Allgemeine Wirtschaftsgeographie: Eine systemtheoretisch orientierte Einführung [3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Reprint 2018] 9783486796940, 9783486246988

Der allgemeine Bereich in den Lehrbüchern der Wirtschaftsgeographie wird derzeit nach höchst unterschiedlichen Konzeptio

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German Pages 355 [360] Year 1998

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur ersten und zweiten Auflage
Vorwort zur dritten Auflage
Einleitung
Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie
Kapitel II: Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens
Kapitel III: Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung
Kapitel IV: Wirtschaftliche Regionalsysteme
Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie
Kapitel VI: Mikro- und Mesostrukturelle Dynamik in wirtschaftlichen Regionalsystemen
Kapitel VII: Makrostrukturelle Dynamik in wirtschaftlichen Regionalsystemen
Kapitel VIII: Ansätze einer systematischen Wirtschaftsgeographie
Kapitel IX: Wirtschaftsgeographie der Steuerungszentralen und der Hauptstädte
Kapitel X: Städtesysteme und zentrale Orte
XI. Kapitel: Die Netze des Verkehrs, der Transporte und der Kommunikation
XII. Kapitel: Die Standorte der Einzelwirtschaften
Kapitel XIII: Besondere Fragen der Standortbildung
XIV. Kapitel: Weltsysteme und die Volkswirtschaftsregionen
XV. Kapitel: Ein Ausblick auf den regionalen Zweig der allgemeinen Wirtschaftsgeographie
Literaturverzeichnis
Orts- und Sachregister
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Allgemeine Wirtschaftsgeographie: Eine systemtheoretisch orientierte Einführung [3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Reprint 2018]
 9783486796940, 9783486246988

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Allgemeine Wirtschaftsgeographie Eine systemtheoretisch orientierte Einführung

Von

Dr. Wigand Ritter o. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

3., überarbeitete und erweiterte Auflage

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ritter, Wigand: Allgemeine Wirtschaftsgeographie : eine systemtheoretisch orientierte E i n f u h r u n g / von Wigand Ritter. - 3., Überarb. und erw. Aufl. M ü n c h e n ; Wien : Oldenbourg, 1998 I S B N 3-486-24698-4

© 1998 R. Oldenbourg Verlag R o s e n h e i m e r Straße 145, D-81671 München T e l e f o n : (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de D a s Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrov e r f i l m u n g e n und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. G e d r u c k t auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe G m b H , M ü n c h e n ISBN 3-486-24698-4

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie 1.1 Der geosphärische Raum 1.2 Das territoriale Raumkonzept 1.3 Kommunikative Räume 1.4 Die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung 1.5 Orte, Ortsraster und Regionen

5 5 11 14 18 19

Kapitel II: Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens II. 1 Die Klassifizierung der Ressourcen 11.2 Mobilität und Inwertsetzung von Ressourcen 11.3 Ressourcen und Standorte 11.4 Das Problem der Ausweitung von Marktgebieten

23 24 26 29 33

Kapitel III: Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung 111.1 Formale und Funktionale 111.2 Wirtschaftliche Verflechtungen 111.3 Das Thünen-Modell

35 35 36 42

Kapitel IV: Wirtschaftliche Regionalsysteme IV.1 Eignungsräume als Objekte der Wirtschaftsgeographie IV.2 Die allgemeine Struktur wirtschaftlicher Regionalsysteme IV.3 Eine Klassifizierung funktionaler wirtschaftlicher Regionalsysteme IV.4 Wirtschaftszonen und Wirtschaftsformationen Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie V.l Einfache Potentialsysteme und Kaskaden V.2 Das Fließgleichgewicht V.3 Steady-state und homöostatische Einregelung V.4 Dissipative Strukturen mit Ordnung durch Fluktuation V.5 Einige Grundfragen bei der geographischen Anwendung der Theorie der dissipativen Strukturen

50 50 52 55 74 87 88 90 92 94 96

Kapitel VI: Mikro- und Mesostrukturelle Dynamik in wirtschaftlichen Regionalsystemen VI.l Geographische Aspekte des wirtschaftlichen Alltags VI.2 Veränderungen der Systemstrukturen VI.3 Störungen und Innovationen

102 102 113 126

Kapitel VII: Makrostrukturelle Dynamik in wirtschaftlichen Regionalsystemen VII. 1 Revolutionäre Veränderungen VII.2 Wachstum, Entwicklung, Fortschritt

140 140 155

VI

Inhaltsverzeichnis

Kapitel VIII.1 VIII.2 VIII.3 VIII.4

VIII: Ansätze einer systematischen Wirtschaftsgeorgraphie Makrostrukturelle Ansätze Mikrostrukturelle Ansätze Mesostrukturelle Ansatzmöglichkeiten Vorüberlegungen zu einem mesostrukturellen Ansatz in der Wirtschaftsgeographie VIII.5 Die Abgrenzung von Wirtschaftsregionen Kapitel IX: Wirtschaftsgeographie der Steuerungszentralen und der Hauptstädte IX. 1 Begriff und Funktionskomplex der volkswirtschaftlichen Steuerungszentrale IX.2 Die Ausbildung von volkswirtschaftlichen Steuerungszentralen . . . . IX.3 Wirtschaftsgeographische Aufgaben bei der Behandlung von Steuerungszentralen IX.4 Anzahl und Lagetypen von Steuerungszentralen IX.5 Die Bedeutung der Steuerungszentralen für praktische Entscheidungen IX.6 Offshore-Wirtschaftszentren als Auslagerungen aus Steuerungszentralen

Kapitel X: Städtesysteme und zentrale Orte X.l Städtesysteme X.2 Zentrale Orte und ihr Funktionskomplex X.3 Zur Theorie zentralörtlicher Systeme X.4 Geographische Aufgaben bei der Erforschung zentralörtlicher Systeme X.5 Unterschiedliche Ausbildungsformen von Städtesystemen X.6 Nicht-zentrale Städte in Städtenetzen Kapitel XI: Die Netze des Verkehrs, der Transporte und der Kommunikation XI. 1 Wegesysteme für die Standort-und Ressourcenaufschließung XI.2 Verkehrswege und Netze mit Verbindungsfunktionen XI.3 Graphentheoretische Simulation von Verkehrsnetzen XI.4 Verkehr, Transport und Kommunikation als Wirtschaftskomplexe XI.5 Die Rolle des Staates bei der Netzgestaltung Kapitel XII: Die Standorte der Einzelwirtschaften XII. 1 Autarkieverzicht und Komplexbeziehungen XII.2 Die Erklärung von Standorten durch Naturfaktoren XII.3 Der Erklärungsansatz der klassischen, normativen Standorttheorie XII.4 Ansätze über den Absatzmarkt XII.5 Jüngere, strategieorientierte Standortlehre XII.6 Einige Überlegungen aus der Innovationstheorie XII.7 Standorte in Netzwerken XII.8 Ein genetisches Strukturmodell der Wirtschaftsregion

165 166 168 169 171 175

177 179 182 183 188 191 192 194 194 196 199 204 216 223

226 227 229 232 235 238 241 242 245 248 251 253 259 263 265

Inhaltsverzeichnis

VII

Kapitel XIII: Besondere Fragen der Standortbildung XIII.1 Die Städte und ihr Mantelbereich XIII.2 Innerstädtische Zentren und Subzentren XIII.3 Städtische Zonen und Formationsbildung XIII.4 Exurbia und die Zukunft der Städte XIII.5 Das annehmlichkeitsorientierte Wohnen XIII.6 Agrarzonen und Agrarformationen XIII.7 Erholungs- und Fremdenverkehrsformationen XIII.8 Probleme der Peripherien von Volkswirtschaftsregionen

272 272 282 283 289 292 294 298 302

Kapitel XIV: Weltsysteme und die Volkswirtschaftsregionen XIV.1 Weltwirtschaften und Welthandel XIV.2 Die Globalisierung der Weltwirtschaft XIV.3 Die Peripherien im Prozeß der Globalisierung

306 306 311 313

Kapitel XV: Ein Ausblick auf den regionalen Zweig der allgemeinen Wirtschaftsgeographie XV. 1 Statische Betrachtung regionaler Systeme XV.2 Dynamische Betrachtung regionaler Systeme XV.3 Betrachtung regionaler Systeme als dissipative Strukturen XV.4 Ein Verfahren der Regionaldarstellung XV.5 Abschlußbemerkungen

317 318 320 321 323 326

Literaturverzeichnis

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Orts- und Sachregister

340

Vorwort zur ersten und zweiten Auflage Moderne Ansätze der Systemtheorie und der Innovationsforschung haben faszinikerende Instrumente entstehen lassen, mit welchen die Grundfragen vieler Wissenschaften neue aufgerollt werden können. Für die Wirtschaftsgeorgraphie bietet solches die Theorie der dissipativen Strukturen, deren Anwendung hier erstmals konsequent versucht wird. Dieses Buch will allerdings keine systemtheoretische Untersuchung sein, sondern nur die Anwendbarkeit dieser Ansätze auf geographische Fragestellungen prüfen und einleiten. Verbunden werden damit eine Reihe von Überlegungen, die in Werken zur allgemeinen Wirtschaftsgeographie bisher ungewohnt sind, sich aber aus diesen Ansätzen ergeben, etwa die Rolle der Einheit von Ort, Zeit und Handlung bei wirtschaftlichen Tätigkeiten oder die Frage nach den dynamischen Prozessen, die in solchen Systemen ablaufen. Sie legen eine teilweise Abkehr von bisher gängigen Vorstellungen über den geographischen Raum als dem Handlungsumfeld der Wirtschaft nahe. Die geographische Wissenschaft ist an sich für einen solchen Sprung in unbekannte Gewässer gut gerüstet, allerdings mehr von der empirischen Seite her als durch ihre Theorieansätze. Deren Fehlen über weite Strecken kann vorerst nur notdürftig überbrückt werden. Es wird versucht, wenigstens bis in die Nähe einer Theorie regionaler Systeme vorzustoßen. In diesem Sinne spiegeln viele Abschnitte des Buches die praktischen Erfahrungen des Verfassers. Allzuoft mußte er sich als Geograph an einer Wirtschaftsfakultät mit der berechtigten Frage nach dem Erklärungswert und Nutzen seines Faches für wirtschaftliche Entscheidungen herumschlagen und Antworten versuchen, auch wo der Forschungsstand noch lange nicht zureicht. In solchen Situationen besteht die Gefahr, die Leistungen früherer Generationen von Forschern pauschal zu verwerfen. Ein derartiger Bruch bringt jedoch keinen Nutzen. Daher wurde die Dogmengeschichte der Wirtschaftsgeographie breit eingearbeitet. Die alten Thesen und Antworten erhalten aber oftmals einen ganz anderen Stellenwert als bisher. W.

Ritter

Vorwort zur dritten Auflage In den wenigen Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage und der unveränderten zweiten haben laufende Ereignisse reiches Anschauungsmaterial für einige, damals nur theoretisch postulierbare Schlußfolgerungen geliefert. Insbesondere gilt dies für das Zerbröckeln einer Reihe von Staaten und den Zerfall ihres ideologischen Überbaus, was zu revolutionären Änderungen von Systemstrukturen und Versuchen zur Transformation der Wirtschaftssysteme führte. Ganz allgemein ist eine Flut von Literatur zu vielen in dem Buch angeschnittenen Fragen erschienen, die damals noch als eher randlich gelten mußten. Dazu haben Forschunngen am Lehrstuhl und Arbeiten der Studenten wesentlich beitragen können. Besonders erfreulich ist die Aufnahme von Grundgedanken und deren Weiterführung durch andere Autoren wie Chr. S T A U D A C H E R (1997) und Th. R E I C H A R T (1998). All dies sind gute Zeichen, weil sie anzeigen, daß hier nicht Nebensächlichkeiten ausgearbeitet oder alter Wein aufgefrischt wurden. Dies macht es aber auch schwieriger den Umfang ein- und den Charakter eines konzeptuellen Werkzeugkastens für Studierende beizubehalten. W.

Ritter

Einleitung Grundpositionen des vorliegenden Buchs Im allgemeinen Bereich einer Wissenschaft stellt sich die A u f g a b e , H y p o t h e s e n zum forschungsobjekt und die beobachteten Erscheinungen in den Z u s a m m e n h a n g eines systematischen Lehrgebäudes zu bringen. Generelle Theorien sind dabei auf ihre A n w e n d b a r k e i t im k o n k r e t e n S a c h z u s a m m e n h a n g abzuklopfen. Für die Forschung am O b j e k t d e r Disziplin steckt der allgemeine Bereich einen R a h m e n für die Entscheidung ab, welche Erscheinungen untersucht und erklärt werden müssen. D a ß derzeit in der Wirtschaftsgeographie der allgemeine Bereich in den L e h r b ü chern nach höchst unterschiedlichen Konzeptionen aufbereitet wird, liegt einerseits am W a n d e l d e r Auffassungen, welchen die Geographie insgesamt in jüngerer Zeit erlebt h a t , andererseits an der vornehmlich analytischen und abstrahierenden Vorgehensweise der Wirtschaftswissenschaften. An diesen orientieren sich Wirtschaftsgeo g r a p h e n bei ihren theoretischen Überlegungen, wogegen sie in ihrer Forschungspraxis weniger von d e r Komplexität der realen Welt abgehen wollen. E s gelingt n u r schwer, diesen Widerspruch zu ü b e r b r ü c k e n . Einige Worte sind hier zu den traditionellen Positionen der G e o g r a p h i e angebracht. Diese gliedert m a n konventionell in physische G e o g r a p h i e und Kulturgeographie. D i e erstere ist eine Naturwissenschaft und untersucht Prozesse, die sich in den Grenzschichten von fester E r d k r u s t e , Wasser- u n d Lufthülle abspielen. Dabei k o n t e bisher noch weitgehend von den menschlichen Aktivitäten abstrahiert w e r d e n . D i e Kulturgeographie befaßt sich mit den Menschen und deren H e r v o r b r i n g u n g e n , wobei die Menschen in denselben Grenzschichten agieren, welche die physische G e o g r a p h i e naturwissenschaftlich untersucht. Solange man diese Gleichsetzung aufrechterhält, erscheinen M e n s c h e n , ihre Gesellschaften und W e r k e in ein einheitliches geographisches Forschungsobjekt hineingestellt, das sie selbst nicht hervorgebracht h a b e n , und das infolgedessen von d e r Kulturgeographie auch nicht mehr begründet werden m u ß . Auf dieser Basis k o n n t e man sich problemlos den verschiedenen menschlichen Tätigkeitsbereichen wie Siedlung, V e r k e h r , Religion, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft z u w e n d e n und diese Felder innerhalb der Kulturgeographie zu Spezialdisziplinen a u s b a u e n , die in engen G e d a n k e n a u s t a u s c h zu den jeweiligen Fachdisziplinen traten. Für die Wirtschaftsgeographie h a b e n in erster Linie die Nationalökonomie, in zweiter Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsgeschichte und Soziologie diese R e f e r e n z f u n k t i o n . Ihren Theorien folgt das Fach im A b s t a n d von ein bis zwei G e n e r a t i o nen, wobei dieser Rückstand die G e f a h r des Absinkens zur „ D i e n s t m a g d " d e r anderen mit sich bringt. Dieses hätte dann ein Residuum von R a n d p r o b l e m e n zu untersuchen, d e r e n Erforschung den Vertretern d e r zuständigen Sachdisziplin nicht l o h n e n d genug erscheint. Die immer feingleingliedrigere Aufspaltung im wissenschaftlichen B e t r i e b k o m m t dieser T e n d e n z sehr entgegen. Es ist im k o n k r e t e n Anwendungsfall dann jedoch schwierig, die speziellen Fragestellungen der Agrargeographie, Industriegeographie, Handelsgeographie, F r e m d e n verkehrsgeographie und all ihrer Verästelungen wieder z u s a m m e n z u f ü h r e n , weil zu viele Lücken im Beobachtungsmaterial, h e t e r o g e n e theoretische Interpretationen und nicht eingeordnete, aber scheinbar wichtige Teilaussagen auftreten. V e r n ü n f t i g e r ist es, einen brauchbaren V e r b u n d der Fragestellungen von vornherein b e i s a m m e n zu lassen. Dies läßt sich einerseits durch wirtschaftsgeographische S t r u k t u r k o m p l e x e erreichen, wie sie in den späteren Kapiteln dieses Buches b e h a n -

2

Einleitung

delt werden, andererseits durch die Unterscheidung mehrerer Ebenen der fachlichen Betätigung, für die jeweils andere Zielvorstellungen gelten. Wir können dabei fünf Ebenen anführen, auf denen Wirtschaftsgeographie betrieben werden kann. a) Bei der Anwendung in Entscheidungssituationen im Alltag zählt nur, was der t Entscheidungsträger im Kopf hat. Dazu gehören neben seiner im Laufe des Lebens erworbenen Umweltkenntnis auch Vorstellungen, die ihm direkt oder indirekt die " geographische Wissenschaft vermittelt hat. b) Die angewandt-praktische Ebene der Wirtschaftsgeographie ist die vornehmliche " Quelle solcher Vorstellungen. Sie umfaßt Ausarbeitung als Text oder Karte für Information und Unterricht, ferner Projektstudien und Gutachten zur Entscheidungsvorbereitung. Diese Aufgaben sind komplex und müssen benutzergerecht gelöst werden. Dazu reicht eine wissenschaftliche Spezialdisziplin allein nicht aus. Vielmehr müssen Erkenntnisse und Begriffsapparat anderer Disziplinen eingebracht, und alle zusammen im Gesamtpprodukt dem jeweiligen Verwendungszweck untergeordnet werden. Solche Problemlösungen gleichen den Aufgaben der Techniker und Mediziner. In der Geographie wird man sich dieser Eigenständig,, keit der Anwendungspraxis erst langsam bewußt. c) Die angewandt-wissenschaftliche Ebene dagegen umfaßt Studien, die den Begriffs" apparat der Wirtschaftsgeographie verwenden, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen nur nach kritischer Prüfung übernehmen und gelegentlich auch in ihrer Darstellung eine Lücke lassen können, wo Forschungsergebnisse noch nicht verfügbarsind. Ein unmittelbarer Anwendungszweck ist nicht gegeben. Solche Arbeiten dienen der Information eines fachlich interessierten Publikums über den erreichten Stand der Forschung und Methodik, sowie über die erzielten Ergebnisse. Derartige Studien beziehen sich entweder auf Wirtschaftstätigkeiten oder auf Wirtschaftsregionen. Die Fragestellung wird gewöhnlich fachspezifisch eingeengt. Die ,, Ergebnisse sind in Abhandlungen oder kleineren Aufsätzen niedergelegt. d) Die allgemeine Ebene oder allgemeine Wirtschaftsgeorgraphie muß die auf ange" wandt-wissenschaftlicher Ebene gewonnenen Erkenntnisse und Hypothesen in einen Begriffsapparat einbauen und auf deren Zusammenfügbarkeit achten. Lücken der Forschung deckt sie auf. Eine allgemeine Wirtschaftsgeographie wird g e w ö h n lich die Form eines Lehrbuchs haben und mit diesem Ziel das gesamte Fach umfassen wollen. Die allgemeine Wirtschaftsgeographie umschießt einen sachbezogenen, systematischen Zweig und daneben einen methodisch orientierten, regionalen Zweig, der allerdings noch wenig ausgebaut ist. Ersterer untersucht Strukturen und Prozesse der Wirtschaft unter geographischem Gesichtspunkt in umfassender Weise. Der zweite beschäftigt sich mit den Verfahren und Fragestellungen bei der Behandlung von Wirtschaftsregionen bzw. wirtschaftlichen Regionalsystemen. e) Auf der theoretischen Ebene endlich müssen die auf den Ebenen a) bis d) „ent" deckten" Hypothesen und Theorieansätze zunächst mit jenen der übrigen Geographie, sodann mit denen der benachbarten Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften und schießlich mit der Wissenschaftstheorie zusammengeführt werden. Aus dieser theoretischen Ebene kommen auch die grundsätzlichen Überlegungen zu „räumlichen" Problemstellungen, aus denen die Geographie ihre Begründung als Fach zieht und denen die Geographen nicht ausweichen dürfen. Normalerweise wird Forschungsarbeit auf den Ebenen b) und c) geleistet soweit sie sich der spezifisch geographischen Methode der Beobachtung im Gelände und der

Einleitung

3

Kartierung b e d i e n e n . Theoretische Forschung h a t andere Instrumente. E s bedarf jedoch eines steten Austauschs ü b e r alle fünf E b e n e n , wie er oben durch Wechselwirkungspfeile angedeutet wird. N u r so k ö n n e n sich Theorie und Praxis gegenseitig befruchten. Eine A u f s p a l t u n g in Teildisziplinen ist zunächst gar nicht erforderlich und sie resultiert wohl auch weitgehend aus den unvermeidlichen Restriktionen der Einzelforschung auf d e r angewandt-wissenschaftlichen E b e n e . Sie wird auf der praktischen E b e n e hinderlich und auf der allgemeinen und theoretischen E b e n e trivial. J e d e der fünf E b e n e n hat also ihre spezifischen Regeln, die im A u g e zu behalten sind. Die allgemeine E b e n e darf aber die spezifischen Stärken der vier a n d e r e n nicht unterdrücken, was in der Wissenschaft meist „vergessen" bedeutet. Dazu wird es notwendig die Vielfalt d e r Erkenntnisse durch G r u n d h y p o t h e s e n zu filtern. Solche G r u n d h y pothesen haben in der Wirtschaftsgeographie noch keine generelle A n e r k e n n u n g durch die G e m e i n s c h a f t der Forscher finden k ö n n e n . D e r Vergleich des vorliegenden Werks mit den Arbeiten von Obst (1961), Bosch (1966), Otremba (1969), Voppel (1970), Schätzt (1978-1993), Wagner (1994), Sedlacek (1988) und der Z u s a m m e n f a s sung geographischer Ansätze durch Uhlig (1970) wird dies dem Leser unschwer und in zahllosen Einzelaussagen verdeutlichen k ö n n e n . Deshalb seien nachstehend die vier wichtigsten G r u n d h y p o t h e s e n des Verfassers angeführt, an denen das gesamte Buch ausgerichtet ist: 1) D e r von d e r G e o s p h ä r e abgeleitete Raumbegriff ist nur sehr eingeschränkt f ü r die Wirtschaftsgeographie verwendbar. Deshalb ist nach anderen Raumbegriffen und einer T h e o r i e des R a u m e s ü b e r h a u p t zu fragen, die es besser erlaubt, das grundlegende Problem d e r Einheit von O r t und Zeit bei wirtschaftlichen Handlungen aufzugreifen. 2) Alle wirtschaftsgeographischen Erscheinungen sind Ergebnis und Auswirkung von I n n o v a t i o n e n , die ihrerseits wieder von nachfolgenden Innovationen und deren A u s b r e i t u n g abgelöst und zurückgedrängt w e r d e n . Die Innovations- und Diffusionstheorien haben daher eine Schlüsselrolle für die allgemeine Wirtschaftsgeographie. 3) Alle diese Erscheinungen stehen im F u n k t i o n s z u s a m m e n h a n g offener Systeme und nicht f ü r sich allein. Aus ihrer E i n b e t t u n g in Regionalsysteme lassen sich ihre geographischen Attribute wie G r ö ß e , F o r m , Lage und Umweltabhängigkeit erklären. D a eine Theorie der wirtschaftlichen Regionalsysteme noch weitgehend fehlt, muß auf die allgemeine Systcmtheoric zurückgegriffen werden. 4) Die derzeit umfassendste Art solcher Systemverflechtungen sind Volkswirtschaften bzw. Volkswirtschaftsregionen. Als Makrozustand prägen sie in ihrem internen Bereich die Eigenschaften und Evolutionsbedingungen aller ihrer Subsysteme. E b e n s o projizieren sie ihre internen Strukturmerkmale in die systemexterne U m w e l t hinaus, die inzwischen mit der gesamten Welt gleichzusetzen ist. Volkswirtschaftliche Modelle und Theorien wird die Wirtschaftsgeographie deshalb nicht e n t b e h r e n k ö n n e n . Viele davon lassen sich jedoch nur schwer auf die geographische Substanz übertragen und mit dynamischen Ansätzen der Systemtheorie verknüpfen. D a ß d a n e b e n so manche A n r e g u n g aus anderen Wissensgebieten g e k o m m e n ist, wird dem Leser mehrfach deutlich werden. Die Geowissenschaften einerseits und die Sozialwissenschaften im breiten Sinne dieses Ausdrucks auf der a n d e r e n Seite können H y p o t h e s e n beisteuern, welche die Wirtschaftsgeographie aus sich heraus nicht zu formulieren vermag. E s ist jedoch nicht A u f g a b e d e r allgemeinen Wirtschaftsgeogra-

4

Einleitung

phie sich mit solchen Theorien an sich zu befassen oder sie gar zu begründen zu versuchen. Es geht ausschließlich um die Frage, ob man sie mit Berechtigung auf geographische Fragestellung anwenden darf, und auf welche. Daher wurde hier auf Ableitungen solcher Ansätze generell verzichtet. Ebenso war es unmöglich, alle Einzelaspekte in voller Breite zu behandeln. Viele, vielleicht f ü r manchen kritischen Leser allzuviele, konnten nur in knappen Strichen skizziert werden und mußten im Interesse des Gesamtkonzepts zurückgedrängt werden.

Kapitel I Raumvorstellungen in der Geographie Wenn die Wirtschaftsgeographie gemäß unserer ersten Grundhypothese nach anderen Zugängen zum Begriff des Raumes suchen soll, so muß dies wohl sogleich diskutiert werden. Die Ausführungen dazu sind etwas breiter, denn es ist nicht so leicht einsichtig, d a ß der geographische Raum, den unsere Atlanten abbilden, nur eine von vielen Möglichkeiten abgibt, die irdische Umwelt geistig zu durchdringen (Hard 1966). Derartige Raumabstraktionen hat jüngst H. Klüter (1986) mit Bezug auf die Wirtschaftsgeographie breit dargelegt. Werten (1995) betrachtet von der Handlungswissenschaft ausgehend Raum als eine formal-klassifikatorische Ordnungskategorie, die sich auf „ausgedehnte" handlungsrelevante Dinge bezieht. Burnet (1992) stellt in einer anregenden Studie ganz darauf ab, daß Raum vom Menschen „produziert" wird. Leider sind solche Ansätze noch sehr schwer für praktische Aufgaben fruchtbar zu machen. Daß schon immer eine latente Unzufriedenheit mit den gängigen Raumvorstellungen bestand, zeigen die anregenden Gedanken von F. Perroux (1964, 124, 128). Die Wirtschaftstheorie entwickelt ihre Modelle auf der Basis des euklidischen Raumes, der vielfach zum isotropen, d . h . in jeder Richtung gleichartig ausgestatteten, zweidimensionalen Raum vereinfacht wird, wie bei Thünen, Christaller und Lösch. Eine weitere Abstraktion führt zur Reduktion der Probleme auf die Faktoren Distanz und Abstand in eindimensionalen Anordnungen wie bei Hotelling. Geographen werden mit solchen Vereinfachungen nicht restlos glücklich, zumal sie in strenger Form oft gar nicht erforderlich wären. Aus der Vielzahl der Raumabstraktionen, die Klüter für die Geographie vorführt, mögen für unsere Zwecke drei genügen.

1.1 Der geosphärische Raum Diese Raumvorstellung der Geographen wird vom Erdkörper abgeleitet und ist historisch gesehen sehr jung. Ihre Wurzeln gründen sich auf die Bemühungen von Seefahrern und Karawanenhändlern, ihre Routen für weite Reisen verläßlicher und berechenbarer zu machen. Insbesondere galt es das Ziel überhaupt zu finden und die Reisedauer konkret abzuschätzen. Die Vorstellungen von der Lage eines Ortes und seinen Distanzen zu allen anderen konnten mit Hilfe der Gestirne kodiert werden. In Verbindung mit der Idee von der Kugelgestalt der Erde entstand daraus das Instrument des Gradnetzes, welches jedem Punkt der Erdoberfläche eine absolute, wiederauffindbare Lage zuschreibt. Damit war zur Orientierung das geschaffen, was Wirth (1979, 87) ein abstraktes Beziehungsgefüge von Distanzen und Richtungen nennt. Diese Vorstellung modifiziert den euklidischen Raum durch die Krümmung von zwei Dimensionen zur Kugeloberfläche, auf welcher die dritte Dimension senkrecht steht und vom Erdmittelpunkt ausgeht. Das neue Erdmodell wurde gerne als Globus vorgestellt. Martin Behaim mußte 1492 seinen „Erdapfel" zwar noch mit allerlei kognitivem Zierrat füllen, die Entdekkungsfahrten sorgten aber schnell für wahres Detail. Bereits 1569 leitete Gerhard Mercator aus dem Globusmodell die erste mathematisch einwandfreie Kartendarstellung der gesamten Erde ab. Mit ihrer Hilfe konnten die noch unbekannten Küsten die Kontinente und die Inseln systematisch erkundet und dokumentiert werden.

6

Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie

1.1.1 Die Entdeckung der Geosphäre Der Blick zu den Sternen ging den Geographen jedoch verloren als nach dem Abschluß der Entdeckungsfahrten im 18. Jahrhundert eine genauere Befassung mit der Natur der Erde einsetzte. Bekannt sind z. B. die Studien über Klimazonen, Höhenstufen und Meeresströmungen geworden, die damals Alexander v. Humboldt angestellt hatte und woraus eine geographische Gesetzhaftigkeit der Anordnung dieser Phänomene erkennbar wurde. Etwa zur gleichen Zeit versuchte Carl Ritter (1822f) seine neue, an der Natur der Erde orientierte Auffassung der Geographie in eine wissenschaftliche Beschreibung umzusetzen, um das Fach von der Bindung an die politischen Territorien zu befreien. Während des 19. Jahrhundrts gelang es nicht nur, das Innere der Kontinente zu erkunden, sondern auch, sich Klarheit über Relief, Landschaften, Wasserhaushalte, Klima, Böden, nutzbare Mineralien, Vegetation, Tierwelt und „eingeborene" Menschengruppen zu verschaffen und deren Verbreitung teilweise zu erklären. Seit damals gilt die Erdoberfläche oder Erdhülle, unter der Bezeichnung Geosphäre als das Forschungsobjekt der Geographie. Erkenntnisse über ihre dingliche Erfüllung sollten in die wissenschaftlichen Beschreibungen angewandter Art möglichst vollständig aufgenommen werden. Für diesen Zweck benutzte man gerne das „länderkundliche Schema", dem um die Jahrhundertwende Alfred Hettner eine für die folgenden 50 Jahre verpflichtende Form gegeben hatte. Das große Rätsel der Verteilung von Land und Meer auf der Erde wurde jedoch erst um 1960 durch die Theorie der Plattentektonik plausibel erklärbar. Bald darauf erlaubten die bemannten Raumflüge es endlich, auch bildhaft und emotional verständlich zu machen, was die Geographen denn unter der Bezeichnung Geosphäre als ihr Objekt sehen wollten. Die jüngste Auffassung hat dieses Konzept zu der Vorstellung der Geosphäre als eines gewaltigen, erdumspannenden, selbstregulierenden Systems erweitert (Lovelock u. Margulis 1974). Dieses bildete sich vor 1,5 Milliarden Jahren aus, als sauerstoffproduzierendes pflanzliches Leben den Haushalt der Geosphäre umkrempelte und die Basis für die Evolution aller atmenden Lebewesen hervorbrachte. Nach den heutigen Kenntnissen über die Evolution von Planeten im Sonnensystem war die Ausbildung dieses GAIA-Systems jedoch nur eine von mehreren Alternativen gewesen (Jantsch 1982, 172). Dies sollte als Warnung an die Menscheit dienen, G A I A nicht durch unbegrenzte Schadstofffreisetzung zu destabilisieren. Der naturwissenschaftliche geosphärische Raumbegriff ist also zweifellos eine äußerst erfolgreiche Konzeption. Es kann heute als erwiesen gelten, daß Geosphäre und G A I A tatsächlich real existierende Dinge sind und daß die vielen älteren, oft sehr phantasievollen Kosmologien und Auffassungen von der Erdgestalt überholt sind. Dennoch bleiben sie für die meisten Menschen noch ohne praktische Bedeutung. Andere Raumkonzeptionen helfen ihre bescheidenen Raumprobleme besser zu lösen. In jenen nämlich steht nicht die Natur, sondern der Mensch im Mittelpunkt. So groß daher der Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft dank des geosphärischen Raumkonzepts war, man kann nicht übersehen, daß seine Anwendung auf menschliche Probleme und überhaupt sein Vorherrschen in der Geographie, diese an vielen Fragestellungen gehindert hat. Es besteht daher guter Grund in der Wirtschaftsgeographie nicht allzusehr darauf zu vertrauen, wenngleich seine Kenntnis angesichts der Umweltbedrohungen natürlich erforderlich bleibt.

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Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie

1.1.2 Die Gliederung der Geosphäre Die G e o s p h ä r e bildet die A u ß e n s c h a l e d e s P l a n e t e n E r d e , b e s t e h e n d a u s A t m o s p h ä re, H y d r o s p h ä r e , aus welcher m a n die K r y o s p h ä r e o d e r Eishülle ausgliedern m ü ß t e , und L i t h o s p h ä r e als U n t e r l a g e . D e r M e n s c h wird in d i e s e m Modell e r s t d u r c h seine A k t i v i t ä t e n i n t e r e s s a n t , womit e r das K r ä f t e s p i e l i n n e r h a l b d e r G e o s p h ä r e ausgestaltet u n d v e r ä n d e r t (Carol 1963). E i n e k o n s e q u e n t e A n a l y s e erweist die G e o s p h ä r e als e i n e n in sich u n b e g r e n z t e wenngleich nicht u n e n d l i c h e Kugelschale. G e g e n d e n W e l t r a u m wie auch gegen das E r d i n n e r e läßt sie sich nicht scharf a b g r e n z e n . V o m Begriff h e r k o m m t d e r G e o s p h ä r e ein T o t a l c h a r a k t e r o d e r besser ein ganzheitlicher A s p e k t zu. Sie umschließt nämlich alles, was M e n s c h e n bislang zugänglich w a r , also auch alle T e r r i t o r i e n u n d k o m m u n i k a t i v e n R ä u m e . E r s t d e r A u s b r u c h ins Weltall k ö n n t e dies v e r ä n d e r n . Die G e o s p h ä r e hat auch keinerlei L ü c k e n und alle D i s t a n z e n sind objektiv m e ß b a r . Als B e r e c h n u n g s g r u n d l a g e v e r w e n d e t m a n h e u t e das E r d e l l i p s o i d von Hayford aus d e m J a h r e 1924 (Vgl. Ritler 1970, 36). S e i t h e r w u r d e n allerdings wesentlich g e n a u e r e S a t e l l i t e n m e s s u n g e n angestellt. E i n e G l i e d e r u n g d e r G e o s p h ä r e ergibt zunächst die vier E l e m e n t a r s p h ä r e n L u f t , W a s s e r , Eis u n d G e s t e i n . Diese V o l u m i n a s t o ß e n an vier g e o s p h ä r i s c h e n H a u p t g r e n zen ( 1 - V I ) in A b b . 1 - 1 ) a n e i n a n d e r . D i e s e H a u p t g r e n z e n t r e n n e n sechs E r d r ä u m e , die j e w e i l s Basis- o d e r O b e r f l ä c h e n dieser V o l u m i n a sind ( 1 - 6 ) .

KRYOSPHÄRE ATMOSPHÄRE

HYDROSPHÄRE

= Volumina

• — 1 | — i L L l bis [_Vj

„ , , , = Kanten IHauptgrenzenl

©

= Flächen [Erdräume)

bis

(7)

zwvww

Grenze licht/dunkel in der Hydrosphäre Unterqrenze biologischer Prozesse auf d e m

= - - -

L ( J n d

Ü s p h ä r f ^

G r e n 2 S C h i C h

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W. R i t t e r 1989

Abb. 1 - 1

Schcmatischc Gliederung der Geosphäre

N i c h t alle sechs E r d r ä u m e sind d e m M e n s c h e n zugänglich und n u r E r d r a u m 3 k a n n u n b e s c h r ä n k t m e n s c h l i c h e r L e b e n s r a u m w e r d e n . E r wird d u r c h die H a u p t g r e n z e n I u n d II f o r m a l d e f i n i e r t . H a u p t g r e n z e I b e w i r k t auch die k o n v e n t i o n e l l e g e o g r a p h i sche G l i e d e r u n g d e r E r d e in K o n t i n e n t e u n d Inseln, O z e a n e u n d S e e n .

