Allgemeine Erziehungswissenschaft: Teil II Der Ursprung der Pädagogik [Nachdr. d. Ausg. 1931. Reprint 2012 ed.] 9783110833713, 9783110025071


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German Pages 222 [224] Year 1965

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Vorwort
§ 1. Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie?
I. Die metaphysische Streitfrage der Erziehungswissenschaft
§ 2. Die Erziehungswirklichkeit
§ 3. Beziehungen und Gebilde. – Das Werten und die Werte
§ 4. Individuum und Gemeinschaft. – Form und Geist (Bildung und Erziehung)
§ 5. Die Grundurteile der Erziehungswissenschaft
II. Die praktische Streitfrage der Erziehungswissenschaft: – Der Ursprung der Pädagogik
§ 6. Entwicklung der praktischen Aporie
§ 7. Freiheit
§ 8. Die erzieherische Haltung
§ 9. Autorität. – Vom Recht der eigenen Lebenserfahrung und der Überlieferung (Tradition)
§ 10. Die Führung (Pädagogie)
§ 11. Der Stoff
§ 12. Die Grundformen der Führung (Pädagogie)
§ 13. Das Bewußtmachen; die Pädagogie des Unterrichts. – Der Ursprung der Didaktik
§ 14. Disziplin und Autonomie
§ 15. Macht und Zwang
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Allgemeine Erziehungswissenschaft: Teil II Der Ursprung der Pädagogik [Nachdr. d. Ausg. 1931. Reprint 2012 ed.]
 9783110833713, 9783110025071

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DER

URSPRUNG DER PÄDAGOGIK (II. TEIL DER „ALLGEMEINEN ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT") VON

PETER PETERSEN

WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J . TRÜBNER - VEIT & COMP

BERUN UND LEIPZIG 1931

Dieser Band ist ein unveränderter Nachdruck der im Jahre 1931 erschienenen ersten Auflage

Archiv-Nr. 3 4 17641

© 1964 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschcn'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Poland Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen

Inhaltsverzeichnis. Seite

Vorwort § 1. Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie? 1. Wissenschaft und Philosophie. — 2. Erziehung als kosmische Funktion. — 3. Erziehungswissenschaft und Metaphysik. I. D i e m e t a p h y s i s c h e S t r e i t f r a g e d e r E r z i e h u n g s wissenschaft § 2. Die Erziehungswirklichkeit 1. Evidenz. — 2. Polarität. — 3. Das Sein in der Wirklichkeit und das Sein in der Erziehungswirklichkeit. — 4. Die metaphysische Haltung und Deutung. — 5. Die Wirklichkeit als Geist und Leben. — 6. Wirklichkeiten. § 3. Beziehungen und Gebilde. — Das Werten und die Werte § 4. Individuum und Gemeinschaft. — Form und Geist (Bildung und Erziehung) . . . . § 5. Die Grundurteile der Erziehungswissenschaft . 1. Immer alles. — 2. Von Natur gut. — 3. Einheit des Menschengeschlechts. — 4. Für den Einzelmenschen und für jede Menschengemeinschaft ist Sinnverwirklichung Vergeistigung. — 5. Der Weg dieser Verwirklichung ist Dienst. — 6. Vergeistigung und Güte sind eins. II. D i e p r a k t i s c h e S t r e i t f r a g e d e r E r z i e h u n g s w i s senschaft: — Der Ursprung der Pädagogik . . § 6. Entwicklung der praktischen Aporie . . . . § 7. Freiheit § 8. Die erzieherische Haltung

V—VI 1—22

23—113 23—65

65—80 80—96 96—113

114—216 114—120 120—134 134—148



IV — Seite

§ 9.

Autorität. — Vom Recht der eigenen Lebenserfahrung und der Uberlieferung (Tradition) § 10. Die Führung (Pädagogie) § 11. Der Stoff § 12. Die Grundformen der Führung (Pädagogie) . § 13. Das BewuBtmachen; die Pädagogie des Unterrichts. — Der Ursprung der Didaktik . . . . § 14. Disziplin und Autonomie § 15. Macht und Zwang

148—157 157—169 169—178 178—190 190—197 197—211 211—216

Vorwort.

S

o wie nun einmal dieses Werk aus meiner akademischen

Lehrtätigkeit herausgewachsen ist, wird die allgemeine Erziehungswissenschaft in drei Umgängen entwickelt werden. Der erste Teil geht aus von soziopsychologischen und kulturphilosophischen Betrachtungen, um Grundbegriffe wie Gemeinschaft und Gesellschaft, Individualität und Persönlichkeit, Natur und Kultur, Erziehung und Bildung iir ihrer erziehungswissenschaftlichen Einlagerung unter jenem ersten Aspekte zu untersuchen und um Wirtschaft, Staat, Kirche und Volk auf ihre erzieherischen bzw. gegenerzieherischen Kräfte hin zu prüfen. Eines der Ergebnisse dieses Teiles wurde die Forderung, daß die absichtsvolle Erziehung, die Pädagogie, vom Volke getragen werden solle, und daß ihre das Volk vertretenden Träger die Familie und die in der Erzieher„gilde" zusammengeschlossene Erzieherschaft bilden sollten. Somit steht am Ende des ersten Umganges erziehungswissenschaftlicher Betrachtungen die ernste Frage: wie denn nun diese beiden das Geschäft der Erziehung beginnen sollen? Wie kann praktische Erziehungsarbeit verantwortet werden? Wie wird sie inmitten der Erziehungswirklichkeit möglich? Um die Beantwortung solcher Fragen geht es im zweiten Umgange. Es sind Betrachtungen metaphysischer und praktischer Natur, welche u. a. die Erziehungswirklichkeit, das Verhältnis der Menschen in ihr und zu ihr sowie in und zur Wirklichkeit schlechthin, damit von einem neren Ausgangspunkte her auch die Probleme Individuum und Persönlichkeit, Erziehung und Bildung behandeln, vor allem aber die rechte erzieherische Haltung und die rechte „Führung" bestimmen. Damit begründen sie zugleich erst P e t e r s e n , Erziehungswissenschaft. II. b

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VI —

P ä d a g o g i k und D i d a k t i k und weisen deren Stelle innerhalb des Systems einer „Erziehungswissenschaft" auf. Der dritte und letzte Band wird sich mit dem Wesen und der Bestimmung des Menschen sowie mit der erzieherischen bzw. gegenerzieherischen Bedeutung der „Kultur" befassen. Als die Gedanken dieses 2. Teiles vor sieben Jahren zuerst in Vorlesungen und Übungen vorgetragen und besprochen wurden, schienen sie mir und meinem Kreise innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Bewegung Deutschlands recht isoliert zu stehen. Denn sie trugen an ihrem Teile den Kampf gegen die sog. rationalistische Pädagogik vor, den die neupädagogische Bewegung allerorten, also die neue P r a x i s , vom ersten Tage an führt. Und die hier weitergeführte Erziehungswissenschaft ist ja für mich die theoretische Besinnung auf eine seit mehr als zwölf Jahren erlebte, beobachtete und unermüdlich kritisch überdachte neue Schul- und Erziehungspraxis, die, immer stärker ansteigend, sich rings in der Welt ausbreitet. Überall auf theoretischen, weltanschaulichen Grundlagen, die in Gegensatz zu der herrschenden Pädagogik stehen, wie sie als Wissenschaft seit Kant entstanden ist, als ein Kind derselben rationalistischen Strömung, die uns auch den pädagogischen Methodismus gebracht hat. Heute sehe ich diese Gedanken nicht mehr vereinzelt, sondern in einer breiteren Front und von verschiedenen Seiten her vorgetragen. Ich nenne nur Theoretiker so verschiedener Haltung wie Grisebach, Gogarten, Delekat, Helmut Schreiner, Magdalene von Tiling. Gleichzeitig wird bereits der Einbruch der Gedankenreihen des antirationalistischen Denkens in Systeme auf überlieferten Fundamenten immer deutlicher und beginnt sie zu erschüttern, und das ist ja stets das Merkmal für die beginnende endgültige Neuorientierung. Wenn diese erst vollzogen ist, dann wird auch eine neue Schulwelt vor uns stehen — und das weil dann unser Volk eine Erneuerung vollzogen hat. J e n a , im Januar 1931.

§ 1.

Erziehungswissenschaft oder Erziehungsphilosophie? 1. Jede Wissenschaft erstrebt eine systematische Ordnung derjenigen Erkenntnisse, welche sie innerhalb ihres Bereichs, ihres Ausschnitts aus der Wirklichkeit, gewonnen hat. Systematische Philosophie sucht, soweit ihr Verhältnis zu den Wissenschaften in Betracht kommt, über den von den Einzelwissenschaften gewonnenen Standpunkt hinaus einmal die Ursprünge und die Grundlagen des wissenschaftlichen Erkennens sowie allen Wissens und Erkennens schlechthin aufzudecken. Sie will sodann über alle Ergebnisse der Einzelwissenschaften hinaus diese in eine widerspruchslose Einheit zueinander setzen, um sie in die Grundlagen einer allgemeinen, Verstand und Gemüt befriedigenden Weltanschauung hineinzuweben. Es will mithin Philosophie durch ihre denkende Bearbeitung sämtlicher Erkenntnisse zu dem werden, was ihr Name bedeutet, zu einer Weisheitslehre. Dabei stehen also Philosophie und Wissenschaft in einer Wechselwirkung, einer gegenseitigen Befruchtung. Wollte sich eine Einzelwissenschaft auf die Dauer jeder philosophischen Besinnung auf die Grundvoraussetzung ihrer Forschung wie auf das Verhältnis ihrer Grunderkenntnisse zu den Anforderungen einer widerspruchslosen Weltanschauung verschließen, so würde es sich rächen, und rächte es sich von je. Nur so erklärt es sich, daß Vertreter rein empirischer Wissenschaften und solcher, denen Philosophie weitab zu liegen scheint, weltanschauungsmäßig so oft einfach traditionsgefangen leben oder sich mit primitivsten, ihrem wissenschaftlichen Ruf und Vermögen vielleicht sogar diametral entgegengesetzten Einsichten begnügen. Nicht anders ist es mit der Philosophie bestellt. Wenn sie sich souverän gebärdet und ohne gründliche Kenntnis der Sonderwissenschaften und deren Methoden ihre Spekulationen schichtet und nicht Stufe für P e t e r s e η , Erziehungswissenschaft.

II.

1

Stufe am erreichten Wissensstande kritisch prüft, dann ist sie ganz oder zu erheblichen Teilen zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Das wurde das Schicksal der scholastischen Philosophie seit 1600, als sie sich den neuen Naturwissenschaften verschloiß, ihren Methoden und Erkenntnisprinzipien,· Unfruchtbarkeit und Verfall der Hegeischen Philosophie nach dem Tode des Meisters hatten gleiche Ursachen neben anderen. Ja, es gehört mit zum Merkmal des „Scholastischen" an einer Philosophie, daß sie sich anmaßt, Gebieterin der Wissenschaften zu sein und diese aus sich zu entlassen, ihnen Maß, Methode und Ziel setzen zu können. Die Erstarrung zum Scholastizismus erfolgt gerade auch deswegen, weil sich die Philosophie, in ihrer Überhebung der Wissenschaft gegenüber, eine der reinsten und kräftigendsten Quellen ihres eigenen Lebens verschüttet hat. Erziehungswissenschaft ordnet systematisch unter obersten Prinzipien diejenigen Erkenntnisse, welche im Problemgebiet der Erziehungswirklichkeit gewonnen werden. Wie in jeder Wissenschaft, so handelt es sich auch hier um ein Erkennen, das seinem W e s e n nach nicht vom gewöhnlichen Erkennen verschieden ist. Das gewöhnliche Wissen wird zur Wissenschaft vor allem durch zwei Mittel: durch eine planmäßige Anwendung der logischen Prinzipien und durch mannigfache, nach den verschiedenen Wissenschaften bunt unterschiedene technische Hilfsmittel. Von diesen verwendet auch die Erziehungswissenschaft eine beträchtliche Änzahl wie Experiment, Statistik, Rundfrage, allein in der a l l g e m e i n e n Erziehungswissenschaft treten sie zurück gegenüber der planmäßigen Anwendung logischer Prinzipien für einen möglichst lückenlosen Aufbau aller auf Erziehung bezüglichen Grunderkenntnisse. Im gewöhnlichen Erkennen besteht durchaus kein planmäßiger Gebrauch der logischen Prinzipien. Man denke nur an die starke Bedeutung und Verbreitung des Analogieschlusses, so bereits auf dem Gebiete der Wahrnehmung, wenn ζ. B. Tierstimmen aus einem pfeifenden Winde, menschliche Worte aus einem Tierlaut herausgehört werden; Klangassoziationen, die vor der wissenschaftlichen Analyse des Psychologen nicht standhalten, ebenso wenig wie das magische Deriken, das nicht nur im Kindheitsalter eine große Rolle spielt,



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sondern stark weiter wirkt in der W e l t der Erwachsenen als ein Mittel zur Deutung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen an der W e l t und den Mitmenschen. W i e es die Aufgabe verschiedener Sonderwissenschaften ist, solche Tatbestände logisch und mit mancherlei Hilfsmitteln zu durchleuchten, um wahres Wissen zu erreichen, so geht die erziehungswissenschaftlidhe Betrachtung gegen volkstümliche, gegen überlieferungsmäßig, gedankenlos weitergegebene und zur Grundlage für bewußte Erziehung überkommene Meinungen vor. Und es bildet gerade eine ihrer ersten Verpflichtungen, immer von neuem an die Überprüfung ihrer Grunderkenntnisse zu gehen. Da sie begründetes Wissen anstrebt, so bleibt ihre vornehmste Aufgabe, nicht nur Begründung zu geben, sondern auch sich selber zu überprüfen, wieweit ihre Begründungen noch rechtskräftig sind. Wenn sie dazu u. a. auch der Philosophie bedarf, so hebt sie sich dadurch in nichts von den anderen Wissenschaften ab, und wir werden sehen, daß in ihr wie in allen übrigen die Antriebe zur Durchmusterung des Grundes, auf dem sie ruht, w e s e n t l i c h der W i r k l i c h k e i t s e l b s t entstammen. In die Wissenschaft ragt Philosophie vornehmlich hinein in den prinzipiellen Betrachtungen. Geben wir uns im folgenden solchen hin, so wird damit der Titel einer allgemeinen Erzieh u n g s w i s s e n s c h a f t nicht strittig. Ein Verfallen in die Philosophie, ein Änheimfallen an sie, etwa gar als die Mutter der Wissenschaften findet nicht statt. Es ist ja schon der Begriff einer Philosophie keineswegs fest und eindeutig. Auch würde an uns die Aufgabe herantreten, uns zu entscheiden, w e l c h e m der vielen Systeme wir uns anschließen, welche Definition von Philosophie wir übernehmen wollten. Bevor wir in solchem Sinne philosophisch werden könnten, müßten wir von einem übergeordneten Standpunkte aus Philosophie kritisch sichten und auslesen. Es bliebe uns sonst nur der W e g der Jüngerschaft, des gläubigen Anschlusses an ein System, um von seinen Prämissen aus eine „philosophische Pädagogik" zu entwerfen, deren es der Idee nach so viele geben kann, als philosophische Systeme entworfen sind. Eine andere Aufgabe wird allerdings der Erziehungswissenschaft der Philosophie gegenüber gestellt werden, 1*

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nämlich, mindestens die philosophischen Hauptriditungen vorzuladen und sie zu nötigen, darüber Rede und Antwort zu stehen, welche e r z i e h e r i s c h e n Kräfte denn von ihnen ausgehen. Es liegt ja auf der Hand, daß die Philosophie eines S c h o p e n hauer andere erzieherische Wirkungen haben muß als diejenige F i c h t e s , die positivistische andere als die idealistische. Wer kann diese Prüfung anders vornehmen als die eigengesetzliche Erziehungswissenschaft 1 ) ? Für den Umkreis unserer Betrachtungen genügt die bereits umschriebene Aufgabe der Philosophie vollkommen. Darin ist enthalten, was Inhalt einer systematischen Philosophie war, solange es solche gibt, und gleichfalls, was schlechthin in „philosophischem Denken" liegt; und dieses kann auch aufgeboten werden ohne Absicht auf ein philosophisches System. Also handelt es sich für uns nicht um die Beziehung erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse auf irgendein bestimmtes philosophisches System oder eine philosophische Richtung. Wir mühen uns um die wissenschaftliche Erfassung und Ordnung der Erziehungswirklichkeit und nicht, etwa nach kritizistischer Art, um die Struktur der erziehungswissenschaftlichen Wirklichkeit, also um die idealen Prinzipien, welche die Möglichkeit enthalten, daß die Erziehungswirklichkeit begreiflich wird. Das ist kein uninteressantes Unternehmen, auch nicht von vornherein unfruchtbar, eine bloß ordnende, das Wissenschaftssystem überprüfende Tätigkeit, aber es ist kein Denken, das die Erziehungswissenschaft in sich selber vorwärts treiben kann. Denn die schöpferischen lebendigen Kräfte liegen allein in der Erziehungswirklichkeit, sofern sie ja Teil der Wirklichkeit ist, dem Mutterschoß aller lebendigen und geistigen Kraft; sie liegen aber nimmer in der erziehungswissenschaftlichen Wirklichkeit. Vielmehr müssen sie aus der Erziehungswirklichkeit aufsteigen zu uns, müssen von uns erschaut werden, von Menschen, die von ihnen ergriffen wurden. Und sie werden erschaut, wenn sie sich zu uns hin bewegen, nach Richtungs- und Auftriebsgesetzen, die wir nicht verstehen und niemals erkennen können, so !) S. meine Schrift: Die Philosophie in erziehungswissenschaftlicher Beleuchtung, 1929.



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wenig wie wir das Ganze der Wirklichkeit und die Ordnungsgesetze seiner Bewegtheit verstandesmäßig erfassen können. Es beirrt uns auch nicht die Tatsache, daß im vergangenen Jahrzehnt mit mehr Recht von einem Aufschwung als vom Ende der philosophischen Pädagogik geredet werden konnte; denn die Zunahme und Erkraftung philosophischer Betrachtung der Erziehungsprobleme hängt eben mit dem Aufblühen und der Wandlung der Erziehungspraxis, der lebendigen Erziehungsbewegung und der damit sich entwickelnden Erziehungswissenschaft zusammen. Dies alles hat Philosophen genau so gut angeregt wie neues Schaffen oder neue Ergebnisse in Kunst und Literatur. Zudem besteht durchaus das Recht, unbekümmert um wissenschaftsmethodische Untersuchungen eine Erziehungswissenschaft aufzubauen. Denn außer der bereits geschilderten Wechselwirkung zwischen Philosophie und Wissenschaft gilt von dem Verhältnis beider, daß die wissenschaftliche Erkenntnis den Primat vor der philosophischen besitzt, wie W i l h e l m W u n d t stets betont hat. In den Anfängen der wissenschaftlichen Entwicklung dürfte einmal die Philosophie „Pfadfinderin auf dem Wege der Erkenntnis" gewesen sein. Sie stellte die Probleme ans Licht und stellt auch heute noch gelegentlich der Wissenschaft Probleme in neuer Beleuchtung, aber niemals hat die Philosophie die Probleme der Wissenschaft g e l ö s t , und zwar deswegen nicht, weil sie selber immer von der Wissenschaftsstufe ihrer Zeit abhängig ist; darum kann sie wohl Pfadfinderin, aber nicht „Vollbringerin" sein. Und dem entspricht auch die tatsächliche Entwicklung der Wissenschaft. Die Entwicklung der Denknormen und der Erkenntnisprinzipien innerhalb der Wissenschaften geschieht zunächst überall ohne eine voraufgehende logische oder wissenschaftstheoretisdie Prüfung. Und dieses Verfahren, daß dem Nur-Philosophen so bedenklich erscheinen möchte, wird dadurch gerechtfertigt, „daß eine genaue Rechenschaft über solche Prinzipien überhaupt erst auf Grund bereits wissenschaftlicher Resultate möglich ist" 1 ). 2. Erziehung ist ein organisches Geistwerden, vergleichbar Μ W. Wundt, Kleine Schriften, I. 1910. S. 351 f., 632.



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einem Vorgang der Anpassung, des Hineinlebens, richtiger des Hineingelebtwerdens in die Gemeinschaft, ein Hineinleben nicht nur in die Güter und Formen der Kulturwelt, sondern vor allem und stets damit auch in ihre Werte, die Ewigkeitscharakter tragen. In diesem vollen Umfange wächst der Mensch in die Gemeinschaft hinein und schafft sich seinen „Lebensraum", und in diesem Sinne ist Erziehung ein Vorgang natürlichen Wachstums am und im Ganzen unter natürlichen Einwirkungen der mannigfachsten Ärt. Und das ganze Leben des Menschen ist nach F r i e d r i c h F r ö b e l s Worte „Ein Leben der Erziehung" 1 ). Auch die völkerkundliche Untersuchung der tatsächlich unter den Menschen der Erde, heute wie in fernster Vergangenheit, vorhandenen Formen für Erziehung des Nachwuchses rechtfertigt diese Bestimmung der Erziehung. Ja, es bliqken unter den zivilisierten Völkern manche bereits sentimental und müde auf Verhältnisse in einfacheren Kulturen, in denen die Auferziehung des Nachwuchses sich nahezu reibungslos vollzieht, während sie sich in der Zivilisationsform der „Schule" zu einer Problematik ausgewachsen hat, die in Deutschland ζ. B. zu einem Aufstand der Jugend geführt hatte, ein Zeugnis für die wirren und verschlungenen Wege, welche die Zivilisation der christlichen Völker seit Jahrhunderten wandelt. Die Erzielhungsformen der sogenannten primitiven Völker zeigen demgegenüber vielfach eine größere Lebenserfülltheit und Naturwahrheit in den Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenen, ebenso in den erzieherischen Einflüssen der Erwachsenenverbände aller Art, ihrer sozialen und ihrer Kultureinrichtungen. Was auf dem ganzen Erdenrund hinter diesen Formen steht, eben die Erziehung, offenbart sich damit als eine Urmacht, als !) S. meine „Allgemeine Erziehungswissenschaft", 1,1924, S. 104 f.— Unter „Gemeinschaft" verstehe ich einmal im metaphysischen Sinne die Wirklichkeit, das Seiende überhaupt, insofern es Geist ist, und sodann die sichtbaren Gemeinschaften, insofern sie die Formen der Darstellung, Erzeugung und Erhaltung des Geistigen in der Menschenwelt sind (προς ήμας). Gesellschaft oder das Soziale ist darum der Gemeinschaft gegenüber das Zweite, ein Erzeugnis auch der Gemeinschaft, ebenso wie Staat und Kirche; vgl. a. a. 0. S. 18—31.



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eine kosmische Funktion innerhalb der Menschheit. So konnte Älois F i s c h e r auf Grund sozialpsychologischer und soziologischer Erwägungen das Erzieherische „eine mögliche Seite, Erscheinungs- und Wirkungsform tatsächlich alles Wirklichen, der Natur, der Gesellschaft, der Kultur" nennen und Pädagogik eine „Grundkategorie der Betrachtung des Menschen, seiner Gesellschaft, Geschichte und Kultur", den pädagogischen Gesichtspunkt universal und darum die Pädagogik eine selbständige Wissenschaft 1 ). Worauf zielt diese kosmische Funktion ab? Wo wir sie in ihren letzten Wirkungen erfassen, da war sie und ist sie immer dieselbe, eine Kraft, welche Vergeistigung und damit Befreiung wirkt, rein auf das individuelle Werden gesehen den organischen Aufbau, die Gestaltwerdung, die Form des individuellen Seins. Immer und ü b e r a l l s t e h t E r z i e h u n g in einer u n a u f h e b b a r e n B e z i e h u n g zu G e i s t und zu F r e i h e i t . Sie ist schlechthin das Geistige in seinem Ringen um Selbstdarstellung im Menschen in Freiheit, in Reinheit, in reiner Form, in einem ungestörten, „natürlichen", harmonischen organischen Äufbau. Und damit ist sie selber Ursache und Zweck, causa und finis zugleich. Das Geistige verkündet sich in den sog. stummen Formen der unbelebten Natur, sofern sie Form sind; in den Bewegungen des in seinem körperlichen Rhythmus befreiten Menschen, insofern er Harmonie offenbart; im individuellen wie volklichen Handeln, soweit sie Stil, Eigenart bekunden; in den Versuchen, Lebendiges und seine Erzeugnisse aufzufassen und zu deuten, und ganz besonders in den Werken des Menschen, wenn sie echte Geisterzeugnisse sind, d. h. a b s i c h t s l o s recht, gut, sdiön, — kurz, einfach nur sind. Darum ist es für denjenigen, dessen Äugen hell geworden sind, ganz einerlei, ob dieses Werk das stille, scheinbar gleichförmige des Landmannes, eines Handwerkers oder das eines großen Künstlers, eines Gelehrten oder Dichters ist. Jedes Werk ist nun genau in dem Maße und in dem Umi) Die Erziehung, 1. Jahrg., 1925, S. I f .



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fange, wie es absichtslos nur da ist und so Geistiges verkündet, wiederum auch erzieherisch wirksam; ja nur dann. Je weniger Geistiges in ihm vorhanden ist, desto geringer ist die erziehende Kraft des Werkes, auch eines Künstlers, eines Dichters, und sie ist unabhängig von dem Massenurteil und der öffentlichen Geltung in seiner Zeit, die beide ja selber keineswegs geistig bewirkt zu sein brauchen. Deswegen ist es auch kein Zufall, daß die Wunderwerke der modernen Technik unter allen Völkern tausende finden, welche ihre Bedeutung preisen, daß sie aber nirgends in einem nennenswerten Maße vergeistigend und innerlich befreiend und den Menschen erhebend gewirkt haben. Und doch: welche Hoffnungen hat man an den die menschliche Arbeit erleichternden, zum Teil ersetzenden Fortschritt der Technik geknüpft und setzt mancher heute immer noch darin! A r i s t o t e l e s glaubte, wenn jedes Werkzeug auf Geheiß das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wenn das Weberschiff von selbst zwischen Zettel und Hinschlag hin und her laufe oder der Schlag des Zitherspielers von selbst die rechten Saiten träfe, so würden keine Menschenhände mehr benötigt werden. Die Erfindung des Wasserrades und der Getreidemühle begrüßte ein griechischer Dichter zur Zeit Ciceros als eine Erfindung, welche die „Befreierin der Sklaven und die Schöpferin eines goldenen Zeitalters" sei 1 ). Nein, alle diese Werke sind Zweckwerke, sind ökonomischen Ursprungs. Daher kann von ihnen als Werken keine befreiende und vergeistigende Wirkung ausgehen. Keine technische Vervollkommnung wird Segen bringen und Freiheit bewirken, das können allein die i n n e r e H a l t u n g und die Ges i n n u n g der im Ärbeitsprozeß umschlossenen Menschen zueinander, und damit dann zur Arbeit, vollbringen. Verglichen mit dem Werk ist alles Reden und Redewerk zweiten und dritten Ranges. Den ersten beanspruchen das Tun und seine Stufen: die Taten und Werke. Damit wird etwas Grundlegendes für alle Formen und Äußerungen von Erziehung berührt. Diese Funktion der Wirklichkeit ist in keiner Weise urbedingt durch die Sprache; sie war da vor allen Worten und Eugen Diesel, Der Weg durch das Wirrsal. Das Erlebnis unserer Zeit, 1926, S. 86 f.

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wird sein, wenn kein redendes Wesen mehr lebt. Sprache und Verstand sollen ihre Diener sein und können dann auch Künder ihrer Macht werden. Damit hängt es zusammen, daß die stumme Sprache eines Werkes, einer Tat hundertmal deutlicher und bedeutender ist als alles, was darüber gesagt und geschrieben werden kann, — genau so wie das Leben gewaltiger ist als alles, was vom Lebendigen wissenschaftlich, künstlerisch durchforscht, beschrieben, nachgebildet wird, und es ist wichtiger, ein echtes Werk Dürers zu besitzen als alle Schriften über ihn. Wir stehen auch einem Werke stets anders gegenüber als seiner Beschreibung, und sei sie noch so geistvoll, oder dem rednerisch ausgeführten Plane. Verglichen mit der schönsten Theorie und der überzeugendsten Rede, ist die schlichte Tat eines Erziehers stets das überlegene. Selbst das Unvollkommene im erzieherischen Wirken wird von dem Leuchten überstrahlt, das immer dort vorhanden ist, wo eine Erziehungsgemeinschaft reciht tätig ist. Der gegenwärtige Kampf gegen den Verbalismus in der Schularbeit zugunsten des Tuns und des Lebens miteinander sind Zeugen dafür, daß es sich in der neuen Bewegung um eine geistige handelt; dasselbe ließe sich sagen von dem politischen Kampf gegen parlamentarische Rhetorik und gegen die Bedeutung des gesprochenen wie des geschriebenen Wortes im öffentlichen Leben überhaupt. Es war zu allen Zeiten ein Anzeichen des geistigen Verfalls in den Kulteren, wenn das Wort zu einer „führenden" Macht wurde, wenn Menschen Führer sein konnten auf Grund ihrer Rednerbegabung, heute verstärkt durch Schreibbegabung, Beherrschung der Presse, der Versammlungstechniken; wie denn auch der Verbalismus der Schulen Verfallerscheinung war. Das Wort vergiftet allzu leicht das Leben und seine Kraft. Wir sind auch jedesmal innerlich viel stärker empört, wenn sich ein Riß zwischen der schaffenden Persönlichkeit und ihren Werken auftut; wir hätten „etwas anderes erwartet". Und wenn wir versöhnlich verstehend reden, und etwa sagen, es sei nun einmal so bei einem Künstler, man müsse es ihm zugute halten, und dergleichen, so ist das im Letzten Grunde doch erzwungene Resignation des Urteils. Es dürfte jeden, der echte philosophische



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Interessen hat, einmal betrübt haben, hinter der Philosophie Schopenhauers diesen mürrischen, wohllebenden, in sehr vielem spießigen Junggesellen zu entdecken, hinter diesem oder jenem gefeierten Künstler oder Schriftsteller einen Lebemann, einen Geldmacher, einen zynischen, frivolen Spötter. In allen solchen Fällen wirkt die erste Feststellung wie etwas Brutales, Gemeines, wie eine Rohheit inmitten von Schönheit. Solche innere Gestimmtheit bezeugt uns unweigerlich, daß der Grund jedesmal derselbe ist: der Riß zwischen dem schaffenden Menschen und seinem Werk beleidigt den Sinn, der um seine Gestaltung rang. Ja, je feiner und reiner unser Gefühlsleben für solche Reaktionen abgestimmt ist, desto schärfer erfühlen wir noch im Geniewerk diesen Riß. Hier nun stehen wir der ewigen Tragik des Menschen gegenüber, dem es versagt ist, des Sinnes letzte Deutung in Wort und Tat zu finden. Die Werke des Menschen verraten noch eine andere Tragik. Sie alle sind der Natur, als einem Gegenstand und Stoff menschlicher Betätigung, abgerungen: Haus, Maschine, Deich, Buch, Denkmal, und wir nennen sie Erzeugnisse der Kultur. Äls solche haben sie nur eine geringe in ihnen selber ruhende geistige Wirkung, obwohl sie gern als Geisteserzeugnisse gerühmt werden, und mit Recht. So wird man in einer ländlichen oder städtischen Siedlung niemals den Einfluß der Natur und nimmer den Einfluß persönlicher Kräfte, welche dort wirksam sind und darum Gemeinschaften durchdringen und formen können, verkennen und damit deren erzieherische Bedeutung niemals ausgeschaltet denken können. Äber, ob man Bauernhäuser mit den besten Wiedergaben Rembrandtscher oder Dürerscher Kunst ausstattet, ob sich feudalste Besitzungen mit Originalwerken auserlesenster Kunst und den besten Büchereien füllen, es bleibt ein Zufall, ob dadurch eine erzieherische Wirkung auf die Menschen des Hauses ausgeht. Zumeist bleiben sie stumm; sie vergeistigen nicht, machen nicht frei. Finden wir menschliche Beziehungen zu diesen Werken, so werden sie in fast hundert Prozent aller Fälle durch Nebengründe erklärt. Die Besitzer lieben und schätzen etwas an ihnen, das mit dem Geisteserzeugnis als solchem nichts zu tun hat, — weil es ihnen von dem oder jenem



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geschenkt ward; weil das Motiv ein religiöses ist oder es in einem vagen Sinne des Begriffs schön ist; weil der Reichtum ein Sammeln gestattet, das Ansehen verschafft, oder es Mode ist und Aufsehen erregt, oder sonst ein Subjektives ist damit verbunden, außerhalb des Werkes als solchem, etwas, das hineinverlegt wird von dem Besitzer oder sogar noch in den Besitzer erst hineingelegt wurde als Folge von Massenanschauungen seiner Zeit, denen er sich angleicht. Damit kommt aber keine Kraft aus der Umgebung des Menschen, aus dem Buche, dem Bilde usw., wie sie unabwendbar aus der Natur und aus jedem persönlichen Tun strömt. Alles Überlegungen, die in der Neuen Erziehung zu einer neuen Einstellung dem Schulraume und seiner Ausstattung gegenüber geführt haben, noch bevor man an die tieferen Zusammenhänge dachte, rein aus dem instinktsicheren Handeln heraus, das vom neuen Geiste getrieben war. Es führt auf einen Irrweg, wenn man darauf verweist, es handle sich um die allgemein bekannte und psychologisch gesehen selbstverständliche Abstumpfung; auch die Naturumgebung stumpfe ab. Denn dieser Hinweis ist nur teilweise richtig. Doch kann diese Überlegung helfen, das Verhältnis, auf das wir abzielen, stärker zu unterstreichen. Setzt die abstumpfende Wirkung eines Kunst- oder Dichtwerkes ein, dann ist die Wirkung unweigerlich dahin; mindestens auf lange Zeit. Es stumpft auch die Naturumgebung oder der Verkehr im gleichbleibenden Menschenkreise mit stets ähnlichem Erleben ab, aber deren W i r k u n g auf die Menschen wie auf alles Organische des Ortes bleibt bestehen; sie kann auch festgestellt werden; nichts kann ihr entrinnen. Dem Jahresrhythmus dieser bestimmten Natur, in welcher einer gerade lebt, entzieht sich keiner, auch nicht den Menschen, mit denen er es zu tun hat (diese genommen im Sinne von Bevölkerung, unter der man lebt), wohl aber bleiben für Tausende und Abertausende ohne Bedeutung die Gemäldegalerien, die Bibliothek und sonstige „Bildungsstätten", seien sie auch noch so berühmt und reich ausgestattet. Deswegen wendet man sich auch mit Recht gegen die Überschätzung der „Ausstattung" von Schulräumen und Schulkorridoren, denn dadurch sind zwar eine ansehnliche Industrie und gut entwickelte



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Verlagsabteilungen ins Leben gerufen, aber kein dem nennenswert entsprechender Einfluß auf die Schüler. Welcher Unterschied zwischen dieser fertigen, hingesetzten, von Erwachsenen ausgedachten Ausstattung und der stets wechselnden Herrichtung des Raumes durch die Schüler selbst! Hier ein mit stetem Erleben und eigenem Schaffen verbundenes Wirken am Räume, am Schulhause, am Schulgarten; ein fließendes Tun, das die Sinne und den Geist wachhält, unermüdlich zum Nachsinnen und, was wichtiger ist, zum Voraussinnen anspannt! Und wieviel stärker sind die Einwirkungen der Natur zu spüren, wenn sich das Schulleben und die Schularbeit ihrem Rhythmus, der durch jedes Menschenkindes Blut geht, hingeben und einordnen und sich von ihm bewußt mitgestalten lassen! Nun ist der Mensch selber als Naturwesen auch ein „Werk", ein Werk der Natur, wie man sagt, und von ihm gilt dasselbe wie von der Natur überhaupt. Auch der Umgang mit ihm, das Zusammenleben mit ihm wirkt abstumpfend; und die Welt der Schul- und Erziehungsgemeinschaften kennt dies Problem, das ihr damit aufgegeben ist, zur Genüge. Allein die Wirkung, die vom Menschen ausgeht, hört niemals auf; ihr kann nichts entrinnen, das mit ihm zusammen sein muß. Ein Gemälde kann platt oder nur Leinewand werden, der Mensch oder die Natur nie etwas dergleichen. So eröffnen sich hier schon neue Anblicke und Ausblicke auf den Erzieher, insbesondere den Führer für Kinder- und Jugendlichengemeinschaften und auf die Bedeutung seiner „Haltung". Was hat es ηιι,η mit jenem „Abstumpfen" auf sich? W a s stumpft in Wahrheit ab, da die in Natur und Persönlichem unablässig strömenden Kräfte nicht verschwinden, mithin nicht unwirksam werden können? Unsere Sinne und unsere Gefühle schweigen; sie haben sich gewöhnt an die Reize, und desgleichen unser Verstand, soweit er die Sinnesempfindungen und Gefühlsregungen analysiert, beurteilt, erwägt und in Worten aussprechen und niederschreiben läßt. Während aber die Sinne und das Gefühlsleben schweigen, werden sie dennoch affiziert und dabei unmerklich gestaltet; die Verstandesseite jedoch verkümmert. Denn nicht mit seiner Verstandesseite, sondern i n



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s e i n e r Ä f f e k t i v i t ä t i s t der M e n s c h s t ä n d i g auf die W e l t , auf das Ganze der W i r k l i c h k e i t b e z o g e n , und so ist es doch nicht zufällig, daß M a r t i n H e i d e g g e r den Menschen, ontologisch, nicht psychologisch gesprochen, vor allem ein „gestimmtes Wesen" und die „Stimmung" die Grundschicht des Menschen nennt. Der Verstand aber muß immer erst besonders geweckt werden, „neu angeregt", wie es bezeichnend heißt, durch Anreize zum Nachdenken, zu erneutem überprüfen. Man muß etwa erst lernen, die Renaissance, die Dichtung, eine Landschaft, und ebenso sich selbst „anders zu sehen" und zu beurteilen. Daß es aber gerade die Verstandesseite ist, welche abstumpft, immer wieder einschläft, das erklärt uns erneut und deutlicher, warum die Geisteserzeugnisse der Menschen fortgesetzt drohen, sich uns zu entwinden. Einmal sind sie dem natürlichen Tode verfallen, den Motten und dem Rost. Und da sie nicht unter uns stehen wie Natur und Mitmensch, sondern als ein Mittleres zwischen beiden, so müssen sie immer von neuem verständlich gemacht werden. Wird aber solches Verständlichmachen übertrieben, zu oft wiederholt oder dürftig, matt, so wird das Werk uns verekelt und kaum je wieder für uns genießbar werden. Verstand und Rede können wir Menschen nicht entbehren und wollen wir auch nicht entbehren, da sie zu den großen Mitteln der B i l d u n g gehören, unsere Geistigkeit zu erkennen und darzustellen. Aber wir stehen schon hier vor einer der wichtigsten Grunderkenntnisse, die uns mahnt, beide mit weiser Vorsicht in die planvolle und bewußt erziehenden Kreise einzureihen, sie in den Schranken von Dienerinnen zu halten, als Mittel der Bildung, und nur in Nebenwirkungen als Mittel der Erziehung. Diese ist eine Wirklichkeitsfunktion; im Natürlichen ist die Form ihre Weise, zu erscheinen; bezogen auf den Menschen ist ihr Ziel die Vergeistigung des Menschen, seine Humanisierung als die Vollendung, die vollkommene Rundung und Durchdringung der menschlichen Form. Um die Klärung dieser Sätze geht es in allen folgenden Paragraphen. 3. Diese Einleitung erfordert noch eine abschließende Betrachtung. Wie wir dort von Sprachwissenschaft reden, wo die Erscheinungen der Sprache erforscht werden sollen, so von Er-



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Ziehungswissenschaft dort, wo ein allseitiges Verständnis der „Erziehung" angestrebt wird. Es gilt, sich voll und ganz in die Probleme zu vertiefen, welche im Zusammenhang „Erziehung" gegeben sind o d e r , und damit berühren wir das Wichtigere, überhaupt erst bei einer solchen vertiefenden Betrachtung auftauchen. Än ihr ist uns bereits eine Eigentümlichkeit der Erziehungswissenschaft herausgetreten. Als Wissenschaft umgrenzt sie ihre Äufgabe allgemein wie jede andere. Äuch darin unterscheidet sie sich nicht grundsätzlich von anderen Wissenschaften, da" sie über lange Strecken hin sich des besonderen „philosophischen Denkens" bedient, vor allem nicht als allgemeine Erziehungswissenschaft. Dieses aber hebt sie einstweilen wenigstens immer noch schärfer von anderen Wissenschaften, wie sie überlieferungsmäßig unter uns betrieben werden, ab, daß sie weder als allgemeine noch als angewandte Erziehungswissenschaft erfolgreich anheben kann, erfolgreich auch nur die schlichteste pädagogische Praxis durchleuchten und sie in das große Ganze ihrer Betrachtungsweise einordnen kann, o h n e sich z u e r s t mit d e r B e z i e h u n g a l l e r E r z i e h u n g zum S i n n d e s S e i n s und d e s G e s c h e h e n s a u s e i n a n d e r z u s e t z e n . Sie hebt demnach mit einer Erziehungsmetaphysik an im Sinne jener Metaphysik, welche über die Wissenschaft führt. Wohl kann diejenige Metaphysik, welche wir als sinnsuchende und sinnbestimmende Disziplin anerkennen, niemals durch die Wissenschaften vollendet werden, aber sie muß sich ihrer als ständiger kritischer Begleiterinnen im Entwurf ihrer Gedanken bedienen, soweit Wissenschaft metaphysisches Denken begleiten kann. In diesem Punkte stehen wir zur Forderung K a n t s in seiner „Architektonik der reinen Vernunft", und zu W i l h e l m W u n d t , der diese kantische Forderung zuerst systematisch durchgeführt hat 1 ). Das Eigentümliche der Erziehungswissenschaft ist es demnach, daß sie als Wissenschaft mit einer Sinndeutung ihres großen Gegenstandes anhebt. Wäre es da nicht doch richtiger von einer Erziehungsphilosophie zu reden? Unleugbar strebt schon !) S. meine Schrift „Wilhelm Wundt und seine Zeit" 1925, S. 282 ff.



