Allgemeine Erziehungswissenschaft: Teil II Der Ursprung der Pädagogik [Reprint 2012 ed.] 9783111579306, 9783111206714


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German Pages 222 [228] Year 1931

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
§ 1. Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie?
I. Die metaphysische Streitfrage der Erziehungswissenschaft
§ 2. Die Erziehungswirklichkeit
§ 3. Beziehungen und Gebilde. Das Werten und die Werte
§ 4. Individuum und Gemeinschaft. Form und Geist (Bildung und Erziehung)
§ 5. Die Grundurteile der Erziehungswissenschaft
II. Die praktische Streitfrage der Erziehungswissenschaft. Der Ursprung der Pädagogik
§ 6 . Entwicklung der praktischen Aporie
§ 7. Freiheit
§ 8. Die erzieherische Haltung
§ 9. Autorität. Vom Recht der eigenen Lebenserfahrung und der Überlieferung (Tradition)
§ 10. Die Führung. (Pädagogie)
§ 11. Der Stoff
§ 12. Die Grundformen der Führung (Pädagogie)
§ 13. Das Bewußtmachen – die Pädagogie des Unterrichts. Der Ursprung der Didaktik
§ 14. Disziplin und Autonomie
§ 15. Macht und Zwang
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Allgemeine Erziehungswissenschaft: Teil II Der Ursprung der Pädagogik [Reprint 2012 ed.]
 9783111579306, 9783111206714

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DER

URSPRUNG DER PÄDAGOGIK (IL TEIL DER „ALLGEMEINEN ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT") VON

PETER PETERSEN

WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.

BERLIN UND LEIPZIG 1931

Druck »on Walter de Gruyter & Co., Berlin W 10

Inhaltsverzeichnis. Seite

Vorwort § 1. Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie? 1. Wissenschaft und Philosophie. — 2. Erziehung als kosmische Funktion. — 3. Erziehungswissenschaft und Metaphysik. I. D i e m e t a p h y s i s c h e S t r e i t f r a g e d e r E r z i e h u n g s wissenschaft § 2. Die Erziehungswirklichkeit 1. Evidenz. — 2. Polarität. — 3. Das Sein in der Wirklichkeit und das Sein in der Erziehungswirklichkeit. — 4. Die metaphysische Haltung und Deutung. — 5. Die Wirklichkeit als Geist und Leben. — 6. Wirklichkeiten. § 3. Beziehungen und Gebilde. — Das Werten und die Werte § 4. Individuum und Gemeinschaft. — Form und Geist (Bildung und Erziehung) § 5. Die Grundurteile der Erziehungswissenschaft . 1. Immer alles. — 2. Von Natur gut. — 3. Einheit des Menschengeschlechts. — 4. Für den Einzelmenschen und für jede Menschengemeinschaft ist Sinnverwirklichung Vergeistigung. — 5. Der Weg dieser Verwirklichung ist Dienst. — 6. Vergeistigung und Güte sind eins. II. D i e p r a k t i s c h e S t r e i t f r a g e d e r E r z i e h u n g s w i s senschaft. — Der Ursprung der P ä d a g o g i k . . § 6. Entwicklung der praktischen Äporie . . . . § 7. Freiheit § 8. Die erzieherische Haltung

V—VI 1—22

23—113 23—65

65—80 80—96 96—113

114—216 111—120 120—134 134—148



IV — Seite

§ 9. § § § §

10. 11. 12. 13.

Autorität. — Vom Recht der eigenen Lebenserfahrung und der Uberlieferung (Tradition) 118—157 Die Führung (Pédagogie) 157—169 Der Stoff 169—178 Die Grundformen der Führung (Pédagogie) . 178—190 Das BewuBtmachen ; die Pädagogie des Unterrichts. — Der Ursprung der Didaktik . . . . 190—197

§ 14. Disziplin und Autonomie § 15. Macht und Zwang

197—211 211—216

Vorwort

S

o wie nun einmal dieses Werk aus meiner akademischen

Lehrtätigkeit herausgewachsen ist, wird die allgemeine Erziehungswissenschaft in drei Umgängen entwickelt werden. Eter erste Teil geht aus von soziopsychologischen und kulturphilosophischen Betrachtungen, um Grundbegriffe wie Gemeinschaft und Gesellschaft, Individualität und Persönlichkeit, Natur und Kultur, Erziehung und Bildung in ihrer erziehungswissenschaftlichen Einlagerung unter jenem ersten Aspekte zu untersuchen und um Wirtschaft, Staat, Kirche und Volk auf ihre erzieherischen bzw. gegenerzieherischen Kräfte hin zu prüfen. Eines der Ergebnisse dieses Teiles wurde die Forderung, daß die absichtsvolle Erziehung, die Pädagogie, vom Volke getragen werden solle, und daß ihre das Volk vertretenden Träger die Familie und die in der Erzieh.er„gilde" zusammengeschlossene Erzieherschaft bilden sollten. Somit steht am Ende des ersten Umganges erziehungswissenschaftlicher Betrachtungen die ernste Frage: wie denn nun diese beiden das Geschäft der Erziehung beginnen sollen? Wie kann praktische Erziehungsarbeit verantwortet werden? Wie wird sie inmitten der Erziehungswirklichkeit möglich? Um die Beantwortung solcher Fragen geht es im zweiten Umgange. Es sind Betrachtungen metaphysischer und praktischer Natur, welche u. a. die Erziehungswirklichkeit, das Verhältnis der Menschen in ihr und zu ihr sowie in und zur Wirklichkeit schlechthin, damit von einem neuen Ausgangspunkte her auch die Probleme Individuum und Persönlichkeit, Erziehung und Bildung behandeln, vor allem aber die rechte erzieherische Haltung und die rechte „Führung" bestimmen. Damit begründen sie zugleich erst P e t e r s e n , Erziehungswisseoscbtft. II.

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P ä d a g o g i k und D i d a k t i k und weisen deren Stelle innerhalb des Systems einer „Erziehungswissenschaft" auf. Der dritte und letzte Band wird sich mit dem Wesen und der Bestimmung des Menschen sowie mit der erzieherischen bzw. gegenerzieherischen Bedeutung der „Kultur" befassen. Als die Gedanken dieses 2. Teiles vor sieben Jahren zuerst in Vorlesungen und Übungen vorgetragen und besprochen wurden, schienen sie mir und meinem Kreise innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Bewegung Deutschlands recht isoliert zu stehen. Denn sie trugen an ihrem Teile den Kampf gegen die sog. rationalistische Pädagogik vor, den die neupädagogische Bewegung allerorten, also die n e u e P r a x i s , vom ersten Tage an führt. Und die hier weitergeführte Erziehungswissenschaft ist ja für mich die theoretische Besinnung auf eine seit mehr als zwölf Jahren erlebte, beobachtete und unermüdlich kritisch überdachte neue Schul- und Erziehungspraxis, die, immer stärker ansteigend, sich rings in der Welt ausbreitet. Überall auf theoretischen, weltanschaulichen Grundlagen, die in Gegensatz zu der herrschenden Pädagogik stehen, wie sie als Wissenschaft seit Kant entstanden ist, als ein Kind derselben rationalistischen Strömung, die uns auch den pädagogischen Methodismus gebracht hat. Heute sehe ich diese Gedanken nicht mehr vereinzelt, sondern in einer breiteren Front und von verschiedenen Seiten her vorgetragen. Ich nenne nur Theoretiker so verschiedener Haltung wie Grisebach, Gogarten, Delekat, Helmut Schreiner, Magdalene von Tiling. Gleichzeitig wird bereits der Einbruch der Gedankenreihen des antirationalistischen Denkens in Sgsteme auf überlieferten Fundamenten immer deutlicher und beginnt sie zu erschüttern, und das ist j a stets das Merkmal für die beginnende endgültige Neuorientierung. Wenn diese erst vollzogen ist, dann wird auch eine neue Schulwelt vor uns stehen — und das weil dann unser Volk eine Erneuerung vollzogen hat. J e n a , im Januar 1931.

§ 1.

Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie? 1. Jede Wissenschaft erstrebt eine systematische Ordnung derjenigen Erkenntnisse, welche sie innerhalb ihres Bereichs, ihres Ausschnitts aus der Wirklichkeit, gewonnen hat. Systematische Philosophie sucht, soweit ihr Verhältnis zu den Wissenschaften in Betracht kommt, über den von den Einzelwissenschaften gewonnenen Standpunkt hinaus einmal die Ursprünge und die Grundlagen des wissenschaftlichen Erkennens sowie allen Wissens und ETkennens schlechthin aufzudecken. Sie will sodann über alle Ergebnisse der Einzelwissenschaften hinaus diese in eine widerspruchslose Einheit zueinander setzen, um sie in die Grundlagen einer allgemeinen, Verstand und Gemüt befriedigenden Weltanschauung hineinzuweben. Es will mithin Philosophie durch ihre denkende Bearbeitung sämtlicher Erkenntnisse zu dem werden, was ihr Name bedeutet, zu einer Weisheitslehre. Dabei stehen also Philosophie und Wissenschaft in einer Wechselwirkung, einer gegenseitigen Befruchtung. Wollte sich eine Einzelwissenschaft auf die Dauer jeder philosophischen Besinnung auf die Grundvoraussetzung ihrer Forschung wie auf das Verhältnis ihrer Grunderkenntnisse zu den Anforderungen einer widerspruchslosen Weltanschauung verschließen, so würde es sich rächen, und rächte es sich von je. Nur so erklärt es sich, daß Vertreter rein empirischer Wissenschaften und solcher, denen Philosophie weitab zu liegen scheint, weltanschauungsmäßig so oft einfach traditionsgefangen leben oder sich mit primitivsten, ihrem wissenschaftlichen Ruf und Vermögen vielleicht sogar diametral entgegengesetzten Einsichten begnügen. Nicht anders ist es mit der Philosophie bestellt. Wenn sie sich souverän gebärdet und ohne gründliche Kenntnis der Sonderwissenschaften und deren Methoden ihre Spekulationen schichtet und nicht Stufe für Pe t e rs e η, Erziehungswissenschaft. II· 1



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Stufe am erreichten Wissensstande kritisch prüft, dann ist sie ganz oder zu erheblichen Teilen zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Das wurde das Schicksal der scholastischen Philosophie seit 1600, als sie sich den neuen Naturwissenschaften verschloß, ihren Methoden und Erkenntnisprinzipien; Unfruchtbarkeit und Verfall der Hegeischen Philosophie nach dem Tode des Meisters hatten gleiche Ursachen neben anderen. Ja, es gehört mit zum Merkmal des „Scholastischen" an einer Philosophie, daß sie sich anmaßt, Gebieterin der Wissenschaften zu sein und diese aus sich zu entlassen, ihnen Maß, Methode und Ziel setzen zu können. Die Erstarrung zum Scholastizismus erfolgt gerade auch deswegen, weil sich die Philosophie, in ihrer Überhebung der Wissenschaft gegenüber, eine der reinsten und kräftigendsten Quellen ihres eigenen Lebens verschüttet hat. Erziehungswissenschaft ordnet systematisch unter obersten Prinzipien diejenigen Erkenntnisse, welche im Problemgebiet der Erziehungswirklichkeit gewonnen werden. W i e in jeder Wissenschaft, so handelt es sich auch hier um ein Erkennen, das seinem W e s e n nach nicht vom gewöhnlichen Erkennen verschieden ist. Das gewöhnliche Wissen wird zur Wissenschaft vor allem durch zwei Mittel: durch eine planmäßige Anwendung der logischen Prinzipien und durch mannigfache, nach den verschiedenen W i s senschaften bunt unterschiedene technische Hilfsmittel. Von diesen verwendet auch die Erziehungswissenschaft eine beträchtliche Anzahl wie Experiment, Statistik, Rundfrage, allein in der a l l g e m e i n e n Erziehungswissenschaft treten sie zurück gegenüber der planmäßigen Anwendung logischer Prinzipien für einen möglichst lückenlosen Aufbau aller auf Erziehung bezüglichen Grunderkenntnisse. Im gewöhnlichen Erkennen besteht durchaus kein planmäßiger Gebrauch der logischen Prinzipien. Man denke nur an die starke Bedeutung und Verbreitung des Analogieschlusses, so bereits auf dem Gebiete der Wahrnehmung, wenn z. B. Tierstimmen aus einem pfeifenden Winde, menschliche Worte aus einem Tierlaut herausgehört werden; Klangassoziationen, die vor der wissenschaftlichen Analyse des Psychologen nicht standhalten, ebenso wenig wie das magische Denken, das nicht nur im Kindheitsalter eine große Rolle spielt.



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sondern stark weiter wirkt in der Welt der Erwachsenen als ein Mittel zur Deutung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen an der Welt und den Mitmenschen. Wie es die Aufgabe verschiedener Sonderwissenschaften ist, solche Tatbestände logisch und mit mancherlei Hilfsmitteln zu durchleuchten, um wahres Wissen zu erreichen, so geht die erziehungswissenschaftliche Betrachtung gegen volkstümliche, gegen überlieferungsmäßig, gedankenlos weitergegebene und zur Grundlage für bewußte Erziehung überkommene Meinungen vor. Und es bildet gerade eine ihrer ersten Verpflichtungen, immer von neuem an die Überprüfung ihrer Grunderkenntnisse zu gehen. Da sie begründetes Wissen anstrebt, so bleibt ihre vornehmste Aufgabe, nicht nur Begründung zu geben, sondern auch sich selber zu überprüfen, wieweit ihre Begründungen noch rechtskräftig sind. Wenn sie dazu u. a. auch der Philosophie bedarf, so hebt sie sich dadureih in nichts von den anderen Wissenschaften ab, und wir werden sehen, daß in ihr wie in allen übrigen die Antriebe zur Durchmusterung des Grundes, auf dem sie ruht, w e s e n t l i c h der W i r k l i c h k e i t s e l b s t entstammen. In die Wissenschaft ragt Philosophie vornehmlich hinein in den prinzipiellen Betrachtungen. Geben wir uns im folgenden solchen hin, so wird damit der Titel einer allgemeinen Erzieh u n g s w i s s e n s c h a f t nicht strittig. Ein Verfallen in die Philosophie, ein Anheimfallen an sie, etwa gar als die Mutter der Wissenschaften findet nicht statt. Es ist ja schon der Begriff einer Philosophie keineswegs fest und eindeutig. Auch würde an uns die Aufgabe herantreten, uns zu entscheiden, w e l c h e m der vielen Systeme wir uns anschließen, welche Definition von Philosophie wir übernehmen wollten. Bevor wir in solchem Sinne philosophisch werden könnten, müßten wir von einem übergeordneten Standpunkte aus Philosophie kritisch sichten und auslesen. Es bliebe uns sonst nur der Weg der Jüngerschaft, des gläubigen Anschlusses an ein System, um von seinen Prämissen aus eine „philosophische Pädagogik" zu entwerfen, deren es der Idee nach so viele geben kann, als philosophische Systeme entworfen sind. Eine andere Aufgabe wird allerdings der Erziehungswissenschaft der Philosophie gegenüber gestellt werden, l*



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nämlich, mindestens die philosophischen Hauptrichtungen vorzuladen und sie zu nötigen, darüber Rede und Antwort zu stehen, welche e r z i e h e r i s c h e n Kräfte denn von ihnen ausgehen. Es liegt ja auf der Hand, daß die Philosophie eines S c h o p e n h a u e r andere erzieherische Wirkungen haben muß als diejenige F i c h t e s , die positivistische andere als die idealistische. Wer kann diese Prüfung anders vornehmen als die eigengesetzliche Erziehungswissenschaft 1 ) ? Für den Umkreis unserer Betrachtungen genügt die bereits umschriebene Aufgabe der Philosophie vollkommen. Darin ist enthalten, was Inhalt einer systematischen Philosophie war, solange es solche gibt, und gleichfalls, was schlechthin in „philosophischem Denken" liegt; und dieses kann auch aufgeboten werden ohne Absicht auf ein philosophisches System. Also handelt es sich für uns nicht um die Beziehung erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse auf irgendein bestimmtes philosophisches System oder eine philosophische Richtung. Wir mühen uns um die wissenschaftliche Erfassung und Ordnung der Erziehungswirklichkeit und nicht, etwa nach kritizistischer Art, um die Struktur der erziehungswissenschaftlichen Wirklichkeit, also um die idealen Prinzipien, welche die Möglichkeit enthalten, daß die Erziehungswirklichkeit begreiflich wird. Das ist kein uninteressantes Unternehmen, auch nicht von vornherein unfruchtbar, eine bloß ordnende, das Wissenschaftssystem überprüfende Tätigkeit, aber es ist kein Denken, das die Erziehungswissenschaft in sich selber vorwärts treiben kann. Denn die schöpferischen lebendigen Kräfte liegen allein in der Erziehungswirklichkeit, sofern sie ja Teil d e r Wirklichkeit ist, dem Mutterschoß aller lebendigen und geistigen Kraft; sie liegen aber nimmer in der erziehungswissenschaftlichen Wirklichkeit. Vielmehr müssen sie aus der Erziehungswirklichkeit aufsteigen zu uns, müssen von uns erschaut werden, von Menschen, die von ihnen ergriffen wurden. Und sie werden erschaut, wenn sie sich zu uns hin bewegen, nach Richtungs- und Auftriebsgesetzen, die wir nicht verstehen und niemals erkennen können, so S. meine Schrift: Die Philosophie in erziehungswissenschaftlicher Beleuchtung, 1929.



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wenig wie wir das G a n z e der Wirklichkeit und die Ordnungsgesetze seiner Bewegtheit verstandesmäßig erfassen können. Es beirrt uns auch nicht die Tatsache, daß im vergangenen Jahrzehnt mit mehr Recht von einem Aufschwung als vom Ende der philosophischen Pädagogik geredet werden konnte; denn die Zunahme und Erkraftung philosophischer Betrachtung der Erziehungsprobleme hängt eben mit dem Aufblühen und der Wandlung der Erziehungspraxis, der lebendigen Erziehungsbewegung und der damit sich entwickelnden Erziehungswissenschaft zusammen. Dies alles hat Philosophen genau so gut angeregt wie neues Schaffen oder neue Ergebnisse in Kunst und Literatur. Zudem besteht durchaus das Recht, unbekümmert um wissenschaftsmethodische Untersuchungen eine Erziehungswissenschaft aufzubauen. Denn außer der bereits geschilderten Wechselwirkung zwischen Philosophie und Wissenschaft gilt von dem Verhältnis beider, daß die wissenschaftliche Erkenntnis den Primat vor der philosophischen besitzt, wie W i l h e l m W u n d t stets betont hat. In den Anfängen der wissenschaftlichen Entwicklung dürfte einmal die Philosophie „Pfadfinderin auf dem Wege der Erkenntnis" gewesen sein. Sie stellte die Probleme ans Licht und stellt auch heute noch gelegentlich der Wissenschaft Probleme in neuer Beleuchtung, aber niemals hat die Philosophie die Probleme der Wissenschaft g e l ö s t , und zwar deswegen nicht, weil sie selber immer von der Wissenschaftsstufe ihrer Zeit abhängig ist; darum kann sie wohl Pfadfinderin, aber nicht „Vollbringerin" sein. Und dem entspricht auch die tatsächliche Entwicklung der Wissenschaft. Die Entwicklung der Denknormen und der Erkenntnisprinzipien innerhalb der Wissenschaften geschieht zunächst überall ohne eine voraufgehende logische oder wissenschaftstheoretische Prüfung. Und dieses Verfahren, daß dem Nur-Philosophen so bedenklich erscheinen möchte, wird dadurch gerechtfertigt, „daß eine genaue Rechenschaft über solche Prinzipien überhaupt erst auf Grund bereits wissenschaftlicher Resultate möglich ist" 1 ). 2. Erziehung ist ein organisches Geistwerden, vergleichbar Î) W. Wundt, Kleine Schriften, I. 1910. S. 351 f., 632.

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einem Vorgang der Anpassung, des Hineinlebens, richtiger des Hineingelebtwerdens in die Gemeinschaft, ein Hineinleben nicht nur in die Güter und Formen der Kulturwelt, sondern vor allem und stets damit auch in ihre Werte, die Ewigkeitscharakter tragen. In diesem vollen Umfange wächst der Mensch in die Gemeinschaft hinein und schafft sich seinen „Lebensraum", und in diesem Sinne ist Erziehung ein Vorgang natürlichen Wachstums am und im Ganzen unter natürlichen Einwirkungen der mannigfachsten Art. Und das ganze Leben des Menschen ist nach F r i e d r i c h F r ö b e l s Worte „ E i n Leben der Erziehung" 1 ). Auch die völkerkundliche Untersuchung der tatsächlich unter den Menschen der Erde, heute wie in fernster Vergangenheit, vorhandenen Formen für Erziehung des Nachwuchses rechtfertigt diese Bestimmung der Erziehung. Ja, es bliQken unter den zivilisierten Völkern manche bereits sentimental und müde auf Verhältnisse in einfacheren Kulturen, in denen die Auferziehung des Nachwuchses sich nahezu reibungslos vollzieht, während sie sich in der Zivilisationsform der „Schule" zu einer Problematik ausgewachsen hat, die in Deutschland ζ. B. zu einem Aufstand der Jugend geführt hatte, ein Zeugnis für die wirren und verschlungenen Wege, welche die Zivilisation der christlichen Völker seit Jahrhunderten wandelt. Die Erziehungsformen der sogenannten primitiven Völker zeigen demgegenüber vielfach eine größere Lebenserfülltheit und Naturwahrheit in den Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenen, ebenso in den erzieherischen Einflüssen der Erwachsenenverbände aller Art, ihrer sozialen und ihrer Kultureinrichtungen. Was auf dem ganzen Erdenrund hinter diesen Formen steht, eben die Erziehung, offenbart sich damit als eine Urmacht, als S. meine „Allgemeine Erziehungswissenschaft", 1,1924, S. 104 f.— Unter „Gemeinschaft" verstehe ich einmal im metaphysischen Sinne die Wirklichkeit, das Seiende überhaupt, insofern es Geist ist, und sodann die sichtbaren Gemeinschaften, insofern sie die Formen der Darstellung, Erzeugung und Erhaltung des Geistigen in der Menschenwelt sind (προς ήμας). Gesellschaft oder das Soziale ist darum der Gemeinschaft gegenüber das Zweite, ein Erzeugnis auch der Gemeinschaft, ebenso wie Staat und Kirche; vgl. a. a. 0 . S. 18—31.



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eine kosmische Funktion innerhalb der Menschheit. So konnte A l o i s F i s c h e r auf Grund sozialpsychologischer und soziologischer Erwägungen das Erzieherische „eine mögliche Seite, Erscheinungs- und Wirkungsform tatsächlich a l l e s Wirklichen, der Natur, der Gesellschaft, der Kultur" nennen und Pädagogik eine „Grundkategorie der Betrachtung des Menschen, seiner Gesellschaft, Geschichte und Kultur", den pädagogischen Gesichtspunkt universal und darum die Pädagogik eine selbständige Wissenschaft 1 ). Worauf zielt diese kosmische Funktion ab? Wo wir sie in ihren letzten Wirkungen erfassen, da war sie und ist sie immer dieselbe, eine Kraft, welche Vergeistigung und damit Befreiung wirkt, rein auf das individuelle Werden gesehen den organischen Aufbau, die Gestaltwerdung, die Form des individuellen Seins. I m m e r u n d ü b e r a l l s t e h t E r z i e h u n g in e i n e r u n a u f h e b b a r e n B e z i e h u n g zu G e i s t u n d zu F r e i h e i t . Sie ist schlechthin das Geistige in seinem Ringen um Selbstdarstellung im Menschen in Freiheit, in Reinheit, in reiner Form, in einem ungestörten, „natürlichen", harmonischen organischen Aufbau. Und damit ist sie selber Ursache und Zweck, causa und finis zugleich. Das Geistige verkündet sich in den sog. stummen Formen der unbelebten Natur, sofern sie Form sind ; in den Bewegungen des in seinem körperlichen Rhythmus befreiten Menschen, insofern er Harmonie offenbart; im individuellen wie volklichen Handeln, soweit sie Stil, Eigenart bekunden; in den Versuchen, Lebendiges und seine Erzeugnisse aufzufassen und zu deuten, und ganz besonders in den Werken des Menschen, wenn sie echte Geisterzeugnisse sind, d. h. a b s i c h t s l o s recht, gut, schön, — kurz, einfach nur s i n d . Darum ist es für denjenigen, dessen Augen hell geworden sind, ganz einerlei, ob dieses Werk das stille, scheinbar gleichförmige des Landmannes, eines Handwerkers oder das eines großen Künstlers, eines Gelehrten oder Dichters ist. Jedes Werk ist nun genau in dem Maße und in dem Um!) Die Erziehung, 1. Jahrg., 1925, S. 4f.



