlgestaltet erlebt. Die abstrakte Unterscheidung von Erhabenem und Schönem trifft nicht den Kern der ästhetischen Erfahrung. Erhabenes und Schönes haben aneinander teil. Was nur monumental oder wild ist und dabei nicht auch als wohlgeformt erlebt wird, also in gewissem Sinne als schön, ist nicht einmal erhaben. Und der Aspekt des Schönen am Erhabenen verstärkt sich, wenn die Aura des Alters hinzukommt. Das Bewusstsein, dass ein angeschauter Gegenstand alt ist, entrückt ihn – nicht unbedingt in eine physische Ferne, wohl aber in eine gefühlte oder mentale. Und Entrückung verklärt. Sie lässt den Gegenstand zarter, womöglich lieblicher erscheinen als er ist. Wer weiß, wie alt die Cheops-Pyramide ist, sieht in ihr einen Zipfel einer versunkenen Epoche. Eine Cheops-Kopie, mit modernster Betontechnik in Amerikas Mittleren Westen gestellt, vom Original aus der Ferne gar nicht zu unterscheiden, wäre dennoch keine Publikumsattraktion. Das Original beeindruckt und gefällt deshalb so sehr, weil es so alt ist. Die Cheops-Pyramide ist alt und wohlerhalten. Aber Wohlerhaltenheit ist keine unerlässliche Bedingung für Schönfinden. Zum Schönen im engeren Sinne gehört die Zerbrechlichkeit, und die Zerbrechlichkeit des Alten zeigt sich daran, dass es zerbrochen ist. Das zerbrochene Alte nennt man Ruine. Ruinen sind schön – bis zu einem gewissen Grad des Verfalls. Das alte Karthago etwa hat diesen Grad weit überschritten. Die verstreuten Steinreste, die davon übrig blieben, sind viel zu formlos, um noch als schön empfunden zu werden. Das Kolosseum in Rom oder die Akropolis in Athen gelten hingegen als Schönheiten. Hier lässt die Ruine erahnen, wie es einmal gewesen ist. Man sieht sie selbst, ihre abgebrochenen Säulen, ihre bizarren Züge, und man sieht in ihr zugleich etwas anderes als sie selbst: das Ganze,
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Unversehrte, das sie einmal vorgestellt haben mag. Doch das Bild dieses Ganzen ist imaginär. Es existiert nur im Betrachter. Was eine Ruine spezifisch schön macht, ist, dass sie dazu ermuntert, wenn nicht verführt, sich das ursprüngliche Gebilde, wovon die Ruine übrig geblieben ist, vollkommener vorzustellen, als es je war. In der Ruine mehr sehen, als das unversehrte Ganze je geboten hat: das macht ihren ästhetischen Reiz aus. Sie ist schön – auf den Kredit von etwas, was man an ihr selbst nicht sieht und wozu sie dennoch inspiriert: eine sie überwölbende oder umschwebende Vollkommenheitsvorstellung. Dies alles gilt, solange die Ruine aus Stein oder Holz ist. Wie aber, wenn sie aus Fleisch und Blut ist? Einen Menschen, dem ein Arm oder Bein fehlt, bezeichnen wir nicht als bizarre Schönheit. Nicht nur, um den guten Ton zu wahren, sondern auch aus ganz persönlichem Interesse. Die spontane Regung beim Anblick eines solchen Menschen ist nämlich Erschrecken und der Wunsch: Möge mir das nicht passieren. Ruinen anschauen ist nur so lange schön, wie dabei die Gefahr ausgeklammert ist, sich selbst als Ruine fühlen zu müssen. Allerdings gibt es da unterschiedliche Intensitäten. Falten, Runzeln, leichte Rückgratverkrümmung, Bewegungsverlangsamung: auch das sind Formen des Ruins. Es bröckelt der Putz, aber beim ersten zarten Eintreten ins ruinöse Stadium reflektiert auch die menschliche Ruine etwas von der spezifischen Schönheit, die etwa einer Tempelruine eigen ist. Es kommt tatsächlich vor, dass ältere Menschen mit grauem Haar, Falten und langsamen, gemessenen Bewegungen schöner werden, als sie je waren, und dadurch in der alternden Gestalt eine Jugendschönheit erahnbar wird, die die Betreffenden so nie hatten. Sie existiert nur als innere Projektion des Betrachters, wenngleich sie auch inspiriert ist durch die alternde Gestalt des Angeschauten selbst. Alter so anzuschauen ist eine versöhnliche Art des Anschauens. Damit sie möglich wird, muss eine bestimmte Grundeinstellung zum Alter da sein. Bei Erwachsenen wird das Alter vorzugsweise am Zustand der Gesichtshaut und des Kopfhaars ermessen. Wobei fehlendes Kopfhaar nicht mehr eindeutig für Alter spricht, aber auch nicht gegen Alter. Es nimmt sich geradezu wie ein altersfreundlicher Zug unserer Gesellschaft aus, dass sie eine deut-
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liche Aufwertung der Glatze vollzogen hat. Glatze gilt als chic. Man muss sich, zumindest als Mann, nicht mehr dafür schämen. Männertoupets sind out. Allerdings ist sehr die Frage, ob das ein Zeichen wachsender Altersakzeptanz ist oder ob Ältere davon profitieren, dass die Glatze den Glanz der Jugendlichkeit bekommen hat. Umso gnadenloser wird auf den Zustand der Haut gesehen – und auf die Muskeln darunter. Der Grad ihrer Straffheit ist Hauptanzeiger dafür, wie weit jemand noch betriebsfähig ist. Der Betrieb ist ein entscheidendes Sozialkriterium. Man muss entweder im Betrieb sein (in der Firma oder im Gespräch), oder in Betrieb (den Terminkalender voll haben). Die kapitalistische Gesellschaft gestattet streng genommen gar keinen Ruhestand mehr. Rentner, die nicht in Betrieb sind, sind wie Arbeitslose. Eigentlich gehören sie nicht mehr dazu. Zwischen Betriebsfähigkeit und Hautstraffheit gibt es, sozial wie ästhetisch, eine signifikante Korrelation. Deshalb der gesellschaftliche Drang zur Hautstraffung und damit das Boomen der kosmetischen Industrie, sei es, dass sie mit Salben und Wässerchen arbeitet oder chirurgisch. Das kosmetische Bedürfnis reagiert auf einen gesamtgesellschaftlich eingeübten Blick: in der Hauterschlaffung nichts wahrzunehmen als Verfall. Ruinentheoretisch gesprochen: in der Tempelruine ausschließlich die übrig gebliebenen Steine zu sehen. Das ist ein durch und durch positivistischer Blick, der ausschließlich registriert, was ist, ohne die geringste Neigung, darin Vergangenes oder Zukünftiges wahrzunehmen: der gnadenlose, unbeteiligte Blick der Zuschauerdemokratie. Es gibt aber durchaus die Möglichkeit, weniger gnadenlos hinzuschauen, ohne deshalb weniger genau zu werden. Dafür zeugt gerade jene Zeit, in der das genaue Hinschauen einen epochalen Schritt vorwärts tat: die Renaissance. Es gibt keinerlei Anlass, sie zu verklären. »Die« Renaissance als die Epoche, wo »das Individuum« entdeckt wurde, ist ein unhaltbares Klischee. »Der« Renaissancemensch war nie mehr als eine hauchdünne, vorwiegend männliche Oberschicht. Dennoch ist das Klischee nicht nur falsch. In der Renaissance kam es erstmals zur vollen Ausbildung der Fähigkeit, Menschen in ihrem konkreten Lebensalter bildlich
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darzustellen. Auch Alte. Kein Zufall, dass zeitgleich auch die Ruine zu einem markanten Bildbestandteil wird. Abbildung 1: Leonardo da Vinci: L’Adoration des Mages (1481). Foto: picture-alliance/ maxppp. ©Electa/Leemage.
Nehmen wir Leonardo da Vincis nie vollendete und dennoch mit Recht berühmte Anbetung der Könige. Zum »Hof«, der das Christuskind umgibt, gehören auffällig viele gebeugte alte Gestalten. Sie umschleichen das Christuskind geradezu. Fraglich, ob sich die Könige nur vor Christus beugen oder ob sie im Begriff sind, ihm ihren materiellen Reichtum gleichsam unterzulegen, ihn zur Grundlage des Christentums zu machen, gewissermaßen zum neuen Christophorus. Ebenso ungewiss ist, ob das Christkind das dargebotene güldene Gefäß annimmt oder zurückweist. Aber hervorgehoben werden soll hier etwas anderes: das Zusammenspiel von architektonischen Ruinen im Hintergrund und menschlichen im Vordergrund. Enthält es nicht die Aufforderung, beide mit ähnlichem Blick anzuschauen? In der Tat, die Wahrnehmung alter Menschen könnte von der Wahrnehmung der Ruine lernen, im Verfall mehr zu sehen als nur ihn selbst. Dürers Kohlezeichnung von seiner 63-jährigen Mutter etwa zeigt eine alte, verhärmte, bereits etwas glasig blickende Frau kurz vor ihrem Tod. Da ist
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nichts beschönigt, aber ebenso wenig ist die Mutter positivistisch reduziert auf das Verfallsstadium, in dem sie sich aktuell befindet. Der Verfall nimmt ihr nicht ihre Würde. Das macht: Er ist als Niederschlag von Geschichte dargestellt. Abbildung 2: Albrecht Dürer: Barbara Dürer (1514). Foto: picture-alliance/akg-images.
Fotografie heißt wörtlich: Lichtschrift. Das ist natürlich bloß eine Metapher, denn Licht schlägt sich lediglich nieder; es schreibt nicht wirklich. Aber es ist eine verständige Metapher. Ebenso kann man metaphorisch sagen: Das Leben schreibt sich in Körper, vor allem in Gesichter ein. Es betreibt buchstäblich »Biografie«, macht Körper und Gesichter zur Gedächtnisfläche, auf der Spuren der Vergangenheit eingegraben bleiben. Der rein positivistische Blick ist gedächtnislos. Er sieht in einem alten Gesicht nichts als Hauterschlaffung. Gegen die Falten und Runzeln, die daraus entstehen, kann sich niemand wehren. Aber wie die Falten verlaufen, welches Gepräge sie einem Gesicht geben, daran
Ä STHETIK DES A LTERS
arbeitet dessen Mimik mit. Sie zeigt an, wie man Erfahrungen gemacht hat, wie man damit umgegangen ist. Ein Gesicht, das von Lebenserfahrung zeugt, besagt noch längst nicht, dass der Betreffende aus Erfahrung auch klug oder gar weise geworden ist. Falte schützt vor Torheit nicht. Ein faltenloses altes Gesicht hingegen ist ein erfahrungsloses Gesicht. Und der Kampf gegen die Hauterschlaffung ist ein Kampf gegen die Spuren des Lebens. Ein faltenloses altes Gesicht hat keine »Biografie«. Das Ideal der lebenslänglichen Jugendlichkeit ist geschlagen mit dem Fluch der Biografielosigkeit, der bloßen Augenblicksexistenz, des Daseins als ewiger Eintagsfliege. Dieser Fluch gehört zu den Gestehungskosten der zwanghaften globalen Betriebsamkeit. Umso dringlicher, dem Blickregime der Jugendlichkeit, wo immer man kann, einen »biografischen« Blick entgegenzusetzen. »Biografisch« heißt nicht vergangenheitsverklärend, wie auch der rechte Blick auf die Ruine nicht der nostalgische ist, sondern der, der die Ruine als rückwärts gewandte Utopie erkennt und in ihr eine Vollkommenheit sieht, die nie war. So ist auch der humane biografische Blick auf den alten Menschen derjenige, der in den Spuren des Lebens mehr noch als die Rückstände besserer Zeiten die Wundmale unerfüllter Hoffnungen lesen lernt und in ihnen einen Vorschein dessen erkennt, was aus dem Menschen erst noch werden soll.
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Vorhang auf für die neuen Alten! Vom allmählichen Wandel unseres kulturellen Altersbildes Herrad Schenk
Kein Tag, an dem die Medien uns nicht in irgendeiner Weise mit dem vermeintlichen Schreckgespenst der demografischen Alterung konfrontieren. In düsteren Zukunftsszenarien wird stets davon ausgegangen, dass eine Gesellschaft mit einem höheren Altenanteil ganz selbstverständlich eine schlechtere Gesellschaft sein muss, mit gewaltigen, vielleicht sogar unlösbaren Problemen und mit deutlich weniger Lebensqualität für alle. Dabei steht die heute so verbreitete Angst vor dem Alter in einem verblüffenden Gegensatz zur durchaus erfreulichen Lebenswirklichkeit der meisten älteren Menschen hierzulande. Paradoxerweise ertönen die medialen Unkenrufe in einer Zeit, in der es älteren Menschen in ihrer Gesamtheit besser geht als je zuvor, jedenfalls in den westlichen Industriegesellschaften, deutlich besser als der Generation ihrer Eltern und Großeltern, ganz zu schweigen von den Generationen Älterer in weiter zurückliegenden Zeiten.
TATSÄCHLICHES UND GEFÜHLTES A LTER Wir amüsieren uns gern darüber, dass die meisten älteren Menschen sich für jünger halten, als sie tatsächlich sind. »Sind Sie
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wirklich schon sechzig – siebzig – achtzig? Ich habe Sie für wesentlich jünger gehalten!« Diese Bemerkung gehört zu den Standardkomplimenten, mit denen man anderen eine Freude machen kann. Meistens ist man auch selber davon überzeugt, jünger auszusehen und zu wirken, als es dem eigenen chronologischen Alter entspricht – und zwar umso mehr, je älter man wird. Menschen in der zweiten Lebenshälfte fühlen sich im Allgemeinen 5 bis 10 Jahre jünger als sie tatsächlich sind; 90-Jährige halten sich sogar im Durchschnitt für 14 Jahre jünger (Smith/Baltes 1996). Doch die Tendenz, sich jünger zu fühlen, hängt keineswegs nur mit der verbreiteten Eitelkeit in einer Gesellschaft zusammen, die dem Jugendlichkeitswahn huldigt. Ältere Menschen heute sehen tatsächlich weniger alt aus als die Älteren vergangener Generationen. Das zeigt uns schon der Blick in die Fotoalben der eigenen Familie, etwa auf Fotos aus den 50er und noch aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Für das veränderte äußere Erscheinungsbild des Alters mögen zum größten Teil Kleidungsstil, Mode und Kosmetik verantwortlich sein – ältere Menschen heute legen meist auch in fortgeschrittenen Jahren noch Wert auf ein gepflegtes, ansprechendes Äußeres. Sie ziehen sich farbenfroher und modischer an, Frauen schminken sich länger, und vor allem ein technisch perfekter Zahnersatz wirkt Wunder. Doch davon abgesehen sind die Vertreter/-innen der heutigen Generation 60plus auch tatsächlich physisch weniger alt, als es ihre Eltern und Großeltern in dieser Lebensphase waren. Die verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen haben dazu geführt, dass die meisten Menschen an der Schwelle des Alters nicht so verbraucht und erschöpft sind, wie es früher normalerweise der Fall war. Wohlstand und medizinischer Fortschritt haben günstige Bedingungen geschaffen, die bewirken, dass kleinere Beeinträchtigungen, die das Altern mit sich bringt, zumindest im jungen Alter nur wenig ins Gewicht fallen. Die Beschwernisse des Alters werden, wenn keine ernsthaften physischen oder psychischen Erkrankungen vorliegen, erst jenseits der 80 oder gar 85 spürbar. Dann allerdings nehmen auch Demenz und Pflegebedürftigkeit sprunghaft zu. Doch selbst die meisten Hochaltrigen erklären sich zufrieden mit ihrem Leben, sogar dann, wenn ihr objektiver Gesundheitszustand beeinträchtigt ist. Interessanterweise ist die
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Angst vor dem Alter in den mittleren Erwachsenjahren am größten; das Altern fühlt sich demnach für die Alten selbst weit weniger schrecklich an, als man es auf dem Höhepunkt der eigenen Leistungsfähigkeit befürchtet (Dittmann-Kohli/Bode/Westerhof 2001). Die Menschen heute werden also nicht nur im Durchschnitt älter, sie beginnen auch physisch und psychisch später zu altern als die Alten vergangener Jahrhunderte. Die jungen Alten von heute sind im Allgemeinen gesünder und gesundheitsbewusster, körperlich fitter und beweglicher als ihre Vorfahren in dieser Lebensphase, das heißt, sie fühlen sich zu Recht länger jung. Sie haben im Allgemeinen ein besseres Selbstbewusstsein und mehr Anteil am sozialen Leben. Sie sind besser gebildet und finanziell besser gestellt als vorangegangene Generationen Älterer, und sie haben mehr kulturelle Interessen und besser ausgebaute soziale Netzwerke. Doch obwohl sich die soziale Wirklichkeit und das Selbstbild der Älteren im Laufe des 20. Jahrhunderts und vor allem in den letzten drei Jahrzehnten entscheidend verbessert haben, ist das kulturelle Altersstereotyp davon unberührt geblieben und nach wie vor negativ. Demnach gelten alte Menschen generell immer noch als schwach und hilfsbedürftig, als passiv und leidend, gebrechlich und anfällig, als leicht vergesslich bis verwirrt. Man stellt sie sich konservativ, wenig flexibel, intolerant vor, sieht sie außerdem als isoliert, einsam und verbittert. Diese Eigenschaften, die seit Jahrhunderten dem Alter stereotyp zugeschrieben werden, sind das genaue Gegenteil von all dem, was in unserer Gesellschaft hoch bewertet wird, nämlich Aktivität, Stärke, Gesundheit, intellektuelle Leistungsfähigkeit, physische Attraktivität, Flexibilität, Unabhängigkeit. Auf diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass niemand für alt gehalten werden möchte. Wenn sich Menschen in der zweiten Lebenshälfte also jünger fühlen, als sie tatsächlich sind, dann versuchen sie auf diese Weise auch, sich von dem negativen kulturellen Altersbild abzugrenzen. Es ist ein Selbstschutz, der der Erhaltung des eigenen Selbstwertgefühls dient.