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eine Pädagogik danach, ebenso wie die Philosophie, die Totalität des Wirklichen zu umfangen, und darauf beruht das Recht wie die Möglichkeit einer philosophischen Pädagogik. Denker, die an ihr festhalten, sehen die Seinsdeutung oder die Formen der Begreiflichkeit der Erziehungswirklichkeit durch dasjenige System gegeben, von dem sie ihr System der Erziehung ausgehen lassen, etwa durch Η e r b a r t , eine Richtung des Kantianismus, Eucken. Erziehungswissenschaft hat ferner mit aller Wissenschaft dies gemeinsam, daß sie unmöglich ohne Weltanschauungsgrundlage entworfen werden kann; aber wiederum, Weltanschauung ist nicht schlechthin Gegenstand der Philosophie 1 ). Die Erörterungen über das Problem Wissenschaft und Weltanschauung, die unsere Zeit so stark bewegen, gehören in jene immer stärker andrängende Strömung, welche zu einer „Äuferweckung der Metaphysik" geführt hat. Wie Biologie auf .uns gekommen ist, kann ich sie studieren und betreiben, ohne mich um den Sinn des Lebens zu kümmern; keine Biologie muß danach mit einer Sinndeutung des Lebens beginnen, und Th. E h r e n b e r g s „Theoretische Biologie" (1923) bildet eine Ausnahme oder richtiger den Beginn einer neuen Betrachtungsweise. Ebenso kann ich Physiologie, Anthropologie, Psychologie treiben, ohne mich verpflichtet zu fühlen, nicht zu ruhen, bis ich zuersj einmal den Sinn der φύσις, den Sinn des Menschen, den Sinn von Seele erfaßt habe. Mindestens wird noch so gearbeitet. Es war allerdings keineswegs immer so, sondern diese Art und Weise, ihren Gegenstand zu behandeln, ist das Eigentümliche der Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, seit der damals sog. „neuen Zeit", geworden, seitdem Mathematik und die naturwissenschaftliche Methode die beherrschenden Vorbilder für l ) Vgl. M a x Ettlinger, Die philosophischen Zusammenhänge in der Pädagogik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, 1925, S. 30ff., und: M. Eggersdorfer, in der „Viertelsjahrschrift für wissenschaftliche Pädagogik", 1925, S. 325—335; fl. Messer, Weltanschauung und E r ziehung, 1921; meine Schrift: Philosophie in erziehungswiss. Beleuchtung, 1929; Eduard Sprangers Äkademierede über den „Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Wissenschaften", 1929.



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Wissenschaft Oberhaupt geworden sind. Daß diese Richtung zu Verirrungen und Einseitigkeiten der wissenschaftlichen Forschung geführt hat, ist oft und früh nachgewiesen worden. So zeigte W. W u n d t , daß E r n s t H a e c k e l , W i l h e l m O s t w a l d und E r n s t Mach vor geradezu unwissenschaftlichen Hypothesen und Entgleisungen bewahrt geblieben wären, wenn sie sich um wissenschaftliche Metaphysik bemüht hätten, ζ. B. gehört bei systematisch ordnender Betrachtung Ernst Haeckel in die Gegend der jüngeren Jonischen Physiker, und er entwarf eine „primitive poetisch-mythologische Metaphysik", die sich deswegen auch vorzüglich zur Volksreligion geeignet hat. Und L u d w i g K l a g e s wies nach, wie die psychoanalytische Wissenschaft zu ihren „Orgien des Sexualismus" nicht nur deswegen gekommen ist, weil sie sich von dem Verwendungsspielraum des Namens „Liebe" hat täuschen lassen, sondern vor allem, weil sie es unterlassen habe, „sich zu verständigen mit der Metaphysik, will sagen der Wesensforschung" 1 ). Der Erziehungswissenschaftler kann nicht so vorgehen, was nicht heißen soll, daß es nicht getan ward und noch geschieht. Aber es entstehen alsdann verkürzte Systeme: philosophische, psychologische, soziologische, biologische, und das vom positivistischen Begriff der Wissenschaft beherrrschte Zeitalter hat auch eine sich vorzüglich „wissenschaftliche" nennende Pädagogik gesehen. Sobald jene mit der Forderung auftreten, ein System darzustellen, wird der Kundige alsbald herausfinden, daß auf dem Grunde doch eine Seinsdeutung vorhanden ist, daß diese nur nicht derart zum Bewußtsein gebracht ist, daß sie die Deutungen und Forderungen bestimmte, was doch nötig wäre, weil die letzten Begründungen nur vom Grunde aus gegeben werden können. Mag nun dieser Teil nicht herausgearbeitet sein oder ganz im Hintergrunde verharren, in Einem sind alle einig, auch ohne es ausdrücklich zu bekennen: Alle unsere menschlichen Versuche, von uns aus zu erziehen, seien hinfällig und nichtig, wenn dem Gesamtgeschehen, in dem wir stehen und an dessen Gestaltung wir teilnehmen, das wir Wilhelm Wundt, Reden und Aufsätze, S. 96ff.; L. Klages, Vom kosmogonischen Eros, 1922, S. 17.



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sogar zu beeinflussen suchen, kein Sinn einwohnte. Wenn uns von irgendeiner Philosophie oder einer Wissenschaft oder auf einem anderen Wege nachgewiesen werden kann, daß dieses Geschehen, in dem wir stehen, leben und sind, sinnlos ist, dann ist damit alle Pädagogik, alles planvolle Erziehen als ein Unsinn erklärt; sie sind Narretei wissender oder unwissender enthusiasmierter Betrogener. Kein Pädagoge Europas hat es bislang unternommen, ein System und eine Praxis auf der Lehre von der Sinnlosigkeit der Welt und des Menschenlebens in ihr aufzubauen 1 ). Schon diese Tatsache redet eine ganz gewaltige Sprache und zwingt jeden ernsten Erzieher zum Nachdenken darüber, womit sie zusammenhängt, worin denn diese grundlegende Tatsache ihrerseits wieder gründet. Wiederum genügt es vorerst, erneut darauf zu verweisen, daß eine Wissenschaft uns nie bis an diese letzten Gründe hinzuführen vermag, daß wir 2s in den Anfängen unsrer Erziehungswissenschaft mit einer met physischen Betrachtung zu tun haben, daß hier die m e t a p h y s i s c h e S t r e i t f r a g e (Äporie) der E r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t e n t s p r i n g t , deren Behandlung und Beantwortung die erste und vordringlichste Aufgabe der allgemeinen Erziehungswissenschaft dieses Umgangs bedeutet. Der tiefste Grund für die heutige Erschütterung aller Erziehungsmaßnahmen unter den christlichen Völkern liegt gerade darin, daß sie sich von der Frage nach dem letzten Sinn allzu weit entfernt haben. Was sie als Sinn der Erziehung — weniger aufgestellt denn als Epigonen so gelassen haben, das ist in ihren Sprachen abgeschliffen, ist klanglos und kraftlos geworden, etwa „Charakterstärke der Sittlichkeit", „sittlich-religiöse Charaktere", den „besten Staatsbürger". Ärger noch: zwischen diese großen zielgebenden Worte und die kleine alltägliche Erziehungspraxis sind die Vorschrift, die Verordnung, der Aufsichtsbeamte, die Gehaltsstufenleiter, die Titulatur, der rohe bürgerliche Nutzen und Profit der Erziehungsarbeit getreten, und diese Fälschungen und Ersatzstoffe haben die Stelle des Sinnes be1

) Vgl. über die Ansätze vom Pessimismus aus m. Schrift: Die Philosophie in erziehungswissenschaftlicher Beleuchtung, S. 25—29. Ρ e t e r s e η , Erziehungswissenschaft.

II.

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setzt, und so wird in der Tat die Masse der taglichen Arbeit getan, losgelöst vom Sinn aller Erziehung. Das macht die Überlegenheit aller Versuche „Neuer Erziehung", neuer Schulgesinnung, begreiflich; denn sie warfen und werfen unermüdlich die Frage nach dem Sinn radikal auf und wollen fortan alles, was sie treiben, daran messen, erproben .und Altes neu überprüfen. Sie sind selbst dort der alten Schule überlegen, wo sie, im organisatorischen Sinne gesehen, scheitern mußten, weil sie jede kleinste Tätigkeit sinnvoll gestalten wollten und in diesem Ringen zwischen Sinngestaltung und Lebensnot von dieser zugedeckt wurden. Aber inmitten dieses Kampfes trat der Zwang zur Besinnung auf den Gehalt des erzieherischen Tuns verstärkt hervor, und wo die Vernichtung gelang, wo sich eine der alten behördlichen oder politischen Gewalten siegreich über den neuen Versuch legte, dort wollte diese doch auch ihre Erziehungsanschauung zur Geltung bringen, und sie offenbarte sich nur noch deutlicher dadurch als niaht im Einklang mit der Zeitlage. Es erhebt sich hier aber eine neue und ernsteste Frage: wandelt sich denn der Sinn der Erziehung? ist er nicht „ewig derselbe" genannt worden? Ja, allerdings ist er das, und zwar „Vergeistigung". So muß anerkannt werden, daß alle, sobald sie gezwungen werden, sich auf den letzten Sinngehalt zurückzuziehen, dasselbe wollen. Wir verstehen daher auch die Schärfe des Kampfes, die Absolutheit der Standpunkte, den Fanatismus, weil eben alle auf demselben Grunde stehen, weil alle es wissen oder fühlen, es geht zu einem Kampfe um die letzten Forderungen oder, wie so oft gern gesagt wird, um heiligste Güter. Das gilt für Herbartianismus, Kommunismus, Marxismus, Nationalismus, Katholizismus usw. gleichermaßen. Alle kämpfen um ihr Bekenntnis, ihre „Konfession", sie wollen allesamt „Konfessionalisierung" der Schulen und aller Bildungsstätten, sobald sie sich auf i h r e dogmatische Auslegung des Sinnes der Erziehung zurückziehen1). Es ist in unserem Jahrzehnt bitter nötig, Wie das von den Bestrebungen des „Bundes freier Schulgesellschaften" gilt, zeigt ein so bedeutender Anhänger der weltlichen Schule



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dafür die Augen zu öffnen. Der Widerstand, ja der Haß gegeneinander, beruht darauf, daß sich zwischen Sinn und Sinndarstellung etwas eingeschoben hat, ein rein Rationales, ein technisches Moment, das nicht an sich erzieherisch ist, sondern ein Hilfsmittel, ein Gerät. Der Herbartianismus erstrebt ohne Zweifel Vergeistigung und setzt Freiheit ein in seinen Betrachtungen über die Moralität im erweiterten Sinne. Aber eine erste bedeutsame Schranke entsteht ihm in der Summenlehre: daß es möglich sei, das beste Geistige, das Wertvollste der geistigen Kultur seit den Anfängen, mindestens seit den Tagen Homers, gleichsam als Extrakt für Zwecke der Belehrung und Bewirkung eines moralischen Charakters zu gewinnen; andere Schranken liegen in der auf Mathematik begründeten Assoziationspsychologie, in der Lehre von der Entwicklung des Kindes, von der Menschheit, vom Staate. — Der Marxismus geht aus von der Annahme fortschreitender Vernünftigkeit, ursprünglich im Hegeischen Sinne, dann aber mehr und mehr popularisiert und aufklärerisch abgeschwächt. Die erstarrenden Momente finden sich u. a. im historischen Materialismus, in der politischen Methode, etwa in Form des Klassenkampfes, in deren Dienst auch die Jugend und die Schule genommen werden müssen. — Kommunismus in seiner idealen Auffassung will die Freiheit des geistigen Menschen in Frieden und Schönheit ohne Ausbeutung durch andere, bindet sich aber zu ausschließlich an bestimmte wirtschaftliche Formen und gesellschaftliche, vorweg genommene Zustände, sodaß nun weniger Gesinnung als die äußere Lebensgestaltung der Gesellschaft durch Wirtschaft und Staat betont wird. — Der Katholizismus blickt auf den Christenmenschen als Bürger des Gottesreiches, also auf die Spiritualisierung des Menschen, überbetont nun aber äußere Veranstaltungen seiner organisierten Weltlichkeit in der Lehre von der Kirche, vom Papste, verfällt unchristlicher Intoleranz und Bekehrungssucht, verwendet politische Mittel im Glaubensstreit und verkehrt damit vollends Jesu Lehre. wie W i l h e l m S a n d e r in seinem Aufsätze „Konfessionalisierung der weltlichen Schule" in der „Preußischen Lehrerzeitung", 18. 3. 1930. 2*



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— Der Nationalismus kämpft für Freiheit zur kulturellen Entfaltung eines Volkes, um reine Darstellung seines Wesens, seines Geistes, verkauft sich aber an Machtpolitik und ihre Unduldsamkeit, etwa gegen politisch anders denkende Volksgenossen oder gegen nationale Minderheiten, die einem Trieb zur Expansion, wie er sie auffaßt, nämlich territorial, militaristisch und kapitalistisch, entgegenstehen könnten, und so schleichen sich egoistische wirtschaftliche Interessen ein. Wer nur auf das in Reinheit vorgetragene I d e a l hört, muß überall eine geistige, verehrungswerte Ansicht vom Geschehen, in das man eintreten will und dem man dienen will, feststellen. In Ansehung des Geistigen selbst und an sich gibt es auch nichts Veraltetes, überhaupt nicht alt und neu, und so kann bei einer Besinnung auf dieses letzte Geistige mit Recht gesagt werden: dies oder das hat schon der oder jener gesagt oder getan oder gewollt. Das, was sich wandelt und damit auch veraltet, ist mithin nie das Ideale als solches, sondern die Wandlungen vollziehen sich an folgenden drei Faktoren, die alle der menschlichen Arbeit am Ideale dienen, die also menschliche Versuche sind, dem Geistigen eine „Fassung" zu geben, — ähnlich wie Gold immer Gold bleibt, aber die menschliche Geschicklichkeit, Goldenem andere, neue und, wie wohl auch gesagt wird, schönere, geschmackvollere Fassungen zu geben, sind wandelbar. Jene drei Faktoren in der menschlichen Arbeit am Geistigen, an den Idealen, wie in diesem Zusammenhange auch gesagt werden kann, sind die Motivation, der sprachliche Ausdruck und drittens die Verwirklichung, die Gestalt, die Konkretisierung. Dabei ist es unmöglich zu sagen, was bei einer Wandlung, einer Metamorphose, zuerst als ungenügend, als nicht mehr befriedigend erlebt wird. Aber erst wenn alle drei Faktoren von einer Zeit neu bearbeitet sind, also die überlieferte Arbeit innerlich völlig überwunden wurde, ist die Wandlung vollkommen, und das „Neue" steigt auf und „siegt". So kann dieses Neue auch eine Renaissance sein; dann wird ein älteres, uns überliefertes Kulturgut neu angeschaut, das in ihm aufgespeicherte geistige Leben neu erschlossen, d. h. aber in Wahrheit: eine Zeit legt ihre eigenen Sehnsuchten um jenes Alte, —



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wie ζ. Β. in der Gegenwart von manchen im Friderikuskult geschieht, — weil sie in der Gegenwart selber nichts vorfindet, das ihre Sehnsuchf stofflich ausfüllen könnte. Stets sind es jedoch metaphysische Gründe, aus denen Neues, d. h. die neue Arbeit am Idealen, aufsteigt; denn die Ideale gehören selber zum Grunde, und wir können nur durch sie, d. h. durch ein Leben und Schaffen, das sie richten, in Einheit mit dem Ganzen und daher auch in Einheit mit uns selber, in Harmonie leben und schaffen. — Die Bindungen, denen alle Arbeit am Geistigen unterliegt, sind auf große Strecken hin derart, daß sie niemand meiden kann, und auch uns wird es nicht möglich sein, im freien Luftraum ein Sonnensystem der Erziehung zu entwerfen. Allein eins können wir: wissend um diese Bindungen uns zunächst in den Sinn der Wirklichkeit und damit der Erziehungswirklichkeit vertiefen, und nun, nutzend den Vorteil aller Wissenschaft, uns vorsichtig ins Land der Tatsachen erheben, die es zu fundieren gilt. So wie wir hier Sinn oder Wesen der Erziehung auffassen, sind Sinn oder Wesen und Ziel ein und dasselbe. Haben wir den letzten Sinn des Geschehens, so haben wir damit das Wesen der Erziehung und zugleich das Ziel. Ziel ist demnach hier nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß wir Wesen sich in der Zeit darstellen sehen, „für uns". Ziel ist demnach nur eine besondere Art der Betrachtung des Wesens. Und dasjenige Ziel, das in dieser Weise mit dem Wesen zusammenfällt und nichts weiter als eine andere Weise ist, das Wesen auszudrücken und aufzufassen, ist unter verschiedenen Zielen allemal das höchste. In der pädagogischen Praxis sind daher alle Ziele, welche dem Leben in den Reichen der Lebensnot dienen, obwohl diese wichtig und praktisch auch unumgänglich sind, dennoch stets dem Wesensziel untergeordnet. Diese Unterordnung, die von Pädagogen und Erziehern aller Zeiten, die über ihr Tun nachgedacht haben, als selbstverständlich gefordert wird —, also wiederum eine Tatsache erster Ordnung, die es grundsätzlich zu überdenken gilt —, auch sie kann nur in metaphysischer Betrachtung eine Erklärung finden. Und so „existiert" für uns die Erziehungswissenschaft aus der Metaphysik in dem-



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selben Umfange, wie es M a r t i n H e i d e g g e r von aller Wissenschaft fordert, da sie nur dann vermag, „ihre wesenhafte Aufgabe stets neu zu gewinnen, die nicht in Ansammeln und Ordnen von Kenntnissen besteht, sondern in der immer neu vollzogenen Erschließung des ganzen R a u m e s der W a h r h e i t von Natur und Geschichte" 1 ). !) Was ist Metaphysik?, 1929, S. 27.

I. Die metaphysische Streitfrage der Erziehungswissenschaft. Πάντες γαρ συμφωνουσιν οί σοφοί, εαυτους όντως σεμνυνοντες, ώς νους εστι βασιλεύς ήμιν ουρανού τε και γης. Platoo, Phil. 38 C.

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§ · Die Erziehungswirklichkeit. Im Arbeitsbereiche der Wissenschaften wird von der Wirklichkeit geredet als von dem, das es zu bearbeiten, zu reinigen, zu ordnen gelte, oder wie sonst die Ausdrücke lauten mögen. Diese zu bearbeitende Wirklichkeit wird in ihrem Gegebensein vor der wissenschaftlichen Durchprüfung etwa gleichgesetzt der „ursprünglichen Wahrnehmungs- und Erlebenswelt" oder dem naiven, unkritischen, mehr hingenommenen als selbsttätig und reflektierend entworfenen Weltbilde; es ist der Bereich der „vorwissenschaftlichen Erfahrung" verglichen mit dem der „begründeten" Erfahrung, der Bereich des „unmittelbaren Wissens" im Sinne der Hegeischen Phänomenologie. Das Ziel aller Wissenschaft aber ist und bleibt es nun, Wahrheit festzustellen, Wahrheit gegenüber dem Schein. Was ist innerhalb jener vorgegebenen Wirklichkeit wahr, was ist nur Schein, oder was ist in dem, das zunächst als subjektiv wahr hingenommen wird, objektiv wahr. Und so unternimmt es die Wissenschaft, die Wirklichkeit, zu reinigen. Wovon? Ganz besonders von allen subjektiven Inhalten, um d a s Objektive herauszustellen. Deswegen ist Objektivität auch als H a l t u n g die oberste Pflicht des Wissenschaftlers. Selbst wenn er sich einer Untersuchung des Subjektiven hingibt, soweit dieses selber Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, nämlich der Psychologie, werden kann, sollen sein Verhalten und seine Haltung nichts anders sein als die des objektiven, nüchternen, sachlichen Forschers, Beobachters und Deuters. So hat W i l h e l m W u n d t klar zusammenfassend als Aufgabe aller wissenschaftlichen Erkenntnis bestimmen können: ob-



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jektive Realität zu erhalten, wo sie vorhanden sei, sie zu gewinnen, wo sie nicht gesichert sei. Was sich nun als Ergebnis der wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit darstellt, das ist, alles zusammengenommen, das wissenschaftliche Gegenbild jener „ursprünglichen", vorgegebenen Welt. Wir wollen diese Arbeit mit O. Külpe „Realisierung" nennen; Wissenschaft wirkt „Realität", indem sie die erscheinenden Gegenstände, Dinge, Vorgänge realisiert. Das deutsche Wort „Wirklichkeit" soll, im Einvernehmen mit dem philosophischen Sprachgebrauche, vorbehalten bleiben als Äusdruck für die Gesamtheit des Seienden, die Totalität des Weltinhalts, des Weltgeschehens und Seins. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit auch das Äbsolute. Wirklichkeiten sind für uns Ausschnitte aus dem Absoluten oder Seiten, Formen des Absoluten, der Wirklichkeit, wie sie von uns erlebt, begriffen, wissenschaftlich alsdann bearbeitet, realisiert, aber auch gelebt, bewertet und im praktischen Handeln beherrscht, gestaltet werden können. Fragen wir im folgenden nach dem Sinn der Wirklichkeit, so stellen wir auch die Frage nach dem Urgründe alles Seienden, weil das Da- und So-Seiende in der Wirklichkeit gründen muß. Zu dieser Fragestellung wird der Erziehungswissenschaftler, wie bereits aufgezeigt, zu Beginn seiner Untersuchungen genötigt. Sowohl der praktische Erzieher wie der Theoretiker der Erziehung heben mit einer Position an: „Die Wirklichkeit hat einen Sinn". Vom „Sinn" aber reden wir hier in jener Bedeutung, wie sie ihm etwa die Biologie gibt, oder als von etwas, das dem „Bauplan" in der Morphologie entspricht. Es ist dort das, was in einem individuellen Ganzen verwirklicht wird und dessen Wesen offenbart, zu dem hin daher alles Triebhafte sich richtet. Deswegen ist auch der Sinn einer solchen Totalität ihr eigentlicher und konkreter Kern und dasjenige, was den Teilen wiederum erst Sinn gibt, zugleich das, was immer nur Eins ist in jeder Ganzheit und dieser die geistige Kraft gibt, sich zu behaupten als Ganzheit in Einheit1). Und was diese Urtatsache, dieser „Ur!) Vgl. unten S. 77.



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stand" bedeutet, muß durch die Beantwortung der metaphysischen Streitfrage der Erziehungswissenschaft geklärt werden. Aber liegt es nicht vielleicht so: wenn die Wissenschaften in ihrer Gesamtheit einmal alles Erscheinende realisiert haben, so haben sie zugleich das Absolute, die Wirklichkeit an sich, realisiert? Das hieße, sie hätten die Wirklichkeit wissenschaftlich begreiflich, beweisbar, und damit nun auch — lehrbar gemacht. Das Endergebnis aller Realisierung wäre die wissenschaftliche, verstandesmäßige Erschließung und Begreiflichkeit der Wirklichkeit. Durch methodische, kategoriale Welte r k l ä r u n g wäre das Weltganze auf seinen B e g r i f f gebracht. Unsere Kenntnis der wissenschaftlichen Arbeit, ihrer Methoden und eines ausreichenden Teiles ihrer bisherigen „Ergebnisse" rechtfertigt ein Nein. Und das besonders nach zwei Richtungen : keine Wissenschaft kann ohne Vermutungen, Hypothesen, auskommen, — und noch nie ist eine Wissenschaft auf dem Wege der reinen Erklärung ans Ende gekommen, darin genau so beschränkt wie jede philosophische, religiöse, wissenschaftliche Weltanschauung. Es gibt außer dem Verstände eine Anzahl anderer im Menschen wirksamen Mächte und Kräfte: Triebe, Gefühle, Neigungen usw., deren Äußerungen immer wieder die Kunstgebäude des Verstandes verwirrt oder durchkreuzt haben, — wie es der systemstarre und Gedanken schichtende Wissenschaftler empfinden muß, wenn er daran festhält, von der Wissenschaft aus Leben und Wirklichkeit endgültig einmal meistern zu können, und wie es im Wissenschaftsbegriff des Rationalismus wie des Positivismus enthalten ist. Ein anderer möchte lieber sagen: es wird aus der Äffektivität des Menschen in die kühlen, nüchternen Bauten des Verstandes Licht, Wärme, ein gewagt-kühnes, verwegenes oder ein abmilderndes, versöhnendes, rundendes oder ein sprengendes, gewalttätiges, zerreißendes Element, immer aber Leben und Bewegung eingefügt; denn durch seine Äffektivität reicht der Mensch unmittelbar an den Grund der Welt und enthüllt sie sich ihm stets von neuem als. Ganzes wie in Teilen. Es ist eine Tatsache, wie es nur eine andere wissenschaftlich so genannte sein kann, daß der Grund und der Sinn der Wirk-



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lichkeit nie kausal zu erfassen sind. Sie decken sich mit keiner Logik; sie liegen jenseits aller Syllogistik. Aber damit sind wir mitnichten der Aufgabe überhoben, uns Rechenschaft darüber zu geben, was jene Aussage bedeutet: die Wirklichkeit hat einen Sinn. Damit ist nicht gemeiiit, was die Wissenschaft meint, wenn sie etwa sagt, das Atom, die Entwicklungstheorie habe diesen oder jenen Sinn. Sinn-haben ist hier nicht = bedeuten, meinen, sondern dieses: die Wirklichkeit ist so oder so, enthält oder entläßt dies.oder das. — Wer mir jenen Satz bestreitet, dem stehe ich mit einem mich ganz erfüllenden Staunen gegenüber wie vor einem Abgrunde, über den ich nicht hinüber kann, mit der Empfindung, dem Nichts gegenüberzustehen. Es ist darum so, daß ich den Redenden nicht verstehe, weil ich den Satz nicht verstehen kann — von seinem grammatischen Aufbau abgesehen —: „die Wirklichkeit ist sinnlos, hat keinen Sinn". Ich mag versuchen, mir einzelhafte Vorgänge als „blindes Geschehen" verständlich zu machen, aber auch dann bleibt in mir das Gefühl zurück, ich habe mit „blind" doch nur bezeichnet, was ich nicht verstehen kann, und weiteres Nachforschen in mir selber führt zu dem Eingeständnis, daß ich „im Grunde" nicht an blindes und somit sinnloses Geschehen glaube. Was so bei ernsthafter Selbstprüfung und bei allseitigem Nachdenken über Einzelvorgänge nicht genügt, das versagt vollends dem Ganzen gegenüber, wollte ich es als „ohne Sinn" auffassen. Ich kann nicht anders, als ihm Sinn beilegen, es als Kosmos ansprechen. Es handelt sich um eine letzte und einfachste synthetische Wahrheit, der nach Lotze 1 ) „ästhetische Evidenz" zukommt, d. h. ihr Prüfstein ist die „evidente Absurdität ihres kontradiktorischen Gegenteils". Damit wird die Frage nach dem Sinn der Wirklichkeit gleichbedeutend mit dieser: Was muß ich von der Wirklichkeit aussagen? Es wird die Aussage ein evidentes Urteil enthalten. Es handelt sich um ein Muß eigentümlicher Art, und in die Eigentümlichkeit dieses Muß, dieser Evidenz müssen wir uns tiefer und gründlicher hineindenken, um genau zu wissen, was es denn für ein Boden ist, auf dem wir stehen und bauen. !) Logik, § 364.



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1. E v i d e n z ist ein Grundbegriff der Logik. Es gibt „logische Evidenz". Damit wird ausgesagt, daß einem Urteil, als dem E r g e b n i s eines Denkaktes, der Charakter i n n e r e r N o t w e n d i g k e i t beizulegen sei; es ist nun einmal so: A = A. Die Richtigkeit des Satzes leuchtet sofort oder von selbst ein, sobald ich ihn d e n k e n d ausspreche. Die V e r k n ü p f u n g der Begriffe im evidenten Urteil, die Art, wie sie zueinander in Beziehung gesetzt sind, das erweckt in dem denkenden Menschen — mit dem Worte selbst und deutsch gesprochen — eine A n s c h a u l i c h keit der Art, daß jene Verknüpfung, jene Art des in Beziehungstehens gar nicht a n d e r s sein kann. Diese Beziehung „leuchtet uns ein"; es geht von ihr ein Leuchten aus, dem wir innerlich zustimmen. Die Arten evidenter Urteile zu behandeln ist Äufgal>e der Logik. Uns aber interessiert es, zu erfahren, was es denn sei, das solches evidente Urteil begründet, wenn es der Verstand allein nicht kann. S i g w a r t nimmt in diesem Zusammenhange ein rein empirisches Merkmal in seine Logik hinein und sagt, ein evidentes Urteil werde von einem G e f ü h l e begleitet, das in uns das V e r t r a u e n in die Notwendigkeit dieses Denkprozesses weckt. Der Denkakt bedarf gewissermaßen in solchem Falle noch eines besonderen Vertrauensvotums, das ihm von der Gefühlsseite her erteilt wird. W i l h e l m W u n d t findet darin wohl eine richtige psychologische Beobachtung, allein er schreckt davor zurück, bei dieser Begründung stehen zu bleiben, weil dann das Fundament aller Erkenntnis einem trügerischen Gefühle anvertraut wäre. Denn logische Evidenz ist schlechthin das F u n d a ment aller E r k e n n t n i s , insofern das logische Denken als solches den Charakter innerer Notwendigkeit an sich trägt, vermöge deren wir seinen Verbindungen G e w i ß h e i t zuschreiben, sofern sie eben „logisch", d.h. den logischen Axiomen, Gesetzen usw. gemäß vollzogen sind. Welcher Weg zur Erklärung wird aber nun von W. W u n d t beschritten? In den abstrakten Eigenschaften des Denkens kann die Begründung nicht liegen, ebensowenig in den empirischen Gegenständen, welche den Inhalt dieses Denkens ausmachen, also kann diese Evidenz nur entstehen durch die Wechselbeziehung des vergleichenden Denkens und der in



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äußerer oder innerer Wahrnehmung gegebenen Erfahrungsinhalte. Der besondere Charakter, den das Ergebnis dieser Wechselbeziehung trägt, ist nun dem „Begriffsgefühl" verwandt. Darunter versteht die Psychologie ζ. B. den Vorgang, der uns dazu geführt hat, in der Begriffsbildung „Dreieck" die Ecke hervorzuheben anstatt der Seite, um dann etwa „Dreiseit" zu sagen. Die vergleichende Sprachpsychologie belehrt darüber, daß die verschiedenen Völker, selbst Menschengruppen desselben Volkes, bei der Begriffsbildung ganz Verschiedenes an einem Gegenstande herausgehoben haben (vgl. Blitz — eclair). Die bei solcher Begriffsbildung aufgewandte apperzeptive Tätigkeit muß jedesmal mit einem Gefühl besonders eng verbunden gewesen sein, daß die Menschen dazu bestimmte, gerade diese und nicht andere Merkmale hervorzuheben, und dieses Gefühl nennt W-. Wundt Begriffsgefühl. Offenbar sind wir dann aber mindestens in die Nähe derselben Quelle des Evidenzbewußtseins gelangt wie bei Sigwart. Mit Recht ist daher behauptet worden 1 ), „daß die Evidenz des Logischen, sogar die Evidenz der logischen Äxiome, die die ganze Logik tragen, keine unmittelbare, sondern eine abgeleitete Evidenz ist". Jede Logik betrachtet den Satz der Identität Ä = Ä als Grundlage aller Logik und schreibt ihm höchste logische Evidenz zu. Nichts scheint evidenter-einleuchtender-anschaulicher als dieser Satz, wonach ein Gegenstand in seiner totalen Bestimmtheit derselbe bleibt, ob und wie ich ihn denke. „Die Logik kann aber über die Gegenstände als solche nichts aussagen. Sie kann bloß über das Denken der Gegenstände Bestimmungen machen. M. a. W. der Satz der Identität, der auf Identität der Gegenstände überhaupt hinzielt, hat als logisches Axiom einen viel beschränkteren Sinn. Er kann bloß folgendes bedeuten: Die Gegenstände, über die man denkt, müssen als mit sich identisch g e d a c h t werden; d. h. wenn auf einen Gegenstand im Denken Bezug genommen wird, muß angenommen werden, daß er dadurch in keiner Weise beeinflußt wird." Denn wo das der Fall wäre, da verändert ja das Denken den Gegenstand und dadurch „würde die erkenntnisVgl. Ä. Ä. Grünbaum, Herrschen und Lieben als Grundmotive der philosophischen Weltanschauungen, 1925, S. 59 ff., 58.