8

Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie

So weit, so gut. Die G e o g r a p h i e hat sich in d e r Tat sehr erfolgreich mit E r d r ä u m e n und H a u p t g r e n z e n befaßt, freilich ohne zu b e a c h t e n , daß diese nur vom Menschen h e r Sinn ergeben. Infolgedessen hat man auch den E r d r a u m 7 weitgehend vergessen. G e r a d e dieser aber erscheint aus menschlicher Sicht besonders wichtig, haust doch die Menschheit überwiegend in künstlichen H ö h l e n , deren Eingänge (Grenze V) in Gestalt von T ü r e n und Schwellen sehr große symbolische und praktische B e d e u t u n g h a b e n . Dies zeigt uns sogleich eine wichtige Einschränkung dieses geosphärischen R a u m a n s a t z e s auf. Gleichwohl kann die physische Geographie ( z . B . Geomorphologie) ihr O b j e k t problemlos mit d e r G e o s p h ä r e gleichsetzen. Wir wissen heute, daß der k o n k r e t e Verlauf der vier H a u p t g r e n z e n einerseits von plattentektonischen Vorgängen bestimmt wird, die Kontinentmassen, Gebirge, Meeresbecken und Tiefseegräben schaff e n , andererseits spielt die mittlere T e m p e r a t u r der G e o s p h ä r e eine entscheidende Rolle, denn sie bestimmt die Menge des jeweils in flüssiger Form vorhandenen Wassers. Durch T e m p e r a t u r ä n d e r u n g e n steigt oder sinkt der Meeresspiegel, dringen die Gletscher vor oder gehen zurück und ändern sich im gleichen R h y t h m u s die H a u p t grenzen I bis IV. Z u m letzten Mal erfolgte dies in größerem U m f a n g vor etwa 12000 bis 8000 J a h r e n am E n d e der letzten Eiszeit. Vergleichbares befürchtet m a n gegenwärtig von einer Verstärkung des Treibhauseffekts. Vorgänge der Aufschüttung und Abtragung ziselieren das Erdrelief in kleinerem R a h m e n . Diese Kräfte sind weitgehend klimatisch gesteuert. Ihre Wirkungsweise wird jedoch durch das Hinzutreten des Lebendigen o d e r Biosphäre (Böden, Pflanzen, Tier, Menschen) modifiziert. Die Biosphäre erfüllt die Hydrosphäre und die unteren Schichten d e r A t m o s p h ä r e . Sie kann jedoch nicht die gesamte Grenzschicht von A t m o s p h ä r e und Lithosphäre einnehmen und nur mit einfachsten L e b e n s f o r m e n tiefer in die Lithosphäre eindringen. Noch etwas enger, nämlich durch seine Subsistenzmöglichkeiten, wird der Lebensraum des Menschen umschrieben. V o m E r d r a u m 3, der ca. 130 Millionen Q u a d r a t k i l o m e t e r u m f a ß t , sind alle Wüsteneien abzuziehen. Solche treten in den Polargebieten, Hochgebirgen, T r o c k e n z o n e n und vereinzelt auch entlang d e r Küsten auf. Infolgedessen lassen sich menschliche L e b e n s r ä u m e innerhalb E r d r a u m 3 durch Polar-, H ö h e n - und Trockengrenzen genauer umschreiben. Im Gegensatz zu den Hauptgrenzen sind jedoch derartige Abgrenzungen nicht absolut trennscharf (vgl. A b b . I-2a), sondern Übergangssäume. Allerdings sind sie dauerhaft und nicht in größerem U m f a n g willentlich v e r ä n d e r b a r . Die physische Geographie k o n n t e mit Hilfe solcher Grenzen und weiterer Unterteilungen ihr großes O b j e k t je nach Bedarf als Systemganzes sehen o d e r in handliche, kleinere Einheiten zerlegen, in Kontinente, E r d r ä u m e , Naturlandschaften, Flußgebiete usw. bis hin zu den kleinsten, durch Naturprozesse einheitlich geprägten Ausschnitten d e r G e o s p h ä r e . Die Kulturgeographie hatte aber gerade mit solchen Gliederungen immer ihre liebe N o t . Vergeblich versuchte m a n , in den 200 J a h r e n seit Carl Ritter f ü r den Bereich d e r menschlichen Aktivitäten ähnlich verbindliche Gliederungen zu finden. A b e r Politik, Wirtschaft, R e c h t , Religion und Gesellschaft wollen sich weder an physisch vorgegebene G r e n z e n und Gliederungen halten, noch bringen sie selbst allgemeingültige Gliederungsprinzipien hervor. Sogar Staatsgrenzen, Türen und Schwellen sind willkürliche, jederzeit a u f h e b b a r e Setzungen. Gleiches gilt für Stadtränder, die der Vorstellung von geosphärischen Hauptgrenzen noch am nächsten k o m m e n , o d e r f ü r W a l d r ä n d e r . Das Ergebnis aller Forschungsbemühungen ist, d a ß die Träger von -

K a p i t e l I:

R a u m v o r s t e l l u n g e n in der

Geographie

a)

b)

Ein Ausschnitt, gegliedert nach dem

Derselbe Ausschnitt, gegliedert nach

geosphärischen Raumkonzept

dem territorialen Raumkonzept

Hauptgrenzen J

Grenzsäume von Landschaften

(3)a-e

Landschaften

Abb.

1-2

—CO—

Staatsgrenze

A.B

Staaten A und B

Provinzgrenzen

Raumglicdcrungen nach d e m geosphärischen und d e m territorialen

Konzept

Macht, Recht und Einfluß ihre Auffassung von G r e n z e n und Gliederungen u n a b h ä n gig von den Erkenntnissen der G e o g r a p h e n in die Welt einbringen und durchsetzen.

1.1.3 Die Wirtschaft als Teilinhalt bei der Analyse der Geosphäre Bei d e r Bewertung unterschiedlicher R a u m k o n z e p t e bleibt der Geosphärenbegriff f ü r die Wirtschaftsgeographie wichtig, da ihm auch der größte Teil der wissenschaftlichen L i t e r a t u r entspricht und ihm das D e n k e n d e r meisten G e o g r a p h e n eng verbunden bleibt. Dieser Ansatz stellt die Nutzung der naturgegebenen Umwelt durch den wirtschaftenden Menschen in den Vordergrund (Fels 1954). Bezugsgrundlage sind auf d e r angewandt-wissenschaftlichen E b e n e die von der physischen Geographie erarbeiteten E r d r ä u m e und Z o n e n . Lange Zeit versuchte m a n , die Wirtschaftstätigkeiten und ihre Variationen als A u s f l u ß der oder als A n t w o r t auf die festgestellten Naturbedingungen zu e r k l ä r e n . Dies w a r in einer f r ü h e r noch vornehmlich agrarbestimmten Kulturwelt naheliegend und als Weg von der N a t u r zur Kultur auch räumlich plausibel. D e r wirtschaftende Mensch versuchte, sich den Naturgegebenheiten optimal anzupassen und d a h e r würde die N a t u r zur „ U r s a c h e " f ü r das Erscheinungsbild d e r Kulturlandschaft. D a b e i wurde mancherlei übersehen. Wirtschaftliche Tätigkeiten konstituieren kein erdräumliches K o n t i n u u m , wie dies N a t u r f a k t o r e n tun, sondern lassen Lücken. Sie setzen oft ü b e r h a u p t nur an wenigen Punkten innerhalb der G e o s p h ä r e an, an allen a n d e r e n mit grundlegend gleicher Naturausstattung aber nicht. Sehr häufig überwinden Wirtschaftstätigkeiten die naturräumlichen G r e n z e n und kombinieren die Ressourcen weit voneinander entfernter Erdstellen in unerwarteter Weise. Naturbedin-

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K a p i t e l I: Raumvorstellungen in der G e o g r a p h i e

gungen können also nicht kausal limitierend sein, weil die Reichweite der Tätigkeiten und der eingesetzte Stand von Wissenschaft und Technik alle hemmenden Faktoren relativiert. Die Wissenschaft ist daher heute weitgehend von solchen naturbezogenen Positionen abgerückt. Das noch weitergehende Postulat, menschliche Wirtschafts- und Kulturformen als direkte Anpassungen an ihren Lebensraum zu erläutern (Naturdeterminismus), ist schlechterdings eine Irrlehre. Menschliche Gesellschaften sind vielmehr durch das genaue Gegenteil bestimmt. Sie entfernen sich von den Begrenzungen durch Naturfaktoren soweit es ihnen irgend möglich ist. Dabei nehmen sie auch in Kauf, ihre natürliche Umwelt zu zerstören. Dennoch ist der geosphärische Ansatz für die Wirtschaftsgeographie weiterhin brauchbar, wenn man sich entschließt die physisch-geographisch definierten Areale als Eignungsräume für Tätigkeiten zu verstehen, wobei gewisse Ressourcen im Hinblick auf ihre komparativen Kostenvorteile gewertet werden ( O t r e m b a 1969, 66; Wagner 1994, 32). Diese Eignungsräume sind dann Verbreitungsareale von Ressourcenkombinationen, in denen man bestimmte Dinge besser, gleich gut oder schlechter tun kann als anderswo, bzw. mit der verfügbaren Technik noch nicht tun könnte. Wir haben heute gelernt, solche Eignungsräume unter Umständen als Gebiete zu verstehen, in denen man bestimmte Dinge aus ökologischen Gründen gar nicht mehr tun darf, weil keine Nachhaltigkeit gewährleistet ist ( W a g n e r 1994, 29). Dieser „Umweltgedanke" schlägt die wichtige Brücke zur Geosphäre als dem GAIA-System, denn dieses sichert zwar langfristig das Leben auf der Erde, schützt uns aber nicht vor unangenehmen Überraschungen ( R i c h t e r 1993, 328). Nachhaltigkeit versus Raubbau sind die Entscheidungsalternativen in der Relation des Menschen zu seiner irdischen Umwelt. Wie wir noch sehen werden, ist die Umwelt in allen anderen Raumkonzepten schlechter verankert als hier, weshalb die Wirtschaftsgeographie auch nicht auf den geosphärischen Raumbegriff ganz verzichten darf. Unter den Gliederungen der Geosphäre kommt jener in Klimazonen der größte Erklärungswert für die Wirtschaftsgeographie zu. Klimafaktoren, Witterung und Wasserhaushalt beeinflussen viele Aspekte der Agrarproduktion, der Erholung, des Siedlungswesens und anderer Tätigkeiten. Indirekt wirken solche Momente in die gesamte übrige Wirtschaft hinein. So müßte ein Ausfall der Weizenernte in Kanada sicherlich den Dollar abstürzen lassen und viele Geldanlagen entwerten. Klimatische Widrigkeiten wie Kälte, Hitze, Wassermangel sind zwar in gewissem Umfang technisch überwindbar, aber nur um den Preis hoher Investitionen und Betriebskosten. Daher bilden Zonen mit verläßlich ertragreicher Landwirtschaft, das sind im wesentlichen die kühlgemäßigten Klimate, auch Vorzugsräume für die Entstehung von höherem Wohlstand bis hin zum Entstehen von Industrien ( R u p p e r t 1987). Hier treten komparative Vorteile günstig kombiniert auf, von denen später noch zu sprechen sein wird. Auf praktische Anwendungen bezogen, läßt sich die Eignungsproblematik zur Standortfrage im physisch-geographischen Raum einengen. W o innerhalb der zugänglichen Umwelt wäre der Standort einer Einrichtung zu wählen, wenn man die günstigste Rcssourcenkombination oder die niedrigsten naturbedingten Kosten und Risiken sucht? Dies spielt bei Großprojekten wie Häfen, Kraftwerken, Verkehrstrassen u. ä. eine wichtige Rolle, seltener bei Industrieprojekten. Wirtschaftsgeographie nach dem geosphärischen Raumkonzept kann sich der Beschreibung konkreter Naturregionen aber auch recht willkürlicher Ausschnitte der

Kapitel I: Raumvorstellungcn in der G e o g r a p h i e

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Geosphäre zuwenden. Jeder Ausschnitt ist ja Teil eines Gesamtsystems und Wirkungsfeld aller Naturkräfte. Diese sind von Ort zu Ort die nämlichen, allenfalls unterschiedlich ausgeprägt. Daher konnte das „Länderkundliche Schema" nach Hettner (1927; 1932) als Beschreibungsmuster auch in der Wirtschaftsgeographie breite Anwendung finden. Die Wirtschaft eines Raumes wird darin allerdings nur als ein Geofaktor unter vielen anderen betrachtet, dem oft nur kurze Darlegungen gewidmet waren. Ihre eigentliche Aufgabe sahen Geographen eher in der exakten Erforschung der Natureinflüsse. In besonderem Maße verleitete diese Methodik jedoch dazu, Untersuchungen an den selbstgewählten Abgrenzungen enden zu lassen und Fernwirkungen zu übergehen. Im Grunde aber ist jedes wirtschaftliche Regionalsystem auf der Erde mit jedem anderen verknüpft, da sie ja über die in ihnen agierenden Menschen einander wahrnehmen können. Die tatsächlichen Verflechtungen über geschäftliche Transaktionen mögen dabei noch so locker sein. Pohl (1986, 87f) hat diesen Gedanken unter Berufung auf Leibnizens Monadentheorie wieder in Erinnerung gebracht. Jede Einzelaktivität betrifft letztlich die gesamte Welt. Und diese darf man nicht mit der Geosphäre gleichsetzen, denn in solche Beziehungen gehen seit jeher, und nicht nur als bloßer Aberglaube, Sonne, Mond, Gestirne und Kosmos ein. An der Schwelle der wirtschaftlichen Nutzung des interplanetaren Raumes ist das Weltbild der klassischen Geographie viel zu eng geworden.

1.2

Das territoriale Raumkonzept

Die zweite Raumvorstellung mit der wir uns im Alltag auseinandersetzen ist die Auffassung von Raum als einem Stück Land mit festen Grenzen. Dieses Landstück gehört jemandem als Eigentum oder es untersteht einer Behörde als Zuständigkeitsbereich. Die Reihe solcher Landstücke geht von den Grundstücken über Kommunen, Kreise, Provinzen und andere Gebietskörperschaften bis zum souveränen Staat und zur UN-Organisation. Der jeweilige Träger der Verfügungsgewalt darf über die Verwendung dieses Landstücks insgesamt und über alles was innerhalb von dessen Grenzen vorhanden ist, entscheiden. In der Praxis sind derartige Rechte auf den unteren Stufen vielfältig zugunsten des Staates eingeschränkt, der aber dafür wieder durch seine Rechtsordnung die Eigentümer absichert. Territorien sind eine alte menschliche Errungenschaft, die sich allerdings schwerlich auf ein biologisch verankertes menschliches Revierverhalten zurückführen lassen, wie man ein solches von vielen höheren Lebewesen kennt. Dieses ist beim Menschen eher auf soziale Schauplätze bezogen, wie Dürrenberger (1989, 22) darlegt. Territoriales Besitzdenken scheint erst mit der Einführung des Ackerbaus auf den Boden ausgedehnt worden zu sein, den man sich ja zunächst durch Arbeit zu eigen gemacht hatte. Die vielfältigen Abhängigkeiten der Landwirtschaft von den Launen der Natur brachten die Vorstellung von Schutzgöttern ins Spiel, die innerhalb eines Bannbezirks die dort lebenden Menschen belohnen oder strafen konnten. Der Götter als der wahren Eigner des Landes und all dessen was darauf, darüber oder darunter ist konnten sich Könige und Priester zur Legitimation ihres abgeleiteten Hoheitsanspruchs über das Land bedienen, woraus erst allmählich private Besitzansprüche entstanden. Territorien sind daher mit einem Totalitätsanspruch verbunden, wie er geosphärischen Räumen und erst recht den unten behandelten kommunikativen Räumen völlig fehlt. Sie brauchen scharfe Grenzen, um Konflikte verhindern und regeln zu können

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Kapitel 1: R a u m v o r s t e l l u n g e n in der G e o g r a p h i e

(Bökemann 1982, 63). Als Rechtsfigur decken sie die Fläche innerhalb ihrer G r e n z e n lückenlos a b . Es gibt keine O r t e und Ressourcen innerhalb eines Staatsgebiets, die nicht d e r Staatsgewalt unterstünden. Solche Territorien n e h m e n heute den größten Teil der Erdoberfläche ein. Ihre G r e n z e n sind rein willkürlich, aber auch v e r ä n d e r b a r . Derartiges ist jedoch ein n e u e r Z u s t a n d . „ S t a a t e n " , die sich als Personenverband verstanden, brauchten nämlich keine festen G r e n z e n . So wurde es erst in den Sechzigerjahren unseres J a h r h u n d e r t s nötig, in Arabien Staatsgrenzen zu ziehen, weil diese als Referenzlinien f ü r die Erdölsuche wichtig w u r d e n . G e n a u genommen sind solche territoriale Auffassungen erst auf der Basis des römischen Rechts von den E u r o p ä e r n weltweit durchgesetzt worden.

1.2.1 Territorien in der Geographie Für alle angewandten F o r m e n d e r Geographie sind die Territorien recht praktisch. Sie sind einwandfrei definiert, lassen sich einfach zu zweidimensionalen Flächen abstrahieren u n d somit gut auf Plänen und Karten abbilden. Die Darstellungsweise einer politisch-administrativen Karte kann so einfach sein, d a ß sie j e d e r m a n n auch ohne Hilfe einer L e g e n d e versteht. Daten aller A r t lassen sich auf den Gebietsraster einer solchen Karte mit genügender Genauigkeit umlegen, indem man die administrativen Einheiten als kleinste Orte benützt. Dies ist von großem Vorteil, wenn solche Daten ohnehin schon von den Statistikern im selben Bezugsrahmen e r h o b e n w u r d e n . Sie lassen sich auch leicht zu größeren Einheiten aggregieren oder auf kleinere Teileinheiten disaggregieren. Viele Zweige d e r G e o g r a p h i e bedienen sich territorialer Bezugseinheiten vorwiegend oder für bestimmte wissenschaftliche Z w e c k e und auf d e r angewandten E b e n e wählt man Staaten g e r n e als Bezugsrahmen f ü r Darstellungen aller A r t . W o Territorien und ihr Inhalt an Erscheinungen selbst zum Darstellungszweck w e r d e n , sprechen wir mit Schwind (1972) von Staatengeographie. Wir können dabei eine „ältere" und eine „ j ü n g e r e " Richtung auseinanderhalten. Beispiele f ü r die ältere Staatengeographie sind etwa F. Büschings „Neue E r d b e schreibung" (ca. 1754f) o d e r A. v. Humboldts b e r ü h m t e s W e r k über Neuspanien von 1809, wobei Humboldt freilich schon durch naturwissenschaftliche Fragestellungen im ersten Buch über die reine Staatengeographie hinausweist. A u s dieser Tradition d e r Beschreibung von Staatsgebieten und ihres Inhalts leiten sich die zahllosen H a n d b ü cher, Atlanten und aktuellen Nachschlagewerke her, die der allgemeinen Information d i e n e n . Ein Ableger sind die Reiseführer, die d a n e b e n allerdings auch eine kognitive Wurzel haben. In den A u g e n des breiten Publikums wird Geographie ü b e r h a u p t mit der älteren F o r m der Staatengeographie gleichgesetzt, so daß Publikationen vom Typus des S t a t e s m a n ' s Y e a r b o o k oder des Fischer Weltalmanach jährliche Millionenauflagen erleben. Die jüngere Staatengeographie befaßt sich mit d e m gestaltenden Einfluß des Staates auf sein T e r r i t o r i u m . Dieser ergibt sich durch die Verwirklichung staatspolitischer Ziele, die häufig erst allmählich durch die A n w e n d u n g der R e c h t s o r d n u n g realisierbar sind. D a b e i können Kulturlandschaften so eigentümlicher und unverwechselbarer Prägung e n t s t e h e n , d a ß man sie bereits auf Satellitenbildern e r k e n n t . Martin Schwind hat in seiner allgemeinen Staatengeographie (1972) versucht, diesen gestalterischen E i n f l u ß zu fassen. A n g e w a n d t e Formen der jüngeren Staatengeographie sind R a u m o r d n u n g und Regionalplanung auf allen administrativen Zuständigkeitsebenen (Ritter 1976 a ) . Bökemanns T h e o r i e der Raumplanung (1982) ist auf diesem Konzept aufgebaut.

Kapitel I: Raumvorstcllungen in der G e o g r a p h i e

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Wie nützlich immer Territorien für Wissenschaft und Verwaltung sein mögen, es fehlt ihnen doch die Flexibilität und ständige veränderbare Kombinationsmöglichkeit der Schauplätze menschlichen Handelns. An starren Grenzen und Zuständigkeiten spießt sich die Verwirklichung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Territorien werden daher oft von den Menschen, die an sie gebunden sind, als Korsett und Kerker und nicht als Lebensraum für ihre Entfaltung angesehen.

1.2.2 Die Wirtschaft als Inhalt von Hoheitsgebieten Die Rechtsordnung der Staaten greift bis auf die Ebene des individuellen Besitzes durch. Auf diese Weise entstehen durch politische Macht sanktionierte Ausschnitte der Geosphäre in Gestalt von Grundstücken, Verwaltungsgebieten und Staaten. Solche Ausschnitte haben neben natürlichen und kulturbedingten auch wirtschaftliche „Inhalte", die in angewandt-wissenschaftlicher Weise systematisch abgehandelt werden können (Schwind 1972, 246 f). Viele Geographen finden es ganz natürlich ein Staatsterritorium wie einen Naturraum zu behandeln, d. h. eine Beschreibung nach dem Hettnerschen Schema zu bringen, wobei man die Ausführungen an den Staatsgrenzen enden läßt. Man muß sich aber aus wirtschaftsgeographischer Sicht Rechenschaft geben, daß diese Vorgangsweise ganz entscheidende Nachteile hat. Zwar kommt den Staaten der Charakter gesellschaftlicher Kraftfelder zu, die es vermögen, die weniger wichtigen wirtschaftlichen Aktivitäten zu konzentrieren und am Ausbrechen aus ihrem Hoheitsgebiet zu hindern. Der Staat vermag es aber nur um den Preis sehr großer Schwierigkeiten, die Wanderungen mobiler Ressourcen zu unterbinden und die Bevölkerung dazu zu zwingen, sich mit einer unvollständigen Bedarfsdeckung abzufinden, wie sie die Beschränkung auf eigene Ressourcen nahelegen mag. Bedenkt man z . B . , daß Australien und Neuseeland als Teile einer britischen Volkswirtschaft erschlossen worden waren und dies auch bis zum EG-Beitritt Großbritanniens blieben, so versteht man leicht, wie wenig ein Staatsgebiet für sich allein bestehen, einen sinnvollen Rahmen für eine wirtschaftsgeographische Darstellung abgeben kann. Deshalb ist es nötig, auch hier die Argumentation umzukehren und solche Territorien ebenfalls als wirtschaftliche Eignungsräume zu verstehen. Ihre Grenzen umschließen meßbare Mengen und Qualitäten von Ressourcen und eröffnen Möglichkeiten für bestimmte Tätigkeiten. Komparative Vorteile werden wirksam, wenn man die Grenzen ausreichend dicht halten kann. Innerhalb der Grenzen werden in ökonomischen Modellen die Ressourcen als ubiquitär oder völlig mobil angenommen, wie in der neo-klassischen Außenhandelstheorie nach Heckscher u. Ohlin (vgl. dazu Grotewold 1979). Und ähnlich wie bei den Naturräumen läßt sich auch hier bei detaillierter Analyse die Eignungsfrage zum Standortproblem im Ressourcenfeld verdichten. Die staatliche Macht bezieht sich grundsätzlich auf alles, was in einem Territorium enthalten ist. Dies erlaubt es im Verbund mit der statistischen Erhebung der Wirtschaftstätigkeiten solche Sachverhalte auf politische Territorien und ihre Untergliederungen umzulegen. Mit diesem Raster von Beobachtungs- und Meßpunkten kann man dann buchstäblich „Kraut und R ü b e n " geographisch vergleichen. Gemeinsam ist ihnen j a die Eigenschaft, Inhalt bzw. Attribut eines Territoriums zu sein. Mit Hilfe einer solchen Transformationsmatrix können auch nicht-kontinuierliche Sachverhalte, etwa Bevölkerungsverteilung oder Wertschöpfung wie die physisch-geographischen Kontinua dargestellt werden. Eine Karte der Bevölkerungsdichte oder der Industrieverbreitung braucht dann nicht anders auszusehen wie eine Temperaturoder Niederschlagskarte und wird auch in gleicher Weise erstellt. Überhaupt sind

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Kapitel I: Raumvorstellungen in d e r G e o g r a p h i e

Landkarten und Wirtschaftskarten oft im territorialen Raumkonzept angesiedelt und daher von problematischem wissenschaftlichen Wert. Dieser methodische Kniff bringt allerdings so viele informationstechnische Vorteile, daß er generell angewandt wird, wo es darum geht, Einzelaussagen zu aggregieren. Mit der breiten Anwendung dieser Verfahren steht die Wirtschaftsgeographie der Nationalökonomie sehr nahe und ist mit dieser in der Kameralistik wie auch im Marxismus weithin verschmolzen. Eine bekannte Frucht aus dieser Ehe sind die „Disparitäten". Man versteht darunter die unterschiedliche Merkmalsausprägung in administrativen Teilgebieten eines Staates. Unter Wohlfahrtsgesichtspunkten sollten solche Disparitäten möglichst klein gehalten oder überhaupt abgebaut werden, um allen Menschen im Staatsgebiet wennschon nicht die gleichen Lebensbedingungen so doch gleiche Lebenschancen zu bieten. Die Ursachen der wirtschaftlichen Disparitäten liegen jedoch meist in den Entscheidungen auf betrieblicher oder Unternehmensebene. In der aggregierten statistischen Form sind Daten dazu zwar leicht zu vergleichen, einen Zugang zu den Gründen kann man aber so nicht gewinnen. Dies zeigt sehr deutlich, wie die Benutzung dieser Raumabstraktion vornehmlich zu quantitativen Aussagen führt, die zwar exakt aber doch zugleich unanschaulich sind.

1.3 Kommunikative Räume Versetzen wir uns gedanklich auf die in der Einleitung erwähnte Alltagsebene. Hier wäre als geographisches Problem der Besuch bei einem Freund zu lösen. Diese erklärt mir, wie sein Haus zu finden ist, und führt aus: „Du fährst auf der X X - S t r a ß e hinaus in Richtung Y Y . Nach einiger Zeit siehst du auf einem Berg eine Burg. Danach überquerst du eine B r ü c k c . Hinter der Brükke nimmst du die zweite Abzweigung nach links, biegst bei der nächsten Kreuzung nach rechts ab. D a s zweite Haus links ist dann meines" Das Einfachste ist es nun für mich, mir diese Angaben zu merken. Ich könnte mir aber auch eine Skizze ( K a r t e ) anfertigen, um den Weg zu meinem Freund nach seinen Anweisungen zu finden. Natürlich ist daneben die Benützung einer Straßenkarte für dieses geographische Problem denkbar, aber die wenigsten Menschen können Landkarten lesen oder mit Himmelsrichtungen etwas anfangen, so daß die einfache mündliche Information für sie weitaus nützlicher bleibt. Im konkreten Fall wird der Raum zwischen Ausgangspunkt und Ziel auf Burg, B r ü c k e , Abzweigung, Kreuzung, Haus und auf Richtung, rechts, links abstrahiert. Diese Elemente werden in entsprechender Weise zu einer Handlungsanweisung verknüpft. Alles was sonst zu beiden Seiten der Route zu sehen ist, interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Die Handlungsanweisung ist eindimensional ausgelegt. Seit j e h e r haben sich die Menschen in dieser Weise mit ihrer Umwelt auseinandergesetzt und einen durch O b j e k t e , Zeitfolge und Richtungen mitteilbaren Handlungsraum für sich und ihre Angehörigen geschaffen. Wie sehr derartige R ä u m e ein Produkt menschlicher Kommunikation sind, verdeutlicht am besten ihre Ausstattung mit Gebiets-, Siedlungs- und Ortsnamen in großer Zahl. Solche Namen hatten wohl ursprünglich die symbolische Bedeutung der benannten O b j e k t e im Auge. Sie werden jedoch als Code weit länger beibehalten als dieser Sinnbezug verständlich ist. Manche Ortsnamen in Deutschland stammen aus der Altsteinzeit.

Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie

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Kommunikative Räume sind nicht Raum im geometrischen Sinne. Sie haben realiter mehr als drei Dimensionen, bilden aber andererseits weder Körper noch Flächen. Sie sind auch keine Ausschnitte der Geosphäre. Vielmehr bestehen sie aus Erdstellen, die Schauplätze für Handlungsabfolgen sind und als solche Bedeutung für Individuen und Gruppen haben. Distanzen sind nicht metrisch meßbar, sondern an den Schauplätzen selbst durch soziale Interaktionsabstände bestimmt ( H a l l 1979; Dürrenberger 1989, 93) und zwischen den verschiedenen Schauplätzen durch Aktionsreichweiten. Sie werden durch Verrichtungswege verknüpft, die vom jeweiligen Handlungsablauf her bedingt sind. Schauplätze und Verrichtungswege haben keine gegebene Dauerhaftigkeit und keine ein für allemal gegebene Lage, denn die Handlungsabläufe sind sehr veränderlich. Ebensowenig haben die Schauplätze Grenzen oder erfüllen die Umwelt lückenlos. Sie bilden nur ein lockeres Gefüge, welches mit zunehmender Entfernung vom Mittelpunkt der Lebensinteressen einer Menschengruppe immer mehr Leerstellen enthält, über die man nicht mit anderen zu sprechen braucht und die man nicht aufsucht. Dies ist als ob sie gar nicht existierten. Kommunikative Räume sind also Gefüge von Erdstellen über welche Menschen miteinander sprechen können, und dies wird niemals mehr sein als die Gesprächspartner jeweils im Kopf haben. Wissenschaftlich hat man sich erst seit kurzer Zeit mit diesem Problem beschäftigt und spricht von kognitiven Karten (mental maps) als den Abbildern solcher Räume und von kognitivem Kartieren als der Basis für alle konkreten Entscheidungen im Alltag (dazu Wirth 1979, 285; Downs u. Slea 1982). Wir wissen auch, daß politische Entscheidungen und die Standortwahl von Unternehmen eher auf der Basis von kognitiven Karten gefällt werden als auf Grund wissenschaftlicher Problemanalysen. Besonders große Bedeutung haben kognitive Karten und kommunikative Räume in Film, Fernsehen, Schauspiel, Literatur, Werbung und Touristik, mitsamt den entsprechenden Darstellungsformen und ihren, die Geographen oft ärgernden, Verzerrungen. Produkte einer kommunikativen Geographie sind die so zahlreich angebotenen Bildbände über fremde Länder. Auch die alten Landkarten, welche man sich heute gerne in die Wohnung hängt, hatten diese Funktion. Städte sind darauf ausgedrückt durch kleine Abbilder ihrer markanten Bauwerke, Gebirge sind als tatsächliche Berge gezeichnet. Dies hat keineswegs als Grund, daß man in der frühen Neuzeit nicht genügend hätte abstrahieren können, sondern weil solche Abbilder der kommunikativen Aufgabe der Geographie besser dienen. In diesem Raumkonzept stellt sich nämlich die Welt als ein Gefüge von Merkobjekten dar, über die man reden will, und die stellvertretend für mögliche Schauplätze stehen.

1.3.1 Der kommunikative Charakter des Wirtschaftsraums Mit der Errichtung von Staaten schafft der Mensch geographisch faßbare Gebilde, die von der Natur nicht vorgesehen sind und deren Formen daher nicht von der Natur her erklärt werden können. Ähnliches gilt für die Strukturen der Wirtschaft. Soweit Wirtschaften über einen simplen Austausch mit der Natur hinausgeht, schließt es einen vernunftgesteuerten Austausch mit anderen Einheiten ein. Wird also die autarke Bedürfnisbefriedigung aufgegeben, so müssen sich räumliche Verknüpfungen bilden, die von der Natur her nicht direkt erklärbar sind, weil in dieser der Rückstrom der Entgelte fehlt ( A b b . III-2). In derselben Weise schafft die Wirtschaft auch Beziehungsmuster, die vom politischen System her nicht vorgesehen sind, ja dessen Zielen geradezu entgegengesetzt sein können. Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser Austauschbeziehungen ist darin zu erkennen, daß sie gegenüber der natürlichen und der gesellschaftlich-politisch definierten

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Kapitel I: Raumvorstcllungen in der Geographie

U m w e l t sehr selektiv sind. Nicht was die N a t u r o d e r das T e r r i t o r i u m bieten k ö n n e n wird zum möglichen A u s t a u s c h o b j e k t , s o n d e r n i n t e r n e P a r a m e t e r d e r H a u s h a l t e u n d B e t r i e b e b e s t i m m e n , w e s w e g e n , mit w e m u n d w o h i n W i r t s c h a f t s b e z i e hungen unterhalten werden. D a r a u s ergibt sich ein R a u m v e r s t ä n d n i s , in w e l c h e m m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t e W i r t s c h a f t s e i n h e i t e n i n e i n a n d e r gegenseitig als A k t e u r e an b e s t i m m t e n S t a n d o r t e n w a h r n e h m e n . A l l e s a n d e r e a b e r wird wenig bis gar nicht registriert. Diese S t a n d o r te b e s t e h e n a u s S c h a u p l ä t z e n u n d bilden regionale G e f ü g e , die stets k o m m u n i k a t i ve R ä u m e sind. W ä h r e n d N a t u r k r ä f t e universell auf die G e s a m t h e i t d e r O b j e k t e i n n e r h a l b e i n e s A u s s c h n i t t s d e r G e o s p h ä r e einwirken u n d politische M a c h t e i n e im Prinzip universelle H o h e i t ü b e r d e n Inhalt eines T e r r i t o r i u m s postuliert, liegen d e r wirtschaftlic h e n Praxis V o r s t e l l u n g e n z u g r u n d e , die a n d e r s a r t i g e r ä u m l i c h e G e b i l d e h e r v o r b r i n g e n . A b b . 1-3 v e r s u c h t dies zu v e r d e u t l i c h e n . W i r t s c h a f t s r ä u m e bzw. W i r t s c h a f t s r e g i o n e n sind l o c k e r e G e f ü g e von S t a n d o r t e n , die s o g a r in d e n dichtest besiedelten L ä n d e r n d e r E r d e n i e m a l s einen Ausschnitt d e r G e o s p h ä r e lückenlos ausf ü l l e n . Selbst in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d entfallen n u r r u n d 1 2 % d e r S t a a t s f l ä c h e auf solche S t a n d o r t e und die sie v e r b i n d e n d e n W e g e , 3 7 % w e r d e n n u r so extensiv in A n s p r u c h g e n o m m e n , d a ß d a r a u f weniger als 0 , 5 % d e s B r u t t o s o z i a l p r o d u k t s e r w i r t s c h a f t e t w e r d e n k a n n . Solche A r e a l e wie W ä l d e r , W a t t e n , Hochgebirge, N a t u r s c h u t z g e b i e t e und T r u p p e n ü b u n g s p l ä t z e sind Teile d e s Staatsgebiets a b e r n u r s e h r b e d i n g t auch als Teile d e s W i r t s c h a f t s g e b i e t s anzuseh e n . E s ist d a h e r g e n a u g e n o m m e n unsinnig, dessen „ G r ö ß e " in Q u a d r a t k i l o m e t e r n a n g e b e n zu wollen. Richtige M e ß g r ö ß e n w ä r e n die Z a h l d e r S t a n d o r t e o d e r d i e Z a h l der W i r t s c h a f t s e i n h e i t e n . a)

b)

Ein kommunikatives Raumsystem

Die Koexistenz zweier Systeme im gleichen Raum

Standorte: O

Raumsystem A



Raumsystem B

Umhüllungsgrenze "Region" B

9

Kongruenter Ort

Interaktionen

L.