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fange, wie es absichtslos nur da ist und so Geistiges verkündet, wiederum a,uch erzieherisch wirksam ; ja nur dann. Je weniger Geistiges in ihm vorhanden ist, desto geringer ist die erziehende Kraft des Werkes, auch eines Künstlers, eines Dichters, und sie ist unabhängig von dem Massenurteil und der öffentlichen Geltung in seiner Zeit, die beide ja selber keineswegs geistig bewirkt zu sein brauchen. Deswegen ist es auch kein Zufall, daß die Wunderwerke der modernen Technik unter allen Völkern tausende finden, welche ihre Bedeutung preisen, daß sie aber nirgends in einem nennenswerten Maße vergeistigend und innerlich befreiend und den Menschen erhebend gewirkt haben. Und doch: welche Hoffnungen hat man an den die menschliche Arbeit erleichternden, zum Teil ersetzenden Fortschritt der Technik geknüpft und setzt mancher heute immer noch darin! A r i s t o t e l e s glaubte, wenn jedes Werkzeug auf Geheiß das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wenn das Weberschiff von selbst zwischen Zettel und Einschlag hin und her laufe oder der Schlag des Zitherspielers von selbst die rechten Saiten träfe, so würden keine Menschenhände mehr benötigt werden. Die Erfindung des Wasserrades und der Getreidemühle begrüßte ein griechischer Dichter zur Zeit Ciceros als eine Erfindung, welche die „Befreierin der Sklaven und die Schöpferin eines goldenen Zeitalters" sei 1 ). Nein, alle diese Werke sind Zweckwerke, sind ökonomischen Ursprungs. Daher kann von ihnen als Werken keine befreiende und vergeistigende Wirkung ausgehen. Keine technische Vervollkommnung wird Segen bringen und Freiheit bewirken, das können allein die i n n e r e H a l t u n g und die G e s i n n u n g der im Arbeitsprozeß umschlossenen Menschen zueinander, und damit dann zur Arbeit, vollbringen. Verglichen mit dem Werk ist alles Reden und Redewerk zweiten und dritten Ranges. Den ersten beanspruchen das Tun und seine Stufen: die Taten und Werke. Damit wird etwas Grundlegendes für alle Formen und Äußerungen von Erziehung berührt. Diese Funktion der Wirklichkeit ist in keiner Weise urbedingt durch die Sprache; sie war da vor allen Worten und 1

) Eugen DieseL, Der Weg durch das Wirrsal. Das Erlebnis unserer Zeit, 1926, S. 86 f.

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wird sein, wenn kein redendes Wesen mehr lebt. Sprache und Verstand sollen ihre Diener sein und können dann auch Künder ihrer Macht werden. Damit hängt es zusammen, daß die stumme Sprache eines Werkes, einer Tat hundertmal deutlicher und bedeutender ist als alles, was darüber gesagt und geschrieben werden kann, — genau so wie das Leben gewaltiger ist als alles, was vom Lebendigen wissenschaftlich, künstlerisch durchforscht, beschrieben, nachgebildet wird, und es ist wichtiger, ein echtes Werk Dürers zu besitzen als alle Schriften über ihn. Wir stehen auch einem Werke stets anders gegenüber als seiner Beschreibung, und sei sie noch so geistvoll, oder dem rednerisch ausgeführten Plane. Verglichen mit der schönsten Theorie und der überzeugendsten Rede, ist die schlichte Tat eines Erziehers stets das überlegene. Selbst das Unvollkommene im erzieherischen Wirken wird von dem Leuchten überstrahlt, das immer dort vorhanden ist, wo eine Erziehungsgemeinschaft recht tätig ist. Der gegenwärtige Kampf gegen den Verbalismus in der Schularbeit zugunsten des Tuns und des Lebens miteinander sind Zeugen dafür, daß es sich in der neuen Bewegung um eine geistige handelt; dasselbe ließe sich sagen von dem politischen Kampf gegen parlamentarische Rhetorik und gegen die Bedeutung des gesprochenen wie des geschriebenen Wortes im öffentlichen Leben überhaupt. Es war zu allen Zeiten ein Anzeichen des geistigen Verfalls in den Kulteren, wenn das Wort zu einer „führenden" Macht wurde, wenn Menschen Führer sein konnten auf Grund ihrer Rednerbegabung, heute verstärkt durch Schreibbegabung, Beherrschung der Presse, der Versammlungstechniken; wie denn auch der Verbalismus der Schulen Verfallerscheinung war. Das Wort vergiftet allzu leicht das Leben und seine Kraft. Wir sind auch jedesmal innerlich viel stärker empört, wenn sich ein Riß zwischen der schaffenden Persönlichkeit und ihren Werken auftut; wir hätten „etwas anderes erwartet". Und wenn wir versöhnlich verstehend reden, und etwa sagen, es sei nun einmal so bei einem Künstler, man müsse es ihm zugute halten, und dergleichen, so ist das im letzten Grunde doch erzwungene Resignation des Urteils. Es dürfte jeden, der echte philosophische

— 10 — Interessen hat, einmal betrübt haben, hinter der Philosophie S c h o p e n h a u e r s diesen mürrischen, wohllebenden, in sehr vielem spießigen Junggesellen zu entdecken, hinter diesem oder jenem gefeierten Künstler oder Schriftsteller einen Lebemann, einen Geldmacher, einen zynischen, frivolen Spötter. In allen solchen Fällen wirkt die erste Feststellung wie etwas Brutales, Gemeines, wie eine Rohheit inmitten von Schönheit. Solche innere Gestimmtheit bezeugt uns unweigerlich, daß der Grund jedesmal derselbe ist: der Riß zwischen dem schaffenden Menschen und seinem Werk beleidigt den Sinn, der um seine Gestaltung rang. Ja, je feiner und reiner unser Gefühlsleben für solche Reaktionen abgestimmt ist, desto schärfer erfühlen wir noch im Geniewerk diesen Riß. Hier nun stehen wir der ewigen Tragik des Menschen gegenüber, dem es versagt ist, des Sinnes letzte Deutung in Wort und Tat zu finden. Die Werke des Menschen verraten noch eine andere Tragik. Sie alle sind der Natur, als einem Gegenstand und Stoff menschlicher Betätigung, abgerungen: Haus, Maschine, Deich, Buch, Denkmal, und wir nennen sie Erzeugnisse der Kultur, ñ l s solche haben sie nur eine geringe in ihnen selber ruhende geistige Wirkung, obwohl sie gern als Geisteserzeugnisse gerühmt werden, und mit Recht. So wird man in einer ländlichen oder städtischen Siedlung niemals den Einfluß der Natur und nimmer den Einfluß persönlicher Kräfte, welche dort wirksam sind und darum Gemeinschaften durchdringen und formen können, verkennen und damit deren erzieherische Bedeutung niemals ausgeschaltet denken können. Aber, ob man Bauernhäuser mit den besten Wiedergaben Rembrandtscher oder Dürerscher Kunst ausstattet, ob sich feudalste Besitzungen mit Originalwerken auserlesenster Kunst und den besten Büchereien füllen, es bleibt ein Zufall, ob dadurch eine erzieherische Wirkung auf die Menschen des Hauses ausgeht. Zumeist bleiben sie stumm; sie vergeistigen nicht, machen nicht frei. Finden wir menschliche Beziehungen zu diesen Werken, so werden sie in fast hundert Prozent aller Fälle durch Nebengründe erklärt. Die Besitzer lieben und schätzen etwas an ihnen, das mit dem Geisteserzeugnis als solchem nichts zu tun hat, — weil es ihnen von dem oder jenem



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geschenkt ward; weil das Motiv ein religiöses ist oder es in einem vagen Sinne des Begriffs schön ist; weil der Reichtum ein Sammeln gestattet, das Ansehen verschafft, oder es Mode ist und Aufsehen erregt, oder sonst ein Subjektives ist damit verbunden, außerhalb des Werkes als solchem, etwas, das hineinverlegt wird von dem Besitzer oder sogar noch in den Besitzer erst hineingelegt wurde als Folge von Massenanschauungen seiner Zeit, denen er sich angleicht. Damit kommt aber keine Kraft aus der Umgebung des Menschen, aus dem Buche, dem Bilde usw., wie sie unabwendbar aus der Natur und aus jedem persönlichen Tun strömt. Alles Überlegungen, die in der Neuen Erziehung zu einer neuen Einstellung dem Schulraume und seiner Ausstattung gegenüber geführt haben, noch bevor man an die tieferen Zusammenhänge dachte, rein aus dem instinktsicheren Handeln heraus, das vom neuen Geiste getrieben war. Es führt auf einen Irrweg, wenn man darauf verweist, es handle sich um die allgemein bekannte und psychologisch gesehen selbstverständliche Abstumpfung; auch die Naturumgebung stumpfe ab. Denn dieser Hinweis ist nur teilweise richtig. Doch kann diese Überlegung helfen, das Verhältnis, auf das wir abzielen, stärker zu unterstreichen. Setzt die abstumpfende Wirkung eines Kunst- oder Dichtwerkes ein, dann ist die Wirkung unweigerlich dahin; mindestens auf lange Zeit. Es stumpft auch die Naturumgebung oder der Verkehr im gleichbleibenden Menschenkreise mit stets ähnlichem Erleben ab, aber deren W i r k u n g auf die Menschen wie auf alles Organische des Ortes bleibt bestehen ; sie kann auch festgestellt werden ; nichts kann ihr entrinnen. Dem Jahresrhythmus dieser bestimmten Natur, in welcher einer gerade lebt, entzieht sich keiner, auch nicht den Menschen, mit denen er es zu tun hat (diese genommen im Sinne von Bevölkerung, unter der man lebt), wohl aber bleiben für Tausende und Abertausende ohne Bedeutung die Gemäldegalerien, die Bibliothek und sonstige „Bildungsstätten", seien sie auch noch so berühmt und reich ausgestattet. Deswegen wendet man sich auch mit Recht gegen die Überschätzung der „Ausstattung" von Schulräumen und Schulkorridoren, denn dadurch sind zwar eine ansehnliche Industrie und gut entwickelte



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Verlagsabteilungen ins Leben gerufen, aber kein dem nennenswert entsprechender Einfluß auf die Schüler. Welcher Unterschied zwischen dieser fertigen, hingesetzten, von Erwachsenen au,sgedachten Ausstattung und der stets wechselnden Herrichtung des Raumes durch die Schüler selbst! Hier ein mit stetem Erleben und eigenem Schaffen verbundenes Wirken am Räume, am Schulhause, am Schulgarten; ein fließendes Tun, das die Sinne und den Geist wachhält, unermüdlich zum Nachsinnen und, was wichtiger ist, zum Voraussinnen anspannt! Und wieviel stärker sind die Einwirkungen der Natur zu spüren, wenn sich das Schulleben und die Schularbeit ihrem Rhythmus, der durch jedes Menschenkindes Blut geht, hingeben und einordnen und sich von ihm bewußt mitgestalten lassen! Nun ist der Mensch selber als Naturwesen auch ein „Werk", ein Werk der Natur, wie man sagt, und von ihm gilt dasselbe wie von der Natur überhaupt. Auch der Umgang mit ihm, das Zusammenleben mit ihm wirkt abstumpfend; und die Welt der Schul- und Erziehungsgemeinschaften kennt dies Problem, das ihr damit aufgegeben ist, zur Genüge. Allein die Wirkung, die vom Menschen ausgeht, hört niemals auf; ihr kann niohts entrinnen, das mit ihm zusammen sein muß. Ein Gemälde kann platt oder nur Leinewand werden, der Mensch oder die Natur nie etwas dergleichen. So eröffnen sich hier schon neue Anblicke und Ausblicke auf den Erzieher, insbesondere den Führer für Kinder- und Jugendlichengemeinschaften und auf die Bedeutung seiner ,,Haltung". Was hat es nim mit jenem „Abstumpfen" auf sich? W a s stumpft in Wahrheit ab, da die in Natur und Persönlichem unablässig strömenden Kräfte nicht verschwinden, mithin nicht unwirksam werden können? Unsere Sinne und unsere Gefühle schweigen; sie haben sich gewöhnt an die Reize, und desgleichen unser Verstand, soweit er die Sinnesempfindungen und Gefühlsregungen analysiert, beurteilt, erwägt und in Worten aussprechen und niederschreiben läßt. Während aber die Sinne und das Gefühlsleben schweigen, werden sie dennoch affiziert und dabei unmerklich gestaltet; die Verstandesseite jedoch verkümmert. Denn nicht mit seiner Verstandesseite, sondern i n



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s e i n e r Ä f f e k t i v i t ä t i s t der M e n s c h s t ä n d i g auf d i e W e l t , auf d a s G a n z e der W i r k l i c h k e i t b e z o g e n , und so ist es doch nicht zufällig, daß M a r t i n H e i d e g g e r den Menschen, ontologisch, nicht psychologisch gesprochen, vor allem ein „gestimmtes Wesen" und die „Stimmung" die Grundschicht des Menschen nennt. Der Verstand aber muß immer erst besonders geweckt werden, ,,neu angeregt", wie es bezeichnend heißt, durch Anreize zum Nachdenken, zu erneutem Überprüfen. Man muß etwa erst lernen, die Renaissance, die Dichtung, eine Landschaft, und ebenso sich selbst „anders zu sehen" und zu beurteilen. Daß es aber gerade die Verstandesseite ist, welche abstumpft, immer wieder einschläft, das erklärt uns erneut und deutlicher, warum die Geisteserzeugnisse der Menschen fortgesetzt drohen, sich uns zu entwinden. Einmal sind sie dem natürlichen Tode verfallen, den Motten und dem Rost. Und da sie nicht unter uns stehen wie Natur und Mitmensch, sondern als ein Mittleres zwischen beiden, so müssen sie immer von neuem verständlich gemacht werden. Wird aber solches Verständlichmachen übertrieben, zu oft wiederholt oder dürftig, matt, so wird das Werk uns verekelt und kaum je wieder für uns genießbar werden. Verstand und Rede können wir Menschen nicht entbehren und wollen wir auch nicht entbehren, da sie zu den großen Mitteln der B i l d u n g gehören, unsere Gieistigkeit zu erkennen und darzustellen. Äber wir stehen schon hier vor einer der wichtigsten Grunderkenntnisse, die uns mahnt, beide mit weiser Vorsicht in die planvolle und bewußt erziehenden Kreise einzureihen, sie in den Schranken von Dienerinnen zu halten, ais Mittel der Bildung, und nur in Nebenwirkungen als Mittel der Erziehung. Diese ist eine Wirklichkeitsfunktion; im Natürlichen ist die Form ihre Weise, zu erscheinen; bezogen auf den Menschen ist ihr Ziel die Vergeistigung des Menschen, seine Humanisierung als die Vollendung, die vollkommene Rundung und Durchdringung der menschlichen Form. Um die Klärung dieser Sätze geht es in allen folgenden Paragraphen. 3. Diese Einleitung erfordert noch eine abschließende Betrachtung. Wie wir dort von Sprachwissenschaft reden, wo die Erscheinungen der Sprache erforscht werden sollen, so von Er-



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Ziehungswissenschaft dort, wo ein allseitiges Verständnis der „Erziehung" angestrebt wird. E s gilt, sich voll und ganz in die Probleme zu vertiefen, welche im Zusammenhang „Erziehung" gegeben sind o d e r , und damit berühren wir das Wichtigere, überhaupt erst bei einer solchen vertiefenden Betrachtung auftauchen. An ihr ist uns bereits eine Eigentümlichkeit der Erziehungswissenschaft herausgetreten. Als Wissenschaft umgrenzt sie ihre Aufgabe allgemein wie jede andere. Auch darin unterscheidet sie sich nicht grundsätzlich von anderen Wissenschaften, daß sie über lange Strecken hin sich des besonderen „philosophischen Denkens" bedient, vor allem nicht als allgemeine Erziehungswissenschaft. Dieses aber hebt sie einstweilen wenigstens immer noch schärfer von anderen Wissenschaften, wie sie überlieferungsmäßig unter uns betrieben werden, ab, daß sie weder als allgemeine noch als angewandte Erziehungswissenschaft erfolgreich anheben kann, erfolgreich auch nur die schlichteste pädagogische Praxis durchleuchten und sie in das große Ganze ihrer Betrachtungsweise einordnen kann, ohne sich z u e r s t mit der B e z i e h u n g aller E r z i e h u n g zum Sinn des S e i n s und des G e s c h e h e n s a u s e i n a n d e r z u s e t z e n . Sie hebt demnach mit einer Erziehungsmetaphysik an im Sinne jener Metaphysik, welche über die Wissenschaft führt. Wohl kann diejenige Metaphysik, welche wir als sinnsuchende und sinnbestimmende Disziplin anerkennen, niemals durch die Wissenschaften vollendet werden, aber sie muß sich ihrer als ständiger kritischer Begleiterinnen im Entwurf ihrer Gedanken bedienen, soweit Wissenschaft metaphysisches Denken begleiten kann. In diesem Punkte stehen wir zur Forderung K a n t s in seiner „Architektonik der reinen Vernunft", und zu W i l h e l m W u n d t , der diese kantische Forderung zuerst systematisch durchgeführt hat 1 ). Das Eigentümliche der Erziehungswissenschaft ist es demnach, daß sie als Wissenschaft mit einer Sinndeutung ihres großen Gegenstandes anhebt. Wäre es da nicht doch richtiger von einer Erziehungsphilosophie zu reden? Unleugbar strebt schon M S. meine Schrift „Wilhelm Wundt und seine Zeit" 1925, S. 282 ff.



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eine Pädagogik danach, ebenso wie die Philosophie, die Totalität des Wirklichen zu umfangen, und darauf beruht das Recht wie die Möglichkeit einer philosophischen Pädagogik. Denker, die an ihr festhalten, sehen die Seinsdeutung oder die Formen der Begreiflichkeit der Erziehungswirklichkeit durch dasjenige System gegeben, von dem sie ihr System der Erziehung ausgehen lassen, etwa durch H e r b a r t , eine Richtung des Kantianismus, E u c k e n . Erziehungswissenschaft hat ferner mit aller Wissenschaft dies gemeinsam, daß sie unmöglich ohne Weltanschauungsgrundlage entworfen werden kann; aber wiederum, Weltanschauung ist nicht schlechthin Gegenstand der Philosophie 1 ). Die Erörterungen über das Problem Wissenschaft und Weltanschauung, die unsere Zeit so stark bewegen, gehören in jene immer stärker andrängende Strömung, welche zu einer „Auferweckung der Metaphysik" geführt hat. Wie Biologie auf uns gekommen ist, kann ich sie studieren und betreiben, ohne mich um den Sinn des Lebens zu kümmern; keine Biologie muß danach mit einer Sinndeutung des Lebens beginnen, und T h . E h r e n b e r g s „Theoretische Biologie" (1923) bildet eine Ausnahme oder richtiger den Beginn einer neuen Betrachtungsweise. Ebenso kann ich Physiologie, Anthropologie, Psychologie treiben, ohne mich verpflichtet zu fühlen, nicht zu ruhen, bis ich zuerst einmal den Sinn der φύσις, den Sinn des Menschen, den Sinn von Seele erfaßt habe. Mindestens wird noch so gearbeitet. E s war allerdings keineswegs immer so, sondern diese Art und Weise, ihren Gegenstand zu behandeln, ist das Eigentümliche der Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, seit der damals sog. „neuen Zeit", geworden, seitdem Mathematik und die naturwissenschaftliche Methode die beherrschenden Vorbilder für 0 Vgl. Max Ettlinger, Die philosophischen Zusammenhänge in der Pädagogik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, 1925, S. 30ff., und: M. Eggersdorfer, in der „Viertelsjahrschrift für wissenschaftliche Pädagogik", 1925, S. 325—335; R. Messer, Weltanschauung und E r ziehung, 1921; meine Schrift: Philosophie in erziehungswiss. Beleuchtung, 1929; Eduard Sprangers Äkademierede über den „Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Wissenschaften", 1929.



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Wissenschaft überhaupt geworden sind. Daß diese Richtung zu Verirrungen und Einseitigkeiten der wissenschaftlichen Forschung geführt hat, ist oft und früh nachgewiesen worden. So zeigte W. W u n d t , daß E r n s t H a e c k e l , W i l h e l m O s t w a l d und E r n s t M a c h vor geradezu unwissenschaftlichen Hypothesen und Entgleisungen bewahrt geblieben wären, wenn sie sich um wissenschaftliche Metaphysik bemüht hätten, ζ. B. gehört bei systematisch ordnender Betrachtung Ernst Haeckel in die Gegend der jüngeren Jonischen Physiker, und er entwarf eine „primitive poetisch-mythologische Metaphysik", die sich deswegen auch vorzüglich zur Volksreligion geeignet hat. Und L u d w i g K l a g e s wies nach, wie die psychoanalytische Wissenschaft zu ihren „Orgien des Sexualismus" nicht nur deswegen gekommen ist, weil sie sich von dem Verwendungsspielraum des Namens „Liebe" hat täuschen lassen, sondern vor allem, weil sie es unterlassen habe, „sich zu verständigen mit der Metaphysik, will sagen der Wesensforschung" 1 ). Der Erziehungswissenschaftler kann nicht so vorgehen, was nicht heißen soll, daß es nicht getan ward und noch geschieht. Aber es entstehen alsdann verkürzte Systeme: philosophische, psychologische, soziologische, biologische, und das vom positivistischen Begriff der Wissenschaft beherrrsehte Zeitalter hat auch eine sich vorzüglich „wissenschaftliche" nennende Pädagogik gesehen. Sobald jene mit der Forderung auftreten, ein System darzustellen, wird der Kundige alsbald herausfinden, daß auf dem Grunde doch eine Seinsdeutung vorhanden ist, daß diese nur nicht derart zum Bewußtsein gebracht ist, daß sie die Deutungen und Forderungen bestimmte, was doch nötig wäre, weil die letzten Begründungen nur vom Grunde aus gegeben werden können. Mag nun dieser Teil nicht herausgearbeitet sein oder ganz im Hintergrunde verharren, in Einem sind alle einig, auch ohne es ausdrücklich zu bekennen: Alle unsere menschlichen Versuche, von uns aus zu erziehen, seien hinfällig und nichtig, wenn dem Gesamtgeschehen, in dem wir stehen und an dessen Gestaltung wir teilnehmen, das wir Wilhelm Wundt, Reden und Hufsätze, S. 96ff.; L. Klages, Vom kosmogonischen Eros, 1922, S. 17.



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sogar zu beeinflussen suchen, k e i n Sinn einwohnte. Wenn uns von irgendeiner Philosophie oder einer Wissenschaft oder auf einem anderen Wege nachgewiesen werden kann, daß dieses Geschehen, in dem wir stehen, leben und sind, sinnlos ist, dann ist damit alle Pädagogik, alles planvolle Erziehen als ein Unsinn erklärt; sie sind Narretei wissender oder unwissender enthusiasmierter Betrogener. Kein Pädagoge Europas hat es bislang unternommen, ein System und eine Praxis auf der Lehre von der Sinnlosigkeit der Welt und des Menschenlebens in ihr aufzubauen 1 ). Schon diese Tatsache redet eine ganz gewaltige Sprache und zwingt jeden ernsten Erzieher zum Nachdenken darüber, womit sie zusammenhängt, worin denn diese grundlegende Tatsache ihrerseits wieder gründet. Wiederum genügt es vorerst, erneut darauf zu verweisen, daß eine Wissenschaft uns nie bis an diese letzten Gründe hinzuführen vermag, daß wir es in den Anfängen unsrer Erziehungswissenschaft mit einer metaphysischen Betrachtung zu tun haben, d a ß h i e r die m e t a p h y s i s c h e S t r e i t f r a g e (Aporie) der E r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t e n t s p r i n g t , deren Behandlung und Beantwortung die erste und vordringlichste Aufgabe der allgemeinen Erziehungswissenschaft dieses Umgangs bedeutet. Der tiefste Grund für die heutige Erschütterung aller Erziehungsmaßnahmen unter den christlichen Völkern liegt gerade darin, daß sie sich von der Frage nach dem letzten Sinn allzu weit entfernt haben. Was sie als Sinn der Erziehung — weniger aufgestellt denn als Epigonen so gelassen haben, das ist in ihren Sprachen abgeschliffen, ist klanglos und kraftlos geworden, etwa „Charakterstärke der Sittlichkeit", „sittlich-religiöse Charaktere", den „besten Staatsbürger". Ärger noch: zwischen diese großen zielgebenden Worte und die kleine alltägliche Erziehungspraxis sind die Vorschrift, die Verordnung, der Aufsichtsbeamte, die Gehaltsstufenleiter, die Titulatur, der rohe bürgerliche Nutzen und Profit der Erziehungsarbeit getreten, und diese Fälschungen und Ersatzstoffe haben die Stelle des Sinnes be!) Vgl. über die Ansätze vom Pessimismus aus m. Schrift: Die Philosophie in erziehungswissenschaftlicher Beleuchtung, S. 25—29. P e t e r s e η , Erziehungswissenschaft.

II.