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mäßige, d, h. objektiv sein sollende Erfassung des Gegenstandes sich selbst aufheben". Welche Bedeutung hat denn jenes Axiom? Die Logik hat sich selbst den Satz der Identität schon zu Beginn ihrer Arbeit auferlegt, um vernünftige Erkenntnis,überhaupt zu ermöglichen. Und insofern ist er evident „nur als Bedingung für die Erfüllung derjenigen Ziele, .die sich die Logik setzt... Er ist eine Subreption der Ziele, die durch Logik als Mittel erreicht werden sollen", und auch nur im abgezirkelten Bereiche des Logischen brauchbar. In der Erkenntnistheorie steht es nicht anders. Es ist niemals gelungen, „einen wirklichen Beweis für die Objektivität der vernünftigen Einsichten zu liefern... An Stelle eines echten Beweises findet man letzten Endes nur den Hinweis auf die Evidenz der rationalen Data. D. h. aber, daß die einleuchtende Evidenz, die jenen rationalen Satz bloß im konkreten Erkenntnisakt begleitet, ultima ratio der Vernunft selbst bilden muß; m. a. W. es gibt keine Selbstrechtfertigung der Vernunft." Damit wird aber klar, daß erstens „die Vernunft nicht das alleinige Mittel zu sein braucht, um zu den Zielen zu gelangen, die uns die Erkenntnis vermittelt", und ferner: „falls Vernünftigkeit gelten soll, muß sie eine Begründung haben, die außervernünftig ist"! Was dieses „Außervernünftige" sei, das auch das Vernünftige begründet und aus dem jene logische Evidenz als eine „abgeleitete" schließlich stammt, können wir nur dadurch aufklären, daß wir uns Akte unmittelbarer Evidenz vergegenwärtigen. Evidenz kommt vor allem dem ästhetischen Urteil zu. Und als der junge H e r b a r t nach einem „Ursprünglich-Notwendigen" als der unverrückbaren Grundlage der Weltbeurteilung für den Aufbau eines sittlichen Charakters suchte, da blieb ihm nur die ästhetische Notwendigkeit bestehen. Er fand sie dadurch ausgezeichnet, daß „sie in lauter absoluten Urteilen, ganz ohne Beweis, spricht, ohne übrigens Gewalt in ihre Forderungen zu legen. Auf die Neigung nimmt sie gar keine Rücksicht; sie begünstigt und bestreitet sie nicht. Sie entsteht beim vollendeten Vorstellen ihres Gegenstandes". Diese Geschmacksurteile brechen „aus der Mitte des Gemüts" hervor; sie sind ursprünglich,



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absolut unabhängig und vor allen Dingen, sie springen „mit unmittelbarer Evidenz" hervor. H e r b a r t zeigte sodann in seiner Praktischen Philosophie eingehend, daß wir es hier nicht mit Logik, auch nicht mit Psychologie zu tun haben. Es handle sidi nicht um ein Definieren, Demonstrieren, Deduzieren, Unterscheiden von Gattungen, Räsonnieren über Vorhandenes, sondern — um ein Sich-versetzen in die Auffassung der gesamten einfachen Verhältnisse. Und das Ergebnis eines solchen „Sich-Hineinversetzens" ist dann das evidente ästhetische Urteil; er nennt es darum „Effekt des vollendeten Vorstellens von Verhältnissen, die durch eine Mehrheit von Elementen gebildet werden". Und der Erfolg für das Subjekt des ästhetischen Urteils? Es wird inne „eben des spezifischen Beifalls und des spezifischen Mißfallens, welches jedem der einzelnen Verhältnisse ursprünglich eigen ist" 1 ). In dieser Weise erfassen wir auch das, was wir an etwas „Vollkommenheit" nennen. Wir besitzen die Fähigkeit, uns in andere Wesen, in eine Landschaft, in ein menschliches Kulturwerk so hineinzuversetzen, daß wir den vollendeten Eindruck empfangen, es sei in seiner Weise vollkommen. Uns leuchtet etwa die Vollkommenheit einer tierischen Organisation ein, etwas, das sicherlich nie durch eine Beschreibung dieser Organisation restlos gewonnen, wohl aber in etwa durch sie unterstützt werden kann — oder wir finden Vollkommenheit in der Art und Weise, wie in einer Gegend das einheimische Bauernhaus der Landschaft angepaßt ist. Wir „erschließen" uns dergleichen nicht restlos, sondern es ist, als ob wir mit einem Male in einen solchen Zusammenhang hineinversetzt sind und die Vollkommenheit im Zusammen aller Einzelheiten uns wie mit einem Schlage aufgeht. So stehen wir gegenüber einer Blume, einem edlen Tiere. Wenn man in solchen Fällen versucht, das Erlebnis mit Worten zu umschreiben, der „Schönheit" Ausdruck im Wort zu verleihen, so merkt ein jeder sofort, daß er bald stecken bleibt. Vielleicht ist es so, daß wir als die Tota»

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) Vgl. Herbart, Uber die ästhetische Darstellung der Welt usw. §§ 18—20, und Allgemeine Praktische Philosophie, Werke, herausgeg. von Hartenstein, VIII., S. 17ff.



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lität eines Organismus, dem irgendwie Vollkommenheit zuzuschreiben ist, eben als diese Totalität uns einer anderen gegenüber empfinden können und diese als eine Totalität, wie wir sie selbst darstellen, erfassen. Und ganz vortrefflich charakterisierte H e r b a r t dieses Verhalten als liegend in der Mitte zwischen Rechnen und Dichten und als unerschütterlich, unwiderleglich durch Beweise. Nicht anders steht es mit den religiösen Erlebnissen und den Urteilen, in welchen sie ausgesprochen werden. Das Fundament eines Glaubens ist nicht lediglich im Verständigen errichtet, sondern es enthält Gemütswerte, gefühlsbetonte Elemente, die dem Glaubensleben des frommen Menschen, aber genau so dem Glaubensleben eines, wie er sich nennt, nur ethisch gerichteten Menschen, als anderen Gefühlswerten gegenüber unverrückbar innewohnen. Es gibt keinen Menschen, und es hat ihn nie gegeben, dessen Lebensführung und dessen Beurteilung undBewertung von Mensch und Welt nicht solche gefühlsbetonte Glaubenselemente enthielten. Ja, aller Fanatismus der Weltanschauungen beruht eben darauf, daß jeder Teil g l a u b t , evidente Urteile auszusprechen. Und es war der größte Irrtum von Gelehrten und Philosophen, insonderheit des 16.—18. Jahrhunderts, ein Irrtum, den selber Genies wie N i k o l a u s T a u r e l l u s und L e i b n i z geteilt haben, daß sie meinten, Weltanschauungen könnten auf dem Wege logisch. richtig geführter, in streng logischen Demonstrationen durchgeführter Disputation versöhnt werden; denn „der Macht der Beweise müsse sich jedermann beugen". Das ist bis in unsere Tage hinein der Erzfehler aller Aufklärer gewesen, zu wähnen, des Menschen Sein und Werden bestehe auf Rationalität. Nein, es besteht auf Irrationalität, was in keiner Weise Widervernünftigkeit bedeutet; beruht doch das logische Denken auf einem Irrationalen und trägt dennoch Wissenschaft wie Philosophie gleicherweise. Das Leben, also auch unser Leben, besteht nicht auf Rationalität; nichts sollte uns zeit unseres Lebens klarer und selbstverständlicher sein als dies. Diese Grundansicht müßte alles Handeln des praktischen Erzieher beherrschen, und muß es mindestens von nun an grundlegend ändern. Alle unsere Neigungs



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Trieb- und Liebesverhältnisse zu Gegenständen, zur Natur, zu Menschen lassen sich mit dem Verstände nie und nimmer er~ klären. Demnach gibt es auch im Grunde ein Wissen um diese Verhältnisse und ihre Gegenstände, das primär ist jedem Wissenschaftlichen gegenüber, ja jedem Verständigen gegenüber. Und wiewohl jede kausale Erklärung versagt oder ungenügend bleibt, sind doch diese Verhältnisse für uns derart klar, einleuchtend, selbstgewiß, daß wir uns überhaupt nicht erst um eine verständige Erklärung bemühen. Mag die Wissenschaft sich auch über diese Verhältnisse und Zustände ausbreiten, sie schildern und zu begründen suchen, sie ändert damit an dem tatsächlichen Leben und Erleben nicht das Mindeste, — wie denn ja die vorzüglichsteGeopsychologie und Heimatkunde auch nicht das mindeste am Heimweh dieses Menschen zu ändern vermöchten. Wir stehen zu der Wirklichkeit in einer Totalitätsbeziehung, d. h. wir als Gesamtpersönlichkeit zu dem Seienden schlechthin. Und wir stehen deswegen in dieser Beziehung, weil wir Glieder der Wirklichkeit sind, ihr Teil, ja im tiefsten Sinne ihr Gebilde. Sie besitzt eine eigne Leuchtkraft, und alles Einzelne hat ebenfalls von dieser Kraft an sich, und wenn wir, poetisch gesprochen „sonnenhaft", wissenschaftlich gesprochen uns „anschauend", verhalten, befinden wir uns in einer „originär gebenden Erfahrung", genauer im „lebendigen Vollzug der Einsicht" und im originär gebenden „Sehen" 1 ), und darum vermögen wir an der Wirklichkeit und allen ihren Formen t e i l z u nehmen und wird ein Etwas in seinem Dasein und seinem Sosein uns „einleuchtend" und entstehen neue Erkenntnisse, entspringen neue Einsichten. Allein nur insoweit, als wir in uns die Fähigkeit zu einem teilnehmenden Verhalten bewahrt und ausgebildet haben, und nach dem Grade, in welchem sie uns von unserm Ursprung her eignet, d. h. nach dem Grade und in der Art und Weise, wie wir Teil des Ganzen sind, gelangen für uns im Akte der Teilnahme Anschauung und Bedeutung von etwas zur erfüllten Deckung. Damit ist eine weitere Eigenart unmittelbarer Evidenz beschrieben, die gleichfalls einer Fülle p ä d a g o g i s c h e n Handelns i) Ed. Husserl, Ideen usw. 3. Hufl., 1928, S. 282ff.



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Sinn und Richtung gibt. Bei jedem echten Evidenz-Erlebnis erleben wir unsere Reaktion, unser „Verstehen" von Zusammenhängen als unabhängig von unserer besonderen Eigenart und der Besonderheit des Augenblicks, in welchem wir leben. Es ist ein Verstehen, das über die individuelle und augenblickliche Besonderheit hinausragt in das Allgemeine und das Überzeitliche. Darum ist nun auch für uns als Erlebende jenes Reagieren und Verstehen ein „freies", spontanes, und die N o t w e n d i g keit des Zusammenhangs der als evident gegebenen Phänomene ist niemals eine kausale, es gibt nur nachträglich die Möglichkeit eines Erklärungsversuchs 1 ). Der letzte Grund in Logik, Ästhetik, Religion, praktischer Lebensführung und Menschenbehandlung ruht auf einem Anschaulichen, das den Anspruch auf absolute Geltung erhebt und nicht weiter abzuleiten ist. Es gehört zum „unmittelbaren Sehen" im Sinne H u s s e r l s , das als „originär gebendes Bewußtsein welcher Art immer die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptung" ist 2 ). Allgemein bekannt ist, „daß bei dem schaffenden Denker das anschauliche Gesamtbild der begründenden Darstellung vorausgeht, daß die großen philosophischen Systematiker bei ihren grundlegenden Gedankenerlebnissen von einer (wenn auch noch so unvollkommenen) Schau des Ganzen auszugehen pflegen, von einer scientia intuitiva, die sich dann erst bei der Ausarbeitung in eine Kette logischer Folgerungen verwandelt. „In einem originalen metaphysischen Kopf", sagt D i l they in seiner Jugendgeschichte Hegels, „ist eine gewisse Art zu g e w a h r e n , das erste, sie gibt allem, was von ihm ausgeht, Farbe und Ton, und im Verlauf seiner Entwicklung entsteht logisches Bewußtsein, Begründung und systematische Durchbildung dessen, was in seiner Art, Wirklichkeit zu sehen, enthalten ist" 3 ). Und in der Tat berichtete eine große Anzahl unsrer größP a u l H o f m a n n , D a s religiöse Erlebnis, 1925, S. 6 f . flnm. ) Ideen a . a . O . S . 3 6 ; vgl. S.13, 293ff. =) Vgl. Karl Groos, Der Äufbau der Systeme, 192«, S . X f . ; hier auch das Bekenntnis Ernst Machs. Eine Fülle weiterer B e l e g e aus allen Schaffensgebieten enthält F r i e d r i c h C o p e i , D e r fruchtbare M o m e n t ' i m BildungsprozeB, 1930. 2

P e t c r s e n , Erziehungswissenschaft.

II.

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ten Denker selber so über diese Art ihrer grundlegenden Erlebnisse und die Entstehung der entscheidenden Einsichten, deren Klärung und logische Durchführung oftmals die Zeit eines ganzen Gelehrtenlebens beansprucht hat. D e s c a r t e s „gewahrte" die erste Idee der analytischen Methode am 10. November 1619. In einem unberechneten Äugenblick, wie eine Eingebung wurde sie empfangen. Äm 22. Oktober 1850 überfiel F e c h n e r der Grundgedanke seiner Psgchophgsik. Än einem Frühlingsmorgen des Jahres 1858 beim Spaziergang auf einem Waldpfade des Gaisberges bei Heidelberg erschaute Wilhelm W u n d t den schöpferischen Charakter des Seelischen, eine Intuition, die für Psychologie und Philosophie gleicherweise von größter Tragweite geworden ist. Und E r n s t Mach erzählt: „Än einem schönen Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend: Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden." Während eines Spazierganges mit der Schwester im Herbst 1885 in Naumburg blitzte Nietzsche der Gedanke des „Willens zur Macht" auf. Aber ist nicht auch jede Dichtung, ja jedes kleinste Gedicht, dem Größe zukommt, zuerst eine Gesamtschau und in einem starken, geradezu überfüllten, den Menschen fast erdrükkenden, sprengenden, ihn jedenfalls irgendwie außer sich setzenden Gemütszustande ergriffen und auch eingegeben worden? Und erst nachher kam die Form, kamen die Worte geordnet und mit allen Einzelheiten und die Bindungen der Sprache und ihrer Gesetze. Werden nicht fortwährend alle entscheidenden Beschlüsse für unser Leben, seine Haltung und Gestaltung, genau ebenso gefaßt, daß vor uns eine von starken Gefühlen umspielte und bereits vorgeformte Schau, eine Art Vorschau dessen, was geschehen soll, steht? Wir bestimmen in dieser Vorschau uns selbst, und wenn wir nachher mit unserem Verstände die Einzelheiten in der Durchführung berechnen und zu ordnen unternehmen, leitet uns immer noch das, was in jener ersten Schau bestimmend wurde.



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In einem höchsten Maße ist, anerkannt von den Metaphysikern aller Völker und Zeiten, dies die Grundhaltung der echten Metaphysiker, und daher ist das metaphysische Denken im besonderen Grade Tätigkeit des Geistes, des Nüs. Sie haben es immer gewußt, daß die Prinzipien alles Wissens und Erkennens erschaut werden müssen und nicht in einem Schlußverfahren gewonnen werden können, und daß die Evidenz, d. h. die widerspruchslose Anschaulichkeit, das Kriterium eines jeden Prinzips ist. In wundervoller Klarheit sah deswegen A r i s t o t e l e s das Reich der Wissenschaft, der Episteme, gleichsam umrahmt von denen des Nüs und der Aisthesis, d. h. vom Reich des schauenden, die Prinzipien in ihrer Klarheit und Gewißheit erschauenden Geistes und von der Welt der Wahrnehmungen und Empfindungen, oder anders ausgedrückt: zwischen dem logischen Allgemeinen und dem Sinnlichen, Einzelnen vermittelt die kontemplative Tätigkeit des Geistes, und auf ihr beruhen Ordnung und Weisheit in Natur und Menschenleben. In diesem Sinne ist Metaphysik für K a n t wie für A r i s t o t e l e s Weisheitslehre, ist ihre Tätigkeit die höchste und dem göttlichen Wesen am nächsten verwandte, ist Metaphysik scientia contemplatrix und ihr Gegenstand ist das Seiende schlechthin, ov η ov die Wirklichkeit, und alles, was Einzelnes ist, enthalten im, umfangen vom Sein 1 ). Wirklichkeit kann nur ergriffen und erlebt und dann b e kannt werden. „Begriffe und Tatsachen kann der Mensch erkennen und begreifen. Idee und Wirklichkeit kann er dagegen nur in der Ergriffenheit verstehen und somit nur bekennen. Wirklichkeit ist das, was erlebt wird und lebend weiter wirkt. Tatsache das, was erlebt ist und als t o t e Erkenntnis in das Wissen übergegangen ist. Wirklichkeit ist das aus dem Leben Wirkende, Tatsache die sachlich gewordene Wirklichkeitsäußerung 2 )." 2. Alles, was Einzelnes, Individuum ist, befindet sich jederzeit im Mittelpunkt der Welt. Das ist heute kein mystisches Bekenntnis oder Erlebnis, sondern eine Tatsache, seitdem gelehrt !) Vgl. meine „Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland", S. 303 ff., 321. 2 ) Leo Frobenius, Erlebte Erdteile, IV. S. 357f.

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wurde, die Welt sei in Raum und Zeit unendlich. Für das Einzelne gibt es alsdann keinen anderen Standpunkt, kein anderes που στη, um sich zu erhalten und zu entfalten und um die Welt aus den Ängeln zu heben. Wir fragen also nicht mehr nach dem Standort, wie jener griechische Weise; sondern jeder kann eben da, wo er steht, die Welt aus den Ängeln heben, wenn Er es vermag. Den Ort zum Ansetzen seiner Hebelkraft hat er inne. Daran liegt es nicht, und wir Menschen von heute sind darum um eine gut klingende Äusrede ärmer. Immer und allerorten ist unser Ich im Mittelpunkte des Kosmos: umfangen von der Unendlichkeit aller kosmischen Kräfte und Schnittpunkt aller Radien des kosmischen Kreises. Was bedeutet es da, wenn von der „Außenwelt", von Gegenständen, von Zielen geredet wird? Suchten wir im voraufgehenden Abschnitte die metaphysische Betrachtung von der wissenschaftstheoretischen abzugrenzen, so führt diese Frage zu einer Abgrenzung besonders gegenüber der erkenntnistheoretischen. Innerhalb der Erkenntnistheorie ist das Problem einer „Außenwelt" erst für die neueste Philosophie aufgetaucht, und zwar gehen die Anregungen dazu von der kantischen Philosophie aus. Vor allem in seinem „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" begann K a n t jene, in der Folgezeit fast verhängnisvolle Aufspaltung der Welt des Verstandes und der Sinnlichkeit. Reine Verstandesbegriffe und empirische Anschauung sind ihm „ganz ungleichartig". Da sie aber in Verbindung miteinander gebracht werden, da reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden müssen, so beginnt er im gleichen Atemzuge die Forderung zu· erheben, nach einem „Dritten" zu suchen, nach einer „vermittelnden Vorstellung", und zwar einer reinen und doch auch sinnlichen, welche jenes ganz Ungleicnartige in das Verhältnis einer Unterordnung bringt, bekanntlich das „transzendentale Schema". Anders suchte K a n t gelegentlich einmal sich diese Vereinigung zu einem Dritten an der chemischen Affinität deutlich zu machen. Danach wirken zwei spezifisch verschiedene Stoffe derart innig aufeinander ein und werden zur Einheit, so daß an den vereinigten Stoffen Eigenschaften



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entstehen, die nur durch die Vereinigung zweier heterogener Stoffe erzeugt werden können. „Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so von selbst zur Bewirkung unserer Erkenntnis, als wenn eine von der andern oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten"; — worauf Kant nun aber fortfährt: — „welches doch nicht sein kanr, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne 1 )." Nach ihm ist eine große Richtung des philosophischen Denkens den dornigen Weg gewandelt, die Erscheinungswelt aus der Verstandeswelt herauszuspinnen, bis zu den Ansichten des Solipsismus, es gäbe nur das erkennende Ich allein, und alles außer dem Ich Existierende nur als Inhalt des Ich, — oder der Fiktionstheorie, wonach wir mit Hilfe dessen, was nicht wirklich ist, sondern nur fiktiv, wissenschaftlich forschen, ästhetisch genießen, praktisch handeln. Zwischen uns und der Wirklichkeit steht die Äls-ob-Welt, ausreichend für die Lebensnotwendigkeiten, aber ein undurchdringlicher Schleier über dem Seienden, das uns verhüllt bleibt. Bewußtsein und Wirklichkeit, Erkenntnis und Wirklichkeit, Erkenntnis und Leben sind auf solche Weise zu unüberbrückbaren Gegensätzen verhärtet. Der Positivismus hat das Wissenschaftssystem errichtet, das dieser „Zerwerfung des Daseins" (R. E u c k e n ) entspricht. Es muß klar sein, daß keine Erziehungswissenschaft, die praktisch werden will — und will sie das nicht, dann ist sie ein müßig Gedankending und Spielerei — an diesen Grundfragen vorübergehen kann, ohne Stellung zu nehmen. Handelt es sich bei der skizzierten Haltung um eine metaphysische Grundhaltung der Wirklichkeit gegenüber oder um eine Betrachtungsweise, und um welche? — das gilt es zu entscheiden. In allem Erkennen geht es um ein Gegenüber, d. i. gegenüber dem Erkennenden. Mit Subjekt-Objekt beginnen die Probleme aller Erkenntnistheorie in irgendwelcher Form. Urprinzip allen Erkennens scheint die P o l a r i t ä t zu sein, das Auf schließen alles Erkannten in polaren Gegensätzen, einerlei welches i) Anthropologie, R. Ä. VII. S. 177.

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Gebiet erkenntnismäßig erschlossen werden soll: richtig und falsch in der Logik, wahr und unwahr in der Erkenntnislehre, recht und unrecht, gut und böse, schön und häßlich zeigen Polarität in den Grundwertungen. Seelisch-stofflich, bewußt-unbewußt, Sinnenwelt und Ideenwelt, Sein und Schein, Sein und Erscheinung, Sein und Bewußtsein, Wahrheit und Wirklichkeit, endlich-unendlich: das sind das gesamte philosophische Denken bis zum heutigen Tag bewegende große, weittragende Gegensatzpaare, die u. a. W i l h e l m W u n d t in seiner Metaphysik darstellt, der er selber den Titel gab „Sinnliche und Übersinnliche Welt", — nach den am weitesten gespannten Urgegensätzen, denjenigen, um welche das metaphysische Denken im besonderen kreist. Allein, wir sehen uns über das Gebiet der Erkenntnistneorie hinausgeführt; die Polarität erscheint auch auf anderen Ebenen der Forschung. W i l l i a m J a m e s hat eine Äntithetik der Instinkte entwikkelt, die K a r l G r o o s zu einer interessanten Psychologie der Persönlichkeit benutzt hat 1 ). Groos geht in seiner Psychologie nicht von den Elementen aus, sondern vom „psychophysisdien Ganzen", vom beseelten Organismus als „einem sich erhaltenden und entfaltenden Ganzen, dessen Wesen durch eine Entwicklung bestimmt ist, die in doppelter Weise über die Individualität hinausreicht: zeitlich in die voraufgehenden Generationen und räumlich in die Umwelt, die das Lebewesen umgibt". Es ist ihm nicht um die letzten seelischen Bau-Einheiten zu tun, sondern um die Formen der Betätigung, des Verhaltens, die an dem beseelten Lebewesen zu unterscheiden sind. Und da findet er eine dreifache Äntithetik in allen Betätigungsformen dieses Ganzen, und aus ihrer Kombination leitet er dann weiterhin die typischen Unterschiede persönlichen Lebens ab. An erster Stelle steht das Rationale (λογιστικον) dem Irrationalen (αλογον μέρος) im Wesen des Menschen gegenüber. In die Sphäre des Irrationalen reiht er die Instinkte und Triebe samt den mit ihnen verbundenen Emotionen ein, so daß die erste Äntithetik diejenige von I n s t i n k t und Ü b e r l e g u n g ist. Aber der Mensch kann auch zwischen Instinkt und Instinkt hin und her gezogen werden, !) Bismarck im eigenen Urteil, 1920, S. 158ff.



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nicht nur zwischen Instinkt und Einsicht. Hier ist es, wo er sich nun an J a m e s ' Instinktlehre anschließt. Danach hat die Natur den höherstehenden Lebewesen entgegengesetzte Antriebe zum Handeln (contrary impulses to act) eingepflanzt. Und James glaubt, gerade durch di^se Äntithetik der Triebe sei der Aufstieg zur Herrschaft des Intellekts gefördert worden. Denn niedere Tiere verhielten sich anders. Die Natur lasse sie immer so handeln, wie es am h ä u f i g s t e n vorteilhaft ist. Sie sage zu den Fischen: Beißt nach jedem Wurm und nehmt euren Vorteil immer und überall wahr! und so beißen sie auch nach dem Wurm an der Angel. Bei den von der Natur bevorzugten Wesen aber mindere die Natur das Risiko. Da jedes unbekannte Objekt Wohl oder Wehe, Nutzen oder Gefahr in sich bergen könne, da jedes Tier derselben Herde sich leicht aus einem Freund in einen Rivalen verwandele, so seien bei allen höheren Wesen, Vögeln, Säugetieren und Menschen, die entgegengesetzten Triebe ausgebildet: Lüsternheit, Gier und Argwohn, Neugierde und ängstliche Scheu, Zurückhaltung und Verlangen, Schamgefühl und Eitelkeit, Geselligkeit und Streitsucht. Indem sich diese Instinkte gegenseitig den .Weg versperren, fällt die Entscheidung unter Umständen der E r f a h r u n g anheim, und das beseelte Wesen fängt an, sein Leben bedächtig zu führen und eine A u s w a h l zu treffen, kurz gesagt, i n t e l l e k t u e l l zu leben. Die gleiche Äntithetik und Polarität wirkt sich „in der ganzen Rhythmik des organischen Daseins aus, das sich in dem Wechsel von Ergreifen und Abstoßen, Assimilation und Dissimilation, Systole und Diastole erhält. Integration und Desintegration sind für Spencer auch die den Makrokosmos und seine Entwicklung beherrschenden Potenzen. Und die geordnete Bewegung der Welt hat immer wieder auf die Annahme anziehender und abstoßender Kräfte geführt, deren Gegeneinanderwirken diese Ordnung erklären soll 1 )." Der Kampf als der Vater aller Dinge, Verdichtung und Verdünnung: so in den Lehren der alten jonischen Philosophen. Tierwelt und Pflanzenwelt stellen gleichfalls solche große Polarität dar. Damit ist also die Polarität keineswegs beschränkt auf das Gebiet der Verstandestätigkeit, Μ Karl Groos, Äufbau der Systeme, S. 312.



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des Urteilens und Wertens, sondern „die Ordnung der g e d a n k l i c h e n Welt erscheint nun als ein Widerhall, aber audi als ein Sonderfall der Antithetik von Kräften, die die Ordnung der Welt überhaupt bestimmt". Polarität ist auch Grundform unseres seelischen Erlebens; die Gefühlslehre liefert dafür das bekannteste Schema. Die Untersuchungen und Beschreibungen der Gefühle nötigen stets zur Aufstellung von Gegensatzpaaren wie Lust: Unlust, — Spannung: Lösung,—Erregung: Beruhigung,—Strebung: Widerstrebung, — Heiterkeit: Ernst. „Das sinnvolle Gedächtnis wirkt am stärksten, wenn die Erinnerung am G e g e n s a t z der aufeinanderfolgenden Glieder der Assoziation eine Stütze hat. Auch unsere Phantasie erfreut sich am Spiel der Gegensätze vielleicht noch lebhafter als am Schema der Ähnlichkeit. Und ist auch ästhetisch der Gegensatz nicht reizvoller und lebendiger als die oft langweilig wirkende Ähnlichkeit? 1 )" So konnte der Psychologe E. B. T i t c h e n e r sprechen von einer instinktiven „Neigung zum Dualismus, die eng verknüpft ist mit der Gegenüberstellung von Lust und Unlust" und die uns veranlaßt, alles in der Welt nach Paaren zu klassifizieren. So werden auch unsere Verhaltensweisen Mensch zu Mensch von Liebe und Haß, Sympathie und Antipathie, anziehendem J a und abstoßendem Nein beherrscht. Ist es da nicht vielleicht richtig zu schließen, wie es K a r l G r o o s tut, es gäbe eine hinter Verstand und Willen liegende allgemeine Polarität des Geistigen? Aber in welchem Sinne ist solcher Schluß zu verstehen? Begreift er die Wirklichkeit, das Sein, das Absolute — oder das Geistige in dem engeren Sinne als die Art und Weise der das Seiende intellektuell aufnehmenden und verarbeitenden Tätigkeit? Und gehört Polarität überhaupt zur Lebensform und damit auch zur Erkenntnisform verständiger Einzelner? Um diese Frage zu beantworten, muß die Untersuchung einen neuen Ansatz wählen. Es ist uns aus der herrschenden kantischen Philosophie ganz geläufig und bis zum Überdruß nachgesprochen: Raum und Zeit sind Formen der Ordnung un*) Λ. Λ. Grünbaum, a. a. 0 . S. 14f.



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serer Anschauung a priori. So sehr nun auch Kantianer strenger Observanz alles Hineinspielen psychologischer Betrachtungen von Raum und Zeit verpönen, wenn es um das Verständnis dieses kantischen Satzes geht, so ist es heute doch unmöglich, an Tatbeständen wie den folgenden vorüberzugehen: es ist unwiderlegbar gezeigt, wie sehr die kantische Transzendentalphilosophie in ihren Erörterungen über Raum und Zeit auf der, eben p s y c h o l o g i s c h e n , Annahme beruht, es gäbe nur den Gesichtsraum. Es müßte darum heißen: der Sehraum ist die apriorische Form der Anschauung. Nun genügt es ferner keineswegs, demgegenüber auf die nachkantische Psychologie und deren Lehre vom Tastraum (der etwas vom Sehraum ganz Verschiedenes ist) zu verweisen, vielmehr gibt es Menschen, und leider heute in nicht geringer Zahl, welche ihre Umwelt überhaupt nicht in einem Raumgefüge erleben 1 ): Blindgeborene, aber auch noch spät Erblindete, diese, insofern als bei ihnen die reproduktiven optischen Vorstellungen wohl auftreten, jedoch relativ selten und immer fragmentarisch. Der Erblindete hat überhaupt nicht den Raum um sich in einer irgendwie mit dem Sehraum des sehenden Menschen vergleichbaren Beschaffenheit. Man spricht daher von einem Bewußtsein des „Herum", etwas, das nichts Qualitatives, anschaulich Räumliches ist. Spät Erblindete, die in der Lage sind, dann und wann optische Vorstellungen zu reproduzieren, sagen uns, daß sie diese Vorstellungen in ihrer reproduktiven Eigenart sehr wohl zu analysieren wissen. Werden alle Merkmale dieses Herum-Bewußtseins zusammengefaßt, so setzt es sich zusammen „aus dem Bewußtsein der eigenen Bewegungsmöglichkeit, Bewegungsfreiheit und aus dem Erwartungsbewußtsein bezüglich möglicher oder fehlender Widerstände. Das Herum-Bewußtsein ist also ein raumfreies qualitatives dynamisches Erlebnis" 2 ). Nun ist dieses Erlebnis keineswegs dem sehenden Menschen fremd. Es wäre höchst unwahrscheinlich, daß sich dieses Herum-Bewußtsein erst bei Blindheit entwickelte und erst, wenn ein x

) S. Wittmann in: G. Martius und J. Wittmann, Die Formen der Wirklichkeit, 1921, S. 37; vgl. diese Schrift auch zum Folgenden.

-') fl. a. 0. S. 11.

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Mensch blind würde, uns aber nicht auch im Besitze von Tastund Sehraum eignete. Solche Herum-Bewußtseins- Erlebnisse müssen jedem Menschen möglich sein. Wir haben uns alle in der Lage befunden, ζ. B. in einer angeregten Unterhaltung, in der wir „uns vergaßen", wo wir reine „Denkfunktion" waren und sonst nichts, oder wir waren in einen Anblick versunken, bei dem wir alles um uns herum vergaßen. Das war ein Stück Erleben ohne Raum und — ohne Zeit. Aber, auf den Raum uns zu beschränken, in allen den Zuständen, die wir in unserer Sprache nicht ausreichend beschreiben können, in denen wir mit örtlich unbeschränkt und verschieden weit von uns entfernt lebenden geliebten Menschen zusammenleben, uns geistig irgendwie mit ihnen verbunden wissen, sei es mit einem menschlich oder geistig verwandten Menschen, einem Lebenden oder einem Abgeschiedenen (denn das ist für dieses Erleben völlig gleich), da vollziehen sich die Denkinhalte während solcher Erlebnisse durchaus frei vom Raum, es ist reines „in Gedanken verbunden sein". Das Eigentümliche solcher Art des Zusammenlebens über Raum und Zeit hinweg ist unter anderem dies, daß wir weder über sein Auftreten noch seinen inhaltlichen Verlauf Herr sind. Es ist sicherlich das Raumzeitliche aufgehoben, und das wird kaum durch etwas anderes uns selber besser klar als dann, wenn wir, vor uns selber, übergehen zum raumzeitlichen Erfassen und Erkennen des Erlebten, d. h. wenn wir das Erlebnis in die Sphäre des reflektierenden, des sondernden und verknüpfenden Verstandes hineinziehen. Dabei zeigt sich stets dasselbe eigentümliche Phänomen: zuerst hebt sich das räumlidhe Element ab, und dieser Vorgang des „Sich-Abhebens" läßt sich am besten mit dem Vorgange des Zurückweichens oder des Sich-Zusammenziehens etwa einer Gummischnur vergleichen, oder damit, wie man „versunken" in eine Arbeit, eine Schrift, wieder zur Wahrnehmung des Raumes, in dem man liest oder arbeitet, und seiner Gegenstände übergeht und dabei wieder auch das Ticken der Uhr hört, obwohl diese gleich laut und regelmäßig die ganze Zeit hindurch getickt hat. Der Vorgang des Zurückkehrens in den bewußt erfaßten Raum läuft im Bruchteil einer Sekunde ab, erscheint uns aber durchaus meßbar, schon deswegen weil man in der nachfol-



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genden Reflexion das Empfinden hat, man könne sagen, ja man könne fast sehen, wie der Vorgang sich in die Zeit hineinlegt. Die erkenntnismäßige Erfassung des zeitlichen Moments erfolgt jedoch immer erst dann, wenn vorher die Lokalisation, die Verräumlichung des Erlebnisses erfolgt ist. Ohne Zweifel besitzen alle Menschen das Vermögen, jenseits von Raum und Zeit zu leben, zu erleben, zu denken. Dazu haben neueste Forschungen die grundsätzliche Unterschiedenheit von Raum und Zeit aufgezeigt. Es kann heute nicht mehr die Zeit eine Form der Anschauung, gar wie es K a n t ebenfalls annahm, die Zeitvorstellung selbst Anschauung genannt werden, „weil alle ihre Verhältnisse sich in einer äußeren Anschauung ausdrücken lassen". Die Zeit ist vielmehr etwas Gedachtes, Gedankliches, Begriffliches, in keiner Weise ein seelisch realer Inhalt der Wahrnehmung. Sie ist darum keine ursprüngliche Form der sinnlichen Anschauung, vielmehr „eine erste apperzeptiv gewonnene, b e g r i f f l i c h e Ordnung der Wahrnehmungsinhalte" 1 ). Das zeitliche Element gehört in die logischbegriffliche Welt, nicht in die anschauliche. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn die metaphysischen Spekulationen eines A r i s t o t e l e s und eines A u g u s t i n (im 11. Buch der „Bekenntnisse") die Zeit als etwas rein Subjektives auffaßten; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den seelischen Akten der Erinnerung, der Anschauung und der Erwartung gleichsetzten (μνημη, οασθησις, ελτπς); oder wenn die theologische Spekulation die Ewigkeit der Zeit entgegensetzte, ähnlich wie dem Räume das Wo, und nun Ort und Zeit den körperlichen Wesen, Wo und Ewigkeit den Geistern zukommen ließ und so sich begrifflich klar zu machen suchte, daß Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit sei, daß wir nach dem Tode leben würden, daß Geister allgegenwärtig, unsichtbar und unzerstörbar sind. So konnte A u g u s t i n auf die beliebte theologische Streitfrage: „Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?" antworten: „Er tat nichts; denn vor Himmel und Erde gab es keine Zeit; sie ist mit jenen erst geschaffen. i) A. a. 0. S. 81.