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K ULTURELLE K LISCHEES VOM A LTER Bisher ist das Alter sehr viel weniger beforscht worden als Kindheit und Jugend. Dabei ist es inzwischen die längste Lebensphase überhaupt, länger als Kindheit und Jugend zusammen und länger als die mittleren Erwachsenenjahre. Wir neigen fälschlicherweise dazu, es als einen naturwüchsigen Zustand anzusehen, der vor allem von biologischen Faktoren bestimmt wird und sich im Wandel der Zeiten nur wenig verändert hat. Immer noch geistern die alten Treppenbilder vom Lebenslauf durch unsere Köpfe: Kindheit, Jugend, frühe Erwachsenenjahre stellen wir uns als Aufstieg vor, ein ständiges Mehr, Besser, Größer, Schöner. Die mittleren Erwachsenenjahre sehen wir als eine Art Plateau, auf dem man den Status quo zu halten bemüht ist. Die späten Lebensjahre werden als bloßer Abstieg gefürchtet. Dabei wissen wir nur zu gut, wie unzutreffend diese Verallgemeinerungen sind: Pubertät und Adoleszenz verlaufen häufig krisenhaft und problematisch, auch in den frühen und mittleren Erwachsenenjahren bleibt man von Lebenskrisen wie Trennung, Scheidung, Arbeitsplatzverlust (und eventuell damit verbundenem sozialen Abstieg) und selbst von ernsteren Krankheiten nicht ganz verschont. Dennoch werden sämtliche negativen Entwicklungen im Leben gern auf die Phase des Alters projiziert. Von Menschen in dieser Lebensphase erwarten wir deswegen auch, dass sie sich vor allem mit Vergänglichkeit und Tod auseinandersetzen. Auch psychologische Entwicklungstheorien und Phasenmodelle (angefangen etwa bei Charlotte Bühler 1969 bis hin zu Erik Erikson 1966 und 1988) sind nicht frei von solchen Altersklischees. Gegenwärtig stößt man in den Medien vor allem auf zwei Extrembilder vom Alter, die die vielschichtige soziale Wirklichkeit nur unzureichend abbilden: Da ist auf der einen Seite das Bild von den erbarmungswürdigen, pflegebedürftigen, vereinsamten Hochaltrigen und auf der anderen Seite das Bild von den egoistischen jungen Alten, die sich auf Kosten der arbeitenden mittleren Generation ein schönes Leben machen. Allerdings haben diese beiden überzeichneten Bilder einen wahren Kern. So ist es unbestritten, dass mit dem zahlenmäßigen Anwachsen der Gruppe der Hochaltrigen Pflegebedürftigkeit und
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Demenz zunehmen und die Gesellschaft vor ernste Herausforderungen stellen werden. Das gilt, obwohl die Älteren, wie erwähnt, insgesamt länger gesund und fit bleiben und es Anzeichen dafür gibt, dass sich Pflegebedürftigkeit und Multimorbidität immer weiter an den äußeren Rand eines länger werdenden Lebens herausschieben lassen. Dass es mehr pflegebedürftige und an Demenz erkrankte Ältere geben wird, hängt einfach mit der gewaltigen Zunahme vor allem der Hochaltrigen in den nächsten Jahrzehnten zusammen. Doch auch das höchste Alter muss keineswegs immer in einer Phase extremer Hilflosigkeit enden. In Deutschland leben nur 9 Prozent der über 95-Jährigen in Heimen. Das heißt im Umkehrschluss, dass immerhin 9 von 10 Menschen in dieser Altersgruppe in ihrer bisherigen Umgebung noch einigermaßen zurechtkommen, mit mehr oder weniger Unterstützung eines/-r Partners/-in, eines Kindes und/oder stundenweiser professioneller Hilfe. Außerdem zeigen empirische Untersuchungen, dass sich hochbetagte Menschen nicht generell unglücklicher, dem Leben ausgelieferter und ohnmächtiger fühlen, als es Menschen in den mittleren Lebensjahren tun. Noch zwei Drittel der Hochaltrigen, deren objektiver Gesundheitszustand zu wünschen übrig lässt, erklären sich »zufrieden« oder gar »sehr zufrieden« mit ihrem Leben. Sehr alte Menschen haben noch genauso viele Lebensziele wie Jüngere, auch wenn diese sich eher auf die nahe als auf die fernere Zukunft richten. Sie sind keineswegs ständig in Gedanken nur mit ihrer Vergangenheit befasst, wie das Klischee es will. Sie denken auch nicht öfter an den Tod als Menschen in anderen Lebensphasen. Und die Angst vor dem Tod nimmt mit zunehmendem Alter eher ab als zu (Smith et al. 1996). »Insgesamt zeigt das Alter, wie jede frühere Lebensphase, durchaus möglichen spezifischen Gewinn, einen, der den Abschied von der vorhergehenden Lebensstufe gleichfalls kompensiert«, erklärt der Philosoph Ernst Bloch in seinem Das Prinzip Hoffnung (Bloch 1959: 41). Auch das andere in den Medien gehandelte Klischee von den egoistischen, nur auf den eigenen Lebensgenuss ausgerichteten jungen Alten stellt eine grobe Verzerrung dar. Zutreffend ist allerdings, dass es noch nie zuvor eine so große Gruppe junger Alter gab, die sich früh und bei meist noch bester Gesundheit aus dem
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Erwerbsleben verabschiedet haben und die bei relativ gutem Einkommen über viel freie Zeit und Muße verfügen. Weil sie noch aktiv, mobil und engagiert sind, weil sie viel reisen, Sport treiben und kulturell interessiert sind, fallen sie in der Öffentlichkeit mehr auf als die älteren Menschen früherer Zeiten. Generell gilt, dass die Gruppe der Alten heute weniger homogen ist als je zuvor. Es wird immer schwieriger, allgemein gültige Aussagen über die Alten zu machen, zum einen weil die späten Erwachsenenjahre eine so lange Zeitspanne umfassen, zum anderen aber auch, weil die individuelle Vielfalt und die Pluralität der Lebensstile im Alter zunehmen. Dabei spielen lebensgeschichtliche Einflüsse, soziale Schichtzugehörigkeit und Bildung eine entscheidende Rolle. Erst im allerhöchsten Alter werden biologische Faktoren so bestimmend, dass sich individuelle Alternsverläufe einander annähern. Die Lebensphase Alter hat sich auf der einen Seite rückwärts ausgedehnt, in die mittleren Erwachsenenjahre hinein – macht man den Beginn des Alters am Ende der Berufstätigkeit fest, kann er bei 65, aber auch bei 60 oder gar schon bei 55 Jahren liegen. Auf der anderen Seite hat sich das Alter durch den Anstieg der Lebenserwartung weit nach vorn verlängert, über das 80. Lebensjahr hinaus in Richtung auf das 90. Jahr. Jedes zweite kleine Mädchen, das im Westen Europas nach der Jahrtausendwende geboren wurde, hat gar eine gute Chance, 100 Jahre alt zu werden. Deswegen erscheint es sinnvoll, das Alter noch einmal in verschiedene Phasen zu unterteilen: in das junge Alter, das mittlere Alter (oder auch Alter im Übergang) und in das hohe Alter. Die jungen Alten (auch gogos genannt, zwischen 55/60 und 70/75 Jahren) sind im Allgemeinen noch gesund, aktiv, mobil und leistungsfähig. Nach einer manchmal schwierigen Phase der Umorientierung am Ende des Berufslebens nehmen für sie soziales und kulturelles Engagement einen hohen Stellenwert ein. Aktivität und nach außen gerichtetes Engagement können durchaus auch die Zeiten des Übergangs noch bestimmen (70/75 bis 80/85 Jahre, bei den so genannten slowgos), doch spätestens in dieser Phase wird spürbar, dass das Leben nicht unbegrenzt unter dem Motto »Weiter so!« geführt werden kann; allmählich müssen die Prioritäten anders gesetzt werden und die Außenorientierung
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lässt nach. Jenseits von 80/85 Jahren fühlen die Hochaltrigen (auch nogos genannt), selbst wenn sie noch weitgehend gesund sind, zunehmend Einschränkungen; jetzt rückt die Bewältigung des eigenen Alltags und der Selbsterhalt in den Mittelpunkt der Lebensgestaltung.
S OZIALE W IRKLICHKEIT IM A LTER : EIN KURZER Ü BERBLICK Arbeitsmarkt, Erwerbstätigkeit: Die jetzt jungen Alten waren von dem anhaltenden Trend zu einem immer früheren Ausscheiden aus dem Berufsleben betroffen, der jetzt zum Stillstand gekommen ist. Die jungen Alten haben gelernt, dem frühen Ruhestand überwiegend Positives abzugewinnen. Lebenskrisen beim Ausscheiden aus dem Berufsleben sind seltener geworden als in früheren Zeiten. In Zukunft wird sich allerdings die Lebensarbeitszeit wieder verlängern und die Übergänge zwischen Arbeitsleben und Ruhestand werden insgesamt vielfältiger und flexibler werden. Ehrenarbeit, freiwilliges Engagement: Entgegen dem Vorurteil vom selbstsüchtigen Hedonismus der jungen Alten leisten ältere Menschen heute viel freiwillige Arbeit, nicht nur in der Familie, sondern auch für die Gesellschaft. Alle Formen freiwilliger Tätigkeit haben in den letzten Jahren zugenommen, nicht nur das traditionelle Ehrenamt, sondern vor allem das informelle, eher sporadische freiwillige Engagement. Die Grenzen zwischen gegenseitiger Unterstützung in privaten sozialen Netzwerken auf freundschaftlicher Basis und einem bürgerschaftlichen Engagement verlaufen dabei fließend. Familienbeziehungen: Entgegen verbreiteten Behauptungen haben sich die Familienbeziehungen zwischen den Generationen in der jüngsten Vergangenheit nicht abgeschwächt, sondern intensiviert. Im Gegensatz zu der nachfolgenden Generation der Babyboomer haben die meisten jungen Alten von heute noch Kinder, erst in den
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nächsten Jahrzehnten wird der Anteil der Alten ohne Kinder und Enkel drastisch zunehmen. Die Eltern-Kind-Beziehungen sind überwiegend entspannt und freundlich. Ältere Menschen und ihre erwachsenen Kinder leben am liebsten in getrennten Haushalten, doch dabei in einer gewissen räumlichen Nähe. Intimität auf Distanz und lebenslange Solidarität sind die zentralen Stichworte für die familiären Generationenbeziehungen heute. Die Großelternrolle hat für die meisten jungen Alten einen hohen Stellenwert, sie kümmern sich gern und häufig um die jungen Enkel. Im höchsten Alter erfahren sie dann umgekehrt von ihren erwachsenen Kindern viel emotionale Unterstützung und auch Hilfe im Alltag. Paarbeziehung, Liebe und Sexualität: Weil immer mehr Menschen immer älter werden, gibt es auch immer mehr alte und sehr alte Paare, die schon viele Jahrzehnte zusammenleben. In Zukunft werden die wachsenden emotionalen Ansprüche an die Ehe die Scheidungsraten nach 10 oder 20 Jahren Ehedauer noch weiter anwachsen lassen. Gleichzeitig steigen jedoch auch die Chancen, in der zweiten Lebenshälfte noch eine neue Partnerin, einen neuen Partner zu finden und damit auch die Chancen für das Glück einer späten Liebe. Intimität und erotische Erfüllung sind heute in der Paarbeziehung auch im letzten Lebensdrittel möglich. Wenn ein Paar einmal miteinander alt geworden ist, wird der/die Partner/-in zur wichtigsten emotionalen Stütze und im Bedarfsfall zur zentralen Pflegeperson. Allerdings sind, aufgrund des Zahlenverhältnisses zwischen den Geschlechtern, die Chancen für die Frauen in diesem Zusammenhang deutlich schlechter als für die Männer – denn bei den über 65-Jährigen stehen zwei Frauen einem Mann gegenüber, bei den über 80-Jährigen kommen sogar drei Frauen auf einen Mann. Soziale Netze, Freundschaften: Freundschaften im Alter gewinnen immer größere Bedeutung. Freunde/-innen sind eine wichtige emotionale Stütze, auch bei der Bewältigung von Lebenskrisen im Alter. Freundschaften vermitteln, weil es frei gewählte Beziehungen sind, mehr Anerkennung und ein besseres Selbstwertgefühl als die selbstverständli-
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cheren Familienbeziehungen. Für die, die im Alter allein leben, sind Freunde/-innen besonders wichtig, denn sie ersetzen den Familienkontakt. Die Fähigkeit, Freundschaften aufzubauen und zu erhalten, wird in Zukunft noch wichtiger werden, wenn es immer mehr kinderlose ältere Menschen gibt. Wohnformen: Die meisten Menschen wünschen sich, so lange wie möglich selbständig in der eigenen Wohnung weiter zu leben. In der jüngsten Vergangenheit sind viele neue Möglichkeiten entwickelt worden, bestehende Wohnungen altersgerecht umzugestalten. Außerdem gibt es mobile Hilfs- und Pflegedienste und besondere Wohnanlagen mit betreutem Wohnen. Unter solchen Bedingungen haben auch Ältere mit Behinderungen gute Chancen, bis ins höchste Alter selbständig zu bleiben. Gegenwärtig wächst bei einer aufgeschlossenen Minderheit junger Alter das Interesse an gemeinschaftlichen Wohnprojekten im Alter als Alternative zum Leben allein oder zum Leben im Heim. Auch können sich immer mehr Menschen in den mittleren Lebensjahren für ihre Zukunft Formen des gemeinschaftlichen Wohnens im Alter (von großzügigen Wohn- beziehungsweise Hausgemeinschaften bis zu Nachbarschaftsprojekten) vorstellen.