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setzt, und so wird in der Tat die Masse der täglichen Arbeit getan, losgelöst vom Sinn aller Erziehung. Das macht die Überlegenheit aller Versuche „Neuer Erziehung", neuer Schulgesinnung, begreiflich; denn sie warfen und werfen unermüdlich die Frage nach dem Sinn radikal auf und wollen fortan alles, was sie treiben, daran messen, erproben und Altes neu überprüfen. Sie sind selbst dort der alten Schule überlegen, wo sie, im organisatorischen Sinne gesehen, scheitern mußten, weil sie jede kleinste Tätigkeit sinnvoll gestalten wollten und in diesem Ringen zwischen Sinngestaltung und Lebensnot von dieser zugedeckt wurden. Aber inmitten dieses Kampfes trat der Zwang zur Besinnung auf den Gehalt des erzieherischen Tuns verstärkt hervor, und wo die Vernichtung gelang, wo sich eine der alten behördlichen oder politischen Gewalten siegreich über den neuen Versuch legte, dort wollte diese doch auch ihre Erziehungsanschauung zur Geltung bringen, und sie offenbarte sich nur noch deutlicher dadurch als nicht im Einklang mit der Zeitlage. Es erhebt sich hier aber eine neue und ernsteste Frage: wandelt sich denn der Sinn der Erziehung? ist er nicht „ewig derselbe" genannt worden? Ja, allerdings ist er das, und zwar „Vergeistigung". So muß anerkannt werden, daß alle, sobald sie gezwungen werden, sich auf den letzten Sinngehalt zurückzuziehen, dasselbe wollen. Wir verstehen daher auch die Schärfe des Kampfes, die Absolutheit der Standpunkte, den Fanatismus, weil eben alle auf demselben Grunde stehen, weil alle es wissen oder fühlen, es geht zu einem Kampfe um die letzten Forderungen oder, wie so oft gern gesagt wird, um heiligste Güter. Das gilt für Herbartianismus, Kommunismus, Marxismus, Nationalismus, Katholizismus usw. gleichermaßen. Alle kämpfen um ihr Bekenntnis, ihre „Konfession", sie wollen allesamt „Konfessionalisierung" der Schulen und aller Bildungsstätten, sobald sie sich auf i h r e dogmatische Auslegung des Sinnes der Erziehung zurückziehen 1 ). Es ist in unserem Jahrzehnt bitter nötig, Wie das von den Bestrebungen des „Bundes freier Schulgesellschaften" gilt, zeigt ein so bedeutender Anhänger der weltlichen SchuLe



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dafür die Augen zu öffnen. Der Widerstand, ja der Haß gegeneinander, beruht darauf, daß sich zwischen Sinn und Sinndarstellung etwas eingeschoben hat, ein rein Rationales, ein technisches Moment, das nicht an sich erzieherisch ist, sondern ein Hilfsmittel, ein Gerät. Der Herbartianismus erstrebt ohne Zweifel Vergeistigung und setzt Freiheit ein in seinen Betrachtungen über die Moralität im erweiterten Sinne. Aber eine erste bedeutsame Schranke entsteht ihm in der Summenlehre: daß es möglich sei, das beste Geistige, das Wertvollste der geistigen Kultur seit den Anfängen, mindestens seit den Tagen Homers, gleichsam als Extrakt für Zwecke der Belehrung und Bewirkung eines moralischen Charakters zu gewinnen ; andere Schranken liegen in der auf Mathematik begründeten Assoziationspsychologie, in der Lehre von der Entwicklung des Kindes, von der Menschheit, vom Staate. — Der Marxismus geht aus von der Annahme fortschreitender Vernünftigkeit, ursprünglich im Hegeischen Sinne, dann aber mehr und mehr popularisiert und aufklärerisch abgeschwächt. Die erstarrenden Momente finden sich u. a. im historischen Materialismus, in der politischen Methode, etwa in Form des Klassenkampfes, in deren Dienst auch die Jugend und die Schule genommen werden müssen. — Kommunismus in seiner idealen Auffassung will die Freiheit des geistigen Menschen in Frieden und Schönheit ohne Ausbeutung durch andere, bindet sich aber zu ausschließlich an bestimmte wirtschaftliche Formen und gesellschaftliche, vorweg genommene Zustände, sodaß nun weniger Gesinnung als die äußere Lebensgestaltung der Gesellschaft durch Wirtschaft und Staat betont wird. — Der Katholizismus blickt auf den Christenmenschen als Bürger des Gottesreiches, also auf die Spiritualisierung des Menschen, überbetont nun aber äußere Veranstaltungen seiner organisierten Weltlichkeit in der Lehre von der Kirche, vom Papste, verfällt unchristlicher Intoleranz und Bekehrungssucht, verwendet politische Mittel im Glaubensstreit und verkehrt damit vollends Jesu Lehre. wie W i l h e l m S a n d e r in seinem Aufsätze „Konfessionalisierung der weltlichen Schule" in der „Preußischen Lehrerzeitung", 18. 3. 1930. 9*



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— Der Nationalismus kämpft für Freiheit zur kulturellen Entfaltung eines Volkes, um reine Darstellung seines Wesens, seines Geistes, verkauft sich aber an Machtpolitik und ihre Unduldsamkeit, etwa gegen politisch anders denkende Volksgenossen oder gegen nationale Minderheiten, die einem Trieb zur Expansion, wie er sie auffaßt, nämlich territorial, militaristisch und kapitalistisch, entgegenstehen könnten, und so schleichen sich egoistische wirtschaftliche Interessen ein. Wer nur auf das in Reinheit vorgetragene I d e a l hört, muß überall eine geistige, verehrungswerte Ansicht vom Geschehen, in das man eintreten will und dem man dienen will, feststellen. In Ansehung des Geistigen selbst und an sich gibt es auch nichts Veraltetes, überhaupt nicht alt und neu, und so kann bei einer Besinnung auf dieses letzte Geistige mit Recht gesagt werden : dies oder das hat schon der oder jener gesagt oder getan oder gewollt. Das, was sich wandelt und damit auch veraltet, ist mithin nie das Ideale als solches, sondern die Wandlungen vollziehen sich an folgenden drei Faktoren, die alle der menschlichen Arbeit am Ideale dienen, die also menschliche Versuche sind, dem Geistigen eine „Fassung" zu geben, — ähnlich wie Gold immer Gold bleibt, aber die menschliche Geschicklichkeit, Goldenem andere, neue und, wie wohl auch gesagt wird, schönere, geschmackvollere Fassungen zu geben, sind wandelbar. Jene drei Faktoren in der menschlichen Arbeit am Geistigen, an den Idealen, wie in diesem Zusammenhange auch gesagt werden kann, sind die Motivation, der sprachliche Ausdruck und drittens die Verwirklichung, die Gestalt, die Konkretisierung. Dabei ist es unmöglich zu sagen, was bei einer Wandlung, einer Metamorphose, zuerst als ungenügend, als nicht mehr befriedigend erlebt wird. Aber erst wenn alle drei Faktoren von einer Zeit neu bearbeitet sind, also die überlieferte Arbeit innerlich völlig überwunden wurde, ist die Wandlung vollkommen, und das „Neue" steigt auf und „siegt". So kann dieses Neue auch eine Renaissance sein; dann wird ein älteres, uns überliefertes Kulturgut neu angeschaut, das in ihm aufgespeicherte geistige Leben neu erschlossen, d. h. aber in Wahrheit: eine Zeit legt ihre eigenen Sehnsuchten um jenes Alte, —

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wie ζ. Β. in der Gegenwart von manchen im Friderikuskult geschieht, — weil sie in der Gegenwart selber nichts vorfindet, das ihre Sehnsucht stofflich ausfüllen könnte. Stets sind es jedoch metaphysische Gründe, aus denen Neues, d. h. die neue Arbeit am Idealen, aufsteigt; denn die Ideale gehören selber zum Grunde, und wir können nur durch sie, d. h. durch ein Leben und Schaffen, das sie richten, in Einheit mit dem Ganzen und daher audi in Einheit mit uns selber, in Harmonie leben und schaffen. — Die Bindungen, denen alle Arbeit am Geistigen unterliegt, sind auf große Strecken hin derart, daß sie niemand meiden kann, und auch uns wird es nicht möglich sein, im freien Luftraum ein Sonnensystem der Erziehung zu entwerfen. Allein eins können wir: wissend um diese Bindungen uns zunächst in den Sinn der Wirklichkeit und damit der Erziehungswirklichkeit vertiefen, und nun, nutzend den Vorteil aller Wissenschaft, uns vorsichtig ins Land der Tatsachen erheben, die es zu fundieren gilt. So wie wir hier Sinn oder Wesen der Erziehung auffassen, sind Sinn oder Wesen und Ziel ein und dasselbe. Haben wir den letzten Sinn des Geschehens, so haben wir damit das Wesen der Erziehung und zugleich das Ziel. Ziel ist demnach hier nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß wir Wesen sich in der Zeit darstellen sehen, „für uns". Ziel ist demnach nur eine besondere Art der Betrachtung des Wesens. Und dasjenige Ziel, das in dieser Weise mit dem Wesen zusammenfällt und nichts weiter als eine andere Weise ist, das Wesen auszudrücken und aufzufassen, ist unter verschiedenen Zielen allemal das höchste. In der pädagogischen Praxis sind daher alle Ziele, welche dem Leben in den Reichen der Lebensnot dienen, obwohl diese wichtig und praktisch auch unumgänglich sind, dennoch stets dem Wesensziel untergeordnet. Diese Unterordnung, die von Pädagogen und Erziehern aller Zeiten, die über ihr Tun nachgedacht haben, als selbstverständlich gefordert wird —, also wiederum eine Tatsache erster Ordnung, die es grundsätzlich zu überdenken gilt —, auch sie kann nur in metaphysischer Betrachtung eine Erklärung finden. Und so „existiert" für uns die Erziehungswissenschaft aus der Metaphysik in dem-

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selben Umfange, wie es M a r t i n H e i d e g g e r von aller Wissenschaft fordert, da sie nur dann vermag, „ihre wesenhafte Aufgabe stets neu zu gewinnen, die nicht in Ansammeln und Ordnen von Kenntnissen besteht, sondern in der immer neu vollzogenen Erschließung des ganzen R a u m e s der W a h r h e i t von Natur und Geschichte" 1 ). !) Was ist Metaphysik?, 1929, S. 27.

I. Die metaphysische Streitfrage der Erziehungswissenschaft. Πάντες γαρ συμφωνουσιν οί σοφοί, €αυτους όντως σεμνυνοντες, ώς νους εστί βασιλεύς ήμιν ουρανου Τ€ και γης. Piaton, Phil. 28 C. §2.

Die Erziehungswirklichkeit. Im Arbeitsbereiche der Wissenschaften wird von der Wirklichkeit geredet als von dem, das es zu bearbeiten, zu reinigen, zu ordnen gelte, oder wie sonst die Ausdrücke lauten mögen. Diese zu bearbeitende Wirklichkeit wird in ihrem Gegebensein vor der wissenschaftlichen Durchprüfung etwa gleichgesetzt der „ursprünglichen Wahrnehmungs- und Erlebenswelt" oder dem naiven, unkritischen, mehr hingenommenen als selbsttätig und reflektierend entworfenen Weltbilde; es ist der Bereich der „vorwissenschaftlichen Erfahrung" verglichen mit dem der „begründeten" Erfahrung, der Bereich des „unmittelbaren Wissens" im Sinne der Η e gel sehen Phänomenologie. Das Ziel aller Wissenschaft aber ist und bleibt es nun, Wahrheit festzustellen, Wahrheit gegenüber dem Schein. Was ist innerhalb jener vorgegebenen Wirklichkeit wahr, was ist nur Schein, oder was ist in dem, das zunächst als subjektiv wahr hingenommen wird, objektiv wahr. Und so unternimmt es die Wissenschaft, die Wirklichkeit, zu reinigen. Wovon? Ganz besonders von allen subjektiven Inhalten, um d a s Objektive herauszustellen. Deswegen ist Objektivität auch als H a l t u n g die oberste Pflicht des Wissenschaftlers. Selbst wenn er sich einer Untersuchung des Subjektiven hingibt, soweit dieses selber Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, nämlich der Psychologie, werden kann, sollen sein Verhalten und seine Haltung nichts anders sein als die des objektiven, nüchternen, sachlichen Forschers, Beobachters und Deuters. So hat W i l h e l m W u n d t klar zusammenfassend als Aufgabe aller wissenschaftlichen Erkenntnis bestimmen können : ob-



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jektive Realität zu erhalten, wo sie vorhanden sei, sie zu gewinnen, wo sie nicht gesichert sei. Was sich nun als Ergebnis der wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit darstellt, das ist, alles zusammengenommen, das wissenschaftliche Gegenbild jener „ursprünglichen", vorgegebenen Welt. Wir wollen diese Arbeit mit 0 . K ü l p e „Realisierung" nennen; Wissenschaft wirkt „Realität", indem sie die erscheinenden Gegenstände, Dinge, Vorgänge realisiert. Das deutsche Wort „Wirklichkeit" soll, im Einvernehmen mit dem philosophischen Sprachgebrauche, vorbehalten bleiben als Ausdruck für die Gesamtheit des Seienden, die Totalität des Weltinhalts, des Weltgeschehens und Seins. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit auch das Absolute. Wirklichkeiten sind für uns Ausschnitte aus dem Absoluten oder Seiten, Formen des Absoluten, der Wirklichkeit, wie sie von uns erlebt, begriffen, wissenschaftlich alsdann bearbeitet, realisiert, aber auch gelebt, bewertet und im praktischen Handeln beherrscht, gestaltet werden können. Fragen wir im folgenden nach dem S i n n der Wirklichkeit, so stellen wir auch die Frage nach dem Urgründe alles Seienden, weil das Da- und So-Seiende in der Wirklichkeit gründen muß. Zu dieser Fragestellung wird der Erziehungswissenschaftler, wie bereits aufgezeigt, zu Beginn seiner Untersuchungen genötigt. Sowohl der praktische Erzieher wie der Theoretiker der Erziehung heben mit einer Position an: „Die Wirklichkeit hat einen Sinn". Vom „Sinn" aber reden wir hier in jener Bedeutung, wie sie ihm etwa die Biologie gibt, oder als von etwas, das dem „ßauplan" in der Morphologie entspricht. Es ist dort das, was in einem individuellen Ganzen verwirklicht wird und dessen Wesen offenbart, zu dem hin daher alles Triebhafte sich richtet. Deswegen ist auch der Sinn einer solchen Totalität ihr eigentlicher und konkreter Kern und dasjenige, was den Teilen wiederum erst Sinn gibt, zugleich das, was immer nur Eins ist in jeder Ganzheit und dieser die geistige Kraft gibt, sich zu behaupten als Ganzheit in Einheit 1 ). Und was diese Urtatsache, dieser „UrM Vgl. unten S. 77.



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stand" bedeutet, muß durch die Beantwortung der metaphysischen Streitfrage der Erziehungswissenschaft geklärt werden. Aber liegt es nicht vielleicht so: wenn die Wissenschaften in ihrer Gesamtheit einmal alles Erscheinende realisiert haben, so haben sie zugleich das Absolute, die Wirklichkeit an sich, realisiert? Das hieße, sie hätten die Wirklichkeit wissenschaftlich begreiflich, beweisbar, und damit nun auch — lehrbar gemacht. Das Endergebnis aller Realisierung wäre die wissenschaftliche, verstandesmäßige Erschließung und Begreiflichkeit der Wirklichkeit. Durch methodische, kategoriale Welte r k l ä r u n g wäre das Weltganze auf seinen Begriff gebracht. Unsere Kenntnis der wissenschaftlichen Arbeit, ihrer Methoden und eines ausreichenden Teiles ihrer bisherigen „Ergebnisse" rechtfertigt ein Nein. Und das besonders nach zwei Richtungen : keine Wissenschaft kann ohne Vermutungen, Hypothesen, auskommen, — und noch nie ist eine Wissenschaft auf dem Wege der reinen Erklärung ans Ende gekommen, darin genau so beschränkt wie jede philosophische, religiöse, wissenschaftliche Weltanschauung. Es gibt außer dem Verstände eine Anzahl anderer im Menschen wirksamen Mächte und Kräfte: Triebe, Gefühle, Neigungen usw., deren Äußerungen immer wieder die Kunstgebäude des Verstandes verwirrt oder durchkreuzt haben, — wie es der systemstarre und Gedanken schichtende Wissenschaftler empfinden muß, wenn er daran festhält, von der Wissenschaft aus Leben und Wirklichkeit endgültig einmal meistern zu können, und wie es im Wissenschaftsbegriff des Rationalismus wie des Positivismus enthalten ist. Ein anderer möchte liebe? sagen: es wird aus der Affektivität des Menschen in die kühifn, nüchternen Bauten des Verstandes Licht, Wärme, ein gewagt-kühnes, verwegenes oder ein abmilderndes, versöhnendes, rundendes oder ein sprengendes, gewalttätiges, zerreißendes Element, immer aber Leben und Bewegung eingefügt; denn durci seine Affektivität reicht der Mensch unmittelbar an den Grund der Welt und enthüllt sie sich ihm stets von neuem als. Ganzes wie in Teilen. Es ist eine Tatsache, wie es nur eine andere wissenschaftlich so genannte sein kann, daß der Grund und der Sinn der Wirk-



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lichkeit nie kausal zu erfassen sind. Sie decken sich mit keiner Logik ; sie liegen jenseits aller Syllogistik. Aber damit sind wir mitnichten der Aufgabe überhoben, uns Rechenschaft darüber zu geben, was jene Aussage bedeutet: die Wirklichkeit hat einen Sinn. Damit ist nicht gemeint, was die Wissenschaft meint, wenn sie etwa sagt, das Atom, die Entwicklungstheorie habe diesen oder jenen Sinn. Sinn-haben ist hier nicht = bedeuten, meinen, sondern dieses: die Wirklichkeit ist so oder so, enthält oder entläßt dies oder das. — Wer mir jenen Satz bestreitet, dem stehe ich mit einem mich ganz erfüllenden Staunen gegenüber wie vor einem Abgrunde, über den ich nicht hinüber kann, mit der Empfindung, dem Nichts gegenüberzustehen. Es ist darum so, daß ich den Redenden nicht verstehe, weil ich den Satz nicht verstehen kann — von seinem grammatischen Aufbau abgesehen — : „die Wirklichkeit ist sinnlos, hat keinen Sinn". Ich mag versuchen, mir einzelhafte Vorgänge als „blindes Geschehen" verständlich zu machen, aber auch dann bleibt in mir das Gefühl zurück, ich habe mit „blind" doch nur bezeichnet, was ich nieiht verstehen kann, und weiteres Nachforschen in mir selber führt zu dem Eingeständnis, daß ich „im Grunde" nicht an blindes und somit sinnloses Geschehen glaube. Was so bei ernsthafter Selbstprüfung und bei allseitigem Nachdenken über Einzelvorgänge nicht genügt, das versagt vollends dem Ganzen gegenüber, wollte ich es als „ohne Sinn" auffassen. Ich kann nicht anders, als ihm Sinn beilegen, es als Kosmos ansprechen. Es handelt sich um eine letzte und einfachste synthetische Wahrheit, der nach Lotze l ) „ästhetische Evidenz" zukommt, d. h. ihr Prüfstein ist die „evidente Absurdität ihres kontradiktorischen Gegenteils". Damit wird die Frage nach dem Sinn der Wirklichkeit gleichbedeutend mit dieser: Was muß ich von der Wirklichkeit aussagen? Es wird die Aussage ein evidentes Urteil enthalten. Es handelt sich um ein M,uß eigentümlicher Art, und in die Eigentümlichkeit dieses Muß, dieser Evidenz müssen wir uns tiefer und gründlicher hineindenken, um genau zu wissen, was es denn für ein Boden ist, auf dem wir stehen und bauen. Logik, § 361.



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1. E v i d e n z ist ein Grundbegriff der Logik. Es gibt „logische Evidenz". Damit wird ausgesagt, daß einem Urteil, als dem E r g e b n i s eines Denkaktes, der Charakter i n n e r e r N o t w e n d i g k e i t beizulegen sei; es ist nun einmal so: A = A. Die Richtigkeit des Satzes leuchtet sofort oder von selbst ein, sobald ich ihn d e n k e n d ausspreche. Die V e r k n ü p f u n g der Begriffe im evidenten Urteil, die Art, wie sie zueinander in Beziehung gesetzt sind, das erweckt in dem denkenden Menschen — mit dem Worte selbst und deutsch gesprochen — eine A n s c h a u l i c h keit der Art, daß jene Verknüpfung, jene Art des in Beziehungstehens gar nicht a n d e r s sein kann. Diese Beziehung „leuchtet uns ein"; es geht von ihr ein Leuchten aus, dem wir innerlich zustimmen. Die Arten evidenter Urteile zu behandeln ist Aufgabe der Logik. Uns aber interessiert es, zu erfahren, was es denn sed, das solches evidente Urteil begründet, wenn es der Verstand allein nicht kann. S i g w a r t nimmt in diesem Zusammenhange ein rein empirisches Merkmal in seine Logik hinein und sagt, ein evidentes Urteil werde von einem G e f ü h l e begleitet, das in uns das V e r t r a u e n in die Notwendigkeit dieses Denkprozesses weckt. Der Denkakt bedarf gewissermaßen in solchem Falle noch eines besonderen Vertrauensvotums, das ihm von der Gefühlsseite her erteilt wird. W i l h e l m W u n d t findet darin wohl eine richtige psychologische Beobachtung, allein er schreckt davor zurück, bei dieser Begründung stehen zu bleiben, weil dann das Fundament aller Erkenntnis einem trügerischen Gefühle anvertraut wäre. Denn logische Evidenz ist schlechthin das F u n d a ment a l l e r E r k e n n t n i s , insofern das logische Denken als solches den Charakter innerer Notwendigkeit an sich trägt, vermöge deren wir seinen Verbindungen G e w i ß h e i t zuschreiben, sofern sie eben „logisch", d.h. den logischen Axiomen, Gesetzen usw. gemäß vollzogen sind. Welcher Weg zur Erklärung wird aber nun von W. W u n d t beschritten? In den abstrakten Eigenschaften des Denkens kann die Begründung nicht liegen, ebensowenig in den empirischen Gegenständen, welche den Inhalt dieses Denkens ausmachen, also kann diese Evidenz nur entstehen durch die Wechselbeziehung des vergleichenden Denkens und der in



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äußerer oder innerer Wahrnehmung gegebenen Erfahrungsinhalte. Der besondere Charakter, den das Ergebnis dieser Wechselbeziehung trägt, ist nun dem „Begriffsgefühl" verwandt. Darunter versteht die Psychologie ζ. B. den Vorgang, der uns dazu geführt hat, in der Begriffsbildung „Dreieck" die Ecke hervorzuheben anstatt der Seite, um dann etwa „Dreiseit" zu sagen. Die vergleichende Sprachpsychologie belehrt darüber, daß die verschiedenen Völker, selbst Menschengruppen desselben Volkes, bei der Begriffsbildung ganz Verschiedenes an einem Gegenstande herausgehoben haben (vgl. Blitz — éclair). Die bei solcher Begriffsbildung aufgewandte apperzeptive Tätigkeit muß jedesmal mit einem Gefühl besonders eng verbunden gewesen sein, daß die Menschen dazu bestimmte, gerade diese und nicht andere Merkmale hervorzuheben, und dieses Gefühl nennt W·. Wundt Begriffsgefühl. Offenbar sind wir dann aber mindestens in die Nähe derselben Quelle des Evidenzbewußtseins gelangt wie bei Sigwart. Mit Recht ist daher behauptet worden 1 ), „daß die Evidenz des Logischen, sogar die Evidenz der logischen Axiome, die die ganze Logik tragen, keine unmittelbare, sondern eine abgeleitete Evidenz ist". Jede Logik betrachtet den Satz der Identität A = Ä als Grundlage aller Logik und schreibt ihm höchste logische Evidenz zu. Nichts sdieint evidenter-einleuchtender-anschaulicher als dieser Satz, wonach ein Gegenstand in seiner totalen Bestimmtheit derselbe bleibt, ob und wie ich ihn denke. „ D i e Logik kann aber über die Gegenstände als solche nichts aussagen. Sie kann bloß über das Denken der Gegenstände Bestimmungen machen. M. a. W . der Satz der Identität, der auf Identität der Gegenstände überhaupt hinzielt, hat als logisches Axiom einen viel beschränkteren Sinn. Er kann bloß folgendes bedeuten: Die Gegenstände, über d i e man denkt, müssen als mit sich identisch g e d a c h t werden; d. h. wenn auf einen Gegenstand im Denken Bezug genommen wird, muß angenommen werden, daß er dadurch in keiner Weise beeinflußt wird." Denn wo das der Fall wäre, da verändert ja das Denken den Gegenstand und dadurch „würde die erkenntnisx)

Vgl. Ä. R. Grünbaum, Herrschen und Lieben als Grundmotive der philosophischen Weltanschauungen, 1925, S. 59 ff., 58.