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Wie kann man also fragen, was Gott damals tat? Denn es war kein Damals, wo noch keine Zeit war 1 )." Von hier aus wird auch verständlich, warum der östliche Mensch in ganz anderem Grade als wir metaphysisch gerichtet erscheint, wie besonders aus der Beobachtung gefolgert wird, daß ihm das Zeitbewußtsein in unserem Sinne fehle. Aber dasselbe möchte ich anwenden zum Verständnis aller, die nicht vom europäischen Lebensstil und Industriegeist erfaßt sind. Vom Indio, vom Neger gilt das Gleiche: sie sind nur, stehen im Seienden schlechthin, und der Versuch, ihr Leben und Treiben mit unseren Maßstäben zu beurteilen, schlägt unbedingt fehl. Sie sind grundsätzlich anders, darum für den Europäer unbegreiflich, sofern er nicht seinen Standpunkt ihnen gegenüber zuerst einmal grundsätzlich ändert, wie es H e r m a n n K e y s e r l i n g in seinem „Tagebuch" 2 ) ernstlich versucht hat. „Man sagt, der Orfentale habe Zeit. Die Wahrheit ist, daß ihm das Zeitbewußtsein fehlt; deshalb stellen sich ihm die Wesensprobleme unabhängig von ihrer Verwirklichung in der Zeit. Nie würde ein Chela es aushalten, ein Menschenalter bei seinem Guru abzuwarten, ob er nicht der Erleuchtung teilhaftig würde, wenn die Zeit ihm ein Wirkliches wäre; wo sein Bewußtsein überhaupt an der Erscheinung haftet, also ζ. B. im Zustand der Verliebtheit, ist der Hindu nicht geduldiger als wir. Das Typische für den Inder ist es eben, daß er sich seines eigentlichen Seins als solchen normalerweise bewußt ist, sodaß der Sünder sich wesentlich als Heiliger fühlen kann, der Anfänger als Vollendeter; der Narr als Weiser, weshalb es nicht unerläßlich erscheint, das Sein im Werden auszuprägen. So haben weder die indischen noch die chinesischen Weisen in unserem Sinne Gebote aufgestellt. Sie haben gesagt: wenn du das tust, so wirst du vollendet; wenn du so bist, dann hast du es erreicht; wenn du den Fehler begehst, dann wird deine Entwicklung aufgehalten. Nie sagten sie: Du s o l l s t das tun. Der Orientale kennt kein „Sollen", weil er „ist" ; !) Wittmann a. a. 0 . S. 68; meine Geschichte der arist. Philos., S. 163 f. 2 ) A. a. 0 . S. 7^6f.



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wir, die unaufhaltsam Werdenden, sehen das Sein in der Form des „Gesollten" vor uns." Es ist darum kein Zufall, vielmehr inniger geistiger Zusammenhang, wenn die P ä d a g o g i k der Neuen Erziehung gleichfalls weit weniger als die alte die Formen des Sollens und der Gebote und Befehle gebraucht, sondern dafür solche des Seins: „Verhaltet Euch so oder so, dann werdet i h r . . . " ; „wenn du dies oder das tust, wirst du..."; „versucht einmal so zu handeln, ihn oder sie so zu behandeln, dies oder jenes so anzufassen, d a n n . . . " . Je mehr der neue Padagoge die Verwobenheit individuellen und Gemeinschaftslebens im Irrationalen erschaut hat, desto behutsamer, aber zugleich desto menschlicher betrachtet er den Menschen, vor allen Dingen aber den werdenden Menschen in jedem Kinde, um ihm zu einer unverbogenen Entfaltung zu verhelfen. — Unser Ergebnis — Raum die Ordnungsform der Anschauung sehender (noch genauer: bewußt sehender) Menschen, sonst nur hingenommener Bewegungsraum verknüpft mit und in einem Herum-Bewißtsein; Zeit erste begriffliche Ordnung der Wahrnehmungsinhalte, eine Form also des denkenden Menschen, nicht des anschauenden — führt zur Lösung des Problems, von dem wir ausgingen, dem der Außenwelt, und ebenso dem der Polarität, die wir in unserm Trieb- und Instinktleben, im seelischen Erleben, im praktischen Verhalten und im Erkennen nachwiesen. Denn offenbar hängen beide Probleme insofern zusammen, als im Problem der Außenwelt die polare Setzung Ich: Außenwelt gemeint ist. Ist also diese Polarität gesetzt oder Polarität des Grundes oder ein Drittes? Alles Polare besitzt zwei Merkmale: Es Ist einmal dasjenige, welches innerhalb einer Reihe von Krä"ten oder Begriffen oder Werten den Charakter der stärksten Fremdheit trägt, und sodann dasjenige, welches einander derart innig bedingt, daß keines ohne das andere sein kann, ja das innigste Zueinander ist. Daher ist das Polare nicht einfach gleich dem Gegensätzlichen oder dem Unvereinbaren, und so wurde das Polare auch im Voraufgehenden nicht verstanden. Nun sind wir als I n d i v i d u e n selbst je ein Pol, und zwar in der weitesten polaren Spannung Gegenpol nicht einer „Außenwelt", sondern der Wirklichkeit. Also



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können wir auf keinen Fall den Standpunkt irgendeines Rationalismus, eines Idealismus und Kritizismus einnehmen, wonach wir als erkennende Wesen oder als sonstwie geartete und handelnde Wesen in den Leistungen unserer geistigen Akte die Wirklichkeit erzeugten, das Nicht-Ich setzten als ein außer uns, oder dergleichen. Es ist vielmehr so, wie es Ludwig Klages einmal darstellte1) : Zur Grundform allen Erlebens gehört das „Polaritätsverhältnis des Erlebten" und ebenso zur Grundform allen Erkennens, Handelns und Denkens das Polaritätsverhältnis des Erkannten, des Gedachten und dessen, auf das unser Handeln gerichtet ist; mit anderen Worten: „Alles, was wir „Ziel" nennen, hat seinen Ursprung in einem urgegebenen Polaritätsverhältnis, in jenem Gegenüber der erlebenden, denkenden, erkennenden, handelnden Seele, ohne das der individuelle Geist ja gar nichts hätte, „wonach er „sich ridhten", wonach er mit seinen Würfen „zielen", was er zum „Stehen" zu bringen versuchen könnte", d. h. er hätte keine Richtung, kein Ziel, keinen Gegenstand. Damit wird auch klar, warum es nicht angeht, dem Erlebten oder Gedachten usw., insofern es das Polare zu einer erlebenden oder denkenden Seele ist, jenen Charakter der Fremdheit, des „andern", zu nehmen. Der individuelle Geist hätte alsdann kein Gegenüber, auf das er seine Taten der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des Erkennens, des Verstehens, des Liebens und Hassens usf. richten könnte, und es käme nicht einmal der einfachste sinnliche Auffassungsakt zustande, keine Wahrnehmung. Die ersten Grundformen aber, das, womit wir jenes Gegenüber „dingfest", zum Ding, zum Gegenstand für uns machen, sind für die anschauliche Seite der Raum und für die logischbegriffliche die Zeit. Durch diese räum-zeitliche Einordnung heben wir jedoch zugleich in eben dem Akte unserer fixierenden Auffassung jeweilig den polaren Zusammenhang auf, und sind im Akte des Erlebens, Erkennens, Handelns, Denkens eins mit dem, was wir erleben, erkennen, denken, zu dem wir uns verhalten; das andere, das Fremde, ist in diesem geistigen !) Vgl. zum Folg., Das Wesen des BewuBtseins, 1921 (Zitat S. 57) und: Jahrbuch der Charakterologie, 192«, S. 197ff.



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Akte als ein anderes oder als ein Fremdes aufgehoben. Das gilt natürlich auch dann, wenn ich es als ein anderes oder als ein Fremdes erkenne, erlebe; denn ich habe es in jenem geistigen Akte seines Charakters der Nur-Fremdheit, des Nur-anderen beraubt und ihm ein Verhältnis zu meinem Geiste gegeben, es mit meinen Mitteln der Anschauung und des Denkens eingeordnet und beherrsche es nun. Was wir aber deutlich machen wollten, ist vor allem dies, daß jenes „andere" nicht ist: Setzung eines Nicht-Ich durch ein Ich, sdilechthin Tat meines Geistes, sodaß wir die Außenwelt ein Erzeugnis unseres Geistes oder die Wirklichkeit Leistung eines geistigen Aktes von uns nennen dürften. Diese Betrachtungen gewinnen eine folgenschwere und grundsätzliche Bedeutung für die gesamte Erziehungswissenschaft: I. Raum und Zeit gehören nicht zur Wirklichkeit, sondern sind Hilfsmittel des individuierten und dadurch individuellen Geistes; und da die Zeit zum logisch-begrifflichen Werkzeug gehört, so machen erst wir etwas „geschichtlidi". Die Wirklichkeit aber hat keine Zeit, darum auch keine Geschichte, kein Werden. sondern sie ist, immer und ewig, und sie ist immer und ewig die gleiche. II. Polarität gehört nicht zum Wesen der Wirklichkeit, sondern zum Wesen der erlebenden, erkennenden, denkenden, handelnden Akte individueller Geister, insofern diese ohne ein echtes Gegenüber nicht nur ziellos wären, sondern überhaupt nicht zustande kommen könnten. Insofern nun aber der individuelle Geist im Vollzug des Aktes jene Polarität aufhebt, indem er die Fähigkeit hat, was er will, zu seinem Gegenstand zu machen, zu setzen, seinem geistigen Bereiche einzuordnen, so bekundet er eben dadurch seinen Zusammenhang, seine Gliedschaft mit dem Geiste überhaupt. Und jene „unmittelbare Evidenz" verrät das Vermögen eines individuellen Geistes, sich mit dem Ganzen schlechthin in eins zu setzen, und — neben anderem — das Vermögen, zeitlos zu denken, nur zu sein. „Polarität ist immer das Prinzip des Quellenden, Kreisenden, in sich zurückkehrenden, also des lebendigen Wassers" (J. Langbehn). III. Und wir verstehen von hier aus W e r t und Gefahr der

— 48 — Dialektik und der dialektischen Methode. Das Fortschreiten von Gegensatz zu Gegensatz und dann wieder die Vereinigung von These und Antithese in der Synthese: das alles gehört unmittelbar zur Natur lebendigen Denkens. Und der menschliche Geist erlebt unzweifelhaft eine größere Befriedigung in dieser Ärt seiner Betätigung, als wenn er im Geleise formalen Denkens allgemeinen Gesetzlichkeiten nachgeht, sie aufdeckt und darstellt. Die Tätigkeiten des Subsumierens und Generalisierens enthalten weniger Quellen der Frische und Lebendigkeit als der abwechslungsreiche, spitzige und an Überraschungen und Leuchtfontänen reichere Weg der Dialektik. Allein, worauf läuft dieses Geschäft hinaus? Es bleibt ein Spiel des individuellen Geistes mit sich selbst, und zwar mit einem seiner Vermögen, nämlich dem, die Polarität in den Erscheinungsformen der Wirklichkeit, sofern diese damit erst Gegenstände individueller geistiger Akte werden und so diese Akte selber erst ermöglichen, aufzuheben. Die Beliebtheit der Dialektik und der dialektischen Methoden wird dadurch erklärlich; sie sind aber verfänglich, weil sie leicht zum Selbstzweck erheben, was nur Ausgangspunkt einer Bewegung des Geistes ist. Sie suchen den Anfangspunkt der geistigen Bewegung zu verewigen, indem sie immer von neuem zu ihm zurückkehren. Sie besitzen zunächst den Anschein größerer Lebendigkeit und das Vermögen anzuregen, aber sie ermüden den Geist schließlich genau so gut, wie ein Musiker ermüden würde, wenn er, sei es auch noch so geschickt und kunstreich ineinander verwoben, ständig nur die zwei bis drei wichtigsten Grundverhältnisse der Töne variierte. 3. Das Sein in der Wirklichkeit; das Sein in der Erziehungswirklichkeit. Wann bin ich erziehend? ist die Frage nach dem allgemeinen Kennzeichen der Erziehungswirklichkeit, in der ich mich befinden muß, damit erzieherische Wirkungen entstehen; sie soll zusammen mit der Frage nach der Erlebnisform der Wirklichkeit überhaupt beantwortet werden; denn beide müssen aufs innigste zusammenhängen. Kant hat sich in der ersten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft"1) einer fast populären Psychologie bedient: !) Ausgabe Reklam S. 315—318.



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Raum und Zeit sind Vorstellungen a priori und uns als Formen unserer sinnlichen Anschauung gegeben, „ehe noch ein wirklicher Gegenstand unsern Sinn durch Empfindung bestimmt hat, um ihn unter jenen sinnlichen Verhältnissen vorzustellen. Allein dieses Materielle oder Reale, dieses etwas, was im Raum angeschaut werden soll, setzt notwendig Wahrnehmung voraus, und kann unabhängig von dieser (der Wahrnehmung), welche d i e W i r k l i c h k e i t von e t w a s im Raum« anzeigt 1 ), durch keine Einbildungskraft gedichtet und hervorgebracht werden. Empfindung ist dasjenige, was eine Wirklichkeit im Raum und der Zeit bezeichnet, nachdem sie auf die eine oder die andere Art der sinnlichen Anschauung bezogen wird". Und diese Empfindung wird einfach „gegeben", und zwar durch die Wahrnehmung; diese „stellet also (damit wir diesmal nur bei äußeren Anschauungen bleiben) etwas Wirkliches im Räume vor", und ein wenig weiter: „Alle äußere Wahrnehmung beweiset also unmittelbar etwas Wirkliches im Raum,... es korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im R a u m . . . Das Reale äußerer Erscheinungen ist also wirklich nur in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirklich sein." Die Empfindung ist bei dfer Mehrheit der Kantianer bis heute Kriterium der Wirklichkeit geblieben. Da es aber mit den Ergebnissen der neueren Psychologie unvereinbar ist, Empfindungen schlechthin als die Elemente zu bezeichnen, mit denen a l l e Erkenntnis anhebe, so wird zum allermindesten eine Erweiterung des Begriffs nötig, wie es ζ. B. B r u n o Bauch 8 ) unternimmt. Er versucht, Empfindungen in einem Sinne zu nehmen, der über den gewöhnlichen Sprachgebrauch, wonach Empfindung eine periphere Erregung unserer Sinnesorgane ist, also Antwort auf einen Reiz bedeutet, hinausgeht, und sagt: „Es hängt dennoch das Wirkliche immer mit der Empfindung zusammen, auch wenn es nicht bloß nicht empfunden, sondern auch nicht einmal in diesem vulgären Sinne empfindbar ist." Und er spricht nun Von mir gesperrt. ) Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, S. 107ff. Vgl. jetzt die Auseinandersetzung E r i c h J a e n s c h ' s mit diesem Werke in seiner Schrift: Wirklichkeit und Wert, 1929, S. 137ff. 2

P e t i r s e η , Erziehungswissenschaft. II.

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von der „unempfindbaren Wirklichkeit", wie die der Vorstellungen, Gedanken usw. als von etwas, das dem Zusammenhang mit der Empfindung doch nicht widersprechen soll. Diesen wie verwandten Betrachtungen haftet als Grundfehler dies an: sie sagen nur etwas aus über unsere wissenschaftliche Reaktion auf das Wirkliche, wenn sie bei der Empfindung als dem Kriterium der Wirklichkeit stehen bleiben. Es wird nämlich Empfindung irgendwie im Sinne eines Elements verwendet, — desgleichen, wenn von „Gedanken" oder „Bewußtheiten" geredet wird, — Element im Sinne einer Wissenschaft, darum stets der Wirklichkeit gegenüber zum mindesten ein Sekundäres. Das Ganze jenes Seelischen, dessen zerlegte Struktur zur Ansicht von solchen elementaren Erscheinungen zu berechtigen scheint, muß aber in einem Verhalten „gegeben" sein, in dem wissenschaftliche Analyse erst nachträglich auch von Elementen reden mag. Auf jeden Fall hat mit dem Reden von Empfindung oder Bewußtheiten bereits die Besonderung der Wirklichkeit eingesetzt. Dieser Besonderung geht aber schon rein psychologisch gesehen ein „Haben von etwas" voraus, ein „Haben", welches die erste Stufe im Akte der Wahrnehmung ist, und Wahrnehmung ist in jedem Fall mehr als etwas wie „Summe" mannigfaltiger Empfindungen, sie ist immer ein G a n z e s von eigentüm^ lichem Charakter. Auch die Erkenntnisvorgänge finden sich ursprünglich in den seelischen Gesamtzusammenhang eingebettet. „Erfassung des Gegenständlichen nimmt nirgends seinen Ursprung anderwärts als von der Einbettung in den seelischen Gesamtzusammenhang und kann offenbar gar nicht anders entstehen 1 )." J. W i t t m a n n beschreibt dieses Ganze, in dessen apperzeptiver Verarbeitung Erkenntnis besteht, als ein „komplexes perzeptives räumliches Weltbild" 2 ). Das ist nun dem verwandt, was Wilhelm W u n d t , als gemeinsamen Ausgangspunkt für alle Wissenschaften und Philosophie, für alles Denken und Erkennen setzte, nämlich dem „ursprünglichen Vorstellungsobjekte", ein Objekt an dem noch keine Denkarbeit angesetzt hat, das weder nach Stoff und Form, noch als Objekt und Subjekt, nodi !) E. Jaensch, a. a. 0 . S. 216 f. 2 ) Ä. a. 0 . S. Π .



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nach irgendwelchen Eigenschaften zerlegt ist, ein „nur angeschautes Objekt", gegeben „in unmittelbarer Anschauung" 1 ). Und dies in unmittelbarer Anschauung gegebene ursprüngliche Vorstellungsobjekt ist ein Glied der unmittelbaren Wirklichkeit, in der wir leben und uns bewegen und aus der wir erst heraustreten, sobald wir anfangen, über diese Wirklichkeit zu reflektieren, ihr bestimmte Gedanken zu unterlegen, um sie zu verstehen und zu deuten, oder aus ihr Schlüsse zu ziehen, also wenn wir uns nicht mehr rein anschauend verhalten, wenn wir uns nicht mehr dieser Welt einfach hingeben, sondern mit unserm Begehren, Wollen und Denken in sie einzudringen versuchen. Dann entschwindet diese unmittelbare, in reiner Anschauung gegebene Wirklichkeit, und aus dem naiven Weltbild wird das der Reflexion, ein Gedankenwerk. Und der Philosoph weiß sehr wohl, daß diese in unmittelbarer Anschauung gegebene Einheit von Denken und Sein in der L e b e n s p r a x i s bestehen bleibt, „indem auch hier das Denken immer aufgeht in dem Sein, von dem es durch die reflektierende Selbstbestimmung sich sondert". So ist es auch die neue Erziehuhgspraxis gewesen, welche uns auf die metaphysischen Quellen zurückwies. Es waren die in der Er zie hu η gs Wirklichkeit wiederum stärker durchbrechenden und heller aufleuchtenden Kräfte der Wirklichkeit, welche uns nötigten, die Fragestellungen bis in die metaphysischen Verwebungen hinein zu verfolgen, wie bereits oben nachgewiesen wurde. Als sich die neuen Erzieher aller Orten auf ihre Erzieheraufgaben besannen, da waren sie, ohne Gelehrsamkeit und voraufgehende Reflexion, rein durch ihre anders eingestellte und ansetzende T ä t i g k e i t , wie mit einem Male, durcli eine Kluft von der gesamten bisherigen Unterrichts- und Erziehungslehre getrennt, und niemand konnte und kann zurück, wo er anders dieses Erlebnis hatte in einer die Persönlichkeit r e s t l o s ausfüllenden, sie ganz ergreifenden Arbeit, in völliger Hingabe im Dienst der Erziehung. Es war für jeden wie das Erwachen in einem neuen Lande. Das Grunderlebnis war der Art nach dasselbe, wie das, von ») Vgl. m. Schrift: Wilhelm Wundt und seine Zeit, 1925, S. 142ff. 4»



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dem der Philosoph und der Wissenschaftler ausgehen müssen, als der ersten vorphilosophischen und vorwissenschaftlichen Setzung: die Einheit von Denken und Sein in einem lebendigen Gesamtseelenzusammenhang. Der sich ganz hingebende Erzieher stand jenseits von dem, was in der Erscheinungswelt meinen, bedeuten und werten ist. Diese Arten der Beziehungen waren zurückgewichen, und gleichzeitig erlebte er, daß sie i n n e r h a l b der Tätigkeit, im erzieherischen Tun, das sich zwischen Erzieher und Kindern abspielte, und eben dadurch, verschwunden waren. Das Äußere erschien vollendet gleichgültig, sobald man sich in diesem erzieherischen Erleben und Handeln mit dem Kinde oder der Kindergruppe „in eins setzte". Darum tauchte auch ganz von selbst hier das Wort „Gemeinschaft" auf, weil sich diese Wirklichkeit nur in einer wahren Lebensgemeinschaft von Erziehern und Zöglingen aufschloß. Das neue Erleben ging nicht auf das Selbst als ein von den Mitmenschen abgeschlossenes Individuum, wie etwa das eines Mönchs in seiner Zelle, eines Künstlers vor seiner Staffelei, eines Gelehrten in seiner Ärbeitsstube, eines Mystikers in seinen Schauungen, sondern auf den Erzieher als lebend mit und stehend in einer.realen Masse., einer echten Gemeinschaft, und zwar als in Einheit mit ihr. Damit erschließt sich uns nun auch die Besonderheit des S e i n s in der E r z i e h u n g s w i r k l i c h k e i t , das Sich-befinden im Erzieherischen : Die Wirklichkeit enthüllt sich, wie wir hörten, in unmittelbarer Anschauung; die Erziehungswirklichkeit — keine Form neben der Wirklichkeit, sondern in dieser abgesondert „für uns" — erleben wir in einem u n m i t t e l b a r e n H a n d e l n im S i n n e des v o l l e n d e t e n D i e n s t e s ; in einem tätigen Verhalten, das reine geistige Funktion, ist. Es ist das zugleich immer ein Handeln, das mich und dich, den einzelnen und den andern, eben durch dieses Handeln und in ihm, unmittelbar zur Einheit einer dienenden Gemeinschaft verbindet, und darin „vollendeter Dienst" ist 1 ). 4. Die m e t a p h y s i s c h e H a l t u n g und D e u t u n g ist nur einer Beschreibung zugänglich, v e r w a n d t derjenigen, welche x

) Vgl. die Ausführungen über „Gemeinschaft" und „Persönlichkeit" im I. Teile meiner „Allgemeinen Erziehungswissenschaft".



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die beschreibende Psychologie anwendet; denn das Ich, dessen metaphysisches Verhalten zu umschreiben versucht werden soll, ist weder gleich dem Subjekt im erkenntnistheoretischen noch dem Ich im psychologischen Sinne, Es ist das vorrationale, richtiger das nicht räsonnierende Ich, das der Wirklichkeit und ihren Erscheinungen ganz hingegebene und einfach darin eintauchende, in dieser Totalität von Beziehungen und Zusammenhängen handelnde, dahin lebende Ich, das dabei wohl auch räsonnierende Äkte vollzieht, aber als Akte des Lebens, nicht als Äkte um des Räsonnements oder um der Ergebnisse des Räsonnements willen. Es ist ein Leben und Sein im Unmittelbaren, und ein Leben, Denken und Handeln aus einem „unmittelbaren Wissen" heraus, von dem Hegel in seiner „Phänomenologie" zu Beginn der Bewußtseinslehre spricht 1 ): Dieses erste und unmittelbare Wissen sei die reichste Erkenntnis, eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum, ob wir in Raum und Zeit über ihren konkreten Inhalt hinausgehen oder ob wir zerlegend in ihn hineingehen. Und zugleich die w a h r h a f t e s t e Erkenntnis; „denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich". Freilich muß H e g e l von seinem Standpunkte aus anschließend von dieser unmittelbaren Erkenntnis sagen, sie sei, verglichen mit der logisch-erkenntnistheoretischen, abstrakteste und ärmste Wahrheit, weil ihre einzige Aussage von dem Gegenstande laute: er i s t ; „und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache"; und das Bewußtsein sei insofern nichts als reines Ich; Ich darin nur als reiner Dieser und der Gegenstand nur als reines Dieses. Wir können aber wohl etwas von Bedeutung über das Verhalten des reinen Ich, über uns als reine Diese, aussagen mit Hilfe einer Besinnung auf uns im vorrationalen Zustande; denn so gut wie es H e g e l möglich ist, die angeführten Aussagen zu machen, die das Sein betreffen, wird es möglich, von der B e w e g t h e i t Rechenschaft zu geben, die allem Sein eignet und ihm eignen muß, um f ü r uns zu sein. Eine Beschreibung der Wahrnehmung gibt erste Wegweisung. Sie zeigt eine Reihe von uns allen geläufigen Zuo . (Ausgabe Otto Weiß, 1909) S.73f.

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standen, welche einen „Gesamtseelenzusammenhang" charakteristisch beleuchten. Da ist zunächst das eigenartige gleichzeitige Gegebensein von Beachtetem und Unbeachtetem mit einem ständigen oszillierenden Übergang vom einen zum andern, ein stetes Hinundhergleiten zwischen mehr und minder Beachtetem. Damit ist verbunden ein „Mithaben" des von unserm Sehwinkel Abgewandten, d. h. des im Sehraum nicht bewußt Gesehenen und fester Abgegrenzten. Noch rätselhafter, und von der Psychologie in keiner Weise begreiflich zu machen, ist das Phänomen der Tiefe. Sehen wir sie oder sehen wir sie den Dingen nur an, etwa wie'man dem Sammet seine Weiche, der dampfenden Suppe die Hitze, dem Eisenstab die Schwere ansieht? Solche Erlebnisse im Wahrnehmungsvorgang verraten eine vorpsychologische Haltung, in welcher das Ich oder die Seele gleichsam nur hingegeben ist und sich die Wirklichkeit in ihm oder in ihr spiegelt, und jenes Oszillieren wäre zu vergleichen mit dem leicht gekräuselten Spiegel des Meeres, auf dem ein anmutiges Spiel zwischen Sonnenstrahlen und Wellengekräusel gespielt wird, ohne daß auf der zitternden Fläche Sonnengold und Wellengrün je fest umgrenzt und gegeneinander abgegrenzt wären. Th. Lipps hat einmal versucht, diese Ureinheit des Objektiven und Subjektiven auch noch in den elementarsten Empfindungen und Vorstellungen zu beschreiben. Die objektive Seite an ihnen sind die Inhalte, welche mit ihnen aktuell verbunden sind, während die subjektive Seite darin liegt, daß sie eben in der „Seele" gegeben sind. Aber Lipps lehrt diese subjektive und objektive Seite nicht gegensätzlich zu denken; das Wort Inhalt schließe das Erlebtsein, schließt mein Erleben mit in sich. „Das Erlebtwerden des Empfindungsinhalts ist nicht einfaches Dasein oder Stattfinden, nämlich bewußtes Dasein oder Stattfinden im Bewußtsein,... das Erlebte ist selbst das Erleben und umgekehrt. Es findet nicht mehr jener Gegensatz statt zwischen einer subjektiven und objektiven Seite, sondern die Sache hat nur eine Seite, die subjektiv ist und objektiv zugleich. Das Erleben ist subjektiv als das Erleben* und es ist objektiv, sofern sein Dasein zugleich ein Erlebtsein ist 1 )." Bewußtsein und Gegenstände, Psycholog. Untersuchungen, Bd. I, 1. S. 7.



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Unser erster Eingriff in diese Einheit, damit der Beginn ihrer Gliederung, erfolgt durch den Äkt der A u f m e r k s a m k e i t . Das ist jene Regung des Ich, jener Willensakt der Seele, in welchem und durch welchen die subjektive Seite sich die objektive als ein Gegenüber schafft. Seelische Kraft — so mag man sich den Vorgang der Aufmerksamkeit verbildlichen — ballt sich in irgendwelchem Grade zusammen, so wie es die jeweiligen biologischen oder sonstigen Verhältnisse bedingen, und dabei wird die Ureinheit aufgelockert, dieses oder jenes in ihr aufmerksamkeitsbetonter und dadurch hervorgehoben, mehr beachtet. Und so sehr ist die Aufmerksamkeit die Grundtatsache allen Seelenlebens, daß auch ihr der Charakter des steten Schwankens, des Oszillierens, des Hinundhergehens zwischen der Fülle der Inhalte eignet, eine Eigenschaft, welche die Psychologen in den verschiedensten Bildern zu beschreiben suchen: Äufmerksamkeitsfeld und Blickpunkt (Wundt), Bewußtseinsfeld und seine Fransen (Jam^s), Fokal- und Randobjekt (Lloyd Morgan). Es ist durchaus berechtigt, die Entstehung von Aufmerksamkeit mit der a f f e k t i v e n Seite des Seelenlebens in engere Beziehung zu bringen und in ihr mit J. W i t t m a n n „eine Art Uraffekt" zu sehen, ebenso wie sie mit b i o l o g i s c h wertvollen Erhaltungsinstinkten zusammenzubringen. Und insofern die Aufmerksamkeit die Grundlage aller Apperzeption ist, aller tätigen denkenden Verarbeitung des Gegebenen, so kann behauptet werden, „daß die Menschen überhaupt erst durch a f f e k t i v e Reaktionen zu jedweder apperzeptiven Auffassung gleichsam getrieben werden; und in diesen synthetisch-analytischen Apperzeptionen, diesen p r i m ä r e n U r t e i l e n , allein besteht das s c h ö p f e r i s c h e Neud e n k e n , und nicht in der Handhabung der Formen der traditionellen Logik oder modernen Logistik. Denn diese Formen sind nur Formen eines sekundären Denkens, nur Formen der A n w e n d u n g des in jenen Apperzeptionen gewonnenen Erkenntnisbesitzes, zum Zwecke der O r d n u n g des G e d a c h t e n " 1 ) . Diese psychologischen Betrachtungen verhelfen auch zum Verständnis der bekannten Aussprüche P i a t o n s im „Theätet" J. Wittmann, a. a. 0 . S. 16.

— 56 — und eines Aristoteles in der „Metaphysik": die Verwunderung (θαυμαΖειν) und nichts anderes sei der Anfang der Philosophie. Sie setzen an den Beginn des tiefsten Nachdenkens der Menschen über sich selbst und die Welt, ihr Sein und ihre Verhältnisse, einen Affekt, den der staunenden Bewunderung. Von hier aus gewinnt auch Hermann Keyserlings Versuch seine Berechtigung, die Verschiedenheiten in der metaphysischen Haltung ganzer Völker und Rassen nicht aus ihrem dialektischlogischen Vermögen, sondern aus ihrer affektiven Einstellung zur Welt erklären. Z.B. ist der Hindugeist wegen seiner, uns phantastisch erscheinenden, Art durch und durch irrational, auch in seinen bunten und reichen „Systemen". „Ebenso üppig und wild wie die Vorstellungen vegetieren auch deren Interpretationen; ebenso schrankenlos wie die Götter und Geister vermehren sich die Systeme der Philosophie. Nie hat in Indien die Logik die Prätention gehabt, letztmögliche Zusammenhänge herzustellen; das hat sie in richtiger Selbsteinschätzung der mystischen Intuition überlassen . . . Aber man tut unrecht, indem man ihr den Vorwurf macht, daß sie nie das Äußerste erstrebt hätte, daß unter den Indern kein Parmenides und kein Hegel erstanden sind. An logischer Schärfe stehen die Hindus den Europäern nicht nach ; es wäre ihnen gewiß nicht schwer gefallen, ähnliche Weltsysteme zu konstruieren. Sie haben es nicht getan, weil sie als Metaphysiker zu tief hierzu waren; sie haben gewußt, daß der logische Verstand nicht bis zur Wurzel reicht; sie sind nie Rationalisten gewesen... In Indien gelten drei Grunddeutungen der Vedanta und Sutras als gleich orthodox: eine monistische, eine dualistische und eine theistische; und von diesen ausgehend mehrere Hunderte sich mehr oder weniger widersprechender Systeme. Was bedeutet das? Daß die Inder sich tief bewußt sind der Kontingenz aller Vernunftkonstruktionen, daß es keiner gelingen kann, vom metaphysisch Wirklichen ein unverfälschtes Bild zu geben; daß sie alle ä peu pres bedeuten. Die Europäer1), wenn sie Ähnliches erkennen, erklären der Vernunft Den Gegensatz kann diese Tatsache in etwa beleuchten: Der Papst verlangte im Modernisteneid Festlegung auf eine ganz bestimmte „wissenschaftliche" Einstellung, nämlich, daB das Dasein Gottes wissen-



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daraufhin den Krieg. Die Inder, auch hierin die Weiseren, lassen sie desto freier gewähren. Keine Gestaltung ist metaphysisch ernst zu nehmen; aber alle sind empirisch existenzberechtigt 1 )." Der östliche Mensch ist unmittelbarer als der europäische; daher kann er üppigste Wucherungen des Verstandes mit absoluter Gleichgültigkeit allem Rationalen gegenüber vereinen. Räumen wir solchen Vergleichen das Recht ein, auf affektive Verschiedenheiten in den letzten Gründen der Lebenshaltung zurückzugehen, so stehen wir auch verständnisvoller gegenüber dem Versuche desselben Weltreisenden, die metaphysische Deutung der Wirklichkeit mit d«m Klima und der den Menschen umgebenden Natur in Beziehung zu bringen, auch Volkscharakter und Klima in innere Beziehung zueinander zu setzen. Der Mensch muß das Sein so deuten, wie er im Seienden steht, d. h. für den Nordländer wirkend, für den Inder in ihm aufgehend, für den Griechen ruhend. Und aus diesen Betrachtungen erklären sich Keyserlings Urteile, wir seien physiologisch Christen wie alle Chinesen physiologisch Konfuzianer8). Und das Ergebnis dieser Weltreise, für ihn gleich dem kürzesten Wege, zu sich selbst und seiner Selbstverwirklichung näher zu kommen, wurde dies: Die wesentliche Wahrheit lebt jenseits der Sphäre bestimmter Gestaltung. „Es ist eine Frage der Voraussetzungen, ob diese oder jene Form entsteht, es hängt von den Zwecken ab, die man verfolgt, ob man diese oder jene höher wertet. Zur äußeren Gestaltung des Lebens, zur objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten; eine indische zur Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Konkretisierung der Idee, eine japanische zur ästhetischen Naturverbundenheit, und so fort. Keine Formel ist die höchste im metaphysischen Sinn, jede stellt einen möglichen Ausdruck schaftlich zu beweisen sei. Danach wären die Intuitionisten Ketzer; so sehr steht das christliche Abendland auf Rationalität, ist es theologisch Kind der Gnosis. Μ fl. a. Ο. S. 115 f. Ä. a. 0 . S. 33 ff., 187, 202 f., 535.