Umhüllungsgrenze "Region" A

Abb. 1-3 Kommunikative Raumsysteme A u c h g e h ö r e n niemals alle im Staatsgebiet a n z u t r e f f e n d e n M e n s c h e n zu d e m e v e n t u e l l darin a u s g e b i l d e t e n wirtschaftlichen R e g i o n a l s y s t e m . A u t a r k e E i n h e i t e n ( S e l b s t v e r s o r g e r ) w ü r d e n ex definitione nicht d a z u g e h ö r e n . Bei A u s s t e i g e r n , A n -

Kapitel I: Raumvorstellungen in der G e o g r a p h i e

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staltsinsassen und versorgten Personen besteht nur eine Einbindung als Konsument ohne Entscheidungsfreiheit über Kaufkraftressourcen. Wirtschaftsbeziehungen bringen also keine flächendeckenden und auch keine jemals fest abgrenzbaren Regionen hervor, sondern immer nur lockere Mosaike miteinander verknüpfter Standort oder Erdstellen. Dieses läßt sich geographisch nur zu einem Graphen, bestehend aus Knoten und Kanten abstrahieren. Zwischen den Knoten und Kanten liegen aus der Sicht des jeweilig betrachteten Regionalsystems zahlreiche Leerstellen. Der Wirtschaftsraum ist kein Kontinuum und auch kein Potentialfcld, dessen Kräfte an jedem beliebigen Punkt meßbar und wirksam wären, sondern ein ständiger Wechsel zwischen hohen Werten und Null. Vielleicht sollte man ihn mit der Krone eines Baumes vergleichen. Diese erscheint einem fernen Beobachter wie ein Körper. Sie stellt sich auch in dieser Weise dem Wind entgegen. Die V ö g e l jedoch erleben die Baumkrone als durchlässiges Gebilde, das zu 99% aus Luft und nur zu einem Prozent aus Blättern und Zweigen besteht. Solche Gebilde, die keiner ganzzahligen Dimension zugeordnet werden können, untersucht ein Z w e i g der Mathematik unter der Bezeichnung „Fraktale". Wirtschaftliche Beziehungsgefüge, wofür wir auch Wirtschaftsräume oder Wirtschaftsregionen sagen dürfen, sind eher Fraktale und sollten nicht zu Flächen oder Körpern abstrahiert werden. Freilich ist ihre Selbstähnlichkeit nicht so deutlich wie jene der bekannten Mandelbrotmengen. Daher ist im Wirtschaftsraum möglich, was bei Körpern und Flächen nicht vorkommen darf und was die Politik mit allen Mitteln zu verhindern sucht, daß nämlich mehrere „ D i n g e " sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden. Wirtschaftsregionen mögen als großartige Beziehungssysteme die halbe Welt umspannen. D i e Leerstellen und Nischen in ihrem Gefüge erlauben es jedoch, daß sich dazwischen, überund untereinander und hineinverschachtelt im gleichen geosphärischen Raumausschnitt auch andere Regionalsysteme ausgebilden können, was A b b . I-3b für zwei Systeme verdeutlichen soll. Diese Systeme ko-existieren im gleichen Ausschnitt, jedes ist für sich allein betrachtet ein sinnvolles Ganzes. Untersucht man jedoch einen Ausschnitt der Geosphäre, einen Naturraum oder ein Territorium auf seinen Inhalt an wirtschaftlichen Erscheinungen mit dem klassischen geographischen Instrument der Kartierung, dann ist das Ergebnis oft genug ein wüstes und unverständliches Sammelsurium von Fakten, das umso zufälliger gemixt erscheint, je kleiner der untersuchte Ausschnitt war. Der Schritt zur Detailerfassung in kleinen Untersuchungsräumen also, der in anderen Raumkonzepten der Geographie eine M e t h o d e zur Gewinnung von exaktem Beobachtungsmaterial wäre, kann in der Wirtschaftsgeographie eher Verwirrung bringen. Es genügt eben nicht Einzeltatsachen einem Ort zuzuordnen, ihre Funktionalzusammenhänge aber zu vernachlässigen. Hermann Lautensach (1953, 11, 17) bemühte sich, dieses vielen Bereichen der Kulturgeographie eigentümliche Problem dadurch zu erfassen, daß er den gebietlichen Erscheinungswirrwar einfach als „geographische Substanz" zum Forschungsgegenstand der Kulturgeographie erhob (dazu auch Carol, 1956, 129f). D i e Hoffnung daraus, verständliche Bausteine von Kultur- und Wirtschaftsstrukturen isolieren und deren geographische Bedingtheit erfassen zu können, hat wohl nicht sehr weit getragen, weshalb auch diese Konzepte wieder in Vergessenheit gerieten. Häufig behindern nämlich Geographen ihre Arbeit selbst, wenn sie ungeeignete Raumkonzepte und darauf bezogene Datenklassifizierungen unbedacht verwenden. D e r oben skizzierte W e g zu einem brauchbaren Raumkonzept für die Wirtschaftsgeographie erlaubt einen einfachen Brückenschlag zu der Theorie offener Systeme,

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Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie

sei es nach der naturwissenschaftlichen oder der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie, weil hier nicht mehr Inhalte von Raumausschnitten analysiert werden müssen, die oftmals nur wenig mit den untersuchten Zusammenhängen zu tun haben, sondern nur E l e m e n t e mit tatsächlich gegebenen Beziehungen. Freilich ist es dann aber nötig, so grundlegende Begriffe wie Ort und Region neu zu definieren.

1.4 Die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung Kommunikative R ä u m e bestehen aus Schauplätzen von Handlungen. Schauplätze von häufig und wiederholt vorgenommenen Handlungen werden als Standorte mit entsprechenden Einrichtungen ausgestattet. Fassen wir aber Standorte als Schauplätze wirtschaftlicher Aktivitäten auf, so drängt sich sogleich das wohlbekannte dramaturgische Prinzip der „Einheit von Ort, Zeit und Handlung", in den Vordergrund. Seine Bedeutung für die Wirtschaftsgeographie ist sehr groß. Ein jeglicher Handlungsablauf läßt sich ja am günstigsten Zug um Zug an einem Ort abwickeln. E s werden dann Leerlauf, Wartezeiten, Störungsrisiken und Mißverständnisse weitgehend ausgeschaltet. Ist eine Einheit von Ort und Zeit nicht herstellbar, so müssen in den vorgesehenen Ablauf Hilfshandlungen eingeschoben werden. D e r Bruch der Einheit des Ortes bedeutet s o , daß Gütertransporte oder Fahrten von Personen organisiert werden müssen. Dieses sind in sich selbständige Handlungsabläufe. Sie unterbrechen das eigentlich vorgesehene Aktivitätsmuster. Wird die Einheit der Zeit gebrochen, so entstehen Wartezeiten oder es müssen Läger gebildet werden, die man für die Zeit der Unterbrechung zu sichern hat. Nur eine gewährleistete Einheit von Ort und Zeit ermöglicht zügige Handlungsabläufe. Das Verhältnis dieser drei Komponenten ist eines wechselseitiger Bedingtheit. Aus der Sicht der Wirtschaftspraxis ist wohl zunächst die Einheit der Zeit entscheidender. Sie wird grundsätzlich und regelhaft durch den Tag-Nacht Rhythmus in Frage gestellt. Die Länge des Tages bedeutet eine Beschränkung möglicher Aktivitäten. D i e Unterbrechung bewirkt in jedem Falle, daß am nächsten Tage nicht sogleich an der Stelle, wo aufgehört wurde, mit voller Intensität weitergemacht werden kann. Die sinnvolle Maßeinheit für die Zeit ist also der Arbeitstag. Was heute nicht mehr erledigt werden kann, wird morgen mehr Zeit und Mühe erfordern. Beschleunigende Techniken der Kommunikation und des Reisens konnten viele der früheren Limitierungen abschwächen, sie aber nicht gänzlich beseitigen. D i e Einheit des Ortes muß ihre maximale Ausdehnung finden, wo man sich an einen Schauplatz nicht mehr begeben kann, ohne die normalen, alltäglichen Aufgaben zu verschieben. Ein auf sich allein gestellter Mensch wird vielleicht zwei bis vier untertags verlorene Stunden am Abend noch einbringen können. Dies beschränkt seine Aktionsreichweite auch mit dem schnellsten A u t o auf maximal etwa 300 km. Normale Reichweiten sind sehr viel enger. Die extremste Einengung finden wir bei Haushalten mit Kleinkindern. Hier erfordert bereits ein kurzfristiger Ausgang der Aufsichtsperson als Hilfshandlung sorgfältige Sicherheitsvorkehrungen, damit den Kindern nichts zustößt. Das alltägliche Versorgungsgeschehen in Haushalten ist durch Reichweiten von 1 5 - 2 0 Gehminuten zu umschreiben. Bei größeren Distanzen werden Fahrten mit öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln erforderlich. Arbeitspendler nehmen zwar tägliche Reisezeiten von zwei Stunden und mehr in Kauf, und Arbeitsmärkte können tatsächlich in solchen Distanzen noch als Einheit des Ortes interpretiert werden. Nur wenige Pendler über solche Distanzen würden aber behaupten, daß

Kapitel I: Raumvorstellungen in der Geographie

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zwischen ihrem Wohnsitz und ihrem Arbeitsplatz eine Einheit des Ortes bestünde. Ansätze zur Betrachtung solcher Probleme bringt Wirth (1979, 157, 2 1 0 ) . Trotz aller moderner Techniken sind viele wirtschaftliche Tätigkeiten nach wie vor auf sehr eng benachbarte Schauplätze angewiesen. J e d e räumliche Ausweitung erfordert eine komplexere Organisation. Viele Formen der innerbetrieblichen Arbeitsteilung sind entstanden, um solchen Beschränkungen wenigstens teilweise zu entkommen. Automatisch ist damit eine Vergrößerung der Wirtschaftseinheiten verknüpft, denn der kleine Betrieb und Haushalt ist allein wegen seiner Kleinheit häufig in einem engen Aktionsraum gefangen. Wir haben allen Grund, diesen Aspekt des Wirtschaftsraums, der wohl sein fundamentalster ist, stets im Auge zu behalten. Wiederum handelt es sich um ein Problem, das in der Natur in dieser Form geringe Bedeutung hat. Wohl deshalb haben es die Geographen bisher gerne vernachlässigt oder wie Hägerstrand bei seiner Time-geography nur einseitig gesehen.

1.5 Orte, Ortsraster und Regionen Im kommunikativen Raumkonzezpt, von dem hier ausgegangen wird, wurden bisher Schauplätze, Standorte und Orte unterschieden. In den anderen Raumkonzepten müßten für die gleichen Begriffe z . T . andere Definitionen verwendet werden. Der geosphärische Raum ist z . B . unbeschränkt teilbar und kleinste Orte nur schwer zu präzisieren. Im territorialen Konzept dagegen sind Grundstücke wohldefinierte kleinste Einheiten, die in sich homogen gedacht werden. Standorte sind daher nach Bökemann (1982) stets Grundstücke. Sic lassen sich mit entsprechenden rechtlichen Methoden zu größeren Grundstücken konsolidieren oder zu kleineren aufteilen. Schauplätze im kommunikativen Raum sind durch soziale Interaktionsdistanzen zwischen Menschen oder durch technische Zweckmäßigkeit bestimmt. Sie können daher nur schwer verkleinert oder vergrößert werden. Standorte können Bündelungen von vielen Schauplätzen sein. E s wäre jedoch absurd, ein Betriebsgelände mit Hilfe eines Quadratrasters von Prüffeldern analysieren zu wollen. Unsere „Ort e " lassen sich zwar als Aggregate von Standorten verstehen, können aber umgekehrt nicht schematisch in solche aufgeteilt werden. J e d e r Schauplatz ist eingebettet in ein Gefüge von anderen, die zum gleichen Handlungszusammenhang gehören. E r wird nur mit dessen Kenntnis erklärbar und verständlich. J e d e r Standort gehört zu dem für diese Tätigkeit als Ergänzung nötigen Netz der Standorte der jeweiligen Wirtschaftspartner. Seine Brauchbarkeit wird von der Lage in diesem Netz bestimmt. Otremba (1969, 38) hatte solches im Auge, wenn er mit Schmithüsen sagt, der Standort wäre „ . . . über die topographische Bestimmung hinaus als die Gesamtheit aller an einem Punkt wirksamen, ökonomisch gestaltenden Kräfte aufzufassen". Neben dem Zugang zu den Inputressourcen aus anderen Standorten schließt dieser Begriff auch die von dort ausgehenden Störeffekte ein. Die mehreren Standorte involvierenden Transaktionen laufen innerhalb eines Standortnetzes ab, das wir als Knoten in einem Graphen abstrahieren dürfen. Dies führt uns schnell zur Erkenntnis der Bedeutung der relativen Position eines Knoten, zu den anderen im gleichen Netz, also zur geographischen Lage.

20

Kapitel I: Raumvorstellungen in d e r Geographie

Auf einen einzelnen Schauplatz, Standort oder Ort bezogene Aussagen wollen wir topographisch also ortsbezogen nennen. Aussagen über die Gesamtheit der Standorte in einem Handlungsverbund oder Netz sind regionsbezogen oder chorographisch. Sie betreffen stets eine größere Anzahl von Ortseinheiten. Allerdings sind bei der Anwendung des wirtschaftsgeographisch richtigen Standortbegriffs nach Otremba und den mit seiner Hilfe gebildeten Regionen die Ressourcen der jeweiligen Standorte und damit die wirksamen ökonomischen Kräfte nur schwer meßbar. Für diesen Zweck wären die nach anderen Raumkonzepten gebildeten Orte mitunter bequemer. Wie lassen sich aber punktförmige Standorte zu flächenhaften Orten transformieren? Der von der Wirtschaftspraxis meist benützte Weg ist die einfache Zuordnung von Standorten zu administrativen Gebietseinheiten. Wir sprechen dann vom Standort „Nürnberg" und meinen „im Verwaltungsgebiet der Stadt Nürnberg gelegen". Analog wird von den Standorten Bayern, Deutschland und Europa gesprochen. Freilich ist dies sehr unpräzise und daher auch nur für Politik und Medieninformation geeignet. Ein methodisch sauberer Weg ist die Bildung von Dirichlet- oder Thiessen-Polygonen (vgl. Haggett, (1983, 587). Abb. 1-4 zeigt ein einfaches Anwendungsbeispiel. Dirichlet-Polygone werden durch Kantenzüge in gleichem Abstand zu jeweils benachbarten Standorten begrenzt. Für ihre Konstruktion gibt es neben dem von Haggett geschilderten Verfahren auch die Methode in gleichem Abstand Kreise um die Standorte zu ziehen und deren Schnittpunkte zu verbinden (Abb. X-5). Wesentlich ungenauer ist die Benutzung schematischer Quadratraster. Mit Hilfe solcher Transformationen lassen sich Ressourcen quantifizieren, wenn auch mit einigen sachlichen Ungenauigkeiten. Die Abb. I - 5 a - c dienen dazu den Regionsbegriff zu verdeutlichen. Wir gehen dazu von Schauplätzen, Standorten oder Orten aus, die Träger bestimmter Eigenschaften sein sollen. Abbildung I-5a zeigt eine Gruppe von einander benachbarten Orten unterschiedlicher Größe, die aber alle das Merkmal (x) als wesentliche Eigenschaft aufweisen. Wir können sie mit einer Hüllkurve umgeben und als eine homogene Region bezeichnen. Abb. I-5c zeigt solche Orte aber mit unterschiedlichen Merkmalen, die durch Beziehungen miteinander verknüpft sind. Wir können uns diese als einen Austausch der Güter (x) und (y) denken, der auf bestimmten Pfaden verläuft. Hier handelt es sich um eine funktionale Region, die ein Austauschsystem darstellt. Die Hüllkurve ist hier zugleich hypothetische Systemgrenze. Da es für homogene Regionen recht umständlich wäre, für jeden Ort die gleiche Aussage zu seinen Merkmalen zu wiederholen, faßt man diese gerne zu aggregierten Aussagen zusammen. Damit wird durch Verallgemeinerung, Addition, Mittelwertbildung u. a. die Aussage so zusammengefaßt, daß sie die gesamte Region wie einen Ort behandelt (Abb. I-5b). Wir können hier von topographischem Aussagemodus sprechen, dem der chorographische Aussagemodus von Abb. I-5a gegenüberzustellen ist. Diese Transformationstechnik wird in der Geographie breit angewandt. Funktionalregionen lassen sich jedoch nicht in dieser Weise umwandeln. In diesem Sinne werden Regionen definierbar als Mengen von Orten bzw. Standorten, die durch gesetzte Bedingungen oder Merkmale begrenzt sind. Diese können sich auf nur ein Merkmal beschränken oder viele bis alle denkbaren einbeziehen. Räume wären dann unbestimmte Mengen von Orten, bei denen begrenzende Bedin-

Kapitel I: Raumvorstellungen in der G e o g r a p h i e

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Abb. 1-4 Die V e r w e n d u n g von Dirichlet-Polygonen zur Bildung eines Ortsrasters a u s p u n k t b e z o g e n e n M e ß d a t e n (1-105 = M e ß p u n k t e )

gungen nicht angegeben werden könnten. Für die Bildung h o m o g e n e r Regionen gibt es sehr ausgefeilte mathematische M e t h o d e n in der Faktoren- und Clusteranalyse. D e r Nachweis funktionaler Regionen ist stets von einer Erfassung von Beziehungen und Verflechtungen abhängig, w o f ü r öffentlich zugängliches Datenmaterial nur ausnahmsweise existiert.

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Kapitel I:

Raumvorstellungen in der Geographie

0) Eine homogene Region im chorographischen Aussagemodus

) /

n

/

/

i

Orte Merkmal Ixl Ä

m f l l P

r

ÜS® ! ^

/ -Oo( yl )

Hüllkurve der Region

b)

c)

Die gleiche Region im

Heterogene, funktionale Region,

topographischen Aussagemodus

gebildet durch Orte mit unterschiedlichen Merkmalen

Grenze der Raumeinheit mit Merkmal Ix)

Hüllkurve = hypothetische Systemgrenze

A b b . 1-5

E i n e Region in unterschiedlichen Aussageweisen

Kapitel II Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens G e o g r a p h e n neigen d a z u , die W i r t s c h a f t im S p a n n u n g s f e l d von N a t u r und Gesellschaft z u sehen u n d von e r s t e r e r a u s z u g e h e n (Lütgens 1949). Diesen A n s a t z legt d e r g e o s p h ä r i s c h e R a u m b e g r i f f n a h e , ist d o c h die W i r t s c h a f t e i n e j e n e r a n t h r o p o g e n e n K r ä f t e , d u r c h welche L a n d s c h a f t e n u n d selbst d e r e n physikalisches S u b s t r a t v e r ä n d e r t w e r d e n . In diesem Sinne h a t t e Zwittkowits (1965, 149) sein System d e r wirts c h a f t s r ä u m l i c h e n Z u s a m m e n h ä n g e g e s e h e n , d a s später von Otremba (1969, 19) vere i n f a c h t ü b e r n o m m e n w u r d e . Ä h n l i c h e Sichtweisen, die von den natürlichen V o r a u s s e t z u n g e n a u s g e h e n , sind in vielen R i c h t u n g e n d e r N a t i o n a l ö k o n o m i e zu f i n d e n . I h r N a c h t e i l ist die Vernachlässigung d e r zweiseitigen E i n b i n d u n g wirtschaftlichen H a n delns in Bezugs- und A b s a t z v e r f l e c h t u n g e n , die mittels der E n t g e l t e z u s t a n d e k o m m t . Mit j e n e n freilich wollten G e o g r a p h e n sich nicht befassen, d a sie a u ß e r h a l b d e r mit ihren M e t h o d e n f a ß b a r e n r ä u m l i c h e n B e z ü g e liegen. Diese Einseitigkeit f ü h r t e jed o c h d a z u , d a ß m a n nicht die B e f r i e d i g u n g menschlicher B e d ü r f n i s s e als d e n Sinn u n d Z w c c k d e r W i r t s c h a f t e r k a n n t e , s o n d e r nur an die o p t i m a l e o d e r auch m a x i m a l e A u s n u t z u n g n a t ü r l i c h e r u n d gesellschaftlicher P r o d u k t i o n s p o t e n t i a l e d a c h t e , w a s d a n n in einigen a u t o r i t ä r e n S t a a t e n p r o m p t zu g r o t e s k e n Ü b e r s t e i g e r u n g e n g e f ü h r t wurde.

Abb. I I - l

Wirtschaftsgeographische Grundzusammenhänge

A u s d i e s e m D i l e m m a d e r G e o g r a p h i e k o m m t man mit Hilfe des R e s s o u r c e n b e griffs h e r a u s . D i e s e r e r l a u b t es, sowohl d i e eingesetzten G ü t e r u n d L e i s t u n g e n als auch d i e als E n t g e l t e h e r e i n s t r ö m e n d e n G e g e n w e r t e g e o g r a p h i s c h zu i n t e r p r e t i e r e n u n d als Mittel d e r W i r t s c h a f t zur E r r e i c h u n g i h r e r Ziele a n z u e r k e n n e n . A b b . I I - l soll diese R e l a t i o n in zunächst s c h e m a t i s c h e r F o r m v e r d e u t l i c h e n . W i r t s c h a f t e n b e d e u t e t in e i n f a c h s t e r D e f i n i t i o n , v e r f ü g b a r e Mittel z u r E r r e i c h u n g b e s t i m m t e r Zwischen- u n d E n d z i e l e n a c h O p t i m i e r u n g s g e s i c h t s p u n k t e n e i n z u s e t z e n . D a b e i w e r d e n wirtschaftliche F u n k t i o n s z u s a m m e n h ä n g e a n e i n e m o d e r zwischen

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Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

mehreren Orten konstituiert. Steuerungsgrößen sind menschliche Bedürfnisse, die als Nachfrage oder Bedarf manifestiert werden und ein Angebot hervorlocken. Ressourcen aus dem natürlichen wie auch aus dem gesellschaftlich-kulturellen Milieu werde zur Deckung herangezogen. Umgekehrt bestimmen aber die wirtschaftlichen Funktionszusammenhänge, was jeweils als Ressource angesehen werden kann. Die Funktionalbeziehungen bewirken daneben zwischen den Orten und den Vorkommen der Ressourcen Distanzrelationen. Diesen Umstand können wir als relative geographische Lage der Ressourcenvorkommen und Standorte bezeichnen. Nur an den im Rahmen der Funktionalbeziehungen möglichen Orten kann eine Nutzung in Frage kommen. An anderen mögen sie zwar vorhanden sein, sind aber hier wertlos. Geographische Lage ist keine Ressource für sich. Sie spielt aber in alle Funktionalzusammenhänge hinein, sei es über die Einheit des Ortes, sei es als Zugänglichkeit von einem oder vielen Standorten aus. Sie erweist sich als ein Umstand der untrennbar mit dem Ressourcenbegriff verbunden ist. Wenn Spencer & Thomas (1975, 238) Ressourcen als Dinge oder Umstände definieren, die einen wirtschaftlichen Wert haben, wenn man zumindest weiß, wer etwas damit anfangen kann, so reicht dies nicht ganz aus. Ressourcen müssen darüber hinaus in der Griffweite des wirtschaftenden Menschen liegen oder dorthin gebracht werden können.

II.l

Die Klassifizierung der Ressourcen

Ressourcen sind also einerseits Eingangsgrößen von Prozessen, die auf Bedürfnisbefriedigung abzielen (Paterson 1972, 1), andererseits auch deren Ergebnisse, die wieder zu Eingangsgrößen anschließender Prozesse werden können. In dieser Kette bilden weder die Urproduktion noch der endliche Konsum die Endglieder, da auf der Welt nichts umsonst zu haben ist. Aus geographischer Sicht sind Ressourcen in die Geosphäre eingebettet oder wirken in sie hinein. Die Wirtschaftsgeographie sieht sie präziser als Attribute von Orten und Regionen. Die Klassifizierung der Ressourcen sollte daher diese Zuordnung nicht aus dem Auge lassen.

II.1.1

Die „sogenannten" natürlichen Ressourcen

Man versteht darunter Dinge, welche die Natur in verwertbarer Form ohne tun des Menschen an bestimmten Örtlichkeiten bereitgestellt hat. Manche selten anzutreffen, andere sind generelle Eigenschaften der Geosphäre bzw. zelner Erdräume. Naturkräfte, wie z. B. der Wind und natürliche Speicher, ein Erdöllager, stellen zwei Seiten dieser Phänomene dar.

Zusind einetwa

Naturkräfte sind mit dem laufenden Energiehaushalt des Gaia-Systems gekoppelt. Sie können als „erneuerbare" Ressourcen bezeichnet werden. Ihre Nutzung z. B. die eines Flusses durch ein Wasserkraftwerk erbringt quasi ein laufendes Einkommen. Bei der Nutzung eines Waldes in pfleglicher Form gleicht der Ertrag der Verzinsung eines Kapitals. Viele natürliche Speicher sind dagegen in ihrer Entstehung an geosphärische Prozesse gebunden, die aus menschlicher Sicht viel zu langsam ablaufen, als daß man sie mit der Vorsicht eines Rentenbeziehers nutzen könnte. Sie sind deshalb

Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

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„aufbrauchbar" bzw. nicht-erneuerbar. Dies gilt für Erz- oder Erdöllager, die gleichwohl in sehr langen geologischen Zeiträumen stets neu gebildet würden. Manche Naturerscheinungen sind aus menschlicher Sicht dauerhafte Gegebenheiten der Geosphäre (Schwerkraft, Erdmagnetismus) oder einzelner ihrer Teile, wie gutes Klima, schöne Landschaft, Gesteinsaufbau, Niederschlagsmenge usw. Diese können vom Menschen noch nicht verändert werden. Die Ausnützung dauerhafter Gegebenheiten, die nur an wenigen Orten auftreten, kann ökonomische Seltenheitsrenten einbringen, d . h . daß höhere Entgelte gezahlt werden, als sonst üblich wären. Jeder Umstand der physischen Umwelt mag zur natürlichen Ressource werden. Eine ökonomische Bewertung ist aber nur dann möglich, wenn der Ort seines Auftretens für den Nutzer zugänglich gemacht werden kann. Erst diese Nebenbedingung macht Naturgegebenheiten zu potentiellen Ressourcen. Daher ist es vernünftiger, immer nur von „sogenannten" natürlichen Ressourcen zu sprechen. In unserer Abb. 1-1 sind die Erdräume 2 und 6 nur beschränkt zugänglich, der Erdraum 5 liegt samt allen Naturpotentialen noch völlig außerhalb des menschlichen Zugriffs. Das Gegenteil natürlicher Ressourcen sind Kosten verursachende Negativfaktoren, die wir als Hemmnisse, Nachteile und Risiken bezeichnen können. Sie treten in Gestalt von Distanzen, geographischen Barrieren, Klimarisiken, Erdbeben und vielen anderen Umständen auf.

II.1.2 Geschaffene Ressourcen Dies sind alle Dinge und Umstände, die von Menschen hervorgebracht wurden, wie Geld, Waren, Bauwerke, Arbeitsplätze, Grundstücke, Haustiere und Nutzpflanzen. Bei diesen lassen sich alle oben gemachten Anmerkungen analog aufführen bis auf eine: Die Inwertsetzung durch vorheriges Zugänglichmachen ihres Ortes stellt sich nur mehr in eingeschränkter Weise. Für die derzeit nutzende Menschengruppe ist sie ja bereits gegeben. Geschaffene Ressourcen sind in unterschiedlichem Maße erneuerbar, wofür man in der Wirtschaft „wiederbeschaffbar" sagen würde. Im Extremfall können sie auch aufbrauchbar oder nicht-wiederbeschaffbar sein. Auch hier gibt es dauerhafte Gegebenheiten in Gestalt des der Menschheit gemeinsamen Schatzes an Wissen. Freilich kann dieses veralten, und seine Dauerhaftigkeit bemißt sich nicht nach geologischen Zeiträumen. Gleichzeitig zeigt uns der Hinweis auf menschliches Wissen, daß geschaffene Ressourcen auch immateriell sein können, was ja gerade für von Mensch zu Mensch übertragbare und daher nicht mehr an bestimmte Personen gebundene Information gilt. Nicht alles, was vom Menschen an Kulturgütern geschaffen wurde, stellt Ressourcen dar. Vieles ist unnützer Trödelkram, der aus anderen gesellschaftlichen Motiven mitgeschleppt wird. Einiges ist sogar schädlich. Die Umgehung oder Beseitigung solcher Dinge verursacht der Wirtschaft Kosten und Risiken. Geschaffene Dinge haben in der Wirtschaft eine besondere Stellung. Als Inputs der Wirtschaftseinheiten müssen wir sie unter dem Ressourcengesichtspunkt betrachten. Als Ergebnis des Wirtschaftens sind sie Produkte, die zu Waren werden, die man auf dem Markt anbieten kann. Ebenso bilden sie das strukturelle Gerüst wirtschaftlicher Systeme, was häufig unter dem Begriff Infrastruktur zusammengefaßt wird. Sowohl Waren wie auch Infrastruktur können wieder als Ressourcen eingesetzt werden.

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Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

II.1.3 Menschliche Ressourcen Wir wollen hierunter alle an lebende Menschen gebundenen Umstände verstehen. Wesentliche Aspekte werden gerne unter dem Begriff Humankapital angesprochen, was jedoch nur einen Teilaspekt umgreift. Menschliche Ressourcen sind zunächst angeborene Eigenschaften wie Kraft, Intelligenz und Schönheit, die oft nur allzu einfach nutzbar sind. Zum anderen sind es erlernte Fähigkeiten und Kenntnisse und schließlich auch psychologische Einstellungen wie Ehrlichkeit und Leistungsbereitschaft. Auch hier können wir mit dem Gedanken von Dauerhaftigkeit und Erneuerbarkeit operieren. Dazu kommen ferner alle an lebende Menschen gebundenen Rechte wie Bürgerrecht, Erbansprüche, Autorenrechte, Besitz und persönliche Kaufkraft, welch letztere die wichtigste Ressource überhaupt vorstellt. Rechte können veräußerlich oder unveräußerlich sein. Veräußerlichte Ressourcen haben eine Übergangsrolle zu den geschaffenen Ressourcen. Um sie davon abzuheben, könnten wir sie als „erworben" bezeichnen. Menschliche Ressourcen haben stets eine Person als Träger. Aus geographischer Sicht werden sie daher Attribute des Wohnorts dieser Träger und dort primär wirksam. Da Menschen jedoch ihren Wohn- und Aufenthaltsort verändern können, sind Humanressourcen dann mit ihnen unterwegs. Die Ausstattung von Orten mit menschlichen Ressourcen ist daher außerordentlich rasch veränderlich. Dies gilt insbesondere für integriertes Wissen, das nicht ohne Mitwirkung seines Trägers anwendbar ist. In gewissem Sinne ist aber keine wirtschaftliche Tätigkeit ohne dieses Knowhow denkbar.

II.2 Mobilität und Inwertsetzung von Ressourcen II.2.1 Das Problem der Inwertsetzung Weil Ressourcen Attribute von Orten und Standorten sind, lassen sie sich auch jenen Gebieten zurechnen, in die politische Macht oder geographische Weltsicht die Erde aufteilten. Die unterschiedliche Sichtweise dieser beiden anderen Raumkonzepte kann mitunter zu Schwierigkeiten und Doppeldeutigkeiten führen. Der Fehler bleibt jedoch im angewandten Bereich gering, solange die Betrachtungseinheiten nicht weit über Orte und Standorte hinausgehen. So kann z. B. ein Acker als Grundstücksparzelle einen sehr niedrigen Ertrag hervorbringen, weil die Bodenqualität (= Inhalt, Ressource) schlecht ist. Entsprechend gering wird der kapitalisierte Wert sein, zu welchem er an einen anderen Landwirt verkauft werden könnte. Da aber von diesem Acker aus, als wirtschaftlicher Standort verstanden, die Ressourcen vieler anderer benachbarter Standorte zugänglich sein können, und diese vielleicht Kaufkraft „tragen", wird der Betreiber eines Verbrauchermarktes gerne das 20- und Mehrfache dafür bezahlen wollen. E r kann dies tun, weil er auf diesem Grundstück eine Inwertsetzung vornehmen will, indem er mit Hilfe anderer Ressourcen (Kapital, Warenangebot, Arbeitskraft, Know-how) einen Ressourcen-Mix schafft, der es ihm erlaubt die latenten Bedürfnisse der Umwohner zu decken und die Lagervorteile des Ackers auszunützen, wozu ein Landwirt nicht in der Lage wäre. Alles was er über den agrarischen Nutzwert hinaus zu zahlen bereit ist, wäre diesen anderen Faktoren zuzurechnen.

Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

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Selten ist eine Ressource für sich alleine bewertbar und dies gilt insbesondere für die sogenannten natürlichen Ressourcen. A u f Grund der ungeeigneten Raumkonzepte wird in Politik, Information und auch Wissenschaft, besonders aber im Schulunterricht, oft angenommen, alle anderen zur Inwertsetzung erforderlichen Ressourcen wären ebenfalls am gleichen Ort vorhanden. Also fände man bei einem Erzlager auch automatisch Kapital, Ingenieure, Arbeiter, Maschinen, Transportwege, Unterkünfte und Werkskantinen. Dies ist eine Illusion, weil man die Bindung der unterschiedlichen Ressourcen an Vorkommensorte übersieht. Vielfach muß man sie erst aus bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Bindungen herauslösen, um sie an anderen Orten einsetzen zu können. Da eine räumliche Kongruenz der zu einem wirtschaftlichen Prozeß erforderlichen Ressourcen in der Praxis nur selten gegeben ist, besteht eine wesentliche Anfangsaufgabe darin, einen brauchbaren Ressourcen-mix unter Einheit des Ortes herbeizuführen. Wir können für diese Tätigkeit auch Investition sagen. Um investieren und danach unser Erzlager nutzen zu können, müssen zu dessen Ort die zunächst noch fehlenden Ressourcen hingeschafft werden. Diese dürfen daher nicht permanent an die Orte ihres Vorkommens gebunden sein.

II.2.2 Mobile und lokalisierte Ressourcen, sowie Ubiquitäten Als mobile Ressourcen wollen wir alle jene betrachten, die ohne Wertverlust an andere Orte gebracht und dort in die örtlichen Ressourcenkombinationen eingebaut werden können. Ein solcher Transfer an einen anderen Ort kann sogar einen Wertzuwachs ergeben, wenn die dortige Eingliederungsmöglichkeit ergiebiger ist, als j e n e am Ursprungsort. Derartige Wertdifferenzen sind die Voraussetzungen des Handels. Mobile Ressourcen „wandern" in der Regel dorthin, wo für sie die am höchsten bewertete Eingliederungschance in den örtlichen Ressourcen-mix erwartet wird. Sie helfen dort mit, lukrative Produktionsprozesse aufzubauen. Umgekehrt kann die Ressourcenabwanderung bestehende Ressourccnkombinationen eines Ortes unterminieren. Behörden und Staaten, die sich j a als „Besitzer" der mobilen Ressourcen ihrer Territorien fühlen, versuchen oft diese am Abwandern zu hindern. Sie nehmen dabei in Kauf, daß diese Ressourcen nicht optimal eingesetzt werden können. Lokalisierte Ressourcen können entweder überhaupt nicht oder erst nach komplizierten Umwandlungsschritten und daher unter erheblichen Kosten bzw. Wertverlusten an andere Orte gebracht werden. Benötigt man also in einer spezifischen Kombination eine streng lokalisierte Ressource, so wird die entsprechende Tätigkeit an den Ort des Ressourcenvorkommens gezogen werden. Man wird dort investieren und die Einheit des Ortes zu bilden versuchen. Bei mehreren lokalisierten Ressourcen wird die relative Stärke der geographischen Bindung entscheiden, ein Problem, das analog in der Standortlehre von Alfred Weber wieder auftaucht. Politisch-administrative Grenzen sind häufig Barrieren für Ressourcenwanderungen, und wir müssen daher Mobilität und Lokalisierung auch im Maßstab der territorialen Gliederung sehen. So ist etwa Arbeitskraft über Binnengrenzen hinweg sehr mobil, jedoch im Rahmen der Staaten noch weitgehend als lokalisiert anzusehen. Ubiquitäten sind Ressourcen, die an jedem Ort eines regionalen Systems in ausreichender Menge und Qualität verfügbar sind. Während zu Beginn unseres Jahrhunderts Alfred Weber (1909, 51 f.) als er diesen Ausdruck prägte, dabei an Wasser, reine Luft und Baurohstoffe dachte, sind diese Dinge heute längst keine Ubiquitäten mehr.