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mäßige, d. h. objektiv sein sollende Erfassung des Gegenstandes sich selbst aufheben". Welche Bedeutung hat denn jenes Axiom? Die Logik hat sich selbst den Satz der Identität schon zu Beginn ihrer Arbeit auferlegt, um vernünftige Erkenntnis überhaupt zu ermöglichen. Und insofern ist er evident „nur als Bedingung für die Erfüllung derjenigen Ziele, die sich die Logik setzt... Er ist eine Subreption der Ziele, die durch Logik als Mittel erreicht werden sollen", und auch nur im abgezirkelten Bereiche des Logischen brauchbar. In der Erkenntnistheorie steht es nicht anders. Es ist niemals gelungen, „einen wirklichen Beweis für die Objektivität der vernünftigen Einsichten zu liefern... An Stelle eines echten Beweises findet man letzten Endes nur den Hinweis auf die Evidenz der rationalen Data. D. h. aber, daß die einleuchtende Evidenz, die jenen rationalen Satz bloß im konkreten Erkenntnisakt begleitet, ultima ratio der Vernunft selbst bilden muß; m. a. W. es gibt keine Selbstrechtfertigung der Vernunft." Damit wird aber klar, daß erstens „die Vernunft nicht das alleinige Mittel zu sein braucht, um zu den Zielen zu gelangen, die uns die Erkenntnis vermittelt", und ferner: „falls Vernünftigkeit gelten soll, muß sie eine Begründung haben, die außervernünftig ist"! W a s dieses „Äußervernünftige" sei, das auch das Vernünftige begründet und aus dem jene logische Evidenz als eine „abgeleitete" schließlich stammt, können wir nur dadurch aufklären, daß wir uns Akte unmittelbarer Evidenz vergegenwärtigen. Evidenz kommt vor allem dem ästhetischen Urteil zu. Und als der junge H e r b a r t nach einem „Ursprünglich-Notwendigen" als der unverrückbaren Grundlage der Weltbeurteilung für den Aufbau eines sittlichen Charakters suchte, da blieb ihm nur die ästhetische Notwendigkeit bestehen. Er fand sie dadurch ausgezeichnet, daß „sie in lauter absoluten Urteilen, ganz ohne Beweis, spricht, ohne übrigens Gewalt in ihre Forderungen zu legen. Auf die Neigung nimmt sie gar keine Rücksicht; sie begünstigt und bestreitet sie nicht. Sie entsteht beim vollendeten Vorstellen ihres Gegenstandes". Diese Geschmacksurteile brechen „aus der Mitte des Gemüts" hervor; sie sind ursprünglich,

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absolut unabhängig und vor allen Dingen, sie springen „mit unmittelbarer Evidenz" hervor. H e r b a r t zeigte sodann in seiner Praktischen Philosophie eingehend, daß wir es hier nicht mit Logik, auch nicht mit Psychologie zu tun haben. Es handle sich nicht um ein Definieren, Demonstrieren, Deduzieren, Unterscheiden von Gattungen, Räsonnieren über Vorhandenes, sondern — um ein Sich-versetzen in die Auffassung der gesamten einfachen Verhältnisse. Und das Ergebnis eines solchen „Sich-Hineinversetzens" ist dann das evidente ästhetische Urteil; er nennt es darum „Effekt des vollendeten Vorstellens von Verhältnissen, die durch eine Mehrheit von Elementen gebildet werden". Und der Erfolg für das Subjekt des ästhetischen Urteils? Es wird in η e „eben des spezifischen Beifalls und des spezifischen Mißfallens, welches jedem der einzelnen Verhältnisse ursprünglich eigen i s t " 1 ) . In dieser Weise erfassen wir auch das, was wir an etwas „Vollkommenheit" nennen. Wir besitzen die Fähigkeit, uns in andere Wesen, in eine Landschaft, in ein menschliches Kulturwerk so hineinzuversetzen, daß wir den vollendeten Eindruck empfangen, es sei in seiner Weise vollkommen. Uns leuchtet etwa die Vollkommenheit einer tierischen Organisation ein, etwas, das sicherlich nie durch eine Beschreibung dieser Organisation restlos gewonnen, wohl aber in etwa durch sie unterstützt werden kann — oder wir finden Vollkommenheit in der Art und Weise, wie in einer Gegend das einheimische Bauernhaus der Landschaft angepaßt ist. Wir „erschließen" uns dergleichen nicht restlos, sondern es ist, als ob wir m i t e i n e m M a l e in einen solchen Zusammenhang hineinversetzt sind und die Vollkommenheit im Zusammen aller Einzelheiten uns wie mit einem Schlage aufgeht. So stehen wir gegenüber einer Blume, einem edlen Tiere. Wenn man in solchen Fällen versucht, das Erlebnis mit Worten zu umschreiben, der „Schönheit" Ausdruck im Wort zu verleihen, so merkt ein jeder sofort, daß er bald stecken bleibt. Vielleicht ist es so, daß wir als die TotaVgl. Herbart, Über die ästhetische Darstellung der Welt usw. § § 18—20, und Allgemeine Praktische Philosophie, Werke, herausgeg. von Hartenstein, VIII., S. 17ff.



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lität eines Organismus, dem irgendwie Vollkommenheit zuzuschreiben ist, eben als diese Totalität uns einer anderen gegenüber empfinden können und diese als eine Totalität, wie wir sie selbst darstellen, erfassen. Und ganz vortrefflich charakterisierte H er bar t dieses Verhalten als liegend in der Mitte zwischen Rechnen und Dichten und als unerschütterlich, unwiderleglich durch Beweise. Nicht anders steht es mit den religiösen Erlebnissen und den Urteilen, in welchen sie ausgesprochen werden. Das Fundament eines Glaubens ist nicht lediglich im Verständigen errichtet, sondern es enthält Gemütswerte, gefühlsbetonte Elemente, die dem Glaubensleben des frommen Menschen, aber genau so dem Glaubensleben eines, wie er sich nennt, nur ethisch gerichteten Menschen, als anderen Gefühlswerten gegenüber unverrückbar innewohnen. Es gibt keinen Menschen, und es hat ihn nie gegeben, dessen Lebensführung und dessen Beurteilung undBewertung von Mensch und Welt nicht solche gefühlsbetonte Glaubenselemente enthielten. Ja, aller Fanatismus der Weltanschauungen beruht eben darauf, daß jeder Teil g l a u b t , evidente Urteile auszusprechen. Und es war der größte Irrtum von Gelehrten und Philosophen, insonderheit des 16.—18. Jahrhunderts, ein Irrtum, den selber Genies wie N i k o l a u s T a u r e l l u s und L e i b n i z geteilt haben, daß sie meinten, Weltanschauungen könnten auf dem Wege logisch richtig geführter, in streng logischen Demonstrationen durchgeführter Disputation versöhnt werden; denn „der Macht der Beweise müsse sich jedermann beugen". Das ist bis in unsere Tage hinein der Erzfehler aller Aufklärer gewesen, zu wähnen, des Menschen Sein und Werden bestehe auf Rationalität. Nein, es besteht auf Irrationalität, was in keiner Weise Widervernünftigkeit bedeutet; beruht doch das logische Denken auf einem Irrationalen und trägt dennoch Wissenschaft wie Philosophie gleicherweise. Das Leben, also auch unser Leben, besteht nicht auf Rationalität; nichts sollte uns zeit unseres Lebens klarer und selbstverständlicher sein als dies. Diese Grundansicht müßte alles Handeln des praktischen Erzieher beherrschen, und muß es mindestens von nun an grundlegend ändern. Alle unsere Neigungs-,



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Trieb- und Liebesverhältnisse zu Gegenständen, zur Natur, zu Menschen lassen sich mit dem Verstände nie und nimmer erklären. Demnach gibt es auch im Grunde ein Wissen um diese Verhältnisse und ihre Gegenstände, das primär ist jedem Wissenschaftlichen gegenüber, ja jedem Verständigen gegenüber. Und wiewohl jede kausale Erklärung versagt oder ungenügend bleibt, sind doch diese Verhältnisse für uns derart klar, einleuchtend, selbstgewiß, daß wir uns überhaupt nicht erst um eine verständige Erklärung bemühen. Mag die Wissenschaft sich auch über diese Verhältnisse und Zustände ausbreiten, sie schildern und zu begründen suchen, sie ändert damit an dem tatsächlichen Leben und Erleben nicht das Mindeste, — wie denn ja die vorzüglichsteGeopsychologie undHeimatkunde auch nicht das mindeste am Heimweh dieses Menschen zu ändern vermöchten. Wir stehen zu der Wirklichkeit in einer Totalitätsbeziehung, d. h. wir als Gesamtpersönlichkeit zu dem Seienden schlechthin. Und wir stehen deswegen in dieser Beziehung, weil wir Glieder der Wirklichkeit sind, ihr Teil, ja im tiefsten Sinne ihr Gebilde. Sie besitzt eine eigne Leuchtkraft, und alles Einzelne hat ebenfalls von dieser Kraft an sich, und wenn wir, poetisch gesprochen „sonnenhaft", wissenschaftlich gesprochen uns „anschauend", verhalten, befinden wir uns in einer „originär gebenden Erfahrung", genauer im „lebendigen Vollzug der Einsicht" und im originär gebenden „Sehen" 1 ), und darum vermögen wir an der Wirklichkeit und allen ihren Formen t e i l z u n e h m e n und wird ein Etwas in seinem Dasein und seinem Sosein uns „einleuchtend" und entstehen n e u e Erkenntnisse, entspringen neue Einsichten. Allein nur insoweit, als wir in uns die Fähigkeit zu einem teilnehmenden Verhalten bewahrt und ausgebildet haben, und nach dem Grade, in welchem sie uns von unserm Ursprung her eignet, d. h. nach dem Grade und in der Ärt und Weise, wie wir Teil des Ganzen sind, gelangen für uns im Akte der Teilnahme Anschauung und Bedeutung von etwas zur erfüllten Deckung. Damit ist eine weitere Eigenart unmittelbarer Evidenz beschrieben, die gleichfalls einer Fülle p ä d a g o g i s c h e n Handelns Μ Ed. Husserl, Ideen usw. 3. Äufl., 1928, S. 282 ff.



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Sinn und Richtung gibt. Bei jedem echten Evidenz-Erlebnis erleben wir unsere Reaktion, unser „Verstehen" von Zusammenhängen als unabhängig von unserer besonderen Eigenart und der Besonderheit des Augenblicks, in welchem wir leben. Es ist ein Verstehen, das über die individuelle und augenblickliche Besonderheit hinausragt in das Allgemeine und das Überzeitliche. Darum ist nun auch für uns als Erlebende jenes Reagieren und Verstehen ein „freies", spontanes, und die N o t w e n d i g keit des Zusammenhangs der als evident gegebenen Phänomene ist niemals eine kausale, es gibt nur nachträglich die Möglichkeit eines Erklärungsversuchs 1 ). Der letzte Grund in Logik, Ästhetik, Religion, praktischer Lebensführung und Menschenbehandlung ruht auf einem Anschaulichen, das den Anspruch auf absolute Geltung erhebt und nicht weiter abzuleiten ist. Es gehört zum „unmittelbaren Sehen" im Sinne H u s s e r l s , das als „originär gebendes Bewußtsein welcher Art immer die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptung" ist 2 ). Allgemein bekannt ist, „daß bei dem schaffenden Denker das anschauliche Gesamtbild der begründenden Darstellung vorausgeht, daß die großen philosophischen Systematiker bei ihren grundlegenden Gedankenerlebnissen von einer (wenn auch noch so unvollkommenen) Schau des Ganzen auszugehen pflegen, von einer scientia intuitiva, die sich dann erst bei der Ausarbeitung in eine Kette logischer Folgerungen verwandelt. „In einem originalen metaphysischen Kopf", sagt D i l they in seiner Jugendgeschichte Hegels, „ist eine gewisse Art zu g e w a h r e n , das erste, sie gibt allem, was von ihm ausgeht, Farbe und Ton, und im Verlauf seiner Entwicklung entsteht logisches Bewußtsein, Begründung und systematische Durchbildung dessen, was in seiner Art, Wirklichkeit zu sehen, enthalten ist" 3 ). Und in der Tat berichtete eine große Anzahl unsrer größ*) P a u l H o f m a n n , Das religiöse Erlebnis, 1925, S. 6f. Änm. 2 ) Ideen a . a . O . S . 3 6 ; vgl. S.13, 295ff. 3 ) Vgl. Karl Groos, Der ftufbau der Systeme, 192«, S . X f . ; hier auch das Bekenntnis Ernst Machs. Eine Fülle weiterer Belege aus allen Schaffensgebieten enthält F r i e d r i c h C o p e i , Der fruchtbare Moment im BildungsprozeB, 1930. P e t e r s e n , Erziehungswissenschaft.

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ten Dinker selber so über dieseÄrt ihrer grundlegenden Erlebnisse und die Entstehung der entscheidenden Einsichten, deren Klärung und logische Durchführung oftmals die Zeit eines ganzen Gelehrtenlebens beansprucht hat. D e s c a r t e s „gewahrte" die erste Idee der analytischen Methode am 10. November 1619. In einem unberechneten Äugenblick, wie eine Eingebung wurde sie empfangen. Am 22. Oktober 1850 überfiel F e c h n e r der Grundgedanke seiner Psychophysik. An einem Frühlingsmorgen des Jahres 1858 beim Spaziergang auf einem Waldpfade des Gaisberges bei Heidelberg erschaute W i l h e l m W u n d t den schöpferischen Charakter des Seelischen, eine Intuition, die für Psychologie und Philosophie gleicherweise von größter Tragweite geworden ist. Und E r n s t Mach erzählt: „An einem schönen Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend: Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden." Während eines Spazierganges mit der Schwester im Herbst 1885 in Naumburg blitzte N i e t z s c h e der Gedanke des „Willens zur Macht" auf. Aber ist nicht auch jede Dichtung, ja jedes kleinste Gedicht, dem Größe zukommt, zuerst eine Gesamtschau und in einem starken, geradezu überfüllten, den Menschen fast erdrükkenden, sprengenden, ihn jedenfalls irgendwie außer sich setzenden Gemütszustande ergriffen und auch eingegeben worden? Und erst nachher kam die Form, kamen die Worte geordnet und mit allen Einzelheiten und die Bindungen der Sprache und ihrer Gesetze. Werden nicht fortwährend alle entscheidenden Beschlüsse für unser Leben, seine Haltung und Gestaltung, genau ebenso gefaßt, daß vor uns eine von starken Gefühlen umspielte und bereits vorgeformte Schau, eine Art Vorschau dessen, was geschehen soll, steht? Wir bestimmen in dieser Vorschau uns selbst, und wenn wir nachher mit unserem Verstände die Einzelheiten in der Durchführung berechnen und zu ordnen unternehmen, leitet uns immer noch das, was in jener ersten Schau bestimmend wurde.



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In einem höchsten Maße ist, anerkannt von den Metaphysikern aller Völker und Zeiten, dies die Grundhaltung der echten Metaphysiker, und daher ist das metaphysische Denken im besonderen Grade Tätigkeit des Geistes, des Nüs. Sie haben es immer gewußt, daß die Prinzipien alles Wissens und Erkennens erschaut werden müssen und nicht in einem Schlußverfahren gewonnen werden können, und daß die Evidenz, d. h. die widerspruchslose Anschaulichkeit, das Kriterium eines jeden Prinzips ist. In wundervoller Klarheit sah deswegen A r i s t o t e l e s das Reich der Wissenschaft, der Episteme, gleichsam umrahmt von denen des Nüs und der Aisthesis, d. h. vom Reich des schauenden, die Prinzipien in ihrer Klarheit und Gewißheit erschauenden Geistes und von der Welt der Wahrnehmungen und Empfindungen, oder anders ausgedrückt: zwischen dem logischen Allgemeinen und dem Sinnlichen, Einzelnen vermittelt die kontemplative Tätigkeit des Geistes, und auf ihr beruhen Ordnung und Weisheit in Natur und Menschenleben. In diesem Sinne ist Metaphysik für K a n t wie für A r i s t o t e l e s Weisheitslehre, ist ihre Tätigkeit die höchste und dem göttlichen Wesen am nächsten verwandte, ist Metaphysik scientia contemplatrix und ihr Gegenstand ist das Seiende schlechthin, ov η ov die Wirklichkeit, und alles, was Einzelnes ist, enthalten im, umfangen vom Sein 1 ). Wirklichkeit kann nur ergriffen und erlebt und dann bekannt werden. „Begriffe und Tatsachen kann der Mensch erkennen und begreifen. Idee und Wirklichkeit kann er dagegen nur in der Ergriffenheit verstehen und somit nur bekennen. Wirklichkeit ist das, was erlebt wird und lebend weiter wirkt. Tatsache das, was erlebt ist und als t o t e Erkenntnis in das Wissen übergegangen ist. Wirklichkeit ist das aus dem Leben Wirkende, Tatsache die sachlich gewordene Wirklichkeitsäußerung 2 )." 2. Alles, was Einzelnes, Individuum ist, befindet sich jederzeit im Mittelpunkt der Welt. Das ist heute kein mystisches Bekenntnis oder Erlebnis, sondern eine Tatsache, seitdem gelehrt J

) Vgl. meine „Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland", S. 303 ff., 321. 2 ) Leo Frobenius, Erlebte Erdteile, IV. S. 357f.

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wurde, die Welt sei in Raum und Zeit unendlich. Für das Einzelne gibt es alsdann keinen anderen Standpunkt, kein anderes που στη, um sich zu erhalten und zu entfalten und um die Welt aus den Angeln zu heben. Wir fragen also nicht mehr nach dem Standort, wie jener griechische Weise; sondern jeder kann eben da, wo er steht, die Welt aus den Angeln heben, wenn Er es vermag. Den Ort zum Ansetzen seiner Hebelkraft h a t er inne. Daran liegt es nicht, und wir Menschen von heute sind darum um eine gut klingende Ausrede ärmer. Immer und allerorten ist unser Ich im Mittelpunkte des Kosmos: umfangen von der Unendlichkeit aller kosmischen Kräfte und Schnittpunkt aller Radien des kosmischen Kreises. Was bedeutet es da, wenn von der „Außenwelt", von Gegenständen, von Zielen geredet wird? Suchten wir im voraufgehenden Abschnitte die metaphysische Betrachtung von der wissenschaftstheoretischen abzugrenzen, so führt diese Frage zu einer Abgrenzung besonders gegenüber der erkenntnistheoretischen. Innerhalb der Erkenntnistheorie ist das Problem einer „Außenwelt" erst für die neueste Philosophie aufgetaucht, und zwar gehen die Anregungen dazu von der kantischen Philosophie aus. Vor allem in seinem „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" begann K a n t jene, in der Folgezeit fast verhängnisvolle Aufspaltung der Welt des Verstandes und der Sinnlichkeit. Reine Verstandesbegriffe und empirische Anschauung sind ihm „ganz ungleichartig". Da sie aber in Verbindung miteinander gebracht werden, da reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden müssen, so beginnt er im gleichen Atemzuge die Forderung zu erheben, nach einem „Dritten" zu suchen, nach einer „vermittelnden Vorstellung", und zwar einer reinen und doch auch sinnlichen, welche jenes ganz Ungleicnartige in das Verhältnis einer Unterordnung bringt, bekanntlich das „transzendentale Schema". Anders suchte K a n t gelegentlich einmal sich diese Vereinigung zu einem Dritten an der chemischen Affinität deutlich zu machen. Danach wirken zwei spezifisch verschiedene Stoffe derart innig aufeinander ein und werden zur Einheit, so daß an den vereinigten Stoffen Eigenschaften



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entstehen, die nur durch die Vereinigung zweier heterogener Stoffe erzeugt werden können. „Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so von selbst zur BeWirkung unserer Erkenntnis, als wenn eine von der andern oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten"; — worauf Kant nun aber fortfährt: — „welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne1)."

Nach ihm ist eine große Richtung des philosophischen Denkens den dornigen Weg gewandelt, die Erscheinungswelt aus der Verstandeswelt herauszuspinnen, bis zu den Ansichten des Solipsismus, es gäbe nur das erkennende Ich allein, und alles außer dem Ich Existierende nur als Inhalt des Ich, — oder der Fiktionstheorie, wonach wir mit Hilfe dessen, was nicht wirklich ist, sondern nur fiktiv, wissenschaftlich forschen, ästhetisch genießen, praktisch handeln. Zwischen uns und der Wirklichkeit steht die Als-ob-Welt, ausreichend für die Lebensnotwendigkeiten, aber ein undurchdringlicher Schleier über dem Seienden, das uns verhüllt bleibt. Bewußtsein und Wirklichkeit, Erkenntnis und Wirklichkeit, Erkenntnis und Leben sind auf solche Weise zu unüberbrückbaren Gegensätzen verhärtet. Der Positi vismus hat das Wissenschaftssystem errichtet, das dieser „Zerwerfung des Daseins" (R. Eucken) entspricht. Es muß klar sein, daß keine Erziehungswissenschaft, die praktisch werden will — und will sie das nicht, dann ist sie ein müßig Gedankending und Spielerei — an diesen Grundfragen vorübergehen kann, ohne Stellung zu nehmen. Handelt es sich bei der skizzierten Haltung um eine metaphysische Grundhaltung der Wirklichkeit gegenüber oder um eine Betrachtungsweise, und um welche? — das gilt es zu entscheiden. In allem Erkennen geht es um ein Gegenüber, d. i. gegenüber dem Erkennenden. Mit Subjekt-Objekt beginnen die Probleme aller Erkenntnistheorie in irgendwelcher Form. Urprinzip allen Erkennens scheint die P o l a r i t ä t zu sein, das Aufschießen alles Erkannten in polaren Gegensätzen, einerlei welches !) Anthropologie, ft. ft. VII. S. 177.

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Gebiet erkenntnismäßig erschlossen werden soll: richtig und falsch in der Logik, wahr und unwahr in der Erkenntnislehre, recht und unrecht, gut und böse, schön und häßlich zeigen Polarität in den Grundwertungen. Seelisch-stofflich, bewußt-unbewußt, Sinnenwelt und Ideenwelt, Sein und Schein, Sein und Erscheinung, Sein und Bewußtsein, Wahrheit und Wirklichkeit, endlich-unendlich: das sind das gesamte philosophische Denken bis zum heutigen Tag bewegende große, weittragende Gegensatzpaare, die u. a. W i l h e l m W u n d t in seiner Metaphysik darstellt, der er selber den Titel gab „Sinnliche und übersinnliche Welt", — nach den am weitesten gespannten Urgegensätzen, denjenigen, um welche das metaphysische Denken im besonderen kreist. Allein, wir sehen uns über das Gebiet der Erkenntnistheorie hinausgeführt; die Polarität erscheint auch auf anderen Ebenen der Forschung. W i l l i a m J a m e s hat eine Äntithetik der Instinkte entwikkelt, die K a r l G r o o s zu einer interessanten Psychologie der Persönlichkeit benutzt hat 1 ). Groos geht in seiner Psychologie nicht von den Elementen aus, sondern vom „psychophysischen Ganzen", vom beseelten Organismus als „einem sich erhaltenden und entfaltenden Ganzen, dessen Wesen durch eine Entwicklung bestimmt ist, die in doppelter Weise über die Individualität hinausreicht: zeitlich in die voraufgehenden Generationen und räumlich in die Umwelt, die das Lebewesen umgibt". Es ist ihm nicht um die letzten seelischen Bau-Einheiten zu tun, sondern um die Formen der Betätigung, des Verhaltens, die an dem beseelten Lebewesen zu unterscheiden sind. Und da findet er eine dreifache Äntithetik in allen Betätigungsformen dieses Ganzen, und aus ihrer Kombination leitet er dann weiterhin die typischen Unterschiede persönlichen Lebens ab. An erster Stelle steht das Rationale (λογιστικον) dem Irrationalen (αλογον μέρος) im Wesen des Menschen gegenüber. In die Sphäre des Irrationalen reiht er die Instinkte und Triebe samt den mit ihnen verbundenen Emotionen ein, so daß die erste Äntithetik diejenige von I n s t i n k t u n d Ü b e r l e g u n g ist. Aber der Mensch kann auch zwischen Instinkt und Instinkt hin und her gezogen werden, *) Bismarck im eigenen Urteil, 1920, S. 158ff.



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nicht nur zwischen Instinkt und Einsicht. Hier ist es, wo er sich nun an james* Instinktlehre anschließt. Danach hat die Natur den höherstehenden Lebewesen entgegengesetzte Antriebe zum Handeln (contrary impulses to act) eingepflanzt. Und James glaubt, gerade durch diese Äntithetik der Triebe sei der Aufstieg zur Herrschaft des Intellekts gefördert worden. Denn niedere Tiere verhielten sich anders. Die Natur lasse sie immer so handeln, wie es am h ä u f i g s t e n vorteilhaft ist. Sie sage zu den Fischen: Beißt nach jedem Wurm und nehmt euren Vorteil immer und überall wahr! und so beißen sie auch nach dem Wurm an der Angel. Bei den von der Natur bevorzugten Wesen aber mindere die Natur das Risiko. Da jedes unbekannte Objekt Wohl oder Wehe, Nutzen oder Gefahr in sich bergen könne, da jedes Tier derselben Herde sich leicht aus einem, Freund in einen Rivalen verwandele, so seien bei allen höheren Wesen, Vögeln, Säugetieren und Menschen, die entgegengesetzten Triebe ausgebildet: Lüsternheit, Gier und Argwohn, Neugierde und ängstliche Scheu, Zurückhaltung und Verlangen, Schamgefühl und Eitelkeit, Geselligkeit und Streitsucht. Indem sich diese Instinkte gegenseitig den Weg versperren, fällt die Entscheidung unter Umständen der E r f a h r u n g anheim, und das beseelte Wesen fängt an, sein Leben bedächtig zu führen und eine A u s w a h l zu treffen, kurz gesagt, i n t e l l e k t u e l l zu leben. Die gleiche Äntithetik und Polarität wirkt sich „in der ganzen Rhythmik des organischen Daseins aus, das sich in dem Wechsel von Ergreifen und Abstoßen, Assimilation und Dissimilation, Systole und Diastole erhält. Integration und Desintegration sind für S p e n c e r auch die den Makrokosmos und seine Entwicklung beherrschenden Potenzen. Und die geordnete Bewegung der Welt hat immer wieder auf die Annahme anziehender und abstoßender Kräfte geführt, deren Gegeneinanderwirken diese Ordnung erklären soll 1 )." Der Kampf als der Vater aller Dinge, Verdichtung und Verdünnung : so in den Lehren der alten jonischen Philosophen. Tierwelt und Pflanzenwelt stellen gleichfalls solche große Polarität dar. Damit ist also die Polarität keineswegs beschränkt auf das Gebiet der Verstandestätigkeit, Karl Groos, Aufbau der Systeme, S. 312.