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des Absoluten dar, jeder Sonderausdruck bedingt spezifische Grenzen1)." Der wahrhaft metaphysische Mensch wird sich darum gesinnungsmäßig als duldsam-verstehend, versöhnlich-weltüberlegen erweisen, als Mensch der großen Deutung des Seienden ein Mensch des großen Verstehens sein, als Weiser die aurea quies des mittelalterlichen Weisen besitzen. Äus diesem Erleben und seiner Gestimmheit heraus haben darum die Metaphysiker (und ähnlich die Mystiker2) das Seiende selber als ruhend oder ruhende Tätigkeit, als „wesend", als Atmen eines traumlos Schlafenden usf. vorgestellt und somit den eigenen Frieden als Widerspiegelung des Alls in ihrer Brust empfunden. Welchen Wert kann metaphysische Haltung und Deutung für uns als Wissenschaftler besitzen? Sind metaphysische und wissenschaftliche Haltung unaufhebbare Gegensätze? Hätte positivistischer Geist das letzte Wort über Wissenschaft und wissenschaftliche Betätigung gesprochen, müßten sie sich ausschließen. Allein über seine Einseitigkeit und die Notwendigkeit, ihn zu verbessern und zu ergänzen, herrscht unter uns seit mehr als einem Jahrzehnt steigend Einvernehmen. Das intuitive Moment im Grunde von Logik und Wissenschaft wird offener herausgestellt, aber auch die Tatsache, daß nur in einer von der wissenschaftlichen i. e. S. unterschiedenen Haltung des Menschen zur Wirklichkeit diese sich in neuen Bildern, in neuen Formen und Formeln enthüllt3). So war es also ein berechtig!) A. a. 0 . S. 819. 2 ) „In dem Wesen gibt es keinerlei Werk. Denn die Kräfte, vermittelst deren sie wirkt, die entspringen wohl aus dem Grunde der Seele, aber in dem Grunde selber ist nur das tiefe Schweigen" (Eckehart). s ) Hierher muß auch gezogen werden, was Erich Jaen&ch „Wirklichkeit und Wert", S. XIVf. u. ö. über die Bedeutung der Kohärenz mit dem Lebendigen sagt, „als die imerläßliche Vorbedingung für das Sichtbarwerden neuer Seiten des Lebenswirklichen, besonders aber der in ihm enthaltenen Werte. Im Zustand der Kohärenz ist das Auge den Dingen, auf welchen es ruht, mit Liebe hingegeben. Dem Äuge der Liebe aber, und vielleicht ihm allein, werden die im Wirklichen beschlossenen Werte sichtbar. Dieses Auge war eine zeitlang trübe geworden".



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tes höchstes Bemühen eines der größten Dichter aller Zeiten, das „Schauen" zu einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n Methode zu erheben 1 ). Goethe hat in seinen mannigfaltigen naturwissenschaftlichen Studien stets eine Haltung zu wahren gesucht, welche der metaphysischen am nächsten kommt. Die Natur war ihm eine Einheit, ein einheitlicher lebendiger Organismus, „alles mit einem Male"; das Ziel muß daher werden, jedes Naturphänomen, das uns ja verschiedene Seiten bietet, „in seiner ganzen Totalität zu erkennen". Dazu ist es nötig, der Natur auf ihren Schritten „so bedachtsam als möglich" zu folgen und jedes Phänomen in einer vollständigen Betrachtung, einer Schauung zu erfassen. Verstand, Einbildungskraft und Witz, die isolierende Reflexion und die das Wirkliche nur zu leicht vergewaltigende Spekulation müssen dagegen im Hintergrunde verharren, und statt dessen „der ruhige Sinn, der gesunde Menschenverstand" möglichst unbefangen, natürlich, mit „eigenen frischen Äugen" sehen. Nur so gelangt der Mensch zu „Erfahrungen höherer Art", womit Goethe sein Verfahren dem rohen Empirismus gegenüber abgrenzen wollte. Die höhere Erfahrung will „die lebendige Bildung als solche erkennen, ihre äußeren, sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufnehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen beherrschen". Ein Mensch, der so zu schauen vermag, wird fähig, der Natur „den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken"; denn für ihn beginnt das Zergliedern, das Prüfen und Vergleichen erst dann, wenn die höhere Erfahrung erreicht ist, und zwar, um nun nachträglich die „liebliche volle Gewißheit" zu erlangen, daß er schaute, nicht schwärmte. Goethe lehrte: „Wir sind aufs Leben und nicht auf die Betrachtung angewiesen"; er sah den Menschen in einen Mittelzustand gesetzt und ihm daher nur erlaubt, „das Mittlere zu erkennen und zu ergreifen", weshalb er sich auch bescheiden und nicht wähnen solle, er könne der Natur Vorschriften machen, ihr, wie K a n t lehrte, Gesetze a priori vorschreiben. „Die Natur Μ Vgl. meine Schrift: Goethe und Aristoteles, 191«, bes. S. 37ff., 55 ff.



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hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spuren verfolgen". Also bleibt kein anderer Weg als dieser, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, und dann, was im Einfachsten erschaut und erkannt ist, im Zusammengesetzten zu vermuten und zu g l a u b e n . Es gibt, so führen wir diese Gedanken weiter, auch den Phänomenen der Menschenwelt gegenüber, vor allem insofern wir sie in die Erziehungswirklichkeit einbeschlossen sehen und als ihr angehörig betrachten wollen, keinen anderen Weg als diesen von Goethe vorgezeichneten, keinen andern, wenn es um Begreifen und Deuten der letzten Zusammenhänge geht, und wir kennen darum auch keine andere Lösung, um das Wirkliche für uns darzustellen, als der Dichter, nämlich: K u n s t und Tat. Damit ist weiterhin für alle praktische Erziehung, für alle M e n s c h e n b e h a n d l u n g gleichfalls angedeutet, daß sie niemals gleich Kalkulation sein kann. Mit Menschen läßt sich niemals rechnen; sie sind nicht Zahlen mit feststehendem konventionellem Werte. Es gibt auch kein „System" der Behandlung, sondern nur Arten und Weisen des Verhaltens, Möglichkeiten. Wer seinen Verkehr mit Menschen, und mehr noch seine erzieherischen Einwirkungen auf Menschen, nach Statuten regelt, danach etwa seine „Pflicht" erfüllt, erwarte nichts. Wer seine Schulwelt, wer seinen Unterricht, sofern diese mehr als reine Belehrung geben sollen, ja auch nur wenn sie dies in einem volleren Sinne anstreben, rechnerisch aufbaut, logisch-dialektisch zurechtlegt und meint, dabei Zielen höheren Menschentums zu dienen, der wird erleben, daß er unvermeidlich Menschentum bricht und sich zugleich um die wertvollsten, tiefsten Wirkungen bringt. Von hier aus verstehen sich Berechtigung, Grenzen undGefahr vonPsychoanalyse, Individualpsychologie, aber auch von Arbeitsschule, Erlebnisschule, von Arten und Methoden des Unterrichts, vonPsychoanalyse, Individualpsychologie, aber auch von ArbeitsLeben, und wer methodengläubig, wissenschaftsselig, verwal-



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tungsmäßig an Menschenleben herangeht und es in irgendwelche Schemata pressen will, der vergeht sich am Besten, am Menschen selber. Unsre Schulorganisation wie unser Unterrichtsbetrieb sind übervoll an Grausamkeiten gegen Kinder und Jugendliche, für die aber Gesetze, Richtlinien, Aufsichtsinstanzen, übernommene fortgeschleppte Routine, Methodengläubigkeit und starr gewordener Handwerksgeist nicht nur Entschuldigungen, sondern sogar Begründung aufbringen. 5. Die W i r k l i c h k e i t als Geist und Leben. — Welche weitere allgemeinste Aussage über die Wirklichkeit gestattet uns eine schauende Betrachtung? Wir haben bislang sie nur als sinnvolle Einheit (unnm) bezeichnen müssen. Unser Bemühen, die metaphysische Haltung und Deutung begreiflich zu machen, hat uns aber einen bedeutsamen Einblick gestattet. Als wir uns in die elementarsten seelischen Regungen hineinzuversetzen suchten, gelangten wir zur Aufmerksamkeit als einer Art Uraffekt und konnten sie nur begreifen als ein Zusammentreffen biopsychischer Kräfte im Menschen zum Zwecke einer Selbstbehauptung des Lebewesens. Es muß daher eine Kraft auf uns als ebenfalls Kraft einwirken, damit solche Akte der Selbstbehauptung jener Kraft gegenüber zustande kommen, wie auch nach M a r t i n H e i d e g g e r das Nichts uns in einer Wesensschau sich enthüllt in der Angst, als einem Verharren des ganzen Ich gegenüber einer Macht, einer Kraft, die über uns zu kommen scheint 1 ). Die Wirklichkeit muß in irgendwelchem Sinne Kraft, ein Tätiges sein, und es muß nach dem uralten Erkenntnisgrundsatz, daß nur Gleiches Gleiches, Ähnliches Ähnliches erkennen kann, Geist gegen Geist stehen, Geist auf Geist wirken. Die Wirklichkeit, das Seiende, ist K r a f t g e i s t i g e r Art, und sie muß lebendige Kraft sein; denn mit dem Begriff des Geistes ist für uns derjenige des Lebens unlöslich verbunden gegeben. G e o r g Simmel hat gemeint, es müsse etwas geben, das über das Leben hinübergriffe, das selber nicht mehr Leben sei, daher auch nichts seelisch Wirkliches, also etwas wie ein Gegen-Leben. Und die Wirklichkeit ist ihm von den Spannungen !) Was ist Metaphysik?, 1929, S. 16f.



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dieser beiden Urgegensätze durchzogen, ja die geistige Wirklichkeit ist in ihrer Erscheinungsform bedingt durch die Auseinandersetzungen, Verbindungen, Auflösungen, welche diese beiden miteinander eingehen. Allein wo liegt die Nötigung, jenen Gegensatz als einen nicht-lebendigen aufzufassen, wenn man voir der Setzung im rein logischen Sinne absieht? Sowenig es metaphysische Annaihme sein kann, zu behaupten, das absolute Leben, das absolute Geistige sei allem uns bekannten Lebendigen und Geistigen schlechthin gleich, demnadi auch gleich beschränkt, so können wir doch niemals anders, als es Leben und Geist nennen und unser Leben und u n s e r n Geist von seiner Art nennen. Wir können „ungeistig" niemals verstehen als vollkommen ohne Geist, sondern nur als in verschiedenstem Grade des Geistes ermangelnd oder als geringwertigere Grade von Geist, aber der absolute Gegenbegriff zu Geist bleibt für uns nichts anderes als ein Gegenwort. Leben aber kann sich zu,NichtLeben oder Gegen-Leben nicht anders verhalten als Erleben zu Nicht-Erleben 1 ). Wir besitzen kein Nicht-Erleben, im G e g e n s a t z zu welchem wir das Erleben als solches charakterisieren könnten. Wir können uns kein Nicht-Erleben vorstellen, sondern kennen nur größere oder geringere Intensitäten des Erlebens, ein Mehr oder Weniger, ein Stärker oder Schwächer des Erlebens, und besitzen in diesem Sinne dann den Begriff des Nicht-Erlebens; ähnlich wie wir auch den Begriff des Unbewußten nur im Sinne eines mehr oder weniger Bewußten besitzen. Deutlich wird damit auch, daß Tod und Leiben in e i n e Linie kommen, wie es v. E h r e n b e r g in seiner „Theoretischen Biologie" ausführt, die den Tod als das Bestimmende, das Ziehende im Strome des Lebens auffaßt. Die Wirklichkeit ist uns als Eins, als Einheit geistige lebendige Kraft; ή γαρ νους ενεργεία, ίωη, und im absoluten Sinne Ζωη άριστη και αϊδιος. Das Kennzeichen des Geistigen in der Erscheinungswelt liegt stets in dem, was wir an etwas seine Gestalt, seine Form, seinen Stil u. dgl. nennen. Darin sehen wir Offenbarungen, !) Vgl. Paul Hofmann, Die antithetische Struktur des BewuBtseins, 1911, S. 25 ff.

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Seiten der Wirklichkeit und bewundern wir ihren unausschöpfbaren Reichtum an Gestalten und Formen. Immer neue Seiten erschließen sich uns, werden erschaut, werden darzustellen und zu leben versucht. Und es unterscheidet wiederum grundsätzlich die große abwartende, schauende Haltung des Metaphysikers von derjenigen des Rationalisten und des Nur-Wissenschaftlers und nähert sie derjenigen des Künstlers, daß der Metaphysiker weiß, daß in keiner Form, keinem Werke, keinem Gesetze jemals die Wirklichkeit selbst zum vollen Ausdruck gelangt noch gelangen kann und daß er nun d a n a c h seine Welt- und Menschenbetraditung wie Menschenbehandlung einstellt. Alles Einzelne ist als ein G e f o r m t e s Geistwirkung und eben darin ein sichtbares Zeugnis für den geistigen Ursprung, aber weder d a s Einzelne noch der Einzelne können jemals der voile Ausdruck des Wirklichen sein. Vielmehr ist alles Einzelne und jeder Einzelne dem Los unterworfen, in seiner Erscheinungsform zu erstarren und sich zu verwandeln in neue Form. Innerhalb der sogenannten leblosen Natur ist Geistiges sichtbar in dem, was wir ihre Formation, ihre Massigkeit oder Linien u„ dgl. als Äußerungen formender Kräfte nennen. W o l f g a n g Köhler hat gezeigt, daß auch in der physischen Welt Verbände von „Gestalt"charakter vorkommen, und er hat darum für die „bloße" unbelebte Natur Würde beansprucht. In der Pflanzenwelt kündet von der schöpferischen Macht im Grunde die Tatsache, daß auch hier nichts in zwei gleichen Stücken vorhanden ist oder als Gleiches wiederkehrt, ferner der Rhythmus des Auflebens und Ablebens, des Blühens und Welkens (nicht d a s Aufleben, Sterben, Blühen und Welken als solches zeugt vom Geiste, sondern das, was wir an diesen oder in diesen Vorgängen als die Form des Lebensablaufs, eben als das Rhythmische in ihnen anschauen), sodann das Aufwachsen zu typischen Lebensformen innerhalb der verschiedenen Arten, die trotz jener nie zu fin-, denden Gleichheit einzelner Stücke dennoch den Arttypus niemals verkennen lassen, sodaß man vom Typus als Kollektivform sprechen kann. Ähnlich in der Tierwelt, in welcher, wenigstens bei allen höheren Arten, die örtliche Bewegungsfreiheit gewonnen ist. Erst in der Menschenwelt wird aber neben und zu all

— 64 — dem Genannten den Individuen eine Freiheit gewährt, daß von ihr gesagt werden konnte 1 ): „Gott kann nicht, was wir wollen; sonst würde er uns nicht so frei gewähren lassen." So ist erst in der Menschenwelt mit dem Bewußtsein und Sich-selbst-bewußtsein auch jenes Freisein erreicht, wodurch der Mensch sich selber in seinen schöpferischen Taten als Glied der Wirklichkeit fühlen, seine Selbstverwirklichung als seine Bestimmung, diese als ein Geistwerden und als auch seine geistige Tat erkennen, sich seiner selbst als Werk seiner selbst bewußt werden kann, und darin gründen seine sittliche Würde und sein Menschentum2). 6. Von Wirklichkeiten reden wir als Seiten der Wirklichkeit, die wir Menschen erleben und nachher uns bewußt zu machen suchen. Die Grundarten oder Typen solcher Wirklidikeiten sind für uns nicht absolut abzugrenzen. Typische Erlebnismöglichkeiten für Wirklichkeit besitzt der Mensch ohne Zweifel ebensoviele wie er Arten von der Art nach verschiedenen affektiven Verhaltensweisen, Perzeptionen, Vorstellungen usw. hat. Bekanntlich sind die optisch-räumlichen und die akustischen Möglichkeiten am weitesten entfaltet, obwohl auch hier kaum jemand wagen wird zu behaupten, alle Möglichkeiten seien ausgeschöpft. Im letzten und dem voraufgehenden Jahrzehnt sind besonders die im Menschen angelegten rhythmischen Möglichkeiten entwickelt und stärker gepflegt uns erschlossen worden. David Κ atz hat vor wenig Jahren erst den sog. „Vibrationssinn" entdeckt, mit dessen Hilfe sich Taube, wie vor allem Helen Keller und Sutermeister in Zürich, den Genuß der Musik und der Dichtung verschaffen können. Auf jeden Fall wird derjenige, der die reichsten Seiten seines Wesens und zugleich die vielseitigsten entwickelt hat, den größeren Reichtum an Wirklichkeitserlebnissen besitzen und die beste Gewähr dafür haben können, seine Selbstverwirklichung zu vervollkommnen. Immer freilich kommt es auf die harmonische (d. h. nicht: gleichmäßige oder gleichartige) Entfaltung an, und jede Einseitigkeit irgendeiner Erlebnisseite, im Sinne einer Hypertrophie, Hermann Keyserling, Tagebuch, S. 169. η Vgl. u. S. 120ff.



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führt unweigerlich zu Störungen und Schädigungen, die den Fortgang der Vergeistigung hindern, da sie zur Erstarrung, zur Verkrampfung, ja selbst zur Vergiftung des individuellen Geistlebens führen können, sodaß eine Form zerschlagen werden muB, um in neuer Geburt den rechten Weg zu finden.

§ 3.

Beziehungen und Gebilde. Das Werten und die Werte. 1. B e z i e h u n g e n und Gebilde. Für uns, die lebenden und handelnden, die aufnehmenden und erkennenden Menschen ragt aus dem Grunde der Wirklichkeit ein vielmaschiges Gewebe von B e z i e h u n g e n heraus. Es sind das jene unzählbaren Beziehungen erster, zweiter und weiterer Ordnung, in denen die Individuen der Natur und der Menschenwelt zueinander und zu den von ihnen dargestellten oder geschaffenen und erhaltenen G e b i l d e n stehen. Alles In-Beziehung-Stehen hängt ursprünglich mit dem Vorgange und der Tatsache der Individuation zusammen, damit, daß E i n z e l n e s bestimmt ist, Träger des Sinnes zu sein, damit, daß die Einheit von der Vielheit getragen und dargestellt wird. Die Urbeziehung für Naturformen wie für Natur- und Menschenwesen, also für Fluß und Berg, wie für Baum, Maus und Me.nsch, ist die r ä u m l i c h - z e i t l i c h e , und zwar als eine Einheit derart, daß sie nur für die Zwecke einer methodischen Betrachtung auseinandergelegt werden kann und darf. In Wirklichkeit bildet die räumlich-zeitliche Beziehung stets eine einheitliche Wirklichkeitsbeziehung. Sie bedeutet: jedes Einzelne ist von Anfang seiner Erscheinung an fest und für die Dauer seiner Erscheinung unentrinnbar nach zwei Seiten bestimmt: a) durch den Raum, in welchem es erscheint, und durch den Zeitmoment, in welchem es als Glied einer in die Ewigkeit zurückreichenden Kette früherer Erscheinungen hervortritt; sodann b) durch die raumzeitlichen V e r ä n d e r u n g e n während der Spanne seiner Erscheinung als Einzelnes. Dadurch Ρ e t e r s e η , Erziehungswissenschaft.

II.

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ist der Naturgrund für a l l e weiteren Beziehungen gezeichnet, den kein Einzelnes jemals überschreiten oder auf die Dauer verleugnen kann. Auch alles, was eine Soziologie in ihrer Beziehungs- Und Gebildelehre zusammenstellen und ordnen mag, geht in letzter Betrachtung und für ein volles Verstehen in diese Tiefe zurück. Vor allem ist es wieder der Raum mit den Tatsachen des gemeinsamen Wohnens, der Nachbarschaft und des Zusammenstehens, den man als „recht eigentlich ein soziologisches Urphänomen" bezeichnen konnte, um mit Recht auch darauf hinzuweisen, daß deswegen Staaitsrecht und Politik stets an die Tatsache der Raumverbundenheit anknüpfen 1 ). Allein es ist ohne weiteres ebenso einleuchtend, daß für die Menschen im Raum von genau derselben e r s t e n Bedeutung die Blutsverbundenheit ist, d. h. ihre zeitliche Einlagerung, ihre Herkunft, ihre Abstammung. Was aus einer Gesellschaftslehre wird, welche die räumlichzeitliche Urbeziehung des Menschen überspringen zu können glaubt, das lehrt in unseren Tagen diejenige Leopold von Wieses und seiner Schule. Sie ist eine scholastische Entartung, entsprechend den „Gärten" der scholastischen Ethik und Metaphysik um 1600; ein trockenes, lebenleeres Lexikon der heute vorgefundenen sozialen Beziehungen, das Bild eines Gartens, wie ihn nur ein Museum aufstellen kann mit dürren Hölzern, gepreßten Blumen, ausgestopften und präparierten Lebewesen. Keine Gesellschaftslehre, ja überhaupt keine Lehre von den menschlichen Beziehungen und Gebilden in der sozialen und geistigen Welt, kann sich wahrhaft wertvoll entfalten, wenn sie nicht ständig an deren Verwobenheit mit allen Regungen einer „Kulturseele" denkt und diese aus ihrer räumlich-zeitlichen Bedingtheit begreift. O s w a l d S p e n g l e r hat recht geschaut und von Leo F r o b e n i u s gelernt: jede Kultur „erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren L a n d s c h a f t , an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Jede Kultur stirbt, wenn diese Seek die Formenfülle ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, WissenFranz Eulenburg gegen L. von Wiese in der „Kölner Vierteljahrsschrift für Sozialwissenschaft, I. 3. S. 58f.



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Schäften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt" 1 ). Und vorher schon hat R a t z e l in seiner „Anthropogeographie" und dann Willy H e l l p a c h mit seinen Untersuchungen über die „geopsychischen" Erscheinungen Wege gewiesen, die allen Wissenschaften ganz neue Perspektiven eröffnen, sobald diese anfangen, über ihre isolierende Betrachtungsweise hinauszugehen, eine Bewegung, die unter uns bereits erfolgreich anhebt. Physiologie und Psychologie, Biologie und Anthropologie, sämtliche Kulturwissenschaften beginnen den Menschen in der Totalität seiner Beziehungen und in erster Linie in seiner Naturverbundenheit und -gewachsenheit zu begreifen, wandeln demnach ihre Methoden und Prinzipien. Unter den Kulturwissenschaften ist es besonders die Volkskunde, welche sich früh auf diese lebensvollere Betrachtung des Menschen und seiner kulturschaffenden Arbeit einstellte. Und das ist nicht zu verwundern. Denn kaum eine andere Wissenschaft kann geradezu plastisch den Zusammenhang zwischen Mensch und Mensch einerseits und der Landschaft und den Blutszusammenhängen andererseits derart erfühlen und sichtbar machen wie sie. Heute freilich mischt sich immer noch sehr oft und gern die Klage ein um verlorene Schönheit, um vergeudeten Reichtum an Volksgut edelster Art, so wenn L u d w i g K l a g e s erschaudert über die Selbstzersetzung des Menschentums, über den Untergang der Seele in einem fortschrittstollen Alter und fragt: „Wo sind die Volksfeste und heiligen Bräuche geblieben, dieser Jahrtausende lang unversiegbare Born für Mythus und Dichtung: der Flurumritt zum Gedeihen der Saaten, der Zug der Pfingstbraut, der Fackellauf durch die Kornfelder! Wo der verwirrende Reichtum der Trachten, in denen jedes Volk sein Wesen, dem Bilde der Landschaft eingepaßt, zum Ausdruck brachte! Für die reichen Gehänge, bunten Mieder, gestickten Westen, metallschweren Gürtel, leichten Sandalen oder die tmr'kaartigen Überwürfe, fließenden Kimonos beschert die „Zivilisation" auf der ganzen Erde den Männern das Grau des Sakkoanzuges, den Frauen die — neueste Pariser M o d e ! . . . J) Untergang des Abendlandes, I, 1929, S. 142.

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Wo endlich blieb das Volkslied, der uralt ewig neue Liederschatz, der alles Menschenwerden und -vergehen sänftigend wie in ein silbernes Gespinst verbarg! Hochzeit und Leichenfeier, Rache, Krieg und Untergang, Zecherübermut und Wandersinn, Reiterkeckheit, Kindsgefühl und Mutterlust atmete und strömte in unerschöpflichen Liedern, bald zu heißer Tat anfachend, bald in den Schlummer des Vergessens wiegend. Man dichtete und sang beim Tanz, beim vollen Becher, bei Abschied und Wiederkehr, bei Weihung und Zauberspruch, im Dämmer der Spinnstube, vor der Schlacht, an der Bahre des Gefallenen, man reizte sich auf durch Spottlieder, focht Zwist in Wettgesängen aus, umwob mit dunkelheller Poesie Gebirge, Quell und Strauch, Haustier, Wild und Pflanze, Wolkenzug und Regenguß. Und was uns heute durchzuführen fast schon versagt ist, sogar die Arbeit wurde zur Feier. Nicht im Wandern und bei festlichem Gelage nur, man sang auch beim Winden des Ankers und zum Rhythmus des Ruderschlages, beim Tragen schwerer Lasten und beim Treideln der Schiffe, beim Binden der Fässer, zum Takt des Schmiedehammers, beim Streuen der Saat, beim Mähen, Dreschen, Mahlen der Körner, beim Flachsbrechen, Weben und Flechten 1 )." Diese Sentimentalität, mit der Vergangenes so gern betrachtet wird, birgt ihre großen Gefahren; sie hat dazu geführt, Altes, wenn es nur alt ist, im Wert zu übersteigern, auch auf Kosten der Lebenden und ihrer Schöpfungen. Die Mehrheit der „Sammlungen" birgt eine Unmenge Gegenstände dritten und noch geringeren Wertes. Andererseits hat sich längst in allen Ländern, die begehrte Antiquitäten besitzen, eine eigene Industrie aufgetan, um den Bedarf an Altem zu decken in Fälschungen, die kaum das Auge des Kenners herausfinden kann. In falscher Pietät und ohne Sinn für wahre Kunst haben ζ. B. Städte alte Bauwerke, Tore u. dgl. bloß gelegt und lassen sie nun inmitten moderner oder modern verschandelter Plätze und Straßen völlig beziehungslos stehen. So könnte einer mitten in einem neuzeitlichen Wohnhause einen alten Lehmherd mit Rauchfang stehen !) Mensch und Erde, 1920, S. 30f.



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lassen und nur Sorge tragen, daß man nicht allzu sehr in der Bewegungsfreiheit gestört werde oder daß man beim Betreten und beim Arbeiten in der modernen Küche nicht erst einen Umweg zu den elektrischen Kochapparaten machen muß. Auch in der privaten Wohnweise findet sich immer noch oft die gleiche Stillosigkeit, der Mangel an Vertrauen zu sich selbst und zur Kultur seiner Zeit, der sich dann darin ausprägt, daß solche Menschen es vorziehen, in mehreren Stilen stillos zu wohnen, auch wenn sie es sich anders leisten könnten. Ferner wird wohl Altes bewundert, das es gar nicht verdient, so alte Bauerntrachten, die überhaupt nicht ein bodenständiges, freies bäurisches Selbstbewußtsein oder dergleichen verraten, sondern dieselbe Unfähigkeit des Bauern, selbst aus sich zu schaffen wie heute, wo er auch städtischen Kunstkitsch und Wohnstilkitsch übernahm. Etwa die Dachauer Bauern, die Leibi durch seine Bilder so bekannt gemacht hat, haben in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in der Hauptstadt abgelegte Trachten aufgekauft und sich damit herausgeputzt. Was ist daran zu bewundern oder gar wehleidig zu beklagen, wenn solche Trachten verschwinden? „Die geschichtlichen Symbole, Töricht, wer sie wichtig hält; Immer forschet er ins Hohle Und versäumt die reiche Welt." (Goethe.) Auch sollte es klar sein, daß in der schlechtfoinnigen Erneuerung alter Bräuche und Sitten für uns kein sicheres Mittel gegeben ist, u n s e r e n Seelen ihren heutigen Ausdruck zu geben. Wohl aber hat es einen hohen Wert, eine volkserzieherische Bedeutung, die Erinnerung an solche Zeiten dort zu wecken, — darum auch sie in ihrem Brauch vorzuführen, einmal miterleben, nacherleben zu lassen, — wo in unserem Volke Sitte und Brauch noch echte Naturverbundenheit des Menschen bezeugten. Denn das bekräftigt unsre Lehre, daß wir es hier mit Grundkräften zu tun haben, die nicht verschwinden, sondern nur zurückgestellt und in Zeiten, in denen sich andere Nöte vordrängen und Lösungen fordern, ungepflegt gelassen werden können. Aber sie sind ewige Kräfte; mit ihnen kann jederzeit gerechnet werden, an



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ihre Fähigkeit, der Zeit entsprechende neue Formen zu schaffen, darf ständig geglaubt werden, und das mit unfehlbarer Sicherheit. Daher bildet es eine vornehmste Aufgabe gerade auch des Pädagogen und des Volkserziehers, der Heimat- und Volkskunde gegenüber kritisch Stellung zu nehmen und den Mut zu besitzen, zu sagen, wie es wirklich steht. Und wer den rechten Standpunkt hat, der wird an das Alte in Dorf und Stadt anknüpfen als pädagogisches Mittel zur Erziehung zum richtigen Selbstbewußtsein, um G e g e n w a r t s k r ä f t e zu wecken: so lebten, handelten, feierten, ehrten, glaubten die Älten und — wir 1 )? Alles aber bestätigt, daß Mensch und Natur in Ursprungsgemeinschaft stehen und daß es darum den Menschen immer wieder zur Natur zurücktreiben wird, weil er sie aus Anlagekräften seines Wesens suchen muß 2 ). Damit ist von neuem gesagt, daß Mensch und Natur, beide, wirkender Geist sind. Also ist uns die Natur nicht „Vorstufe des Geistes", sondern selber Geist-Darstellung. Die Geistentfaltung in den Naturformen und Naturgebilden steht auf g l e i c h e r Linie wie diejenige in den Kulturformen und in allen Gebilden menschlichen Geistes. Was der Geist dort wirkt durch Tier, Pflanze und Stein, das treibt er hier durch menschliche Wesen hervor. Es ist darum auch das menschliche Wissen nicht, wie S c h e l l i n g meinte, ein Gegenbild der Natur, sondern ein Teil von ihr, eine andere Seite von ihr. Deswegen wird Wissen niemals imstande sein, die Natur allseitig zu erfassen, wie es vielleicht ein reiner Wissenschaftler oder ein Vertreter des philosophischen Rationalismus wähnen mag. So ist auch für jeden Menschen, der nicht zu einer bloßen Reflexionsmaschine geworden ist, die Natur nicht stumm, sondern sie redet zu ihm mit tausend Zungen und auf tausend Wegen. Und es bildet in unseren Tagen keine Zufallserscheinung, wenn in fast allen europäischen Ländern die Völker die heimatkundlichen Forschungen Ich verweise hier auf die hochbedeutsamen Arbeiten H a n s H a h n e s in Halle, an die eindringende Tätigkeit Th. S c h e f f e r s in Bad Berka und nenne aus der überreichen Literatur nur ein Büchlein: Hermann Albert Prietze, Natur und Volkstum, Hannover-Linden, 1920. 2 ) M. flllg. Erziehungswissenschaft, I. S. 61 ff.



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pflegen, darum die geistige Entfaltung ihrer Kinder, aych durch die Schulen, in engster Verbindung mit den heimatlichen Kräften geleitet wissen wollen. Wie man in der Psychologie dazu übergegangen ist, von seelischen Ganzheiten auszugehen, so in der Betrachtung des Menschen, seiner Art und seines Wissens, von der räumlich-zeitlichen Ganzheit, aus der er hervorgeht und in der er sein Leben führt. Das ist gleichzeitig der unausbleibliche Rückschlag auf die Erfahrungen mit den leergelaufenen Kunstgebilden des sozialen Lebens der letzten Geschlechter. Je mehr sich soziale Gebilde vom Naturboden entfernen, d. h. je konstruktiver sie sind, desto schemenhafter, blutleerer, werden sie, Nur-Formen. So sind leer gelaufen die Staatspolitik, die sich zu sehr auf den Geschäftsmann eingestellt hatte und noch hat 2 ), und der in Bürokratismus erstarrte Staatssozialismus, der sich nur noch hält auf Grund der Gewohnheit und der trägen Seßhaftigkeit der unmittelbaren Nutznießer des Systems. In solchen Jahrzehnten blühen alsdann immer die halben Mittel, wie es ζ. B. auch der Vorschlag einer „Werkstatt-Aussiedlung" ist. Es sollen nach E. Rosenstock diejenigen Menscnen, welche der Druck der Arbeitsverhältnisse aus der Fabrik hinaustreibt, entweder weil sie den Zwang der Betriebsorganisation, etwa des Taylor-Systems, nicht ertragen oder weil sie diesen Druck wegen ihrer ganzen seelischen Konstitution nicht aushalten können, dadurch einen Lebensraum erhalten, daß sie aus der Fabrik ausgesiedelt werden. Etwa 10—12 solcher ausgesiedelten Arbeiter erhalten zusammen eine Werkstatt unter selbstgewählter Leitung, und sie bekommen vom Großbetrieb ihr Material und ihre Maschinen ; sie sollen aber mit der Fabrik nur finanziell, nicht betriebstechnisch zusammenhängen. Das ist solch ein typisches Palliativmittel, das zugleich im Grundgedanken richtig ist, da es die Unnatur im Bestehenden aufdeckt und gleichzeitig die Zurückführung auf natürliche Lebens- und Arbeitsweise für solche besonders gearteten Arbeiter empfiehlt, — das aber nicht radikal aufs Ganze geht. !) Ε. Ä. Roß, a. a. 0. S. 589—592.