PAR ADIGMENWECHSEL IM U MGANG MIT DEM A LTER : Ä LTERE M ENSCHEN ALS M ANAGER /- INNEN IHRES EIGENEN W OHLBEFINDENS In allen Lebensbereichen wird seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Alter sichtbar: Während früher ein sozialtherapeutischer Ansatz dominierte – »Wir, die Mitte der Gesellschaft, müssen uns um die armen Alten kümmern!« –, setzt sich heute der Selbsthilfegedanke durch: »Wir, die Älterwerdenden und Alten, müssen die Verantwortung für unser eigenes Altern übernehmen!« Das historisch Neue am Alter – und das eigentlich Aufregende – besteht in der späten Freiheit: Die jungen Alten gelten als alt, obwohl sie meist noch reichlich über Gesundheit und Vitalität
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verfügen. Sie finden sich nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben in einer Lebenssituation wieder, in der es nur wenige verbindliche gesellschaftliche Erwartungen an sie gibt. In früheren Zeiten sah man die Freiheit zur Muße, die Möglichkeit, aus den Zwängen der Alltagsarbeit auszusteigen, als ein Privileg kleiner sozialen Eliten an. Die Alten von heute, die noch fit in den Ruhestand entlassen werden, genießen den Luxus weitgehend unstrukturierter Tage. Den vor ihnen liegenden leeren Raum dürfen, aber müssen sie nun auch füllen. Sie müssen ihrem Alltag neue Strukturen, sich selbst eine neue Identität und ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Auf diese Weise werden die freigesetzten Alten von heute zu Lebensstilpionieren/-innen und Lebensunternehmern/-innen und damit zu Trägern/-innen des neuen Leitbilds der Postmoderne. Die Emanzipation aus den früheren Rollenzwängen (wenn man es positiv sehen will) beziehungsweise das Herausfallen aus früher verbindlichen sozialen Strukturen (wenn man es negativ formulieren möchte) ist Risiko und Chance des neuen Alterns zugleich. In gewisser Weise delegiert unsere stressgeplagte Gesellschaft die Frage: »Wie lebt man richtig und gut?« aktuell an die Gruppe der Alten. Die jungen Alten von heute bemühen sich, dem neuen Ideal vom erfolgreichen Altern entsprechend, in allen Lebensbereichen zu Managern/-innen ihres eigenen Wohlbefindens zu werden, das heißt, eine angemessene Balance zu finden zwischen Aktivität und Muße, zwischen der Sorge für den Körper und der Sorge für die Seele, zwischen dem Engagement für das Gemeinwohl und der Selbstsorge. Tatsächlich geht es ihnen dabei insgesamt besser als je zuvor. Die Alten als gesellschaftliche Gruppe sind im Großen und Ganzen Modernisierungsgewinner/-innen. Nicht die Natur, sondern Kultur und Zivilisation (nicht zuletzt Wohlstand, Sozialversicherung, medizinischer Fortschritt) sind die Freunde des Alters, denn sie haben die Bedingungen geschaffen, unter denen Altwerden lange relativ erfreulich verlaufen kann. Es geht heute nicht mehr darum, nur noch eine graue traurige Restspanne des Lebens mehr schlecht als recht hinter sich zu bringen. Das Alter
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als Lebensphase und der Prozess des Alterns sind reicher an Gestaltungsmöglichkeiten geworden. »In der Tat war nie zuvor so viel die Rede von Selbsterfahrung, Selbstorganisation und Selbstverwirklichung. Ein aus historischer Sicht unvorstellbar hoher Lebensstandard bietet Chancen für eine neue Erlebniskultur, an der auch die Alten teilhaben.« (Fürstenberg 2002: 80)
Doch wie aller Fortschritt der Zivilisation hat auch dieser seinen Preis und seine Schattenseite: Altern in den hoch individualisierten Gesellschaften verlangt sehr viel mehr Persönlichkeitsleistung als in den traditionellen Gesellschaften, mit ihren engen und starren Altersrollen. Es gibt nicht nur einen großen Spielraum, Leben im Alter individuell zu gestalten, sondern es entsteht auch ein gewisser Zwang, diesen Spielraum zu nutzen, wenn man nicht einsam und düster im Abseits enden will. Mit der verlängerten Altersphase und den vielen neuen Gestaltungsmöglichkeiten gehen ganz neue Formen von Entwicklungskrisen einher, Möglichkeiten, Leben zu verfehlen und zu scheitern. Besonders brisant werden die Lebenskrisen im fortgeschrittenen Alter dadurch, dass ungelöste Probleme aus früheren Lebensphasen wieder aufbrechen und die Bewältigung der aktuellen Krisen noch schwieriger machen können. Weil die Menschen in der individualisierten Gesellschaft im Alter nicht mehr automatisch in einen stabilisierenden sozialen Rahmen eingebunden sind, müssen sie selber sehr viel mehr leisten, um im seelischen Gleichgewicht zu bleiben. Identitätssuche und Identitätskrisen, auch Sinnkrisen, nehmen deswegen zu, vor allem im frühen Alter. In diesem Zusammenhang gewinnen Psychotherapie und religiöse Sinnsuche für die ältere Generation eine verstärkte Bedeutung. Die Rückkehr zu traditionellen Formen der Religiosität ist für manche Menschen, die heute an der Schwelle des Alters stehen, nach einem tieferen Bruch mit den Kirchen häufig nicht mehr möglich. Umso wichtiger werden neue Formen der Spiritualität und andere Wege auf der Suche nach dem Lebenssinn. Vergangene Altengenerationen, auch noch die jetzt Hochaltrigen, waren von Therapieskepsis geprägt. Das beginnt sich in der Generation der jungen Alten zu ändern. Die
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wachsende Aufgeschlossenheit für die Beschäftigung mit der eigenen Psyche in der Generation 60plus, die auf die Bereitschaft zur Selbstreflexion, auf Flexibilität und Lernfähigkeit hindeutet, ist ein neues Phänomen, ebenso wie die größere Bereitschaft, bei Lebenskrisen therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen (Radebold 1997).
G E WINNER /- INNEN UND V ERLIERER /- INNEN UNTER DEN A LTEN DER Z UKUNF T Der in jüngster Vergangenheit immer wieder herbeigeredete Krieg der Generationen findet nicht statt. Innerhalb der Familien jedenfalls sind keinerlei Anzeichen für einen sich verschärfenden Generationenkonflikt festzustellen – im Gegenteil: Familiensoziologen/-innen halten die Beziehungen zwischen den Großeltern, ihren erwachsenen Kindern und den Enkeln heute für entspannter und emotional positiver als in früheren Zeiten. Auch wenn sich kein Kampf der Generationen abzeichnet, so wird doch mit einiger Wahrscheinlichkeit die soziale Schere unter den Alten der Zukunft breiter klaffen. Denn mit den neuen Anforderungen an ein erfolgreiches Altern, die Aktivität, Selbstorganisation und Selbstverantwortlichkeit in den Mittelpunkt stellen, werden nur diejenigen Menschen gut zurechtkommen, die bereits in früheren Lebensphasen die Möglichkeiten der individualisierten Gesellschaft gut für sich zu nutzen wussten. Diejenigen, die in der Lage sind, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, es zu strukturieren, sich Ziele zu setzen, sich tragfähige soziale Netze zu schaffen, die eigene innere Balance immer wieder herzustellen, werden auch dem letzten Lebensdrittel eine Menge Positives abgewinnen können. So können wir die Risikogruppen unter den Alten von morgen schon heute ausmachen. Es sind all die, bei denen sich die Handicaps der individualisierten Gesellschaft häufen: Menschen mit schlechter Allgemeinbildung und niedriger beruflicher Qualifikation, Schwerkranke und Behinderte, schlecht integrierte Migranten/-innen, Menschen, die schon in den mittleren Jahren arm und/oder langzeitarbeitslos waren.
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Die finanzielle Situation der Alten von morgen (der jetzt im mittleren Alter stehenden Menschen) wird vermutlich insgesamt weniger günstig sein. Umso wichtiger ist es, die Menschen zu befähigen, sich Zugang zu den positiven immateriellen Facetten der neuen Kultur des Alters zu verschaffen. In diesem Zusammenhang spielen Bildung, soziale Netzwerke und die Bedingungen des Wohnens eine Schlüsselrolle.
L ITER ATUR Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main, 1959. Bühler, Charlotte: Psychologie im Leben unserer Zeit. München, 1969. Dittmann-Kohli, Freya/Bode, Christina/Westerhof, Gerben J.: Die zweite Lebenshälfte – Psychologische Perspektiven. Ergebnisse des Alters-Surveys. Stuttgart, 2001. Erikson, Erik: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main, 1966. Erikson, Erik: Der vollständige Lebenszyklus. Frankfurt am Main, 1988. Fürstenberg, Friedrich: Perspektiven des Alter(n)s als soziales Konstrukt. In: Backes, Gertrud M./Clemens, Wolfgang (Hg.): Zukunft der Soziologie des Alter(n)s. Opladen, 2002, S. 7584. Radebold, Hartmut: Altern und Psychoanalyse. In: Radebold, Hartmut (Hg.): Altern und Psychoanalyse. Göttingen, 1997, S. 5-20. Smith, Jacqui/Baltes, Paul B.: Altern aus psychologischer Sicht. Trend und Profile im hohen Alter. In: Mayer, Karl Ulrich/ Baltes, Paul B. (Hg.): Die Berliner Altersstudie. Berlin, 1996, S. 220-250. Smith, Jacqui/Fleeson, William/Geiselmann, Bernhard/Settersten, Richard/Kunzmann, Ute: Wohlbefinden im hohen Alter. Vorhersagen aufgrund objektiver Lebensbedingungen und subjektiver Bewertung. In: Mayer, Karl Ulrich/Baltes, Paul B. (Hg.): Die Berliner Altersstudie. Berlin, 1996, S. 497-523.
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»Ich werde immer allein sein.« Diskurse zum Alter bei Simone de Beauvoir Ilse Nagelschmidt
»Altern heißt, sich über sich selbst klarwerden und sich beschränken.« (de Beauvoir 1992: 620) »Das Alter ist ein höflich Mann: Einmal übers andre klopft er an, Aber nun sagt niemand: Herein! Und vor der Türe will er nicht sein. Da klinkt er auf, tritt ein so schnell, Und nun heißt’s, er sei ein grober Gesell.« (Goethe 1998, Bd. 1: 309)
Z WISCHEN B EGRÜNDUNG UND N EGIERUNG Goethe hat für das Nachdenken der Neuzeit über das Alter im Postulat des Tätigkeitsmodells in Maximen und Reflexionen entscheidende Impulse eingebracht: »Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewußtsein das neue Rollenfach übernehmen.« (Goethe 1998, Bd. 12: 542) In diesem Text formuliert er eines der größten Spannungsfelder, das unseren Umgang mit den alten Menschen bis zum heutigen Tag bestimmt: »Der Alte verliert
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eins der größten Menschenrechte: er wird nicht mehr von seinesgleichen beurteilt.« (Ebd.) Literarisch hat sich der Dichter der Weimarer Klassik über viele Jahrzehnte mit dieser Problematik beschäftigt. Seine Faust-Dichtung ist auch als das große Drama um gescheiterte Verjüngungsbestrebungen zu verstehen. Der Entwicklungsroman Wilhelm Meisters Wanderjahre enthält eine erotisch aufgeladene Novelle über die noch immer vorhandene Attraktivität eines Mannes im letzten Drittel seines Lebens: Der Mann von funfzig Jahren (Goethe 1998, Bd. 8: 167-224). Schließlich thematisiert der Dichter seine selbst erfahrene Altersliebe in der Marienbader Elegie. Die Werbung des 73-Jährigen um die über 55 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow ist erfolglos geblieben, zurück blieb ein Gefühl des Welt- und Selbstverlustes: »Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren.« (Goethe 1972, Bd. 1: 502) Aus diesen intensiven Einlassungen Goethes auf das Alter ist ersichtlich, dass Altern nicht nur ein unumstößlicher biologischer Prozess ist, den es immer besser zu therapieren und durch vielfältige Präventionen zu verlangsamen gilt. Längst steigen die Lebenserwartungen von Frauen und Männern (Peters 2008: 7) und es finden gravierende Verschiebungen sowohl in kulturellen Wahrnehmungen als auch in Bewertungen statt. Demografische Verwerfungen1 führen zunehmend zu einem Abschied vom Jugendwahn und zu einem öffentlichen Umdenken, das sich in den Medien2 und vor allem in der Werbung nachvollziehen lässt (Peters 2008: 7). Der vom 8. bis 10. Juni 2009 in Leipzig stattgefundene 9. Deutsche Seniorentag stand deshalb unter dem Motto »Alter leben – Verantwortung übernehmen«. In über 100 Veranstaltungen, Foren und Workshops wurde dort 1 | Bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung in Europa laut den Daten der Vereinten Nationen um 8,3 Prozent schrumpfen. Die Bevölkerungsstruktur wird sich weiter verändern. Die über 65-Jährigen werden 28 Prozent der Bevölkerung ausmachen, heute dagegen sind es 16 Prozent (Peters 2008: 7). Vgl. dazu auch Siems 2009: 9. 2 | Im Frühjahr 2008 wurde auf dem Filmfestival in Cannes der Streifen Wolke 9 ausgezeichnet, der nachvollzieht, wie sehr es gerade für alte Menschen wichtig ist, den richtigen Umgang mit ihren Gefühlen zu finden.
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die Frage diskutiert, inwieweit im demografischen Wandel, im Wachsen der Transferleistungen der älteren in die nachfolgende Generation ein enormes Potenzial steckt, das sich inzwischen in konkreten Zahlen manifestiert. Das Alter ist somit ein wesentlicher sozialer und kultureller Prozess, der in der Wahrnehmungswelt von Frauen und Männern im 21. Jahrhundert nach Zeiten der Tabuisierung oder der Ausgrenzung immer direkter einbezogen und auch reflektiert wird. Als Cornelius Weiss, Altmagnifizenz der Universität Leipzig und damaliger Alterspräsident des Sächsischen Landtages, im Jahr 2004 sein Konterfei auf Wahlplakaten zu Gesicht bekam, reagierte er entrüstet: »Ich habe mich kaum erkannt. Die Falten waren glattgebügelt, die Ohren verkleinert, ein Muttermal wegretuschiert. Ich sah 15 Jahre jünger aus.« (Wirthensohn/Panthöfer 2009: 19) Dabei hatte er den Verantwortlichen in der Parteizentrale gesagt: »Bitte nicht. Ich bin nicht schön und will auch nicht wegen meines Aussehens gewählt werden.« (Ebd.) Unmittelbar nach einem schweren MS-Schub, der es ihr unmöglich machte, aus Berlin in ihre Frankfurter Wohnung zurückzukehren, hat Silvia Bovenschen, Literaturwissenschaftlerin und Autorin, in der Zeit des Wartens auf ihre Bücher, ihre Schrift Älter werden verfasst, die sie 2006 veröffentlicht hat und wofür sie von der Kritik mit Lobeshymnen überhäuft wurde. In einem Interview unter dem Titel Noch einmal jung sein (Zander 2009: 14) steht die Schauspielerin Senta Berger, 68, zum einen zu ihrem Wunsch, ihr Jungsein noch einmal erleben zu wollen, zum anderen dreht sie kompromisslos Filme wie Schlaflos und Frau Böhm sagt Nein, in denen sie ungeschminkt vor die Kamera tritt und sich somit sowohl zu ihrem Alter als auch zu den erworbenen Fähigkeiten ihrer Karriere bekennt. Die Geschichte der abendländischen Zivilisation und die uns bis heute zugänglichen literarischen Zeugnisse spiegeln differenzierte Altersbilder, in denen Wert- und Bedeutungszuschreibungen rekonstruierbar sind, »die für das Selbstverständnis älterer Menschen Orientierung boten, teilweise gar normativen Charakter
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hatten« (Bachmeier 2008: 63). Beim antiken Fabeldichter Aesopus ist nachzulesen: »Als Zeus den Menschen schuf, gab er ihm nur kurze Lebenszeit. Der aber brauchte seinen Verstand, und als der Winter herannahte, baute er sich ein stattliches Gehöfte. Wie es nun einmal sehr kalt wurde und Zeus den Regen vom Himmel herabgoß, konnte das Pferd es im Freien nicht mehr aushalten. So kam es denn im Galopp zu des Menschen Behausung heran und bat um Aufnahme. Der sagte: ›Ich will dich aufnehmen, aber unter der Bedingung, dass du mir einen Teil deiner Lebensjahre abtrittst.‹ Das Pferd war es zufrieden und erhielt Stallung und Futter. Kurz darauf kam das Rind und noch später der Hund, und mit beiden schloß der Mensch den gleichen Vertrag. So kommt’s, daß der Mensch, solange er in den Jahren steht, die ihm Zeus selbst verliehen hat, unverdorben und gut ist. In den Jahren aber, die er vom Roß hat, ist er hochmütig und üppig; in denen, die er vom Rind hat, ist er ein gewaltiger Schaffer und in denen, die ihm der Hund abtrat, mürrisch und bissig.« (Aesopus 1944: 15)
Die antike Dichtung Griechenlands soll im Verhältnis von These, Antithese und Synthese kurz zusammengefasst werden: Homer schafft in der Ilias mit Nestor eine Figur, die den Griechen im Kampf gegen die Troer mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem Rat nützt (Homer 1990: 157, 204, 223, 336). Nestor wird so in der europäischen Literatur zum Leitbild des kundigen Alten und weisen Ratgebers. Als Antithese sind Verse der Dichterin Sappho (600 vor Christus) zu lesen, die zu den frühesten Zeugnissen über das Frauenalter zählen. »Ihr nun eilt zu der Musen, der veilchenbusigen, schönen Geschenken, ihr Mädchen, eifrig hin – und hin zu der liederverliebten hellklingenden Lyra: Mir aber hat den früher einmal so zarten Körper das Alter inzwischen ganz gepackt schon; weiß sind die Haare geworden, die schwarzen; schwer ist mir die Seele geworden; nicht tragen die Knie mehr, sie, die doch einstmals flink waren zum Tanzen gleich Rehen.