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des Urteilens und Wertens, sondern „die Ordnung der g e d a n k lichen Welt erscheint nun als ein Widerhall, aber auch als ein Sonderfall der Antithetik von Kräften, die die Ordnung der Welt überhaupt bestimmt". Polarität ist auch Grundform unseres seelischen Erlebens; die Gefühlslehre liefert dafür das bekannteste Schema. Die Untersuchungen und Beschreibungen der Gefühle nötigen stets zur Aufstellung von Gegensatzpaaren wie Lust: Unlust, — Spannung : Lösung, — Erregung : Beruhigung, — Strebung : Widerstrebung, — Heiterkeit: Ernst. „Das sinnvolle Gedächtnis wirkt am stärksten, wenn die Erinnerung am G e g e n s a t z der aufeinanderfolgenden Glieder der Assoziation eine Stütze hat. Auch unsere Phantasie erfreut sich am Spiel der Gegensätze vielleicht noch lebhafter als am Schema der Ähnlichkeit. Und ist auch ästhetisch der Gegensatz nicht reizvoller und lebendiger als die oft langweilig wirkende Ähnlichkeit? 1 )" So konnte der Psychologe E. B. T i t c h e n e r sprechen von einer instinktiven „Neigung zum Dualismus, die eng verknüpft ist mit der Gegenüberstellung von Lust und Unlust" und die uns veranlaßt, alles in der Welt nach Paaren zu klassifizieren. So werden auch unsere Verhaltensweisen Mensch zu Mensch von Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie, anziehendem Ja und abstoßendem Nein beherrscht. Ist es da nicht vielleicht richtig zu schließen, wie es K a r l G r o o s tut, es gäbe eine hinter Verstand und Willen liegende allgemeine Polarität des Geistigen? Aber in welchem Sinne ist solcher Schluß zu verstehen? Begreift er die Wirklichkeit, das Sein, das Absolute — oder das Geistige in dem engeren Sinne als die Art und Weise der das Seiende intellektuell aufnehmenden und verarbeitenden Tätigkeit? Und gehört Polarität überhaupt zur Lebensform und damit auch zur Erkenntnisform verständiger Einzelner? Um diese Frage zu beantworten, muß die Untersuchung einen neuen Ansatz wählen. Es ist uns aus der herrschenden kantischen Philosophie ganz geläufig und bis zum Überdruß nachgesprochen: Raum und Zeit sind Formen der Ordnung unM Ä. fl. Grünbaum, a. a. 0. S. 14f.



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serer Anschauung a priori. So sehr nun auch Kantianer strenger Observanz alles Hineinspielen psychologischer Betrachtungen von Raum und Zeit verpönen, wenn es um das Verständnis dieses kantischen Satzes geht, so ist es heute doch unmöglich, an Tatbeständen wie den folgenden vorüberzugehen: es ist unwiderlegbar gezeigt, wie sehr die kantische Transzendentalphilosophie in ihren Erörterungen über Raum und Zeit auf der, eben p s y c h o l o g i s c h e n , Annahme beruht, es gäbe nur den Gesichtsraum. Es müßte darum heißen : der Sehraum ist die apriorischeForm der Anschauung. Nun genügt es ferner keineswegs, demgegenüber auf die nachkantische Psychologie und deren Lehre vom Tastraum (der etwas vom Sehraum ganz Verschiedenes ist) zu verweisen, vielmehr gibt es Menschen, und leider heute in nicht geringer Zahl, welche ihre Umwelt überhaupt nicht in einem Raumgefüge erleben 1 ) : Blindgeborene, aber auch noch spät Erblindete, diese, insofern als bei ihnen die reproduktiven optischen Vorstellungen wohl auftreten, jedoch relativ selten und immer fragmentarisch. Der Erblindete hat überhaupt nicht den Raum um sich in einer irgendwie mit dem Sehraum des sehenden Menschen vergleichbaren Beschaffenheit. Man spricht daher von einem Bewußtsein des „Herum", etwas, das nichts Qualitatives, anschaulich Räumliches ist. Spät Erblindete, die in der Lage sind, dann und wann optische Vorstellungen zu reproduzieren, sagen uns, daß sie diese Vorstellungen in ihrer reproduktiven Eigenart sehr wohl zu analysieren wissen. Werden alle Merkmale dieses Herum-Bewußtseins zusammengefaßt, so setzt es sich zusammen „aus dem Bewußtsein der eigenen Bewegungsmöglichkeit, Bewegungsfreiheit und aus dem Erwartungsbewußtsein bezüglich möglicher oder fehlender Widerstände. Das Herum-Bewußtsein ist also ein raumfreies qualitatives dynamisches Erlebnis" 2 ). Nun ist dieses Erlebnis keineswegs dem sehenden Menschen fremd. Es wäre höchst unwahrscheinlich, daß sich dieses Herum-Bewußtsein erst bei Blindheit entwickelte und erst, wenn ein M S. Wittmann in: G. Martius und J. Wittmann, Die Formen der Wirklichkeit, 1924, S. 37; vgl. diese Schrift auch zum Folgenden. s ) H. a. 0 . S. 11.



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Mensch blind würde, uns aber nicht auch im Besitze von Tastund Sehraum eignete. Solche Her um-Bewußtseins-Erlebnisse müssen jedem Menschen möglich sein. Wir haben uns alle in der Lage befunden, ζ. B. in einer angeregten Unterhaltung, in der wir „uns vergaßen", wo wir reine „Denkfunktion" waren und sonst nichts, oder wir waren in einen Anblick versunken, bei dem wir alles um uns herum vergaßen. Das war ein Stück Erleben ohne Raum und — ohne Zeit. Aber, auf den Raum uns zu beschränken, in allen den Zuständen, die wir in unserer Sprache nicht ausreichend beschreiben können, in denen wir mit örtlich unbeschränkt und verschieden weit von uns entfernt lebenden geliebten Menschen zusammenleben, uns geistig irgendwie mit ihnen verbunden wissen, sei es mit einem menschlich oder geistig verwandten Menschen, einem Lebenden oder einem Abgeschiedenen (denn das ist für dieses Erleben völlig gleich), da vollziehen sich die Denkinhalte während solcher Erlebnisse durchaus frei vom Raum, es ist reines „in Gedanken verbunden sein". Das Eigentümliche solcher Art des Zusammenlebens über Raum und Zeit hinweg ist unter anderem dies, daß wir weder über sein Auftreten noch seinen inhaltlichen Verlauf Herr sind. Es ist sicherlich das Raumzeitliche aufgehoben, und das wird kaum durch etwas anderes uns selber besser klar als dann, wenn wir, vor uns selber, übergehen zum raumzeitlichen Erfassen und Erkennen des Erlebten, d. h. wenn wir das Erlebnis in die Sphäre des reflektierenden, des sondernden und verknüpfenden Verstandes hineinziehen. Dabei zeigt sich stets dasselbe eigentümliche Phänomen: z u e r s t hebt sich das räumliche Element ab, und dieser Vorgang des „Sich-Abhebens" läßt sich am besten mit dem Vorgange des Zurückweichens oder des Sich-Zusammenziehens etwa einer Gummischnur vergleichen, oder damit, wie man „versunken" in eine Arbeit, eine Schrift, wieder zur Wahrnehmung des Raumes, in dem man liest oder arbeitet, und seiner Gegenstände übergeht und dabei wieder auch das Ticken der Uhr hört, obwohl diese gleich laut und regelmäßig die ganze Zeit hindurch getickt hat. Der Vorgang des Zurückkehrens in den bewußt erfaßten Raum läuft im Bruchteil einer Sekunde ab, erscheint uns aber durchaus meßbar, schon deswegen weil man in der nachfol-



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genden Reflexion das Empfinden hat, man könne sagen, j a mail könne fast sehen, wie der Vorgang sich in die Zeit hineinlegt. Die erkenntnismäßige Erfassung des zeitlichen Moments erfolgt jedoch immer erst dann, wenn v o r h e r die Lokalisation, die Verräumlichung des Erlebnisses erfolgt ist. Ohne Zweifel besitzen alle Menschen das Vermögen, jenseits von Raum und Zeit zu leben, zu erleben, zu denken. Dazu haben neueste Forschungen die grundsätzliche Unterschiedenheit von Raum und Zeit aufgezeigt. Es kann heute nicht mehr die Zeit eine Form der Anschauung, gar wie es K a n t ebenfalls annahm, die Zeitvorstellung selbst Anschauung genannt werden, „weil alle ihre Verhältnisse sich in einer äußeren Anschauung ausdrücken lassen". Die Zeit ist vielmehr etwas Gedachtes, Gedankliches, Begriffliches, in keiner Weise ein seelisch realer Inhalt der Wahrnehmung. Sie ist darum keine ursprüngliche Form der sinnlichen Anschauung, vielmehr „eine erste apperzeptiv gewonnene, b e g r i f f l i c h e Ordnung der Wahrnehmungsinhalte" 1 ). Das zeitliche Element gehört in die logischbegriffliche Welt, nicht in die anschauliche. Es ist deshalb niòht zu verwundern, wenn die metaphysischen Spekulationen eines A r i s t o t e l e s und eines A u g u s t i n (im 11. Buch der „Bekenntnisse") die Zeit als etwas rein Subjektives auffaßten; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den s e e l i s c h e n A k t e n der Erinnerung, der Anschauung und der Erwartung gleichsetzten (μνημη, αισθησις, ελτπς) ; oder wenn die theologische Spekulation die Ewigkeit der Zeit entgegensetzte, ähnlich wie dem Räume das Wo, und nun Ort und Zeit den körperlichen Wesen, W o und Ewigkeit den Geistern zukommen ließ und so sich begrifflich klar zu machen suchte, daß Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit sei, daß wir nach dem Tode leben würden, daß Geister allgegenwärtig, unsichtbar und unzerstörbar sind. So konnte A u g u s t i n auf die beliebte theologische Streitfrage: „Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?" antworten: „Er tat nichts; denn vor Himmel und Erde gab es keine Zeit; sie ist mit jenen erst geschaffen. S ñ. a. O. S. 81.



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Wie kann man also fragen, was Gott damals tat? Denn es war kein Damals, wo noch keine Zeit war 1 )." Von hier aus wird auch verständlich, warum der östliche Mensch in ganz anderem Grade als wir metaphysisch gerichtet erscheint, wie besonders aus der Beobachtung gefolgert wird, daß ihm das Zeitbewußtsein in unserem Sinne fehle. Aber dasselbe möchte ich anwenden zum Verständnis aller, die nicht vom europäischen Lebensstil und Industriegeist erfaßt sind. Vom Indio, vom Neger gilt das Gleiche: sie s i n d nur, stehen im Seienden schlechthin, und der Versuch, ihr Leben und Treiben mit unseren Maßstäben zu beurteilen, schlägt unbedingt fehl. Sie s i n d grundsätzlich anders, darum für den Europäer unbegreiflich, sofern er nicht seinen Standpunkt ihnen gegenüber zuerst einmal grundsätzlich ändert, wie es H e r m a n n K e y s e r l i n g in seinem „Tagebuch" 2 ) ernstlich versucht hat. „Man sagt, der Orientale habe Zeit. Die Wahrheit ist, daß ihm das Zeitbewußtsein fehlt; deshalb stellen sich ihm die Wesensprobleme unabhängig von ihrer Verwirklichung in der Zeit. Nie würde ein Chela es aushalten, ein Menschenalter bei seinem Guru abzuwarten, ob er nicht der Erleuchtung teilhaftig würde, wenn die Zeit ihm ein Wirkliches wäre; wo sein Bewußtsein überhaupt an der Erscheinung haftet, also z. B. im Zustand der Verliebtheit, ist der Hindu nicht geduldiger als wir. Das Typische für den Inder ist es eben, daß er sich seines eigentlichen Seins als solchen normalerweise bewußt ist, sodaß der Sünder sich wesentlich als Heiliger fühlen kann, der Anfänger als Vollendeter ; der Narr als Weiser, weshalb es nicht unerläßlich erscheint, das Sein im Werden auszuprägen. So haben weder die indischen noch die chinesischen Weisen in unserem Sinne Gebote aufgestellt. Sie haben gesagt: wenn du das tust, so wirst du vollendet; wenn du so bist, dann hast du es erreicht; wenn du d e n Fehler begehst, dann wird deine Entwicklung aufgehalten. Nie sagten sie: Du s o l l s t das tun. Der Orientale kennt kein „Sollen", weil er „ist"; Wittmann a. a. 0 . S. 68; meine Geschichte der arist. Philos., S. 163f.

*) a. a. o. s. im.



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wir, die unaufhaltsam Werdenden, sehen das Sein in der Form des „Gesollten" vor uns." Es ist darum kein Zufall, vielmehr inniger geistiger Zusammenhang, wenn die P ä d a g o g i k der Neuen Erziehung gleichfalls weit weniger als die alte die Formen des Sollens und der Gebote und Befehle gebraucht, sondern dafür solche des Seins: „Verhaltet Euch so oder so, dann werdet i h r . . „ w e n n du dies oder das tust, wirst du..."; „versucht einmal so zu handeln, ihn oder sie so zu behandeln, dies oder jenes so anzufassen, dann ...". Je mehr der neue Padagoge die Verwobenheit individuellen und Gemeinschaftslebens im Irrationalen erschaut hat, desto behutsamer, aber zugleich desto menschlicher betrachtet er den Menschen, vor allen Dingen aber den werdenden Menschen in jedem Kinde, um ihm zu einer unverbogenen Entfaltung zu verhelfen. — Unser Ergebnis — Raum die Ordnungsform der Anschauung sehender (noch genauer: bewußt sehender) Menschen, sonst nur hingenommener Bewegungsraum verknüpft mit und in einem Herum-Bewußtsein; Zeit erste begriffliche Ordnung der Wahrnehmungsinhalte, eine Form also des denkenden Menschen, nicht des anschauenden — führt zur Lösung des Problems, von dem wir ausgingen, dem der Außenwelt, und ebenso dem der Polarität, die wir in unserm Trieb- und Instinktleben, im seelischen Erleben, im praktischen Verhalten und im Erkennen nachwiesen. Denn offenbar hängen beide Probleme insofern zusammen, als im Problem der Außenwelt die polare Setzung Ich: Außenwelt gemeint ist. Ist also diese Polarität gesetzt oder Polarität des Grundes oder ein Drittes? Alles Polare besitzt zwei Merkmale: Es ist einmal dasjenige, welches innerhalb einer Reihe von Kräften oder Begriffen oder Werten den Charakter der stärksten Fremdheit trägt, und sodann dasjenige, welches einander derart innig bedingt, daß keines ohne das andere sein kann, ja das innigste Zueinander ist. Daher ist das Polare nicht einfach gleich dem Gegensätzlichen oder dem Unvereinbaren, und so wurde das Polare auch im Voraufgehenden nicht verstanden. Nun sind wir als I n d i v i d u e n selbst je ein Pol, und zwar in der weitesten polaren Spannung Gegenpol nicht einer „Außenwelt", sondern der Wirklichkeit. Also



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können wir auf keinen Fall den Standpunkt irgendeines Rationalismus, eines Idealismus und Kritizismus einnehmen, wonach wir als erkennende Wesen oder als sonstwie geartete und handelnde Wesen in den Leistungen unserer geistigen Akte die Wirklichkeit erzeugten, das Nicht-Ich setzten als ein außer uns, oder dergleichen. Es ist vielmehr so, wie es L u d w i g K l a g e s einmal darstellte 1 ): Zur G r u n d f o r m allen Erlebens gehört das ,.Polaritätsverhältnis des Erlebten" und e b e n s o zur Grundform allen Erkennens, Handelns und Denkens das Polaritätsverhältnis des Erkannten, des Gedachten und dessen, auf das unser Handeln gerichtet ist; mit anderen Worten: „Alles, was wir „Ziel" nennen, hat seinen Ursprung in einem urgegebenen Polaritätsverhältnis, in jenem Gegenüber der erlebenden, denkenden, erkennenden, handelnden Seele, ohne das der individuelle Geist ja gar nichts hätte, „wonach er „sich riditen", wonach er mit seinen Würfen „zielen", was er zum „Stehen" zu bringen versuchen könnte", d. h. er hätte keine Richtung, kein Ziel, keinen Gegenstand. Damit wird auch klar, warum es nicht angeht, dem Erlebten oder Gedachten usw., insofern es das Polare zu einer erlebenden oder denkenden Seele ist, jenen Charakter der Fremdheit, des „andern", zu nehmen. Der i n d i v i d u e l l e Geist hätte alsdann kein Gegenüber, auf das er seine Taten der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des Erkennens, des Verstehens, des Liebens und Hassens usf. richten könnte, und es käme nicht einmal der einfachste sinnliche Auffassungsakt zustande, keine Wahrnehmung. Die ersten Grundformen aber, das, womit wir jenes Gegenüber „dingfest", zum Ding, zum Gegenstand für uns machen, sind für die anschauliche Seite der Raum und für die logischbegriffliche die Zeit. Durch diese raum-zeitliche Einordnung heben wir jedoch zugleich in eben dem A k t e unserer fixierenden Auffassung jeweilig den polaren Zusammenhang auf, und sind im A k t e des Erlebens, Erkennens, Handelns, Denkens eins mit dem, was wir erleben, erkennen, denken, zu dem wir uns verhalten; das andere, das Fremde, ist in diesem geistigen Vgl. zum Folg., Das Wesen des BewuBtseins, 1921 (Zitat S. 57) und: Jahrbuch der Charakterologie, 1921, S. 197ff.



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Akte als ein anderes oder als ein Fremdes aufgehoben. Das gilt natürlich auch dann, wenn ich es als ein anderes oder als ein Fremdes erkenne, erlebe; denn ich habe es in jenem geistigen Akte seines Charakters der Nur-Fremdheit, des Nur-anderen beraubt und ihm ein Verhältnis zu meinem Geiste gegeben, es mit meinen Mitteln der Anschauung und des Denkens eingeordnet und beherrsche es nun. Was wir aber deutlich machen wollten, ist vor allem dies, daß jenes „andere" nicht ist: Setzung eines Nicht-Ich durch ein Ich, schlechthin Tat meines Geistes, sodaß wir die Außenwelt ein Erzeugnis unseres Geistes oder die Wirklichkeit Leistung eines geistigen Aktes von uns nennen dürften. Diese Betrachtungen gewinnen eine folgenschwere und grundsätzliche Bedeutung für die gesamte Erziehungswissenschaft: I. Raum und Zeit gehören nicht zur Wirklichkeit, sondern sind Hilfsmittel des individuierten und dadurch individuellen Geistes; und da die Zeit zum logisch-begrifflichen Werkzeug gehört, so machen erst wir etwas „geschichtlich". Die Wirklichkeit aber hat keine Zeit, darum auch keine Geschichte, kein Werden. sondern sie i s t , immer und ewig, und sie ist immer und ewig die gleiche. II. Polarität gehört nicht zum Wesen der Wirklichkeit, sondern zum Wesen der erlebenden, erkennenden, denkenden, handelnden Akte individueller Geister, insofern diese ohne ein echtes Gegenüber nicht nur ziellos wären, sondern überhaupt nicht zustande kommen könnten. Insofern nun aber der individuelle Geist im Vollzug des Aktes jene Polarität aufhebt, indem er die Fähigkeit hat, w a s er will, zu seinem Gegenstand zu machen, zu setzen, seinem geistigen Bereiche einzuordnen, so bekundet er eben dadurch seinen Zusammenhang, seine Gliedschaft mit dem Geiste überhaupt. Und jene „unmittelbare Evidenz". verrät das Vermögen eines individuellen Geistes, sich mit dem Ganzen schlechthin in eins zu setzen, und — neben anderem — das Vermögen, zeitlos zu denken, nur zu sein. „Polarität ist immer das Prinzip des Quellenden, Kreisenden, in sich zurückkehrenden, also des lebendigen Wassers" (J. Langbehn). III. Und wir verstehen von hier aus W e r t und G e f a h r der



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D i a l e k t i k u n d der d i a l e k t i s c h e n M e t h o d e . Das Fortschreiten von Gegensatz zu Gegensatz und dann wieder die Vereinigung von These und Antithese in der Synthese: das alles gehört unmittelbar zur Natur lebendigen Denkens. Und der menschliche Geist erlebt unzweifelhaft eine größere Befriedigung in dieser Art seiner Betätigung, als wenn er im Geleise formalen Denkens allgemeinen Gesetzlichkeiten nachgeht, sie aufdeckt und darstellt. Die Tätigkeiten des Subsumierens und Generalisierens enthalten weniger Quellen der Frische und Lebendigkeit als der abwechslungsreiche, spitzige und an Überraschungen und Leuchtfontänen reichere Weg der Dialektik. Allein, worauf läuft dieses Geschäft hinaus? Es bleibt ein Spiel des individuellen Geistes mit sich selbst, und zwar mit einem seiner Vermögen, nämlich dem, die Polarität in den Erscheinungsformen der Wirklichkeit, sofern diese damit erst Gegenstände individueller geistiger Akte werden und so diese Akte selber erst ermöglichen, aufzuheben. Die Beliebtheit der Dialektik und der dialektischen Methoden wird dadurch erklärlich; sie sind aber verfänglich, weil sie leicht zum Selbstzweck erheben, was nur Ausgangspunkt einer Bewegung des Geistes ist. Sie suchen den Anfangspunkt der geistigen Bewegung zu verewigen, indem sie immer von neuem zu ihm zurückkehren. Sie besitzen zunächst den Anschein größerer Lebendigkeit und das Vermögen anzuregen, aber sie ermüden den Geist schließlich genau so gut, wie ein Musiker ermüden würde, wenn er, sei es auch noch so geschickt und kunstreich ineinander verwoben, ständig nur die zwei bis drei wichtigsten Grundverhältnisse der Töne variierte. 3. D a s Sein in der W i r k l i c h k e i t ; d a s Sein in der E r z i e h u n g s w i r k l i c h k e i t . Wann bin ich erziehend? ist die Frage nach dem allgemeinen Kennzeichen der Erziehungswirklichkeit, in der ich mich befinden muß, damit erzieherische Wirkungen entstehen; sie soll zusammen mit der Frage nach der Erlebnisform der Wirklichkeit überhaupt beantwortet werden; denn beide müssen aufs innigste zusammenhängen. K a n t hat sich in der ersten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft" 1 ) einer fast populären Psychologie bedient: Ausgabe Reklam S. 315—318.



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Raum und Zeit sind Vorstellungen a priori und uns als Formen unserer sinnlichen Anschauung gegeben, „ehe noch ein wirklicher Gegenstand unsern Sinn durch Empfindung bestimmt hat, um ihn unter jenen sinnlichen Verhältnissen vorzustellen. Allein dieses Materielle oder Reale, dieses etwas, was im Raum angeschaut werden soll, setzt notwendig Wahrnehmung voraus, und kann unabhängig von dieser (der Wahrnehmung), w e l c h e die W i r k l i c h k e i t von e t w a s im R ä u m e a n z e i g t 1 ) , durch keine Einbildungskraft gedichtet und hervorgebracht werden. Empfindung ist dasjenige, was eine Wirklichkeit im Raum und der Zeit bezeichnet, nachdem sie auf die eine oder die andere Art der sinnlichen Anschauung bezogen wird". Und diese Empfindung wird einfach „gegeben", und zwar durch die Wahrnehmung; diese „stellet also (damit wir diesmal nur bei äußeren Anschauungen bleiben) etwas Wirkliches im Räume vor", und ein wenig weiter: „Alle äußere Wahrnehmung beweiset also unmittelbar etwas Wirkliches im R a u m , . . . es korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im R a u m . . . Das Reale äußerer Erscheinungen ist also wirklich nur in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirklich sein." Die Empfindung ist bei der Mehrheit der Kantianer bis heute Kriterium der Wirklichkeit geblieben. Da es aber mit den Ergebnissen der neueren Psychologie unvereinbar ist, Empfindungen schlechthin als d i e Elemente zu bezeichnen, mit denen alle Erkenntnis anhebe, so wird zum allermindesten eine Erweiterung des Begriffs nötig, wie es z. B. B r u n o B a u c h 2 ) unternimmt. Er versucht, Empfindungen in einem Sinne zu nehmen, der über den gewöhnlichen Sprachgebrauch, wonach Empfindung eine periphere Erregung unserer Sinnesorgane ist, also Antwort auf einen Reiz bedeutet, hinausgeht, und sagt: „Es hängt dennoch das Wirkliche immer mit der Empfindung zusammen, auch wenn es nicht bloß nicht empfunden, sondern auch nicht einmal in diesem vulgären Sinne empfindbar ist." Und er spricht nun 1

) Von mir gesperrt. ) Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, S. 107 ff. Vgl. jetzt die Auseinandersetzung E r i c h J a e n s c h ' s mit diesem Werke in seiner Schrift : Wirklichkeit und Wert, 1929, S. 137 ff. 2

P e t e r s e n , Erziehungswissenschaft·

II.