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Stetr erbebt sich wieder das Urwissen der Menschheit darum, daß der Mensch immer ein anderer wird, und zwar stets mehr Mensch, wenn er naturverbundener leben und sein Tager werk tun darf. Das bedeutet uns nicht, in den alten Ruf: Zurück zur Natur! einstimmen, als wenn wir gar in dem Städter den schlechthin Entwurzelten sähen, sondern in unserem Sinne bedroht diese Entwurzelung ebenso den Gauern, der auf der Scholle bleibt; trotz seines Wohnens und Lebens inmitten der Natur kann er in einen Zustand gelangen, in dem er die Fühlung mit ihr verliert, genau so gut wie Kunst und Wissenschaft, Schule und praktische Lebensführung einzelner Menschen wie ganzer Gruppen sie verloren haben. Das Tröstende bleibt, daß sich doch stets die Erkenntnis durchsetzt, daß der Gewinn für jeden Menschen am größten ist, wenn er kein zerklügelter Mensch ist, sondern ein aus der Tiefe lebender und wissender. Zusammenfassend sind also H e i m a t g e f ü h l und B l u t g e f ü h l , die räumlich-zeitliche Urbeziehung für jeden Menschen, die beiden Urkräfte, aus denen alle Beziehungen und Gebilde der Menschenwelt hervorgehen und auf die alle zurückzuleiten sind. Sie bilden insonderheit die Quellen allen e m o t i o n a l e n Erlebens; sie bedingen und begründen es, und damit sind sie nun auch die untersten Quellen aller w e r t e n d e n Stellungnahme. 2. D a s W e r t e n und die W e r t e . Als emotionales Erleben bezeichnet man die Willens- und die Gefühlserlebnisse und will durch die Wahl des einen Begriffs „emotional" sagen, daß die beiden Gruppen von Erlebnissen wesensverwandt sind, zwei Richtungen, zwei Antworten, gemeinsam ini Kern. Dieses „gemeinsame Kernmoment" ist eine wertende Stellungnahme, eine Wertung, „die sich stets auf eine wahrgenommene oder auch nur vorgestellte Situation als ihren Gegenstand bezieht" 1 ). Werten ist ein Ur-Verhalten, ein erstes und unmittelbares Verhalten des Menschen. Am tiefsten ist Max Scheler nach phänomenologischer Methode in Sinn und Bedeutung des Wertens und der Werte eingedrungen 2 ). 1

) Paul Hofmann, Das religiöse Erlebnis, S. 9 ff. ) Vgl. auch z. Folg., Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik, 1921, S. 12ff.; 18f.; 103-109; 143ff.; 159ff. 2



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Das Werten, d. h. das Beurteilen von Dingen, Gütern, Sachverhalten nach ihrem Werte, ist eine Tätigkeit, die in letzter Instanz von den Dingen, Gütern, Sachverhalten, welche bewertet werden, unabhängig ist. „Wir kennen alle ein Stadium der Werterfassung, wo uns der Wert einer Sache bereits sehr klar und evident gegeben ist, ohne daß uns die T r ä g e r dieses Wertes gegeben sind. So äst uns ζ. B. ein Mensch peinlich und abstoßend oder angenehm und sympathisch, ohne daß wir noch anzugeben vermögen, w o r a n dies liegt; so erfassen wir ein Gedicht oder ein anderes Kunstwerk längst als 'schön', als 'häßlich', als 'vornehm' oder 'gemein', ohne im entferntesten zu wissen, an welchen Eigenschaften des betreffenden Liedinhaltes dies liegt; so ist auch eine Gegend, ein Zimmer 'freundlich' und 'peinlich', desgleichen der Aufenthalt in einem Räume, ohne daß uns die Träger dieser Werte bekannt sind. Dies gilt gleichmäßig für physisch und psychisch Reales." Audi die B e d e u t u n g des Gegenstandes kann beliebig schwanken, ohne daß uns dabei sein Wert mitschwankt. Ja, das Allererste, was uns von einem Gegenstande zugeht, ob er nun erinnert, erwartet, vorgestellt oder wahrgenommen ist, das ist seine W e r t nüance. „Sein Wert schreitet ihm gleichsam voran; er ist der erste 'Bote' seiner besonderen Natur. Wo ein Gegenstand selbst noch undeutlich und unklar ist, kann der Wert bereits deutlich und klar sein. Bei jeder Milieuerfassung erfassen wir ζ. B. gleichzeitig zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert; in dem Werte des Ganzen aber wieder Teilwerte, in die sich dann die einzelnen Bildgegenstände hineinstellen." Wenn sich irgendeine Güterwelt bildet, sei es in der Kunst, der Religion, im Bereiche der Erziehung, dann wird diese Bildung daher stets durch eine Rangordnung der Werte geleitet, und das, was man den Wandel der Werte nennt, ist immer bedingt durch neue Erlebnisse, d. h. durch neue wertende Stellungnahmen, durch das Bestreben, bislang so oder so gewertete Güter der Rangordnung der Werte anders zu unterstellen. Aber — diese Ordnung selbst ist das Erste, und insofern jeder Güterweit gegenüber a priori. „Welche Güter faktisch gebildet werden,



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das hängt von der .hierfür aufgewandten Energie, von den Fähigkeiten der Menschen, die sie bilden, von 'Material' und 'Technik' und von tausend Zufällen ab. Aber niemals läßt sich aus diesen Faktoren allein — ohne Zuhilfenahme jener anerkannten Rangordnung der Werte als Qualitäten und einer abzielenden Tätigkeit auf sie — die Bildung der Güterwelt verständlich machen. Die vorhandenen Güter stehen bereits unter der Herrschaft dieser Rangordnung. Sie ist nicht von ihnen abstrahiert oder eine Folge ihrer." Es handelt sich dabei aber um mehr als um eine lediglich formale Gesetzmäßigkeit, wie K a n t meinte. Vielmehr ist die hier gemeinte Rangordnung eine materiale, und zwar eine Ordnung der W e r t q u a l i t ä t e n . Das, was man die Relativität der Werte nennt, gilt nur in bezug auf die s i n n l i c h e Beschaffenheit der Sachen, des Zustandes, der Natur des Wertenden selbst. Sicherlich sind ein und derselbe Vorgang, eine und dieselbe Sache für einen Menschen angenehm und für einen andern unangenehm, allein „der Unterschied der Werte angenehm: unangenehm selbst ist ein a b s o l u t e r Unterschied, der vor der Kenntnis dieser Dinge klar ist. Auch daß das Angenehme dem Unangenehmen vorgezogen wird (ceteris paribus), ist kein Satz, der auf Beobachtung und Induktion beruht; er liegt im Wesen dieser Werte und im Wesen des sinnlichen Fühlens". Würde jemand den Versuch machen, uns davon zu überzeugen, daß es in der Vergangenheit oder in einem anderen Volke, das heute die Erde bevölkert, umgekehrt sei, so würden wir diesem Berichte a priori keinen Glauben schenken, und keiner dürfte von uns solchen Glauben verlangen. Wir würden ihm erklären: diese Menschen fühlen höchstens andere D i n g e als angenehm und unangenehm wie wir, oder ihre Begehrungen sind pervertiert, oder etwas dergleichen. In dem Satze „das Angenehme wird dem Unangenehmen vorgezogen" besitzen wir ein V e r s t ä n d n i s g e s e t z für fremde Lebensäußerungen, für geschichtliche Wertschätzungen, für die Beurteilung der eigenen Erlebnisse, und das alles ist wiederum nur ein erneuter Beweis dafür, daß dieser Satz bei allen Beobachtungen und Induktionen bereits vorausgesetzt wird. Es hat auch keinen Sinn, hier mit entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen zu kommen, diese Werte



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seien „entstanden". „Denn", führt Max Scheler weiter aus, „was so erklärt werden kann, das ist immer nur die Bindung des begleitenden Gefühlszustandes an bestimmte, auf D i n g e gehende Handlungsimpulse... niemals die W e r t e selbst und ihr V o r z u g s g e s e t z . Dieses gilt unabhängig von allen Organisationen." Was bislang über die Wertreihe Ä des Angenehmen und Unangenehmen gesagt ist, gilt ebenso von den drei anderen Reihen, die als die obersten und nicht aus einander weiter ableitbaren aufgestellt werden können. Es sind das die Reihe B, die der Gegensatz „edel: gemein" umschließt, d. h. alle Weisen des Lebensgefühls, des vitalen Gefühls, in ihrem ungeheuren Reichtum an Wertqualitäten, sodann C, die zum Wertbereich der „geistigen Werte" zählende Werteinheit. Diese ist dadurch unterschieden, abgelöst und unabhängig von der gesamten vitalen Sphäre, „daß die klare Evidenz besteht, Lebenswerte für sie opfern zu sollen". Wir erfassen sie auch durch rein geistige Akte und Funktionen und nicht durch vitale. Hierher gehören schön: häßlich, recht: unrecht, wahr: falsch. Die letzte Wertreihe D liegt im Gegensatz heilig: unheilig. Zugleich ist die Reihenfolge A—D selber, in welcher wir diese Wertreihen aufgezählt haben, eine a p r i o r i s c h e Rangordnung, die wiederum den ihnen zugehörigen Qualitätenreihen v o r h e r g e h t . Von dieser Ansicht aus löst sich auch eindeutig das Verhältnis von Mensch und Umwelt, die Frage, ob sich der Mensch die Umwelt schaffe und sie beeinflusse oder ob er umgekehrt von der Umwelt geschaffen und aus ihr zu erklären sei in seinem Sein. Denn „Umwelt" eines Menschen kann nach dem Ausgeführten nur dasjenige sein, was er als wirksame Umwelt e r l e b t , kann also nur die Summe derjenigen reizerfüllten Vorgänge, Zustände, Gegenstände und Akte sein, die ihm zu emotionalen Erlebnissen werden konnten, denen er mit seiner wertenden Stellungnahme begegnen konnte. Also schafft sich und schuf sich jeder Mensch selbst seine Umwelt, seinen Lebensraum und Arbeitsraum. Und die Grundstruktur dieser Umwelt bleibt dieselbe, wohin wir auch uns örtlich begeben und unsre Wirkungssphäre sich entfalten lassen. „Es sind dieselben Wertqualitäten, auf denen unsere besonderen Werteinstellungen (oder



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Einstellungen auf Wertinhalte) in der besonderen Rangordnung der unsere 'Neigungen' beherrschenden Vorzugsregeln beruhen, mit denen wir an die wechselnden empirischen Wirklichkeiten herankommen. Der Spießbürger bleibt Spießbürger, der Bohemien Bohemien, und nur das wird ihnen 'Umwelt', was die Wertverhalten ihrer Einstellung an sich trägt. Menschen einer Standeseinheit, einer Rassen- und Volkseinheit usw. und schließlich jedes Individuum tragen so die Struktur ihres Milieus mit sich herum" (Scheler). Jedes Lebewesen schneidet gleichsam auf Grund der ihm eigentümlichen Energie, sein wertendes Vermögen in Funktion zu setzen und zu erhalten, aus der Totalität des Seienden sich eine „Umwelt" heraus, seinen Lebensraum. Vom Reichtum oder von der Armseligkeit seiner sinnlichen, vitalen, geistigen Energien oder davon, wie sie entwikkelt und gepflegt worden sind, hängt es daher ab, wie reich oder wie arm seine Umwelt sein wird. Die Wertewelt einer Persönlichkeit ist wohl der A u s d e h nung auf unzählige und durch nichts im voraus abzugrenzende Güter aller Art fähig, aber das bedeutet nicht, daß diese Wertewelt ihren apriorischen Charakter verliert; es ist das nur ein Zeugnis dafür, daß wir nicht imstande sind, die geistigen Kräfte eines Wesens voll zu erfassen, die Energien, die es aufzubringen vermag und deren Schätzung aller menschlichen Maßtechnik spottet. Die Spannweite der körperlichen und geistigen Kräfte ist nie ganz zu errechnen, vor allem auch deswegen nicht, weil das ein Rechnen mit Faktoren erforderte, die sich während des Rechnens ständig verändern, ein Messen von sich wandelndem Lebendigen. Darum weiß niemand ζ. B. im voraus, was ein Körper auszuhalten vermag, welche Fähigkeiten während der Schuljahre und vor allem auch noch nachher, selbst erst um die Mitte des Lebens, entwickelt werden können. Alle Berufsberatung, alle Intelligenzprüfungen können nur schätzungsweise richtig sein und müssen reichste Fehlerquellen enthalten; sie können nur „auch" richtig sein. Das Werten ist eine ursprüngliche Funktion, ein ursprüngliches Verhalten des Menschen, ja schon im Instinkt haben Mensch wie Tier ein Wissen, das Max S c h e l e r beschreiben



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kann als „ein Fühlen wertbetonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände 1 )". Die Polarität in allen Wertreihen und allen Untergliedern der Reihen zeigt an, daß das Werten nicht zur Wirklichkeit gehört, sondern eine Art des menschlichen Verhaltens ihr gegenüber ist, und zwar, wie die metaphysische Betrachtung der Wertungen überhaupt lehrt, ein eben nicht weiter abzuleitendes Verhalten. Es ist der unableitbare Kerngehalt in allem emotionalen Erleben, und die verschiedenen Arten wertender Stellungnahmen sind zu vergleichen verschiedenen Stufen, welche unser Wollen und Fühlen in die Wirklichkeit hineinschlägt. Nur darf nie dabei übersehen werden, daß unser Werten den Sinn der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit als solche nicht trifft. Die Wirklichkeit ist schlechthin Position und Eins. Die Aussage, sie habe einen Sinn, ist darum nicht zu verwechseln mit ethischer oder ästhetischer Wertung oder Bewertung, sondern liegt ganz und gar jenseits von gut und böse wie von schön und häßlich. Von der Wirklichkeit gibt es demnach nur eine Aussage ohne wertende Prädikate 2 ). Das schließt nicht aus, daß man die Wirklichkeit bewerten kann. Sie kann im Mythus ergriffen, im Hymnus besungen, in der Musik wiedergegeben, in der Farbe veranschaulicht werden, je nachdem, welchen Versuch der Mensch aus seinem Gefühlsdrang heraus bei seinem Ergriffensein vom Wirklichen unternehmen mag, und so kann auch eine philosophische wie eine religiöse Betrachtung einsetzen, hur daß wir hier nicht davon reden und sie in keiner Weise zum Fundament unserer erziehungswissenschaftlichen Grundlegung machen, wenn es auch immer wieder nötig wurde und werden wird, aus diesen Bereichen veranschaulichende Bilder und Erkenntnisreihen mitzuverwenden. So muß darauf hingewiesen werden, daß gerade diese Betrachtung jenseits aller Wertungen sich auch in den höchsten ethischen Religionen findet. Gott ist danach über Gerechte und Ungerechte; es gibt vor Gott nichts menschlich Gewertetes, sondern eher verkehren sich vor ihm die menschlichen Wertmaß!) Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1930, S. 31. *) Vgl. oben S. 21.



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stäbe in ihr Gegenteil. Vor Gott gibt es nur Menschenkinder in ihrem Schicksal. So umfingen alle großen religiösen Persönlichkeiten mit ihrer Liebe und Güte stets die Menschen rein als Menschen und jenseits der gewöhnlichen menschlichen Beurteilungen. Nach den bekannten Gleichnissen Jesu vom Fischnetz, vom Unkraut unter dem Weizen u. a. sind Gute und Böse nebeneinander, und Menschen haben sich durchaus des Urteils zu enthalten, das einzig und allein Gott vorbehalten bleibt. So steht es auch in jenem Grunde der Seele, den E c k e h a r t meint, wenn er von dem Etwas in der Seele spricht, aus dem Erkennen und Liebe „entspringt", das aber selber nicht erkennt noch liebt — „was Sache der Seelenkräfte ist. Wer dieses findet, der hat gefunden, worauf Seligkeit beruht: es hat nicht Vor noch Nach und wartet nicht auf Hinzukommendes, denn es kann weder reicher noch ärmer werden. Und ebenso muß auch das von ihm verneint werden, daß es in sich etwas wüßte, was erst zu vollbringen wäre. Es ist: ewig D a s s e l b e , das nur sich selber lebt — wie Gott". Alle großen E r z i e h e r zeigten eine gleiche oder eine verwandte Haltung; ja jeder, der irgendwo mit erzieherischer Verpflichtung unter den noch nicht reifen Menschenkindern steht, muß eine gleichsam naturhafte Haltung einnehmen, wie die Sonne, welche sich in ihrer Schönheit und ihrer Wärme über alles und jedes gleicherweise erhebt. Er soll die natürlichen Anlagen scheiden und ordnen und alle unterstützen — eine unaufhörliche Aufgabe —, soll sie zu Gruppen und Typen und Arbeitsvorgängen sich zusammenfinden lassen und selber sie zusammenfassen. Aber nie wie er es „mag" oder nicht mag; seine Auswahl wie seine Ordnungen sollen nichts zu tun haben mit gut und schlecht im moralischen Sinne. So schwer es auch sein wird, dieses Ideal je zu verwirklichen, es steht und stand immer vor dem Erzieher, der anders sich in seinem Gmndwesen nicht begriffen hätte und nur den Namen eines Erziehers anmaßlich führte. Er soll die Gruppen in ihrem Zusammenleben und in ihrer Arbeit sich werthaft ordnen, in allen Vorgängen und Handlungen jene Hierarchie der Werte sich entfalten lassen; selber auch dastehen wie ein Maßstab für Wertung durch jene natur-



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hafte Haltung, dafür sorgen, daß sich die Wertreihen über alle Geschehnisse der Gruppe hin entfalten und daß dadurch eine starke tragende und bergende Gesinnung alles mit der Sicherheit eines Instinktes durchwirke. Die Lehre von der Ursprünglichkeit des wertenden Verhaltens und von der Äpriorität der Rangordnung der Werte ist ein weiterer und stärkster Beweis dafür, daß das Einzelwollen und das i n d i v i d u a l e Werten in einem überindividuellen höchsten Allgemeinen gründen, das man u.a. wenig glücklich als „Gesamtwillen" bezeichnet hat. Das Individuale in allen Wertungen trifft ja nicht die Werte selbst, sondern es entsteht einerseits aus den Sachverhalten, Zuständen und Gütern, auf welche die Werte jeweils bezogen werden, und andererseits aus der Kraft, welche beim Werten in Funktion tritt. Da ferner diese Sachverhalte, Zustände und Güter eine bunte Beschaffenheit aufweisen, so bedingen sie dadurch bereits die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, Teilwerte und Folgewerte, also abgeleitete Werte, auf sie anzuwenden, und somit entsteht jener Eindruck des Subjektivistischen oder des Relativismus. Beides aber sind oberflächliche Beurteilungsweisen in der wahrsten Bedeutung des Wortes „oberflächlich"; sie beurteilen und treffen wirklich nur die Oberfläche des Problems. Demgegenüber wird nun aber auch die Bedeutung des Individuums, des Einzelwillens, nicht im geringsten damit herabgesetzt, daß es in seinem wertenden Verhalten von der absoluten und apriorischen Wertewelt zeugen muß und an ihre Ordnung gebunden ist. Seine Bedeutung liegt darin, daß es immer doch auf seine Kraft ankommt, die Welt zu bearbeiten und zu verarbeiten und zu bewerten, vor allem sie werthaft zu ordnen und herzurichten und als Material für gesinnungserfülltes Leben und Handeln zu gestalten. In diesem Sinne ist der Einzelwille einziges und ursprüngliches Organ der Gemeinschaft und unersetzlicher Diener im Reiche der Werte. Die Gemeinschaft kann sich nur darstellen in den Individuen und durch die Einzelnen. Und es ist „jede individuelle Kraft eine Richtungsvariante der Gemeinschaft; jede Individualität eine besonders geschliffene Linse, in der sich Gemeinsames bricht, ein und das-



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selbe Licht 1 )". In diesem Abschnitt haben wir die beiden Hauptbindungen dieses Gemeinsamen, das durch alle Einzelnen hindurchgeht und sie miteinander verbindet, aufgewiesen: a) die Urbindung des Einzelnen an den „ N a t u r r a u m " , an das Wo und das Wann seines Erscheinens, seines Auftretens als einer „geborenen Individualität"; und b) die Bindung seines gesamten „ L e b e n s - und Ä r b e i t s r a u m e s " , den er sich schafft, an das apriorische System der Werte. Seine besondere geistige Lebensarbeit dort und dann, wo er geboren isi, wird demnach ebenso getragen von der geistigen Gemeinschaft des Grundes aller Wirklichkeit, wie der Lebens- und Naturgrund selbst, auf dem er erscheint und seine besondere geistige, persönliche Lebensarbeit auszuführen hat als — „gewachsene Individualität".

§ 4.

Individuum und Gemeinschaft. Form und Geist (Bildung und Erziehung). Die voraufgehenden Gedankenreihen führten auch in diesem Teile der allgemeinen Erziehungswissenschaft zum Problem Individuum und Gemeinschaft, so wie sie weiterleiten zu dem andern: Bildung und Erziehung 2 ). Im ersten Umgange unseres Systems führten kulturphilosophische und soziopsycfaologische Betrachtungen, hier metaphysische darauf. Dort waren es Stellung und Bedeutung des Einzelnen der Masse, der Gesellschaft gegenüber, hier gegenüber dem Seienden schlechthin, der Totalität des Wirkenden, der Wirklichkeit. Dort Fragen wie: sind die Einzelnen als Einzelne Träger des sozialen Seins und Werdens der Gesellschaft, des Staates? Ist im besonderen der Staat nur eine „Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen" (Kant); die Gesellschaft „Gründung von Privatpersonen" (Herbart), ein bloßes Beieinander, ein Sandhaufe, ge*) M. flllgem. Erziehungswissenschaft, I. S. 11. 2

) Vgl. a. a. 0. S. 1—56; 96—107.



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staltlos (Hobbes)? — oder: ist die Gesamtheit als Gesamtwille oder Gesellschaft oder Staat das Erste, und der Einzelne hat nur eine abgeleitete Existenz und Funktion? In diesem Umgang nun die andere Frage: wie ist das Individuum dem Seienden gegenüber eingeordnet und wie behauptet es? sich ihm gegenüber sowie in ihm? Welches ist das Verhältnis des Individuums zu der Wirklichkeit, die uns zugleich G e m e i n s c h a f t ist im metaphysischen Verstände dieses Begriffs als die geistige Gemeinschaft schlechthin? Ä. Am Schlüsse des voraufgehenden Abschnitts zeigten wir die unaufhebbare Verwurzelung und Bindung des Einzelnen und zugleich seinen T a t r a u m , seine Leistungsmöglichkeit, ja seine von niemandem sonst zu leistende Aufgabe und Bestimmung; wie hier bereits angedeutet sei, demnach auch seine „Freiheits"sphäre innerhalb jener wurzelfesten Lebenssphäre, dem Naturraum. Der Einzelne erscheint, von Anbeginn seiner Erscheinung als Einzelner an, als eine Ganzheit, ein geschlossenes Kräftesystem. Er ist ausgestattet mit bestimmtem Maß von Energie; ein Umkreis mannigfaltiger, aber nicht unbeschränkter Möglichkeiten, und darin liegt eben seine Begrenzung, seine Geschlossenheit, seine — Stärke. Und Η erb a r t sagte einmal mit Recht: das Individuelle besitze vollkommene Bestimmtheit und sei daher dem allgemeinen Begrifflichen überlegen; mithin sei auch ein wirklicher Mensch einem idealischen überlegen 1 ). Diese Geschlossenheit ist jedoch nicht nur seine Stärke, sondern auch seine Schwäche. Weil b e g r e n z t , ist er ein Einzelner; und wenn von „Persönlichkeit" als dem „Seienden, das seiner selbst mächtig ist", in dem Sinne gesprochen wird, daß Persönlichkeit gleich sei demjenigen „individuellen Sein, das sich zum universalen Sein erhebt" (Paul Tillich), dann hat das mit unseren Begriffen der Individualität und Persönlichkeit nichts zu tun. Denn für uns kann sich Individuelles niemals zum Allgemeinen, zu einer universalen Form, zur „Welthaftigkeit" erheben 2 ), sondern mit jedem Versuche, seine Begrenzung zu sprengen, würde es seinen Vollwert verlieren, verfiele der heroische Mensch der 1) Werke (Hartenstein) XIII, S. 126. 2 ) Vgl. dazu ferner m. Ausführungen im I. Teile, 1924, S. 55 f. P e t e r s e η , Erziehungswissenschaft.

II.

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Hybris und damit seinem Sturze. Aller individueller Wert, jede Bedeutung folgen aus seiner G l i e d s c h a f t , aus seiner Fähigkeit, sich geistig einzuordnen, und zwar tätig, d. h. dann immer selbsttätig; denn die Einordnung, die hier gemeint ist, muß stets s e i n e Einordnung, von ihm erstrebte, vollzogene und bejahte Einfügung sein. Und die Tätigkeit des Selbst, welches diese freie Einordnung aus sich vollzieht, ist das Wirksamwerden jener Energien, mit denen ausgerüstet der Einzelne in der Welt antrat. Als das Ergebnis tritt der individuelle Lebens- und Arbeitsraum heraus. Und der Umfang dieses Lebensraumes hängt ab von der funktionellen Inanspruchnahme während des Lebens, ihrer Intensität und Allseitigkeit. Durch diese Selbsttätigkeit macht sich der Einzelne „etwas zu eigen". Er prägt Teilen des Wirklichen seine Eigenart auf. Dadurch begrenzt er diese anderen gegenüber. Er, der selber Begrenzte, muß ja durch eine Arbeit, welche an Sachen, Zuständen und Verhältnissen etwas νση ihm, Merkmale s e i n e r Arbeit, der Tätigkeit eines Selbst, eines Eigenen hinterläßt, eben dadurch diese Sachen, Zustände und Verhältnisse umgrenzen und abgrenzen. Und somit sind sie, soweit und solange sie zu dem Lebens- und Arbeitsraum eines Individuums gehören, der Wirklichkeit, dem Seienden schlechthin gegenüber enteignet. Durch solche Umgrenzung und enteignende Tätigkeit ungezählter Individuen entsteht die Beweg u n g im Geistigen, soweit es für uns zu erfassende Erscheinung ist; ja nur infolge dieser Bewegung wird das an und in sich ruhende Seiende zur Erscheinung „für uns". Und da ferner in jedem Eigenen der Gegensatz zum anderen liegen muß, so liegt eben hier auch der Ur-Gegensatz in aller K u l t u r und Kulturbewegung. Ist nun nicht vielleicht dieser Gegensatz, daß ich ein anderer bin als Du, doch dasjenige, worauf es ankommt? Demnach das Wesentliche, und das hieße dann das, was den Sinn der Schöpfung bildet? Wie Goethe sagt: „Der Mensch mag sich wenden, wohin er will, er mag unternehmen, was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat." Und:



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„Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen, Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Profeten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt." So Goethe über den Einzelnen als die ewig um sich selbst rotierende Monade. Und der Kern, um den sie sich dreht, enthüllt ihre monadische Bestimmung, oder mit einem goetheschen Ausdruck gesprochen, die „Sendung". Allein damit hat Goethe nie die Romantiker-Auffassung von „Persönlichkeit" vertreten, die sich nur allzu oft bei der volkstümlichen Verwendung dieses Begriffs in ein ehrfurchtsloses Dunkel und in Selbstheit verliert. So wird selbst in den Kreisen „Gebildeter" Goethes Wort „Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit" oft vollkommen falsch verwendet. Goethe legt diese Worte Suleika in den Mund: „Volk und Knecht und Überwinder Sie gestehn zu jeder Zeit: Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit. Jedes Leben sei zu führen, Wenn man sich nicht selbst vermißt; Alles könne man verlieren, Wenn man bliebe, was man ist." Darauf läßt der Dichter aber durch den Mund Hatems deutlich genug antworten, wenn auch nicht ungalant: „Kann wohl sein! So wird g e m e i n e t ; Doch ich bin auf andrer Spur! Alles Erdenglück vereinet Find ich in Suleika nur." Mit dieser galant vorgetragenen Erwiderung lehnt er aber die von Suleika ausgeführte „Meinung" klar genug ab. „Der wahre Mensch ist nicht die „Persönlichkeit", welche alles verlieren 6*



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kann, wenn sie nur bleibt, was sie ist, wenn sie nur unentwegt sich an sich selbst anklammert, sondern (wie er in den „Sprüchen in Prosa" sagt) nur der, welcher in dienend-liebender Hingabe „seine Existenz aufgibt, um zu existieren" 1 ). Der Mensch wird zum Menschen, so ist es Goethes wahre Meinung, gerade auch in seinem Bildungsstreben, nur in Entsagung und Selbstbeschränkung; „vergebens werden ungebundene Geister nach der Vollendung reiner Höhe streben". Und damit blieb der alte Goethe auch der Ansicht des jungen Goethe treu, die er in einem Aufsätze des „Tiefurter Journals" 1782, „Die Natur", so ausführte: „Die Natur scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo ist s i e ? . . . Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus." So erblickt er alles Einzelne, alle Sendungen von dem Einen umfangen, das er hier „Natur" nennt, im Geiste S p i n o z a s , deus sive natura, von dem wir im Sinne metaphysischer Wissenschalt als der Wirklichkeit, dem Seienden reden. Aus diesen metaphysischen Betrachtungen bringen wir aber bereits die Erkenntnis mit, daß in allem Individuellen außer der Begrenzung, jener goetheschen „Isoliertheit", das alle Individuen verbindende gemeinsame Geistige vorhanden und wirksam ist, ja, daß alle Selbsttätigkeit gliedliche Tätigkeit d e s Geistes, der Wirklichkeit, des Geistes an sich ist, mithin S e l b s t b e g r e n z u n g d e s Geistes. So verbindet sich — von ebenso grundlegender Bedeutung für die Erziehungswissenschaft wie für jede Erziehungspraxis — mit der Einsicht, daß jedes Individuum ein sich selbst begrenzender Akt des Geistes ist, die weitere Erkenntnis, daß diese Begrenzung, diese S c h ö p f u n g des Einzelnen nur möglich ist durch den andern und an dem a n d e r n , — mithin nur durch die g e i s t i g e GemeinVgl. Georg BoB, Erziehertum im Sinne Goethes und Fichtes, 1927, S. 136 f.



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s c h a f t der vielen Einzelnen, der Einzelnen in der Menschenwelt wie in der Natur, gleichermaßen. Das bedeutet konkret, kein Lebens- und Ärbeitsraum kann ohne den andern, ohne das Du gebildet werden. Ich und Du s t e h e n in u n a u f h e b b a r e r W e c h s e l b e z i e h u n g ; eins setzt und hebt auf das andere. Kein Lebensraum ohne die geistige Gemeinschaft der Vielen, ohne den großen Wirkungszusammenhang der geistigen Welt, in welchen jeder Mensch wie in den Naturboden für seine Sendung hineingeboren wird. Darum ist auch die geistige Entwicklung des Einzelnen, seine MenschWerdung niemals restlos eigenes Werk. Das Eigene könnte ohne das Gemeinschaftliche gar nicht zur Entfaltung kommen, niemals gelänge es außerhalb des geistigen Zusammenhanges, sondern nur in ihm und an ihm. Darum nennen wir auch in der Erziehungspraxis d a s Du k o n s t i t u t i v f ü r die E n t f a l t u n g und V o l l e n d u n g des Ich. Es wächst ein jeder am andern; und der andere ist, gerade auch als Gegensatz zu mir, nötig zu meiner Entwicklung. Das ergibt folgende Grundansichten: 1. Die Übersteigerung oder die Pervertierung individueller Kräfte führt zum Egoismus. Und dieses überbetonte Ich ist eine Art Verkrampfung, Zusammenschrumpfung der Willenskräfte auf das eigene Ergehen, die eigenen Interessen, welche daher allesamt in übersteigertem Maße als eigenen Wertes und von eigener Bedeutung erscheinen. Der „egoistische" Mensch sieht sich als Einzelnen außerhalb der anderen, in einem unnatürlichen ja widernatürlichen Verhältnis. Deswegen erscheinen auch seine Handlungen und Verhaltensweisen oft als lächerlich, wenn sie nicht gar aus einem richtigen Instinkte heraus von den Mitmenschen gehaßt werden. Er ist ein Einzelnes, welches versucht, sich vom Grunde seines Wesens zu lösen und sich auf sein Wesen zu stellen, oder, wie wir vorher sagten, sich zur universalen Form, zu einem Welthaften zu machen. 2. Der Einzelne, jede Individualität hat ein Eigenrecht und Eigenwert. Sie ist darum als Ganzheit, als psychophysisohes Ganzes in allen ihren Teilen zu bejahen, und in jenem Recht



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und Wert zu bejahen. Sie ist als Selbstbegrenzung des Geistes gewollt und notwendig, besitzt darum mit ihrer Sendung ihren eigenen Wert, hat eine „individuelle Note", und infolge ihrer „Sendung" vollkommene Bestimmtheit. 3. Jeder Einzelne ist durch seine Verwurzelung „geborene Individualität" und eingefügt der Wirklichkeit, n a t u r h a f t , zugleich g e i s t i g verwurzelt dadurch, daß er als auffassendes und wertendes Wesen in das apriorische System der Werte eingefügt ist. Da diese beiden Bindungen aber die unaufhebbare Vorbedingung für die Schaffung jenes Lebens- und Arbeitsraumes sind, demnach für die Schöpfung des Einzelnen wie für die Schöpfungen der Gemeinschaft, so zeigen sie uns I n d i v i d u u m und G e m e i n s c h a f t in v o l l e n d e t e r W e c h s e l w i r k u n g . Wohl bedeutet die Begrenzung zugleich beschränkte Kraft und Unfreiheit, aber es trifft diese Beschränkung nur die F o r m des Einzelnen. Was an geistigen Akten von dieser Form geleistet wird, das ist in Freiheit getan, weil Geistesleistung, alles ganz ohne Ansehung des zufälligen Standpunktes oder Standes irgendeines Individuums. Das bedeutet ζ. B. auch, daß es vollendet gleichgültig ist, ob etwas Gutes und Schönes, eine edle Tat von Ä. oder B. oder C. getan wurde oder wird, jedes unterliegt genau der gleichen Bewertung für uns, welches auch das jeweils handelnde Individuum sein mag. Die Torheit der Menschen liebt es zu unterstreichen und gar als besonders vorbildlich hinzustellen, wenn ein in unserer Zeit hervortretender Mensch, etwa eine sog. „hochgestellte" Persönlichkeit, etwas Gutes und Reizendes tat. So gibt es immer noch in Lesebüchern Geschichten von jener sentimentalen Art wie die, welche berichtet von einem kleinen Mädchen, welches dem König Friedrich Wilhelm IV. so entzückende Antworten auf nicht sehr geistreiche Fragen gab, daß der König es gerührt küßte, als es schließlich ihn Bürger des Himmelreichs nannte. Ob ein Franz von Assisi den Wurm am Wege aufhebt, damit er nicht zertreten werde, oder der Schlackenarbeiter Richard Meyer aus Halle: die Bewertung der G e s i n n u n g , aus der es geschieht, untersteht ein und demselben ewigen Gesetz; ist sie gleich, dann sind auch die Taten beide gleich wertvoll.



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Offenbar segnete Jesus nicht die Kinder, um dadurch etwas Besonderes zu tun, das ihn auszeichnete, sondern um ganz einfach etwas zu tun, das alle auszeichnen kann und sollte. Jeder Mensch, jeder Lehrer, der so zu Kindern steht, wie er stand, dessen Äuge blickt dieselbe Güte, dessen Hände segnen mit derselben Kraft, wie sie in Jesus angenommen werden. 4. Der Prozeß der geistigen Akte eines Individuums, das, was sich als Entwicklung, besser als Entfaltung einer Individualität darstellt, ist sein Ringen mit dem andern oder den andern, der Kampf um die Verwirklichung seiner in ihm angelegten Möglichkeiten, kurz gesagt, sein Kampf mit der „Gegenwelt". So setzt ein Ringen ein zwischen dem Persönlich-Geistigen und dem sogenannten Objektiven, dem Gegenständlichen. Da aber der Mensch als Naturwesen auch sich selber Gegenwelt ist, so führt er auch einen Kampf seines persönlich-geistigen Menschen mit sich selber als Naturwesen. Das Ziel dieses Kampfes ist überall die Harmonie, sowohl in den Beziehungen der Vielen zueinander wie im Verhältnis des Einzelnen zu sich selber. In sich selber erringt jeder diese Harmonie in demselben Maße, wie er in all seinem Denken, Handeln und Sein in dem überindividuellen Reiche ruht. Je mehr er in allem Handeln und Sein zu einem gleichschwebenden Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft gelangt, desto völliger erwirbt er sich die Eudämonie, den „guten Dämon", das gute Gewissen, und zwar von s e l b s t ; wie — nach den schönen Worten des A r i s t o t e l e s — die Jugendschönheit dem Jünglinge von selbst zufällt, wenn er die betreffenden Jugend jähre erreicht hat, also folgt die Lust (ήδονη) der Tugend. Jene Harmonie und Eudämonie sind deswegen nicht Ziele, demnach auch nicht Ziele der Erziehung, sondern Begleitwirkungen; sie eignen jedem, der wahrhaft erzogen ist; sie geben Zeugnis vom Standpunkt seiner Selbsterziehung. 5. Die in solchem Sinne gemeinschaftserfüllte und — getriebene Individualität nennen wir P e r s ö n l i c h k e i t 1 ) . M. Allgemeine Erziehungswissenschaft, I. S. M—56.



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Β. F o r m und G e i s t ( B i l d u n g und E r z i e h u n g ) . — Die Beschränkung, so hieß es eben, betrifft nur die F o r m des Einzelnen. Allein was heißt Form? Und ist diese Form etwa selbst ein Festes, Unbewegliches vom Tage der Schöpfung des Individuums an? Offenbar in Einem Sinne nicht. Was ist es nun, das sich mit dieser Form ereignet? Ohne Zweifel ist keine individuelle Form ein „geschlossenes" System im Sinne induktiver Wissenschaft, darum auch schon jedes Experiment nur beinahe gilt und zutrifft. Die Auflösung des „Form"problems wird nun die Fragenreihe der ersten, der metaphysischen Streitfrage dieses zweiten Umgangs allgemeiner Erziehungswissenschaft abschließen. Sie wird das unermüdlich unter uns abgewandelte Thema: „Bildung und Erziehung" mitbehandeln. Denn: die Wirklichkeit erwies sich uns als Geist-Leben; in der Erziehungswirklichkeit-Stehen als unmittelbares Handeln im Sinne des vollendeten Dienstes. Was heißt es da, wenn von Erziehung schlechthin geredet wird und wenn sie bezogen wird auf das Geistige im Menschen? Was heißt geistige Schöpfungen des Menschen, Erzeugnisse „geistiger Kultur", Werk des „menschlichen Geistes", wenn wir es zu ergründen versuchen von den Einsichten her, die sich uns im Vor auf gehenden erschlossen? Sicherlich ist das hier gemeinte Geistige nicht gleich Seelischem (wie es der Positivismus faßt, auch D i l t h e y ) ; nicht mit N a t o r p (und ihm verv/andt die Mehrheit neukantisoher Richtungen) „Inbegriff des gesetzmäßig sich erzeugenden Inhalts des Bewußtseins: Inbegriff seiner Schöpfungen, seiner echten, bestandfähigen Gestaltungen"1). Geist ist hier nicht dem gleichzusetzen, was von H e g e l Beeinflußte als „objektiven Geist" bezeichnen, so daß sich das Geistige aus dem Seelischen ( = subjektiver Geist) heraus objektiviert, objektive Welten sich aus dem Seelischen loslösen (ζ. Β. H . F r e y e r ) . Ebenso wenig wird für uns Geist der ideelle Ort des Sinnverstehens sein (Ed. S p r a n g e r ) ; denn es gibt Sinnbeziehungen und Sinnverstehen, die nicht geistig sind, etwa sinnvolle Zeichen, sinnvolles Sprechen und Fragen, sinnvolle Unterhaltung. Etwas, Μ Philosophie und Pädagogik, 1923, S.46.