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Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

Dafür sind neue Einrichtungen und Umstände ubiquitär geworden wie z. B. Stromversorgung, Straßenanschluß, Telephon, Fernsehen, Postämter, Schulen, Polizei, ärztliche Versorgung, Einzelhandel und auch Finanzämter. Wiederum können wir erkennen, daß sich die Feststellung „an jedem Ort verfügbar" mit den Raumkonzeptionen verschneidet. Was versteht die Wirtschaft darunter und was der Staat? Letzterer wird bestrebt sein, solche Monopoleinrichtungen und Versorgungsdienste in jeder seiner administrativen Untereinheiten von geeigneter Größe anzubieten und so ein „flächendeckendes Netz" zu schaffen. Der Wirtschaft ist dies entweder zu viel oder zu wenig. Sie wird bei wesentlichen Dingen nach dem ubiquitären Angebot an ihren Standorten, also direkt im Betrieb oder im Haus streben.

II.2.3 Probleme mit dem geosphärischen und dem territorialen Raumkonzept Im Zusammenhang mit der Wertung von Ressourcen können ungeeignete Raumvorstellungen zu Fehlinterpretationen führen. Im geosphärischen Konzept sind Orte Ausschnitte aus der Geosphäre, im territorialen kleinste rechtliche Flächeneinheiten und Ressourcen ihre Inhalte. Beiden Konzepten fehlt weitgehend der Gedanke der Einheit des Ortes. Zwei Beispiele sollen kurz beleuchtet werden. Der Begriff „Bodenschätze" stammt aus dem territorialen Konzept und bezieht sich auf noch unbekannte, vergrabene Dinge. Diese gehören dem Staat oder Herrscher und durch die Vergabe von Privilegien zum Aufspüren und Gewinnen von Mineralien kann dieser sich Einkünfte verschaffen. Insofern ist der Begriff „Schatz" durchaus angebracht. Die von geowissenschaftlicher Forschung aufgespürten Mineralvorkommen werden jedoch nur dann zu Einkommensquellen im wirtschaftlichen Sinne, wenn sich jemand zu einer Investition entschließt und den Abbau längerfristig mit Profit betreibt. In anderen Fällen ist es sicherlich unangebracht von Bodenschätzen zu sprechen. Das zweite Argument betrifft die zahlreichen Studien zur Tragfähigkeit der Erde. Eyre (1978) hat in seinem Buch „Der wahre Reichtum der Nationen" dazu einen neuen Ansatz geliefert. Er berechnet für die einzelnen Klima- und Landschaftszonen der Erde die pflanzliche Nettoprimärproduktion und rechnet diese länderweise auf den Kopf der Bevölkerung um. Für die Bundesrepublik Deutschland ergeben sich dann 5,5 t pflanzlicher Trockenmasse pro Kopf und Jahr. Die Niederlande kommen auf nur 3,4 t, Österreich dagegen auf 12,6. Sowohl in Deutschland wie auch in Österreich reicht die pflanzliche Primärproduktion offensichtlich aus, um die Nahrungsmittelversorgung und einen wichtigen Teil des Rohstoffbedarfs zu decken. Um so mehr müßte dies dann für Länder wie Äthiopien (41,5 t), Mali (129,7 t) oder Zambia (250 t) der Fall sein, die wir aber als notorische Hungerländer kennen. Eyre, der seine Untersuchung auf dem geosphärischen und territorialen Raumkonzept aufgebaut hat, sieht diese Widersprüche zwar. Er geht aber kaum darauf ein, daß dort der potentielle Reichtum unerschlossen bleiben muß und die Einheit des Ortes und der Zeit für eine leistungsstarke Landwirtschaft nicht herstellbar ist, solange es an den komplementären Ressourcen mobiler Art fehlt. Bei theoretischen Überlegungen ist es also sehr nützlich, die verschiedenen Raumkonzepte auseinanderzuhalten. Beim praktischen Handeln in vielfältig strukturierten Räumen ist dies nicht immer so einfach. Es ergeben sich in Handlungsabläufen, bei der Anwendung von Strategien oder auch in der Planung immer wieder Mischungen

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Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

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von kommunikativen Elementen (Netze, Knoten, Achsen, Synapsen) mit territorialen M o m e n t e n (Grundstücke, Grenzen, Gebietskörperschaften) und auch geosphärischen Faktoren (Ränder, Eignungszonen, Risikozonen). Solche G e d a n k e n , die letztlich zu einem neuen Ansatz der Geographie führen könnten, hat bisher nur Brunei (1992) breiter aufgegriffen.

II.3 Ressourcen und Standorte Mit d e m nun erarbeiteten Rüstzeug lassen sich einige Fragen nach den besten O r t e n für wirtschaftliche Tätigkeiten behandeln. Wir nehmen dazu eine Region aus „n" Orten an, die nach einem wabenförmigen Muster verteilt sind. Hexagonaler

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II-2b

II-2a

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Oer Fall B

ö

Der Fall C

Wände rungsweg

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" o o q o o ^ Von B, zugängliche Ressourcen

II-2d

n-2c Abb. II-2

Standorte und Ressourcen

Alle Orte wären mit den gleichen Ressourcen in der gleichen Menge ausgestattet, die Region also homogen. Standort der wirtschaftlichen Tätigkeit soll stets eines der Ortsfelder sein und nicht der „Leerraum" dazwischen. Als Ressource wollen wir in diesem Beispiel die individuelle Kaufkraft der Bewohner der Orte annehmen. A b b . II-2a zeigt diese als hexagonale Versuchsanordnung.

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Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

Bei der Frage, wo nun für eine wirtschaftliche Tätigkeit der Standort gewählt wird, gehen wir hier genau den umgekehrten Weg wie die Standorttheorie von Weber (1909). Das erlaubt reizvolle Vergleiche und es ergeben sich drei grundsätzlich mögliche Fälle: Fall A: Der ressourcennutzende Betrieb, z. B. ein Einzelhändler hätte die Möglichkeit, von jedem beliebigen Ort in unserer Region aus alle Kaufkraft aller anderen Orte zu nutzen. Er benötigt aber für eine rentable Führung seines Unternehmens nur einen Teil davon (Abb. II-2b). Wo wird er also seinen Standort einrichten und nach welchen Gesichtspunkten wird er diesen Ort auswählen? Optimierer rufen nun gerne: „Im Zentrum der Region". Dies ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten. Da nämlich jeder beliebige andere Ort innerhalb der Region ebenso geeignet ist, und sein Markt in erreichbarer Entfernung groß genug, brauchen ökonomische Gründe für unseren Unternehmer keinerlei Rolle zu spielen. Er kann seinen Standort nach seinen persönlichen Präferenzen oder nach außerwirtschaftlichen Zwängen, denen er unterliegt, auswählen. Dieser Standort kann auch beibehalten werden, wenn innerhalb der Region Konkurrenten auftreten oder sich die Ergiebigkeit des Ressourcenfeldes ändern sollte. Fall B: Hier würde der Betrieb zwar, um rentabel arbeiten zu können, die Ressourcen der gesamten Region benötigen, jedoch lassen sich von einem festen Standort aus nur kleine Teilmengen erreichen. Um die Existenz seines Unternehmens dauerhaft zu sichern, muß unser Händler seinen Betrieb periodisch an andere Standorte verlagern, damit für ihn das gesamte Ressourcenfeld ausschöpfbar wird (Abb. II-2c). Standorte ganz am Rande des Ressourcenfeldes sind dann zwar möglich, aber ungünstig, weil er sich dort nur ganz kurze Zeit aufhalten kann. Die praktische Lösung ist eine periodische Rundumwanderung innerhalb der Region. Dies machen ambulante Händler und Marktfahrer, wobei innerhalb der Regionen die Wochenmärkte auf bestimmte Tage festgelegt sind (dazu Gormsen 1976, Wirth 1979, 125). Vergleichbare Wanderungen unternehmen Veranstaltungen, Zirkusse und auch Wanderfeldbauern und Hirtennomaden. Fall C: Die für den Betrieb benötigten Ressourcen wären hier wiederum die Gesamtmengen innerhalb der Region. Der Betrieb könnte auf keine Teilmenge verzichten und kann auch alle erreichen. Er hätte unter diesen Voraussetzungen zwar Freiheiten hinsichtlich der Standortwahl, wird sich aber vernünftigerweise in die Mitte des Ressourcenfeldes setzen. Hier ist er von seinen Kunden am besten erreichbar und wird die geringsten Transportaufwendungen haben, falls er seine Kunden beliefern muß. Diese Bedingungen gelten für viele Zweige des Einzelhandels und Gewerbes, insbesondere für die sogenannten zentralen Dienste (Abb. II-2d). Selbstverständlich sollte man bei solchen Modellkonstruktionen die Sache nicht nur statisch sehen, sondern immer an mögliche Veränderungen denken. Einfache Modelle sind dabei oft so überraschend aussagekräftig, daß dieses Spiel nur punkthaft durchgeführt werden kann. Was geschieht z. B. wenn im Fall C das Ressourcenfeld weniger ergiebig wird? Es muß dann letzten Endes der Betrieb schließen, da er ja seine Tätigkeit nicht räumlich ausweiten kann, oder sein Inhaber muß die Branche wechseln. Ein schönes Beispiel dafür waren die Kinos auf dem Lande, die nach dem Aufkommen des Fernsehens zum größten Teil eingegangen sind. Vergrößert sich dagegen das Ressourcenfeld oder wird es ergiebiger, so wandeln

Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

31

sich die Bedingungen des Falls C zu j e n e n das Falls A . Dies war in den letzten 150 J a h r e n ein sehr häufiges Ergebnis der Steigerung des allgemeinen Wohlstands und der verbesserten Verkehrstechniken. H ä t t e eine derartige Verbesserung Auswirkungen f ü r den Standort unseres Betriebes? Nicht notwendigerweise, er wird vielmehr dort bleiben k ö n n e n , wo er auch bisher war. Die neugewonnene Freiheit d e r Standortwahl wird der U n t e r n e h m e r wohl gegen die Kosten eines Standortwechsels abwägen. Da nur wenige U n t e r n e h m e r in solchen Fällen eine Optimierungsstrategie betreiben, läßt sich eher v e r m u t e n , d a ß eine wachsende Wirtschaft mit einer Konservierung b e s t e h e n d e r Standortmuster v e r b u n d e n sein wird. Ergiebigere Ressourcenfelder und gleichzeitige Hemmnisse f ü r die Vergrößerung der A n b i e t e r b e t r i e b e , z. B. Flächenmangel am Standort, erlauben das A u f t r e t e n von K o n k u r r e n t e n . Im Fall C wird bei steigender K a u f k r a f t der Haushalte bald ein zweiter, dritter, vierter A n b i e t e r usw. möglich. W o werden sich solche N a c h a h m e r niederlassen? Grundsätzlich wären sie in ihrer Standortwahl ja frei. Falls sie in ihrer Einschätzung des Marktwachstums jedoch nicht sehr optimistisch sind, werden sie sich vielleicht überlegen, daß sie ja berechtigte Aussicht h a b e n , die Hälfte, ein Drittel, ein Viertel des Kaufkraftvolumens auf sich zu ziehen, wenn sie sich unmittelbar neben den ersten A n b i e t e r setzen. Diese Überlegung gälte in einem statischen Markt auch im Fall A ( A b b . II-3 u. II-4). Hotelling (1929) und Chamberlin (1969) haben dieses Problem aufgegriffen, das in der Literatur oft als das „ E i s v e r k ä u f e r p r o b l e m " angesprochen wird. Hotelling meint, daß sich ein erster Eisverkäufer mit seiner B u d e an einem Badestrand hinstellen kann, wo er will. Dies wäre A in A b b . II-4a. Ein zweiter Eisverkäufer, der ja genau das gleiche Angebot hätte, wird listig überlegen, daß er den größeren Teil d e r Kundschaft b e k o m m e n k ö n n t e , wenn er sich nahe zu A aber auf der Seite mit dem größeren Strandstück niederläßt (B in A b b . II-4b). A baut darauf seine B u d e ab und stellt sie auf der a n d e r e n Seite von B wieder auf. U n d dieses Spiel würden die beiden solange wiederholen, bis sie beide n e b e n e i n a n d e r in der Mitte des Strandes sitzen. Jeder hätte nun dieselben Marktchancen und keiner k ö n n t e durch eine Verlagerung noch etwas gewinnen ( A b b . ll-4c). Damit ist eine primäre Agglomeration gleichartiger Betriebe entstanden. Chamberlin weist nach, d a ß unter den linearen Modellbedingungen des Badestrands diese Agglomeration bei mehr als zwei Anbietern instabil wäre. Ist der Markt jedoch flächenhaft ( A b b . II-3), so werden klare Vorteile erst ab d e m vierten A n b i e t e r sichtbar, und unter Voraussetzungen realer Wegesituationen erst viel später. Nach Chamberlin würden sich im linearen M a r k t vier Anbieter in zwei Paaren niederlassen, was auch bei flächenhaften Märkten d e n k b a r wäre. Reale Nachbarschaftspaare lassen sich in der Hôtellerie und bei Tankstellen gut beobachten. Ihre I n h a b e r bemühen sich jedoch immer, durch Produktdifferenzierung möglichst von der Bedingung des gleichen Angebots w e g z u k o m m e n . Die primären Agglomerationen sind selbstverständlich kein O p t i m u m f ü r die Kunden im Sinne einer Wohlfahrtsmaximierung. D a f ü r wäre es günstiger, wenn sich die beiden Eisverkäufer aus A b b . II-4 an den Quartiispunkten niederließen und so die Einkaufswege minimiert wären. Zu einer solchen Lösung können die beiden aber niemals k o m m e n , da sie sich ja gegenseitig Marktanteile a b k n ö p f e n möchten. Eine Wohlfahrtslösung wäre in diesem Falle n u r durch Planung zu erreichen, da bei j e d e r nicht gleichzeitigen Standortbildung das K o n k u r r e n z m o m e n t in Erscheinung tritt.

32

K a p i t e l II:

R e s s o u r c e n als G r u n d l a g e n d e s Wirtschaftens

/©®OO00\ \ O oq:KD 0)000/ LOOO®^ ®

1. bis 3. Anbieter

®

4. und 5 . Anbieter

ü ü " ! Bereichsgrenzen (potentiell! O

4. und 5. Anbieter bei annäherndem Marktgleichgewicht

Abb.

II-3

E i n d r i n g e n v o n K o n k u r r e n t e n i m Fall C

(1. b i s 5. A n b i e t e r , m i t

Standortverlage-

rung.

1—1

A 1

1

a)

Ein Anbieter IA)

b)

Ein zweiter Anbieter (B) setzt sich

B A

neben A A

B c)

Anbieter A und B finden ein räumliches Konkurenzgleichgewicht

A l

1

B — X

1

d)

Optimale Standorte für A und B aus Benutzersicht

Abb.

II-4

Hotellings

Eisverkäuferproblcm

A n d e r s wird diese Situation, wenn A nicht die gesamte N a c h f r a g e abdecken könnte, weil der Strand so lang ist, d a ß das Eis in d e r Tüte unterwegs zerrinnt. A b b . II-5 zeigen theoretisch was dann geschieht. B wird sich im unversorgten Strandabschnitt niederlassen und eventuell wird sich noch ein dritter A n b i e t e r C hineinzwängen. Sie w e r d e n ihre B u d e n so verlagern, daß jeder ein Drittel des Strandes als Marktanteil hat. Die flächenhafte Analogie läßt sich aus dem Fall A von oben ableiten, wenn wir Betriebe a n n e h m e n , die nur einen Teil d e r Ressourcen brauchen, aber auch nicht alle erreichen können. E s bildet sich dann ein Standortmuster mit sechseckigen Marktgebieten, welches der von August Lösch aufgestellten T e n d e n z zur Maximierung der selbständigen Existenzen (1962, 97, l l l f . ) entspricht und in d e r zentralörtlichen Theorie aufgegriffen wird.

Kapitel II:

i

A 1

Ressourcen als G r u n d l a g e n des Wirtschaftens

nicht versorgter Abschnitt wmmmm>mmmmmmmmmmm

33

a ) Ein Anbieter (A), zufälliger Standort

maximale Reichweite

k

¡wmm

B1 A

i

i

C

B

i

1

1 b ) Ein zweiter Anbieter hat sich medergelassen, ein dritter (C) drängt hinein

1 c ) Standorte der drei Anbieter unter dem Gesichtspunkt der Maximierung der selbständigen Existenzen

A b b . II-5

Lösch-Konfigurationen im linearen Markt

O b jedoch ein Standortmuster dem Hotelling Theorem folgend, zur primären Agglomeration oder durch Ausgrenzung von Marktbereichen zu einer Lösch-Christaller Konfiguration tendiert, scheint in der Praxis sehr stark von den Strategien abzuhängen mit denen die jeweils ersten Anbieter auf eine vorgefundene Situation reagieren. Sind diese Modelle auch für völlig abstrakte Gedankenspielereien aufgestellt worden, so kommen sie doch realen Gegebenheiten in vielen Bereichen der Wirtschaft nahe. Lineare Marktgebiete sind neben den Stränden auch die Ausfallstraßen der Städte, insbesondere die Commercial Strips in den U S A , aber auch die innerstädtischen Einkaufsstraßen mit ihren Agglomerationen von Schuhläden.

II.4 Das Problem der Ausweitung von Marktgebieten Eine wirtschaftsgeographisch wichtige Überlegung verbindet sich mit der Frage der Nutzung der Ressourcen entfernterer Standorte. Wir gehen dabei zurück auf den Fall A und stellen uns einen Händler vor, der zusätzlich zu den Kunden an seinem Ort nun auch die sechs nächstgelegenen Orte bedienen will. Da zwischen diesen und seinem Ort keine Einheit des Ortes besteht, muß er die neuen Kunden beliefern. P r o Ortsfeld wäre eine Fahrt erforderlich. Die Distanz zwischen den Orten wäre 1 (vgl. A b b . II-2a, b). Die Ausweitung des Marktes ist an sich problemlos, da diese O r t e ja für ihn zugänglich sind. Tabelle II-1 zeigt uns, daß dazu dann sechs Fahrten über die Distanz 1 nötig sind und das Marktgebiet insgesamt 7 O r t e umfaßt. In der nächsten Entfernungsstufe 2 liegen 12 Orte. Werden sie auch bedient, so wächst der Markt insgesamt um 170 % , die Transportaufwendungen steigen jedoch gegenüber vorher um 220 % an. Dieses Spiel läßt sich leicht weiterführen. Bei einer quadratischen Anordnung der O r t e sind die Relationen insgesamt etwas ungünstiger, wie die Marktgröße 61 im Vergleich zur hexagonalen Verteilung deutlich zeigt. Derartige Mehrkosten sind im Baugewerbe sehr wichtig. Bei der Erschließung jeder neuen Entfernungsstufe steigt der Transportaufwand überproportional an, was rasch die Grenzen des ökonomisch Sinnvollen erreichen kann. Diese Relationen sind sehr interessant. Jedes Wachstum der Wirtschaftsaktivitäten läßt nämlich ein räumliches Ausgreifen erwarten, da ja zusätzliche Ressourcen mobilisiert werden müssen. Aber das überproportionale Anwachsen der Transportaufwendungen heißt, daß nur sehr kräftige Wachstumsvorgänge tatsächlich ein solches Ausgreifen bewirken können. Kurze Wachstumsphasen laufen sich in weiten Räumen schnell tot. Im Hinblick auf die überproportionalen Aufwendungen für die Ressourcen ferner Gebiete ist es meist s i n n v o l l e , die vorhandenen Möglichkeiten der

34 Tab. II-l

Kapitel II:

Ressourcen als Grundlagen des Wirtschaftens

Marktausweitung, Distanzen und Transportaufwand

Hexagonale Anordnung der Orte Marktgröße

Gesamter Transportaufwand

Maximale Transportweite

Durchschnittl. Transportweite

1 7 19 37 61

0 6 29,3 87,3 170,5

0 1 2 3 4

0 0,9 1,5 2,4 2,8

Steigerung der Marktgrößen gegenüber 7

_

Steigerung des Transportaufwands gegenüber 7

_

-

-

170% 429% 770%

220% 1355% 2740%

Quadratische Anordnung der Orte Gegenüber 5 1 5 13 29 61

0 4 17,7 58,9 179,0

0 1 2,0 3,0 4,0

0 0,8 1,4 2,0 2,9

Gegenüber 5

-

-

160% 480% 1120%

340% 1370% 4375%

n ä h e r b e n a c h b a r t e n Gebiete intensiver zu nutzen. Ressourcenwanderungen f ü h r e n überdies zu einer Konzentration in den günstiger gelegenen O r t e n , so daß man in der Regel die Ressourcen d e r Peripherien gar nicht braucht, wenn sie nicht von selber kommen. In d e r Wirtschaftsgeschichte zeigen sich immer wieder kurze Phasen d e r räumlichen Ausweitung d e r Wirtschaftsbeziehungen, die von längeren Phasen einer Intensivierung in gewissen K e r n r ä u m e n gefolgt w e r d e n . In solchen Konsolidierungsepochen w e r d e n die bereits aufgeschlossenen Ressourcen der Peripherien wieder aufgegeben, weil m a n sie zu diesem Preis nicht mehr benötigt. Aus wirtschaftsgeographischer Sicht erweisen sich n u r sehr wenige A r t e n von Ressourcen als auf der E r d e insgesamt knapp. Leider wird oft mißverständlich d e r volkswirtschaftliche Knappheitsbegriff auf geographische Situationen angewandt. Die reichlich vorhandenen und keineswegs k n a p p e n Ressourcen bleiben in weiten Teilen d e r E r d e unerschlossen und ungenutzt. Besonders b e t r o f f e n sind die schlcchter zugänglichen Teilräume d e r E r d e . Solche G e b i e t e bleiben a r m , weil niemand brauchen k a n n , was sie zu bieten hätten. D a m i t soll dieser kleine Ausflug in die Raumwirtschaftstheorie b e e n d e t w e r d e n . M a n c h e der angeschnittenen Fragen werden später als Grundlagen zum Verständnis a n d e r e r Erscheinungen herangezogen.

Kapitel III Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung III.l Formale und Funktionale W e n n bereits simple Modelle, wie sie im vorigen Kapitel verwendet wurden, viele verschiedene Überlegungen zulassen, die zu gänzlich a n d e r e n räumlichen Problemlösungen f ü h r e n , um wieviel komplizierter m u ß dann die reale Welt sein, wo ja niemals eine Entscheidungssituation von so klaren Randbedingungen bestimmt sein wird. Bei der Auseinandersetzung mit der realen Welt haben wohl viele Forscher diese als derart ungeordnet e m p f u n d e n , daß sie sich damit nicht die H ä n d e schmutzig machen wollten und lieber bei ihren Modellen blieben. August Lösch (1962, 145) gab dem bereits vor 50 J a h r e n beredt Ausdruck und v. Weizsäcker (1989, 43) spricht herausfordernd vom Chaos als der noch nicht entdeckten O r d n u n g . Nicht wenige G e o g r a p h e n gewannen bei ihren Analysen der überaus vielfältigen Erscheinungen unserer Kulturlandschaften e h e r den Eindruck von strukturlosem Wirrwarr als von sinnfälliger O r d n u n g . D e r Schweizer Geograph Hans Carol (1956, 124f.; 1963, 30) geht vom Wirrwarr dieser „geographischen Substanz" aus und sagt sinngemäß: was wir als G e o g r a p h e n beobachten und mit den üblichen Techniken unserer Wissenschaft registrieren k ö n n e n , sind zunächst nur die geschaffenen Einrichtungen der Wirtschaft, wie G e b ä u d e , W e r k s t ä t t e n , Verkehrswege, Feldparzellen und dergleichen. Diese Dinge sind leicht zu registrieren und auf L a n d k a r t e n darzustellen. Carol nennt sie die „ F o r m a l e " der Landschaft. Wir wissen aber, o d e r können v e r m u t e n , daß diese Formale aus den Beziehungen und Zielen der Wirtschaftstätigkeiten hervorgehen und durch eine angemessene Investition geschaffen wurden (vgl. A b b . I I - l ) , denn solche Vorgänge entsprechen in d e r Kulturlandschaft den physischen Gestaltungskräften in der N a t u r , wo dieser Zusamm e n h a n g ebenfalls besteht. Produktionstätigkeiten, Handelsaustausch, Vorratshaltung, Verbrauch usw. bilden den Formalen gegenüber die „Funktionale" d e r Wirtschaft. Zu ihrer D u r c h f ü h r u n g werden die Formale geschaffen. Jedoch sind die Funktionale selbst meist nicht direkt b e o b a c h t b a r , und noch weniger mit der klassischen geographischen M e t h o d e d e r Kartierung zu erfassen. Bosch (1966, 279f.) hat diese Unterschiede anschaulich dargelegt. H a b e n wir bereits etwas A h n u n g von dem verbindenden Systemgefüge, so läßt sich von den Formalelementen bzw. von der Formalstruktur aus auf die geltenden Funktionalbeziehungen und die Funktionalstruktur schließen. Dies gilt natürlich auch umgekehrt und ist noch einfacher, weil ja Formale in d e r Regel so konstruiert w e r d e n , daß sie den intendierten Funktionalen gerecht werden. Dies ist eine sehr wichtige M e t h o d e der Wirtschaftsgeographie, mit d e r e n Hilfe man sich schrittweise an die wahren Gegebenheiten herantasten kann. Ein kleines Beispiel soll dies verdeutlichen (Bearbeitung durch A. Mehnert 1987): Wir hätten z. B. alle Filialen der Firma M c D o n a l d s in Deutschland standortmäßig erfaßt. A u s dieser Verteilung läßt sich ablesen, daß nicht nur große, sondern auch viele kleinere Städte einen ausreichend großen Markt f ü r M c D o n a l d s Filialen abge-

36

Kapitel III

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

ben. In Fremdenverkehrsorten von vergleichbarer Größe finden sich jedoch so gut wie keine (Formaler Aspekt). Es ist bekannt, daß sich McDonalds mit seinen Speiseangeboten an vornehmlich jüngere und eilige Kunden wendet. Die obige Beobachtung erlaubt uns nun, diese Hypothesen zu präzisieren und bezüglich der Standortentscheidungen der Firma zu ergänzen (funktionaler Aspekt). • In den deutschen Ferienorten halten sich nicht die üblichen Kunden von McDonalds auf. • Fast-food Angebote passen nicht zu den Verhaltensmustern von Leuten in der Urlaubssituation. • Der saisonale Charakter des Fremdenverkehrs erlaubt bei solchen Filialen keine Rentabilität. Mit diesen Hypothesen zu den Funktionalen lassen sich nun die Formale nochmals abklopfen, ob und wo sich Abweichungen ergeben, die dazu zwingen würden, sie aufzugeben. So bestand zu diesem Zeitpunkt sehr wohl eine McDonalds Filiale in dem Fremdenverkehrsort Garmisch-Partenkirchen (Formal). Als weitere Hypothese ließ sich daher vermuten, daß hier ganzjährig ein starkes Nachfragepotential durch eher jüngere Tagesausflügler auftritt, was leicht zu bestätigen war. Man könnte natürlich auch die Firma McDonalds selbst befragen. Dies hätte im gegenständlichen Falle zu dem gleichen Resultat geführt, ist aber sonst in der Wirtschaftsgeographie oft verlorene Liebesmüh. Denn Unternehmen machen nicht gerne Unterlagen über ihre Geschäfte und Führungsentscheidungen für Außenstehende zugänglich (Funktional). Ebenso haben bei Firmen dieser Größe selbst die leitenden Angestellten oft keine rechte Ahnung, warum wo und warum wo nicht solche Filialen errichtet wurden, geben aber dieses Unwissen nur ungern zu. Eine solche Untersuchung hat v. Tucher (1994, 124) durchführen können. Sie bestätigt die obigen Aussagen. Freilich hatten sich zu diesem späteren Zeitpunkt die Marktgegebenheiten und Angebotsformen schon so weit gewandelt, daß nun auch solche Standorte auftraten, die 1987 noch unmöglich gewesen wären. Die Schlußfolgerung von Formal auf Funktional erlaubt es häufig, ein Problem so scharf einzugrenzen, daß die verbleibende Ungewißheit mit sehr geringem Forschungsaufwand ausgeräumt werden kann. Allerdings lassen sich mit dieser Methode immer nur einzelne Aspekte der geographischen Substanz herausgreifen. Überdies verlangt der Schluß von den Formalen auf die Funktionale, daß es sich um rezent entstandene Erscheinungen handelt und daß die Formale tatsächlich aus den dahinter vermuteten Funktionalen hervorgegangen sind. Bei formalen Phänomenen, die ursprünglich einem anderen Zweck dienten, wird diese Schlußfolgerung sehr viel schwieriger oder gar unmöglich.

III.2 Wirtschaftliche Verflechtungen Ein anderer Ansatz zur Durchdringung des Chaos könnte über die Verflechtungen von Wirtschaftseinheiten (Betrieben, Haushalte) als den kleinsten Standortkomplexen gesucht werden. Es ist nicht weiter schwierig und sehr instruktiv, die realen Verflechtungen einer Wirtschaftseinheit zu anderen zu verfolgen, weshalb solches in der Didaktik der Geographie oft gemacht wird. Bekannt wurde in dieser Hinsicht das Beispiel einer Joghurt-Herstellung in Stuttgart (R. Hoppe im Zeit-Magazin v. 29.1.1993), worin dargetan wurde, daß Lastwagen mit den Zutaten und Materialien

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V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

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schon 9000 km kreuz und quer durch Deutschland gefahren sind, bevor die Becher ausgeliefert w e r d e n k ö n n e n . Wir wollen hier der Einfachheit halber die Wirtschaftseinheiten als Blackboxes von Systemen erfassen. Eine autarke Wirtschaftseinheit, und dies können nur Haushalte sein, e n t n i m m t ihrer U m w e l t , die sie als „Vorratslager" betrachtet, die benötigten Ressourcen ( R ) als Inputs und gibt Abfälle (A) als O u t p u t s an diese Umwelt zurück ( A b b . I I I - l ) . Wir wollen hierbei a u ß e r Acht lassen, daß die eigentlichen menschlichen Leistungen andere O u t p u t s sind wie Reproduktionserfolg, geistige, kulturelle und religiöse Erkenntnisse, kognitive Durchdringung der Umwelt usw. Umwell

als

Vorratslager Umwelt * | l

als und

Steuernde der

Abb. III-l

Energiesenke Endlager

Rückkoppelung

Ressourcennutzung

Schema einer autarken Einzelwirtschaft

Die Art und Menge der e n t n o m m e n e n Ressourcen und ihr Einsatz im System werden von planenden und d e n k e n d e n Menschen als systeminternem Regler (S) bestimmt. Dies wirkt als Rückkoppelung zur Umwelt. Es wäre sinnlos dieser mehr an Ressourcen zu e n t n e h m e n , als man systemintern benötigt. Es könnte langfristig sogar gefährlich w e r d e n , durch übertriebene A u s b e u t u n g die Umwelt zu schädigen, obgleich dies schon unsere Urvorderen durchaus auch fertiggebracht haben. Die U m welt ihrerseits wird von den autarken Einzelwirtschaften als Vorratslager und als Endlager benützt, und nur so, wenn es sich um sogenannte Wildbeuter handelt. A u t a r k e Einzelwirtschaften mit G ü t e r p r o d u k t i o n z . B . A c k e r b a u e r n , zeigen kompliziertere Muster. Hinsichtlich der Standorte solcher Einzelwirtschaften kann zunächst wenig gesagt w e r d e n . D a sie autark sind, brauchen sie keine K o n t a k t e und keinen Austausch. Ihr internes Aktivitätsmuster wird durch den Verbrauch ständig neu angeregt. Damit bildet sich ein Ungleichgewicht, das Prozesse zu seiner B e h e b u n g auslöst. Noch immer ist Robinson von Daniel Defoe (1719) der beste gedankliche Z u g a n g für die Probleme der Einbettung einer a u t a r k e n Wirtschaft in ihre U m w e l t . Eine nicht-autarke Einzelwirtschaft ( S l ) in d e r A b b . III-2 hat andere Beziehungen. Ein Teil ihrer O u t p u t s wird an nachgelagerte Wirtschaften weitergegeben (S2). D a her richten sich der U m f a n g und die A r t ihrer Inputs ( R l ) nicht allein nach den eigenen Bedürfnissen, sondern auch nach der e r w a r t e t e n Nachfrage (R2) des nachgelagerten Systems. Ü b e r dessen Bedürfnisse und Nachfrage besteht jedoch kein vollk o m m e n e s Wissen. D a h e r entspricht j e d e V e r m u t u n g d a r ü b e r im System 1 einer Vorwärtskoppelung zum System 2 in der A r t eines Sensors. Dessen Meldungen geben eventuell A n l a ß , den Input von System 1 zu vergrößern. Das Entgelt liefert dann nachträglich die rückkoppelnde Bestätigung, d a ß diese Entscheidung richtig war. Solche Vorgänge haben eine zeitliche Reihenfolge und meist auch eine geographische D i m e n s i o n . Dies mag wenig Rolle spielen, wenn die beiden Einzelwirtschaften e i n a n d e r n a h e benachbart sind.

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Kapitel III

Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung Sensor

r~

Ol

è

Output/Input

R2 Entgelt

A b b . III-2

Schema der nicht autarken Einzelwirtschaften

Wird jedoch die Einheit von Ort und Zeit g e b r o c h e n , so müssen Handel, T r a n s p o r t und Lagerhaltung in den P r o d u k t e n s t r o m und B a n k e n in den Entgeltstrom eingebaut w e r d e n , wodurch auch die Signale zeitlich vergrößert und eventuell sogar verzerrt w e r d e n . Sind die Distanzen in Raum und Zeit groß, so treten bei beiden Partnern Unsicherheiten auf. Das liefernde System wird trachten, sich Entscheidungsalternativen möglichst lange offen zu halten. F e r n e r wird einsichtig, d a ß ein derartiges nicht-autarkes System seiner Umwelt a n d e r s entgegentritt und deren Schädigung bewußt in Kauf nimmt, wenn es durch den Entgeltstrom d a f ü r entlohnt wird. U n t e r solchen Gesichtspunkten lassen sich nun verschiedene V e r k n ü p f u n g s m u s t e r von Einzelwirtschaften zu Austauschsystemen bild e n , die in d e n folgenden Abschnitten erläutert werden sollen.

III.2.1 Kettenbildung In A b b . 1II-3 sind m e h r e r e Einheiten hintereinandergeschaltet, die schrittweise den O u t p u t von S1 weiterbehandeln. Aus dem G u t xl würde dabei die W a r e x3, welche wir uns als ein konsumfähiges Produkt vorstellen wollen. SK ist der E n d v e r b r a u c h e r , dessen materielle O u t p u t s an ein Endlager a b g e f ü h r t werden. Solche Ketten sind in d e r Realität meist drei bis fünf Stufen lang.