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von der „unempfindbaren Wirklichkeit", wie die der Vorstellungen, Gedanken usw. als von etwas, das dem Zusammenhang mit der Empfindung doch nicht widersprechen soll. Diesen wie verwandten Betrachtungen haftet als Grundfehler dies an: sie sagen nur etwas aus über unsere wissenschaftliche Reaktion auf das Wirkliche, wenn sie bei der Empfindung als dem Kriterium der Wirklichkeit stehen bleiben. Es wird nämlich Empfindung irgendwie im Sinne eines Elements verwendet, — desgleichen, wenn von „Gedanken" oder „Bewußtheiten" geredet wird, — Element im Sinne einer Wissenschaft, darum stets der Wirklichkeit gegenüber zum mindesten ein Sekundäres. Das Ganze jenes Seelischen, dessen zerlegte Struktur zur Ansicht von solchen elementaren Erscheinungen zu berechtigen scheint, muß aber in einem Verhalten „gegeben" sein, in dem wissenschaftliche Analyse erst nachträglich auch von Elementen reden mag. Auf jeden Fall hat mit dem Reden von Empfindung oder Bewußtheiten bereits die Besonderung der Wirklichkeit eingesetzt. Dieser Besonderung geht aber schon rein psychologisch gesehen ein „Haben von etwas" voraus, ein „Haben", welches die erste Stufe im Akte der Wahrnehmung ist, und Wahrnehmung ist in jedem Fall mehr als etwas wie „Summe" mannig~ faltiger Empfindungen, sie ist immer ein G a n z e s von eigentümlichem Charakter. Auch die Erkenntnisvorgänge finden sich ursprünglich in den seelischen Gesamtzusammenhang eingebettet. „Erfassung des Gegenständlichen nimmt nirgends seinen Ursprung anderwärts als von der Einbettung in den seelischen Gesamtzusammenhang und kann offenbar gar nicht anders entstehen 1 )." J. W i t t m a n n beschreibt dieses Ganze, in dessen apperzeptiver Verarbeitung Erkenntnis besteht, als ein „komplexes perzeptives räumliches Weltbild" 2 ). Das ist nun dem verwandt, was Wilhelm W u n d t , als gemeinsamen Ausgangspunkt für alle Wissenschaften und Philosophie, für alles Denken und Erkennen setzte, nämlich dem „ursprünglichen Vorstellungsobjekte", ein Objekt an dem noch keine Denkarbeit angesetzt hat, das weder nach Stoff und Form, noch als Objekt undSubjekt, nodi !) E. Jaensch, a. a. O. S. 216f. 2 ) Ä. a. 0. S. 47.



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nach irgendwelchen Eigenschaften zerlegt ist, ein „nur angeschautes Objekt", gegeben „in unmittelbarer Anschauung" 1 ). Und dies in unmittelbarer Anschauung gegebene ursprüngliche Vorstellungsobjekt ist ein Glied der unmittelbaren Wirklichkeit, in der wir leben und uns bewegen und aus der wir erst heraustreten, sobald wir anfangen, über diese Wirklichkeit zu reflektieren, ihr bestimmte Gedanken zu unterlegen, um sie zu verstehen und zu deuten, oder aus ihr Schlüsse zu ziehen, also wenn wir uns nicht mehr rein anschauend verhalten, wenn wir uns nicht mehr dieser Welt einfach hingeben, sondern mit unserm Begehren, Wollen und Denken in sie einzudringen versuchen. Dann entschwindet diese unmittelbare, in reiner Anschauung gegebene Wirklichkeit, und aus dem naiven Weltbild wird das der Reflexion, ein Gedankenwerk. Und der Philosoph weiß sehr wohl, daß diese in unmittelbarer Anschauung gegebene Einheit von Denken und Sein in der L e b e n s p r a x i s bestehen bleibt, „indem auch hier das Denken immer aufgeht in dem Sein, von dem es durch die reflektierende Selbstbestimmung sich sondert". So ist es auch die neue Erziehungspraxis gewesen, welche uns auf die metaphysischen Quellen zurückwies. Es waren die in der Erziehungswirklichkeit wiederum stärker durchbretíhenden und heller aufleuchtenden Kräfte der Wirklichkeit, welche uns nötigten, die Fragestellungen bis in die metaphysischen Verwebungen hinein zu verfolgen, wie bereits oben nachgewiesen wurde. Als sich die neuen Erzieher aller Orten auf ihre Erzieheraufgaben besannen, da waren sie, ohne Gelehrsamkeit und voraufgehende Reflexion, rein durch ihre anders eingestellte und ansetzende T ä t i g k e i t , wie mit einem Male, durch eine Kluft von der gesamten bisherigen Unterrichts- und Erziehungslehre getrennt, und niemand konnte und kann zurück, wo er anders dieses Erlebnis hatte in einer die Persönlichkeit r e s t l o s ausfüllenden, sie ganz ergreifenden Arbeit, in völliger Hingabe im Dienst der Erziehung. Es war für jeden wie das Erwachen in einem neuen Lande. Das Grunderlebnis war der Art nach dasselbe, wie das, von J

) Vgl. m. Schrift: Wilhelm Wundt und seine Zeit, 1925, S. 142ff. 4*



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dem der Philosoph und der Wissenschaftler ausgehen müssen, als der ersten vorphilosophischen und vorwissenschaftlichen Setzung : die Einheit von Denken und Sein in einem lebendigen Gesamtseelenzusammenhang. Der sich ganz hingebende Erzieher stand jenseits von dem, was in der Erscheinungswelt meinen, bedeuten und werten ist. Diese Arten der Beziehungen waren zurückgewichen, und gleichzeitig erlebte er, daß sie i n n e r h a l b der Tätigkeit, im erzieherischen Tun, das sich zwischen Erzieher und Kindern abspielte, und eben dadurch, verschwunden waren. Das Außere erschien vollendet gleichgültig, sobald man sich in diesem erzieherischen Erleben und Handeln mit dem Kinde oder der Kindergruppe „in eins setzte". Darum tauchte auch ganz von selbst hier das Wort „Gemeinschaft" auf, weil sich diese Wirklichkeit nur in einer wahren Lebensgemeinschaft von Erziehern und Zöglingen aufschloß. Das neue Erleben ging nicht auf das Selbst als ein von den Mitmenschen abgeschlossenes Individuum, wie etwa das eines Mönchs in seiner Zelle, eines Künstlers vor seiner Staffelei, eines Gelehrten in seiner Arbeitsstube, eines Mystikers in seinen Schauungen, sondern auf den Erzieher a l s lebend mit und stehend in einer realen Masse, einer echten Gemeinschaft, und zwar als in Einheit mit ihr. Damit erschließt sich uns nun auch die Besonderheit des S e i n s in d e r E r z i e h u n g s w i r k l i c h k e i t , das Sich-befinden im Erzieherischen : Die Wirklichkeit enthüllt sich, wie wir hörten, in unmittelbarer Anschauung; die Erziehungswirklichkeit — keine Form neben der Wirklichkeit, sondern in dieser abgesondert „für uns" — erleben wir in e i n e m u n m i t t e l b a r e n H a n d e l n im S i n n e d e s v o l l e n d e t e n D i e n s t e s ; in einem tätigen Verhalten, das reine geistige Funktion ist. Es ist das zugleich i m m e r ein Handeln, das mich und dich, den einzelnen und den andern, eben durch dieses Handeln und in ihm, unmittelbar zur Einheit einer dienenden Gemeinschaft verbindet, und darin „vollendeter Dienst" ist 1 ). 1. D i e m e t a p h y s i s c h e H a l t u n g u n d D e u t u n g ist nur einer Beschreibung zugänglich, v e r w a n d t derjenigen, welche *) Vgl. die Ausführungen über „Gemeinschaft" und „Persönlichkeit" im I. Teile meiner „Allgemeinen Erziehungswissenschaft".



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die beschreibende Psychologie anwendet; denn das Ich, dessen metaphysisches Verhalten zu umschreiben versucht werden soll, ist weder gleich dem Subjekt im erkenntnistheoretischen noch dem Ich im psychologischen Sinne. Es ist das vorrationale, richtiger das nicht räsonnierende Ich, das der Wirklichkeit und ihren Erscheinungen ganz hingegebene und einfach darin eintauchende, in dieser Totalität von Beziehungen und Zusammenhängen handelnde, dahin lebende Ich, das dabei wohl auch räsonnierende Akte vollzieht, aber als Akte des Lebens, nicht als Akte um des Räsonnemeaits oder um der Ergebnisse des Räsonnements willen. Es ist ein Leben und Sein im Unmittelbaren, und ein Leben, Denken und Handeln aus einem „unmittelbaren Wissen" heraus, von dem Hegel in seiner „Phänomenologie" zu Beginn der Bewußtseinslehre spricht1) : Dieses erste und unmittelbare Wissen sei die reichste Erkenntnis, eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum, ob wir in Raum und Zeit über ihren konkreten Inhalt hinausgehen oder ob wir zerlegend in ihn hineingehen. Und zugleich die w a h r h a f t e s t e Erkenntnis; „denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich". Freilich muß H e g e l von seinem Standpunkte aus anschließend von dieser unmittelbaren Erkenntnis sagen, sie sei, verglichen mit der logisch-erkenntnistheoretischen, abstrakteste und ärmste Wahrheit, weil ihre einzige Aussage von dem Gegenstande laute: er ist; „und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache"; und das Bewußtsein sei insofern nichts als reines Ich ; Ich darin nur als reiner Dieser und der Gegenstand nur als reines Dieses. Wir können aber wohl etwas von Bedeutung über das Verhalten des reinen Ich, über uns als reine Diese, aussagen mit Hilfe einer Besinnung auf uns im vorrationalen Zustande ; denn so gut wie es H e g e l möglich ist, die angeführten Aussagen zu machen, die das Sein betreffen, wird es möglich, von der B e w e g t h e i t Rechenschaft zu geben, die allem Sein eignet und ihm eignen muß, um für uns zu sein. Eine Beschreibung der Wahrnehmung gibt erste Wegweisung. Sie zeigt eine Reihe von uns allen geläufigen ZuÏ)~ÂTa. O. (Äusgabe Otto Weiß, 1909) S.73f.



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ständen, welche einen „Gesaratseelenzusammenhang" charakteristisch beleuchten. Da ist zunächst das eigenartige gleichz e i t i g e Gegebensein von Beachtetem und Unbeachtetem mit einem ständigen oszillierenden Übergang vom einen zum andern, ein stetes Hinundhergleiten zwischen mehr und minder Beachtetem. Damit ist verbunden ein „Mithaben" des von unserm Sehwinkel Abgewandten, d. h. des im Sehraum nicht bewußt Gesehenen und fester Abgegrenzten. Noch rätselhafter, und von der Psychologie in keiner Weise begreiflich zu machen, ist das Phänomen der Tiefe. Sehen wir sie oder sehen wir sie den Dingen nur an, etwa wie man dem Sammet seine Weiche, der dampfenden Suppe die Hitze, dem Eisenstab die Schwere ansieht? Solche Erlebnisse im Wahrnehmungsvorgang verraten eine vorpsychologische Haltung, in welcher das Ich oder die Seele gleichsam nur hingegeben ist und sich die Wirklichkeit in ihm oder in ihr spiegelt, und jenes Oszillieren wäre zu vergleichen mit dem leicht gekräuselten Spiegel des Meeres, auf dem ein anmutiges Spiel zwischen Sonnenstrahlen und Wellengekräusel gespielt wird, ohne daß auf der zitternden Fläche Sonnengold und Wellengrün je fest umgrenzt und gegeneinander abgegrenzt wären. Th. Lipps hat einmal versucht, diese U r e i n heit des O b j e k t i v e n und S u b j e k t i v e n auch noch in den elementarsten Empfindungen und Vorstellungen zu beschreiben. Die objektive Seite an ihnen sind die Inhalte, welche mit ihnen aktuell verbunden sind, während die subjektive Seite darin liegt, daß sie eben in der „Seele" gegeben sind. Aber Lipps lehrt diese subjektive und objektive Seite nicht gegensätzlich zu denken; das Wort Inhalt schließe das Erlebtsein, schließt mein Erleben mit in sich. „Das Erlebtwerden des Empfindungsinhalts ist nicht einfaches Dasein oder Stattfinden, nämlich bewußtes Dasein oder Stattfinden im Bewußtsein,... das Erlebte ist selbst das Erleben und umgekehrt. Es findet nicht mehr jener Gegensatz statt zwischen einer subjektiven und objektiven Seite, sondern die Sache hat nur eine Seite, die subjektiv ist und objektiv zugleich. Das Erleben ist subjektiv als das Erleben, und es ist objektiv, sofern sein Dasein zugleich ein Erlebtsein ist 1 )." 1

) Bewußtsein und Gegenstände, Psycholog. Untersuchungen, Bd. I, 1. S. 7.



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Unser erster Eingriff in diese Einheit, damit der Beginn ihrer Gliederung, erfolgt durch den Akt der A u f m e r k s a m k e i t . Das ist jene Regung des Ich, jener Willensakt der Seele, in welchem und durch welchen die subjektive Seite sich die objektive als ein Gegenüber schafft. Seelische Kraft — so mag man sich den Vorgang der Aufmerksamkeit verbildlichen — ballt sich in irgendwelchem Grade zusammen, so wie es die jeweiligen biologischen oder sonstigen Verhältnisse bedingen, und dabei wird die Ureinheit aufgelockert, dieses oder jenes in ihr aufmerksamkeitsbetonter und dadurch hervorgehoben, mehr beachtet. Und so sehr ist die Aufmerksamkeit die Grundtatsache allen Seelenlebens, daß auch ihr der Charakter des steten Schwankens, des Oszillierens, des Hinundhergehens zwischen der Fülle der Inhalte eignet, eine Eigenschaft, welche die Psychologen in den verschiedenstenBildern zu beschreiben suchen : Aufmerksamkeitsfeld und Blickpunkt (Wundt), Bewußtseinsfeld und seine Fransen (James), Fokal- und Randobjekt (Lloyd Morgan). Es ist durchaus berechtigt, die Entstehung von Aufmerksamkeit mit der a f f e k t i v e n Seite des Seelenlebens in engere Beziehung zu bringen und in ihr mit J. W i t t m a n n „eine Art Uraffekt" zu sehen, ebenso wie sie mit b i o l o g i s c h wertvollen Erhaltungsinstinkten zusammenzubringen. Und insofern die Aufmerksamkeit die Grundlage aller Apperzeption ist, aller tätigen denkenden Verarbeitung des Gegebenen, so kann behauptet werden, „daß die Menschen überhaupt erst durch a f f e k t i v e Reaktionen zu jedweder apperzeptiven Auffassung gleichsam getrieben werden; und in diesen synthetisch-analytischen Apperzeptionen, diesen p r i m ä r e n U r t e i l e n , allein besteht das s c h ö p f e r i s c h e N e u d e n k e n , und nicht in der Handhabung der Formen der traditionellen Logik oder modernen Logistik. Denn diese Formen sind nur Formen eines sekundären Denkens, nur Formen der A n w e n d u n g des in jenen Apperzeptionen gewonnenen Erkenntnisbesitzes, zum Zwecke der O r d n u n g d e s G e d a c h t e n " 1 ) . Diese psychologischen Betrachtungen verhelfen auch zum Verständnis der bekannten Aussprüche P i a t o n s im „Theätet" !) J. Wittmann, a. a. 0 . S. 16.



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und eines A r i s t o t e l e s in der „Metaphysik": die Verwunderung (θαυμαίειν) und nichts anderes sei der Anfang der Philosophie. Sie setzen an den Beginn des tiefsten Nachdenkens der Menschen über sich selbst und die Welt, ihr Sein und ihre Verhältnisse, einen Affekt, den der staunenden Bewunderung. Von hier aus gewinnt auch H e r m a n n K e y s e r l i n g s Versuch seine Berechtigung, die Verschiedenheiten in der metaphysischen Haltung ganzer Völker und Rassen nicht aus ihrem dialektischlogischen Vermögen, sondern aus ihrer affektiven Einstellung zur Welt erklären. Ζ. B. ist der Hindugeist wegen seiner, uns phantastisch erscheinenden, Art durch und durch irrational, auch in seinen bunten und reichen,.Systemen". „Ebenso üppig und wild wie die Vorstellungen vegetieren auch deren Interpretationen; ebenso schrankenlos wie die Götter und Geister vermehren sich die Systeme der Philosophie. Nie hat in Indien die Logik die Prätention gehabt, letztmögliche Zusammenhänge herzustellen ; das hat sie in richtiger Selbsteinschätzung der mystischen Intuition überlassen . . . Aber man tut unrecht, indem man ihr den Vorwurf macht, daß sie nie das Äußerste erstrebt hätte, daß unter den Indern kein Parmenides und kein Hegel erstanden sind. An logischer Schärfe stehen die Hindus den Europäern nicht nach ; es wäre ihnen gewiß nicht schwer gefallen, ähnliche Weltsysteme zu konstruieren. Sie haben es nicht getan, weil sie als Metaphysiker zu tief hierzu waren; sie haben gewußt, daß der logische Verstand nicht bis zur Wurzel reicht; sie sind nie Rationalisten g e w e s e n . . . In Indien gelten drei Grunddeutungen der Vedanta und Sutras als gleich orthodox: eine monistische, eine dualistische und eine theistische; und von diesen ausgehend mehrere Hunderte sich mehr oder weniger widersprechender Systeme. Was bedeutet das? Daß die Inder sich tief bewußt sind der Kontingenz aller Vernunftkonstruktionen, daiß es keiner gelingen kann, vom metaphysisch Wirklichen ein unverfälschtes Bild zu geben; daß sie alle à peu près bedeuten. Die Europäer 1 ), wenn sie Ahnliches erkennen, erklären der Vernunft 1

) Den Gegensatz kann diese Tatsache in etwa beleuchten: Der Papst verlangte im Modernisteneid Festlegung auf eine ganz bestimmte „wissenschaftliche" Einstellung, nämlich, daß das Dasein Gottes wissen-



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daraufhin den Krieg. Die Inder, auch hierin die Weiseren, lassen sie desto freier gewähren. Keine Gestaltung ist metaphysisch ernst zu nehmen; aber alle sind empirisch existenzbereehtigt 1 )." Der östliche Mensch ist unmittelbarer als der europäische; daher kann er üppigste Wucherungen des Verstandes mit absoluter Gleichgültigkeit allem Rationalen gegenüber vereinen. Räumen wir solchen Vergleichen das Recht ein, auf affektive Verschiedenheiten in den letzten Gründen der Lebenshaltung zurückzugehen, so stehen wir auch verständnisvoller gegenüber dem Versuche desselben Weltreisenden, die metaphysische Deutung der Wirklichkeit mit dem Klima und der den Menschen umgebenden Natur in Beziehung zu bringen, auch Volkscharakter und Klima in innere Beziehung zueinander zu setzen. Der Mensch muß das Sein so deuten, wie er im Seienden steht, d. h. für den Nordländer wirkend, für den Inder in ihm aufgehend, für den Griechen ruhend. Und aus diesen Betrachtungen erklären sich K e y s e r l i n g s Urteile, wir seien physiologisch Christen wie alle Chinesen physiologisch Konfuzianer 2 ). Und das Ergebnis dieser Weltreise, für ihn gleich dem kürzesten Wege, zu sich selbst und seiner Selbstverwirklichung näher zu kommen, wurde dies: Die wesentliche Wahrheit lebt jenseits der Sphäre b e s t i m m t e r Gestaltung. „Es ist eine Frage der Voraussetzungen, ob diese oder jene Form entsteht, es hängt von den Zwecken ab, die man verfolgt, ob man diese oder jene höher wertet. Zur äußeren Gestaltung des Lebens, zur objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten; eine indische zur Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Konkretisierung der Idee, eine japanische zur ästhetischen Naturverbundenheit, und so fort. Keine Formel ist die höchste im metaphysischen Sinn, jede stellt einen möglichen Ausdruck schaftlich zu beweisen sei. Danach wären die Intuitionisten Ketzer; so sehr steht das christliche Abendland auf Rationalität, ist es theologisch Kind der Gnosis. Μ Ä. a. 0 . S. 115f. 2 ) H. a. 0 . S. 33ff., 187, 202f., 535.



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des Absoluten dar, jeder Sonderausdruck bedingt spezifische Grenzen 1 )." Der wahrhaft metaphysische Mensch wird sich darum g e s i n n u n g s m ä ß i g als duldsam-verstehend, versöhnlich-weltüberlegen erweisen, als Mensch der großen Deutung des Seienden ein Mensch des großen Verstehens sein, als Weiser die aurea quies des mittelalterlichen Weisen besitzen. Aus diesem Erleben und seiner Gestimmheit heraus haben darum die Metaphysiker (und ähnlich die Mystiker 2 ) das Seiende selber als ruhend oder ruhende Tätigkeit, als „wesend", als Atmen eines traumlos Schlafenden usf. vorgestellt und somit den eigenen Frieden als Widerspiegelung des Alls in ihrer Brust empfunden. Welchen Wert kann metaphysische Haltung und Deutung für uns als Wissenschaftler besitzen? Sind metaphysische und wissenschaftliche Haltung unaufhebbare Gegensätze? Hätte positivistischer Geist das letzte Wort über Wissenschaft und wissenschaftliche Betätigung gesprochen, müßten sie sich ausschließen. Allein über seine Einseitigkeit und die Notwendigkeit, ihn zu verbessern und zu ergänzen, herrscht unter uns seit mehr als einem Jahrzehnt steigend Einvernehmen. Das intuitive Moment im Grunde von Logik und Wissenschaft wird offener herausgestellt, aber auch die Tatsache, daß nur in einer von der wissenschaftlichen i. e.S. u n t e r s c h i e d e n e n Haltung des Menschen zur Wirklichkeit diese sich in n e u e n Bildern, in n e u e n Formen und Formeln enthüllt 3 ). So war es also ein berechtig!) ñ. a. O. S. 849. 2 ) „In dem Wesen gibt es keinerlei Werk. Denn die Kräfte, vermittelst deren sie wirkt, die entspringen wohl aus dem Grunde der Seele, aber in dem Grunde selber ist nur das tiefe Schweigen" (Eckehart). 3 ) Hierher muB auch gezogen werden, was E r i c h J a e n s c h „Wirklichkeit und Wert", S. XIVf. u. ö. über die Bedeutung der Kohärenz mit dem Lebendigen sagt, „als die unerläßliche Vorbedingung für das Sichtbarwerden neuer Seiten des Lebenswirklichen, besonders aber der in ihm enthaltenen Werte. Im Zustand der Kohärenz ist das ñuge den Dingen, auf welchen es ruht, mit Liebe hingegeben. Dem Äuge der Liebe aber, und vielleicht ihm allein, werden die im Wirklichen beschlossenen Werte sichtbar. Dieses Auge war eine zeitlang trübe geworden".



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tes höchstes Bemühen eines der größten Dichter aller Zeiten, das „Schauen" zu einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n Methode zu erheben 1 ). G o e t h e hat in seinen mannigfaltigen naturwissenschaftlichen Studien stets eine Haltung zu wahren gesucht, welche der metaphysischen am nächsten kommt. Die Natur war ihm eine Einheit, ein einheitlicher lebendiger Organismus, „alles mit einem Male"; das Ziel muß daher werden, jedes Naturphänomen, das uns ja verschiedene Seiten bietet, „in seiner ganzen Totalität zu erkennen". Dazu ist es nötig, der Natur auf ihren Schritten „so bedachtsam als möglich" zu folgen und jedes Phänomen in einer vollständigen Betrachtung, einer Schauung zu erfassen. Verstand, Einbildungskraft und Witz, die isolierende Reflexion und die das Wirkliche nur zu leicht vergewaltigende Spekulation müssen dagegen im Hintergrunde verharren, und statt dessen „der ruhige Sinn, der gesunde Menschenverstand" möglichst unbefangen, natürlich, mit „eigenen frischen Äugen" sehen. Nur so gelangt der Mensch zu „Erfahrungen höherer Art", womit Goethe sein Verfahren dem rohen Empirismus gegenüber abgrenzen wollte. Die höhere Erfahrung will „die lebendige Bildung als solche erkennen, ihre äußeren, sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufnehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen beherrschen". Ein Mensch, der so zu schauen vermag, wird fähig, der Natur „den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken"; denn für ihn beginnt das Zergliedern, das Prüfen und Vergleichen erst dann, wenn die höhere Erfahrung erreicht ist, und zwar, um nun nachträglich die „liebliche volle Gewißheit" zu erlangen, daß er schaute, nicht schwärmte. G o e t h e lehrte: „Wir sind aufs Leben und nicht auf die Betrachtung angewiesen"; er sah den Menschen in einen Mittelzustand gesetzt und ihm daher nur erlaubt, „das Mittlere zu erkennen und zu ergreifen", weshalb er sich auch bescheiden und nicht wähnen solle, er könne, der Natur Vorschriften machen, ihr, wie K a n t lehrte, Gesetze a priori vorschreiben. „Die Natur Μ Vgl. meine Schrift: Goethe und Aristoteles, 191«, bes. S. 37ff„ 55 ff.