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Darüber seufze ich oft jetzt. Doch was soll ich machen? Alterslos zu werden als Mensch, der man ist, das ist ja nicht möglich. Hat doch einst den Tithonos, so sagt man, die rosenarmige Eos, von der Liebe ›ergriffen‹, fort bis an die Enden der Erde getragen, als er schön war und jung. Doch es packte ihn trotzdem mit der Zeit das weißliche Alter – und hatte zur Frau eine Göttin unsterblich!« (Sappho, zitiert nach Latacz 2009)
Geropso wird zum Bild der ›unseligen Alten‹, deren Merkmale die gebückte Haltung, der zahnlose Mund, die unendliche Furchung der Haut und die körperliche Schwerfälligkeit sind. Als den Versuch einer Synthese erachte ich die Tragödie Ödipus auf Kolonos von Sophokles, der uns einen blinden und altersschwachen Ödipus vor Augen führt, zu dessen großen Stärken jedoch die Selbsterkenntnis zählt: »[…] Nur den Göttern Kommt weder Alter jemals oder Tod. Das andre alles macht zunichte Die allgewaltige Zeit […]« (Sophokles 1996: 42)
Die Bibel – als Buch der Menschheit – hat viele Ansichten über das Alter geprägt. Im Alten und Neuen Testament findet sich der Diskurs über positive und negative Zuschreibungen. Daraus resultieren über Jahrtausende gewachsene Konzeptionen sowohl für die Bewertung als auch für den Umgang mit dem Alter. Dem Alter werden Eigenschaften wie Klugheit, Weisheit und Einsicht (Das Buch der Sprichwörter, AT 16, 31; Das Buch Daniel, AT 13, 50), aber auch mögliche Schwächen zugeschrieben. Im Alten Testament dominiert immer wieder die Verpflichtung zur Achtung gegenüber dem Alter. Diese Tradition wird im Neuen Testament mit der herausragenden Stellung der Alten in der Gemeinde, mit dem Aufruf zur Ehrfurcht sowie mit deren Vorbildfunktion (Der Brief an Titus, NT 2, 2) fortgeführt.
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In der Neueren und Neuesten Literatur erfolgt zunehmend eine intensive Auseinandersetzung mit dem Alter. Erinnert sei an Theodor Fontane und dessen Alterswerk Stechlin über Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer bis zu Friedrich Dürrenmatts Komödie Der Besuch der alten Dame, in der er das Porträt einer alternden rachsüchtigen Frau zeichnet. Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt die erfolgreiche Kriminalautorin Ingrid Noll in der Konstruktion des heldenhaften Duos im Roman Ladylike, in dem es auf originelle und nicht immer politisch korrekte Weise um das Thema des Altwerdens und um die Reaktionen der Mitmenschen geht. »[…] wir könnten schmuggeln, stehlen, dealen, morden, einbrechen, erpressen und kidnappen, soviel wir wollten. Keiner hätte uns je in Verdacht. Niemand könnte eine Personalbeschreibung abgeben, denn man schaut uns seit Jahren nicht mehr an.« (Noll 2007: 64)
Formiert sich hier bereits die heimliche Front, die Frank Schirrmacher in seinem Buch Das Methusalem-Komplott im künftigen Krieg der Generationen heraufziehen sieht? Ist die Apokalypse nicht mehr fern? Die Erfahrungen menschlicher Zivilisationsgeschichte scheinen vergessen zu sein »und die Gesellschaft, die wir geschaffen haben, nimmt dem Altwerden alles: das Selbstbewusstsein, den Arbeitsplatz, die Biographie« (Schirrmacher 2006: 9). Dieser hier in Umrissen gespannte Bogen zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Verehrung und Verachtung der Alten, zwischen Negierung der Alten und dem Jugendwahn hat sich für mich in der 2009 initiierten Bonner Ausstellung »Das Alter in der Antike« geschlossen. Hier wurde überzeugend gezeigt, dass der Jugend- und Schönheitswahn keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, sondern dass in der Antike die Vergötterung der Jugend fast pathologische Züge angenommen hat. Wer sich über 500 Jahre vor Christus im antiken Athen umsehen konnte, dessen Blicke fielen überall auf kraftstrotzende jugendliche Körper. Berühmte Statuen, die »Werbetafeln der Antike« (Ackermann 2009: 55),
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zeigten bevorzugt männliche Oberkörper und die knospenden Brüste der schönen Göttinnen. Alles war aus glattem Marmor gefertigt und faltenfrei für die Nachwelt konserviert. Solche Standbilder formen noch heute in der von humanistischen Werten durchdrungenen Nachmoderne ein Idealbild des Menschen. Lassen Sie mich jetzt mit den Worten des ägyptischen Wesirs, Philosophen und Poeten Ptahhotep (2500 vor Christus) die Näherung an die Diskurse zum Altern von Simone de Beauvoir versuchen. »Das Altsein ist eingetreten, das Alter ist herabgestiegen, die Schwäche ist gekommen, der elende Zustand kehrt immer wieder, deretwegen der zum Kind gewordene alle Tage im Liegen verbringt, die Augen sind schwach, die Ohren taub, die Kraft schwindet wegen der Ermattung des Herzens, der Mund schweigt, er kann nicht mehr sprechen, das Herz ist vergeßlich, es erinnert sich nicht mehr an Gestern, die Knochen schmerzen wegen der Länge (der Jahre), Gutes ist zu Schlechtem geworden, jeglicher Geschmack ist gewichen. Das was das Alter den Menschen antut, ist Schlechtes in allen Dingen. Die Nase ist verstopft, sie kann nicht mehr atmen, schmerzhaft ist Stehen und Sitzen. So befehle man dem Diener da, sich einen Stab des Alters zu machen.« (Wirz 1982: 19-20)
Z WISCHEN L EBENSERFÜLLUNG UND L EBENSENDE Wie bisher zu sehen war, bilden Alter und Krankheit in vielen Aussagen und Texten ein untrennbares Paar. Alter, Sterben, Alleinsein und Tod sind im großen schriftstellerischen Werk von Simone de Beauvoir häufig wiederkehrende Themen. Dabei ist ein scheinbar unauflösbares Paradox zu beobachten. In ihrem dritten Memoirenband Der Lauf der Dinge (La Force des choses, 1963) steht der Zeitraum zwischen 1944 und 1963. Diese Jahre gehören mit
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zu ihren wichtigsten. Neben den immer größer werdenden literarischen Erfolgen kann sie sich endlich den Wunsch erfüllen zu reisen. In den Texten reflektiert sie ihre Eindrücke, die sie unter anderem in der Sowjetunion, in Kuba und Brasilien gewonnen hat. Auf der anderen Seite lässt uns de Beauvoir hier – und das wird in ihren Texten die Ausnahme bleiben – an ihrem ›Abstieg‹ in das Alter mit einer unerschrockenen Offenheit teilhaben. Dazu gehört neben dem Registrieren von Veränderungen und plötzlich auftretenden Angstschüben auch der Abschied von der Sexualität mit Männern. »Jetzt ist der Augenblick gekommen, um zu sagen: Nie mehr! Nicht ich trenne mich von meinem früheren Glück, sondern das Glück ist es, das sich von mir trennt. Die Gebirgswege versagen sich meinem Fuß. Ich werde nie mehr trunken vor Müdigkeit in das duftende Heu sinken. Ich werde nie mehr einsam über den morgendlichen Schnee gleiten. Nie mehr ein Mann. Jetzt hat meine Phantasie ebenso entschieden ihren Entschluß gefaßt wie mein Körper. Trotz allem ist es seltsam, keinen Körper mehr zu haben, und es gibt Augenblicke, die dieses bizarre Phänomen mir durch seinen endgültigen Charakter das Blut in den Adern erstarren läßt.« (de Beauvoir 1992: 622)
In den Wochen und Monaten, als dieses Buch entsteht, das von der Kritik teilweise als viel zu pessimistisch aufgenommen wurde, beginnt das Sterben ihrer Mutter, zu der sie ein ambivalentes Verhältnis gehabt hat. Auch das scheint ein Paradox zu sein: Gerade in dem Moment, als die Tochter alles das zu offenbaren beginnt, was die Mutter schon früher von ihr zu wissen verlangte, wird die 77-Jährige nach einem leichten Unfall in ein Krankenhaus eingeliefert. Was zunächst recht harmlos erscheint, stellt sich schnell als eine fortschreitende Krebserkrankung heraus. Gemeinsam mit ihrer Schwester verbringt de Beauvoir die letzten Lebenstage der Mutter an deren Sterbebett. Nach dem Tod erscheint 1964 der Bericht mit den Reflexionen ihrer beider Existenzen: Ein sanfter Tod (Une mort très douce). Hier nimmt sie vieles von dem auf, was sie seit Beginn der 1960er Jahre beschäftigt: die plötzliche Konfrontation mit dem Sterben, die Angst, von der Familie abgeschoben zu werden, der körperliche Verfall und die Unfähigkeit, damit
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umgehen zu können. Dieser Text ist weit mehr als lediglich der Bericht über die letzten Tage der Mutter. In Rückblenden zeigt sie deren ›Aufblühen‹ und das ›Verlöschen‹ an der Seite ihres Mannes, dessen Bühne das gesellschaftliche Parkett in Paris war und der sich im Verlauf der Ehe zunehmend wohler an der Seite anderer Frauen gefühlt hat. Außerstande, diese Kränkungen des Mannes zurückzugeben, überträgt sie ihre Frustrationen auf die Kinder. »Doch sie war die Stärkere: ihr Wille siegte. Alle Türen im Haus mußten offenbleiben; unter ihren Augen, in dem Zimmer, wo sie sich aufhielt, mußte ich meine Arbeiten machen. Wenn meine Schwester und ich nachts von Bett zu Bett miteinander plauderten, preßte sie – zerfressen vor Neugier – das Ohr an die Wand und schrie: ›Haltet den Mund.‹ Sie lehnte es ab, daß wir schwimmen lernten, und hinderte Papa daran, uns Fahrräder zu kaufen: durch solche Freuden, an denen sie nicht teilgehabt hätte, wären wir ihr entwischt.« (de Beauvoir 1996: 42)
Das Fazit der Tochter über diese immer mehr zum Schatten-Dasein werdende Existenz der Mutter ist bitter. »Gegen sich selbst anzudenken, kann fruchtbar sein; doch bei meiner Mutter war es anders: sie hat gegen sich selbst angelebt. […] In ihrer Kindheit ist ihr Körper, ihr Herz und ihr Geist in einen Panzer von Grundsätzen und Verboten gepreßt worden. Man lehrte sie, sich einzuengen. In ihr lebte eine leidenschaftliche, glutvolle Frau: aber verunstaltet, verstümmelt und sich selbst entfremdet.« (de Beauvoir 1996: 46-47)
Erst nach dem Tod ihres Mannes wird sie zu ihrer wahren Existenz finden; sie erwirbt ein Diplom als Bibliothekarin und kommt selbständig für ihren Lebensunterhalt auf. Simone de Beauvoir lässt ihre Leser/-innen uneingeschränkt an diesen letzten Lebenstagen teilhaben. Dabei spart sie weder mit Kritik an den Zuständen im Krankenhaus – den überlasteten und schnell wechselnden Schwestern – noch an der eigenen Inkompetenz zu einem Verhalten, das nicht auf Lügen aufgebaut ist. Der Auflösungsprozess der Mutter beginnt mit dem Abschneiden der
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Haare. Zunehmend wird die Tochter an eine Zeichnung von Leonardo da Vinci erinnert, die eine sehr schöne alte Frau darstellt. Doch diese Blicke schwinden mehr und mehr; mit der fortschreitenden Krankheit verfällt nicht nur der Körper der Mutter, sondern auch deren mühsam aufgebaute ›Schutzgrenze‹. Die über Jahre konstruierte Schamhaftigkeit verliert angesichts des Todes an Bedeutung (ebd.: 60). Für mein Thema ist wichtig, die Empfindungen der Tochter und deren Bekenntnisse zu verfolgen, dass die Jungen und Gesunden nicht oder nur kaum in der Lage sind, auf die Alten und Kranken einzugehen. In der Scheinwelt ewiger Jugend und Tüchtigkeit hat das Alter keinen Platz (ebd.: 86). Bei der Tochter beginnen die eigene Erstarrung und die Angst vor dem Tod zu weichen. Damit einher reift die Erkenntnis von der Einmaligkeit jedes einzelnen gelebten Tages. Denn die letzten Wege sind allein zu gehen, das Alter ist unausweichlich. Mit dem Verlust nahestehender Menschen ist das Zurückgeworfensein auf die eigene Existenz verbunden. Das wird Simone de Beauvoir nach dem Tod von Sartre im Jahr 1980 wiederholt schmerzhaft erfahren müssen (Schulz 1989: 136). Die französische Philosophin ist 62 Jahre alt, als sie mit Das Alter (La Vieillesse, 1970) ihr umfassendstes Werk zu dieser Thematik auf fast 800 Seiten niederschreibt. In diesen Text fließen zahlreiche persönliche Erfahrungen sowie gesellschaftskritische und umfassende politische Analysen ein. »Ich erschrak im Alter von 50 Jahren, als eine amerikanische Studentin mir von dem Ausruf einer Kommilitonin berichtete: ›Was, Simone de Beauvoir, ist schon so alt!‹ Eine ganze Tradition hat dieses Wort mit einem herabsetzenden Sinn beladen, es klingt wie eine Beleidigung. Deshalb reagiert man, wenn man als alt angesprochen wird, oft zornig. Madame de Sévigné war äußerst gereizt, als sie in einem Brief der Madame de La Fayette, die sie überreden wollte, nach Paris zurückzukehren, die Worte las: ›Sie sind nun alt.‹ Sie beklagte sich bei ihrer Tochter darüber am 30. November 1689: ›Denn ich merke mir keinerlei Verfall an, der mich daran erinnerte.‹« (de Beauvoir 2007: 369)
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Für mich sind die Dimensionen von Gender und Class und somit die Erkenntnis, dass das Alter weder geschlechts- noch klassenlos ist, von großer Bedeutung. In der konkreten Auflistung und Auswertung des ihr zur Verfügung stehenden Zahlenmaterials werden die schockierenden Zustände im Frankreich der 1960er Jahre erschlossen. Obwohl diese Abhandlung inzwischen über 40 Jahre alt ist, zeigen aktuelle Erhebungen, dass sich in der Tendenz keine gravierenden Veränderungen ergeben haben. In Frankreich und Deutschland erhalten Frauen weit weniger Rente als Männer und müssen vielfach unter dem Niveau der Armutsgrenze existieren. Noch immer vegetieren alte Menschen in Pflegesituationen dahin, sodass sich die Bundesrepublik Deutschland am Beginn des neuen Jahrhunderts veranlasst sah, einen Pflege-TÜV einzuführen. Noch immer sind alte Menschen Opfer von Verdrängungsprozessen postmoderner Gesellschaften und noch immer gehört trotz mutiger Versuche auch der Medialisierung – wie durch den oben vermerkten preisgekrönten Film Wolke 9 – Sexualität im Alter zu den Tabuthemen. Das Alter ist der Abschnitt menschlicher Existenz, in dem sich die Kluft zwischen Arm und Reich bis hin zur Unerträglichkeit vergrößert. Simone de Beauvoir befragt die Kultur- und Sozialgeschichte der abendländischen Zivilisation nach Spuren des Verlöschens und Negierens. Gleichermaßen fahndet sie nach Mustern des Aufbegehrens alter Menschen. Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert: »Von außen betrachtet« und »Das In-der-Welt-Sein«. Im ersten Teil steht der alte Mensch als ›Objekt‹ der Wissenschaft, der Geschichte und der Gesellschaft im Mittelpunkt. Neben die materielle (ebd.: 309-317) tritt die geistige Verelendung im Alter. »Ungeheuerlich erschien mir die geistige Vernachlässigung dieser Leute seitens der Verwaltung. Wenn es Räume gebe, in denen sie zusammenkommen könnten, wo man ihnen Abwechslung böte, wo sich Assistenten um sie kümmerten, würden sie nicht so entsetzlich rasch abgleiten und völlig apathisch werden. Rücksichtslos von der Kategorie der aktiven Menschen in die der inaktiven gestoßen und als alt eingestuft zu werden, eine bestürzende Verrin-