Entgelte/Kreditkette

A b b . III-3

Schema der Kettenbildung

Offensichtlich können die zeitlichen und räumlichen Koordinationsprobleme in solchen Ketten beträchtlichen U m f a n g a n n e h m e n . Sie w e r d e n , wo die Einheit von O r t und Zeit nicht gegeben ist, von speziellen Hilfssystemen der Wirtschaft bewältigt. D a a b e r das System S2 noch kein Entgelt in der H a n d haben k a n n , wenn es den O u t p u t von S1 ü b e r n e h m e n soll, wird in einer Kette Kredit nötig. Gleichfalls wird S1 seinen Input letztlich an der Nachfrage von SK orientieren müssen. Die Sensoren aller Teilsysteme d e r Kette müssen also ein durchgängiges Informationsnetz bilden. Logistische Ketten ü b e r m e h r e r e Verarbeitungsstufen sind in Kombination mit ihren Hilfssystemen vortrefflich dazu geeignet, große Distanzen in R a u m u n d Zeit zu bewältigen. Diese Distanzprobleme und mit ihnen v e r b u n d e n e Reibungsverluste ließen sich vermeiden, wenn sich S1 bis S3 geographisch in unmittelbarer Nachbarschaft

Kapitel III

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

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niederlassen, oder noch besser, sich vertikal zu einem Betrieb integrieren. Dann aber kann wiederum ihre Distanz zu S K so groß werden, daß zusätzlich eine geographisch gestaffelte Absatzorganisation erforderlich wird. Die Kredit-, Lagerungs-, Transport- und Informationsprobleme in einer Kette lassen sich also nicht vermeiden, sondern nur organisatorisch verschieben. Sie sind spezifische Eigentümlichkeiten, welche bei dieser Art der Verknüpfung in Erscheinung treten. Solche Merkmale, die nicht in den Systemen selbst angelegt sind, sondern erst über deren Verknüpfungen zu komplexeren Systemen zutagetreten, nennt man „emergent" (Willke 1982, 91). Kredit, Transport, Lagerhaltung und übertragbare Information sind emergentc Notwendigkeiten der kettenartigen Verknüpfung von Wirtschaftseinheiten bei arbeitsteiliger Bedarfsdeckung. Es wird ohne weiteres einleuchten, daß solchc Ketten sich verzweigen, wenn ein Nebenprodukt auftritt, das einen anderen Verarbeitungsweg nimmt. Das schönste Beispiel sind immer noch die Zuckerplantagcn der Karibik, wo die anfallende Melasse zu Rum weiterverarbeitet wurde, der jahrhundertelang die Stütze der christlichen Seefahrt war. Ebenso können sich mehrere selbständig beginnende Stränge im Endprodukt bündeln, wofür die Autoherstellung ein Exempel ist. Besonders wichtig ist das Rückführen der Produktions- und Konsumprozesse in sich selbst geworden. Für solche zu weiteren oder engeren Ringen zusammengeführte Ketten sagen wir „Recycling". Wir denken in erster Linie an die Ringbildung, die bei den Outputs von S K ansetzt. Recyclingprozcsse sind jedoch auf allen Stufen notwendig, um möglichst wenig Material und Energie in Senken verschwinden zu lassen. Konsequentes Recycling führt zu Krcislaufprozcssen, in denen Materie in ständigem Formwandel immer wieder einsetzbar ist. Solchc sind in der Landwirtschaft und auch im Geldwesen mit großer Perfektion ausgebildet. Funktionierende Kreisläufe wiederum sind die Motoren von Wachstum und Entwicklung.

I I I . 2 . 2 Spezialisierung Kreislaufprozesse zeigt auch das nächste Beispiel. Hier bilden vier Einzelwirtschaften S1 bis S4 untereinander ein Austauschsystcm. Jedes beliefert die drei anderen mit seinen spezifischen Produkten und empfängt dafür die Erzeugnisse der anderen (u bis x). Dieser Austausch von Produkten beinhaltet bei diesem Verknüpfungsmuster automatisch die Gegenleistung und den Kredit. Ebenso trägt der Austauschvorgang die notwendige Information selbst in sich (Abb. III-4). Eine weitere Wirtschaftseinheit S5 könnte sich in dieses System nur über eine neuartige Spezialisierung (y) eingliedern, was aber eine Umglicderung der Güterströme u bis x zur Voraussetzung hätte. S1 bis S4 müssen sich ja nunmehr enger spezialisieren Die Vernetzung ist, wie wir sofort sehen können, in solchen Austauschsystemen sehr viel komplizierter als in den Ketten. Spezialisierung baut sich bei dieser Art der Verflechtung die autarke Bedürnisbefriedigung immer weiter ab, bis schließlich alle Wirtschaftseinheiten völlig voneinander abhängig sind. Kredit, Handel und Information sind keine eigenständigen Notwendigkeiten bei dieser Art der Verflechtung und wären, streng genommen, sogar „unproduktiv". Um auf sie verzichten zu können, müßten aber die Einzelwirtschaften dann unmittelbare Nachbarn sein, so daß der gesamte Austauschkomplex in der Einheit von Ort, Zeit und Handlung funktionieren kann.

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Kapitel III

Abb. III-4

Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

Schema der Verflechtungen bei Spezialisierung

D i e s wird in S t ä d t e n näherungsweise möglich, nicht a b e r in vielgliedrigen F u n k t i o n a l s y s t e m e n v o m T y p u s d e r V o l k s w i r t s c h a f t s r e g i o n e n . In diesen bleiben K r e d i t , H a n del, T r a n s p o r t u n d I n f o r m a t i o n erforderlich, u n d bilden sich auch in solchem R a h m e n als zusätzliche Spezialisierungen aus. Fatal k a n n j e d o c h in e i n e m solchen R a h m e n d i e V e r w e n d u n g eines falschen R a u m k o n z e p t s in d e r Wirtschaftspolitik w e r d e n . B e t r a c h t e t m a n z. B. die g e s a m t e Volkswirtschaftsregion als ein einheitliches T e r r i t o rium u n d als r ä u m l i c h e n R a h m e n d e r Spezialisierung, so k a n n leicht d i e I d e e a u f k o m m e n , d i e D i e n s t e w ä r e n eigentlich nur u n p r o d u k t i v e u n d d a h e r zu e l i m i n i e r e n d e K o m p l i k a t i o n e n d e r W i r t s c h a f t s s t r u k t u r , u n d alle leider u n v e r m e i d l i c h e n Hilfsdienste k ö n n t e m a n d e n P r o d u z e n t e n eingliedern. In A u s t a u s c h b e z i e h u n g e n spezialisierter E i n z e l w i r t s c h a f t e n w e r d e n ungleiche D i n ge g e t a u s c h t u n d d a m i t t a u c h t die Frage nach e i n e m W e r t m a ß s t a b o d e r nach d e m „ G e l d " auf. Als g e m e i n s a m e r W e r t m e s s e r ist G e l d e i n e e m e r g e n t e E i g e n s c h a f t solc h e r S y s t e m e . S e i n e E r f i n d u n g ist d a h e r eng mit d e n f r ü h e s t e n S t a d t k u l t u r e n verbunden.

III .2.3 Konkurrenz und Formationsbildung In d e r A b b . III-5 s e h e n wir vier Einzelwirtschaften S1 bis S4, die mit d e m gleichen P r o d u k t (x) auf d e n M a r k t ( M ) gehen, d e n wir uns als die S u m m e aller E n d v e r b r a u c h e r ( S K ) v o r s t e l l e n , die a b e r j e d e r für sich zwischen S1 u n d S4 a u s w ä h l e n k ö n n e n . D i e A n b i e t e r sind hier w e d e r d u r c h Material- noch d u r c h E n t g e l t s t r ö m e v e r b u n d e n u n d a g i e r e n i h r e n A b n e h m e r n g e g e n ü b e r u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r . Sie e r h a l t e n jedoch v o m M a r k t h e r alle d i e gleichen I n f o r m a t i o n e n als O r i e n t i e r u n g s d a t e n .

Kapitel III

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

Ressourcenkonkurrenz •synergetische Effekte A b b . III-5

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Marktkonkurrenz « synergetische Effekte

Verknüpfungsmustcr bei Formationen u. Branchen

Da sich die Erzeuger an den gleichen A b n e h m e r k r e i s w e n d e n , wird sich f ü r ihre P r o d u k t e und deren Wertschätzung durch die K u n d e n ein Mechanismus der Angleichung ausbilden, den wir als „ M a r k t p r e i s " bezeichnen können, und d e r eine emergente Eigenschaft dieses Verflechtungstyps darstellt. D e r Markt führt bei den Anbietern zu scharfer Konkurrenz. Sind d a r ü b e r h i n a u s auch ihre Standorte räumlich ben a c h b a r t , so tritt zur M a r k t k o n k u r r e n z auch die K o n k u r r e n z um die Ressourcen hinzu. S1 bis S4 bilden dann das, was man gemeinhin eine B r a n c h e nennt, also eine Menge von strukturell e i n a n d e r sehr ähnlichen Wirtschaftseinheiten die gleichartige Produkte hervorbringen und gegeneinander k o n k u r r i e r e n . Es kann jedoch auch v o r k o m m e n , daß bei standörtlicher Nachbarschaft diese Konkurrenz durch synergetische E f f e k t e gemildert wird. Für alle nicht direkt zur K o n k u r renz h e r a u s f o r d e r n d e n Probleme von H a n d e l , T r a n s p o r t , Kredit, Information, Lagerhaltung, Arbeitsbeziehungen usw. können nämlich gemeinschaftliche Lösungen g e f u n d e n w e r d e n , die allen Beteiligten nützen. In solchen Fällen sprechen wir von wirtschaftlichen F o r m a t i o n e n . In schwächerem U m f a n g sind derartige kooperative E l e m e n t e auch bei bloßen Branchen zu finden, d e n e n das Nachbarschaftsmoment d e r A n b i e t e r fehlt. Diese gemeinschaftlichen Lösungen sind als emergente Erscheinungen Gegenstücke zum Mechanismus der Marktpreise. Die hier geschilderten V e r k n ü p f u n g s m u s t e r erlauben es, bei Kenntnis n u r eines E l e m e n t s auf die gesamte Struktur zu schließen, und umgekehrt. H a t m a n also einmal einen Zipfel in d e r H a n d , so ist es nicht m e h r so schwer, das ganze H e m d zu b e k o m m e n , w e n n auch die V e r k n ü p f u n g e n in der Realität komplizierter sind als bei unseren einfachen Modellen. Sie f ü h r e n auch einen Schritt weiter in geographische Fragestellungen hinein. Bilden sich Formationen als Nachbarschaften gleichartiger Betriebe an m e h r e r e n O r t e n aus, so können wir diese Z o n e n insgesamt als h o m o g e n e oder gleichartige Wirtschaftsregionen a n e r k e n n e n , wie dies in Kapitel 1-5 schon angeschnitten wurde. Kettenbildung wie auch Spezialisierung f ü h r e n dagegen zur Nachbarschaft ungleichartiger Betriebe, d. h. zu heterogenen Wirtschaftsregionen, die zugleich Funktionalregionen sein werden.

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Kapitel III

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

III.3 Das Thünen-Modell Die Forschungsansätze über Formal- und Funktionalstrukturen auf der einen und der Ansatz über Systemverflechtungen von Wirtschaftseinheiten auf der anderen Seite haben gänzlich unterschiedliche Gesichtspunkte hervortreten lassen, die jedoch nur partielle Antworten für die Entschleierung der räumlichen Ordnung der Wirtschaft versprechen. Dies hat viele Autoren, darunter besonders August Lösch und Walter Isard gereizt, Gesamtmodelle aufzustellen. D e r früheste f ü r Geographen interessante Versuch eines solchen Modells ist jedoch der von Johann Heinrich v. Thünen bereits 1826 konstituierte „isolierte Staat". Thünen hatte dieses Modell durchdacht, lange bevor die Industrialisierung Kontinentaleuropa zu verwandeln begann. Insofern ist sein Isolierter Staat ein statisches Abbild der Bedingungen in Deutschland vor der Einführung der Eisenbahnen und der Dampfschiffe. Dies muß man sich stets vor Augen halten, um nicht allzu buchstäblich in der Welt von heute nach Beweisen für die cmpirischc Brauchbarkeit des Modells suchcn zu wollen. Überdies hat der Nationalökonom Thünen so viele vereinfachende A n n a h m e n eingebaut, daß es selbst damals müßig gewesen wäre, die Thünenschen Kreise im Umkreis einer großen Stadt exakt nachzuweisen (dazu Lösch 1962, 26f.). Mit dem Modell selbst, dessen Begründung f ü r die Geographie gar nicht weiter von Interesse ist, beschäftigt sich Brake (1985). Dennoch ist das ThünenModell realitätsnahe genug, daß man in Australien, Äthiopien und in der UdSSR Agrarsturkturen mit zonaler Differenzierung finden kann. Haggett (1983, 530f.) geht auf solche Beispiele breit ein. Ebenso lassen sich Thünen-Effekte im städtischen Grundstücksmarkt, im Tourismus, in der Waldnutzung und in vielen anderen Wirtschaftsbereichen aufzeigen. Dieses wohlbekannte Modell zeigt Abb. III-6, wo zugleich die von Thünen postulierten Formen der Landnutzung in den einzelnen Kreisringen angegeben werden (vgl. dazu Thünen 1966, 387). Die Bezeichnungen sind hier etwas modernisiert worden. Bei seinen Überlegungen ging Thünen von einem durch die Natur völlig einheitlich mit Ressourcen ausgestatteten Raum aus, der sogenannten „isotropen E b e n e " der Ö k o n o m e n , die zugleich beliebig teilbar ist und worin Standorte dimensionslose Punkte sind. Inmitten dieser Ebene liegt die zentrale Stadt. Sie ist Standort aller nichtagraren Wirtschaftstätigkeiten im Austausch mit den Landwirten der Umgebung. Da jedoch bei jeder Austauschbeziehung zwischen Stadt und Landwirten Transportkosten auftreten werden, können die Ressourcen der Ebene für unterschiedliche agrare Produktionsrichtungen genutzt werden. Die Art der Nutzung spiegelt die Ergiebigkeit der jeweiligen Ressourcenkombination und die Transportkostenempfindlichkeit des Produkts (Abb. III-7). Bei zwei alternativen Produktionsrichtungen z . B . Getreidebau ( A ) Viehaufzucht (B) sind die Erlöse pro Flächeneinheit bei Viehaufzucht sicherlich geringer (N' gegenüber n'). Getreide ist jedoch transportkostenintensiver und schon bei A' würden die auf dem Markt ( A B ) erzielbaren Nettoerlöse für Getreide gleich Null sein. Dieser Erlösausfall mit zunehmender Distanz ist bei Vieh wesentlich geringer, so daß es möglich ist, dieses auch noch aus der Entfernung B' auf den Markt zu bringen. Obgleich der Getreidebau von A bis A' Nettoprofite erlaubt, werden diese schon in C von jenen f ü r die Viehaufzucht übertroffen. Getreidebau kann also nur zwischen A und C mit Vorteil betrieben werden. Thünen unterstellt, daß seine Landwirte als Spezialisten unter Aufgabe der Autarkie in den isolierten Staat eingebettet sind und ihren Gewinn maximieren wollen. Die Preise sind als langfristig fix durch die Kosten und den Bedarf des Marktes der

Kapitel III

Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

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Abb. III-6

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1) bis 4,5 deutsche Meilen Freie L a n d w i r t s c h a f t (Fruchtfolge o h n e Brache nach Rentabilitätsgesichtspunkten) 2) 4,5 bis 8 deutsche Meilen Forstwirtschaft (Bauholz u n d Brennholz = Energieversorgung der Stadt) 3) 8 bis 11 deutsche Meilen Fruchtwechselwirtschaft (Getreide, H a c k f r ü c h t e , Stallfütterung von Vieh) 4) 11 bis 25 deutsche Meilen K o p p e l w e i d e w i r t s c h a f t (verbessertes Weideland u n d Wiesen, Viehaufzucht u n d Mast) 5) 25 bis 30 deutsche Meilen Dreifelderwirtschaft (arbeits- und flächenextensiver G e t r e i d e b a u , Viehweide auf Brachfeldern) 6) 30 bis 50 deutsche Meilen Viehzucht (vorw. N a t u r w e i d e n , J u n g v i e h a u f z u c h t u n d Wolle) 7) über 50 deutsche Meilen unkultivierte , , W i l d n i s " Z e i c h n u n g nicht ganz maßstäblich. Eine deutsche Meile = ca. 7,5 km.

Die Thünenschen Kreise Erlös R \ N

N'< >n'

A.B

A b b . III-7

C

A'

0'

Auswirkungen unterschiedlicher Transport-Kostenempfindlichkeit der Produkte

zentralen Stadt angenommen. Dieser Bedarf wird zur Gänze gedeckt, so daß keine Importe auftreten und konsequenterweise auch keine Exporte nötig werden. Über diesen Bedarf hinaus zu produzieren, wäre bei einem Fehlen von Außenhandel für die Landwirte sinnlos. Bei gegebener Technologie sind auch die Transportkosten als entfernungsabhängig fix angenommen. Unter der Annahme eines so umschriebenen Marktgleichgewichts erhält Thünen seine sechs Zonen in Gestalt von Kreisen bzw. Kreisringen bei genau feststellbaren Entfernungen von der zentralen Stadt. Insofern ist das Modell statisch, und viele Interpretatoren begnügen sich damit. Jedoch hat schon Thünen selbst über die Verschiebungen seiner Zonen im Gefolge von Preisänderungen oder durch die Einführung anderer Transportmittel nachgedacht. Zu Lebzeiten war er ein eifriger Förderer des Chausseebaus in seinem heimatlichen Mecklenburg, denn der Gütertransport auf einer guten Straße kostete nur ein

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Kapitel III

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

Viertel von dem, was für das Ochsenfuhrwerk auf schlechten Landwegen aufging. Wenig später haben dann Eisenbahn und Dampfschiff die Transportkosten für Getreide, Holz und Wolle auf ein Fünfzehntel und die Transportdauer auf kleine Bruchteile der früheren W e r t e gedrückt. Von 50 deutschen Meilen oder etwa 350 km konnten Thünen-Systeme nun auf 5000 km und mehr ausgeweitet werden. Damit waren schon bald nach Thünens Tod alle Teile der Welt in ein auf London zentriertes wirtschaftliches Austauschsystem einbezogen (Peet 1969, 293f.). Gehen wir an eine geographische Interpretation des Modells der Thünenschen Kreise, so erkennen wir hinter dem formalen Aspekt eine funktionale Wirtschaftsregion. Darin stehen Agrarbetriebe im Austausch mit einer Stadt, die als Entgelt alle nichtagraren G ü t e r liefert. Die Bauern sind also Spezialisten in dieser Beziehung mit den Städtern und gleichzeitig Konkurrenten auf d e m städtischen Markt. Bei der Belieferung der Stadt können auch Ketten auftreten, wenn etwa Jungvieh aus der Zone 6 zur Mast in die Zonen 4, 3 und 1 weiterverkauft wird. In jeder Zone sind die Agrarbetriebe gleichartig spezialisiert. Sie bilden homogene Wirtschaftsregionen. Es treten also im Thünen Modell zwei Formen der Regionsbildung in Erscheinung. Alle Betriebe sind in das übergeordnete funktionale Gesamtsystem eingebunden. Teilmengen von Betrieben bilden aber jeweils homogene Regionen. Diese sind der funktionalen Verflechtung im Gesamtsystem untergeordnet und von diesem her zu erklären, z. B. durch das in Abb. III-7 gezeigte Gefälle der Transportkosten. Da wir nun gute G r ü n d e zu der Vermutung haben, daß wirtschaftliche Regionalsysteme grundsätzlich durch Funktionalbeziehungen konstituierte heterogene Regionen sind und homogene Regions- oder Zonenbildung eher einen Sonderfall darstellt, hat diese Erkenntnis große Bedeutung. Wo immer die formale Analyse bei marktwirtschaftlichen Systemen Ansätze zu homogener Regionsbildung aufdeckt, können wir die Existenz eines übergeordneten Funktionalsystems vermuten.

III.3.1 Veränderungen im Thünen-Modell Ein großer Vorteil einfacher Modelle liegt in der Möglichkeit, gedanklich einzelne Parameter zu verändern und Restriktionen aufzuheben und sodann die notwendigen Anpassungen der Konfiguration durchzuspielen (Lösch 1962, 37, 41; Peet 1969, 287). Sie gewinnen vielfach erst dadurch ihre grundlegende Bedeutung für die Wirtschaftsgeographie. Man kann aber auch alle Bedingungen des Modells bestehen lassen und nur versuchen, sich ein realitätsnahes Bild der Wirtschaft in den einzelnen ThünenZonen zu zeichnen. Damit soll beispielhaft hier begonnen werden. In der Zone 5 (Dreifelderwirtschaft) z. B. müssen die Agrarbetriebe über recht große Flächen verfügen, da ja extensiv bei geringen Hektarerträgen gewirtschaftet wird. Unterstellen wir die heutigen agrartechnischen Bedingungen und die Notwendigkeit von Dienstleistungen, so wird der Getreidefarmer mit Vorteil große Spezialmaschinen f ü r A n b a u und Ernte einsetzen. E r braucht diese aber nur an wenigen Tagen des Jahres. Statt selbst einen riesigen Maschinenpark zu finanzieren und das Jahr über vor sich hin rosten zu lassen, wird er eher „ O p e r a t o r e n " gegen Entgelt für solche Arbeiten einsetzen, die diese Maschinen mitbringen und von einer Farm zur nächsten weiterziehen. Was angebaut wird, hängt dann auch vom Arbeitskalender dieser Operatoren ab. Ferner wird unser Getreidefarmer wirklich nur einmal im Jahr, nach seiner Ernte, Geld haben. Für den Rest des Jahres ist er auf Kredit angewiesen. Dieses Kreditgeschäft ist für G r o ß b a n k e n zu riskant. Es ist eher von orts- und personenkundigen

Kapitel III

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

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Kleinbanken durchführbar. Farmer und Farmbevölkerung brauchen daneben auf der Input wie auf der Outputseite eine Vielzahl von Dienstleistungen und Vorprodukte. Typische, den Farmen vorgelagerte Einrichtungen sind die O p e r a t o r e n , Saatgutzüchter und Maschinenreparateure; nachgelagert finden wir Lagerhäuser für Getreide und Transportfirmen. Die lokalen Banken unterstützen die gesamte Wirtschaftsweise. Alle diese Betriebe im Umfeld der Farmen, von den Thünen mit Absicht nicht spricht, sind in der Zone der Dreifelderwirtschaft vorhanden und örtlich vergesellschaftet ( L ä p p l e 1985, 50). Das gesamte Gefüge der Zone kennt also auch die synergiebezogenen Einrichtungen, was es uns erlaubt, die Zonen als ökonomische Formationen anzusehen, die jeweils Subsysteme des Gesamtsystems sind. Das ThünenModell kennt sechs solcher Formationen im Umkreis der Stadt. Was aber ist die Stadt selbst? Sie ist mit allen sechs Formationen verbunden und bildet in Hinblick auf die Güterproduktion eine sekundäre, heterogene Agglomeration aller Einrichtungen, die des zentralen Standorts in der Gesamtregion bedürfen. Als Markt steuert sie dieses Gefüge insgesamt. Daß die Zonen Thünens eigentlich Formationen sind, wird bei Änderungen des Preisgefüges wichtig. Nach Art der Nationalökonomen hatte Thünen angenommen, daß jeder Bauer auf Preissignale sofort mit Umstellung seiner Produktion reagieren könnte. In der Realität ist dies selten bis nie der Fall, denn es würde ja zuvor eine Betriebsumrüstung nötig, die erst zu finanzieren wäre. Bei Reaktionen auf Veränderungen des Agrarpreisniveaus sind Zeitverzögerungen um mehrere Jahre zu erwarten. Die Umstellungen sind aber noch weit tiefgreifender. Bei dauerhaft sinkenden Getreidepreisen müßten in der Z o n e 5 mehrere Getreidefarmen zu einer flächengrößeren Viehranch der Zone 6 zusammengelegt werden, denn die normale Getreidefarm ist zu klein für den extensiveren Ranchbetrieb. Umgekehrt müßten steigende Getreidepreise dazu führen, daß große Ranches in kleinere, ackerbautreibende Betriebseinheiten aufgeteilt werden. Solche Reaktionen ließen sich in Nordamerika, Australien und Argentinien beobachten. Die Umwandlung der Ausrichtung der Betriebe geht jedoch niemals reibungslos vor sich, da Besitzverhältnisse, Siedlungsnetz und Infrastruktur sowie das gesamte Gefüge der Formation in funktioneller Hinsicht umzubauen sind. Solche Umrüstungen in der Landwirtschaft erfordern sehr viel Kapital, das gewöhnlich nur durch staatliche Zuschüsse und Subventionen aufgebracht werden kann. Alle Industrieländer haben die gleiche Agrarmisere. Selten nur ist das Gefüge der Agrarproduktion an die aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten angepaßt. D a die Reaktionen auf Veränderungen des Preisgefüges um Jahre bis Jahrzehnte verzögert vorgenommen werden, sind oft regelrechte Agrarreformen zur Wiederanpassung nötig. Die Einkommen der Bauern liegen weit unter dem möglichen Niveau und die Landwirtschaft insgesamt ist in der Situation der „alten Industrien". Ein Thünensystem würde also bei instabilen Preisrelationen zwischen verschiedenen Produktionsrichtungen nur sehr schlecht funktionieren.

III.3.2 Teilungen und Pioniergrenzen Ferner kann man vermuten, daß durch Preisänderungen ausgelöste Umstellungsprobleme jeweils an den Rändern der sechs Z o n e n zuerst wirken m ü ß t e n , im zentralen Streifen aber weniger dringend erscheinen werden. Diese Grenzsäume wären dann also Bereiche kulturgeographischen Wandels, erhöhter Mobilität der Ressourcen und wohl auch ökonomischer und sozialer Zerrüttung, mit anderen Worten strukturelle Krisengebiete.

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Kapitel III

A b b . III-8

Von d e r geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

Potentielle Teilungen im Thünensystem

Formal ließen sich solche Säume als „Teilungen" im Systemgefüge verstehen, womit hier ein Ausdruck aus der Planetenkunde übernommen wird. Sie wären also Gebietsstreifen, deren Zugehörigkeit zu einer Zone aus systeminternen Gründen nicht permanent sein darf, wo sich die Merkmale zweier Zonen mischen müssen oder die Merkmale keiner von beiden zur Ausbildung kommen können (Abb. III-8). Teilungen können logischerweise nur auftreten, wenn ein Thünensystem über längere Zeit kräftig im gleichen räumlichen Rahmen oszilliert. Ihrer Art nach stehen sie den grenznahen Zonen der Staaten und den Randbereichen von Stadtbezirken nahe. Bei Teilungen in Thünensystemen, die übrigens noch nie systematisch erforscht wurden, wäre ferner zu vermuten, daß dort zwei Wirtschaftsformen mit unterschiedlichen Ansprüchen um die gleichen Ressourcen konkurrieren. Der Gedanke eines systembedingten Strukturwandels läßt sich weiterführen und auf ein insgesamt wachsendes Thünensystem anwenden (Abb. III-9). Steigt die Nachfrage nach Agrarprodukten weil die zentrale Stadt wächst, so müssen sich alle sechs Zonen samt der entsprechenden Umstellungsproblematik nach außen verschieben.

A b b . III-9

Pioniergrenzen in wachsenden Thünensystemen

Kapitel III

Von der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

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Am Außenrand der 6. Zone tritt jedoch eine andersartige Erscheinung auf. Hier wird „Wildnis" zuerst Gegenstand ökonomischer Spekulation und später dann der Kolonisation. Als erste kommen gewöhnlich die Viehzüchter und als zweite Welle die Ackerbauern. An der Wildnisgrenze wird Naturlandschaft in Kulturlandschaft umgestellt. Diese Vorgänge sind rauh, ja brutal. Wald und Tierwelt, ganze Ökosysteme werden samt der darin lebenden „unzivilisierten" Vorbevölkerung hinweggefegt. Diese Kolonisations- und Pioniergrenze wandert in die Wildnis hinein solange die Nutzung des Bodens Nettoprofite verspricht. Wird diese Erwartung nicht mehr erfüllt, kommt der Vorgang zum Stehen. Turner (1920) und dann Isaiah Bowman (1931) haben die Pioniergrenzen für die USA des 19. Jahrhunderts beschrieben. Gegenwärtig gibt es wandernde Pioniergrenzen im Amazonasgebiet Brasiliens (Coy 1988, 1990), in den Wäldern von Paraguay und allenthalben sonst in Lateinamerika (Waibel 1955) wie auch in Südostasien (Pelzer 1945). Den Pioniergrenzen gegenüber der Wildnis sind die Außenränder der Stadt grundsätzlich ähnlich. Hier wird agrare Kulturlandschaft in „Stadtgebiet" umgewandelt, d.h. aus Feldern und Wiesen wird Bauland. Spekulation und Planung laufen der tatsächlichen Umwandlung voraus. Die Methoden sind am Stadtrand nicht weniger ruchlos wie in der Wildnis. Wie dort, so können auch hier große Vermögen in kurzer Zeit gemacht werden, was zu illegalen Praktiken verführt. III.3.3. Auswirkungen unvollkommener Marktorientierung Eine interessante Fragestellung betrifft die Marktorientierung der Bauern. Thünen nimmt die vollkommene Ausrichtung auf den Markt an. Was aber geschieht, wenn die Bauern nur mit einem kleinen Teil ihrer Produktion auf den Markt gehen, sonst aber zu - sagen wir 90 % - Selbstversorger bleiben. Der Anbau für den eigenen Verbrauch ist dann für sie weit wichtiger als die Marktbelieferung. Diese Bauern werden alles anbauen und züchten, was sie brauchen und zwar in jeder der sechs Zonen. Lediglich die cash-crops für den Markt können zonenspczifisch sein. Diese Orientierung ist aber nicht zwingend, weil ein Anbau von cash-crops für den Bauern nicht unbedingt rentabel sein muß, solange er ihn innerbetrieblich aus anderen Ressourcen subventionieren kann. Diese Bauern setzen eben nur einen Teil ihres Bodens oder ihrer Arbeitskraft anders ein, um ein Gut zu haben, das sie für Bargeld verkaufen können. Diese Situation ist noch heute in weiten Teilen Afrikas gegeben. Entfernungsabhängigkeiten sind hier gelockert. In der Realität ist natürlich auch die Bodenqualität nie über größere Areale hinweg gleich. Mit relief-, substrat- und erosionsbedingten Unterschieden muß sich jeder Bauer kleinräumig auseinandersetzen. Wollen die Bauern bei weitgehender Selbstversorgung Sicherheit für sich selbst haben, so werden sie bei der Wahl und Kombination ihrer Anbaufrüchte mehr an solche Unterschiede der Bodenqualität und an die Risiken der Natur denken müssen als an die Transportkosten für Marktprodukte. Damit tauschen sie die maximale Bodenrente gegen Versorgungssicherheit ein (Lösch 1962, 39). Unter diesen Voraussetzungen würden sich keine konzentrischen Ringe als Agrarformen ausbilden, sondern von Boden und Klima bedingte Landwirtschaftsgürtel, wie sie besonders deutlich in der Sowjetunion entstanden sind. Von dieser Einpassung in den Spielraum der Natur stammt die weit verbreitete Illusion her, die Landwirtschaft wäre primär von Böden und Klima abhängig und müßte sich diesen anpassen. Dies gilt jedoch nur als Grenzfall und hinsichtlich absolut limitierender Minimumfaktoren wie Frost und Bodensalz. In Mitteleuropa hatte sich eine Anpassung an die Bodenqualitäten und die Höhenlagen bei dichter Besiedlung in der frühen Neu-

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Kapitel III

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zeit ausgebildet und war mit Zeitverzögerung in der Umstellung bis nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben. Seither löst sich diese Bindung der deutschen Landwirtschaft an Naturgegebenheiten zunehmend auf. Thüneneffekte und Subventionsgelder werden wirksamer als die Landesnatur. Thünen-Konfigurationen der Bodennutzung können überdies nur dann entstehen, wenn das verfügbare Land nicht vollständig genutzt werden muß und die Bauern sich auf das leicht kultivierbare Land beschränken können. Sind die Bauern gezwungen auch die schlechteren und nicht gut meliorierbaren Lagen zu kultivieren, so wird sich eine eher feingliedrige Differenzierung der Anbauzonen verschiedener Ackerfrüchte durchsetzen.

III.3.4 Das Schnapsbrennerproblem Beschränkungen der Marktbelieferung durch zu hohe Transportkosten lassen sich umgehen. Baut ein Landwirt in der Zone 6 Getreide an, etwa weil er seinen wenigen Boden restlos ausnützen muß, so könnte er dieses nicht mit Gewinn in der Stadt verkaufen. Was aber kann er tun? Thünen (1966, 275f.) erwähnt als möglichen Ausweg das Schnapsbrennen, denn Alkohol ist weniger voluminös als Getreide und kann daher billiger in die Stadt verfrachtet werden. Dies gilt auch für einige andere Handelsgewächse, auf die er eingeht. Die Frage ist jedoch breiter zu stellen und mündet in die Veredlung agrarischer Produkte und nach den Standorten solcher Veredelungswirtschaften im Raum ein. Man kann z . B . Überschüsse der Subsistenzproduktion zu hochwertigen Produkten weiterverarbeiten, die haltbar und geringer an Volumen und Gewicht sind (Käse, Butter, Schnaps, Rosinen und andere Trockenfrüchte). Diese können dann fallweise verkauft werden. Sofern überschüssige Arbeitskraft im Betrieb vorhanden ist, lassen sich die marginalen und für die zonenspezifischen Produkte nicht geeigneten Lagen für andere Produktionsrichtungen heranziehen, wie dies besonders typisch beim Weinbau war. Es läßt sich aber auch ein Teil des Bodens für ein besonders hochwertiges Produkt verwenden, wie den Anbau von Gewürzpflanzen oder Hopfen. Die Ausrichtung auf solche Sonderkulturen und Sonderprodukte geht in den Erzeugergebieten oft auf die guten Ideen einzelner Personen zurück und hat sich dann als agrare Innovation weiter ausgebreitet, solange sich für das Produkt ein Markt finden ließ (Windhorst 1974). Damit können sich innerhalb der weiträumigen, auf betriebliche Spezialisierung zurückzuführenden Formationen des Thünensystems auch kleinere Formationsgebiete ausbilden, deren Entstchungsgrund die Innovationsdiffusion ist (Abb. 111-10). Klassische Beispiele sind ganz im Sinne Thünens die Erzeugung von BourbonWhisky in Kentucky und Tennessee und die schottischen Whisky-Formationen um Inverness und auf der Insel Islay. In Schottland ist nämlich der Gerstenbau auf podsoligen Böden weit ergiebiger als die sonst übliche Schafzucht. Doch wurde Gerste nach der Aufhebung der Getreidegesetze in Großbritannien in den Städten unverkäuflich und man hätte sich in Schottland auf eine unergiebigere Wirtschaftsweise umstellen müssen. Die Schnapsbrennerei war da ein willkommener Ausweg. Bei weitem nicht alle gedanklichen Möglichkeiten des Thüncnmodells konnten in diesen kurzen Abschnitten durchgespielt werden. Dies sollte dem Leser Anreiz zu eigenen Versuchen geben. Viele Probleme des Agrarbereichs werden mit kleinen Modifikationen der Modellannahmen erstaunlich scharf faßbar. Auch Grundfragen der Weltwirtschaft lassen sich mit seiner Hilfe interpretieren, wie dies vor einiger Zeit

Kapitel I I I

A b b . 111.10

V o n der geographischen Substanz zur funktionalen Ordnung

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Innovative Veredelungswirtschaften im Thünensystem

H.Giersch (FAZ v. 21.5.1994, 13) betont hat. Er versteht das Modell als einen Intensitätskegel der wirtschaftlichen Aktivitäten, die vom Zentrum d. h. der Stadt gesteuert werden. Daraus lassen sich Hypothesen entwickeln, die willkommene Ansätze zur Ordnung im Gewirr der geographischen Substanz liefern. Die Arbeit mit dem Thünenmodell kann also mehr Einsichten bringen als das Studium ganzer Bibliotheken.

Kapitel IV Wirtschaftliche Regionalsysteme D i e Fragen nach den Mitteln und Zielen des Wirtschaftens und die A u f g a b e , mit der Kompliziertheit o d e r besser d e r U n o r d n u n g d e r Welt z u r e c h t z u k o m m e n , haben uns zum T h ü n e n m o d e l l g e f ü h r t , das von den funktionalen Verflechtungen der Wirtschaft h e r d e r e n Strukturgefüge auch in formaler Hinsicht erklärbar macht. Damit wird ein volkswirtschaftliches Modell f ü r die G e o g r a p h i e relevant und mit deren M e t h o d e n interpretierbar. D e r „Isolierte Staat" läßt sich insgesamt als ein „Regionalsystem" bezeichnen. D e r Ausdruck entstammt d e r anglo-amerikanischen G e o g r a p h i e und w u r d e erstmals von Bartels (1968, 134) in der deutschen Literatur verwendet. Wirth (1979, 126) gibt diesem Konzept großes Gewicht, verweist aber gleichzeitig auf die noch geringe E r f a h r u n g damit. Konkret wäre das Thünenmodell als ein funktionales wirtschaftliches Regionalsystem zu bezeichnen, in welchem unterschiedlich spezialisierte Wirtschaftseinheiten an vielen O r t e n ein einheitlich gesteuertes G e f ü g e bilden. Welche Regionalsysteme dieser Art es in der Wirtschaft geben mag, bringt uns ein wenig H e r u m h o r c h e n in T h e o r i e und Praxis näher. D o r t wird von Volkswirtschaften, Gebietswirtschaften, Weltwirtschaft, Marktgebieten, A r b e i t s m ä r k t e n , Wirtschaftszon e n , Wirtschaftsgürteln gesprochen. D a n e b e n aber tragen die a n d e r e n Zweige der G e o g r a p h i e ihre Regionsbegriffe an die Wirtschaftsgeographen heran, worunter „ L a n d " und „ S t a a t " sicherlich die wichtigsten sind. Diesen letzteren gegenüber haben f ü r einen an den formalen Aspekten d e r E r d r ä u m e orientierten G e o g r a p h e n die wirtschaftlichen Begriffe der obigen Aufzählung keine reale Existenz. Z u r Lösung dieses Widerspruchs hatte Obst (1961, 534f.) sein Konzept von Wirtschaftsgauen, Wirtschaftsländern und Wirtschaftsreichen gebastelt. Dieses ist heute völlig überholt, weil G e o g r a p h e n inzwischen gelernt h a b e n , mit funktionalen R a u m k a t e g o r i e n kompetent u m z u g e h e n . B e v o r wir uns aber den wirtschaftlichen Regionalsystemen als den eigentlichen O b j e k t e n unserer Darlegung zuwenden, ist ein Blick auf die Regionsbegriffe aus physischer und Kulturgeschichte nützlich, die bereits im ersten Kapitel als Eignungsr ä u m e d e r Wirtschaft angesprochen wurden.