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hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spuren verfolgen". Also bleibt kein anderer Weg als dieser, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, und dann, was im Einfachsten erschaut und erkannt ist, im Zusammengesetzten zu vermuten und zu g l a u b e n . Es gibt, so führen wir diese Gedanken weiter, auch den Phänomenen der Menschenwelt gegenüber, vor allem insofern wir sie in die Erziehungswirklichkeit einbeschlossen sehen und als ihr angehörig betrachten wollen, keinen anderen Weg als diesen von G o e t h e vorgezeichneten, keinen andern, wenn es um Begreifen und Deuten der letzten Zusammenhänge geht, und wir kennen darum auch keine andere Lösung, um das Wirkliche für uns darzustellen, als der Dichter, nämlich: K u n s t u n d T a t . Damit ist weiterhin für alle praktische Erziehung, für alle M e n s c h e n b e h a n d l u n g gleichfalls angedeutet, daß sie niemals gleich Kalkulation sein kann. Mit Menschen läßt sich niemals rechnen; sie sind nicht Zahlen mit feststehendem konventionellem Werte. Es gibt auch kein „System" der Behandlung, sondern nur Arten und Weisen des Verhaltens, Möglichkeiten. Wer seinen Verkehr mit Menschen, und mehr noch seine erzieherischen Einwirkungen auf Menschen, nach Statuten regelt, danach etwa seine „Pflicht" erfüllt, erwarte nichts. Wer seine Schulwelt, wer seinen Unterricht, sofern diese mehr als reine Belehrung geben sollen, ja auch nur wenn sie dies in einem volleren Sinne anstreben, rechnerisch aufbaut, logisch-dialektisch zurechtlegt und meint, dabei Zielen höheren Menschentums zu dienen, der wird erleben, daß er unvermeidlich Menschentum bricht und sich zugleich um die wertvollsten, tiefsten Wirkungen bringt. Von hier aus verstehen sich Berechtigung, Grenzen und Gefahr vonPsychoanalyse, Individualpsychologie, aber auch von Arbeitsschule, Erlebnisschule, von Arten und Methoden des Unterrichts, vonPsychoanalyse, Individualpsychologie, aber auch von ArbeitsLeben, und wer methodengläubig, wissenschaftsselig, verwal-



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tungsmäßig an Menschenleben herangeht und es in irgendwelche Schemata pressen will, der vergeht sich am Besten, am Menschen selber. Unsre Schulorganisation wie unser Unterrichtsbetrieb sind übervoll an Grausamkeiten gegen Kinder und J u gendliche, für die aber Gesetze, Richtlinien, Aufsichtsinstanzen, übernommene fortgeschleppte Routine, Methodengläubigkeit und starr gewordener Handwerksgeist nicht nur Entschuldigungen, sondern sogar Begründung aufbringen. 5. D i e W i r k l i c h k e i t a l s G e i s t und L e b e n . — Welche weitere allgemeinste Aussage über die Wirklichkeit gestattet uns eine schauende Betrachtung? Wir haben bislang sie nur als sinnvolle Einheit (unum) bezeichnen müssen. Unser Bemühen, die metaphysische Haltung und Deutung begreiflich zu machen, hat uns aber einen bedeutsamen Einblick gestattet. Als wir uns in die elementarsten seelischen Regungen hineinzuversetzen suchten, gelangten wir zur Aufmerksamkeit als einer Art Uraffekt und konnten sie nur begreifen als ein Zusammentreffen biopsychischer Kräfte im Menschen zum Zwecke einer Selbstbehauptung des Lebewesens. E s muß daher eine Kraft auf uns als ebenfalls Kraft einwirken, damit solche Akte der Selbstbehauptung jener Kraft gegenüber zustande kommen, wie auch nach M a r t i n H e i d e g g e r das Nichts uns in einer Wesensschau sich enthüllt in der Angst, als einem Verharren des ganzen Ich gegenüber einer Macht, einer Kraft, die über uns zu kommen scheint 1 ). Die Wirklichkeit muß in irgendwelchem Sinne Kraft, ein Tätiges sein, und es muß nach dem uralten Erkenntnisgrundsatz, daß nur Gleiches Gleiches, Ähnliches Ähnliches erkennen kann, Geist gegen Geist stehen, Geist auf Geist wirken. Die Wirklichkeit, das Seiende, ist K r a f t g e i s t i g e r A r t , und sie muß lebendige Kraft sein; denn mit dem Begriff des Geistes ist für uns derjenige des L e b e n s unlöslich verbunden gegeben. G e o r g S i m m e l hat gemeint, es müsse etwas geben, das über das Leben hinübergriffe, das selber nicht mehr Leben sei, daher auch nichts seelisch Wirkliches, also etwas wie ein Gegen-Leben. Und die Wirklichkeit ist ihm von den Spannungen x

) Was ist Metaphysik?, 1929, S. 16f.



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dieser beiden Urgegensätze durchzogen, ja die geistige Wirklichkeit ist in ihrer Erscheinungsform bedingt durch die Auseinandersetzungen, Verbindungen, Auflösungen, welche diese beiden miteinander eingehen. Allein wo liegt die Nötigung, jenen Gegensatz als einen nicht-lebendigen aufzufassen, wenn man von der Setzung im rein logischen Sinne absieht? Sowenig es metaphysische Annahme sein kann, zu behaupten, das absolute Leben, das absolute Geistige sei allem uns bekannten Lebendigen und Geistigen schlechthin gleich, demnach auch gleich beschränkt, so können wir doch niemals anders, als es Leben und Geist nennen und unser Leben und unsern Geist von seiner Art nennen. W i r können „ungeistig" niemals verstehen als vollkommen ohne Geist, sondern nur als in verschiedenstem Grade des Geistes ermangelnd oder als geringwertigere Grade von Geist, aber der absolute Gegenbegriff zu Geist bleibt für uns nichts anderes als ein Gegenwort. Leben aber kann sich zu,NichtLeben oder Gegen-Leben nicht anders verhalten als Erleben zu Nicht-Erleben 1 ). W i r besitzen kein Nicht-Erleben, im G e g e n s a t z zu welchem wir das Erleben als solches charakterisieren könnten. W i r können uns kein Nicht-Erleben vorstellen, sondern kennen nur größere oder geringere Intensitäten des Erlebens, ein Mehr oder Weniger, ein Stärker oder Schwächer des Erlebens, und besitzen in d i e s e m Sinne dann den Begriff des Nicht-Erlebens; ähnlich wie wir auch den Begriff des Unbewußten nur im Sinne eines mehr oder weniger Bewußten besitzen. Deutlich wird damit auch, daß Tod und Leben in e i n e Linie kommen, wie es v. E h r e n b e r g in seiner „Theoretischen Biologie" ausführt, die den Tod als das Bestimmende, das Ziehende im Strome des Lebens auffaßt. Die Wirklichkeit ist uns als Eins, als Einheit geistige lebendige K r a f t ; ή γαρ νους evepreia, £ιυη, und im absoluten Sinne ίωη άριστη και α'ίόιος. Das Kennzeichen des Geistigen in der Erscheinungswelt liegt stets in dem, was wir an etwas seine Gestalt, seine Form, seinen Stil u. dgl. nennen. Darin sehen wir Offenbarungen, 1 ) Vgl. Paul Hofmann, Die antithetische Struktur des BewuBtseins, 1911, S. 25 f f .



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Seiten der Wirklichkeit und bewundern wir ihren unausschöpfbaren Reichtum an Gestalten und Formen. Immer neue Seiten erschließen sich uns, werden erschaut, werden darzustellen und zu leben versucht. Und es unterscheidet wiederum grundsätzlich die große abwartende, schauende Haltung des Metaphysikers von derjenigen des Rationalisten und des Nur-Wissenschaftlers und nähert sie derjenigen des Künstlers, daß der Metaphysiker weiß, daß in keiner Form, keinem Werke, keinem Gesetze jemals die Wirklichkeit selbst zum vollen Ausdruck gelangt noch gelangen kann und daß er nun d a n a c h seine Welt- und Menschenbetrachtung wie Menschenbehandlung einstellt. Älles Einzelne ist als ein G e f o r m t e s Geistwirkung und eben darin ein sichtbares Zeugnis für den geistigen Ursprung, aber weder d a s Einzelne noch der Einzelne können jemals der volle Ausdruck des Wirklichen sein. Vielmehr ist alles Einzelne und jeder Einzelne dem Los unterworfen, in seiner Erscheinungsform zu erstarren und sich zu verwandeln in neue Form. Innerhalb der sogenannten leblosen Natur ist Geistiges sichtbar in dem, was wir ihre Formation, Ihre Massigkeit oder Linien u*. dgl. als Äußerungen formender Kräfte nennen. W o l f g a n g K ö h l e r hat gezeigt, daß auch in der physischen Welt Verbände von „Gestalt"charakter vorkommen, und er hat darum für die „bloße" unbelebte Natur Würde beansprucht. In der Pflanzenwelt kiindet von der schöpferischen Macht im Grunde die Tatsache, daß auch hier nichts in zwei gleichen Stücken vorhanden ist oder als Gleiches wiederkehrt, ferner der Rhythmus des Äuflebens und Ablebens, des Blühens und Welkens (nicht d a s Aufleben, Sterben, Blühen und Welken als solches zeugt vom Geiste, sondern das, was wir an diesen oder in diesen Vorgängen als die Form des Lebensablaufs, eben als das Rhythmische in ihnen anschauen), sodann das Aufwachsen zu typischen Lebensformen innerhalb der verschiedenen Arten, die trotz jener nie zu findenden Gleichheit einzelner Stücke dennoch den Arttypus niemals verkennen lassen, sodaß man vom Typus als Kollektivform sprechen kann. Ähnlich in der Tierwelt, in welcher, wenigstens bei allen höheren Arten, die örtliche Bewegungsfreiheit gewonnen ist. Erst in der Menschenwelt wird aber neben und zu all



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dem Genannten den Individuen eine Freiheit gewährt, daß von ihr gesagt werden konnte 1 ): „Gott kann nicht, was wir wollen; sonst würde er uns nicht so frei gewähren lassen." So ist erst in der Menschenwelt mit dem Bewußtsein und Sich-selbst-bewußtsein auch jenes F r e i s e i n erreicht, wodurch der Mensch sich selber in seinen schöpferischen Taten als Glied der Wirklichkeit fühlen, seine Selbstverwirklichung als seine Bestimmung, diese als ein Geistwerden und als auch seine geistige Tat erkennen, sich seiner selbst als Werk seiner selbst bewußt werden kann, und darin gründen seine sittliche Würde und sein Menschentum2). 6. Von Wirklichkeiten reden wir als Seiten der Wirklichkeit, die wir Menschen erleben und nachher uns bewußt zu machen suchen. Die Grundarten oder Typen solcher Wirklichkeiten sind für uns nicht absolut abzugrenzen. Typische Erlebnismöglichkeiten für Wirklichkeit besitzt der Mensch ohne Zweifel ebensoviele wie er Arten von der Art nach verschiedenen affektiven Verhaltensweisen, Perzeptionen, Vorstellungen usw. hat. Bekanntlich sind die o p t i s c h - r ä u m l i c h e n und die a k u s t i s c h e n Möglichkeiten am weitesten entfaltet, obwohl auch hier kaum jemand wagen wird zu behaupten, alle Möglichkeiten seien ausgeschöpft. Im letzten und dem voraufgehenden Jahrzehnt sind besonders die im Menschen angelegten r h y t h m i schen Möglichkeiten entwickelt und stärker gepflegt uns erschlossen worden. D a v i d K a t z hat vor wenig Jahren erst den sog. „Vibrationssinn" entdeckt, mit dessen Hilfe sich Taube, wie vor allem Helen Keller und Sutermeister in Zürich, den Genuß der Musik und der Dichtung verschaffen können. Auf jeden Fall wird derjenige, der die reichsten Seiten seines Wesens und zugleich die vielseitigsten entwickelt hat, den größeren Reichtum an Wirklichkeitserlebnissen besitzen und die beste Gewähr dafür haben können, seine Selbstverwirklichung zu vervollkommnen. Immer freilich kommt es auf die harmonische (d. h. nicht: gleichmäßige oder gleichartige) Entfaltung an, und jede Einseitigkeit irgendeiner Erlebnisseite, im Sinne einer Hypertrophie, 2

Hermann Keyserling, Tagebuch, S. 169. ) Vgl. u. S. 120 ff.



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führt unweigerlich zu Störungen und Schädigungen, die den Fortgang der Vergeistigung hindern, da sie zur Erstarrung, zur Verkrampfung, ja selbst zur Vergiftung des individuellen Geistlebens führen können, sodaß eine Form zerschlagen werden muß, um in neuer Geburt den rechten Weg zu finden.

§

3.

Beziehungen und Gebilde.

Das Werten und

die Werte. 1. B e z i e h u n g e n und G e b i l d e . Für uns, die lebenden und handelnden, die aufnehmenden und erkennenden Menschen ragt aus dem Grunde der Wirklichkeit ein vielmaschiges Gewebe von B e z i e h u n g e n heraus. E s sind das jene unzählbaren B e ziehungen erster, zweiter und weiterer Ordnung, in denen die Individuen der Natur und der Menschenwelt zueinander und zu den von ihnen dargestellten oder geschaffenen und erhaltenen G e b i l d e n stehen. Älles In-Beziehung-Stehen hängt ursprünglich mit dem Vorgange und der Tatsache der Individuation zusammen, damit, daß E i n z e l n e s bestimmt ist, Träger des Sinnes zu sein, damit, daß die Einheit von der Vielheit getragen und dargestellt wird. Die Urbeziehung für Naturformen wie für Natur- und Menschenwesen, also für Fluß und Berg, wie für Baum, Maus und Mensch, ist die r ä u m l i c h - z e i t l i c h e , und zwar als eine Einheit derart, daß sie nur für die Zwecke einer methodischen Betrachtung auseinandergelegt werden kann und darf. In Wirklichkeit bildet die räumlich-zeitliche Beziehung stets eine einheitliche Wirklichkeitsbeziehung. Sie bedeutet: jedes Einzelne ist von Änfang seiner Erscheinung an fest und für die Dauer seiner Erscheinung unentrinnbar nach zwei Seiten bestimmt: a) durch den R a u m , in welchem es erscheint, und durch den Z e i t m o m e n t , in welchem es als Glied einer in die Ewigkeit zurückreichenden Kette früherer Erscheinungen hervortritt; sodann b) durch die raumzeitlichen V e r ä n d e r u n g e n während der Spanne seiner Erscheinung als Einzelnes. Dadurch Petersen,

Erziehungswissenschaft.

II.

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ist der Naturgrund für a l l e weiteren Beziehungen gezeichnet, den kein Einzelnes jemals überschreiten oder auf die Dauer verleugnen kann. Auch alles, was eine Soziologie in ihrer Beziehungs- und Gebildelehre zusammenstellen und ordnen mag, geht in letzter Betrachtung und für ein volles Verstehen in diese Tiefe zurück. Vor allem ist es wieder der Raum mit den Tatsachen des gemeinsamen Wohnens, der Nachbarschaft und des Zusammenstehens, den man als „recht eigentlich ein soziologisches Urphänomen" bezeichnen konnte, um mit Recht auch darauf hinzuweisen, daß deswegen Staatsrecht und Politik stets an die Tatsache der Raumverbundenheit anknüpfen 1 ). Allein es ist ohne weiteres ebenso einleuchtend, daß für die Menschen im Raum von genau derselben e r s t e n Bedeutung die Blutsverbundenheit ist, d. h. ihre zeitliche Einlagerung, ihre Herkunft, ihre Abstammung. Was aus einer Gesellschaftslehre wird, welche die räumlichzeitliche Urbeziehung des Menschen überspringen zu können glaubt, das lehrt in unseren Tagen diejenige Leopold von Wieses und seiner Schule. Sie ist eine scholastische Entartung, entsprechend den „Gärten" der scholastischen Ethik und Metaphysik um 1600; ein trockenes, lebenleeres Lexikon der heute vorgefundenen sozialen Beziehungen, das Bild eines Gartens, wie ihn nur ein Museum aufstellen kann mit dürren Hölzern, gepreßten Blumen, ausgestopften und präparierten Lebewesen. Keine Gesellschaftslehre, ja überhaupt keine Lehre von den menschlichen Beziehungen und Gebilden in der sozialen und geistigen Welt, kann sich wahrhaft wertvoll entfalten, wenn sie nicht ständig an deren Verwobenheit mit a l l e n Regungen einer „Kulturseele" denkt und diese aus ihrer räumlich-zeitlichen Bedingtheit begreift. O s w a l d S p e n g l e r hat recht geschaut und von Leo F r o b e n i u s gelernt: jede Kultur „erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren L a n d s c h a f t , an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Jede Kultur stirbt, wenn diese Seele die Formenfülle ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, WissenFranz Eulenburg gegen L. von Wiese in der „Kölner Vierteljahrsschrift für Sozialwissenschaft, I. 3. S. 58f.



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schaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt" 1 ). Und vorher schon hat R a t z e l in seiner „Anthropogeographie" und dann W i l l y H e l l p a c h mit seinen Untersuchungen über die „geopsychischen" Erscheinungen Wege gewiesen, die a l l e n Wissenschaften ganz neue Perspektiven eröffnen, sobald diese anfangen, über ihre isolierende Betrachtungsweise hinauszugehen, eine Bewegung, die unter uns bereits erfolgreich anhebt. Physiologie und Psychologie, Biologie und Anthropologie, sämtliche Kulturwissenschaften beginnen den Menschen in der Totalität seiner Beziehungen und in erster Linie in seiner Naturverbundenheit und -gewachsenheit zu begreifen, wandeln demnach ihre Methoden und Prinzipien. Unter den Kulturwissenschaften ist es besonders die V o l k s k u n d e , welche sich früh auf diese lebensvollere Betrachtung des Menschen und seiner kulturschaffenden Arbeit einstellte. Und das ist nicht zu verwundern. Denn kaum eine andere Wissenschaft kann geradezu plastisch den Zusammenhang zwischen Mensch und Mensch einerseits und der Landschaft und den Blutszusammenhängen andererseits derart erfühlen und sichtbar machen wie sie. Heute freilich mischt sich immer noch sehr oft und gern die Klage ein um verlorene Schönheit, um vergeudeten Reichtum an Volksgut edelster Art, so wenn L u d w i g K l a g e s erschaudert über die Selbstzersetzung des Menschentums, über den Untergang der Seele in einem fortschrittstollen Alter und fragt: „Wo sind die Volksfeste und heiligen Bräuche geblieben, dieser Jahrtausende lang unversiegbare Born für Mythus und Dichtung: der Flurumritt zum Gedeihen der Saaten, der Zug der Pfingstbraut, der Fackellauf durch die Kornfelder ! Wo der verwirrende Reichtum der Trachten, in denen jedes Volk sein Wesen, dem Bilde der Landschaft eingepaßt, zum Ausdruck brachte! Für die reichen Gehänge, bunten Mieder, gestickten Westen, metallschweren Gürtel, leichten Sandalen oder die tunikaartigen Überwürfe, fließenden Kimonos beschert die ,.Zivilisation" auf der ganzen Erde den Männern das Grau des Sakkoanzuges, den Frauen die — neueste Pariser Mode ! . . . *) Untergang des Abendlandes, I, 1924, S. 142.





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Wo endlich blieb das Volkslied, der uralt ewig neue Liederschatz, der alles Menschenwerden und -vergehen sänftigend wie in ein silbernes Gespinst verbarg! Hochzeit und Leichenfeier, Rache, Krieg und Untergang, Zecherübermut und Wandersinn, Reiterkeckheit, Kindsgefühl und Mutterlust atmete und strömte in unerschöpflichen Liedern, bald zu heißer Tat anfachend, bald in den Schlummer des Vergessens wiegend. Man dichtete und sang beim Tanz, beim vollen Becher, bei Abschied und Wiederkehr, bei Weihung und Zauberspruch, im Dämmer der Spinnstube, vor der Schlacht, an der Bahre des Gefallenen, man reizte sich auf durch Spottlieder, focht Zwist in Wettgesängen aus, umwob mit dunkelheller Poesie Gebirge, Quell und Strauch, Haustier, Wild und Pflanze, Wolkenzug und Regenguß. Und was uns heute durchzuführen fast schon versagt ist, sogar die Arbeit wurde zur Feier. Nicht im Wandern und bei festlichem Gelage nur, man sang auch beim Winden des Ankers und zum Rhythmus des Ruderschlages, beim Tragen schwerer Lasten und beim Treideln der Schiffe, beim Binden der Fässer, zum Takt des Schmiedehammers, beim Streuen der Saat, beim Mähen, Dreschen, Mahlen der Körner, beim Flachsbrechen, Weben und Flechten 1 )." Diese Sentimentalität, mit der Vergangenes so gern betrachtet wird, birgt ihre großen Gefahren; sie hat dazu geführt, Altes, wenn es nur alt ist, im Wert zu übersteigern, auch auf Kosten der Lebenden und ihrer Schöpfungen. Die Mehrheit der „Sammlungen" birgt eine Unmenge Gegenstände dritten und noch geringeren Wertes. Andererseits hat sich längst in allen Ländern, die begehrte Antiquitäten besitzen, eine eigene Industrie aufgetan, um den Bedarf an Altem zu decken in Fälschungen, die kaum das Auge des Kenners herausfinden kann. In falscher Pietät und ohne Sinn für wahre Kunst haben ζ. B. Städte alte Bauwerke, Tore u. dgl. bloß gelegt und lassen sie nun inmitten moderner oder modern verschandelter Plätze und Straßen völlig beziehungslos stehen. So könnte einer mitten in einem neuzeitlichen Wohnhause einen alten Lehmherd mit Rauchfang stehen M Mensch und Erde, 1920, S. 30f.



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lassen und nur Sorge tragen, daß man nicht allzu sehr in der Bewegungsfreiheit gestört werde oder daß man beim Betreten und beim Arbeiten in der modernen Küche nicht erst einen Umweg zu den elektrischen Kochapparaten machen muß. Auch in der privaten Wohnweise findet sich immer noch oft die gleiche Stillosigkeit, der Mangel an Vertrauen zu sich selbst und zur Kultur seiner Zeit, der sich dann darin ausprägt, daß solche Menschen es vorziehen, in mehreren Stilen stillos zu wohnen, auch wenn sie es sich anders leisten könnten. Ferner wird wohl Altes bewundert, das es gar nicht verdient, so alte Bauerntrachten, die überhaupt nicht ein bodenständiges, freies bäurisches Selbstbewußtsein oder dergleichen verraten, sondern dieselbe Unfähigkeit des Bauern, selbst aus sich zu schaffen wie heute, wo er auch städtischen Kunstkitsch und Wohnstilkitsch übernahm. Etwa die Dachauer Bauern, die Leibi durch seine Bilder so bekannt gemacht hat, haben in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in der Hauptstadt abgelegte Trachten aufgekauft und sich damit herausgeputzt. Was ist daran zu bewundern oder gar wehleidig zu beklagen, wenn solche Trachten verschwinden? „Die geschichtlichen Symbole, Töricht, wer sie wichtig hält; Immer forschet er ins Hohle Und versäumt die reiche Welt."

(Goethe.)

Auch sollte es klar sein, daß in der schlechthinnigen Erneuerung alter Bräuche und Sitten für uns kein sicheres Mittel gegeben ist, u n s e r e n Seelen ihren heutigen Ausdruck zu geben. Wohl aber hat es einen hohen Wert, eine volkserzieherische Bedeutung, die Erinnerung an solche Zeiten dort zu wecken, — darum auch sie in ihrem Brauch vorzuführen, einmal miterleben, nacherleben zu lassen, — w o in unserem Volke Sitte und Brauch noch e c h t e Naturverbundenheit des Menschen bezeugten. Denn das bekräftigt unsre Lehre, daß wir es hier mit Grundkräften zu tun haben, die nicht verschwinden, sondern nur zurückgestellt und in Zeiten, in denen sich andere Nöte vordrängen und Lösungen fordern, ungepflegt gelassen werden können. Aber sie sind ewige Kräfte; mit ihnen kann jederzeit gerechnet werden, an



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ihre Fähigkeit, der Zeit entsprechende neue Formen zu schaffen, darf ständig geglaubt werden, und das mit unfehlbarer Sicherheit. Daher bildet es eine vornehmste Aufgabe gerade auch des Pädagogen und des Volkserziehers, der Heimat- und Volkskunde gegenüber kritisch Stellung zu nehmen und den Mut zu besitzen, zu sagen, wie es wirklich steht. Und wer den rechten Standpunkt hat, der wird an das Alte in Dorf und Stadt anknüpfen als pädagogisches Mittel zur Erziehung zum richtigen Selbstbewußtsein, um G e g e n w a r t s k r ä f t e zu wecken: so lebten, handelten, feierten, ehrten, glaubten die Alten und — wir 1 )? Alles aber bestätigt, daß Mensch und Natur in Ursprungsgemeinschaft stehen und daß es darum den Menschen immer wieder zur Natur zurücktreiben wird, weil er sie aus Anlagekräften seines Wesens suchen muß 2 ). Damit ist von neuem gesagt, daß Mensch und Natur, beide, wirkender Geist sind. Also ist uns die Natur nicht „Vorstufe des Geistes", sondern selber Geist-Darstellung. Die Geistentfaltung in den Naturformen und Naturgebilden steht auf g l e i c h e r Linie wie diejenige in den Kulturformen und in allen Gebilden menschlichen Geistes. Was der Geist dort wirkt durch Tier, Pflanze und Stein, das treibt er hier durch menschliche Wesen hervor. Es ist darum auch das menschliche Wissen nicht, wie S c h e l l i n g meinte, ein Gegenbild der Natur, sondern ein Teil von ihr, eine andere Seite von ihr. Deswegen wird Wissen niemals imstande sein, die Natur allseitig zu erfassen, wie es vielleicht ein reiner Wissenschaftler oder ein Vertreter des philosophischen Rationalismus wähnen mag. So ist auch für jeden Menschen, der nicht zu einer bloßen Reflexionsmaschine geworden ist, die Natur nicht stumm, sondern sie redet zu ihm mit tausend Zungen und auf tausend Wegen. Und es bildet in unseren Tagen keine Zufallserscheinung, wenn in fast allen europäischen Ländern die Völker die heimatkundlichen Forschungen !) Ich verweise hier auf die hochbedeutsamen Arbeiten H a n s H a h n e s in Halle, an die eindringende Tätigkeit Th. S c h e f f e r s in Bad Berka und nenne aus der überreichen Literatur nur ein Büchlein: Hermann Albert Prietze, Natur und Volkstum, Hannover-Linden, 1920. 2 ) M. Hllg. Erziehungswissenschaft, I. S. 61 ff.