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gerung der Mittel und des Lebensstandards hinnehmen zu müssen, das ist für die meisten Menschen ein Ereignis mit ernsten psychologischen und moralischen Folgen.« (de Beauvoir 2007: 336)
Älter zu werden und zu sterben gehört wie die Geburt zu den Grundvoraussetzungen menschlicher Existenz. Dabei ist es kein Naturgesetz, dass der alte Mensch aus der modernen Gesellschaft ›aussortiert‹ und an die Peripherie verwiesen werden muss. Vielmehr verfügt er über die Erfahrungen eines langen Lebens, über Weisheit und Überblick. Auch der alte Mensch ist in der Lage, außerordentliche Leistungen zu vollbringen. Diesem Phänomen widmet die Autorin im zweiten Teil – der alte Mensch als ›Subjekt‹ – eine spannend zu lesende Studie. Am Beispiel des Komponisten Verdi zeigt sie, wie dieser auf Grund hoher gesellschaftlicher Anerkennung jenseits des siebten Lebensjahrzehnts noch triumphale Erfolge feiern konnte (ebd.: 676-678). Andererseits zeigt sie aber auch, wie notwendig es ist, das Alter als eine Lebensphase bewusst anzunehmen und nicht in Trauer und Wehklagen über Vergangenes zu verfallen. »Man darf dennoch nicht glauben, dass ein reiches, mutiges Leben dank einer ›immanenten Gerechtigkeit‹ immer durch ein ›schönes Alter‹ belohnt würde. Physische Leiden, politische und gesellschaftliche Umstände können die späten Jahre eines Menschen verdüstern. So war es bei Freud. Seine Existenz wies eine bemerkenswerte Kontinuität auf: Er erhielt sich seine Vergangenheit, indem er sie überschritt. Als kühner Neuerer und besessener Arbeiter vermochte er seiner Zeit, obgleich er sie erschreckte, seine Ideen aufzuzwingen; als Mann von unbeugsamem und unerschrockenem Charakter, als liebender und geliebter Ehemann und Vater hätte er ein fruchtbares und glückliches Alter haben sollen. Nicht dass es ihn gebrochen hätte – 1938 versetzte er die Nazis, die sein Haus durchsuchen wollten, allein durch sein Auftreten und seinen Blick in Schrecken –, aber sein Gesundheitszustand, der Aufstieg des Nazismus, seine Sorgen um die Zukunft der Psychoanalyse und der Verlust seiner Schaffenskraft ließen das Alter für ihn zu einer niederdrückenden Prüfung werden.« (de Beauvoir 2007: 681)
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In diesem Zusammenhang durchzieht die Schrift eine wesentliche Relation: Alter und Zeit. Während es das Kind kaum erwarten kann, endlich älter und somit erwachsen zu werden, wird im Alter die Zeit immer knapper, die Zeit der großen und endgültigen Abschiede naht, von lieb gewordenen Gewohnheiten, von wichtigen Menschen, von der Sexualität. In diesen Überlegungen zu Alter und Sexualität sind wiederum die gender-spezifischen Ansätze von Bedeutung, da in biologischer Hinsicht die Sexualität der Frau durch das Alter weit weniger beeinträchtigt ist als die des Mannes. »Indessen zeigen alle Umfragen, dass diese Aktivitäten faktisch nicht so häufig sind wie die des Mannes. Mit 50 Jahren haben nach Kinsey 97 % der Männer noch ein Sexualleben und nur 93 % der Frauen; mit 60 Jahren 94 % der Männer und nur 80 % der Frauen. Das liegt daran, dass in unserer Gesellschaft der Mann in jedem Alter Subjekt und die Frau Objekt, also abhängig, ist. Wenn sie verheiratet ist, wird ihr Schicksal durch das ihres Mannes bestimmt, der im Durchschnitt vier Jahre älter ist als sie und bei dem das Triebverlangen langsam abnimmt oder sich, falls es weiterbesteht, auf jüngere Frauen richtet. Für die ältere Frau dagegen ist es sehr schwierig, außereheliche Partner zu haben. Sie ist für Männer noch weniger attraktiv, als es der alte Mann für Frauen ist. In ihrem Fall existiert die Gerontophilie nicht. Ein junger Mann kann eine Frau begehren, die alt genug ist, um seine Mutter zu sein, nicht aber eine, die seine Großmutter sein könnte. Mit 70 Jahren ist eine Frau in den Augen der anderen Menschen kein ›erotisches Objekt‹ mehr.« (de Beauvoir 2007: 450)
E PILOG Das radikale Festhalten am Bild über das Alter, das in der Unmündigkeit, dem Verfall und der Hilflosigkeit seinen konkreten Ausdruck findet, bestimmt noch immer das Leben des modernen Menschen am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts. Für mich ist das Plädoyer für das Subjekt bei Simone de Beauvoir wichtig; der alte Mensch muss handeln können, dazu braucht er Freiräume. Nicht Bevormundungen und die Übernahme vorge-
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fertigter Muster dürfen das Alter bestimmen, sondern vielmehr muss ein lebenslanger, auf das Alter vorbereitender Prozess, der alle Generationen betrifft, stattfinden. Die Unfähigkeit, mit dem Alter umzugehen, erweist sich als eine Bedrohung der Zivilisation und kann gleichermaßen zu deren Scheitern führen. Die Horrordaten demografischer Erhebungen sagen eine überalternde Gesellschaft, verödete Landstriche und explodierende Kosten der Kranken- und Pflegeversicherungen voraus. Szenarien werden somit bewusst entworfen, denen jedoch durch eine menschliche Veränderung im Umgang mit sich selbst und der Gesellschaft begegnet werden kann. »Der ganze Mensch muss erneuert werden, alle zwischenmenschlichen Beziehungen müssen neu geschaffen werden, wenn die Lebensbedingungen des alten Menschen annehmbar werden sollen. Der Mensch dürfte seinem Lebensende nicht einsam und mit leeren Händen entgegensehen.« (de Beauvoir 2007: 711)
L ITER ATUR Ackermann, Tim: Antiker Photoshop. In: Welt am Sonntag (2009, 9), S. 55. Aesopus: Aesopische Fabeln. Urtext und Übertragung. Hg. v. August Hausrath. München, 1944. Bachmeier, Helmut: Späte Jahre. Das Alter in der Literatur. In: entwürfe. Zeitschrift für Literatur (2008, 4), S. 63-72. Bovenschen, Silvia: Älter werden. Frankfurt am Main und andere, 2006. de Beauvoir, Simone: Das Alter. Reinbek bei Hamburg, 2007. de Beauvoir, Simone: Der Lauf der Dinge. Reinbek bei Hamburg, 1992. de Beauvoir, Simone: Ein sanfter Tod. Reinbek bei Hamburg, 1996. Goethe, Johann Wolfgang von: Elegie. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Poetische Werke. Berliner Ausgabe in 22 Bänden. Band 1: Gedichte und Singspiele. Hg. v. Regine Otto. Berlin, Weimar, 1972, S. 497-502.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Das Alter. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 1: Gedichte und Epen I. Hg. v. Erich Trunz. München, 1998, S. 309. Goethe, Johann Wolfgang von: Der Mann von funfzig Jahren. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 8: Romane und Novellen III. Hg. v. Erich Trunz. München, 1998, S. 167-224. Goethe, Johann Wolfgang von: Erfahrung und Leben. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 12: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz, Herbert von Einem und Hans Joachim Schrimpf. München, 1998, S. 365547. Homer: Ilias. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München, 1990. Latacz, Joachim: Ein neues Sappho-Lied. www.Irz-muenchen.de/ ad311ah/www/sappho.html (02.11.2009). Noll, Ingrid: Ladylike. Zürich, 2007. Peters, Freia: Alter hat Zukunft. In: Welt am Sonntag (2008, 37), S. 7. Schirrmacher, Frank: Das Methusalem-Komplott. München, 2006. Schulz, Barbara: »Ich werde immer allein sein«. Persönlicher Blick auf Simone de Beauvoirs letzte Jahre. In: Soden, Kristine von (Hg.): Simone de Beauvoir. Berlin, 1989, S. 132-139. Siems, Dorothea: Arbeit im Alter ist keine Schreckensvision. In: Welt am Sonntag (2009, 32), S. 9. Sophokles: Ödipus auf Kolonos. Frankfurt am Main, Leipzig, 1996. Stemberger, Günter/Prager, Mirjam (Hg.): Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Augsburg, 1991. Wirthensohn, Andreas/Panthöfer, Sonja: Keine Zeit zum Älterwerden. 16 Porträts von aktiven Menschen. München, 2009. Wirz, Gretel: Tod und Vergänglichkeit. Ein Beitrag zur Geisteshaltung der Ägypter von Ptahhotep bis Antef. St. Augustin, 1982. Zander, Peter, im Gespräch mit Senta Berger: »Noch einmal jung sein«. In: Welt am Sonntag (2009, 42), S. 14.
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Des Alters neue Kleider? Alter im Blick von Theater, Tanz und Film Veronika Darian
E INBLICK »Ein alter Mann ist stets ein König Lear«, so formulierte einst Goethe, der selbst als ein Experte der Schöpfung alternder Protagonisten gelten kann. In Shakespeares Tragödie des unglückseligen König Lear liefert das Alter des scheidenden Herrschers – mit all seinen ihm zugeschriebenen Torheiten und Schwächen – ein bedeutendes Moment, das die Verkettung unseliger Entscheidungen und unglücklicher Umstände bis zum tragischen Höhepunkt vorantreibt. Unnachgiebigkeit, Selbstausschluss und Ausgeschlossen-Werden, Wahnsinn, tiefe Verzweiflung über das Wesen der Welt und allzu späte Erkenntnis – dies sind die Attribute des Alter(n)s, die sich auf den ersten Blick aus dem Text destillieren und letztlich auch das Scheitern des Protagonisten für die Leser/innen nachvollziehbar werden lassen. Die im Text eingebrachten Altersstereotype, die dem Herrscher durch sein Umfeld stetig, wenn nicht vorgehalten, so doch zumindest erklärend zugeschrieben werden, lassen auch keine/-n Leser/-in kalt. Diesem empathischen Nachvollzug entsprechend, heißt es bei Charles Lamb, einem Dichter und Shakespeare-Kenner an der Schwelle zum 19. Jahrhundert: »Wenn wir das Stück lesen, sehen wir Lear nicht, wir sind selbst Lear.« (Zitiert nach Günther 1966: 12; Hervorhebung V.D.) Der lesenden Einfühlung in die Figur und in ihre tragische Geltung gesteht Lamb zweifellos die höchste Bedeutung zu. Diese
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gelinge allerdings eben nur im Leseakt, aber keinesfalls im Akt der Darstellung auf der Bühne. »Die Bühnenfassung«, die »von [Lears] Größe nichts spüren« lasse, wird von Lamb denn auch mit einem wesentlich weniger wohlwollenden Urteil bedacht: »Den alten Mann in seiner körperlichen Schwäche und machtlosen Wut über die Bühne taumeln zu sehen«, sei »nur quälend und ekelhaft« (ebd.; Hervorhebung V.D.). Dieses Dichterwort reduziert nicht nur den alten König auf Attribute wie ›Schwäche‹ und ›Wut‹ und liefert damit zugleich eine psychologisch recht einfache Erklärung für die Katastrophen, die Shakespeares Figuren bekanntermaßen im Weiteren widerfahren werden. Lambs geringschätzige Beobachtung führt darüber hinaus das Wort und die lesende Einfühlung ins Feld gegen eine als ›quälend‹ und ›ekelhaft‹ titulierte Konfrontation mit der Körperlichkeit der Figur in der Aufführung selbst. Dieses Beispiel erlaubt uns, die Frage nach ›des Alters neuen Kleidern‹ unversehens zu koppeln an die Frage nach der Darstellungsform, der Gestalt, der Hülle des Betrachteten, die mitunter eben auch zu unvorhergesehenen Irritationen führen oder Provokationen hervorrufen kann. Denn wird etwas als ›quälend‹ oder ›ekelhaft‹ empfunden, dann verhalten sich die Körper der Wahrnehmenden ganz unmittelbar zu den Körpern der Zeigenden beziehungsweise des Gezeigten. Dies liefert für Künstler/-innen augenscheinlich einen herausfordernden Ansatz, sich auf die Suche nach einem ›anderen‹ Umgang mit dem Alter zu begeben. In den bildgebenden – und dadurch auch in besonderem Maße vorstellungsprägenden – Künsten wie dem Theater, dem Tanz oder dem Film ist häufig zwar immer noch eine bloße Zeichnung positiv wie auch negativ konnotierter Altersbilder festzustellen. Doch die alleinige Vermittlung dieses Sujets durch Inhalte, Plots und Protagonisten/-innen greift hinsichtlich der Herausforderungen, die das Alter auch für die Kunstschaffenden birgt, viel zu kurz. Es lässt sich diesbezüglich schon seit Längerem eine Tendenz verzeichnen, neben die Inhalte gleichberechtigt auch die Frage nach der Beschaffenheit der Darstellung – neben das »Was?« also auch die Frage nach dem »Wie?« – treten zu lassen. Und dies geschieht insbesondere mit Blick auf das spezifische Material, das künstlerische Instrumentarium und die Darbietungsmöglichkeiten,
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die den jeweiligen Kunstformen (zu) eigen sind: Während beim dramatischen Text die Sprache – über die reine Bedeutungsebene hinaus – auch in ihrer künstlerischen Materialität, als Klang, Wortspiel oder Sprachfläche einen Platz beansprucht, konfrontieren uns die Bühnenkünste des Theaters und des Tanzes mit dem Körper, seinen Bewegungen und seiner fasslichen Präsenz, wohingegen der Film imstande ist, uns – beispielsweise mittels der Überbrückung der gewohnten und statthaften Distanz durch extreme Nahaufnahmen – auf akustischer und visueller Ebene zuzusetzen, zu bedrängen, uns schier zu befallen. Übertragen auf das Phänomen des Alters im Blick der Künste besteht die Herausforderung möglicherweise darin, diese ›neuen Kleider‹, die sich die Werke überstreifen, nicht nur als die verschleiernden ›neuen‹ Hüllen eines wohl bekannten ›alten‹ Sinns wahrzunehmen. Dass allerorten – gerade auch außerhalb der Künste – die Stereotype des Alters, ob als Alterslob oder Altersklage, immer noch vorherrschen und eine mitleidige oder erschreckende, jedenfalls eine einfühlende Lesart einfordern, bleibt unbenommen. Doch Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Dann nämlich, wenn sich Widerstand gegen solcherart Erwartungshaltungen regt, wenn sich das Alter versuchsweise versteht als die Gestalt des Widerständigen, nicht mehr Einzupassenden, aus dem bekannten Rahmen ›Hinausfallenden‹.1 So unterläuft diese ›andere‹ Gestalt regelrecht das stereotype Alters-Bild, greift auf die Formen über und prägt das Material, sprich die Materialität der Künste selbst. Denn das Taumeln beginnt längst nicht erst auf der Bühne …