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das Sinnvolles ausdrückt oder Sinnvolles bedeutet, kann freilich auch geistige Akte auslösen, nur daß dies nicht unweigerlich schon (obwohl möglicherweise auch) dadurch geschieht, daß ich den Sinngehalt realisiere. Hierzu bedarf es u. a. „nur" des Instinktes oder der Intelligenz, -beide dem Menschen mit dem Tier gemeinsam; Intelligenzhandlungen vollziehen zum mindesten einige höhere Tiere. „Geist" ist uns in diesem Zusammenhange der Inbegriff aller derjenigen Akte, durch welche ein Mensch sich selbst und alles Seiende und Geschehende in ihm und um ihn auffaßt, weiß und versteht als seiend, wertempfangend und selber wertend aus dem G r u n d e alles S e i e n d e n h e r a u s o d e r in denen er aus dem Grunde der Wirklichkeit heraus fühlt und handelt, sodaß die im eminenten Maße menschlichen (geistigen) Gefühle und Handlungen entstehen wie Güte, Liebe, Demut, echtes Mitleid, Leid, Andacht, Ehrfurcht u. a. m. 1 ). Das Organ, mit dem oder durch das der Mensch solcher Akte fähig wird, ist (in einem erweiterten Sinne genommen!) die Vernunft, die somit weit mehr in sich begreift als das Denken der Ideen. Sie ist Organ eines „Vernehmens", und zwar Organ zum Vernehmen der Wirkungen des „Geistes an sich", des Seinsgrundes, genauer zu umschreiben als das Organ zur Wahrnehmung des Insich selber-Schwingens, des Atmens der Wirklichkeit, sowie zum Fühlen, Gestimmtsein und Wollen im Erfüllt- oder Durchdrungensein vom Absoluten. Der Akt solchen Vernehmens ist das Einordnen von Teilhaftem in ein Ganzes in einem schauend hingegebenen Verhalten. Er ist daher nie gleich Setzung oder Erschließen von Etwas. In einem geistigen Akte gewinnt Einzelnes Teil am Ganzen; es wird „als Teil" erfaßt und damit evident, einsichtig hell. Das Eigentümliche des geistigen Aktes ist demnach, daß der Gegenstand solchen Aktes vom Seinsgrunde her in jenem „Vernehmen" selbst als in einem höchsten Sinne vernünftig erschaut, empfunden, gewollt wird, und es ist an ihm seine „Vernünftigkeit", die ihn uns evident, klar, selbstleuchtend !) Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1930, S. 16 f., ferner S. 49ff., 53—60. Die Auseinandersetzung auch mit M. Scheler wird im 3. Bande erfolgen.



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macht. Demnach wirkt zunehmende Vergeistigung, oder, wie wir auch werden sagen können, die H u m a n i s i e r u n g wie eine Durchleuchtung und Erhellung des Menschen. „Inneres Licht" gelangt zur Herrschaft; es verklärt, reift und verhilft zum „Stehen über den Dingen" im Sinne der Weisheit, zur „letzten Klarheit" über alles und jedes. Es bewirkt Äusgeglichenheit, Äbgeklärtheit, Harmonie, die goldene Ruhe des Weisen, den stillen Frieden des Frommen, die Hoheit des lebend das Leben Überwindenden. Der Geist b e d i e n t sich des g a n z e n Menschen und aller seiner verschiedenen Kräfte und Funktionen wie Sprechen, Denken, Erkennen, Gefühlsleben, Trieb und Wille, des Körpersitines, um den vernünftigen, den geistigen Menschen in möglichst allen seinen Ausprägungen zu schaffen. Ebenso bedient er sich aber innerhalb der menschlichen G e s e l l s c h a f t aller sozialen Formen und der Gemeinschaftsformen in Sprache, Sitte, Recht, Kunst, Religion, um die Menschheit vernünftig, geistig zu machen (nicht zu verstehen im Sinne eines sich in der Zeit vollziehenden Fortschritts zu „immer höherer" Geistigkeit). „Geistige Kultur" nennen wir alles, was vermittelst der eben definierten geistigen Akte a u ß e r uns gesetzt ward und von jenem Vernünftigen, jenem Licht zeugt. „Äußer uns" ist auch das dem andern Sichtbare oder Erkennbare an geistiger Kultur an uns als Einzelwesen, vor allem auch unsre „innere Kultur". Gesehen.und erkannt werden kann geistige Kultur nur von dem, der erleuchtet wurde, d. h. sofern er und in dem Umfange, in dem er selber geistige Äkte vollzog oder vollziehen kann. Der so oft im Gegensatz zum Geist verwandte Begriff N a t u r ist uns, wie schon oben ausgeführt, nicht eine toteHyle, bloße Materie, sondern in allen Teilen lebendige Kraft. Stein, Pflanzenwelt, Menschenwelt sind verschiedene „Gestalten", neben einander stehende Offenbarungen oder Darstellungen des Geistes, nicht Stufen, wie sie in systematischer wissenschaftlicher Betrachtung geordnet und aufgebaut werden mögen. Das Tote sind die Kulturschöpfungen des Menschen, die er in Erz und Stein,

91 auf Leinewand, Holz oder Papyrus außer sich setzte, und ebenso der Mensch als sein eigenes Kunstwerk und Kulturwerk. Deswegen ist es auch nicht der Klage wert für den, der auf den Menschen blickt, daß etwas „verloren geht" oder in der langen Geschichte der Menschheitskultur verloren gegangen ist, wenngleich es „interessant" wäre, mehr oder dies und das auch zu wissen, oder „aufschlußreich" für diese oder jene Frage. Jede Gegenwart kann dem vollsten Interesse dessen genügen, der sich zum Lebensstudium den Menschen wählte, und kann ihm jederzeit allen Äufschluß über seine Fragen und Wünsche geben, wenn er nur fähig ist, ein echtes Interesse aufzubringen, die Fragen zu formen und jenseits seiner selbst zu wünschen und zu wellen. Darum ist es auch jederzeit das Wichtigste, daß heute, immer in der G e g e n w a r t , geistig kraftvoll schaffende Menschen leben und ihr Dasein durch ihre Taten, und vor allem durch ihr Sein und ihre Gesinnung bekunden, daß immer h e u t e geistige Kultur ist. Und der Mensch selber — wohin gehört er als Gesamtperson? Äls Natur, als psychophysisches Wesen, ist er ein Lebewesen, und als Lebewesen eignet ihm Form. Form ist Merkmal alles Lebendigen, und erst darum hätte Max Scheler „Ausdruck" ein Urphänomen des Lebens nennen dürfen. Denn Ausdruck bezeichnet, daß wir eine Form als Künderin von Geistigem aufnehmen. Form ist uns gleich dem aristotelischen Eidos, dessen beste Definition Goethe gegeben hat: „Geprägte Form, die lebend sich entwickelt." Leben: Geist ist die Ur-Polarität, in welche der Seinsgrund, die Wirklichkeit, die wir als Einheit Geistleben begriffen haben, „für unsere Erkenntnis" aufgesprungen, auseinandergetreten ist. Wir erfassen die Wirklichkeit in ihrer Bewegung — dem unser Tätigsein in allen seinen Formen und Feinheiten antwortet wie die Harfen dem Wind, der sie streicht — als die Polarität von Leben: Geist. Weil diese darum auch den Charakter größter Fremdheit an sich tragen, erklären sich alle Anschauungen und Systeme asketischer, lebensfeindlicher Einstellung. Sie übersehen alle, daß beide, Geist und Leben, sich zugleich derart innig bedingen, daß keines ohne das andere sein



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kann. Und dies ist die Einstellung, welche eine Erziehungswissenschaft an keiner Stelle ihres Systems so wenig wie in irgendeiner Form, in der sie praktisch wird, aufgeben darf; sie bildet im höchsten Sinne ihre Grundanschauung. Die Funktion des Lebens aber ist Entwicklung, Entfaltung, ist B i l d u n g oder Formung als Vorgang, sowie Bildung oder Form als Ergebnis. In der Form wie in der Formung, also in jeder Bildung, ist, was das Werden der F o r m betreibt, — geistig. Die Form ist mithin im Bereiche des Lebendigen das Anzeichen und Kennzeichen des Geistigen, ebenso wie es auch Typus, Rhythmus, Stil sind. Weil aber die Einheit des Grundes auseinandergetreten ist, so ist nicht jede Form vollkommen, d. h. fähig zum t ä t i g e n Dienst des Geistes, also mehr zu sein als nur dastehender oder sich entfaltender Ausdruck des Geistigen, nämlich auch „Form f ü r Geistiges" zu sein. Ein Tier, eine Päonie, ein Berg sind nicht Formen für Geistiges, obwohl an ihnen Geistiges ist, soweit sie Form sind und eine Bildung bekunden. So ist nun auch die menschliche Individualität als Form dadurch ein Zeugnis von Geistigem, aber damit noch nicht vergeistigt. Alle ihre Lebens- und Bewußtseinskräfte mögen der Bildung einer Individualität dienen, sie bewirken auch durch die vollkommenste Bildung noch keine Vergeistigung. Danach könnte ein Mensch körperlich wie seelisch die höchste Bildung erreichen und darstellen, ohne deswegen ein geistiger Mensch zu sein. So sehr sehen wir alle physischen und psychischen Kräfte einer menschlichen Individualität in den Dienst der Bild u n g gestellt. Auch die Bewußtseinsseite gehört auf die Seite des Lebens, und wir setzten nicht Bewußtsein gleich Geist, sondern im Verhältnis zum Bewußtsein wäre Geist eher, mit F i c h t e zu reden, „das Bewußtsein Erzeugende". Bildung findet sich demnach in Stein, Pflanze, Tier- und Menschenwelt. Wir sehen auch in jedem dieser Reiche jede Individualität sich nach ihrem Bildungsgesetz entfalten und in ihrem Bildungsgesetz ihre Begrenzung, die Möglichkeiten ihrer Formgestaltung besitzen. Im Menschen aber finden wir etwas, das ihn von allen

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Gliedern der Pflanzen- und Tierwelt vollkommen unterscheidet. Und diesen U n t e r s c h i e d immer klarer und deutlicher herauszustellen, das bildet die g r u n d l e g e n d e und e r s t e A u f g a b e f ü r System und P r a x i s e i n e r E r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t von nun an, im G e g e n s a t z zu aller P ä d a g o g i k der v o r a u f gehenden Jahrhunderte. Bäume und Blumen wachsen nebeneinander auf, jedes nach seinem Bildungsgesetz, Tiere nebeneinander nach ihrem Gesetz und nach den immer gleichen Ordnungen der Tiergesellschaft. In diesen Reichen herrscht der Entfaltungstrieb des einen gegen den andern und um dieses Entfaltungs- und Erhaltungstriebes willen auch mit dem andern im Dienste der Lebensinteressen. Der Mensch bedarf des andern auch um des Lebens willen 1 ), allein außerdem um seiner w e s e n t l i c h e n Vollendung willen. Denn keine Pflanze und kein Tier sind Formen für Geistiges, wohl aber ist es der Mensch, d.h. der g a n z e Inhalt und Gehalt einer menschlichen Form an Energien soll in den Dienst des Geistes treten und somit der Mensch in einem höheren Maße Ausdruck des Geistes werden und sein. Damit gehört der Mensch, im stärksten Gegensatz zu Pflanze und Tier, in das Reich des tätigen und selbstbewußten Geistes hinein. In ihm ist jene Polarität von Leben: Geist unaufhaltsam voll wirksam von der Empfängnis bis zur Auflösung seiner Form. Was entspricht nun jener Entfaltung und Entwicklung, die wir als die Punktion des Lebens aufzeigten, auf seiten des Geistes? Die Funktion des „Geistes in Tätigkeit" ist die E r z i e h u n g ; Erziehung ist darum Vergeistigung. Gewiß ist sie damit auch Funktion der Wirklichkeit. Wie Entfaltung, Entwicklung die Funktion des Lebens ist und als Lebensfunktion in der Wirklichkeit gründet, so desgleichen Erziehung als die Funktion des tätigen Geistes. Die Wirklichkeit (als Geistleben) ist das unabhängig Variable, Erziehung die abhängige Variable, und wenn wir von Erziehungswirklichkeit reden, so vom Definitionsbereich der abhängigen Variablen. Dieser BeJ) Vgl. in m. „Allgemeinen Erziehungswissenschaft", S. 108—276: Die Reiche der Lebensnot; auch S. 46ff.



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reich erstreckt sich aber, für uns erkennbar, nur über den Menschen, und deswegen sind wir berechtigt, Erziehung auch den Prozeß der H u m a n i s i e r u n g zu nennen; denn Mensch-Werden im Sinne des eigentümlich und wesenhaft Menschlichen ist Vergeistigung. Erziehung gibt es also nicht in der Tierwelt, sondern hier nur Aufzucht, Dressur u. dgl. Um sich die Bedeutung der Efziehungsfunktion innerhalb der Menschheit in ihrer Eigenart und Besonderheit anschaulich zu machen, möge man sich einmal ausdenken, sie würde aus irgendeinem Grunde außer Wirksamkeit sein, gewissermaßen aus der Menschenwelt zurückgezogen sein. Was würde dann eintreten? Die Menschenwelt brauchte als Welt der so und so sich nährenden, wohnenden, sich bewegenden und aussehenden Lebewesen keineswegs zu verschwinden, und sie würde auch durchaus, verglichen mit Pflanzen- und Tierwelt, unterscheidende Merkmale aufweisen. Aber diese Unterschiede lägen einzig und allein in ihrer Form des Körpers und des Bewußtseins und folgten aus ihren eigentümlichen körperlichen und seelischen Fähigkeiten. Vor allem besäßen sie höhere praktische Intelligenz und darum eine raffiniertere Technik; nur gäbe es auch hierin nichts von dem, was man „Fortschritt" nennt, sondern alles bliebe gleichsam erstarrt und dasselbe im gerade erreichten Zustande. Ihr wirtschaftliches und soziales Leben in Handel, Wandel und Technik, ihr Schmuck, ihre arbeitsteiligen Verfahren würden genau so weiter geführt werden: aber rein mechanisch immer dasselbe. Es würde sich nichts „ändern"; es würde nichts hinzukommen, so wenig wie etwas fortgenommen würde. Alle inneren Bewegungen wären fort, alles „Freiheitliche". Die Sprachen der Menschen blieben genau so, wie es die der Löwen und die der Nachtigallen seit dem Tage sind, wo es zum ersten Male Löwen und Nachtigallen gab. Es gäbe eine Menschen gesellschaft in eben dem Sinne, wie wir von Tiergesellschaft reden, und es gäbe in dieser Menschengesellschaft Aufzucht des Nachwuchses wie in der Tiergesellschaft. Und die Menschen wären für ihnen geistig überlegene andere Wesen ebenso wie die Tiere nur der Dressur fähig, während sie heute auch der Dressur fähig sind, aber außerdem noch der Er-



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Ziehung, der bewußten wie der unbewußten. Darum: wer nur die bildenden Kräfte im Kinde aufruft, dressiert. E r z i e h u n g als F u n k t i o n des G e i s t e s in T ä t i g k e i t w i r k t nur in der M e n s c h h e i t . Sie bewirkt jene geistigen Akte und treibt in der menschlichen Vernunft als Vernunftk r a f t . Damit ist klar, daß der Geist nicht ratiojial wirkt im Sinne des Verständigen, des Intellektuellen, sondern — wie er sich aller körperlichen und seelischen Kräfte des Menschen bedient, so b e n u t z t er auch des Menschen Fähigkeit zum beziehenden Denken, seine Intelligenz, und so entsteht u.a. innerhalb des Bewußtseinsbereichs das Selbstbewußtsein, das Bewußtsein produktiver innerer Tätigkeit verbunden mit dem Vermögen, sich selbst die Welt in Wort und Tat zurecht zu legen, um auch mit dessen Hilfe eine g e i s t i g e Herrschaft über sich und andere auszuüben, nicht nur wie Tiere eine phgsische und vom Instinkt gestützte Beherrschung der Lebenslage zu erreichen. So muß dem Geiste alles dienen: er möchte auf sich selbst, auf den Grund alles Seienden alles richten und in Beziehung setzen zu ihm: Trieb und Instinkt, Vitales und Seelisches, Gefühl und Willen, kurz alle Bildungskräfte des Menschen. Die g e s a m t e B i l d u n g s e n e r g i e einer I n d i v i d u a l i t ä t ist zum D i e n s t e der E r z i e h u n g vorbestimmt. Nun erwachen die geistigen Schöpfungen erst am andern; sie bedürfen der Gemeinschaft, so daß geistige Gemeinschaft die Voraussetzung allen geistigen Werdens und Schaffens ist, und besonders alles Schöpferischen. Darum erfordern auch in den konkreten Verhältnissen des menschlichen Lebens wahrhaft erzieherische Kräfte die Formen der Gemeinschaft, um echtes erzieherisches Wirken möglich zu machen, und sie setzen ein Verhalten der Hingabe, der t ä t i g e n Hingabe voraus. In der bewußt gelebten Erziehungswirklichkeit, etwa als Erziehungspraxis, muß sich eine geistige Gemeinschaft bilden, in welcher die Glieder im Verhältnis des unmittelbaren Handelns an und für einander, in dem Verhältnis des „vollendeten Dienstes" stehen, wenn sie ihre höchsten und reinsten Formen zur Erscheinung bringen wollen. Jene Tatsache, daß sich die Erziehung auch der Bildungs-

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energien bedient, hat noch eine weitere, auch erziehungspraktisch wichtige Folge. In der Bildung eines Menschenkindes, d.h. im Werden, Sich-Entfalten seiner Form, w i r d diese F o r m zum p l a s t i s c h e n A u s d r u c k seines ganzen W e s e n s , seiner Vitalität, Rationalität, Willenskräfte, seiner ganzen Geistigkeit. Die in einer ijienschlichen Individualität treibende geistige Kraft der Erziehung prägt die Eigentümlichkeit der individuellen Bildung auch nach außen hin sichtbar aus. Und so strahlt eines Menschen Geistigkeit in jeder Teilform wie in jeder Tätigkeit aus: in Gesicht und Hand, in Schrift und Gang; in seiner Bewegung im Tanz, im Lied, in jedem beruflichen Tun, in der Rede, im Schrifttum; in der Leitung eines Haushalts, in der Kinderpflege und in fürsorgender Arbeit an Psychopathen, in der Schulstube, in all seinem Handeln und Wandeln unter den Mitmenschen, und verrät, „wes Geistes Kind er ist".

§ 5.

Die Grundurteile der Erziehungswissenschaft. 1. Immer a l l e s ! Immer rinnt der ganze Strom des Geistlebens durch die Welten. In keiner Epoche der Weltengeschichte war seine Energie größer oder geringer. Und immer barg er in sich die Einheit von Satz und Gegensatz für den Menschen, der in wertender oder erkennender Haltung Inseln zum Leben suchen, Wohnungen auf ihm bauen mußte. So lehrt auch die jüngste Vererbungstheorie, daß der menschlichen Erbmasse nichts zugefügt noch genommen werden kann; und auch wer die Mutationentheorie nicht fallen lassen will, bekennt doch, daß es sich höchstens in Jahrtausenden um Mutationen handeln könne, soweit der Mensch in Betracht kommt, allein damit würde ja die ursprüngliche Energiemenge in ihrem Grunde unverändert bleiben, es handelte sich nur um die Wandlungen in ihrer Erscheinungsform. Das erste Grundurteil aber geht nicht auf die Erscheinungen, sondern auf das, was allen Erscheinungen zugrunde liegt, was sie erzeugt, trägt und eint, auf die Gemeinschaft selbst als den geistigen Urgrund

— 97 — allen Geschehens und individuellen Seins. Von dem Geiste an sich sagte auch Hegel am Schlüsse seiner Einleitung zur Philo* sophie der Geschichte1): „Er ist nicht vorbei und ist nidht noch nicht, sondern ist wesentlich itzt. So ist hiermit schon gesagt, daß die gegenwärtige Gestalt des Geistes alle früheren Stufen in sich begreift. Der Geist ist an sich immer gewesen, der Unterschied ist nur die Entwicklung dieses an sich... Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe." Unser Grundurteil besitzt eine gewaltige Bedeutung für wissenschaftliche Forschung wie für praktisches Handeln. Es weist geschichtliche, völkerkundliche und verwandte Betrachtungen auf ihr rechtes Maß zurück. Wir werden z.B. Drobisch zustimmen müssen, daß die Anfänge der Sprache in jedem Kinde neu gemacht werden, daß es darum nicht nötig sei, erst in der Geschichte zurückzugehen. Die angeborenen seelischen und geistigen Dispositionen des Menschen haben sich in den uns zugänglichen Zeiten nicht geändert. So konnte D. Κ at ζ mit Recht annehmen, daß vor einigen tausend Jahren geborene Kinder sich sofort unserer Kulturlage anpassen würden, wenn es möglich wäre, sie nach der Geburt sofort in unsere Zeit zu verpflanzen. Der Strafrechtler H.B. Gerland findet, daß er heute mit denselben seelischen Vorgängen und Verhaltensweisen der Menschen zu tun habe genau wie zu jeder Zeit. Am Ende eines reichen Lebens konnte aus der Tiefe abgeklärtester Weisheit ein Rudolf Kittel bekennen, daß im Religiösen und im Sittlichen zu allen Zeiten gleiche Vollkommenheit und gleiche Mängel geherrscht haben, daß deswegen die Menschheit in der Kultur der Seele und der Richtung und Veredlung der Sitten kaum vorwärts gekommen sei. Das war auch das Bekenntnis eines Ranke, eines Wilhelm Wundt, eines Joh. Volkelt und Paul Natorp u. v. a. Immer steht die Menschheit ausgerüstet mit der gleichen und der gleichen ganzen Fülle ihrer Gaben vor denselben Aufgaben. Ihre Lösungen sind wohl andere, allein die seelischen, geistigen und körperlichen Anlagen zu ihrer Bewältigung sind immer dieselben. x

) Ausgabe Reklam, S. 125.

P e t e r s c η , Erziehungswissenschaft-

II.

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Auch eine völkerkundliche Untersuchung der Erziehungsformen in Urzeit und Jetztzeit auf Erden ergab, daß die Erziehungsanschauungen und -mittel überall wesentlich dieselben waren und sind, in allen Kontinenten. Und Wilhelm Oehl 1 ) meinte, es müsse daher „uraltes Erbgut aus vorgeschichtlicher Urzeit sein. Die Familienerziehung der heutigen Primitiven ist im wesentlichen gleich der Familienerziehung der Urzeit, und zwar eine durchaus altruistisch-ethische". Uns nötigt aber nichts von einem „uralten Erbgut" unter Anlehnung an entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen zu reden, sondern es ist eine und dieselbe Kraft der Erziehung als Funktion des Geistes in Tätigkeit, welche sich allerorten und überall unter Menschen auswirkt und gleiche wie verwandte Anschauungen und Mittel schafft, sobald sie sich in Formen planvoller Erziehung darstellt. Es ist darum richtiger, statt von Erbgut von einer stets wirkfähdgen, und zwar stets in ihrer vollen Wucht wirkfähigen Kraft zu reden, sodaß es nur ihrer Organe bedarf, der einzelnen Menschen also und deren Gemeinschaften, sich in ihren Dienst zu setzen. So ist Erziehung für j ede Epoche die F r a g e an die lebendige Menschheit der Epoche in jedem einzelnen Menschen und jedem Teil und an deren Gesinnung. Keine braucht zu verzweifeln, und vor allen Dingen keine braucht zu war ten. Jede kann, ja jede muß mit sich anfangen. Sie kann auch von ihrer Gesinnung nichts lebendig weitergeben; lebendig überliefert sie nur den das Geistleben tragenden Zellkern. Die aus ihm entfalteten Energien haben jeweils dieselbe Aufgabe während des Zeitraums, der ihrer Entfaltung gegönnt ist, und für diese Entfaltung haben sie als einzelne Wesen wiederum beim Erscheinen alle Kraft mit einem Male mit ins Leben erhalten. Und das Aufwachsen, Blühen und Vergehen sind nur die Metamorphosen, die Wandlungen dieser Kraft, veranlaßt durch die Anspannung der Kräfte, so wie sie in dem betreffenden Leben wirksam werden konnten, und soweit dessen Naturraum und die Lebens-„Umstände" es gestatteten. Diese haben darin ihren Vierteljahrsschrift f. wiss. Pädagogik, I. S. 12.



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Wert, daß sie Material-Stoff für den Menschen sind, sein Leben zu erhalten, und Material-Ausdrucksmittel, sich selber als Persönlichkeit, als Träger einer „Gesinnung", darzustellen. Insofern sind sie Objektivationen, sind sie Menschenwerk, und darum auch immer das Vergängliche, das, was wert ist zu vergehen, und das, was nur Wert hat, wenn es von uns verlebendigt wird. Wir brauchen für unser Geistleben, und erst recht für unser moralisches Handeln, heute nichts von dem, was die alten Griechen und Römer oder was die alten Germanen, was Inder und Ägypter objektiviert haben, in dem Sinne, als wenn wir anders nicht geistige Menschen werden, vor allem aber anders nicht moralisch handeln könnten. Wenn trotzdem einige Bruchteile eines Prozentes der europäischen Menschheit heute irgendwie noch nennenswert aus den „Schätzen der Vergangenheit" leben, so ist auch das nur aus diesem ersten Grundurteil zu erklären. Denn möglich wird dieses Leben aus und in vergangenen Geistquellen doch nur deswegen, weil in jenen dieselbe Kraft lebte, weil die Sonne Homers eben auch uns leuchtet. Auch alles Verstehen dessen, was hinter uns liegt, ist nur möglich, weil uns gleiches Erleben mit den fernsten Zeiten und Völkern verbindet, und die Irrungen und die Wirrungen in aller Deutung, in allem Auslegen des Vergangenen, liegen in der Ausdeutung der damaligen Lebens-„Umstände". Und wenn wir uns solcher vergangenen Werke bemächtigen und sie unter uns zu vergeistigen und zu verlebendigen streben, dann ist das immer nur darum geschehen, weil wir sie um unsertwillen nötig hatten. Daraus erklärt es sich auch einzig und allein, daß jede Epoche anderes liebt aus der Vergangenheit, anders wertet, ja ganz einfach anders liest, geradezu auf einmal nicht lesen kann, was etwa in einem philosophischen Werke „wirklich" geschrieben steht, wofür einige große Beispiele sind die Aristoteles-, die Rousseau- und die Nietzsche-Legende. Weil jede Zeit den „Sinn", die „Deutung" immer von sich aus schon mitbringt und sie hineinliest in das Vergangene, sich hineinurteilt in die Werke der alten Meister, einmal in Rembrandt und Rafael, ein andermal in die Plastik des frühen Mittelalters und die Malerei der alten Byzantiner usf., so bekundet sie immer



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sich selbst, verrät sie ihre eigenen Sehnsuchten. Sie gebraucht das Alte, das unter ihr steht, sich noch erhalten hat, das aber stets in Ruinen, stets in einer eigentümlichen Vereinsamung noch dasteht, etwa als Gegenstände der „Verehrung", um ihr Bedürfnis für Verehrung auch daran zu stillen, oder wie man sagt, „um sich selber besser zu verstehen", nämlich, so meint man, aus den Ursprüngen, aus der Geschichte sich besser zu verstehen, und das ist ja zu einem gewissen Grade auch möglich, wie soeben erklärt wurde. Von solchem Standpunkte aus sind für uns evolutionistische und alle historischen Betrachtungen nur Methoden wissenschaftlicher Forschung, mit denen man es auch einmal versuchen kann, wieweit mit ihrer Hilfe die Betrachtung der Vergangenheit, auch für die Erziehung, Wertvolles zutage fördern kann. Allein um den Sinn des Lebens und die Bestimmung des Menschen, seine Aufgabe für sein Heute zu erschließen, dazu bedarf es stets der Besinnung auf den Menschen in jener Schau, in welcher der Mensch inmitten der Wirklichkeit mit umfangendem Blick in seinem Wesen erschaut wird. Gilt unser erstesjGrundurteil „Immer alles", dann ist damit auch gesagt, was die ewig gleiche Aufgabe bildet, die Aufgabe, bei der uns niemand helfen und raten kann anders als wir selber, wir, d. h. die Menschengemeinschaft, die jeweilig den Erdball bevölkert, — diese Aufgabe ist und war immer: alles Fühlen, Handeln und Denken aus lauterster Gemeinschaftsgesinnung fließen zu lassen! 2. „Von Natur gut." Schopenhauer lehrte, das Kind bringe einen fertigen Vorrat an Anlagen mit auf die Welt, aber nur negative, verhängnisvolle, die das kommende Schicksal des Menschen vorausbestimmen, seinen Weg der Schmerzen und des Leidens durch diese Welt der Sinnlosigkeit. Solcher philosophische Pessimismus ist im Grunde nur die Entwicklung der einen Seite derjenigen christlichen Orthodoxie, welche die Erbsündenlehre vertritt; es fehlt die Heilslehre. Auch versdhließt sich jene Theologie in ihrer strengsten Form jeder Möglichkeit, dem Menschen aus eigener Kraft etwas zuzumuten, das seinem Heile dient. Besiegt ein Mensch die Sünde in sich, so ist das ein Gnadenakt Gottes an ihm, ein unmittelbarer Eingriff Gottes,



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bei welchem dem Menschen keinerlei Verdienst gebührt, oder es ist alles vorherbestimmt, und der Mensch kann nur leben, was Gott ihm auferlegt hat. Deutlich blickt diese theologische Lehre in der Ethik K a n t s durch. Der Mensch ist nach Kant als sensibles Wesen von Natur böse. Im Kinde entwickelt sich bereits vom 3./4. Lebensjahre an die Selbstsucht und wuchert weiter, nur gehemmt durch die Widerstände anderer selbstsüchtiger Wesen, welche den Einzelnen zu einem vorsichtigeren Auftreten nötigen. Im Menschen überwiegt die Tierheit, und seine Entwicklung zum wahren sittlichen Menschen, zur Menschheit, zum sittlichen Charakter, ist auch beim Philosophen nicht ohne einen nahezu wunderbaren, explosionsartigen Akt denkbar. Aber im Gedankengange dieses größten Aufklärers und seiner intellektualistischen Ethik tritt an die Stelle eines göttlichen Gnadenaktes oder einer Bekehrung im religiösen Sinne der „Entschluß" des Menschen, die freie Entscheidung, fortan sein Leben gemäß dem Pflichtgebot zu führen und sich der wandelbaren, hin und her ziehenden Herrschaft der Instinkte zu entwinden. Der Mensch empfindet „Überdruß am schwankenden Zustande des Instinktes"; er ist bis zum Überdruß unlusterfüllt, und wie nach K a n t der Schmerz der Stachel jeder Tätigkeit ist, so sind es auch hier Schmerz und Unlust, welche den Menschen bestimmen, sich dafür zu entscheiden, seine Tätigkeit zu einer vollendet sittlich-guten zu wandeln und nach Maximen weltbürgerlichen Ranges zu leben, charaktervoll zu handeln, ein Mensch „inneren Wertes" zu werden 1 ). Bei allen diesen Lehren finden wir auf dem Grunde einen Dualismus, dem entsprechend, den der Mythus vom Kampfe zwischen Licht und Finsternis in vielfachen Formen abwandelt. Jeder Dualist ist gezwungen sich zu entscheiden, welcher Seite denn der Sieg gehören soll, ob Baidur oder Loki, Ormuzd oder Ahriman siegen wird, ob die Welt sich zum Chaos zurückverwandeln oder in ein Paradies der Seligen verwandeln soll. Wenn die Entscheidung zugunsten der guten Seite fällt und ihres Fortschreitens, alsdann bedarf es helfender Götter, die mit Rat und Vgl. m. Schrift „Die Philosophie in erziehungswiss. Beleuchtung", 1929, S. 17 f., 27ff.



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Tat, mit ihren Wunderkräften sich auf die Seite des Menschen schlagen, in ihm oder durch ihn für den Sieg des Guten streiten, bis hinauf zu der Lehre eines S c h e l l i n g , daß die Entwicklung der Menschheit die Entwicklung der Gottheit selber sei, ihre eigene Entwicklung zur vollendeten Reinheit und Göttlichkeit, oder der eines Max S c h e l e r , wonach der Mensch im echten Mitvollzug der Welt Gott schafft, sodaß „von vornherein die Mensch- und die Gottwerdung gegenseitig aufeinander angewiesen" sind. Wie bequem hatte es von je die evolutionistische Theorie und wie mußte sie jederzeit einfachen Gemütern eingehen 1 )! „Der Mensch ist das Produkt einer stetigen Fortentwicklung aus dem Tierreich"; er ist ein Tier, „das in fortschreitendem Aufsteigen zur idealen Menschlichkeit, zum Zustande eines Vernunftwesens begriffen ist. Der Naturzustand ist nicht der sittliche Zustand, aber er ist auch nicht ein schlechterdings widersittlicher Zustand. Er ist der Baugrund, auf dem der Bau des sittlichen Lebens erst errichtet werden soll". Das ergibt den Glauben an einen sittlichen Fortschritt der Menschheit, der trotz mancher Rückschläge, die wohl zugegeben werden, im Ablauf der Zeiten doch mit Sicherheit ansteigt. Und was so für die Menschheit als Gattung gilt, daß läßt sich, innerhalb der jedem Einzelwesen gesetzten Schranken, dennoch für den Einzelnen als möglich ansehen, obwohl es nun bei einer so großzügigen Betrachtung wenig auf den Einzelnen ankommt, wenn nur das Ganze fortschreitet. Der Einzelne verschwindet vor diesem Ganzen und gewinnt einen niedrigeren Wert. Heute ist die alte Entwicklungslehre mit ihrem Kampf ums Dasein, ihrer Anpassung des Lebenstüchtigsten, ihrem Äuswahlprinzip, also in ihren ersten Prinzipien längst wissenschaftlich zusammengebrochen und fristet nur noch im populären Schrifttum ihr Leben weiter. Die Vererbungslehre rechnet mit einem Keimplasma, dessen chemisch-physikalische Elemente ein konstantes Verhalten zeigen und eben dadurch die jahrtausendelange Konstanz vieler Spezies und der Menschenvölker erklären. Μ Λ. Döring, Handbuch der menschlich-natürlichen Sittenlehre, 1899, S. 229 f.



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Die „Norm" ist fest; auch der Änlagekomplex des Einzelmenschen kann nur zu einer bestimmten Form führen. Wenn aber diese Form die v e r s c h i e d e n s t e Bildung erfahren kann, so ist das allein davon abhängig, welcher funktionellen Beanspruchung der Anlagekomplex unterliegt. Es ist eine Sache des Willensaufgebotes innerhalb des biologischen Geschehens, des Willens, der damit also auch vom Naturforscher anerkannt wird, wie es sehr früh den Darwinisten gegenüber W. Wundt, Fr. Paulsen u. v. a. behauptet haben. Und ferner: Wo das Erbgut unter g e s u n d e n Bedingungen weitergegeben wurde, dort ist auch mit einer g u t e n Entwicklung zu rechnen; denn a l l e s E r b g u t des Menschen n e i g t a,n sich zum Guten 1 ). Und es besteht die Tendenz, den guten und gesunden Typus des Menschen immer wieder regenerativ herzustellen, wenn Schädigungen des Erbguts erfolgt sind. Solche .Schädigungen sind ganz besonders die Folgen künstlicher ja verkünstelnder Aufzucht. Wie bei den Tieren, so bewirkt sie auch bei den Menschen Entartung, Fehlentwicklung, Verkümmerung, Wucherung usw. Alles demnach, was wir schlecht, böse nennen, ist auf falsch bewertete Faktoren zurückzuführen, auf falsche Umwelt-Bildung, und diese falsche Umwelt-Bildung muB vor allem dort erfolgen, wo die räumliche Umwelt nicht mehr eine der Menschennatur gemäße ist, sondern so unnatürlich wie die des Löwen in einer Grotte des Tierparks oder die des Kondors im Käfig des Zoologischen Gartens. Der Sozialpolitiker muß daher einsehen lernen, „daß alle Sozialpolitik ins lecke Faß der Danaiden schöpft, daß alle soziale Hygiene, alle Stählung und Erziehung des Körpers und Geistes nur kulturelle Bedeutung für die Dauer des Einzellebens hat, aber von jedem neu entstehenden Menschen aufs neue erworben werden muß". Sie sollte sich endlich entschließen, sich fortan in allen ihren Veranstaltungen, als Sozialhygiene und Sozialfürsorge usw., lediglich als Hilfsveranstaltung vom Charakter des Roten Kreuzes auf den Schlachtfeldern der Menschheit zu sehen. Sie darf siah dabei immerhin als menschliche Hilfsveranstaltung im Dienste Alexander Elster, Sozialbiologie, 1923, S. 87f.