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pflegen, darum die geistige Entfaltung ihrer Kinder, auch durch die Schulen, in engster Verbindung mit den heimatlichen Kräften geleitet wissen wollen. Wie man in der Psychologie dazu übergegangen ist, von seelischen Ganzheiten auszugehen, so in der Betrachtung des Menschen, seiner Art und seines Wissens, von der räumlich-zeitlichen Ganzheit, aus der er hervorgeht und in der er sein Leben führt. Das ist gleichzeitig der unausbleibliche Rückschlag auf die Erfahrungen mit den leergelaufenen Kunstgebilden des sozialen Lebens der letzten Geschlechter. J e mehr sich soziale Gebilde vom Naturboden entfernen, d. h. je konstruktiver sie sind, desto schemenhafter, blutleerer, werden sie, Nur-Formen. So sind leer gelaufen die Staatspolitik, die sich zu sehr auf den Geschäftsmann eingestellt hatte und noch hat 2 ), und der in Bürokratismus erstarrte Staatssozialismus, der sich nur noch hält auf Grund der Gewohnheit und der trägen Seßhaftigkeit der unmittelbaren Nutznießer des Systems. In solchen Jahrzehnten blühen alsdann immer die halben Mittel, wie es ζ. B. auch der Vorschlag einer „Werkstatt-Aussiedlung" ist. Es sollen nach E. Rosenstock diejenigen Menschen, welche der Druck der Arbeitsverhältnisse aus der Fabrik hinaustreibt, entweder weil sie den Zwang der Betriebsorganisation, etwa des Taylor-Systems, nicht ertragen oder weil sie diesen Druck wegen ihrer ganzen seelischen Konstitution nicht aushalten können, dadurch einen Lebensraum erhalten, daß sie aus der Fabrik ausgesiedelt werden. Etwa 10—12 solcher ausgesiedelten Arbeiter erhalten zusammen eine Werkstatt unter selbstgewählter Leitung, und sie bekommen vom Großbetrieb ihr Material und ihre Maschinen ; sie sollen aber mit der Fabrik nur finanziell, nicht betriebstechnisch zusammenhängen. Das ist solch ein typisches Palliativmittel, das zugleich im Grundgedanken richtig ist, da es die Unnatur im Bestehenden aufdeckt und gleichzeitig die Zurückführung auf natürliche Lebens- und Arbeitsweise für solche besonders gearteten Arbeiter empfiehlt, — das aber nicht radikal aufs Ganze geht. Μ E. Ä. Roß, a. a. 0 . S. 589—592.



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Stets erhebt sich wieder das Urwissen der Menschheit darum, daß der Mensch immer ein anderer wird, und zwar stets mehr Mensch, wenn er naturverbundener leben und sein Tagewerk tun darf. Das bedeutet uns nicht, in den alten R u f : Zurück zur Natur! einstimmen, als wenn wir gar in dem Städter den schlechthin Entwurzelten sähen, sondern in unserem Sinne bedroht diese Entwurzelung ebenso den Bauern, der auf der Scholle bleibt; trotz seines Wohnens und Lebens inmitten der Natur kann er in einen Zustand gelangen, in dem er die Fühlung mit ihr verliert, genau so gut wie Kunst und Wissenschaft, Schule und praktische Lebensführung einzelner Menschen wie ganzer Gruppen sie verloren haben. Das Tröstende bleibt, daß sich doch stets die Erkenntnis durchsetzt, daß der Gewinn für jeden Menschen am größten ist, wenn er kein zerklügelter Mensch ist, sondern ein aus der Tiefe lebender und wissender. Zusammenfassend sind also H e i m a t g e f ü h l u n d B l u t g e f ü h l , die räumlich-zeitliche Urbeziehung für jeden Menschen, die beiden Urkräfte, aus denen alle Beziehungen und Gebilde der Menschenwelt hervorgehen und auf die alle zurückzuleiten sind. Sie bilden insonderheit die Quellen allen e m o t i o n a l e n Erlebens; sie bedingen und begründen es, und damit sind sie nun auch die untersten Quellen aller w e r t e n d e n Stellungnahme. 2. D a s W e r t e n u n d d i e W e r t e . Als emotionales Erleben bezeichnet man die Willens- und die Gefühlserlebnisse und will durch die Wahl des einen Begriffs „emotional" sagen, daß die beiden Gruppen von Erlebnissen wesensverwandt sind, zwei Richtungen, zwei Antworten, gemeinsam im Kern. Dieses „gemeinsame Kernmoment" ist eine wertende Stellungnahme, eine Wertung, „die sich stets auf eine wahrgenommene oder auch nur vorgestellte Situation als ihren Gegenstand bezieht" 1 ). Werten ist ein Ur-Verhalten, ein erstes und unmittelbares Verhalten des Menschen. Am tiefsten ist M a x S c h e l e r nach phänomenologischer Methode in Sinn und Bedeutung des Wertens und der Werte eingedrungen 2 ). x

) Paul Hofmann, Das religiöse Erlebnis, S. 9ff. ) Vgl. auch z. Folg., Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik, 1921, S. 12ff.; 18f.; 1 0 5 - 1 0 9 ; 143ff.; 159fr. 2



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Das Werten, d. h. das Beurteilen von Dingen, Gütern, Sachverhalten nach ihrem Werte, ist eine Tätigkeit, die in letzter Instanz von den Dingen, Gütern, Sachverhalten, welche bewertet werden, unabhängig ist. ,,Wir kennen alle ein Stadium der Werterfassung, wo uns der Wert einer Sache bereits sehr klar und evident gegeben ist, o h n e daß uns die T r ä g e r dieses Wertes gegeben sind. So ist uns ζ. B. ein Mensch peinlich und abstoßend oder angenehm und sympathisch, ohne daß wir noch anzugeben vermögen, w o r a n dies liegt; so erfassen wir ein Gedicht oder ein anderes Kunstwerk längst als 'schön', als 'häßlich', als 'vornehm' oder 'gemein', ohne im entferntesten zu wissen, an welchen Eigenschaften des betreffenden Liedinhaltes dies liegt; so ist auch eine Gegend, ein Zimmer 'freundlich' und 'peinlich', desgleichen der Aufenthalt in einem Räume, ohne daß uns die Träger dieser Werte bekannt sind. Dies gilt gleichmäßig für physisch und psychisch Reales." Auch die B e d e u t u n g des Gegenstandes kann beliebig schwanken, ohne daß uns dabei sein Wert mitschwankt. Ja, das Allererste, was uns von einem Gegenstande zugeht, ob er nun erinnert, erwartet, vorgestellt oder wahrgenommen ist, das ist seine W e r t n ü a n c e . „Sein Wert schreitet ihm gleichsam voran; er ist der erste 'Bote' seiner besonderen Natur. Wo ein Gegenstand selbst noch undeutlich und unklar ist, kann der Wert bereits deutlich und klar sein. Bei jeder Milieuerfassuiig erfassen wir ζ. B. gleichzeitig zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert; in dem Werte des Ganzen aber wieder Teilwerte, in die sich dann die einzelnen Bildgegenstände hineinstellen." Wenn sich irgendeine Güterwelt bildet, sei es in der Kunst, der Religion, im Bereiche der Erziehung, dann wird diese Bildung daher stets durch eine Rangordnung der Werte geleitet, und das, was man den Wandel der Werte nennt, ist immer bedingt durch neue Erlebnisse, d. h. durch neue wertende Stellungnahmen, durch das Bestreben, bislang so oder so gewertete Güter der Rangordnung der Werte anders zu unterstellen. Aber — diese Ordnung selbst ist das Erste, und insofern jeder Güterwelt gegenüber a priori. „Welche Güter faktisch gebildet werden.



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das hängt von der hierfür aufgewandten Energie, von den Fähigkeiten der Menschen, die sie bilden, von 'Material' und 'Technik' un9 von tausend Zufällen ab. Aber niemals läBt sich aus diesen Faktoren allein — o h n e Zuhilfenahme jener anerkannten Rangordnung der Werte als Qualitäten und einer abzielenden Tätigkeit auf sie — die Bildung der Güterwelt verständlich machen. Die vorhandenen Güter stehen bereits unter der Herrschaft dieser Rangordnung. Sie ist nicht von ihnen abstrahiert oder eine Folge ihrer." Es handelt sich dabei aber um mehr als um eine lediglich formale Gesetzmäßigkeit, wie K a n t meinte. Vielmehr ist die hier gemeinte Rangordnung eine materiale, und zwar eine Ordnung der W e r t q u a l i t ä t e n . Das, was man die Relativität der Werte nennt, gilt nur in bezug auf die s i n n l i c h e Beschaffenheit der Sachen, des Zustandes, der Natur des Wertenden selbst. Sicherlich sind ein und derselbe Vorgang, eine und dieselbe Sache für einen Menschen angenehm und für einen andern unangenehm, allein „der Unterschied der Werte angenehm: unangenehm selbst ist ein a b s o l u t e r Unterschied, der vor der Kenntnis dieser Dinge klar ist. Auch daß das Angenehme dem Unangenehmen vorgezogen wird (ceteris paribus), ist kein Satz, der auf Beobachtung und Induktion beruht; er liegt im Wesen dieser Werte und im Wesen des sinnlichen Fühlens". Würde jemand den Versuch machen, uns davon zu überzeugen, daß es in der Vergangenheit oder in einem anderen Volke, da's heute die Erde bevölkert, umgekehrt sei, so würden wir diesem Berichte a priori keinen Glauben schenken, und keiner dürfte von uns solchen Glauben verlangen. Wir würden ihm erklären : diese Menschen fühlen höchstens andere D i n g e als angenehm und unangenehm wie wir, oder ihre Begehrungen sind pervertiert, oder etwas dergleichen. In dem Satze „das Angenehme wird dem Unangenehmen vorgezogen" besitzen wir ein V e r s t ä n d n i s g e s e t z für fremde Lebensäußerungen, für geschichtliche Wertschätzungen, für die Beurteilung der eigenen Erlebnisse, und das alles ist wiederum nur ein erneuter Beweis dafür, daß dieser Satz bei a l l e n Beobachtungen und Induktionen bereits vorausgesetzt wird. Es hat auch keinen Sinn, hier mit entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen zu kommen, diese Werte



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seien „entstanden". „Denn", führt Max S c h e l e r weiter aus, „was so erklärt werden kann, das ist immer nur die Bindung des begleitenden G e f ü h l s z u s t a n d e s an bestimmte, auf D i n g e gehende Handlungsimpulse... niemals die W e r t e selbst und ihr V o r z u g s g e s e t z . Dieses gilt unabhängig von allen Organisationen." Was bislang über die Wertreihe A des Angenehmen und Unangenehmen gesagt ist, gilt ebenso von den drei anderen Reihen, die als die obersten und nicht aus einander weiter ableitbaren aufgestellt werden können. Es sind das die Reihe B, die der Gegensatz „edel: gemein" umschließt, d. h. alle Weisen des Lebensgefühls, des vitalen Gefühls, in ihrem ungeheuren Reichtum an Wertqualitäten, sodann C, die zum Wertbereich der „geistigen Werte" zählende Werteinheit. Diese ist dadurch unterschieden, abgelöst und unabhängig von der gesamten vitalen Sphäre, „daß die klare Evidenz besteht, Lebenswerte für sie opfern zu sollen". Wir erfassen sie auch durch rein geistige Akte und Funktionen und nicht durch vitale. Hierher gehören schön: häßlich, recht: unrecht, wahr: falsch. Die letzte Wertreihe D liegt im Gegensatz heilig: unheilig. Zugleich ist die Reihenfolge A—D selber, in welcher wir diese Wertreihen aufgezählt haben, eine a p r i o r i s c h e Rangordnung, die wiederum den ihnen zugehörigen Qualitätenreihen v o r h e r g e h t . Von dieser Ansicht aus löst sich auch eindeutig das Verhältnis von M e n s c h u n d U m w e l t , die Frage, ob sich der Mensch die Umwelt schaffe und sie beeinflusse oder ob er umgekehrt von der Umwelt geschaffen und aus ihr zu erklären sei in seinem Sein. Denn „Umwelt" eines Menschen kann nach dem Ausgeführten nur dasjenige sein, was er als wirksame Umwelt e r l e b t , kann also nur die Summe derjenigen reizerfüllten Vorgänge, Zustände, Gegenstände und Akte sein, die ihm zu emotionalen Erlebnissen werden konnten, denen er mit seiner wertenden Stellungnahme begegnen konnte. Also schafft sich und schuf sich jeder Mensch selbst seine Umwelt, seinen Lebensraum und Arbeitsraum. Und die Grundstruktur dieser Umwelt bleibt dieselbe, wohin wir auch uns örtlich begeben und unsre Wirkungssphäre sich entfalten lassen. „Es sind dieselben Wertqualitäten, auf denen unsere besonderen Werteinstellungen (oder



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Einsiellungen auf Wertinhalte) in der besonderen Rangordnung der unsere 'Neigungen' beherrschenden Vorzugsregeln beruhen, mit denen wir an die wechselnden empirischen Wirklichkeiten herankommen. Der Spießbürger bleibt Spießbürger, der Bohémien Bohémien, und nur das wird ihnen 'Umwelt', was die Wertverhalten ihrer Einstellung an sich trägt. Menschen einer Standeseinheit, einer Rassen- und Volkseinheit usw. und schließlich jedes Individuum tragen so die Struktur ihres Milieus mit sich herum" (Scheler). Jedes Lebewesen schneidet gleichsam auf Grund der ihm eigentümlichen Energie, sein wertendes Vermögen in Funktion zu setzen und zu erhalten, aus der Totalität des Seienden sich eine ,.Umwelt" heraus, s e i n e n Lebensraum. Vom Reichtum oder von der Armseligkeit seiner sinnlichen, vitalen, geistigen Energien oder davon, wie sie entwikkelt und gepflegt worden sind, hängt es daher ab, wie reich oder wie arm seine Umwelt sein wird. Die Wertewelt einer Persönlichkeit ist wohl der A u s d e h n u n g auf unzählige und durch nichts im voraus abzugrenzende Güter aller Art fähig, aber das bedeutet nicht, daß diese Wertewelt ihren apriorischen Charakter verliert; es ist das nur ein Zeugnis dafür, daß wir nicht imstande sind, die geistigen Kräfte eines Wesens voll zu erfassen, die Energien, die es aufzubringen vermag und deren Schätzung aller menschlichen Maßtechnik spottet. Die Spannweite der körperlichen und geistigen Kräfte ist nie ganz zu errechnen, vor allem auch deswegen nicht, weil das ein Rechnen mit Faktoren erforderte, die sich während des Rechnens ständig verändern, ein Messen von sich wandelndem Lebendigen. Darum weiß niemand z. B. im voraus, was ein Körper auszuhalten vermag, welche Fähigkeiten während der Schuljahre und vor allem auch noch nachher, selbst erst um die Mitte des Lebens, entwickelt werden können. Alle Berufsberatung, alle Intelligenzprüfungen können nur schätzungsweise richtig sein und müssen reichste Fehlerquellen enthalten; sie können nur „auch" richtig sein. Das Werten ist eine ursprüngliche Funktion, ein ursprüngliches Verhalten des Menschen, ja schon im Instinkt haben Mensch wie Tier ein Wissen, das Max S c h e l e r beschreiben



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kann als „ein Fühlen w e r t b e t o n t e r und nach W e r t e i n d r ü c k e n differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände 1 )". Die Polarität in allen Wertreihen und allen Untergliedern der Reihen zeigt an, daß das Werten nicht zur Wirklichkeit gehört, sondern eine Art des menschlichen Verhaltens ihr gegenüber ist, und zwar, wie die metaphysische Betrachtung der Wertungen überhaupt lehrt, ein eben nicht weiter abzuleitendes Verhalten. Es ist der unableitbare Kerngehalt in allem emotionalen Erleben, und die verschiedenen Arten wertender Stellungnahmen sind zu vergleichen verschiedenen Stufen, welche unser Wollen und Fühlen in die Wirklichkeit hineinschlägt. Nur darf nie dabei übersehen werden, daß unser Werten den Sinn der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit als solche nicht trifft. Die Wirklichkeit ist schlechthin Position und Eins. Die Aussage, sie habe einen Sinn, ist darum nicht zu verwechseln mit ethischer oder ästhetischer Wertung oder Bewertung, sondern liegt ganz und gar jenseits von gut und böse wie von schön und häßlich. Von der Wirklichkeit gibt es demnach nur eine Aussage ohne wertende Prädikate 2 ). Das schließt nicht aus, daß man die Wirklichkeit bewerten k a n n . Sie kann im Mythus ergriffen, im Hymnus besungen, in der Musik wiedergegeben, in der Farbe veranschaulicht werden, je nachdem, welchen Versuch der Mensch aus seinem Gefühlsdrang heraus bei seinem Ergriffensein vom Wirklichen unternehmen mag, und so kann auch eine philosophische wie eine religiöse Betrachtung einsetzen, nur daß wir hier nicht davon reden und sie in keiner Weise zum Fundament unserer e r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e n Grundlegung machen, wenn es auch immer wieder nötig wurde und werden wird, aus diesen Bereichen veranschaulichende Bilder und Erkenntnisreihen mitzuverwenden. So muß darauf hingewiesen werden, daß gerade diese Betrachtung jenseits aller Wertungen sich auch in den höchsten ethischen Religionen findet. Gott ist danach über Gerechte und Ungerechte; es gibt vor Gott nichts menschlich Gewertetes, sondern eher verkehren sich vor ihm die menschlichen Wertmaß*) Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1930, S. 31. ) Vgl. oben S. 24.

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stábe in ihr Gegenteil. Vor Gott gibt es nur Menschenkinder in ihrem Schicksal. So umfingen alle großen religiösen Persönlichkeiten mit ihrer Liebe und Güte stets die Menschen rein als Menschen und jenseits der gewöhnlichen menschlichen Beurteilungen. Nach den bekannten Gleichnissen Jesu vom Fischnetz, vom Unkraut unter dem Weizen u. a. sind Gute und Böse nebeneinander, und M e n s c h e n haben sich durchaus des Urteils zu enthalten, das einzig und allein Gott vorbehalten bleibt. So steht es auch in jenem Grunde der Seele, den E c k e h a r t meint, wenn er von dem Etwas in der Seele spricht, aus dem Erkennen und Liebe „entspringt", das aber selber nicht erkennt noch liebt — „was Sache der Seelenkräfte ist. Wer dieses findet, der hat gefunden, worauf Seligkeit beruht: es hat nicht Vor noch Nach und wartet nicht auf Hinzukommendes, denn es kann weder reicher noch ärmer werden. Und ebenso muß auch das von ihm verneint werden, daß es in sich etwas wüßte, was erst zu vollbringen wäre. Es ist: e w i g D a s s e l b e , das nur sich selber lebt — wie Gott". Alle großen E r z i e h e r zeigten eine gleiche oder eine verwandte Haltung; ja jeder, der irgendwo mit erzieherischer Verpflichtung unter den noch nicht reifen Menschenkindern steht, muß eine gleichsam naturhafte Haltung einnehmen, wie die Sonne, welche sich in ihrer Schönheit und ihrer Wärme über alles und jedes gleicherweise erhebt. Er soll die natürlichen Anlagen scheiden und ordnen und alle unterstützen — eine unaufhörliche Aufgabe —, soll sie zu Gruppen und Typen und Arbeitsvorgängen sich zusammenfinden lassen und selber sie zusammenfassen. Aber nie wie er es „mag" oder nicht mag; seine Auswahl wie seine Ordnungen sollen nichts zu tun haben mit gut und schlecht im moralischen Sinne. So schwer es auch sein wird, dieses Ideal je zu verwirklichen, es steht und stand immer vor dem Erzieher, der anders sich in seinem Grundwesen nicht begriffen hätte und nur den Namen eines Erziehers anmaß lieh führte. Er soll die Gruppen in ihrem Zusammenleben und in ihrer Arbeit sich werthaft ordnen, in allen Vorgängen und Handlungen jene Hierarchie der Werte sich entfalten lassen; selber auch dastehen wie ein Maßstab für Wertung durch jene natur-



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hafte Haltung, dafür sorgen, daß sich die Wertreihen über a l l e Geschehnisse der Gruppe hin entfalten und daß dadurch eine starke tragende und bergende Gesinnung alles mit der Sicherheit eines Instinktes durchwirke. Die Lehre von der Ursprünglichkeit des wertenden Verhaltens und von der Apriorität der Rangordnung der Werte ist ein weiterer und stärkster Beweis dafür, daß das Einzelwollen und das i n d i v i d u a l e Werten in einem überindividuellen höchsten Allgemeinen gründen, das man u. a. wenig glücklich als „Gesamtwillen" bezeichnet hat. Das Individuale in allen Wertungen trifft ja nicht die Werte selbst, sondern es entsteht einerseits aus den Sachverhalten, Zuständen und Gütern, auf welche die Werte jeweils bezogen werden, und andererseits aus der Kraft, welche beim Werten in Funktion tritt. Da ferner diese Sachverhalte, Zustände und Güter eine bunte Beschaffenheit aufweisen, so bedingen sie dadurch bereits die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, Teilwerte und Folgewerte, also abgeleitete Werte, auf sie anzuwenden, und somit entsteht jener Eindruck des Subjektivistischen oder des Relativismus. Beides aber sind oberflächliche Beurteilungsweisen in der wahrsten Bedeutung des Wortes „oberflächlich"; sie beurteilen und treffen wirklich nur die Oberfläche des Problems. Demgegenüber wird nun aber auch die Bedeutung des Individuums, des Einzelwillens, nicht im geringsten damit herabgesetzt, daß es in seinem wertenden Verhalten von der absoluten und apriorischen Wertewelt zeugen muß und an ihre Ordnung gebunden ist. S e i n e Bedeutung liegt darin, daß es immer doch auf s e i n e Kraft ankommt, die Welt zu bearbeiten und zu verarbeiten und zu bewerten, vor allem sie werthaft zu ordnen und herzurichten und als Material für g e s i n n u n g s e r f ü l l t e s Leben und Handeln zu gestalten. In diesem Sinne ist der Einzelwille einziges und ursprüngliches Organ der Gemeinschaft und unersetzlicher Diener im Reiche der Werte. Die Gemeinschaft kann sich nur darstellen in den Individuen und durch die Einzelnen. Und es ist „jede individuelle Kraft eine Richtungsvariante der Gemeinschaft; jede Individualität eine besonders geschliffene Linse, in der sich Gemeinsames bricht, ein und das-



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selbe Licht 1 )". In diesem Abschnitt haben wir die beiden Hauptbindungen dieses Gemeinsamen, das durch alle Einzelnen hindurchgeht und sie miteinander verbindet, aufgewiesen: a) die Urbindung des Einzelnen an den „ N a t u r r í u m " , an das W o und das Wann seines Erscheinens, seines Auftretens als einer „geborenen Individualität"; und b) die Bindung seines gesamten „ L e b e n s - u n d A r t e i t s r a u m e s " , den er sich schafft, an das apricrische System der Werte. Seine besondere geistige Lebensarbeit dort und dann, wo er geboren ist, wird demnach ebenso getragen von der geistigen Gemeinschaft des Grundes aller Wirklichkeit, wie der Lebens- und Naturgrund selbst, auf dem er erscheint und seine tesondere geistige, persönliche Lebensarbeit auszuführen hat als — „gewachsene Individualität".

§ 4.

Individuum und Gemeinschaft. Form und Geist (Bildung und Erziehung). Die voraufgehenden Gedankenreihen führten auch ir diesem Teile der allgemeinen Erziehungswissenschaft zum P r o blem Individuum und Gemeinschaft, so wie sie weiterleiten zu dem andern: Bildung und Erziehung 2 ). Im ersten Um