1 | Siehe hierzu Jan Kott, der in Bezug auf Lears ›Fall‹ (im doppelten Wortsinn) formuliert: »Der Fall ist zugleich ein physischer und ein geistiger, ein körperlicher und ein sozialer.« (Kott 1989: 156)
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THE ATER -B LICKE : K ÖNIG L EAR . M INET TI . D AS LETZTE B AND König Lear von William Shakespeare König Lear. Ein Theatertext, in dem Shakespeare mehrere Handlungsfäden verwoben hat, deren vordringlichste geknüpft sind um das Verhältnis von Vätern zu ihren Kindern. Im Zentrum der einen Erzählung steht der König, Lear, der sich – aus Altersgründen – von der Herrschaft zurückziehen und sein Reich zwischen seinen drei Töchtern Goneril, Regan und seiner Jüngsten Cordelia aufteilen will: »Wißt, daß wir unser Reich/ Geteilt in drei. ’s ist unser fester Schluß,/Von unserm Alter Sorg’ und Müh’ zu schütteln,/Sie jüngrer Kraft vertrauend, während wir/Zum Grab entbürdet wanken.« (Shakespeare 1966: 6) Die anschließende Frage, »Welche von euch liebt uns nun wohl am meisten?« (ebd.), dient dabei nicht nur als Gradmesser für die Entscheidung, wie groß das jeweilige Erbteil bemessen sein soll, sondern will zugleich ein Zugeständnis einholen, welche Tochter dieser Liebe auch tätigen Ausdruck verleihen wird, indem sie den dann entthronten – und somit quasi sitz- und heimatlosen – Vater aufzunehmen bereit ist. Im Fokus des anderen Erzählstrangs stehen der Graf von Gloster und seine zwei Söhne, die zwar denselben Vater teilen, aber nicht denselben Stand. Während Edgar, der »Echtbürt’ge« (ebd.: 15), sich seiner rechtmäßigen Herkunft – samt aller Annehmlichkeiten, inklusive seines Erbrechts – sicher sein kann, muss sich Edmund einen ›Bastard‹ schimpfen lassen, der letzten Endes rein gar nichts zu erwarten hat. So scheint in beiden Handlungssträngen der Gedanke an das rechtmäßige oder auch nach eigenem Ermessen zustehende Erbteil – zumindest für manche der Erben – das Verhältnis zur Elterngeneration zu beherrschen. Indessen herrscht Blindheit für das Gegenstück dieses so zu nennenden ›Generationenvertrags‹. Denn gibt die Elterngeneration das Erbe frei, so hofft sie, im Gegenzug, auf ein emotionales Entgegenkommen der Kinder in Gestalt von Liebe, Vertrauen und Fürsorge. Dies alles wird hier allerdings nicht nur bitter enttäuscht, sondern führt im Verlauf
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des Stückes zu Verwerfungen ganz existenzieller Natur, an deren Ende – wie so oft in den Tragödien Shakespeares – viele, allzu viele Tote zu verzeichnen sein werden. Als ›Altersstück‹ betrachtet, birgt König Lear vieles, was auch heute noch einen Generationenkonflikt auszulösen vermag: Fragen der Gastfreundschaft bei der Aufnahme der eigenen Eltern oder alter Verwandter (vgl. ebd.: 13), kalkulierende Berechnung hinsichtlich zustehender oder auch erhoffter Nachlässe oder das Nachdenken über eine mögliche Entmündigung der Alten (vgl. ebd.: 16), indem sich die Verwandten als »Pfleger[…] und Verwalter[…]« (ebd.: 51) aufspielen und sich auf diese Weise über die so Gepflegten und Verwalteten erheben.2 Allesamt sind dies verschiedene Arten des Umgangs mit dem ›Erbe der Alten‹ auf der einen und mit den ›Alten (selbst) als (schwierigem) Erbe‹ auf der anderen Seite. König Lear ist somit auch ein Stück über das oft so verhängnisvolle und manchen Endes tragische Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Eltern- und der Kindergeneration, das innerhalb des Stückes immer wieder thematisiert wird als »das Band«, das »zwischen Sohn und Vater zerrissen« ist (ebd.: 17). König Lear kann somit auch als ein Stück über den Rollen- als Alterstausch verstanden werden, nämlich in Gestalt einer Vertauschung der generationalen Abhängigkeiten. Wenn sich »das Alter […] zur Kindheit [kehrt]«, wie es die Erstgeborene Goneril an Lear beobachtet haben will (ebd.: 20), sieht manches Kind innerhalb der nun verkehrten Verhältnisse in der Entmündigung der Eltern die einzige Möglichkeit des Umgangs – wenn auch weniger des Umgangs miteinander als vielmehr mit dem Erbe! Doch kommt es vor, dass es sich auch anders verhält. So weist der Narr den enttäuschten Lear treffsicher darauf hin, er habe sich schließlich selbst in diese Abhängigkeit begeben, »seit du deine Töchter zu deinen Müttern machtest« (ebd.: 25). Die herrscherliche Genealogie hat sich verkehrt, die Familienverhältnisse sind verdreht, der soziale Zusammenhalt existiert nicht mehr unhin2 | Edmund: »[W]enn die Söhne in reifen Jahren und die Väter auf der Neige ständen, dann sei von Rechts wegen der Vater des Sohnes Mündel und der Sohn Verwalter des Vermögens.« (Shakespeare 1966: 16)
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terfragt und bedingungslos. Edmund bringt das prekäre Generationenverhältnis schließlich auf einen ernüchternden Punkt: »Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen.« (Ebd.: 59) Die Ausgangslage emotionaler, sozialer Kälte und brüchig gewordener familiärer Beziehungen ist somit skizziert und harrt ihrer Fortentwicklung. Just in diesen Zustand der Krise dringt unversehens eine Strategie ein, die sich als eine Praxis des Widerstands deuten lässt: die eines vordergründigen, gespielten, sich tarnenden Narrentums: »Diese kalte Nacht wird uns alle zu Narren und Tollen machen« (ebd.: 61), so spricht der Narr – und er wird Recht behalten. Die unterschiedlichsten Figuren werden sich im Lauf des Stücks aus verschiedensten Gründen als Narren hervortun – allesamt jedoch, bis auf den ersten (als dem tatsächlichen) Narren am Hofe, aus mehr oder minder sozialen Anlässen oder familiären Gründen. Der Erste im Bunde ist der Graf von Kent, der als enger Vertrauter des Königs gerade in dessen Alter und in dem ihm zugeschriebenen Starrsinn den Grund für Lears Fehlentscheidung sieht und ihn daraufhin unmittelbar als ›alten Mann‹ anspricht – und nicht mehr als König: »Was tust du, alter Mann?« (ebd.: 9). Dennoch versagt er ihm nicht den Dienst, im Gegenteil: Er nimmt die Rolle eines am Rande der Gesellschaft stehenden, einfachen Mannes an, um dem König unerkannt weiterhin beistehen zu können. Von manchem als Narr wahrgenommen – »Wie, Alter? Bist du toll?« – »Belächelst du mein Wort, wie eines Narren?« (ebd.: 40) –, dient seine Narretei somit der Aufrechterhaltung eines Loyalitätsverhältnisses, das die eigenen Töchter dem König bereits versagt haben. Edgar wiederum, der rechtmäßige Sohn des Grafen von Gloster, ist der Zweite, der sich – zwar nicht ganz freiwillig, dafür aber durchaus bewusst – die Maske des Narren aufsetzt. Als ›toller‹ Führer seines später geblendeten Vaters3 kann er ihm auf diese Weise nahekommen, was ihm, der von seinem Halbbruder Ed3 | »Ein Fluch der Zeit, daß Tolle Blinde führen!« (Shakespeare 1966: 75)
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mund beim Vater angeschwärzt wurde, sonst verwehrt bliebe. Auch hier ist der Weg in die Narretei als eine Strategie zu verstehen, um die gelösten familiären Bande zwischen Sohn und Vater aufs Neue zu knüpfen und ein verloren geglaubtes Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Anders beim König Lear selbst: Ihm wird das Narrentum – wie vorher auch das Alter – allererst von außen zugeschrieben, lange bevor man seinen Weg in die Narretei (im Vergleich zu den beiden Erstgenannten) als einen bewusst gewählten bezeichnen könnte. Wieder ist es der königliche Hofnarr, der die rechten und offensten Worte findet, um die sich langsam verändernde und von den Figuren selbst hervorgerufene Situation erschreckend genau zu beschreiben: Abbildung 1: Aus dem Film Minetti – Lear von Dietmar N. Schmidt, mit Ausschnitten aus der König Lear-Inszenierung von Klaus Michael Grüber, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 1985 (von links nach rechts: Lear: Bernhard Minetti, Narr: David Bennent, Edgar: Branko Samaroyski). Foto: Renate Schäfer.
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»Narr. Ich wollt, ich hätte zwei Kappen und zwei Töchter! Lear. Warum, mein Söhnchen? Narr. Wenn ich ihnen all meine Habe geschenkt hätte, die Kappen behielt ich für mich. Ich habe meine; bettle du dir eine zweite von deinen Töchtern. […] Lear. Ein bittrer Narr! Narr. Weißt du den Unterschied, mein Junge, zwischen einem bittren Narren und einem süßen Narren? Lear. Nein, Bursch, lehr ihn mich. Narr. Der dir’s geraten, Lear,/Dein Land zu geben hin,/Den stell hierher zu mir,/Oder stehe du für ihn./Der süß’ und bittre Narr/Zeigt sich dir nun sofort,/Der ein’ im scheck’gen Wams,/Den andern siehst du dort. Lear. Nennst du mich Narr, Junge? Narr. Alle deine andern Titel hast du weggeschenkt, mit diesem bist du geboren.« (Shakespeare 1966: 24f.; Hervorhebung V.D.)
Fast scheint es, als werde das Narrentum hier Lears ›neues Kleid‹ des Alters – auch wenn es sich dabei noch um ein lediglich zugeschriebenes handelt, erwachsen aus dem selbst verursachten Schicksal der Verstoßung durch die Töchter. »Wenn du mein Narr wärst, Gevatter, so bekämst/du Schläge, weil du vor der Zeit alt geworden bist.« (Ebd.: 32; Hervorhebung V.D.) In diesem Wort bescheinigt ihm der Hofnarr zweierlei: Nun ist die vorherige Zuschreibung des Alters wahr geworden, mit der man ihn ›vor der Zeit‹ zum Narren hielt, indem man ihn zum Alten ausrief: Der Alte ist jetzt wahrlich alt geworden. Aber: Endlich scheint auch der Weg frei, herausgewunden aus den Fesseln familiärer Verpflichtungen oder gesellschaftlicher Vorzeigbarkeit, hin zu einem Narrentum eigener Wahl. Und tatsächlich regt sich Widerstand in Lear und er beginnt, sich zunehmend aktiv zu verweigern. Er scheint sich – nahezu unmerklich, beinah unbewusst – in einen Zustand zu be- beziehungsweise ergeben, der ihm sehr viel freieres Agieren erlaubt, als sich weiterhin explizit gegen die Zuschreibungen von Alter, Königtum oder gelingender Vaterschaft aufzulehnen. Es gibt ja
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nichts, rein gar nichts, was er noch verlieren könnte. Der ehemalige König beginnt zu fabulieren, über die Gebühr, auch ungebührlich.4 Er führt damit seine bisherigen Rollenbilder ad absurdum und entzieht sich so nicht nur der Welt und ihrer Ordnung, wie er sie kannte, sondern auch dem ›Generationenvertrag‹. Sein Dasein als väterliche Autorität ist ihm längst von den Töchtern aufgekündigt worden; jetzt kündigt er seinerseits (die Erfüllung) seine(r) Rolle als verantwortlicher und liebevoller Vater. Darüber hinaus aber erkennt er – stellvertretend in der Blindheit seines unerkannten, geblendeten Vertrauten Gloster – eine neue Hellsichtigkeit, die unmittelbar ans Narrentum gekoppelt (er)scheint: »Lear. […] Keine Augen im Kopf, kein Geld im Beutel? – Höhlten sie dir die Augen und holten dir den Beutel? Doch siehst du, wie die Welt geht! Gloster. Ich seh es fühlend. Lear. Was, bist du verrückt? – Kann man doch sehn, wie es in der Welt hergeht ohne Augen.« (Shakespeare 1966: 88f.; Hervorhebung V.D.)
Narrentum wird hier gleichgesetzt mit Klarsicht. Und so wie die Sinnhaftigkeit des Gesprächs zunehmend dem sprachlichen Spiel und dem sinnierenden Fabulieren innerhalb einer erdachten Situation weicht, wirkt der Fabulierende hier schon wie einer, der »aus der Welt des Benehmens ausgeschert ist«;5 auch entgleisen ihm teils schon die (Gesichts-)Züge, wie es der Schauspieler Bernhard Minetti in seiner hier bildhaft hinzugezogenen Darstellung als ein buchstäbliches Mahlen der Worte in seinem faltenverhangenen Munde vorführt.6
4 | Siehe insbesondere die fiktive Gerichtsszene im 4. Aufzug, 6. Auftritt. 5 | Geliehen aus Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung (Erpenbeck 2008: 23). 6 | Siehe auch Abbildung 1.
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Minetti von Thomas Bernhard Minetti ist in Thomas Bernhards Stück (Bernhard 1988)7 ein alter, sehr alter Schauspieler, der in der Silvesternacht in ein altes Hotel in Oostende kommt, wo er glaubt, mit dem Schauspieldirektor von Flensburg verabredet zu sein, der ihn noch einmal im Rahmen der 200-Jahr-Feier des dortigen Schauspielhauses als Lear engagieren will. Die Figur des Minetti fühlt sich in vielerlei Hinsicht der Figur des Lear verbunden – nicht zuletzt durch den Umstand, dass Lear die eine, die einzige Figur der Dramatik ist, an der diese andere, Bernhard’sche Theaterfigur Minetti vom Autor zum Scheitern verurteilt wird: Nach einem Theaterskandal vor 30 Jahren verbannt in die Provinz, nach Dinkelsbühl, in die Dachkammer der Schwester, wo er seither den Lear tagtäglich vor dem Spiegel probt … ›Lear‹ fungiert im Stück als Beschwörungsformel für die Figur des alten Schauspielers; das Scheitern an und mit Lear bricht sich dabei seinen verbalen Weg durch Bernhards allseits bekannte Schimpftiraden. »Lear/auf der Suche/nach dem Kunstwerk/immerfort nach dem Geistesgegenstand/gegrübelt und gegraben/nach dem Kunstwerk/Dame trinkt/Kopfüber in das Kunstwerk/meine Dame/kopfüber/Mit dem Geistesgegenstand/gegen den Geistesunrat/mit dem Kunstwerk/gegen die Gesellschaft/gegen den Stumpfsinn/mit dem Regenschirm in die Luft schlagend plötzlich/ Verjagen/mit gesenktem Kopf/Dem Stumpfsinn/ die Geisteskappe aufsetzen/laut, empört/mit der Geisteskappe/den Stumpfsinn erdrücken/die Gesellschaft/alles/unter der Geisteskappe erdrücken/Ein Schauspiel anzetteln/und dem Stumpfsinn die Geisteskappe aufsetzen/Hören Sie meine Dame/Der Schauspieler reißt/dem Schriftsteller die Maske herunter/und setzt sie sich auf/und verjagt das Publikum/indem er dem Publikum die/Geisteskappe aufsetzt/Wir dürfen nicht kapitulieren/nicht kapitulieren/wenn wir nachgeben/ist alles zu Ende/Wenn wir nur einen Augenblick nachgeben/ruft aus/Nicht einen Augenblick […].« (Bernhard 1988: 222f.)