I Y . l Eignungsräume als Objekte der Wirtschaftsgeographie Die Frage, o b natur- und kulturbedingte G e g e b e n h e i t e n , die bisher nur unter dem R a u m - und Ressourcenaspekt betrachtet w u r d e n , geeignete Regionsvorstellungen f ü r die Wirtschaftsgeographie ergeben könnten, läßt sich nicht eindeutig zustimmend oder ablehnend beantworten. Von den naturgeographischen Aspekten o d e r vom Verteilungsmuster natürlicher Ressourcen a u s g e h e n d , lassen sich sowohl formale als auch funktionale Regionen bilden. Kontinente und g r ö ß e r e Inseln wären formale Regionen, die durch die zufällige Lage der geosphärischen Hauptgrenzen und plattentektonische Vorgänge zu erklären sind. Nur kleine Inseln lassen sich funktional als Resultanten bestimmter Kräftekonstellationen erklären wie etwa Korallenatolle, Düneninseln oder Vulkaninseln. Komplexe, h e t e r o g e n e Regionen als großräumige prozeßbestimmte Systeme finden wir in d e r N a t u r in F o r m von Gebirgen, Flußgebieten, Landschaftskatenen, V e g e t a t i o n s f o r m a t i o n e n bzw. Ökosystemen vor. Sie alle liefern im Hinblick auf mor-

Kapitel I V :

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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phologische und ökologische Fragestellungen vernünftige Regionsbegriffe. Diese sind wirtschaftsgeographisch brauchbar, wenn es um die technische Inwertsetzung einer solchen Region geht, z. B . um den Ausbau der Trinkwasserversorgung in einem Flußgebiet. Sie sind ebenfalls nützlich, wo es notwendig ist, Informationen zu sammeln und aufzubereiten und in verständlicher Weise weiterzugeben. Man muß ferner auf solche natürliche Regionen zurückgreifen, wo schwere Umweltschäden zu beheben oder wo Vorsorgen für Naturkatastrophen zu treffen sind. Davon abgesehen haben sie für die Wirtschaft wenig bestimmende Kraft. Es zeigt sich nämlich, daß wirtschaftliche Tätigkeiten in systematischer Weise über die Grenzen solcher Regionen hinausgreifen, um die Ressourcen unterschiedlicher physischer Regionen oder Ökosysteme zu kombinieren. Dies ist in der Regel ergiebiger, als sich mit den Möglichkeiten eines homogenen Naturraums zu begnügen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Grenzeffekten oder besser mit Kiemstedt (1967) von Randeffekten, weil dann die Ränder naturräumlicher Zonen die Standorte von Wirtschaftstätigkeiten an sich ziehen. D i e Strategie der Kombination unterschiedlicher Naturräume ist schon bei kleinen Einzelwirtschaften zu finden. Selbst Robinson auf seiner Insel handelte in dieser Weise. Schmithüsen ( 1 9 5 3 f . ) und viele andere Autoren versuchten, durch die Integration aller Naturfaktoren ein Verfahren der „Naturräumlichen Gliederung" zu entwickeln, nach welchem dann ganz Deutschland bearbeitet wurde. Die dort ausgewiesenen Einheiten verschiedenster G r ö ß e lassen sich aus wirtschaftsgeographischer Sicht als Eignungsräume verstehen, die man daraufhin abklopfen kann, was dort alles sinnvoll getan werden könnte ( W a g n e r , 1994, 32). Sei es, daß man dabei nur eine Tätigkeit im Auge hat, sei es daß man vielerlei Nutzungsalternativcn vergleicht oder kombiniert. Kulturgeographische Gegebenheiten aus dem nicht-wirtschaftlichen Bereich führen uns ebenfalls zu Eignungsräumen. A m besten sind uns daraus die administrativen Zuständigkeitsbezirke, kommunalen Hoheitsgebiete und die Staaten vertraut. Weniger Beachtung haben bisher Regions- und Ortsbildungen mit religiösem, sozialem, ästhetischem oder symbolhaftem Kontext gefunden, z . B . der Begriff „Heimat". Soweit staatliche Einwirkungen die Wirtschaft steuern wollen, spannen sie diese gewöhnlich über das Prokrustesbett ihrer Territorien. Derartigen sachfremden Einengungen pflegen sich Wirtschaftstreibende auf legalen oder illegalen Wegen zu entziehen. Gerade die ständig zunehmende Umgehung und Mißachtung staatlicher R e gelungsversuche in unserer Welt muß uns gegen die naive Verwendung territorialer Regionsbegriffe in der Wirtschaftsgeographie sehr mißtrauisch machen. Allerdings ist ihre Handhabung so überaus einfach, daß man sie auch wider besseres Wissen auf angewandt-praktischer Ebene als Bezugseinheiten heranzieht. Beachtung verdienen daher einige Alternativkonzepte, die vielleicht weit bessere Bezugsräume für die Wirtschaftsgeographie abgeben könnten. Relativ gut eingeführt ist bereits die kulturgeographische und raumordnerische Unterscheidung von ländlichem und städtischem R a u m , Stadtregionen, Übergangszonen und Peripherien. Stadt-Land Unterschiede sind auf allen höheren Kulturstufen anzutreffen, wobei innerhalb der Städte andersartige Verflechtungsmuster der Wirtschaft auftreten als im ländlichen Raum. Die Außengrenzen der Stadt sind wie die Grenzen gegenüber der Wildnis im Thünenmodell eine Hauptgrenze kulturgcographischer A r t , vergleichbar den geosphärischen Hauptgrenzen in A b b . 1-1. Ein sehr brauchbarer Begriff ist ferner der „Kulturkreis", der lose alle Gesellschaften und Gebiete gleicher Kulturtradition umschließt. Innerhalb der Kulturkreise finden wir sehr häufig weitgehend gleiche Lösungen für wirtschaftliche Problemstellun-

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Kapitel I V :

Wirtschaftliche Regionalsysteme

gen, sei es durch direkte Nachahmung, sei es durch analoge Formbildung aus endogenen Wurzeln, eine Frage, welche die Entwicklungstheorie bisher beharrlich ignoriert hat. Ebenso bilden sich in den Kulturkreisen verwandte Wirtschaftsstile oder Ähnlichkeiten des Wirtschaftsgeists aus. In der Kulturgeographie sind ferner „Land" und „Landschaft" wichtige Grundbegriffe. Sie werden verstanden als die Integration aller kultur- und wirtschaftsbedingten Eigenschaften der Orte und Regionen unter Einschluß der Naturgegebenheiten zu einem jeweils „einmaligen Ganzen", das sich auch als humanökologisches System verstehen läßt. Hans Bobek (1957, 142) definiert Landschaften als typische Raumeinheiten unter dem Gesichtspunkt ihrer formalen Struktur, des Wirkungsgefüges geographischer Kräfte und ihrer Genese, so daß die Gesetzmäßigkeiten ihres Aufbaus klar zutage treten. Unter Land versteht er „eine Raumeinheit nach ihrem ganzen einmaligen Wesen, unter Einschluß namentlich ihrer Größe, ihrer Lagebezeichnungen und ihres historischen Schicksals". Anschauliche Fälle der Bildung solcher Boftefc-Länder sind das Saarland in Deutschland seit dem Jahre 1919 oder das Burgenland in Österreich. Diese Einmaligkeit der Synthese unzähliger Teilkomponenten zu Ländern ist nun keine willkürliche Entscheidung der Geographen, sondern der Volksmund drückte diese Erfahrung schon immer aus. Länder werden mit einem „Namen" versehen, der in die Umgangssprache eingeht. Mitunter werden auch wirtschaftliche Umstände für solche Namensgebungen entscheidend wie etwa bei Elfenbeinküste, Pfefferküste oder Kannebäckerland, hier nach der dort verbreiteten Töpferei. Da die gleichen Formen der Namensgebung für Siedlungen, Orte und Schauplätze angewandt werden, können wir sehen, daß der Begriff „Land" im kommunikativen Raumkonzept anzusiedeln ist und Bobek-Länder nicht Untergliederungen der Geosphäre sein können. Solche Länder sind gewöhnlich durch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Bewohner gekennzeichnet. Dieses kann auf die Intensität und räumliche Ausrichtung wirtschaftlicher Verflechtungen zurückwirken. Ein solches Land wäre dann eine vernünftige Untersuchungseinheit für die Wirtschaftsgeographie. Wirtschaftstreibende werden jedoch auch hier ständig die externe Umwelt nach neuen Chancen abtasten und sich gegebenenfalls von einer solchen Einbindung emanzipieren. Wir sollten daher auch Bobek-Länder aus wirtschaftsgeographischer Sicht nur als Eignungsräume und nicht als eine höchstrangige Systemebene ansehen. Eignungsräume lassen sich schließlich in mannigfaltiger Weise ausgrenzen, wenn man wirtschaftliche Beziehungsmuster analysiert. Wir erhalten dann Begriffe wie Standortraum, Beschaffungsmarkt, Absatzmarkt und die Gebietsgliederungen, mit denen die Marktforschung und die Marketing-Geographie operieren.

IV.2 Die allgemeine Struktur wirtschaftlicher Regionalsysteme Von der formalen Seite her betrachtet, besteht ein solches System zunächst aus einer endlichen Menge verschieden ausgestatteter Standorte, die durch eine der beiden Gruppen wirtschaftlicher Beziehungen verknüpft sind, nämlich durch Leistung/Gegenleistung oder durch Konkurrenz und Ressourcenwanderungen. Ganz einfache Fälle wären das Absatzgebiet eines Unternehmens oder das Arbeitereinzugsgebiet eines Werks. Solch einfache Regionsbegriffe sind gute analytische Konzepte, die auch realen Gegebenheiten entsprechen. Natürlich sind sie weit von der durch viele Bezie-

Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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hungen auf vielen Ebenen der Verflechtung gegebenen komplexen Situation entfernt, die aber für uns ungleich wichtiger ist. Auf solcher Basis wären dann Systeme keineswegs so einfach abzugrenzen wie unser folgendes Beispiel. Abbildung IV-1 zeigt ein Regionalsystem, das aus fünf Standorten besteht (1-5). Diese unterliegen einer Steuerung durch einen Kommunikationsmechanismus, der im Ort (1) lokalisiert ist. Diese Steuerung ist nur an diesen fünf Orten wirksam. Das System wird dadurch abgrenzbar. Die Standorte 1 - 5 und ihre Verflechtungen bilden die interne Struktur des Systems.

2 - 5 Orte des systeminternen Strukturbereichs -(a)

a - i Orte des systemexternen Strukturbereichs

^ ^ /

i Abb. IV-1

Externe Umwelt n Hüllkurve des höchstrangigen Regionalsystems

1

Räumliche S t r u k t u r eines funktionalen Regionalsystems

An diesen fünf Orten treten daneben auch nicht steuerbare, gleichwohl die Verflechtungen beeinflussende Effekte auf. Sie sind Umweltaspekte des Systems und können als interne Umwelt bezeichnet werden. Typisch für solche Effekte wären die an jedem Standort denkbaren Naturrisiken oder politisch bedingten Störungen. Insgesamt ist dieses System in eine Umwelt eingebettet, die aus vielen Orten besteht. Zu einer Teilmenge dieser Umweltorte (a-i) bestünden von unserem System aus Beziehungen, etwa über den Güterabsatz. Die Orte selbst unterlägen jedoch anderen Steuerungseinflüssen und können daher nur bedingt als dem System zugehörig betrachtet werden. Sie können ein zweites, andersartiges Systemgfüge bilden. Soweit aber tatsächliche Verflechtungen mit den Orten 1 - 5 bestehen, können wir sie als externe Subsysteme ansehen, so daß neben der internen auch eine externe Systemstruktur in Erscheinung tritt. Die hier und an den nicht einbezogenen Orten auftretenden und nur selten vom System der Orte 1 - 5 beeinflußbaren Umstände sind als externe Umwelt anzusehen. Sie sind nur insoweit zu beachten, als sie das gesamte höchstrangige System betreffen, worin 1 - 5 eingebettet sind. Luhmann (1984, 36) betont zwar, daß man in die Umwelt keine Systemstruktur hineindenken sollte. Gerade dies aber kann bei wirtschaftlichen Regionalsystemen zu Fehlreaktionen führen.

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Kapitel I V :

Wirtschaftliche Regionalsysteme

Diese einfache Skizze mag zunächst genügen, um zu verstehen, daß es Grenzfälle gibt, in denen die interne Systemstruktur und die interne Umwelt so klein sind, daß sie für wirtschaftsgeographische Untersuchungen unbedeutend werden. D i e externen Systemstrukturen und die externe Umwelt sind immer sehr viel größer und komplexer als das System selbst. Für Geographen ist es leicht, in den Fehler zu verfallen, die interne Umwelt und die interne Struktur eines kleinen Systems ganz zu vernachlässigen. E b e n s o fehlerhaft ist es, die externe Umwelt und die externen Strukturen zu übersehen und ein Untersuchungsobjekt an festen Grenzen enden zu lassen, über welche nicht mehr hinausgeschaut wird. G e r a d e dies aber wird die Wirtschaftspraxis machen dürfen und müssen. Aus deren Sicht bestehen Regionalsysteme nur aus den Schauplätzen und Standorten für eigene Entscheidungshandlungen und j e n e ihrer Partner. Orte und Regionen im Sinne der Darlegung von Kap. 1-4 und 5 haben für sie keine unmittelbare Existenz. Man hat mit ihnen nicht in ihrer Gesamtheit und Komplexität zu tun, sondern nur hinsichtlich sehr selektiv wahrgenommener Aspekte. Daher wird ein Wirtschaftstreibender sich mit der Bedeutung der Einheit von Ort und Zeit und mit den Gegebenheiten von aus vielen Orten bestehenden Regionen erst auseinandersetzen, wenn e r irgendwo an deren Grenzen stößt. Und er wird sogleich darangehen, diese Grenzen durch neue Organisationsformen zu überwinden. Kapitel I V bietet anschließend einen gerafften Uberblick der Regionalsysteme als den Forschungsobjekten der Wirtschaftsgeographie auf angewandt-wisscnschaftlichcr E b e n e . Diese O b j e k t e sind in systemtheoretischer Sicht entweder ganzheitliche Erscheinungen oder wohldefiniertc Teile von solchen. Sie bilden den R a h m e n , in welchen Forschungen zu Einzelphänomenen, Prozessen, Standortmustern und Teilstrukturen letztlich einmünden müssen, da nur im Zusammenhang vollständiger Systemstrukturen eine sinnvolle praktische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse möglich ist. D e r Akteur auf der Alltagsebene wird zwar nie das gesamte Systemgefüge mit allen Einzelheiten in seinem Kopf haben, e r setzt jedoch seine Kenntnisse immer im allseitigen Zusammenhang bei seinen Entscheidungen ein. Für j e d e übergeordnete Planung ist ein Überblick über das konkrete Gesamtsystem erforderlich. Leider ist gerade dieses interessante Forschungsfeld beim derzeitigen Stand der Wirtschaftsgeographie erst sehr dürftig und ungleich abgedeckt. Vergleichende Studien zu Systemen derselben Klasse sind sehr selten. Die geographischen Entscheidungsprobleme einzelwirtschaftlicher Regionalsysteme wurden wenig beachtet. Die Ausführung dieses Kapitels sind, von einigen Hinweisen abgesehen, vornehmlich statisch und auf Zustands- und Strukturbeschreibung von Regionalsystcmen ausgerichtet. Ihre innere Dynamik soll in späteren Kapiteln systematisch beleuchtet werden. Auch dort muß vieles hypothetisch bleiben, denn die Forschungssituation ist kaum besser und ein exakter Zugriff auf echte Entscheidungssituationen in Firmen und Institutionen ist für den beobachtenden Geographen nur bruchstückhaft zu erlangen.

Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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IV.3 Eine Klassifizierung funktionaler wirtschaftlicher Regionalsysteme IV.3.1 Haushalte, Betriebe und Unternehmen M a n c h e r L e s e r m a g sich h i e r v e r w u n d e r n , d a ß H a u s h a l t e und B e t r i e b e h i e r a l s r e g i o n a l e S y s t e m s t r u k t u r e n und n i c h t als l o k a l e E i n h e i t e n a n g e s e h e n w e r d e n . In u n s e r e m S i n n e a b e r s i n d b e i d e R e g i o n a l s y s t e m e mit n u r s e h r k l e i n e r i n t e r n e r S y s t e m s t r u k t u r , d i e oft a u f e i n e n S t a n d o r t , die W o h n u n g o d e r die B e t r i e b s s t ä t t e b e s c h r ä n k t ist. D i e s e interne Systemstruktur wäre auch tatsächlich für G e o g r a p h e n uninteressant,

wenn

n i c h t die w i c h t i g e F r a g e zu b e a n t w o r t e n w ä r e , o b d e n n h i e r a u c h die j e w e i l i g e s t e u e r n d e U n t e r e i n h e i t l o k a l i s i e r t ist. E n t s c h e i d u n g e n d e r im S y s t e m a g i e r e n d e n

Men-

schen k ö n n e n oft s e h r weiträumige e x t e r n e S t r u k t u r e n b e t r e f f e n und w e r d e n

nur

d a n n v e r s t ä n d l i c h , w e n n m a n in e t w a s a g e n k a n n , wie d i e s e S t e u e r u n g f u n k t i o n i e r t . B e i H a u s h a l t e n ist die S t e u e r u n g ein P r o d u k t d e s k o m m u n i k a t i v e n

Zusammenwir-

k e n s d e r F a m i l i e n m i t g l i e d e r und e r f o l g t v o r z u g s w e i s e i n n e r h a l b d e r W o h n u n g , w e s h a l b m a n d e r e n S t a n d o r t a u c h als d e n „ M i t t e l p u n k t d e r L e b e n s i n t e r e s s e n " b e t r a c h t e t . B e i den B e t r i e b e n g r o ß e r U n t e r n e h m u n g e n wird d i e F r a g e n a c h d e r S t e u e r u n g m i t u n t e r s e h r k o m p l i z i e r t , s o w o h l im H i n b l i c k a u f die b e t e i l i g t e n P e r s o n e n u n d K a p i t a l i n t e r e s s e n , wie a u c h a u f die S t a n d o r t e b e i E n t s c h e i d u n g e n . D a s S t e u e r r e c h t v e r langt k o n s e q u e n t e r w e i s e einen offiziellen „ F i r m e n s i t z " und bei den meisten geschäftl i c h e n T r a n s a k t i o n e n m u ß ein „ E r f ü l l u n g s o r t " v e r e i n b a r t w e r d e n , um Z w e i d e u t i g k e i t e n zu e n t g e h e n . Private

Haushalte

können

nur einen

kleinen

Teil

ihrer

Lebensbedürfnisse

im

W o h n b e r e i c h erfüllen. A u s der unendlichen Fülle der u m g e b e n d e n Standorte wählen s i e e i n e k l e i n e A n z a h l f ü r w i c h t i g e F u n k t i o n e n aus z . B . f ü r A r b e i t e n ,

Einkaufen,

G e s e l l i g k e i t , E r h o l u n g . D i e V e r b i n d u n g s w e g e zwischen der W o h n u n g und diesen Verrichtungsorten beeinflussen eine Anzahl anderer, minder wichtiger Entscheidung e n ( A b b . I V - 2 a ) . A u f d i e s e W e i s e e n t s t e h t ein l o c k e r g e k n ü p f t e s e x t e r n e s R e g i o n a l s y s t e m mit d e r W o h n u n g als z e n t r a l e m S t a n d o r t . U m d i e s e g r u p p i e r e n sich in e r r e i c h b a r e r E n t f e r n u n g d i e v o r r a n g i g e n Z i e l o r t e f ü r a l l t ä g l i c h e V e r r i c h t u n g e n wie A r b e i t s p l a t z , S c h u l e , S u p e r m a r k t usw. D a s G a n z e ist f u n k t i o n a l e i n g e b e t t e t in d a s h ö h e r r a n g i g e V e r f l e c h t u n g s s y s t e m e i n e r S t a d t o d e r e i n e s G e b i e t e s , im I d e a l f a l l u n t e r E i n h e i t v o n O r t und Z e i t . D i e s e s von e i n e m

Haushalt benützte

Regionalsystem

läßt j e d o c h

alle

anderen

S t a n d o r t e dieses höherrangigen R e g i o n a l s y s t e m s u n b e a c h t e t . E s hat also einen hochgradig s e l e k t i v e n C h a r a k t e r u n d k a n n d e s h a l b mit v i e l e n a n d e r e n s e i n e r A r t

im

g l e i c h e n R a u m k o e x i s t i e r e n . N u r für d a s i n t e r n e S y s t e m ist e i n e s o l c h e K o e x i s t e n z normalerweise ausgeschlossen. D i e W o h n u n g braucht d a h e r spezielle Vorrichtungen für den K o n t a k t mit der A u ß e n w e l t

und d e m

Fremden

in F o r m v o n T ü r e n

und

Empfangsräumen. D a s S y s t e m e i n e s H a u s h a l t s w i r d S t r e ß m o m e n t e e n t h a l t e n , e t w a w e n n die Z i e l o r t e d e r t ä g l i c h e n V e r r i c h t u n g e n zu w e i t v o n e i n a n d e r e n t f e r n t s i n d ( A b b . I V - 2 b ) .

Solch

z e i t l i c h e r u n d r ä u m l i c h e r S t r e ß w i r d g e r n e d u r c h Z e i t p f a d e v e r a n s c h a u l i c h t . In d e n m e i s t e n F ä l l e n ist d e r S t r e ß für die F r a u e n g r ö ß e r als f ü r die M ä n n e r . Für die Situation d e r Haushalte a n g e m e s s e n e A n a l y s e m e t h o d e n wurden von G e o g r a p h e n m e h r m a l s e n t w i c k e l t u n d k ö n n e n i n s b e s o n d e r e im A n s a t z d e r G r u n d d a s e i n s f u n k t i o n e n g e f u n d e n w e r d e n (Bobek

1 9 4 8 ; Partzsch

1 9 6 4 ; Ruppert

&

Schaffer

56

Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

Verrichtungswege

Q)

b ) Zeit - Raum Pfade

Frau

Oh

Mann

Stadt

W = Wohnung B S K E A R F

Abb. IV-2

= = = = = = =

Besorgung/Innenstadt (Frau) Schule (Frau) Kindergarten (Frau) Einkaufen IFrau) Arbeitsplatz (Mann) Restaurant (Mann) Freizeittätigkeit (Mann)

Distanz

Schauplätze u. Verrichtungswege für einen städtischen Haushalt

1969). Ebenso hat sich die „Time-geography" nach Hägerstrand (1973) Lentorp (1976) Carlstein (1982) und Friberg (1993) sowie der „aktionsräumliche Ansatz" (Klingbeil 1977) intensiv mit solchen Fragen beschäftigt. Für Betriebe und Unternehmen halten Betriebswirtschaftslehre und Marketing ähnliche Verfahren bereit. Lenken wir den Blick aber zunächst auf einige wichtige Merkmale des internen Subsystems. Ein solches System steuert und organisiert sich selbst mittels der Kommunikation der beteiligten Menschen. Mag auch der Chef ein Autokrat sein, seine Mitarbeiter müssen doch zumindest verstehen, was er angeordnet hat. Gewöhnlich werden die Vorgänge der Entscheidungsbildung daher viel demokratischer ablaufen. Bestimmte Teile der internen Systemstruktur werden ausschließlich privat oder betrieblich, man könnte auch sagen monopolistisch genutzt. Dies gilt für Betriebsstätten, Wohnungen oder Hausgärten. Die an diesen Standorten vorhandenen Ressourcen sind dann entweder im Systemgefüge genutzt oder sie bleiben ungenutzt und wertlos, weil sie für Außenstehende nicht zugänglich sind. Systemintern gibt es eine Menge quantitativ und qualitativ exakt aufeinander bezogener Tätigkeiten. Die Freiheitsgrade der Akteure sind gering. Formale und funktionale Elemente des Systems entsprechen einander weitgehend. Diese Entsprechung wird durch den innenbürtigen Entscheidungsprozeß immer wieder neu hergestellt. Mitgliedern oder Subsystemen werden die benötigten Ressourcen nach dem dringlichsten Bedarf für bestimmte Zwecke zugeteilt. Diese Allokation geht auf den Entscheidungsprozeß zurück. Wie alle Regionalsysteme leben auch Einzelwirtschaften, wie wir als Sammelbegriff nun sagen wollen, davon, daß sie aus der Umwelt Ressourcen beziehen, diese in

Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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G ü t e r , Leistungen und geschaffene Ressourcen umwandeln, welche sie e n t w e d e r selbst konsumieren o d e r an andere Einzelwirtschaften weitergeben. Die dabei auftret e n d e n Vernetzungen wurden im vorigen Kapitel behandelt. Dies aber führt sogleich zu d e r Frage nach S t r e ß m o m e n t e n , Standorten und der Einheit von Ort und Zeit zurück. Eine kleine Einzelwirtschaft z. B. ein Haushalt kann der Frage nicht ausweichen, wie die Dascinsgrundbedürfnisse in einem begrenzten Zeitbudget untergebracht werden k ö n n e n , wenn die Standorte d a f ü r zu weit auseinandergezogen sind ( A b b . IV-2). Je kleiner der Haushalt ist und umso weniger handlungsfähige Personen er umfaßt, desto schwieriger kann dies werden. D a s Problem läßt sich durch geeignete Wohnungswahl entschärfen, womit sich der Z e i t a u f w a n d f ü r die nötige Minimalkombination reduzieren läßt. Dieser Umstand ist bei den Wohnstandortentscheidungen von Singles sehr wichtig und d ü r f t e auch bei ärmeren Haushalten oft b e d e u t s a m e r sein als der bloße Geldmangel. Z u r Verbesserung des Standortgefüges gibt es eine Reihe möglicher Strategien. Diese lassen sich a n w e n d e n , wenn m a n eine gewisse Kenntnis des ü b e r g e o r d n e t e n Regionalsystems hat. Ambulanz und U m z u g sind passive Reaktionen auf ungenügende standörtliche R a h m e n b e d i n g u n g e n . Aktive Reaktionen bestünden in einer Beeinflussung der Umwelt etwa durch W e r b u n g um A b n e h m e r o d e r durch Koalitionsbildung mit Bürgerinitiativen zur Beeinflussung der Stadtplanung. Diese Möglichkeiten sind jedoch für Haushalte und andere kleine Systeme gering. U m s o interessanter ist daher wirtschaftsgeographisch die weitverbreitete Standortteilung. D a b e i werden K o m p o n e n t e n der internen Systemstruktur ausgegliedert und an andere Standorte verlagert. Dies erfolgt bei Zweigbetrieben, Geschäftsstellen, Filialen, doppeltem Wohnsitz, Zweithaus, Urlaubsdomizil. Mit m e h r e r e n Standorten kann auf diese Weise ein diskontinuierliches Ressourcenfeld von größerer Vielfalt selektiv genutzt werden. Ein Mittelpunkt der Lebensinteressen ist bei weitgehender Standortteilung nur mehr schwer festzustellen. D e r große Vorteil eines solchen Standortnetzes liegt f ü r eine Einzelwirtschaft im Zugang zu den Ressourcen weiträumiger o d e r stark diversifizierter Eignungsräume. Die Standortteilung ist k a u m m e h r durch distanzielle Restriktionen bei K o m m u n i k a t i o n und Transfers begrenzt. Sie neigt daher bei globalen U n t e r n e h m e n zum Überschreiten aller Begrenzungen d e r nominell noch übergeordneten Systeme. D a die Umwelt einer Einzelwirtschaft quasi unendlich groß ist, sind dieser Filialisierung und auch dem Wachstum von Haushalten und U n t e r n e h m e n potentiell keine G r e n z e n gesetzt. Ihre Wachstumsorientiertheit kann stark sein, weil ja die externe Systemstruktur nicht monopolistisch organisiert ist, Einzelwirtschaften daher leicht über a n d e r e Systeme in ihrer U m g e b u n g ein Übergewicht an Macht erlangen können. Ungewöhnliches Wachstum zeigen nicht nur die heute weltweit tätigen G r o ß u n t e r n e h m e n mit m e h r e r e n h u n d e r t t a u s e n d Beschäftigten an weitverstreuten Betriebsstandorten und die bürokratischen Institutionen sondern es gab solche U n g e h e u e r auch schon f r ü h e r in der Form fürstlicher H o f h a l t u n g e n o d e r kolonialer Ausbeutungsgesellschaften. So besaß vor 1859 die British East India C o m p a n y mit „steuerlichem Sitz" in L o n d o n über 100 Millionen „firmenangehörige" U n t e r t a n e n im indischen Subkontinent. Ein solches Wachstum wird durch gesteigerte Input- und Outputbeziehungen zu i m m e r neuen O r t e n d e r externen U m w e l t erreicht. Dies kann mit einer Einverleibung solcher O r t e in das interne Systemgefüge v e r b u n d e n w e r d e n . Selbstgeschaffene Ressourcen oder Systemglieder wie N a c h k o m m e n oder Kapital tragen dazu in geringe-

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Kapitel IV:

Wirtschaftliche

Rcgionalsystcme

rem Maße bei. D a s Wachstum von Einzelwirtschaften hat daher eine ausgeprägte räumliche K o m p o n e n t e . Diese zwingt dazu, sich mit den Gegebenheiten immer neuer Orte auseinanderzusetzen. Darin liegt eine der Wurzeln der Geographie. Wie solches Wachstum sich im Erwerb der lokalisierten Ressourcen anderer O r t e niederschlägt, so schrumpft umgekehrt eine Einzelwirtschaft als Regionalsystem durch die A u f g a b e solchen Besitzes. Dieser wird meist durch Verkauf in mobile Ressourcen rückverwandelt. Mehr Wachstum bedeutet auch gesteigerte Konkurrenz um solche Ressourcen, jedoch verlassen wir damit bereits das Feld der Betrachtung von Einzelwirtschaften. Es wäre lediglich noch anzumerken, daß sich alle anderen funktionalen Regionalsysteme als Integrationen von Einzelwirtschaften interpretieren lassen. Im Rahmen der damit entstehenden Systeme sind diese aber zu neuartigen Strukturen zusammengefügt.

IV.3.2 Dorf- und Stadtwirtschaften Waren früher autarke D ö r f e r und unabhängige Stadtwirtschaften keine Seltenheiten, so sind sie durch die Ausbildung des volkswirtschaftlichen Verflechtungsmusters derart zurückgedrängt worden, daß man heute eigentlich nur noch von Modellvorstcllungen sprechen darf. Dabei sind auch die Institutionen dieser Systeme aufgelöst oder entmachtet worden. Ihre Wirkungsweise in den einstigen dörflichen und städtischen Verflechtungssystemen Mitteleuropas wird nur mehr durch historische Forschung erkennbar. Eine funktionsfähige Dorf- oder Stadtwirtschaft würde voraussetzen, daß alle Inputs ihrer Einzelwirtschaften, die lokal erzeugt und angeboten werden, auch tatsächlich vorzugsweise lokal nachgefragt werden. Eine solche Abschließung nach A u ß e n war auch früher nur bei autarken Dörfern denkbar, bei Städten niemals. Dennoch wurde auch dort gerne der Versuch einer strikten Kontrolle des Güteraustauschs gemacht und diese Denkweise hat sich später auf die volkswirtschaftliche Ebene verlagert, weil man darin ein Instrument zur Sicherung des eigenen Wohlstands und damit des eigenen Systems sah. In heutigen Dörfern ist der Anteil lokaler Wirtschaftsverflechtungen sehr gering geworden und nur in ganz großen Städten kann dieser bedeutend bleiben, weil kleinere Einzelwirtschaften dort wegen zeitlicher und räumlicher Restriktionen eher die Angebote benachbarter Anbieter in Anspruch nehmen. Zwischen Städten und Dörfern bestand früher ein wesenhafter Unterschied. Das Dorf war ein Personenverband, der gemeinschaftlich ein bestimmtes Territorium nutzte. Dessen Ressourcen wurden zum Teil privat in Wert gesetzt, zum anderen Teil dienten sie als A l l m e n d e , worauf jeder Dorfgenosse Anspruch hatte. Die Nutzungsberechtigungen waren ganz allgemein von der Zugehörigkeit zum Personenverband abhängig. Dabei konnte die Steuerung informell bleiben und eher nominell in Häuptling und Medizinmann, Pfarrer und Schulze verankert sein, ergänzt durch gelegentliche Vollversammlungen der Dorfgenossen. Für alles übrige sorgten die Verwandtschaftsbeziehungen. Nur in der Regelung des sozialen Zusammenlebens und in der Ressourcenzuteilung gingen Dorfwirtschaftcn wesentlich über Einzelwirtschaften hinaus. Solche D ö r f e r wären also homogene Agglomerationen aus gleichartigen Einzelwirtschaften zu nennen. Städte sind, bei allen äußerlichen und formalen Ähnlichkeiten der Siedlungsweise zum D o r f keine Personenverbände sondern Agglomerationen von heterogenen Einzelwirtschaften mit verschiedenartigen Spezialisierungen. D e r e n Freiheitsgrade im

Kapitel I V :

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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Verhalten sind jedoch so groß, daß ihr Zusammenwirken formaler Regelungen in Gestalt von Stadtrechten und entsprechender Formen der Steuerung bedarf. E s treten Gruppen, Schichten und Klassen mit unterschiedlichen Interessen hervor. Die Zuteilung von Ressourcen wird damit ungleich komplizierter, weil ungleiche Ansprüche bestehen und immaterielle oder geschaffene Ressourcen großes Gewicht haben. Gegenüber den Einzelwirtschaften haben Städte als Systeme eine R e i h e von Eigenschaften, die auch heute noch uneingeschränkt wichtig sind. Das System Stadt besteht z. B . aus vielen, miteinander verflochtenen Einzelwirtschaften. J e d e von diesen hat ihre spezifische aktionsräumliche Reichweite und R e gionalstruktur mit Standorten in- und außerhalb der Stadt. Die Mittelpunkte ihrer Lebensinteressen erscheinen jedoch formal in der Stadt agglomeriert. Dies gibt ihnen die Möglichkeit hier Verflechtungsmuster, Prozeßketten, Spezialisierungen und Nachbarschaftsbeziehungen oder überhaupt Handlungsabläufe unter Einheit von Ort und Zeit zu bilden. Dadurch wurden Städte dem platten Land als ökonomische Organisationsform grundsätzlich überlegen. Ein Umstand der erst in den Volkswirtschaften wieder abgeschwächt wurde. Die Spezialisierung der Einzelwirtschaften in der Stadt beruht nicht auf angeborenen persönlichen Eigenschaften und Zugehörigkeiten wie im Dorf, sondern sie ist angelernt, d. h. sozial bedingt. Den Rahmen aber bilden nicht allein die erlernbaren Fähigkeiten sondern auch der Grad der Arbeitsteilung und Ausgliederung von speziellen Funktionen. Dieser Prozeß ist in großen Städten stets rascher und umfassender als in kleinen. An den zugänglichen Ressourcen sind die Einzelwirtschaften nicht mehr nach der Dringlichkeit des Bedarfs oder der Verteilungsgerechtigkeit beteiligt, sondern nach anderen Kriterien wie Erwerbsgeschick, Besitz, Kaufkraft, Macht. Es gibt stets eine soziale Randschicht, die von Almosen lebt. Die Ressourcen einer Stadt werden nämlich vorwiegend privat genutzt. D i e Stadt behält darüber allenfalls einen selten geltend gemachten und heute überhaupt aufgehobenen Oberanspruch. Früher wurde dieser immerhin militärisch verteidigt. G e meinsam genutzt sind allenfalls noch Wälder, Gewässer und Weiden. Aus den Wegen, Plätzen und Heiligtümern wird andererseits ein allgemein zugänglicher öffentlicher B e r e i c h , der gegenüber dem privaten Bereich der Einzelwirtschaften rechtlich scharf abgegrenzt ist. Diese Aussonderung ist ein emergentes Phänomen städtischer Kulturen. Religion, Sitte und Verwandtschaft reichen in Städten nicht mehr zur Koordinierung der Tätigkeiten der Einzelwirtschaften aus. Schon der Tausch ungleicher Dinge verlangt Bewertungsmaßstäbe. Sie führen zu Tauschwerten und Tauschregeln, womit sich neben den unbewerteten internen Güterkreislauf der Einzelwirtschaften ein zweiter Kreislauf mit bewerteten Inputs und Outputs als emergentes Phänomen ausbildet, der zum Geld weiterführt. Eine besondere Verwaltung ist jedoch dafür nicht nötig. Vielmehr formiert sich in der täglichen Kommunikation im öffentlichen R a u m der „ M a r k t " , oder Agora, Forum, B a s a r , der die Rolle des Meinungen und Preise bildenden zentralen Subsystems für die wirtschaftlichen Belange des städtischen Lebens an sich zieht. Dieser funktioniert unabhängig von Kirche, König oder Gouverneur. Letztere erwiesen sich daher in unabhängigen Städten als unnötig und wurden oft durch republikanische Institutionen ersetzt.