7 | Ich beziehe mich zudem auf die Aufführung von 1976 unter Claus Peymann mit Bernhard Minetti selbst in der Hauptrolle.
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Die ›Geisteskappe‹ als des Künstlers Narrenkappe, unter der er sich dem Publikum entgegenstellen kann; die ›Geisteskappe‹ aber auch als des Dichters Narrenkappe, unter der der Autor Thomas Bernhard seiner ihm eigenen und für ihn so bezeichnenden Sprach- und Spielfreude, auch als einer Freude am Nörgeln, Stänkern und Krakeelen freien Lauf lassen kann. So können die sich wiederholenden, sich ständig steigernden und sich selbst anfeuernden Wortkaskaden sowohl als Spiegel der Narretei des Autors gelten wie auch als Ausdruck einer Absage an das Dogma einer absoluten Erzählung. »Minetti/der sich der klassischen Literatur verweigert hat« (ebd.: 207) – wie die Figur sich selbst am Anfang beim Eintritt in die Hotelhalle vorstellt: der gesamten (!) klassischen Literatur, außer dem Lear –, mischt in diese absolute Referenzerzählung aber immer auch die Mitteilung von etwas ganz Persönlichem. So fungiert der Lear als Beschwörungsformel für die Erinnerung, jung gewesen zu sein, um ihn spielen zu können: »Es ist ein Gelübde/ein Gelübde ist es/zieht eine Fotografie aus der Rocktasche und/gibt sie der Dame/Hier auf diesem Bild/sehen Sie mich/als Lear/Meine Abschiedsvorstellung in Lübeck/Die Dame betrachtet die Fotografie, vergleicht die Fotografie/mit Minetti/Lear/[…]/ geradeaus blickend/Ein Portrait des Künstlers/als junger Mann.« (Ebd.: 230)
Aber de facto ist Minetti der Gestalt gewordene Topos des ›Künstlers als alter Mann‹,8 der sich in seiner Vorstellung des Künstlertums leiten lässt vom Schauspiel vor Publikum – und dem darin verborgenen Risiko des Scheiterns. Und darüber muss der Schauspieler erzählen, muss Minetti berichten, von sich selbst als altem Schauspieler, der sich an Lear, seiner ganz persönlichen ›Meistererzählung‹, abarbeitet und der er sein eigenes Erzählen entgegenschmettert, den ›Koffer‹ der eigenen Lebenserzählung gegenüberstellt: »In diesem Koffer/habe ich die Beweise.« (Ebd.: 232) Und doch bleibt der Inhalt die ganze Zeit über unsichtbar, 8 | Siehe auch der mitunter erwähnte Untertitel des Stückes: Ein Porträt des Künstlers als alter Mann.
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wird nur imaginiert durch Minettis eigene Beschwörung. »Wir sind dreißig Jahre/zusammengeblieben/der Koffer und ich/Eine Verschwörung.« (Ebd.: 248) Mittels der eigenen Erzählung (›der Koffer und ich‹) entledigt er sich einerseits des Lear (als übergroßer Legende), andererseits braucht er ihn aber ungebrochen weiterhin als Referenzerzählung. Doch in der Wiederholung der Wiederholung wandeln sich zunehmend die Wertigkeiten innerhalb der eigenen Lebensgeschichte: Es ist augenscheinlich eine andere Form des Wahnsinns als bei Lear, ein anderes Narrentum, das sich in Minettis Erzählung vollzieht: »Minetti. […]/Der wahre Künstler mein Kind hat sich den Wahnsinn seiner Kunst zur Methode gemacht/mag die Welt denken und schreiben was sie will/Er darf nur kein Angsthase sein natürlich/[…] Aber welche Anstrengung mein Kind/vehement/In Dinkelsbühl in der Dachkammer meiner Schwester/Künstler sein/Niemals die Frage/ob etwas statthaft ist oder nicht/niemals/[…] Die Menschheit flüchtet tagtäglich/in die klassische Literatur/denn in der klassischen Literatur ist sie unbehelligt/und in die klassische Malerei/und in die klassische Musik/dass es zum Kotzen ist/In der Klassik ist die Gesellschaft unter sich/unbehelligt/Aber ein Künstler hat sich dem Vorgang/dieser Schamlosigkeit zu verweigern/zum Mädchen direkt/Aber was geht ein solches schönes Kind wie dich an/was ein solcher Verrückter denkt […].« (Bernhard 1988: 242f.)
Vom ›Wahnsinn‹ der Kunstfigur Lear führt Minetti das Erzählen selbst zur ›Verrücktheit‹ der eigenen Künstlerschaft: Es ist das Absolute nicht nur der klassischen Literatur, sondern auch der sich darein flüchtenden Gesellschaft, die ›unbehelligt‹ bleiben will, von der sich Minetti so enttäuscht fühlt und an der sich letztendlich nicht nur die Künstlerfigur Minetti, sondern auch der Autor Bernhard wiederholt abarbeitet.
Das letzte Band von Samuel Beckett Für ein Narrentum, das sich auf verschiedene Figuren verteilt, fänden sich im Absurden Theater – zu dem sicher auch Bernhards Schreiben zu zählen ist –, aber insbesondere auch im Œu-
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vre Samuel Becketts weitaus bessere Beispiele als der alte Krapp mit seinem Tonband. Und doch liefert der Alte zusammen mit seinen auf Band gebannten Erinnerungen eine sehr spezielle Paarung, da sie nicht nur eine außergewöhnliche Form des Dialogs vorführen, sondern zugleich verschiedene Schichten und Schichtungen von Erinnerungserzählungen installieren. Narrentum müsste hier(für) als Beschreibungsmoment weiter gefasst werden: nämlich im Sinne eines sprachformalen Spiels – und wäre damit wieder in unmittelbarer Nachbarschaft der Shakespeare’schen Narreteien zu verorten. Narrentum aber auch wieder im Sinne des ungebührlichen Ausscherens, im Shakespeare’schen wie im Bernhard’schen Sinne, des Verloren-Seins für die Welt, die es im Kosmos Krapps nur noch als gegenwärtiges Zusammenspiel mit den tückischen Requisiten und als Aufrufen, Kommentieren und Aktualisieren von Erinnerungsbildern zu beobachten gibt. Beckett installiert in seinem Text wie auch in seiner eigenen Inszenierung9 verschiedene Alterszeichen: Zeichen der Nachlässigkeit, des Verfalls. In der ersten Regieanweisung heißt es hierzu: »[…] Am Tisch sitzt […] ein zermürbter alter Mann: Krapp. Speckige schwarze Hose, die ihm zu eng und zu kurz ist. Speckige schwarze, ärmellose Weste, vier weite Taschen. […] Schmieriges weißes Hemd, am Hals offen, ohne Kragen. Auffallendes Paar schmutzig-weißer Schnürstiefel […]. Weißes Gesicht. Wirres graues Haar. Unrasiert. Sehr kurzsichtig (aber ohne Brille). Schwerhörig. Krächzende Stimme. Eigentümlicher Tonfall. Mühsamer Gang.« (Beckett 1974: 9)
Viele der ausgewiesenen Attribute entsprechen einem weithin unhinterfragten Altersbild: ›wirres graues Haar, unrasiert, sehr kurzsichtig‹ – aber eitel genug, keine Brille zu tragen! –, ›schwerhörig‹. Es gibt aber auch das ›Zermürbte‹, das den alten Mann näher bestimmen soll, so wie die ›Eigentümlichkeit‹ des Tonfalls oder die ›Mühsal‹ in der Fortbewegung. Diese wesentlich uneindeutigeren Charakteristika haben durch Becketts präzise Vorstel9 | 1969 in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters.
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lungskraft zwar Eingang gefunden in den Zweittext seiner Regieanweisungen, können de facto aber erst in der Darstellung selbst ersichtlich werden. In Becketts eigener Inszenierung entfaltet sich zwischen dem präsenten Darsteller Martin Held und dem stimmlich gegenwärtigen Widerhall aus der Vergangenheit das Spiel der Zeiten und der unterschiedlichen Identitäten, das in seiner Maskerade, seiner Selbstgenügsamkeit und seiner Abgeschlossenheit einem Narrenspiel nicht unähnlich scheint. Wenn Beckett die Figur Krapp (wie auch seinen Darsteller Held) am Anfang genüsslich mehrere Bananen im immer gleichen Ablauf schälen, essen und genießen lässt, ihn dreimal hinter die Bühne schickt, um die notwendigen Bänder und Gerätschaften zu holen, oder ihn einfach sitzen, pausieren, wortlos sinnieren lässt – dann beginnt das Spiel mit der Zeit auch spürbar als Spiel in der Zeit. Es ist und bleibt zunächst ein SchauSpiel, in dem Krapp als alter Mann seine Schuhe über den Boden schlurfen lässt oder seiner Schwerhörigkeit Ausdruck verleiht und so den Regieanweisungen äußerst detailversessen Leben einhaucht. Aber es wird zunehmend auch ein Spiel, das eben schon im Text installiert ist, im Wort, in der Sprache: ›Spuuule‹ – ›Glückliches Lächeln‹ (als Regieanweisung) (ebd.: 16). Das Außergewöhnliche dieser Aufführung ist sicherlich die sehr präzise und spielerische Umsetzung eines an sich schon extrem präzise gesetzten, aber eben auch äußerst spielerisch angelegten Textes. Selbstverständlich finden sich auch hier wieder Altersstereotype wie der Hinweis auf die ›leichte Besserung der Darmtätigkeit‹ (ebd.: 21) – allerdings wirken diese, für den 39-Jährigen vom Band, reichlich übertrieben und werden – durch den Abgleich mit dem alten Krapp-Darsteller-Körper – als (imaginierte) Bilder des Alters vorgeführt. Hier handelt es sich ganz offenbar um jemanden, der sich selbst ›vor der Zeit alt‹ fühlt – anders noch, als es der Shakespeare’sche Narr seinem König als von anderen zugeschriebenes Attribut attestierte.
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Abbildungen 2 und 3: Das letzte Band in der Regie von Samuel Beckett, Werkstatt des Schillertheaters, Berlin 1969 (Krapp: Martin Held). Fotos: Volker Canaris.
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Doch auch das ist nicht des Alten letztes Wort: »Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt, kaum zu glauben, daß ich je so blöde war. Diese Stimme! Gott sei Dank ist das wenigstens alles aus und vorbei.« (Ebd.: 39) Den Rahmen dieser Annäherung der verschiedenen Krapps bildet de facto weniger eine Erinnerungserzählung oder biographische Referenz; vielmehr scheint er im Echo der ›Stimme‹ anzuklingen: dieser Stimme, der Krapp anhand des Klanges des Wortes ›Spuuule‹ anfangs noch so schwelgerisch nachhorchte und die ihn im letzten Zitat so zu verwundern scheint, die Irritationen auslöst, die ihn selbst vielleicht sogar abstößt. Doch das dann folgende ›Gott sei Dank ist das wenigstens alles aus und vorbei‹ bezieht sich viel eher auf das Ärgernis, was sein damaliges Selbst- beziehungsweise Altersbild in ihm hervorruft. Und so endet dieser Abschnitt, irgendwie versöhnlich, auf eine Weise mit sich im Jetzt versöhnt – und für die eigene Zukunft auf Band gebannt: »Schwelgte im Wort Spule. […] Spuuule! Glücklichster Moment der letzten fünfhunderttausend.« (Ebd.: 39f.) Dies verstanden als ein Plädoyer für einen ›anderen‹ Umgang mit dem Alter, der sich weder ausschließlich aus dem Rückbezug auf Vergangenes noch aus dem angstvollen Blick in eine ungewisse Zukunft speist, sondern der es heimholt in die Gegenwart, ins Jetzt: als einen ›glücklichsten Moment‹.
TANZ -B LICK : K ONTAKTHOF. M IT D AMEN UND H ERREN AB 65 VON P INA B AUSCH »›Damen und Herren ab 65 gesucht‹, so beginnt eine Kleinanzeige in einer Wuppertaler Lokalzeitung. Hintergrund: die Neuinszenierung des Stückes ›Kontakthof‹, das Pina Bausch 1978 mit ihrer Tanztheatergruppe herausgebracht hatte. Es soll jetzt [im Jahr 2000; Anmerkung V.D.] mit älteren Menschen, mit Laien neu inszeniert werden. […] Tänzerinnen und Tänzer aus der Uraufführungstrupppe haben alle Hände voll zu tun, mit den Laien die komplizierten, unverwechselbaren Posen, Gesten und
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Bewegungsabläufe à la Pina Bausch einzustudieren.« (Mangelsdorff 2010)10
Ein Tanzexperiment soll es sein, das im eigentlichen Sinne keines ist, da ja die Choreografie feststeht und lediglich, wenn auch mühsam, mit den alten Laien/-innen einstudiert werden muss. Doch liegt auch eine Chance zur Veränderung in der neuen Besetzung, handelt es doch um »Menschen, die ihr Berufsleben hinter sich haben und sich nun einer neuen Tätigkeit widmen, für die normalerweise schon Menschen über 35 viel zu alt sind. Hier kommt als neue Ressource die Lebenserfahrung älterer Menschen ins Spiel, die dem Stück einen eigenen, unverwechselbaren Charakter gibt.« (Ebd.)
Soweit also die Theorie: Die ›komplizierten, unverwechselbaren Posen, Gesten und Bewegungsabläufe à la Pina Bausch‹ sollen gekoppelt werden mit der als ›neu‹ erkannten ›Ressource‹ der ›Lebenserfahrung älterer Menschen‹ und dadurch der Neuauflage des Stücks einen ›eigenen, unverwechselbaren Charakter‹ verleihen. Dabei fungiert die Choreografie von Pina Bausch als Referenzerzählung, indem die Tanzschritte an sich nicht verändert werden sollen, sondern lediglich durch andere Körper ausgeführt werden; die Ressource der Lebenserfahrung älterer Menschen tritt hier als Vorstellungsbild und ungebrochenes Stereotyp der ›weisen Alten‹ zu dieser Referenzerzählung hinzu und bildet mit ihr zusammen quasi ein Drittes, nämlich wiederum ein Stück, dem ein ›eigener, unverwechselbarer Charakter‹ zugeschrieben wird.
10 | Aus einem Werbetext zum Dokumentarfilm Damen und Herren ab 65 von Lilo Mangelsdorff (Mangelsdorff 2010). Die Uraufführung der Originalversion Kontakthof fand 1978 statt, die Version mit Damen und Herren ab 65 2000 und mit Teenagern ab 14 schließlich 2008.
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Abbildungen 4 und 5: Aus dem Film Damen und Herren ab 65 von Lilo Mangelsdorff, mit Ausschnitten aus dem Stück Kontakthof von Pina Bausch, © Cinetix GmbH 2002.
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Doch bei der Inszenierung fordern die Dauer der Aufführung (insgesamt mehrere Stunden!) und die Mühsal der Probenarbeit ihren Tribut bei den unausgebildeten Tänzern/-innen: Erschöpfung macht sich breit und manche Konzentrationsschwäche ist zu beobachten, die sich in Ungenauigkeiten bei der Durchführung der choreografisch so präzise platzierten Posen Bahn bricht. Genau an diesem Punkt ließe sich ansetzen, um auf das mögliche Potenzial der nicht einzupassenden Körper aufmerksam zu machen: Ob denn nicht diese, in ihrer faktischen Ungleichmäßigkeit auffallenden Körper – man denke an das Gleichmaß, das in mancher Tanzkompanie vorherrscht –, die sich eben auch durch angepasste Kostüme oder die gleichen Tanzschritte nicht gleichmachen lassen, ob diese Körper samt ihrer Bewegungen nicht der weitaus interessantere Ausgangspunkt für eine künstlerische Weiterbeschäftigung hätten sein können. Wenn man die Mitbringsel, die Fracht, sozusagen den Koffer des Alters beziehungsweise der Alten nämlich nicht als ›neue Ressource‹ in ein von vornherein festgelegtes (Bewegungs-)Muster einpassen würde, sondern sich ernsthaft und tatsächlich experimentierfreudig der Widerständigkeit der Körper widmen wollte.
F ILM -B LICK : WOLKE 9 VON A NDRE AS D RESEN Widerstand zu leisten, bedeutet auch und immer wieder, sich gegen Erwartungshaltungen zu stemmen. Über das Alter im Film ist in letzter Zeit eine Menge geschrieben worden. Auch fallen einem sofort diverse Streifen aus Hollywood ein, in denen Selbstreflexionen gealterter Stars innerhalb von Geschichten über alternde (meist männliche) Helden verhandelt werden, wie in The Wrestler (2008) mit Mickey Rourke oder im neuerdings mit einem Vornamen versehenen John Rambo (2008) mit Sylvester Stallone, um nur zwei neuere Beispiele zu nennen. Es fallen einem Freundschaftsfilme à la Ein verrücktes Paar (1993) mit Jack Lemmon und Walter Matthau ein (die anknüpfen an ihren eigenen Status als ein freundschaftliches ›Traumpaar‹ der Filmgeschichte) oder Liebesromanzen wie Was das Herz begehrt mit Jack Nicholson und Diane Keaton oder Brot und Tulpen mit Bruno Ganz, die in den Er-
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scheinungsjahren 2003 beziehungsweise 2000 auch nicht mehr blutjung gewesen sind. Allerdings gibt es darüber hinaus durchaus Filme der etwas anderen Art: beispielsweise Andreas Dresens Wolke 9 (2008). Auch über diesen Film ist viel geschrieben worden, vor allem über die erste Szene, in der Inge (gespielt von Ursula Werner) recht unvermittelt und filmisch kaum vorbereitet mit Karl (gespielt von Horst Westphal) intim wird. Abbildungen 6 und 7: Aus dem Film Wolke 9 (Inge: Ursula Werner, Karl: Horst Westphal), 2008. Fotos: Andreas Dresen.
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Noch vor dem Vorspann wird dem Film die ganze Spannung genommen, die die Presseberichterstattung, die Kritiker/-innen und der mitunter auch empörte Aufschrei des Publikums im Vorfeld aufgebaut haben und die die Erwartung der Kinogänger/-innen in höchstem Maße prägt. Sie entlädt sich einfach und ziemlich unerwartet: Eine Sexszene zwischen Alten! Zwischen zwei über 60-Jährigen! Die noch nicht einmal verheiratet sind, sondern eine Affäre beginnen, an der schließlich eine langjährige Ehe (der Ehemann Werner wird gespielt von Horst Rehberg) zerbrechen wird! Ja: Das ist der Skandal! Und es ist die Geschichte, die danach erzählt wird. Aber es lohnt sich insbesondere, darauf zu schauen, worauf der Blick eigentlich gelenkt wird mit dieser Szene, die weit mehr eröffnet als nur den viel beschworenen Akt. Besonders im Moment der Ruhe des Ausklangs, der Bitterkeit des anklingenden Endes, noch bevor es überhaupt begonnen hat, ohne die Hektik der die Figuren überkommenden Leidenschaft, die auch die Zuschauer/innen recht unmittelbar konfrontiert, lässt sich die Beobachtung schärfen für das, was der ›Film‹ zu bieten hat in seiner puren filmischen Beschaffenheit. Denn die Szene arbeitet mit natürlichem Licht, das vorgefunden wurde; kein künstliches Licht hält dagegen, keine Abblendung mildert das Grelle des ins Zimmer brechenden Scheins, gegen den die Körper fast unwirklich anmuten, ohne weich gezeichnet zu sein. Man sieht ihnen alles an: das Alter, den Schweiß, die Falten und Furchen – präsente Körperlichkeit, an der die Kamera während der ganzen Zeit des Beisammenseins förmlich klebt – bis zur Auflösung der Szene selbst, wenn Inge sich hastig anzieht, aus dem Zimmer stürzt und Karl sich nackt und verlassen wiederfindet. Titeleinblendung: Wolke 9. Das ›neue‹ Kleid des Alters ist hier ein eigentlich altes, zurückgehend auf die Zeiten, wo der Film noch experimentell veranlagt und die Technik noch nicht so weit gediehen war, an den Platz unserer Phantasie zu treten und sie gar zu übertünchen. Auch wenn Wolke 9 eine zwar nicht unbedingt konventionelle Geschichte erzählt, kann man im Verlauf der Handlung den Charakteren und ihren Verstrickungen mit Empathie recht gut folgen. Aber gerade diese erste Szene, die schon alles vorwegnimmt, ohne dass man darauf vorbereitet gewesen wäre, liefert eine Andeutung dessen, was das
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›neue‹ Kleid des Alters tatsächlich ausmachen könnte: den Anflug einer Ahnung, dass ein ›anderer‹ Umgang mit Alter, Körper und künstlerischem Material denkbar wird, der sich Vorstellungsbildern verweigert. Und dass sich ein ›anderes‹ Erzählen vollziehen kann, das den Augenblick zu dehnen vermag. Doch alles Fabulieren muss irgendwann ein Ende finden. Und so lassen sich die angestellten Überlegungen mit einem wunderbaren Dialog aus einem anderen wunderbaren Stück von Samuel Beckett beschließen, der diese Erzählung – vielleicht versöhnlicher als ursprünglich gedacht – zu einem vorläufigen Ende führen soll: »Wladimir: So ist die Zeit vergangen. Estragon: Sie wäre sowieso vergangen. Wladimir: Ja, aber langsamer.« (Beckett 1971: 125)
L ITER ATUR Beckett, Samuel: Das letzte Band. Krapp’s Last Tape. La dernière bande. Deutsche Übertragung von Erika und Elmar Tophoven. Englische Originalfassung. Französische Übertragung von Samuel Beckett. Frankfurt am Main, 1974. Beckett, Samuel: Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot. Deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Vorwort von Joachim Kaiser. Frankfurt am Main, 1971. Bernhard, Thomas: Minetti. In: Bernhard, Thomas: Stücke 2. Frankfurt am Main, 1988, S. 203-250. Erpenbeck, Jenny: Heimsuchung. Berlin, 2008. Günther, Alfred: Nachwort. In: Shakespeare, William: König Lear. Tragödie. Aus dem Englischen übertragen von Wolf Heinrich Graf Baudissin. Textrevision und Nachwort von Alfred Günther. Stuttgart, 1966, S. 111f. Kott, Jan: König Lear oder das Endspiel. In: Kott, Jan: Shakespeare heute. Berlin, 1989, S. 133-170.
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Mangelsdorff, Lilo: Damen und Herren ab 65. www.cinetix.de/ limafilm/ (12.02.2010). Shakespeare, William: König Lear. Tragödie. Aus dem Englischen übertragen von Wolf Heinrich Graf Baudissin. Textrevision und Nachwort von Alfred Günther. Stuttgart, 1966.
I NSZENIERUNGEN UND F ILME Bausch, Pina: Kontakthof. Mit Damen und Herren ab 65. Wuppertal, 2000. Beckett, Samuel: Das letzte Band. Regie: Samuel Beckett. Werkstatt des Berliner Schillertheaters, 1969. Darsteller: Martin Held. Bernhard, Thomas: Minetti. Regie: Claus Peymann. Uraufführung der Württembergischen Staatstheater Stuttgart, 1976. Darsteller (unter anderen): Bernhard Minetti. Dresen, Andreas: Wolke 9. Deutschland, 2008. Senator Filmverleih. Darsteller/-innen (unter anderen): Ursula Werner, Horst Rehberg, Horst Westphal. Mangelsdorff, Lilo: Damen und Herren ab 65. Deutschland, 2002. Basis Film Verleih. Schmidt, Dietmar N.: Minetti. Lear. BR Deutschland, 1985. Shakespeare, William: König Lear. Regie: Klaus Michael Grüber. Schaubühne am Lehniner Platz. Berlin, 1985. Darsteller (unter anderen): Bernhard Minetti, David Bennent.
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II. Alternde Gesellschaften
Altern in Unsicherheit Gesundheit und Pflege von alten Menschen in Indonesien und Tansania Peter van Eeuwijk
E INLEITUNG Das schnelle und umfassende Altern von beinahe allen Gesellschaften ist als eine Erfolgsgeschichte der Menschheit anzusehen. Die Tatsache, dass eine Mehrzahl der Menschen älter wird und länger gesund lebt, stellt zweifellos aus humanitärer Perspektive eine globale Errungenschaft dar. Zugleich bedeutet diese demografische Transformation auch eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Dabei wird eine Kombination von sozialen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen, kulturellen und politischen Problemfeldern angeführt (HelpAge International 2002a; Kinsella/He/US Census Bureau 2009). Der kritische Blick in dieser Debatte weist gemäß Cohen (1994) und Makoni (2008) auf einen scharfen Kontrast der Repräsentation hin, nämlich denjenigen zwischen den wissenschaftlichen und politischen Diskursen des ›Altern als Problem‹ und der Wahrnehmung der alten Menschen selbst bezüglich ihres Lebens. Der steigenden Tendenz der Negativkonnotierung von ›Alte, Alter und Altern‹, zu deren ›Förderern‹ Dracklé (2009) die wissenschaftliche Forschung zählt, hält die bekannte Nicht-Regierungsorganisation HelpAge International (2009) den Ansatz des ›Invest in Older People now‹ entgegen. Dabei lohnt es sich, als
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P ETER VAN E EUWIJK
Gesellschaft und Individuum, in alte Leute als wertvolle Ressource und ausgesuchtes Kapital mit mittelfristiger Profitträchtigkeit zu investieren. Zur Milderung dieses doch eher unangenehm wirkenden utilitaristischen Ansatzes versuchen wir, die damit verbundene Anlage weiterführend im Sinne von Bourdieu zu verstehen. Dabei gilt ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital als Ausgangspunkt sowohl für eine eigene erhöhte Handlungsfähigkeit als auch für die Aneignung von sozialer Energie und politischer Macht (Bourdieu 1986, 1993). Diese geisteswissenschaftliche Ausdeutung des lohnenden Investierens in alte Menschen und deren Kapital präsentiert eine neue Perspektive. Nicht Mühsale und Defizite, sondern Fähigkeiten und Resilienzen treten in den Vordergrund etwa in den aktuellen geronto-ethnologischen Diskursen. Dabei sieht Dullemen (2006: 99) ältere Afrikaner/-innen als »the new engines of society«: »There is an urgent need for a change of attitude toward the elderly, who should not be perceived as a burden to society but as key players in the productive and reproductive field.« Doch dürfen diese politischen Slogans und theoretischen Interpretationen nicht die Quantität und Qualität der Lebensabsicherung von alten Leuten überromantisieren, wie die realen Beispiele aus Indonesien und Tansania zeigen. ›Gute‹ Investitionen verlangen einen geschützten, nachhaltigen und zukunftsgesicherten Rahmen – Eigenschaften, die das Älterwerden in beiden Ländern derzeit kaum prägen.
D EMOGR AFISCHES A LTERN IN I NDONESIEN UND T ANSANIA Beide Länder weisen wichtige Gemeinsamkeiten, aber auch prominente Unterschiede bezüglich ›Alte, Alter und Altern‹ auf. Die ökonomischen Kennzahlen von Indonesien (siehe Tabelle 1) weisen dieses südostasiatische Land als ein ›lower middle income country‹ aus, während sein demografisches Altern einer ›rapidly ageing society‹ entspricht; das ostafrikanische Tansania hingegen zählt zu den ›low income countries‹ und seine demografische Transition repräsentiert eine erst beginnende ›ageing
A LTERN IN U NSICHERHEIT
society‹ (WHO 1998; World Bank 2009a). Sinkende Geburtenund Kindersterblichkeitsraten sowie eine seit 20 Jahren zunehmende Lebenserwartung sind in Indonesien Resultat einer allmählichen wirtschaftlichen, infrastrukturellen und medizinischen Besserstellung vieler Indonesier/-innen. Wenn sie auch mit zunehmenden Verteilungsdisparitäten und den nachwirkenden Folgen des Wirtschaftszusammenbruches ab 1997/1998 ringen (Kinsella 2000; Kinsella/He/US Census Bureau 2009). In Tansania prägen abnehmende Geburten- und zunehmende Mortalitätsraten die für diese Region typische Populationspyramide (siehe Tabelle 1), was nicht zuletzt auch Ausdruck der relativ hohen HIV/AIDS-Rate und weitverbreiteter Armut ist – im Jahre 2007 betrug die HIV-Prävalenzrate von Menschen zwischen 15 und 49 Jahren 6,2 Prozent, in Indonesien nur 0,2 Prozent (Velkoff/Kowal 2006; Kinsella/He/US Census Bureau 2009; World Bank 2009a). Der starke Einfluss von HIV/AIDS auf die Bevölkerungsdynamik führt in Tansania dazu, dass die Lebenserwartung im Jahre 2005 durchschnittlich 10,3 Prozent oder 10,25 Jahre (für beide Geschlechter) weniger betrug als eine vergleichbare Lebensspanne ohne die Auswirkungen von HIV/AIDS (Velkoff/Kowal 2006). Indonesien betreibt seit 40 Jahren ein erfolgreiches nationales Familienplanungsprogramm auf der Basis von ›Zwei Kinder sind genug!‹ (Hull/Hull 2005). Dieser Erfolg wirkt sich auf die demografische Transition und sozio-ökonomische Entwicklung des Landes heute auf eher ambivalente Art aus (Jones 2003; Arifianto 2008). Zwischen 1990 und 2025 nimmt die Zahl der älteren Indonesier/-innen um nicht weniger als 414 Prozent zu (Hugo 2000; World Bank 2008); ihr Bevölkerungsanteil steigt von 8,2 Prozent (2007) auf geschätzte 11,3 Prozent im Jahr 2020 an (Department of Social Affairs 2003). Diese rasche Geschwindigkeit und die große Anzahl von betroffenen Individuen ergeben eine qualitative und quantitative Dimension, die »die Nachhaltigkeit von gegebenen Strukturen und eingeleiteten Entwicklungen in diesen Ländern [wie Indonesien; Anmerkung P.v.E.] […] nicht mehr gewährleistet« (Eeuwijk 2004: 124). Das Ausmaß der Veränderungen betrifft im Aufbau stehende formelle Sozialversicherungssysteme und jetzige
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P ETER VAN E EUWIJK
Tabelle 1: Sozio-demografische Kennzahlen von Indonesien und Tansania (2007/2008) Indonesien
Tansania
Anzahl Einwohner/ -innen
228,25 Millionen
42,48 Millionen
Dichte Einwohner/ -innen/km²
122
48
Lebenserwartung (beide Geschlechter, ab Geburt)
71 Jahre
56 Jahre
Jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung
1,18 Prozent
2,9 Prozent
Fertilität (Anzahl Kinder/Frau)
2,19 Kinder
5,58 Kinder
Anteil 60+ an Bevölkerung
8,2 Prozent
5,1 Prozent
Anteil 80+ an Bevölkerung
0,8 Prozent
0,4 Prozent
Abhängigkeitsverhältnis junge/alte Leute (0-14:65+)
40:9
86:6
Anteil urbaner Bevölkerung
48,0 Prozent
38,0 Prozent
Alphabetisierungsrate
89,5 Prozent
80,2 Prozent
Kindersterblichkeit (pro 1.000 Lebendgeburten,