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Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

Analysiert man gedanklich ein städtisches System, so lassen sich zwei strukturelle Segmente auseinanderhalten. Das eine beruht auf dem Gefüge von Entscheidungen und Transaktionen auf individueller bzw. einzelwirtschaftlicher Ebene. Dieses bildet die Mikrostruktur des Systems. Jede einzelne Entscheidung wird idealtypisch unter dem Gesichtspunkt des Vorteils der Einzelwirtschaft getroffen. Das andere Segment umreißt die Gestalt und Funktionsweise des Gesamtsystems. Diese Makrostruktur erwächst zwar aus den Summen aller Transaktionen der Mikroebene, liefert dieser aber zugleich den Orientierungsrahmen. Wichtige Merkmale der Makrostruktur einer Stadt sind ihre Größe, die Reichweite ihres Einflusses, das herrschende Kosten-und Preisniveau, die Funktionsweise ihrer Stcucrungseinrichtungen usw. Mikro- und Makrostruktur müssen einander in vernünftiger Weise entsprechen, wiewohl dafür Spielräume bestehen, die durch ein Hin und Her von einzelnen Anpassungsschritten aufgelöst werden. Dies deutet der Doppelpfeil in Abb. IV-3 an. Veränderungen der einen Komponente haben unvermeidliche Rückwirkungen auf die andere. Verkürzt sich z. B. die Reichweite des Einflusses einer Stadt, so kann die Zahl ihrer Haushalte sinken und die Spezialisierung der Einzelwirtschaften wird zurückgenommen.

Umweltsignale

A Wechselwirkung

Makrostruktur

A b b . IV-3

I n t e r a k t i o n von Mikro- und M a k r o s t r u k t u r

Die Einbettung von Einzelwirtschaften in städtische Systeme ändert deren Entscheidungsspielräume und Struktur. Sie führt zur Auflösung sippen- und stammesmäßiger Bindungen zugunsten der Familie im engeren Sinne, was man derzeit in den arabischen Golfstaaten sehr schön beobachten kann. Sie erlaubt andererseits die Ausgliederung spezialisierter Gewerbe aus der undifferenzierten Hauswirtschaft, läßt also Betriebe entstehen. Dorf und Stadt unterscheiden sich in höherrangigen Systemen später durch ihren Beruf. Das Dorf wird zum Ort der agraren Produktion mit den dafür unentbehrlichen Minimaleinrichtungen (Kirche, Kneipe, Kaufmann), Städte dagegen haben die Aufgabe alle Güter und Leistungen anzubieten, welche eine Kultur sonst noch hervorbringen kann. Dies setzt seit jeher eine gewisse Mindestgröße der Stadt voraus, die über dörfliche Dimensionen hinausgeht, aber von Kultur zu Kultur variieren kann. Wesensmerkmale der Städte, wie sie im Anschluß an Bobek (1938) mehrfach zusammengestellt wurden, nehmen vielfach auf diese Momente Bezug. Auch bei Dörfern und Städten lassen sich interne und externe Systemstrukturen und Umwelten unterscheiden. Der systeminterne Bereich wird gewöhnlich mit der zugehörigen Flur, dem Bannbezirk, der Gemarkung oder dem Gemeindegebiet gleichgesetzt. Diese Abgrenzung bleibt jedoch unzulänglich, weil sie einseitig auf territorialem Denken beruht. Der rechtlichen Zuständigkeit der örtlichen Körperschaft für gewisse Aufgaben steht nämlich die faktische und marktwirksame Verfügungsgewalt der Einzelwirtschaften über ihre eigenen Ressourcen gegenüber und letztere können durchaus auch in anderen Hoheitsbezirken liegen. H.Jäkel (1953)

Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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und W. Hartke (1959) haben solche Inkongruenzen an Hand des Ausmärkerproblems und dessen Folgen für die Flurbereinigung herausgestellt. Für Städte fehlen systematische Untersuchungen. Bei Städten wäre vor allem der standortteilige Außenbesitz der Bürger zu berücksichtigen, der vom Mittelpunkt der Lebensinteressen, bzw. der Unternehmensinteressen in der Stadt gesteuert wird. Daher sind die Grenzen von externer und interner Systemstruktur bei heutigen Städten sehr schwer festzustellen, weil man dazu Besitzrechte samt Nutzungsabsichten, Nutzungsansprüche der Einzelwirtschaften für Ressourcen, Beteiligungen sowie die Art, Richtung und Reichweite privater Interaktionen und geschäftlicher Transaktionen kennen müßte.

Externe

S y s t e m s t r u k t u r und llmwpli

Abb. IV-4

Diskontinuität von Dorf- u. Stadtwirtschaftcn

Man zieht zur Abgrenzung des städtischen Umlands lieber meßbare Indikatoren wie Wanderungsströme oder Einkaufsfahrten heran, die aber nur der mittleren Reichweite kleinerer Einzelwirtschaften entsprechen. Sowohl die internen wie auch die externen Ressourcenfelder von Städten und Dörfern können diskontinuierlich sein. Oft wurden Besitzungen in weit entfernter Lage von Dorfgemeinschaften für Ergänzungszwecke als Weide, Wald oder Fischgrund erworben. Solche Verhältnisse haben in Liechtenstein überlebt, wo das Gemeindegebiet von Vaduz aus fünf Teilstücken besteht (Ritter 1981a, 383). Städte erwerben heute solchen Außenbesitz als Wasserschutzgebiete oder für Flughäfen. Gelegentlich dient solches Land für Tochtersiedlungen. Vaduz hat so den Wintersportplatz Malbun aufgebaut. Bekannter ist Bremerhaven, von der Hansestadt Bremen auf einem 1827 erworbenen Landstück als Vorhafen angelegt. Die politische Flurbereinigung in Deutschland nach 1933 hat viele ähnliche Beispiele beseitigt. Was damals allen Beteiligten vernünftig erschien, müßte man aus ökonomischer Sicht als Kahlschlag betrachten. Innerhalb ihrer Ressourcenfelder stellt sich die Standortfrage für Städte und Dörfer eher in passiver Weise als Verbesserungsstrategie. Verbesserungsfähig ist insbesondere die geographische Lage über den Ausbau von Verkehrswegen. Städte können auch die Ausstattung mit menschlichen Ressourcen über das Ausbildungswesen beeinflussen oder ganz allgemein mobile Ressourcen anlocken. Daneben gibt es schon bei Dörfern zahlreiche sinnvolle Maßnahmen der intensiveren Ressourcenausschöpfung gegenüber der natürlichen Umwelt.

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Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsystemc

Bei Bedarf aber können Dörfer auch wanderungsfähig sein. Bei Wanderfeldbauern ist die periodische Verlegung der Siedlung üblich und manche Gruppen von Hirtennomaden könnten eigentlich als wandernde Dörfer betrachtet werden, wobei freilich das verbandliche Organisationselement verstärkt wurde. Wandernde Städte sind dagegen immer selten gewesen. Ein Wachstum erfolgt im Wechselspiel von Mikro- und Makrostruktur durch die Vergrößerung der Zahl der Einzelwirtschaften und der Vielfalt ihrer Spezialisierungen, sowie durch den Erwerb und die Inanspruchnahme von Ressourcen an systemexternen Orten. Systeminternes Wachstum, das Otremba als Kernwachstum bezeichnet (1969, 78), führt zu größerer Komplexität. Externes Wachstum ist gewöhnlich struktur-konservierend und kann leicht außer Kontrolle geraten. Die historisch zu Großmächten aufgestiegenen Stadtwirtschaften Rom, Athen, Venedig sind als seltene Erfolgsfälle den vielen Städten gegenüberzustellen, die sich wie Karthago, Syrakus und Palmyra durch eine derartige Politik ruinierten. Systemstrukturell gab es jedoch für eine horizontale Ausweitung der städtischen Einflußbereiche immer enge Grenzen. Nur was sich noch unter Einheit von Ort und Zeit einbeziehen ließ, konnte voll am städtischen Leben teilhaben, dies war schon ab einer Entfernung von '/i Tagesreise oder 10-15 km erschwert. Entferntere Besitzungen einer Stadt konnten der Sache nach nur kolonieartig ausgebeutete Untertanenlande sein, deren Bewohner nicht mehr zur Bürgerschaft zählten. Moderne Verkehrs- und Kommunikationstechniken haben diese Beschränkungen auch für große geographische Regionen aufgehoben, wenn auch diese Neuerungen nicht von den Städten selbst bewirkt werden konnten. Seither lockert sich die Ausrichtung der Einzelwirtschaften auf ihr Dorf und ihre Stadt zusehends. Vorleistungen und Materialien werden nicht mehr beim nächstgelegenen sondern vom billigsten Anbieter bezogen. Erzeugt wird für weiträumige Absatzmärkte. Dennoch beruht auch heute die Leistungsfähigkeit der großen Städte auf ihrem inneren Beziehungsfeld, dem bei manchen Großstädten wohl bis zu 75 % ihrer Wertschöpfung zuzurechnen sein dürften und an dem dann auswärtige Firmen vertreten sein möchten. I V . 3 . 3 Wirtschaftsgebiete und Regionalwirtschaften In allen höheren Stufen wirtschaftlicher Entwicklung nach Bobek (1959) entstehen über die Dorfsiedlungen und Städte hinaus weiträumigere Systemintegrationen. Dies scheint eine allgemeine d . h . nicht kulturspezifische Regelhaftigkeit zu sein. Die Erscheinungsformen sind außerordentlich vielfältig und die Anfänge verlieren sich in weiter historischer Ferne. Im Gegensatz zur Stadtentstehung sind sie auch archäologisch kaum nachweisbar. Gedanklich können solche Regionen am einfachsten aus einer ökonomischen Differenzierung von Siedlungen innerhalb eines Stammesgebietes oder aus der teilweisen Verselbständigung von Tochtersiedlungen hergeleitet werden. Fassen wir die Einzelwirtschaften und Siedlungen innerhalb einer Region als Orte bzw. Standorte auf, so ist es das Wesensmerkmal der regionalen Verflechtung, nicht auf einen „Ort" reduzierbar zu sein. Regionen bestehen aus mehreren, räumlich voneinander getrennten Orten. Die für wirtschaftliche Transaktionen so wichtige Einheit von Ort, Zeit und Handlung läßt sich nur durch Hilfskonstruktionen näherungsweise herstellen oder ersetzen. Alle Abläufe wirtschaftlicher Art, bei denen diese Einheiten nicht gewährleistet sind, müßten aber eigentlich als unökonomisch organisiert angesehen werden. Die Wirtschaftspraxis hat viele Konstruktionen erfun-

Kapitel I V :

Wirtschaftliche Regionalsysteme

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den, um die Nachteile solcher Situationen zu vermindern oder sie unter die G e schäftspartner aufzuteilen. Die verbreiteste Form von Wirtschaftsgebieten und Regionalwirtschaften bestehen aus einer zentralen Stadt in Verbindung mit einem weiten Umland. Wir kennen diesen Fall bereits vom Thünen-System her und können in diesem eine echte Regionalwirtschaft erkennen, denn die stadtfernen Siedlungen der Landwirte sind hier mit der Stadt eng zu einem Austauschsystem für Dienste und Güter zusammengebunden. Im Originalkonzept erstreckt sich dieses System über viele Tagesreisen Distanz. In der Praxis treten natürlich auch anderswohin orientierte Beziehungen der Landwirte auf, doch in vielen Teilen der Welt haben sie noch heute nicht die Wahl zwischen mehreren städtischen Zentren. Die in Industrieländern aktuellste Form ist die Region bestehend aus einem zentralen Ort und seinem Einzugsbcreich gemäß Christaller (1933). Hier müßte man realistisch jedoch eher von einem locker verflochtenen Wirtschaftsgebiet als von einem integrierten Regionalsystcm sprechen. Das gleiche gilt für die Arbeitsmarktregionen. Bei beiden treffen wir auch in den Industrieländern auf große Gebiete mit nur einem funktionsfähigen Zentrum, was sonst eher für Entwicklungsländer typisch ist. Wegen dieser einseitigen Ausrichtung auf nur eine zentrale Stadt bezeichnet man solche Gebilde gerne als nodale Regionen. Eine zweite Form sind hoheitsrcchtlich definierte Regionen in Gestalt von Staaten, Provinzen und Planungsdistrikten, die mit mehr oder minder trennenden Wirtschaftsgrenzen von der externen Umwelt abgesetzt sind. Wichtig ist dabei, daß der Hoheitsträger eine Zuweisung von Nutzungen an Standorte und damit eine Bestimmung der regionsinternen Arbeitsteilung vornehmen kann. Solche Gebiete sind nur dann als Regionalwirtschaftcn anzusehen, wenn der Hoheitsträger tatsächlich die Wirtschaft zu lenken versucht, nicht aber wenn er sie dem freien Spiel der Kräfte überläßt. Mit anderen Worten, nicht j e d e r Staat bildet automatisch auch eine Regionalwirtschaft, wohl aber immer ein Wirtschaftsgebiet in dem seine Gesetze lenkend wirken. Eine dritte Grundform sind nicht-nodale wirtschaftliche Verflechtungssystemc in deren Innenbereich Mobilitäts- und Austauschhemmnisse weitgehend aufgehoben sind und die eine Infrastruktur zur raschen Zirkulation besitzen. Solche Regionen können auf Teilgebiete von Staaten beschränkt sein, ganze Staaten ausfüllen oder auch über Staatsgrenzen hinausgreifen. Einfache Formen sind Siedlungsverbände, Städtebünde und „Hansen". Enger integriert sind die auf Wirtschaftsformationcn oder -zonen aufbauenden Gebiete wie das Ruhrgebiet, das Saarland, die Hallertau oder das Allgäu. Daneben stehen die aus Staaten herauswachsenden Volkswirtschaftsregionen. Letztere sind das bei weitem wichtigste Beispiel der Regionalwirtschaften, weshalb sie unten gesondert behandelt werden. In Regionen aus mehreren Orten besteht die Möglichkeit die Arbeitsteilung und Spezialisierung auf ganze Siedlungen oder Orte auszuweiten. Dies ist ein konstituierendes geographisches Moment dieses Verflechtungstyps. Dabei kann der Austausch so einfach sein, daß der eine Typus von Orten nichts von dem hat was der andere anbieten kann wie im Thünen-Modell. Neben den dort für die Unterschiede von Stadt- und Bauernsiedlungen maßgeblichen Momenten kann die regionale Arbeitsteilung auch in sozialen und politischen Umständen begründet sein. Häufig zeichnet sie die geographischen Unterschiede der Ressourcenausstattung nach, indem komparative Kosten vorteile und lagebedingte Bewertungsunterschiede maßgeblich werden. G a r nicht selten beruht diese Arbeitsteilung auch auf dem historischen Vorsprung einzelner Orte bei der Annahme von Innovationen. Derartige ökonomische

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Kapitel IV:

Wirtschaftliche Regionalsysteme

Disparitäten zwischen den einzelnen Orten einer Region sind meist sehr stabil und nicht ohne großen Aufwand zu verändern. Wegen solcher Unterschiede tritt nun gegenüber den Einzel-, Dorf- und Stadtwirtschaften ganz deutlich die Problematik der Organisation des Güteraustausches und der Ressourcenallokation durch Markt und Plan hervor. Es bildet sich innerhalb der Regionen eine dritte Art des Güterkreislaufs, der die Verschiedenheiten der Orte, d . h . ihrer Inputs und Outputs auszugleichen hat. Das Steuerungssystem der Region muß in der Lage sein, den intraregionalen Austausch wie auch die Kreisläufe auf örtlicher Ebene gegeneinander einigermaßen zu stabilisieren. Marktpreise können dabei als automatische Regler dienen. Aus geographischer Sicht müssen die steuernden und organisierenden Subsysteme nicht nur die Unterschiedlichkeit der Orte sondern auch die Distanzen zwischen diesen bewältigen. Denn wo die örtliche und zeitliche Einheit fehlt, lösen sich geschäftliche Transaktionen in Einzelschritte auf und es kommt auch zu Verzögerungen in der Reaktion der Systemglieder auf Signale und Informationen. Diese Umstände werden von einer organisatorischen Infrastruktur in Handel, Geldwesen, Kreditvergabe und von einer technischen Infrastruktur durch Transport, Lagerhaltung, Kommunikationsmedien und Zahlungsverkehr bewältigt. All diese Tätigkeiten sind als neue Spezialisierungen emergente Phänomene dieser Integrationsstufe. Zugleich läßt sich festhalten, daß die Wirtschaft nicht auf Staat und Regierung zur Steuerung von Regionalverflechtungen angewiesen ist. Es genügt die Interaktion der Kaufleute und Wirtschaftstreibenden. Eine staatliche Organisation ist aber ein stabilisierender Überbau oder Suprastruktur, der wegen seiner Kosten nicht unbedingt populär sein muß. Mit der Ausbildung von Infrastrukturen tritt zwischen die Entscheidungen der Einzelwirtschaften und die Gesamtkonfiguration des Systems ein organisierter, regionsspezifisch ausgebildeter Mittelbau, der geographisch sehr wichtig ist (Abb. IV5). Wir wollen diesen als „Mesostruktur" des Regionalsystems bezeichnen. Die Verknüpfung der Einzelwirtschaften erfolgt nun zum großen Teil nicht direkt sondern vermittels dieser Mesostruktur, die auch innerhalb der Region die Signale der steuernden Makrostruktur überallhin verbreitet. Mikrostruktur

Makrostruktur




^

K W / / / i Abtragung

— —

Bewegungsrichtung d e s S a n d e s

ESE31

< — •

Gezeitenstrom

Anschüttung

Hauptwindrichtung und Meeresströmung

=

Makrostrukturelle Verschiebung der Inselkette

Abb. V-4

Die wandernden Inseln Frieslands - ein System im Fließgleichgewieht

Fließgleichgewichte treten auch in komplexeren Systemen in Erscheinung, die ihren Energie- und Masseaustausch mit der Umwelt selbst regulieren und die Durchsätze aufrechterhalten können. Sie bilden über längere Zeiträume scheinbar stabile Strukturen, die man als dissipativ bezeichnet, weil sie ständig arbeiten müssen. Dabei werden laufend Systemelemente eingegliedert und abgestoßen, Subsysteme aufgebaut und zerstört, was in komplizierten autokatalytischen Prozessen erfolgt. Jantsch (1982, 61, 66) nennt diese Systeme „autopoietisch" oder selbstorganisierend. Ihr Fließgleichgewicht zeigt nur Oszillationen um einen mittleren oder normalen Zustand, der solange aufrechterhalten werden kann, als die Inputs für dieses Systemregime verfügbar sind.

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Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

Was tatsächlich während eines Fließgleichgewichts geschieht ist weniger klar. Kempel-Eggenberger (1993) argumentiert, d a ß in Wirklichkeit f o r t w ä h r e n d Minikatastrophen die Systemregime v e r ä n d e r n , die große Zahl der Fälle und deren gegenläufige Auswirkungen dies aber statistisch verschleiern. Fließgleichgewicht wäre d e m n a c h als Begriff ein hypothetischer R a h m e n für einen Z u s t a n d , wo sich systeminternes C h a o s nicht zu makrostrukturellen Effekten aufschaukeln kann. Dies läßt v e r m u t e n , daß negative, limitierende Rückkoppelungen in solchen System e n (vgl. A b b . V-5) vielleicht weniger Rolle spielen als erwartet, aber wo sie völlig fehlen, die G e f a h r des Entgleisens auf dem Systempfad recht groß ist. Fließgleichgewichte, mögen sie nun faktisch oder nur scheinbar bestehen, erlauben es, die Funktionsweise eines Systems zu interpretieren. Dies gilt insbesondere f ü r solche aus d e r Wirtschaft, d e r Gesellschaft und unsere Regionalsysteme. D i e bekanntesten Versuche dazu s t a m m e n von Odum, d e r seine Systeme vom Energiedurchsatz her modelliert. Was an Energie in das System einströmt, muß letztlich in irgendwelchen Senken landen. Setzt man diese S t r ö m e konstant, so läßt sich recht sauber untersuchen und nach allem fragen, was unterwegs geschieht. Für ökonomische und soziale Systeme wird dies sehr mühsam. Als Beispiel kann die nach Odums Methodik erstellte Studie über die Insel Gotland in Schweden von Zuchetto & Jansson (1985) a n g e f ü h r t w e r d e n . D a h e r ist statt der Energiesprache von Odum ein A u f b a u d e r Modelle von den G e l d s t r ö m e n her oft aussagekräftiger (Ritter 1985a). Die Entgelte sind ja die G e g e n s t r ö m e zu den höchst verschiedenartigen und schwer auf einen gemeinsamen N e n n e r zu bringenden Bewegungen von Materie, Energie, Menschen und Informationen. Abbildung V-3 ist nach dieser Überlegung konzipiert. Die Aufgaben der Analyse werden um vieles kompliziertet;, wenn die Interaktion m e h r e r e r o d e r gar vieler O r t e zu berücksichtigen ist.

V.3

Steady-state und homöostatische Einregelung

K ö n n e n Systeme mit Fließgleichgewicht ihre Inputs regulieren, so vermögen sie sich besser gegen ihre Umwelt auszugrenzen und gewinnen zusätzliche A u t o n o m i e . Negative R ü c k k o p p e l u n g e n machen es auch möglich, die A u f n a h m e von Inputs auf einen Sollwert einzuregeln. Es wird damit vermieden, die interne Systemstruktur immer wieder zu v e r ä n d e r n . Einen solchen Zustand, bei dem Durchsätze, Regulierungen und Systemstrukturen langfristig stabil bleiben, nennt Odum (1971, 16) einen „steady-state". Die Regulierung kann extern durch Fremdsteuerung o d e r durch Selbststeuerung systemintern erfolgen. Voraussetzung ist, d a ß e n t s p r e c h e n d e Sensoren vorh a n d e n sind, die eine d r o h e n d e Überlast rechtzeitig anzeigen. Bei Selbststeuerung m u ß das System eine dazu ausreichende Informationsverarbeitungskapazität besitzen. D i e meisten technischen Systeme sind f r e m d g e s t e u e r t , R o b o t e r und Lebewesen haben Selbststeuerung. In d e r Wirtschaft kann man auf beides treffen. Ein schönes Beispiel für einen natürlichen Steady-state ist die Erhaltung der Körperfunktion beim erwachsenen Menschen, ähnlich bei vielen a n d e r e n Lebewesen im Reifezustand und auch bei m a n c h e n Ökosystemen. Automatische Sensoren und Regler zeigen unabhängig von bewußten Wahrnehmungsvorgängen a n , wenn Inputs nötig werden ( H u n g e r , Durst) und in welcher M e n g e (Sättigung). Solche Systeme haben nur einen sehr kleinen Spielraum f ü r die Inputgrößen und dürfen nicht weit davon abweichen. Die Strafe wäre Krankheit. Im Falle von Störungen k o m m e n zusätzliche Regler ins Spiel, welche nach deren E n d e die Durchsatzgrößen wieder zum Sollzustand zurückführen, wie bei der G e n e s u n g nach einer fiebrigen

Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

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E r k r a n k u n g . G e l i n g t dies nicht m e h r , s o m u ß dieses System „ s t e r b e n " , d a es nicht d i e F ä h i g k e i t besitzt, seine i n n e r e S t r u k t u r drastisch v e r ä n d e r t e n G e g e b e n h e i t e n anzup a s s e n . E s ist sehr auffällig, d a ß alle h ö h e r e n L e b e w e s e n in dieser Weise h o m ö o s t a tisch reguliert sind und s t e r b e n m ü s s e n . Ist dies eine E i g e n s c h a f t , die aus i h r e r E i n p a s s u n g in das G a i a - S y s t e m resultiert? D i e s e s selbst ist v e r m u t l i c h kein System mit S t e a d y - s t a t e u n d H o m ö o s t a s i e . E s reagiert a b e r so l a n g s a m , d a ß d e m L e b e n ein solcher C h a r a k t e r d e r W e l t v o r g e g a u k e l t wird. D e r stabile, h o m ö o s t a t i s c h r e g e n e r i e r b a r e Z u s t a n d aller L e b e w e s e n ist bis auf einige Einzeller generell b e f r i s t e t . A u c h k o m p l e x e n a t ü r l i c h e Ö k o s y s t e m e s c h e i n e n n u r e i n e n b e f r i s t e t e n Z u s t a n d d e r H o m ö o s t a s i e zu besitzen. Z w a r glaubt m a n , d a ß etwa R e g e n u r w ä l d e r i h r e n reifen Z u s t a n d o d e r Klimax auch nach B r ä n d e n u n d Kahlschlägen in e n t s p r e c h e n d langen Z e i t r ä u m e n w i e d e r e r r e i c h e n , wir sollten u n s d a v o n a b e r nicht täuschen lassen. Es k ö n n e n m a n c h e A r t e n v e r s c h w u n d e n u n d a n d e r e an ihrer Stelle e i n g e d r u n g e n sein. Diese A r t d e s n a t ü r l i c h e n G l e i c h g e w i c h t s gibt es also e b e n s o w e n i g wie d a u e r h a f t e G l e i c h g e w i c h t s z u s t ä n d e in d e r W i r t s c h a f t , m ö g e n auch aus u n s e r e r Sicht die V e r ä n d e r u n g e n v o n Ö k o s y s t e m e n s e h r langsam e r s c h e i n e n (dazu Klötzli 1989; Böhmer & Richter 1996). S t e a d y - s t a t e Systeme mit R ü c k k e h r zu e i n e m spezifischen Sollzustand nach S t ö r u n gen sind in d e r W i r t s c h a f t s c h e i n b a r h ä u f i g , oft j e d o c h gewollte, falsche A n a l o g i e n zu O r g a n i s m e n . Die W ü n s c h e vieler M e n s c h e n o r i e n t i e r e n sich nämlich an U t o p i e n , welche stabile E n d z u s t ä n d e f ü r e r r e i c h b a r und e i n h a l t b a r a n s e h e n . Die T e c h n i s i e r u n g u n s e r e r U m w e l t verleitet zu d i e s e m D e n k e n , d e n n M a s c h i n e n u n d viele Organisationen sind nach diesem Prinzip k o n s t r u i e r t . A b h ä n g i g e F i r m e n u n d Z w e i g w e r k e k ö n n e n a u c h tatsächlich d a n a c h g e f a h r e n w e r d e n . Bei k o m p l e x e r e n Systemen in Wirtschaft u n d Gesellschaft b a u t sich j e d o c h bei e i n e r solchen Strategie allmählich ein V e r ä n d e r u n g s d r u c k a u f , d e r die Existenz dieses Systems in F r a g e stellt. H o m ö o s t a s i e k a n n d a n n mit s i c h e r e m T o d gleichgesetzt w e r d e n , weil sie es nicht e r l a u b t , die a k k u m u l i e r t e n Folgen d e s n o t w e n d i g e n W a n d e l s auf einmal zu bewältigen. Viele M a ß n a h m e n d e r Wirtschaftspolitik wie P r o d u k t i o n s q u o t e n , K o n t i n g e n t e , N e u e r u n g s v e r b o t e , S u b v e n t i o n e n , Kartelle u n d F u s i o n e n v e r f o l g e n gewöhnlich die A b sicht, e i n e n stabilen Z u s t a n d ü b e r die Z e i t s p a n n e seiner Nützlichkeit hinaus d u r c h d e n E i n s a t z von M a c h t zu e r h a l t e n . D i e A n a l y s e t e c h n i s c h e r u n d ö k o l o g i s c h e r S y s t e m e hat viele A u t o r e n in d e n A n f ä n g e n d e r S y s t e m f o r s c h u n g d a z u verleitet, d e r A u s b i l d u n g eines h o m ö o s t a t i s c h regulierten Gleichgewichts zu g r o ß e s G e w i c h t b e i z u m e s s e n . D i e s d r ü c k e n z . B . d i e sechs S y s t e m p o s t u l a t e v o n Chorley (Haggett 1973, 24) deutlich aus. Sie scheinen bei d e n „geschichtslosen" vorindustriellen L e b e n s f o r m e n u n d auch bei d e n s e h r g r o ß e n Städten u n d V o l k s w i r t s c h a f t e n a n w e n d b a r zu sein. Dies ist a b e r oft falsch, da auch hier das Gleichgewicht n u r d a n k vieler s e h r schnell r e a k t i o n s f ä h i g e r S u b s y s t e m e u n d d u r c h klare ö k o n o m i s c h e Sättigungsgrenzen e r r e i c h t wird. Ü b e r d i e s w e r d e n oft zug u n s t e n d e r M a t e r i e - u n d E n e r g i e s t r ö m e die E n t g e l t u n d I n f o r m a t i o n s s t r ö m e u n d d e r e n V e r ä n d e r l i c h k e i t vernachlässigt.

94

Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

V.4 Dissipative Strukturen mit Ordnung durch Fluktuation Durch Versagen d e r Selbstregulierungs- und Anpassungsmechanismen kann es in Systemstrukturen zu Entgleisungen mit zerstörerischen Folgen k o m m e n . Krebs ist eine b e k a n n t e F o r m , ausgelöst durch u n g e h e m m t e Zellteilung. Vergleichbares kann in ökonomischen Regionalsystemen a u f t r e t e n , wenn sich ein Subsystem wegen der Verstärkung seines Durchsatzes so sehr vergrößern m u ß , daß dies nur auf Kosten a n d e r e r Subsysteme oder des Gesamtsystems erfolgen k a n n . Solche Vorgänge sind aus deren Sicht unerwünscht und sie mögen auch zu starr sein, um sich anpassen zu k ö n n e n . Das expansive System wird diesen Vorgang durchaus als erwünscht und anstrebenswert betrachten, da es ja bereit und in der Lage ist, seine eigene Struktur entsprechend zu v e r ä n d e r n . Für solche Fälle eignet sich zur Interpretation die von Ilya Prigogine entwickelte Theorie der dissipativen Strukturen (Nicolis & Prigogine 1977, 1987; Jantsch 1982). Derartige Systeme werden durch das A u f t r e t e n von Expansions- und Veränderungsprozessen ü b e r ihre Kapazität hinaus nicht vernichtet, sondern sie sind in der Lage ein neuartiges Regime a u f z u b a u e n , welches d e r veränderten Situation angemessener ist. Bewirkt wird dies durch den Druck von Verstärkungsmechanismen mit positivem Feedback (Abbildung V-5), die das System auf ein neues Fließgleichgewicht zudrängen, das dann später sich durch negative R ü c k k o p p e l u n g e n einregulieren k a n n , womit die Instabilität wieder abklingt (Abb. V-6). Dazu benötigt das System im Zeitpunkt des Ü b e r g a n g s einen Überschuß an Energie, den es nicht nach dem ökonomischen Prinzip verwalten m u ß , sondern den es sozusagen verschleudern oder dissipieren darf. In d e r folgenden stabilen Phase m u ß diese E n e r g i e m e n g e dann ausreichen, um das neue Fließgleichgewicht aufrecht zu erhalten, was Lonergan (1985) als das Minimax-Prinzip bezeichnet. b)

S y s t e m s t a b i l i s i e r u n g durch n e g a t i v e

>

Rückkopplung

Input-

¡Ventil

±0

beschränkung

©

Output

iO [_Keine z u s ä t z l i c h e

Nachfrage^

© a)

Systemwandel

d u r c h positive

'

Rückkopplung

Wachsender

Durchsatz

tv-^

Input

Steigender Bedarf

Abb. V-5

Wachsende

Nachfrage

Positive und negative Rückkoppelung

Die H e r k u n f t dieser zusätzlichen Energie in wirtschaftlichen Regionalsystemen kann z . B . durch die V e r w e n d u n g bisher brachliegender Ressourcen o d e r ungenutzter Speicher besonders an Kapital und Information erklärt w e r d e n .

K a p i t e l V: S y s t e m t h e o r i e f ü r die W i r t s c h a f t s g e o g r a p h i e

Jüngeres stabiles Systemregime

Alteres stabiles Systemregime I n s t a b i l e Einsetzende Instabilität Abb. V-6

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! | | !

Ubergangsphase

P h a s e ¡ | | |

Abklingende Instabilität

D e r Ü b e r g a n g zu e i n e m n e u e n S y s t e m r e g i m e

In physikalischem Sinne sind solche S y s t e m e höchst unwahrscheinliche Z u s t ä n d e d e r M a t e r i e . Sie sind potentiell unsterblich, d a sie auf j e d e g r ö ß e r e S t ö r u n g mit i m m e r n e u e n M e t a m o r p h o s e n reagieren u n d d a n k dieser weiterexisticren. Prigogine hat d i e s als das Prinzip d e r n e u e n „ O r d n u n g d u r c h F l u k t u a t i o n " bezeichnet (Jantsch 1982, 32). N a c h u n s e r e r A u f f a s s u n g sind mit A u s n a h m e ihrer e l e m e n t a r s t e n B a u s t e i n e alle wirtschaftlichen R e g i o n a l s y s t e m e b e g i n n e n d v o n d e n H a u s h a l t e n bis zur W e l t w i r t schaft samt ihren S u b s y s t e m e n derartige dissipative S t r u k t u r e n . A u c h das I n d i v i d u u m kann mit B e r e c h t i g u n g nach diesem A n s a t z i n t e r p r e t i e r t w e r d e n , das es ja n u r biologisch eine e l e m e n t a r e Einheit darstellt, mit seinen E n t s c h e i d u n g s - u n d H a n d l u n g s möglichkeiten in a n d e r e n Bereichen j e d o c h ein sehr k o m p l e x e s System ist (vgl. Jantsch 1982, 18f.). D a h e r läßt sich das M o d e l l d e r dissipativen S t r u k t u r e n als P a r a digma für die A n a l y s e und I n t e r p r e t a t i o n von R c g i o n a l s y s t e m e n v e r w e n d e n , auch wenn h e u t e noch k e i n e Möglichkeit b e s t e h t , alle V o r g ä n g e i n n e r h a l b solcher S y s t e m e logisch abzuleiten o d e r gar die Z u s a m m e n h ä n g e zu b e w e i s e n . Ritter (1985a) u n d Reichart (1986) h a b e n quasi e x p e r i m e n t e l l v e r s u c h t , klassische r e g i o n a l g e o g r a p h i s c h e F r a g e n nach d e m A n s a t z dieser T h e o r i e zu b e h a n d e l n . Heinze & Kill (1987) w e n d e n sie auf die V e r k e h r s e n t w i c k l u n g an. A u s der a l l g e m e i n e n S t r u k t u r und F u n k t i o n s w e i s e dissipativer S t r u k t u r e n lassen sich H y p o t h e s e n zu F r a g e n ableiten, w e l c h e die W i r t s c h a f t s g e o g r a p h i e f ü r ihre O b j e k t e zu u n t e r s u c h e n h ä t t e . Ein g r o b e r R a h m e n d a f ü r w u r d e in K a p . I V schon abgesteckt. D i e T h e o r i e d e r dissipativen S t r u k t u r e n w u r d e j e d o c h von physikalischen u n d biologischen S y s t e m e n abgeleitet. Dies b e d e u t e t , d a ß ihre A u s s a g e n nicht i m m e r a n a l o g auf g e o g r a p h i s c h e F r a g e n a n g e w a n d t w e r d e n d ü r f e n . In d e r W i r t s c h a f t s g e o g r a p h i e h a n d e l t es sich d a r ü b e r h i n a u s i m m e r u m P r o b l e m e selbstreferentieller S y s t e m e , worin M e n s c h e n ü b e r die Z i e l e und d e n Sinn ihres T u n s n a c h d e n k e n . Diese E r g ä n zung w ä r e d e r e i n s t v o n d e r soziologischen S y s t e m t h e o r i e zu e r h o f f e n , d i e leider g e g e n w ä r t i g noch w i r t s c h a f t s g e o g r a p h i s c h e n P r o b l e m e n s e h r f e r n steht. In diesem Buch w e r d e n d a h e r n u r einige Schlüsselbegriffe aus dieser T h e o r i e eingesetzt, die wie K o m p l e x i t ä t , K o n t i n g e n z , E m e r g e n z u n d symbolische S t e u e r u n g U m s t ä n d e a n s p r e c h e n , die in der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i t e r a t u r noch nicht a u f t a u c h e n .

96

Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

Im f o l g e n d e n wird auf einige G r u n d f r a g e n bei d e r A n w e n d u n g d e r T h e o r i e d e r dissipativen S t r u k t u r e n e i n g e g a n g e n . Viele a n d e r e A s p e k t e w e r d e n in d e n s p ä t e r e n K a p i t e l n im k o n k r e t e n S a c h z u s a m m e n h a l t a u f g e g r i f f e n .

V.5 Einige Grundfragen bei der geographischen Anwendung der Theorie der dissipativen Strukturen D e n A u s g a n g s p u n k t soll das P o s t u l a t n e u e O r d n u n g d u r c h F l u k t u a t i o n b i l d e n . Ist die F u n k t i o n a l s t r u k t u r eines S y s t e m s infolge v o n S t ö r u n g e n , die sich d u r c h positive R ü c k k o p p e l u n g e n i m m e r w e i t e r a u f g e s c h a u k e l t h a b e n , instabil g e w o r d e n , s o e r r e i c h t d a s System e i n e n P u n k t , w o m a n nicht m e h r so w e i t e r m a c h e n k a n n wie bisher ( A b b . V - 7 a ) . H ä u f i g s t e h e n d a n n a b e r eine o d e r meist m e h r e r e A l t e r n a t i v e n zur A u s w a h l . E s k o m m t hier zu e i n e r p o t e n t i e l l e n V e r z w e i g u n g o d e r B i f u r k a t i o n d e s Entwicklungsp f a d s d e s Systems. D i e E n t s c h e i d u n g für die e i n e o d e r a n d e r e Möglichkeit wird d o r t e n t f a l l e n , w o sie b e s o n d e r s d r i n g e n d ist, d a a n d e r n f a l l s b e s t e h e n d e S t r u k t u r e n zerfallen m ü ß t e n . D i e s ist g e w ö h n l i c h auf d e r M i k r o e b e n e d e s Systems d e r Fall. D a im kritischen Z e i t p u n k t j e d o c h b e i d e A l t e r n a t i v e n gleich v e r l o c k e n d sein m ö g e n , u n d e r g o gleich wahrscheinlich sind, geben o f t zufällige I n d i v i d u a l e n t s c h e i d u n g e n d e n A u s s c h l a g , in welche d e r m ö g l i c h e n R i c h t u n g e n das System s p ä t e r t e n d i e r e n wird. D i e s e ist m a k r o s t r u k t u r e l l nicht v o r h e r s e h b a r . a)

Einfache

Bifurkation Älteres

Systemregime

Kritischer

Zeitpunkt

1 - n Alternativen die nicht z u m

. /

Zuqe kamen /

i i b)

Jüngeres /

Systemregime

/

Historische Seguenz von

Systemregimen

a-e:

Konkreter

Evolutionsweg des

Abb. V-7

Systems

Bifurkation und Sequenzen von Systemregimen

Ein kritischer P u n k t ist k e i n e s w e g s ein a u s g e p r ä g t e s Ereignis u n d wissenschaftlich selten e i n d e u t i g fixierbar. E i n e allererste n e u a r t i g e E n t s c h e i d u n g k a n n j e n e n a n d e r e r A k t e u r e als V o r b i l d o d e r A t t r a k t o r d i e n e n . Ist diese R i c h t u n g w a h r s c h e i n l i c h e r gew o r d e n u n d als T e n d e n z e r k e n n b a r , wird sie auch von d e n I n s t i t u t i o n e n d e r M e s o -

Kapitel V : Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

97

und M a k r o e b e n e wahrgenommen und eventuell unterstützt. Damit kann sie sich trotz aller Turbulenzen im System verstärken. Ein Umschwenken auf eine andere Alternative würde mit der Zeit nur mehr unter großen Mühen möglich sein. Schließlich verfestigt sich das neue Systemregime zu einen Fließgleichgewicht wie dies A b b . V - 6 andeutet. Als Ergebnis treten nach jeder Bifurkationssituation Phasen unterschiedlicher Fließgleichgewichte oder Systemregime in historischer Abfolge auf, die längere oder kürzere Dauer haben ( A b b . V - 7 b ) . Dissipative Strukturen haben also eine individuelle „ G e s c h i c h t e " . Was bedeutet dies in wirtschaftsgeographischer Sicht? Beim Vorherrschen eines Systemregimes sucht man für die in dieser Phase sich bildenden Funktional- und Formalstrukturen intern und extern nach einer möglichst weitgehenden Entsprechung, wofür man auch Harmonie sagen kann. D e m steht aber entgegen, daß in einer Fluktuation vornehmlich die Funktionale zerstört und neu aufgebaut werden. Die Formale sind weniger wandelbar und bleiben bestehen. Infolgedesssen schleppt jedes Regionalsystem seine Geschichte in Gestalt „veralteter" Strukturen mit sich weiter. Zwar wird diese Altsubstanz sukzessive beseitigt, vielfach kann sie aber auch den neuen Funktionen so schlecht und recht provisorisch dienen. Ist die Fluktuation abgeklungen und muß das System mit seiner Energie haushalten, wird man Umbauten immer weniger vornehmen wollen. Man kann diese Altsubstanz nun nicht aus dem bestehenden Systemregime her erklären, sondern nur aus dem vorherigen und den bereits vergangenen. Für Geographen ist dies von fundamentaler Bedeutung, da ihre Forschung und Interpretation j a meist bei den Formalen ansetzen muß. Das Vorhandensein noch genutzter Altsubstanz kann dann leicht zu grundfalschen Schlußfolgerungen führen, wenn man sie irrtümlich für rezent hält. Wirtschaftsgcographische Forschung, die Regionalsysteme erklären will, braucht eine gewisse historische Tiefe, zumindest bis in die vorherige Systemphase hinein. Zugleich engt natürlich jede Altsubstanz bei neuen Entwicklungen des Systems die möglichen Alternativen ein. Es bestehen Sachzwänge oder Kosten, die man vermeiden will. Akteure der Mikroebene versuchen die Verantwortung für Umgestaltungen auf die Makrostruktur des Systems abzuschieben. Diese reagiert mit der Einrichtung negativer Rückkopplungen, welche eine neue Entwicklung schon stabilisieren können, bevor sie entscheidend zum Durchbruch gekommen ist. Was geschieht, wenn ein System zwar an einem kritischen Punkt anlangt, sich aber keine neuartigen Alternativen bieten oder kein Ressourcenüberschuß dafür vorhanden ist. Prigogine stellte fest, daß seine physikalischen Versuchsanordnungen dann in Richtung auf den vorherigen kritischen Punkt zurückkrebsen. Dies allerdings nicht genau auf dem gleichen W e g , den sie vorher genommen hatten. Dieser Unterschied wird Hystereseeffekt genannt, was Jantsch ( 1 9 8 2 , 85) in anschaulicher Vereinfachung behandelt ( A b b . V - 8 ) . E i n e Entsprechung ist bei wirtschaftlichen Regionalsystemen zu erwarten, wenngleich es nicht sehr wahrscheinlich erscheint, daß Menschen einen solchen Vorgang ablaufen lassen, solange sie irgendwelche besseren Möglichkeiten sehen. B e i seiner Untersuchung von Qatar stieß Ritter (1985a, 158, 173) auf ein belegbares Beispiel. In diesem Lande hatte sich nach 1860 dank der Perlentaucherei eine einfache, aber relativ aufwendige Wirtschaftsstruktur ausgebildet und in der Boomphase nach dem Ersten Weltkrieg weiter verfeinert. Sie mußte in eine Phase der Rückbildung übergehen, als das Perlengeschäft nach 1930 in eine anhaltende Krise geriet.

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Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

Kritischer Punkt

/

Alternativer /

Vorangehendes

Pfad

Systemregime

/

Revolutionärer Ausweg Blockade des Entwicklungspfads

Abb. V-8

Rückcntwicklung und Hysterese

D a s L a n d verlor j e n e E i n k ü n f t e , mit d e n e n es seine bisherige S t r u k t u r a u f r e c h t e r h a l t e n h a t t e . D i e B e v ö l k e r u n g s z a h l sank d u r c h A u s w a n d e r u n g w i e d e r auf j e n e s N i v e a u , d a s g e r a d e n o c h e r n ä h r t w e r d e n k o n n t e . S o w o h l die P e r l e n w i r t s c h a f t u n d d i e G e w e r b e wie auch die bereits e n t s t a n d e n e n S t ä d t e v e r f i e l e n . Sogar die staatliche O r d n u n g b e g a n n sich a u f z u l ö s e n , d a die B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n in ihrer N o t w i e d e r u n a b h ä n g i g agieren mußten. Die R e i h e n f o l g e d e r A u f l ö s u n g dieser S t r u k t u r e n w a r in e t w a u m g e k e h r t , wie die i h r e r f r ü h e r e n E n t s t e h u n g . D i e erst nach 1915 g e b i l d e t e staatliche O r g a n i s a t i o n geriet schnell in e i n e b e d r o h l i c h e Krise, widerstand d a n n a b e r u n t e r britischem S c h u t z bis z u m E i n s e t z e n d e r E r d ö l e i n k ü n f t e . Pcrlcnwirtschaft und G e w e r b e gingen rasch zur ü c k , w o g e g e n die B e v ö l k e r u n g langsamer s c h r u m p f t e und die S t ä d t e ihren T i e f p u n k t erst u m 1950 e r r e i c h t e n . D a n k seiner Kleinheit ist Q a t a r ein leicht zu s t u d i e r e n d e s O b j e k t . In k o m p l e x e r e n R e g i o n a l s y s t e m e n w ü r d e n sich solche H y s t e r e s e e f f e k t e n u r bei e i n g e h e n d e r historischer U n t e r s u c h u n g e r k e n n e n lassen. In s e l b s t r e f e r e n t i e l l e n S y s t e m e n ist im G e g e n satz z u r N a t u r d a n e b e n mit r e v o l u t i o n ä r e n A u s w e g e n zu r e c h n e n , die in A b b . V - 8 n u r a n g e d e u t e t w u r d e n . So h ä t t e n gleich zahllosen a n d e r e n V ö l k e r n im L a u f e d e r G e schichte die Q a t a r i s eine A r m e e f o r m i e r e n u n d N a c h b a r l ä n d e r e r o b e r n k ö n n e n , wär e n sie d a f ü r nicht zu schwach gewesen u n d d u r c h die britische O b e r h e r r s c h a f t d a r a n gehindert worden. W i e s o a b e r k ö n n e n s o g a r physikalische Systeme o h n e N e r v e n u n d Hirn „ e r i n n e r u n g s f ä h i g " sein u n d zu i h r e n f r ü h e r e n Z u s t ä n d e n z u r ü c k f i n d e n ? D i e s ist m ö g l i c h , weil in ihrer S t r u k t u r ä l t e r e Z u s t ä n d e in S u b s y s t e m e n v e r k ö r p e r t w e i t e r b e s t e h e n . Ä h n l i c h ist e s ja a u c h mit d e r E r i n n e r u n g kultureller A r t f ü r die M e n s c h h e i t . D i e s e b e r u h t nicht allein auf d e m G e d ä c h t n i s i n h a l t d e r l e b e n d e n M e n s c h e n , s o n d e r n ist in B ü c h e r n , M u s e e n , I n s t i t u t i o n e n , Bauten bis hin zu d e n M y t h e n u n d M ä r c h e n v e r k ö r p e r t . Gleichzeitig sind diese I n f o r m a t i o n s s p e i c h e r S t r u k t u r k o m p o n e n t e n im S y s t e m , welche seine Z u k u n f t m i t b e s t i m m e n . In d i e s e m Sinne spielt die Altsubstanz u n s e r e r Systeme e i n e wichtige R o l l e . In w i r t s c h a f t l i c h e n R e g i o n a l s y s t e m e n mögen 90 % und m e h r d e r S t r u k t u r e n a u s f r ü h e ren S y s t e m r e g i m e s s t a m m e n . In einem U n t e r n e h m e n nach e i n e r u m f a s s e n d e n R e o r g a n i s a t i o n m ö g e n es auch n o c h 4 0 - 5 0 % sein, d a m a n j a nicht die g e s a m t e B e l e g s c h a f t k ü n d i g e n u n d alle A n l a g e n verschrotten w i r d wollen.

Kapitel V: Systemtheoric f ü r die Wirtschaftsgeographie

99

Für die Erklärung der Funktionsweise solcher Systeme soll man auf das Modell von Mikro-, Meso- und Makrostruktur zurückgreifen. Dieses läßt sich nunmehr vervollständigen und zugleich in seiner Aussagekraft verstärken (Abb. V-9).

Abb. V-9

Allgemeines Modell eines Regionalsystems

Wie schon erwähnt, wird die Mikrostruktur des Systems durch Handlungsentscheidungen auf einzelwirtschaftlicher Ebene gebildet. Diese sind im Rahmen eines bestimmten Systemregimes so geordnet, daß „die Kontingenz der Handlungsalternativen auf ein handhabbares Maß beschränkt" wird (Willke 1982, 18). Treten Fluktuationen (a) auf, so entstehen schnell nicht wie üblich bewältigbare Situationen. Die Mikrostruktur, die ja die Gesamtheit der Lebensumstände der Individuen mitumschließt, wird damit zum Sensor und zugleich zum Opfer auftretender Fluktuationen. Die Makrostruktur ist das vom Durchsatz des Gesamtsystems bestimmte Gefüge nach G r ö ß e , Form, Steuerungsweisc und Organisation. Sie ist Ausdruck der längerfristigen Erfordernisse zur Erhaltung des Systemregimes. Entscheidungsmechanismen auf der Makroebene sind formalisiert und langsam, sie können daher kaum auf plötzliche Störungen reagieren. Zwischen Mikro- und Makrostruktur besteht eine determinierende Wechselbeziehung (b), durch welche Handlungsabläufe reguliert und die Funktionsfähigkeit der Steuerung gesichert werden. Tritt nun eine Fluktuation oder Störung (a) auf, so wird sie auf der Mikroebene sofort wirksam und es passen die notwendigen neuen Entscheidungen nicht mehr mit den fest regulierten Handlungsabläufen zusammen. Deren Anpassung wird jedoch durch Rechtsnormen und andere unzeitgemäße Formalelementc behindert. Diese müßten auf den Druck der Einzelwirtschaften hin verändert werden. Selten wird eine solche Veränderung aber sofort alle Probleme der Mikroebene lösen. Vielmehr wird sich erst nach einigem Hin und Her eine neue Entsprechung einspielen. Diese Zusammenhänge entsprechen dem Kern der Strukturationstheorie nach Giddens (1988, 228). Fluktuationen und Störungen können systemintern oder systemextern verursacht sein, etwa durch neuartige Lebensanschauungen der Menschen, Verhaltensmuster oder technische Ideen, die aus der internen Umwelt kommen (Pfeil c). Externe Fluktuationen können durch Aktionen anderer Regionalsysteme ausgelöst werden und sind dann eventuell prognostizierbar. Den mühsamen Prozeß der wechselseitigen Neugestaltung der Beziehungen (b) versuchen Institutionen der Makrostruktur (Regierung) gerne zu vermeiden, indem sie bei systeminternen Fluktuationen diese auf dem Wege einer negativen Rückkoppelung einfach verbieten oder drosseln (Pfeil d). Gelingt dies aber nicht, so verfällt das System in einen chaotischen Zustand, in dem „nichts mehr geht", also keine Regelungen von Seiten der Makrostruktur mehr greifen.

100

Kapitel V: Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

A u s einem solchen Chaos und der Auflösung des f r ü h e r e n Funktionalregimes kann über einen Bifurkationssituation (e) unter U m s t ä n d e n wieder ein neues Systemregime e n t s t e h e n . „ O r d e r through fluetuation" nach Prigogine heißt, daß das System durch einen chaotischen Zustand hindurch zur neuen O r d n u n g finden muß. Wirtschaftliche Regionalsysteme sind durch das A u f t r e t e n von Mesostrukturen charakterisiert. Wir finden diese in Gestalt von U n t e r n e h m e n verschiedenster G r ö ß e und Organisationsform, von Institutionen unterhalb der Regierungsebene, Verkehrst r ä g e r n , G e b i e t s k ö r p e r s c h a f t e n , Wirtschaftsformationen, Branchenorganisationen und generell Subsystemen aller A r t . Sie k ö n n e n mehrfach in hierarchischen Entscheid u n g s e b e n e n gestaffelt sein, wie dies f ü r Verwaltungen gilt. Alle diese Subsysteme sind vielfältig vernetzt und haben ihren eigenen Aktions- und Veränderungsspielr a u m . Namentlich die größeren unter ihnen können durch vorgehaltene Kapazitätsreserven einen Teil der Veränderungswünsche d e r Mikroebene absorbieren o d e r durch flexible R e a k t i o n e n d ä m p f e n , ohne d a ß sogleich eine wechselseitige A n p a s s u n g durch neue Einrichtungen nötig wird (f). In gleicher Weise wirken sie gegenüber d e r M a k r o e b e n e . Diese Mesostrukturen geben einem Regionalsystem trotz des d a u e r n den A u f t r e t e n s von Fluktuationen im System und einer nur unvollkommenen Wirksamkeit der Steuerung eine bemerkenswerte Beständigkeit, die man häufig als Metastabilität bezeichnet. Ü b e r g ä n g e zu einem neuen Systemregime sind daher gleich vielen anderen V e r ä n d e r u n g s p h ä n o m e n e n in kleinen Regionalsystemen häufiger und auch besser zu beobachten. Die Reaktionswege großer Strukturen sind sehr langwierig und sie vermögen es a u c h , sich gerade dank ihrer tiefgestaffelten Mesostrukturen gegen Störungen von außen zu immunisieren. Die U S A laufen seit über 140 J a h r e n , Frankreich sogar seit fast 300 Jahren auf einem im wesentlichen gleichbleibenden Entwicklungspfad, d e r immer wieder restauriert werden konnte. Für Deutschland erscheint der Ausgang des Z w e i t e n Weltkriegs als der Höhepunkt einer verändernden Fluktuation. Ihr kritischer P u n k t wäre aber wohl schon vor 1930 zu suchen. Das im Z u g e des Wiederaufbaus gebildete n e u e Systemregime hat inzwischen manche Stürme überdauert und viele V e r ä n d e r u n g e n verarbeitet. Es wird seit 1989 von einem bisher unverarbeiteten Teil d e r Störungsfolgen eingeholt. Als vorausgehendes Systemregime ist die Zeit von der Industrialisierung bis nach der Weltwirtschaftskrise anzusehen. Ein einfaches Regionalsystem ohne wesentliche Mesostrukturen muß sozusagen auf j e d e n Windhauch mit einem neuartigen Regime reagieren. Ritter hat (1985a, 148f.) ein solches am Beispiel eines Beduinenstammes in d e r Wüste gezeigt. D ü r r e n oder Viehseuchen k ö n n e n solche Stämme sehr schnell zwingen, aus ihrem Weidegebiet „ a u s z u w a n d e r n " . Faßt man das N o m a d e n t u m als dissipative Struktur, so läßt sich das V e r h a l t e n der Leute in solchen Situationen weit besser erklären als mit d e r T h e s e , es w ü r d e sich hier um eine Form der A n p a s s u n g der Menschen an die karge Landesnatur h a n d e l n . In d e r Tat versuchen auch Beduinen ihre Lebensbedürfnisse maximal zu befriedigen. Sie agieren d a h e r weitab von jedem Gleichgewicht mit der N a t u r . Für den U m g a n g mit Regionalsystemen wird im R a h m e n der G e o g r a p h i e freilich auch die M a ß s t a b s f r a g e wichtig. Mikro-, Meso- und Makrostrukturen sind unterschiedlich zu interpretieren, je nachdem o b große o d e r kleine Systeme untersucht w e r d e n sollen, o d e r ob es sich um Subsysteme handelt. Neumeister (1989, 119f.) bringt dazu einen methodischen Ansatz ü b e r den Begriff d e r F o k u s e b e n e , also des A n a l y s e r a h m e n s d e r jeweiligen Untersuchung. Dieser ist die Steuerungsebene gegenüberzustellen. Die Steuerungsimpulse k ö n n e n von einem übergeordneten Regionalsystem ausgehen und sind dann nicht auf das Gebiet des untersuchten Systems spezifisch ausgerichtet, o d e r sie entstehen im G e f ü g e der F o k u s e b e n e selbst. Im letzteren

K a p i t e l V : Systemtheorie für die Wirtschaftsgeographie

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Fall werden sie arealkongruent, genau auf dieses Gebiet bezogen wirken. Die Subsysteme sind dann jene Komponenten, welche die Eigenschaften der Fokusebene bestimmen. Eine geographische Anwendung der vielen Ansätze der Theorie der dissipativen Strukturen ist meist heute noch nicht möglich. Sie müssen dazu erst räumlich interpretiert und an einfachen Beispielen auf ihre Anwendbarkeit und Relevanz überprüft werden. Dies betrifft z. B. die von Prigogine (1985) in einem Aufsatz angesprochenen Überlegungen zu den Auswirkungen sukzessiv auftretender Bifurkationen in Subsystemen, wodurch Teile des Gesamtsystems auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert werden, ohne dessen makrostrukturellen Zusammenhalt zu zerstören. Dies wird dort primär für die biologische Entwicklung von Lebewesen gesehen. Doch wie wichtig könnte eine Theorie dieser Art für das Problem der Strukturbildung im Rahmen von Volkswirtschaftsregionen werden.

Kapitel VI Mikro- und Mesostrukturelle Dynamik in wirtschaftlichen Regionalsystemen Wie Regionalsysteme funktionieren wurde in den vorherigen Kapiteln immer n u r kurz a n g e d e u t e t . In den beiden folgenden Abschnitten sollen die wichtigsten dynamischen Vorgänge systematisch untersucht w e r d e n . Dabei ist der Bereich d e r alltäglichen, normalen Verrichtungen wie Handel, Produktion, Organisation, S t e u e r u n g , K o n s u m und R e p r o d u k t i o n abzusetzen von den außerordentlichen Vorgängen wie Investition, Innovation, Katastrophen und Z u s a m m e n b r ü c h e n . Die ersteren b r a u chen nur kurz beleuchtet zu werden, da sich mit ihnen die Betriebswirtschaftslehre und die N a t i o n a l ö k o n o m i e mit all ihren Spezialdisziplinen befassen.

VI.l Geographische Aspekte des wirtschaftlichen Alltags Grundsätzlich müssen in allen wirtschaftlichen Regionalsystemen die normalen Funktionsprozesse sichergestellt sein, so daß die menschlichen Bedürfnisse in ausreichendem U m f a n g gedeckt werden. Sofern dies der Fall ist, werden die wirtschaftlichen A b l ä u f e auch keinen besonderen Verdrängungsdruck auf die Strukturen des Systems ausüben und wir k ö n n e n als normal bezeichnen, für welche dies gilt. Das heißt a b e r auch, d a ß diese Systeme gerade für oder durch solche Prozesse geschaffen w u r d e n , und d a ß für jeden einzelnen Teilprozeß die entsprechenden Strukturelemente in ausreichender Anzahl und Kapazität zur rechten Zeit und am rechten Ort bereitstehen. U n t e r diesen Voraussetzungen ist die Wirtschaft ein G e f ü g e sich ständig e r n e u e r n d e r Kreisläufe, die zueinander im Gleichgewicht sind. Freilich sind die Maßstäblichkeit und die Periodizität d e r Prozeßabläufe hier zu beachten. F ü r eine junge Familie ist die A n k u n f t eines neuen Erdenbürgers sicherlich das einschneidenste und außergewöhnlichste Ereignis und wird alles im Haushalt ä n d e r n . D e n n o c h m a g dieses kleine System gerade in Erwartung eines solchen Ereignisses geschaffen worden sein und alle ü b e r g e o r d n e t e n , größeren Systeme betrachten dieses als normal. Die A n n a h m e einer optimalen gegenseitigen Anpassung von Prozessen und Strukturelementen ist sichtlich irreal, denn sie w ü r d e ein System im Steady-state voraussetzen. U n s e r e Wirtschaftsregionen sind dies nicht und können es auch nicht sein, weil ständig und von allen Seiten verändernde Umwelteinflüsse auf sie einwirken. Mit jeder dieser Einwirkungen bilden sich unvermeidlich an anderen Stellen des Systems Unzulänglichkeiten und Engpässe. Der übliche Ausweg sind eingebauten Kapazitätsreserven, Freiheitsgrade bei Entscheidungen und Spielräume bei d e r Bewertung von Ressourcen. N e b e n den Alltagsgeschäften und den E n g p a ß p r o b l e m e n gehören zu den normalen Funktionen u n s e r e r Regionalsysteme die Steuerung, Organisation und Kontrolle, d e r räumliche T r a n s f e r von G ü t e r n , Personen und Nachrichten, die Erstellung und d e r Verbrauch wirtschaftlicher Leistungen aller A r t und schließlich auch die Erzeugung von n e u e m Wissen und neuen Techniken, o h n e die man mit den Freiheitsgraden und Spielräumen der Systeme nicht zurechtkommen könnte. Im Idealfall funktioniert ein solches System d e r a r t , daß an jedem seiner O r t e die dort a u f t r e t e n d e n Bedürfnisse der Menschen gedeckt werden und d a ß die Ressourcen

Kapitel V I : Mikro- und Mcsostrukturcllc Dynamik

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aller Orte so genutzt werden, daß überall auch die zur Bedürfnisbefriedigung erforderlichen Einkommen entstehen. Dies erfolgt über regionale, lokale und betriebsinterne Kreisläufe, die aufeinander abgestimmt sind in verkoppelten Subsystemen, wie sie in Kap. III/2 geschildert wurden. Solche Gefüge sind relativ einfach, wo die Einheit von Ort und Zeit gewährleistet bleibt. Wir haben wenig Grund uns mit diesen Fällen zu befassen, die j a auch Gegenstand ökonomischer Modellbildung sind. Was aber geschieht mit Arbeitsteilung und Spezialisierung, wenn diese Einheit gebrochen ist, wie es der heutigen Realität in Volkswirtschaftsregionen entspricht.

VI.1.1 Der Bruch der Einheit des Ortes Die Gcschäftsabläufe als Elemente der Mikrostruktur unserer Systeme sind keine einfachen Akte, sondern komplizierte Pakete von Entscheidungen und Bewegungen in zeitlich festgelegter Reihenfolge. Wir bezeichnen so etwa heute gewöhnlich als Programm. Diese Programme folgen vielfach formal bereits vorstrukturierten Ablaufbahnen, wobei sie bestimmte Orte berühren müssen. Wesentliche Innovationen der Wirtschaft sind gewöhnlich mit der Neuorganisation dieser Ablaufprogrammc verbunden. Letzteres konnte man z. B . sehr schön bei der Einführung des Containertransports vor 20 Jahren erleben. Die technische Bewältigung dieser Innovation war weit einfacher als die organisatorische mit der Neugestaltung der Transportketten und der rechtlichen Voraussetzungen ( F r a n z & Siemsglüss 1981; Marcinowski 1981). Ein unter Geographen wenig bekannter Aspekt der Geschäfte ist der Erfüllungsort. Dies heißt, daß einer oder mehrere Plätze festgelegt sein müssen, an welchen die von der verbindlichen Einleitung des Geschäfts bis zu seinem rechtsgültigen Abschluß maßgeblichen Handlungen gesetzt werden. Nur in den einfachsten Fällen können diese Akte im persönlichen Zusammentreffen von Käufer, Verkäufer und Ware unter Einheit von Ort, Zeit und Handlung erbracht werden. Ist ein solches Zug-um-Zug-Gcschäft nicht herstellbar, so setzt sich das Ablaufprogramm aus Teilschritten an mehreren Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten zusammen. Die Festlegung von Erfüllungsorten wird dann sehr wichtig. Bekannt sind in diesem Zusammenhang die beiden Klauseln „fob" und „eif" in Geschäftsverträgen. Fob (free on board) heißt im Überseegeschäft, daß der Verkäufer seine Verpflichtungen erfüllt hat, wenn er die Ware im Verschiffungshafen über die Reeling des Schiffs gebracht hat. Natürlich in vereinbarter Menge, Qualität und Verpackung. A b diesem Ort und Zeitpunkt trägt der Käufer alle Kosten und Risiken und ist zur Bezahlung verpflichtet. Äquivalente Vereinbarungen gibt es bei allen Geschäften mit Klauseln wie „ab Werk, ab Lager" u. ä. In Selbstbedienungsläden gilt praktisch „ab Kassa". Im Grunde sind alle Transaktionen, bei denen der Käufer die Ware abholt oder eine Leistung am Standort des Verkäufers in Anspruch nimmt fob-Geschäfte. Cif (cost, insurance, freight) bezeichnet die umgekehrten Relationen. Der Verkäufer bringt die Ware auf seine Kosten und sein Risiko in den überseeischen Empfangshafen und hat seine Leistung erfüllt, wenn die Ware beim Löschen über die Reeling auf den Kai gehievt wurde. Damit erst wird der Käufer zahlungspflichtig. Cif-Konditionen liegen bei Klauseln wie „frei Haus; frei Bahnhof; Lieferung per Nachnahme oder gegen Zahlungsziel" usw. vor, also bei allen Geschäften, bei welchen Waren oder Leistungen an den Wohn- oder Betriebsstandort des Käufers gebracht werden.

104

Kapitel V I : Mikro- und Mesostrukturelle Dynamik

Michael

Chisholm

(1966, 1 6 3 f . ) hat sich mit den geographischen

Auswirkungen

solcher Klauseln beschäftigt. E r untersucht sie hinsichtlich des Standortwahlverhaltens d e r Geschäftspartner. B e i f o b - P r e i s e n ist es f ü r den K ä u f e r günstig, d i e N ä h e seiner L i e f e r a n t e n zu suchen. F o b - P r e i s e haben also geographisch den gleichen E f f e k t w i e die V o r k o m m e n lokalisierter

Ressourcen. Im R o h w a r e n g e s c h ä f t mit Ü b e r s e e führen sie zur

A u s b i l d u n g von Handelsstützpunkten an V e r s c h i f f u n g s p l ä t z e n . D i e V e r k ä u f e r dagegen t e n d i e r e n zur räumlichen Streuung ihrer Standorte g e m ä ß den T h e o r e m e n v o n Lösch. Zustellpreise

(cif-Konditionen)

erlauben

dem

Käufer

mehr

Freiheiten

seines

Standorts. D i e s e r darf aber nicht so entlegen sein, daß der V e r k ä u f e r auf eine B e l i e f e r u n g verzichtet. C i f - K o n d i t i o n e n begünstigen eine K o n z e n t r a t i o n der A n b i e t e r in der g e o g r a p h i s c h e n M i t t e eines M a r k t g e b i e t e s , da von dort aus die S u m m e aller V e r s a n d k o s t e n a m geringsten sein wird. D i e s wirkt noch stärker, w o f ü r g e l i e f e r t e W a r e ein Einheitspreis verlangt wird, in den der V e r k ä u f e r die V e r s a n d k o s t e n bereits nach e i n e m Durchschnittssatz berücksichtigt hat. E r f o l g t aber der V e r s a n d seinerseits zu Einheitstarifen, etwa per P o s t , s o sind K ä u f e r und V e r k ä u f e r in ihrer Standortwahl v ö l l i g f r e i . M e s o s t r u k t u r e l l e A u s w i r k u n g e n der Preiserstellung spricht Ritter

(1994, 4 9 f f . ) am

Beispiel des frühneuzeitlichen G e w ü r z h a n d e l s an. D a die E u r o p ä e r sich in e i n e m Verkäufermarkt

b e f a n d e n , mußten sie F o b - B e d i n g u n g e n

akzeptieren

und

waren

gleichzeitig g e z w u n g e n , den Seeverkehr zur A b h o l u n g d e r W a r e zu organisieren. Ihre e i g e n e n W a r e n boten sie deshalb in Ü b e r s e e eif an. D i e s e r M o d u s blieb jahrhundertelang erhalten. E r begründete den A u f s t i e g der europäischen Staaten zu S e e f a h r e r n a t i o n e n und K o l o n i a l m ä c h t e n . A n a l o g w a r die Stellung der A r a b e r im Indischen O z e a n . G e g e n w ä r t i g versuchen einige Entwicklungsländer aus d i e s e m System durch den A u f b a u e i g e n e r Flotten auszubrechen. M ö g l i c h e r w e i s e hat die durch eif b e d i n g t e A n b i e t e r k o n z e n t r a t i o n die Industrialisierung in England begünstigt. N e b e n d e n W e g der W a r e n tritt i m m e r auch der W e g d e r G e g e n l e i s t u n g . B e i d e r Bezahlung in G e l d o d e r W e r t p a p i e r e n k ö n n e n beide völlig voneinander gelöst w e r den. D i e E r f i n d u n g dieser T e i l u n g war ein sehr b e d e u t s a m e r

Entwicklungsschritt

der W i r t s c h a f t , d e r durch g e z o g e n e W e c h s e l , Frachtdokumente und B a n k ü b e r w e i sungen möglich w u r d e . D a m i t konnte das Intervall zwischen L i e f e r u n g und Z a h l u n g wesentlich verkürzt w e r d e n , was gewaltige Kapitalien für andere V e r w e n d u n g freisetzte. Ein ganz normales Ü b e r s e e g e s c h ä f t berührt, wie g e z e i g t w e r d e n kann, sechs O r t e (Abb.

V I - 1 ) . D i e s e können unter Umständen zusammenfallen. M a n n i g f a c h e

Um-

stände wie insbesondere die Einschaltung von N a t i o n a l b a n k e n bei D e v i s e n k o n t r o l l e o d e r das E i n h o l e n behördlicher G e n e h m i g u n g e n , Preisauskünfte und Gerichtsort k ö n n e n ein solches A b l a u f p r o g r a m m noch viel komplizierter machen. Es w ä r e z w e i f e l l o s sehr mühsam, für j e d e n Geschäftsfall die n o t w e n d i g e n Festleg u n g e n v o n Erfüllungsorten und Z e i t p u n k t e n neu v e r e i n b a r e n zu müssen. D a h e r haben sich r e g i o n a l und branchenweise feste U s a n c e n ausgebildet, w e r d e n handelsübliche Fristen und T e r m i n e benützt, d i e Institutionen bestimmter O r t e und die Preise bestimmter Börsen benützt. Meist sind solche R e f e r e n z o r t e die größten W i r t schaftsmetropolen und H a f e n p l ä t z e . Ein geographisch interessanter Sonderfall d e r fob-Situation ist der V e r k a u f

mit

Preisbasis, w i e er insbesondere für Schwergüter in sehr g r o ß e n Wirtschaftsregionen

105

Kapitel VI: Mikro- und Mesostrukturelle D y n a m i k Geschäftsanbahnung, Kaufvertrag —

Vi

Versandhafen

Standort d e s Verkäufers

Empfangshafen

Fob

X _

C> K

Standort des K ä u f e r s

Frachtdokumente

1

F r a c h t d o k u m e n t e , Doppel

Nachrichten

AbschluO-

und A k k r e d i -

i Frachtdokurnente,

nachricht

tivantrag

Doppel

J Sank d e s

Bv

t