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jener soeben erwähnten regenerativen und behütenden Tätigkeit betrachten, sodaß sie sich dessen getrösten kann, daß ihre Tätigkeit dem Menschentyp als Ganzem immer auch zugute kommen wird. Sie gewinnt aber für ihre Arbeit ein noch wertvolleres Motiv, wenn sie sich ganz der Anschauung ergibt, daß des Menschen Wesen von Natur gut ist und daß sie darum die größte Hoffnung hegen darf, daß ihre Hilfsveranstaltungen Erfolg haben, dort, wo sie recht einsetzen, vor allem also, wenn sie endlich zur Wurzel des sozialen Elements vordringt und nicht wartet, bis aus der Wurzel Fehltriebe und Fehlwertungen emporschießen 1 ). Dies alles gilt erst recht für alle E r z i e h u n g s p r a x i s . Sie begreift aus diesem zweiten Grundurteil die Bedeutung des Willensmomentes und der Umweltgestaltung. Wenn aus der falschen Umwelt-Bildung die sittliche Fehlentwicklung zu überM „Das Böse ist in einer anderen Art im Gesicht als das Gute. Das Böse gehört auch nicht in das Menschengesicht, wie auf Schleidhwegen ist es hineingekommen, darum ist es versteckt darin, hineingewunden, hineingebohrt, es vergräbt sich darin, es möchte sich in sich selber verstecken... Das Böse findet im Menschengesicht nichts, das ihm hilft, böse zu sein. Das Böse ist im Menschengesicht auf sich selber gestellt. Das 1st das Beglückende, daß das Böse im Menschengesicht sich selber aufbraucht. Es muB zunehmen, wenn es nur so bleiben will, wie es ist. Es muB zunehmen, um nicht zu vergehen. Und darum ist das Böse im Menschengesicht so aggressiv,... es muß immer tätig sein, damit es nicht vergeht. Das Gute aber ist in entgegengesetzter Ärt wie das Böse im Gesicht: es ist offen darin, und wenn es sich auch nur an e i n e r Stelle des Gesichts zeigt, so ist es trotzdem überall im Gesicht. Es kann sich ganz darin verschenken, und trotzdem ist es immer im gleichen Maße da; es kann sich für immer daraus entfernen, und trotzdem wird es in jedesn Augenblick zurückerwartet. So sehr gehört es zum Gesicht. Es ist heute schwierig, das Gute in einem Gesicht zu sehen. Denn das Gute ist immer nur im ganzen Gesicht, und es ist überall im Gesicht als Ganzes d a , . . . wer aber kann heute das Ganze sehen und das, was sich ganz gibt? Jeder heute sieht eher den Teil und das, was am Teil geschieht. Das Böse aber das wird heute leicht gesehen'. Denn das Böse gibt sich nie ganz, es ist vorsichtig, und es zeigt sich fast immer nur in einem Teile des Gesichts,... alles aber, was nur ein Teil oder an einem Teile ist, wird heute beachtet, und darum wird das Böse eher beachtet als das Gute." Max Picard, Das Menschengesicht, 1929, S.212f.

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wiegenden Teilen hervorgeht, dann weiß sie ja, daß die Schuld nicht in den äußeren Paktoren zu suchen ist, sondern in der vom Menschen ausgehenden verirrten Wertung, darauf, daß er in seinem Käfig, in seiner Höhle zu einem verwirrten System der Werte gelangte und von diesem Käfig- und Höhlensystem aus nicht mit der Welt und den Mitmenschen fertig werden kann. Sie wird sich davor hüten, zu glauben und zu lehren, daß die Umwelt den Menschen mache, daß dieser das Werk äußerer Faktoren sei, daß er von dem äußeren Geschehen, etwa dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen, getrieben werde, sondern immer wird sie es wissen und betonen, daß alles dieses Werk des Menschen ist, auch dann, wenn es Pehlwerk ist und über den Menschen zu herrschen scheint — so sehr kann ja der Mensch in die Sklaverei meiner Gemachte gelangen. Haben doch auch niemals die Menschen, selbst nicht diejenigen, welche lehrten, der Mensch sei nur ein Etwas, das dem Gange des äußeren Geschehens ausgeliefert sei und dessen Produkt, die Hände in den Schoß gelegt und gewartet auf den nächsten Schub in der — Entwicklung. Keine dieser Lehren hat die Menschen davon abgehalten, so zu leben als wenn sie die Lebens- und die Weltgestaltung zu bestimmen hätten, und darin haben sie recht getan und haben sie auch Erfolge gehabt. Denn das Leben ist eine Angelegenheit des menschlichen Willens, aller Kräfte des Menschen, und diese Kräfte sind von Natur gut, und es steht in ihrer Macht, in jeder Epoche, in jeder Menschengeneration und während seiner Dauer, durch welche immer der ganze Strom des Geistlebens rinnt, ein Gemeinschaftsleben höchster sittlicher Form zu verwirklichen, d. h. Wesenheit und Energievorrat enthalten die Bedingungen dafür jederzeit. Die Aufstellung dieses zweiten Grundurteils bedeutet nicht, einen rosenroten Optimismus und einen weltfremden Idealismus lehren, die über offenbare Tatsachen der Menschenwelt sidi kühn hinwegsetzen. Die Tatsache, daß wir etwas als schlecht oder böse bewerten und bewerten müssen, wird dadurch nicht im geringsten geleugnet. Wenn einem ζ. B. beim Besuche eines Fürsorgeheims ein zwölfjähriges Mädchen vorgeführt wird, dessen Lebensinhalt nur essen und vor allem eimerweise Wasser



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trinken bildet und das seine Tage damit ausfüllt, diese unersättliche Gier zu befriedigen, oder wenn der nicht seltene Typus des raffiniert boshaften und grausamen psychopathischen Kindes gezeigt wird, so wird es niemandem möglich sein, hier von einer Darstellung guten Menschenwesens zu reden. Wir wissen es ganz genau: es nimmt Lebendiges Menschengestalt an und ist erzeugt oder geboren unter Verhältnissen, die der Seele keinen ausreichenden Körper mitgaben; es sind andererseits ebenso an Seele und Leib normal geborene Menschenkinder unter hygienischen, unter sittlichen Verhältnissen auf gewachsen, die Seele und Leib zerbrochen haben, bevor das Kind noch die Schule sah; es sind Menschen wohl geführt und recht entwickelt in Verhältnisse gekommen, in denen sich ihre Wertungen und Taten verwirrten, sodaß sie nicht ein und aus wußten, wohl gar zu entsetzlichen Schandtaten getrieben wurden. Die Schuld daran liegt stets bei der Gemeinschaft der Menschen des Kreises, des Volkes, einer bedarf ja des andern, um sich ganz und voll darzustellen ; einer ist die Bedingung für die Entwicklung des andern, und darum kann niemand selbstgerecht an seine Brust schlagen und, in frevelnder Leugnung dieser Bruderschaft aller Menschen, sich zum Richter über den andern aufwerfen, als wäre er allein, und aus sich allein, im Besitze des Sittlichen und all seiner Kräfte. Jeder Einzelne rnuß das, was er in der Welt als schlecht und böse und mißraten erkennt als Arbeitsfeld für seine sittlichen Kräfte ansehen, und nur nach dem Maß, wie er in seinem eigenen Leben und in seinem Lebenskreise alles darangesetzt hat, die ihm zugängliche Welt sittlich-geistig zu durchdringen, steht ihm ein Urteil über seine Mitmenschen und deren Fehle zu. Die überlieferte Pädagogik1), vor allem auch diejenige der Herbartianer, hat siah vielfach auf den Standpunkt der Erbsündenlehre gestellt oder es versucht, mit einem Kompromiß auszukommen: der Mensch sei weder gut noch böse, aber er könne beides werden. Keine ernst arbeitende Erziehungspraxis wird auf die Dauer mit dieser Halbheit auskommen. Jeder Erzieher muß sich entscheiden, wie er den Menschen im Grunde Vgl. m. Schrift „Innere Schulreform und Neue Erziehung", 1925, S. 280 f.



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seines Wesens ansehen will, und bei solcher Entscheidung bleiben der Dualismus wie die Kompromißansieht auf halbem Wege stehen. Wer mit zwei Weltprinzipien rechnet, dem guten und dem bösen, wird schon niemals imstande sein, anders als durch gewaltsame Überredung und Suggestion, Menschen davon zu überzeugen, daß wirklich das Gute, daß wirklich Gott und nicht der Teufel siegt. Es gibt indertat keine Möglichkeit, die Manschen davon zu überzeugen, daß sie am besten fahren, wenn sie sich in den Dienst Gottes stellen und nicht in den Dienst des Teufels, sofern man an die Existenz beider glaubt. Denn der Kampf ist eben nicht entschieden, und über seinen Ausgang kann dann doch nur eine Vermutung bestehen, und die Anhänger jeder Partei würden mit gleichem Recht für ihre Vermutungen eintreten. Die Wahrheit aber ist: solche dualistische Theologie glaubte an den Sieg des Guten, weil sie das Gute als den von vornherein zum Siege fähigen, ja bestimmten Kern des Menschen ansah und in ihrer Lehre vom Teufel den irdischen Ringkampf der Menschen mit sich selber und miteinander dramatisch behandfeit, nur anschaulicher und auch dem einfachen Gemüt« einleuchtender gestaltet. — Zu welcher G r u n d s t i m m u n g führt die Anerkennung des Grundurteils: der Mensch ist von Natur gut? Verbunden mit dem ersten Grundurteil: immer alles, bedeutet es: es gibt keine sittliche Entwicklung der Gattung, sondern nur Entfaltung der sittlichen Kräfte des Einzelnen in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft, in welcher er lebt, und damit immer neue Entfaltungen des Sittlichen in den gegenwärtigen Gemeinschaften. Es gibt keinen Fortschritt zum Besseren im Sinne eines Enthusiasmus oder einer Entwicklungslehre, sondern: das Gute ist in seinem ganzen Umfange, in seiner ungebrochenen Einheit stets gegenwärtig. Es ist nicht zu mehren noch zu mindern, in keinem Äugenblicke dessen, was man „Welt" nennt. Es ist dies dasselbe, was der religiöse Mensch damit ausdrückt, daß er sagt: Gott ist gegenwärtig, was ebenfalls bedeutet, er ist in seiner vollen Macht und Einheit gegenwärtig und damit in seiner vollen Kraft. „Und in jedem war der Gott!" bezeugt E r n s t S t a d l e r in seinem Gedichte „Befreiung", in dem er Glück und Hoheit



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der neuen Weltansicht besingt. Ebenso R i l k e : „Jedes Ding kann der liebe Gott sein, man muß es ihm nur sagen." Das ist bewußte Absage an jede Lehre von einem Fortschritt der menschlichen Gattung zur sittlichen Vollkommenheit, einem Fortschritt, dem also die jeweils lebende Menschheit sich weihen müsse, so, daß sie leben, handeln und denken müsse, als ob ihre Arbeit einer fernen Zukunft und den Menschen dieser fernen Zeit zugute käme. Das ist eine ethische Eschatologie; das Tun und Leben der Gegenwart dient den letzten Dingen (τα έσχατα.) Unsre Arbeit in der Gegenwart aber wird dadurch eigentümlich gefärbt: sie wird im besten Falle ein enthusiastisches Tun sein; der Mensch wirft sein Leben und dessen Tätigkeit hin als ein Opfer, als Stufe, die überwunden werden muß. Die hohen Begriffe des Dienstes und des Opfers werden somit übersteigert und erhalten einen übermenschlichen Inhalt, der darum auch die Menschen solchen Geistes, wenn sie von ihm ergriffen werden, zu Fanatikern und Rigoristen macht, sie anfeuert, ihr Leben in die Schanze zu schlagen. Es liegt darin eine Entwertung des Einzellebens u n d vor allem der Gegenwart. Und so kann auch der zweite Fall eintreten: eine asketische Haltung, eine mönchische Einstellung zum Leben, bedingt durch die Erkenntnis des Dienstes an einer „unendlichen Aufgabe", einem Ideal, in der Unendlichkeit zu erfüllen. Allein auf die große Masse der Menschen gesehen sind enthusiastische und asketische Haltung immer unmögliche Forderungen gewesen, und etwas ganz anderes ist eingetreten. Mit solcher Fortschrittslehre rechtfertigen die Menschen die H ä r t e in ihrem Urteil und ihrer Lebensführung und in der Behandlung der — Mitmenschen. Es ist ja die Gegenwart selbst immer mit ihren Menschen entwertet im Vergleich mit der „besseren" Zukunft, der die Menschheit zueilt, immer zueilen sollte. Nichts hat mehr dazu beitragen können, die Grausamkeit an der Mitwelt und das Rücksichtslose im Verkehr von Mensch zu Mensch zu rechtfertigen. Stets wird für die Zukunft, die spätesten Geschlechter gearbeitet; das gegenwärtige Geschlecht ist damit als minderen Wertes von vorneherein gekennzeichnet. Sicherlich hängt damit die Ansicht von dem sittlichen Minder-



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wert des Kindes zusammen, selbst die Grausamkeit gegen Kinder, ja rohe Behandlung ist dadurch wie entschuldigt, daß es gar nicht auf das Kind ankommt, sondern auf den Mann, das Weib, für die das Kind angelegt ist und die es als charaktervoll herauszubringen gilt. So sind die Liebe und die Zuneigung und die Hingabe, welche Kindern entgegengebracht werden, dann nur triebhaft, sinnlich begründet, aber fcs kommt nicht zu einer voll und ganz s i t t l i c h getriebenen Liebe, die das Kind um seiner selbst willen als sittliches Eigenwesen, als sittliche Persönlichkeit, die es doch bereits ist 1 ), anerkennt und will und sich selber als Bedingung seiner Entwicklung zu verschenken bereit ist. Vom Gesichtspunkte unseres Grundurteils aus gilt es die Menschen zu lehren, immer auf i h r e Gegenwart zu sehen und auf jeden Tag und auf die Mitmenschen ob klein oder groß, da wo man ist; immer gerade die Menschen, unter denen man lebt und steht, sind des Menschen Aufgabe in allen Tagen seines Lebens. Was scheren uns hinfort „Zukunftsstaaten"! Man baue den Staat, der immer heute ist und heute notwendig ist! Äuge, Herz und Hand und jede Kraft des einzelnen Menschen sind für die gegenwärtige Arbeit und Aufgabe aufzuschließen. Also nicht so hoffen, daß man in der Hoffnung lebt, sondern leben in immer dem Augenblicke, der einem gegeben ist, als wenn in ihm alle Kräfte aufzuschließen und in ihn zu entleeren seien oder als ob er ganz gelebt und im recht verstandeneln Sinne — genossen werden müßte. „Wir b r a u c h e n nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Macht Euch nur von dieser Anschauung los und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein." (Chr. Morgenstern.) Der Blick auf die Welt und die Haltung ihr gegenüber sind demnach diejenigen der Milde und Duldsamkeit, sich gegenseitig zu tragen und zu helfen, für einander einzustehen. Es ist ein stetes Jasagen zu den Menschen und ein unermüdliches Bemühen, dieses Ja zu leben. Und das ist genau so weit zu verstehen, wie es wieder C h r i s t i a n M o r g e n s t e r n im bekannten Spruch seiner „Stufen" ausgedrückt hat: „Wenn man zum Leben *) Vgl.: Innere Schulreform usw. a. a. 0 . S. 247ff.



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ja sagt und das Leben selber sagt zu einem nein, so muß man auch zu diesem Nein ja sagen." Damit hat auch der Einzelne volleren Wert, und das in jedem Stadium seiner individuellen Entfaltung. Immer ist er eine Ganzheit eigenen Wertes und kann es erwarten, ja fordern, als solche geachtet zu werden. Auf jeder Stufe hat er Würde und inneren Wert, nicht erst, wenn er etwa die Vierzig erreicht und sich nun explosionsartig für ein charaktervolles Leben entschieden hat. Äm Vorabende seines Todes unterhielt sich P e s t a l o z z i mit Zeller. Dieser glaubte an die Erbsünde beim Kinde. „Nein, sagte Pestalozzi, laßt uns Vertrauen zum besseren Teil des Menschen haben! Erziehen heißt nicht das Leben bekämpfen, sondern es frei machen, an den Tag bringen bis zum kleinsten Teilchen des Göttlichen, das in uns ist." 5. E i n h e i t des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . Der Anthropologe lehnt von seinem naturgeschichtlichen zoologisdien Standpunkte aus eine „Menschheit" und damit auch die Einheit des Menschengeschlechts ab. Menschheit ist für ihn keine wirkende Lebensform, sondern das sind nur die Volkstümer. Er kann deswegen auch im Begriffe der Menschheit nichts Faßliches finden, das es ermöglichte, darauf eine Sittenlehre zu gründen, folglich ebenso wenig eine Erziehungslehre. Und audi wir werden zugeben, daß eine Menschheit nur durch das Volk hindurch auf uns erzieherisch einwirken kann 1 ). Für einen O s w a l d S p e n g l e r , der ebenfalls von biologischen und anthropologischen Gesichtspunkten ausgeht, gibt es gleichfalls keine Einheit des Menschengeschlechts. Freilich erfolgt seine Stellungnahme zu diesem Problem in der Einleitung seines bekannten Hauptwerkes im Zusammenhang mit der Ablehnung einer bestimmten Auffassung von „Menschheit"; nämlich, die Menschheit entwickle sich in einer „linienförmigen Weltgeschichte" weiter, eine Fortentwicklung, zu der jedermann im zufällig Gegenwärtigen allein „Ansätze" finde, „nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist·, sondern weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten — nie mit einem M. Allgemeine Erziehungswissenschaft, I, S. 253—259: Volk und Menschheit.



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natürlichen Ende — gerechnet, und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Portsetzung entworfen." Und solcher unwissenschaftlichen wie ungesdiichtlichen Auffassung gegenüber sagt er: „Die „Menschheit" hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. Die „Mensdhheit" ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort." Und an die Stelle jenes „öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte" setzt er „das Schauspiel einer Vielzahl (acht) mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schöße einer mütterlichen Landschaft entstehen, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne Form aufprägt, von denen jede ihre e i g n e Idee, ihre e i g n e Leidenschaftlichkeit, ihr e i g n e s Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat". — „Es gibt keine alternde „Menschheit". Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. — Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Bäume auf dem Felde... Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen „ansetzt" 1 ). Wir teilen völlig die Ablehnung einer „linienförmigen" Entwicklung der Menschheit und anerkennen ebenso die Landschaft als „Gußform" der Völker, wie sie schon der Geograph K i r c h hoff genannt hat. Die Volkstümer sind in den landschaftlichen Raum eingelagerte Teile der Menschheit und durch ihren Raum eigentümlich in ihrer Entfaltung, ihrem Aufleben, Aufblühen und Sterben bedingte und aus diesem Räume ihre eigentümliche Aufgabe empfangende Menschheitsteile. Aber damit wird unsre Behauptung einer „Einheit" des Menschengeschlechts keineswegs entkräftet. Sondern ebenso wie innerhalb eines einzelnen Volkes die größten, wiederum zumeist auch schon landschaftlich x

) Der Untergang des Abendlandes, I. S.27f.



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bedingten Unterschiede vorhanden sind und dennoch kein Anthropologe hier die Einheit des Volkes leugnen wird, so audi innerhalb der Völker, die unter dem Oberbegriff Menschheit zusammengefaßt sind. Diese Einheit ist in der E i n h e i t der a l l g e m e i n - m e n s c h l i c h e n A n l a g e n begründet, und deren Feststellung ist eher die Aufgabe des Völkerpsychologen. Dieser aber spricht mit Recht von einem „Völkerbewußtsein", auch nun innerhalb einer die völkerpsychologischen Ergebnisse verwertenden Ethik. Das ist eine Anschauung, die eine Fortbildung des von A d o l f B a s t i a n geprägten Begriffs des „Völkergedankens" darstellt. Bastian glaubte, es gäbe einen auf ursprünglichen Anlagen beruhenden und darum keiner äußeren Mitteilung bedürftigen Gesamtbesitz der Menschheit an seelischen Äußerungen 1 ). Also es gäbe einen unabhängigen Urbesitz übereinstimmender „Völkergedanken", wonach sich ζ. B. gleiche völkerkundliche Erscheinungen bei Völkern verschiedener Erd.teile eben aus diesem gemeinsamen seelischen Besitz erklären; eine weitere Hypothesenbildung ist dann unnötig, etwa die einer „Übertragung", einer „Entlehnung" oder einer „Wanderung". Dieser Ansicht ist die völkerpsychologische Annahme eines „ Völker be wußtseins" nahe verwandt. Sie faßt das „Völkerbewußtsein" als den Urboden vor allem der religiösen und sittlichen Vorstellungen und Gefühle auf, und besonders in den Formen des Mythus sieht sie Schöpfungen dieses Völkerbewußtseins. Wohl sind es typische, den einzelnen Völkern eignende bildhafte ursprüngliche Metaphysiksysteme, aber beim Vergleich sämtlicher Formen des Mythus tritt doch gerade jene, die E i n h e i t des Menschengeschlechts überzeugend aufzeigende, Gemeinsamkeit und Einheit der allgemeinen seelischen Anlagen hervor. Solche wissenschaftlichen Untersuchungen können eine wertvolle Stütze unseres Grundurteils abgeben, dennoch bleibt es klar, daß es nur in einer letzten Schau, nur in einer höchsten Intuition vollzogen werden kann. Die communio omnium hominum ist in einer höchsten Schau gewonnen. Und aus ihr ) Wilh. Wundt, Völkerpsychologie, IV. S . 4 0 ; vgl. auch m. Schrift „Wilhelm Wundt und seine Zeit", S. 229 f. l



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folgt für uns die Grundannahme einer urgemeinschaftlichen Verbundenheit aller Menschen, und so führt sie weiter zum Gedanken einer B r u d e r s c h a f t a l l e r Menschen. Damit wird sie weit mehr als ein höchster Gedanke, vielmehr ein Prinzip des Handelns und des Umgangs mit den Menschen überhaupt, ein Prinzip notwendig um unserer eigenen und um der gegenwärtigen Menschheit vollkommensten Darstellung willen. Zugleich damit ein ethischer Grundsatz erster Ordnung, der zu einem, alle Menschen umfassenden Dienste auffordert und in dieser sittlichen Äufweitung des Prinzips alles Handeln und Denken eines jeden Menschen ergreifen kann und soll, er sei und er lebe, wo und wann er wolle. 4. F ü r den E i n z e l m e n s c h e n und f ü r j e d e M e n s c h e n g e m e i n s c h a f t ist S i n n v e r w i r k l i c h u n g V e r g e i s t i g u n g . 5. Der Weg dieser V e r w i r k l i c h u n g ist Dienst. 6. V e r g e i s t i g u n g und Güte sind Eins. Damit wird noch einmal ausgesagt, daß Vergeistigung nicht gleich ist einer Intellektualisierung oder etwas dergleichen. Sie hat vielmehr vom Grunde her die Richtung auf den a n d e r n , ist stets auch eine menschliche Haltung, welche sich in ihrer Gesinnung dem andern aufschließt und diesen mitumfängt. Es dürfte nicht unstatthaft sein, auch der Wirklichkeit die Güte zuzusprechen, also dem unum das bonum. Einer Zeit, welche Führer erzeugte, die aus dem Geiste dieser Grundurteile heraus lebten, handelten und dienten, würde die neue feste Gottesformel gelingen, wie sie B r o d e r C h r i s t i a n s e n 1 ) zu fassen versucht hat. „Es wäre ein Gott, von dem man nicht Hilfe will, sondern dem man dienen will: jede adelige Tat, alles hohe Glück würde verstanden als Dienst und Hingabe an Gott. Es wäre der Gottesbegriff für eine männliche, ritterliche Zeit." ' Das Gesicht unserer Zeit, 1930, S. 111.

P e t e r s e n , Erziehungswissenschaft. II.

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II. Die praktische Streitfrage der Erziehungswissenschaft. Der Ursprung der Pädagogik. §6.

Entwicklung der praktischen Aporie. Von der Erziehung sagten wir, sie sei Funktion des tätigen Geistes im Menschen, bewirke seine Vergeistigung, stamme aus der alle und alles umfangenden Gemeinschaft. Wie verhält sich ihr gegenüber die geplante bewußte Erziehung von Menschen und durch Menschen, das was wir i. e. S. als „Führung" oder als „Pädagogie" bezeichnen? Im Vergleich gesprochen so, wie sich die planvolle, etwa wissenschaftlich-hygienische, Lebensführung zur natürlichen verhält. Tiere, die erkrankt sind, wissen vielfach sich selber zu helfen und essen oder unterlassen von Natur das Richtige und gesunden, wenn es keine Erkrankung auf den Tod war. Desgleichen alle natürlich empfindenden Menschen, die noch nicht die unmittelbare Fühlung mit den Lebensgesetzen verloren haben. So weiß auch jeder Ärzt, daß er, ohne die „Natur" seines Patienten und das, was diese an Kräften enthält, deren Beeinflussung ihm entzogen ist, nichts mit Erfolg unternehmen kann. Genau so steht es mit aller planvollen Erziehung. Auch sie vermag nichts ohne jene Grundfunktion der Erziehung, und sie wird stets und ständig auf Abwege geraten, wie es auch die medizinische Praxis tut und getan hat, als sie das Laboratorium der Natur gegenüber allzu einseitig betonte. Bewußte Erziehung muß sich in Harmonie mit der Erziehung als geistiger Funktion halten, sich als bescheidene Dienerin fühlen und immer von neuem suchen, sich in deren Geheimnisse zu vertiefen. Sie muß sich mühen um ihre Offenbarungen in den menschlichen Gebilden und Geistschöpfungen, aus ihren Taten, die sie durch den Menschen zu vollbringen sucht, vor allem aber in dem Menschen selber und in seinem Wesen ihre Sprache zu vernehmen. Alle wiederauf-

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bauenden Kräfte — woher sollen wir Menschen sie nehmen, wenn nicht aus solchem Grunde? Etwa aus unserem Verstände? Müssen sie nicht immer wieder aus dem W e s e n herausgeholt werden, richtiger: in uns f r e i emporsteigen können und dürfen nicht niedergehalten werden? Daß es doch so wäre, daß aus der Tiefe unseres Wesens die goldenen Becher unaufhörlich hinauf und herab stiegen durch all unser Planen und unsere Künste und sie erfrischten, belebten, sie wesenhaft gestalteten! Aus diesem Ineinander einer Urmacht und menschlicher Bemühungen um planvolle Lebensgestaltung und Vergeistigung entsteht nun diejenige Streitfrage, mit deren Auflösung erst die „Führung" in ihrem Rechtsgrunde erscheint und daher alle „Pädagogik" ihren U r s p r u n g nimmt. Diese Streitfrage ist auch eine ethische, wiewohl sie in ihrem Ansatz bereits das Sittliche im Metaphysischen verwurzelt zeigt, wie es ja auch jede vollständige Analyse ethischer Systeme enthüllt. Das Sittliche ist innerhalb des „Lebensraumes", den der Mensch sich absteckt und gewinnt, im besonderen dasjenige, was das Zusammenleben mit anderen Menschen unter der Hierarchie der Werte ordnet: meine Pflichten gegen diese, meine Pflichten gegen mich selbst um meiner selbst und um der andern willen. Und die Ethik als System handelt von den Motiven, Zwekken und Normen solchen sittlichen Handelns. Es ist selbstverständlich, daß die Führung als eine Tätigkeit des einen Menschen am andern, und zwar als ein Handeln, das den andern als ein persönliches Wesen trifft und ihn bestimmen möchte, unter sittliche Bewertung fällt, daß sie auch ein sittliches Handeln sein muß. Allein es ist aus allem Voraufgehenden bereits klar, daß sie nicht einfach sittliches Handeln ist, womit Pädagogik angewandte Ethik würde. Sondern das Sittliche wird ein wichtigstes Glied in der Einschränkung, der Limitierung des pädagogischen Aktes sein, insofern ich sagen kann: das Pädagogische darf niemals unsittlich sein. Unsre Aporie entsteht ebenfalls innerhalb der alten Pädagogik, und K a n t , der auch hierfür den Blick besonders geschärft hat, kleidete sie in folgende Fragen: Es besteht nach Kant die 8*



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Vollkommenheit eines jeden Menschen, als einer Person, darin, „daB er s e l b s t vermögend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas tun soll, was kein anderer als er selbst tun kann 1 )". Darum erscheint es als ein Widerspruch, wenn sich die Pädagogik daran machen will, die Vollkommenheit eines andern zu fördern, ja von irgend welcher Verpflichtung des Menschen dem andern gegenüber in dieser Beziehung redet. — Oder: seit ältesten Tagen wird gesagt, es können nur gute Menschen einen guten Menschen erziehen; nun gibt es solche nicht, also muß der gute Mensdh als der rechte zukünftige Erzieher erst auf einem besonderen Wege erzogen werden (Rousseau), oder, nach K a n t s Meinung innerhalb seiner „Anthropologie", das Problem der sittlichen Erziehung wenigstens sei nicht zu lösen. „Da nämlich hierzu wiederum gute Menschen erforderlich sind, die dazu selbst erzogen werden müssen und deren es wohl keinen geben wird, der nicht angeborene oder zugezogene Verdorbenheit in sich hätte, so bleibt das Problem der moralischen Erziehung für unsere Gattung, selbst der Qualität des Prinzips nicht bloß dem Grade nach, unaufgelöst, weil ein ihr angeborener Hang wohl durch die allgemeine Menschenvernunft getadelt, allenfalls auch gebändigt, damit aber doch nicht getilgt wird." So Kant wiederum im Banne der Erbsündenlehre. Dagegen ist für uns nach dem zweiten erziehungswissenschaftlichen Grundurteil die Tatsache der Einwirkung von gutem Wesen auf gute Anlagen als grundgegeben gesichert. Deswegen brauchen wir uns nun auch nicht um die Deutung wunderbarer Vorgänge zu mühen oder überhaupt ein solches Wunder anzunehmen, wie es dies ist, daß ein natürlicherweise böser Mensch zu einem guten, zu einem neuen Menschen nur werden könne „durch eine Revolution in der Gesinnung (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben)", und daß er „ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung und Änderung des Herzens" Tugendlehre Ä. Η. VI. S. 386; Pädagogik (Ausgabe von Th. Vogt) S. 51.



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werden könne 1 ), oder daß, nach H e r b art, der Erzieher den Charakter des Kindes bilde und daß man den Menschen ein Gewissen mache und gebe 2 ). Unbedingt ebenfalls ein wunderbares, geheimnisvolles Vermögen. Wir werden die praktische Äporie der Erziehungswissenschaft nicht in solche oder ähnliche Formeln kleiden. Es grenzt sich aber hier die Erziehungswissenschaft schon im Anfange der Untersuchungen gegen jeden Anspruch der Ethik ab, d a s Ziel d e r Erziehung zu bestimmen. Daß das Ziel des Erziehens zum mindesten ein sittliches sein müsse, das ist eine blasse Selbstverständlichkeit. Damit ist aber nicht gesagt, daß das Ziel der Erziehung von der Ethik gesteckt werde, etwas, das schlechthin falsch ist. Es werden der Erziehung, schon oberflächlich gesprochen, ganz gewiß auch von anderer Seite Ziele gesetzt, und mit Recht. Und es bedeutet deswegen nichts weiter als eine Anmaßung der Ethik, wenn sie sich eine Oberherrschaft herausnehmen, gleichsam die höchste und letzte Weihe geben will. Auf keinen Fall hat sie das Recht, z.B. Ästhetik, Logik und Religion auszuschalten. Daher haben viele gemäßigte oder nur in Bruchstücken ihres Denkens von Herbart beeinflußte Pädagogen der herbartschen Richtung die zielsetzenden Wissenschaften über die Ethik hinaus auf Ästhetik, Logik und Religionswissenschaft ausgedehnt, so vor allem O t t o W i l l m a n n , und haben sich dann in der Regel mit einer besonders tiefen Verbeugung vor der Ethik begnügt. Es müßte unter anderm gefragt und vorher geklärt werden, welche Ethik denn das Ziel der Erziehung zu bestimmen habe? Wessen Ethik oder die Ethik welcher Richtung: individualistische - sozialistische; intellektualistische - voluntaristische; eudämonistische — Pflichtethik usf.? Wir müssen doch als Erziehungswissenschaftler einen Maßstab haben, mit dem wir an die ethischen Systeme herangehen, um selbst diese Systeme zu bewerten, d. h. sie dahin zu untersuchen, in welchem Grade sie dem Ziel der Erziehung, d. h. der Vergeistigung des Men1) Vgl. Kant, Ä. Ä. VII. S. 291f. 2 ) Werke (Hartenstein) XI. S. 338.



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sehen dienen, welche zugleich Güte ist 1 ). Und dieses Ziel ist, wie oben gezeigt wurde, ein W e s e n s z i e l 2 ) , auf das die Erziehungswissenschaft bei der Untersuchung der konkreten Erziehungswissenschaft aufmerksam wird und das sie bei der metaphysischen Betrachtung und Einordnung in die Wirklichkeit als solche in seiner schlechthinnigen Bedeutung begriff. Sie hat es fortan umsomehr als ihre Pflicht zu begreifen, die erzieherischen Kräfte allüberall aufzusuchen und in ihrer Eigenart, vor allem in ihrer Wirkungsart zu prüfen und allseitig kennen zu lernen, daraus alsdann ihre Schlüsse für die Praxis zu ziehen, Teilziele aufzustellen usw. Je gründlicher das Studium der Mächte und der Gegenmächte der Erziehung ist, desto eher werden wir auch ein Urteil über ethische Theorien gewinnen, an sie mit einem erziehungswissenschaftlichen Maß stab herantreten können. Daß alle Erziehung auf Vergeistigung und auf Freiheit abzielt, das zu sagen, dazu bedarf es keines Ethikers und keines Philosophen; denn das ist Urweisheit und nicht anders, als wenn man sagt, die Ethik hat es mit sittlichem Handeln zu tun, die Ästhetik mit dem Gestalten unter der Idee des Schönen u. dgl. Übrigens hat sich auch einmal die Ästhetik von der Ethik frei machen müssen. Ob nicht die Erziehungswissenschaft jetzt auf diesen Weg gewiesen worden ist, fast zwei Jahrhunderte später? Für uns nimmt die Streitfrage folgende Form an: Womit kann ich es verantworten, mich zum Diener der die Menschengemeinschaft durchwaltenden Erziehung zu machen oder machen zu lassen? Womit kann ich es verantworten, alsdann die „Führung" anderer Menschen zu übernehmen, andere zu bestimmen, ihnen „Aufgaben" zu setzen, sie bewußt zu machen, Macht, ja Zwang über sie auszuüben, ihnen „Gesetze" vorzuschreiben, ihre „Freiheit" zu beschränken, sie zu determinieren? Ohne Zweifel liegt es anders beim Erzieher als beim Künstler. Dieser verantwortet sein Gestaltungsgesetz selbst, der Erzieher wie der Lehrer aber sollen dem Sich-selbst-gestalten eines anVgl. ra. Schrift: Die Philosophie in erziehungswissenschaftlicher Beleuchtung, pass. 2 ) S. oben S. 21.

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der η und dessen Gestaltungen dienen, sich helfend dem offenbarenden Gestalten des Kindes und Jugendlichen einfügen. Damit ist auch der Unterschied deutlich zwischen dem Künstler als frei Schaffenden und als Lehrer, etwa als Zeichenlehrer oder Lehrer an einer Kunstschule. Der freie Künstler schafft in einer anderen Relation zum Urgründe. Durch ihn steigen unmittelbar aus dem Gemeinschaftsgrunde alles Geistigen neue Offenbarungen herauf, und seine Werke sind immer nur wenigen im Letzten verständlich ebenso wie sein Schaffen selbst. Anders muß die Relation des „beauftragten" Erziehers sein; er ruht immer irgendwie auch in einer sichtbaren Gemeinschaft, die sein Tun eigenartig begrenzen wird. Im Umkreis Neuer Erziehung hat der radikale Ä. S. Neill wohl die schärfste Frageform für unsere Streitfrage gefunden: „Wie kann ich es wagen, Kinder zu erziehen, wenn die letzte Lösung des Lebens mir versagt ist? Ich kann nur dabei stehen und ihnen Freiheit geben, aber das ist nur ein Grund mehr, der mich verpflichtet, nicht zu versudien, ihre Schritte zu beraten. Das ist der endgültige Grund dafür, daß die Autorität abgeschafft werden muß. Wir mögen ein Pferd schlagen und brechen, weil wir selbstsüchtig den Dienst eines Pferdes beanspruchen, und nach der hergebrachten Ansicht hat ein Pferd keine unsterbliche Seele. Wir dürfen ein Kind nicht schlagen und brechen; denn ein Kind geht einem Ende zu, das wir nicht kennen können 1 )." Nicht laut genug kann man immer wieder in die Menschheit hineinrufen, was diese Verantwortung für die Welt der E r w a c h s e n e n bedeutet! Seid Ihr, Erwachsene, innerlidi bereit, zu führen als Eltern, Freunde, Verwandte, bestellte Erzieher? Und ist die Welt, die ihr schafft, derart, daß sie r e i n e erzieherische, Menschenwürde stählende und schützende Kräfte ausstrahlt? Denn mit jedem Kinde beginnt von neuem die tragische Wanderung, die darin besteht, daß das ursprünglich gute Wesen sich durch das Gestrüpp der gesellschaftlidien Fehlentwicklungen und Fehlwertungen hindurch winden muß. Das ist die ungeheure T r a g i k der K i n d h e i t , daß sie dieser Welt der Erwachsenen ausgeliefert wird, die dasteht als etwas, das Ά Dominie in Doubt, S.98.



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über den Erwachsenen zur Herrschaft gelangt ist und von dem aus sie die Kindheit immer noch allzu einseitig und zu sehr in ihre Welt ein- und unterordnet, sie zum Opfer ihrer Welt macht und aus solchen Opfern Herren dieser Welt bilden will. — Unsere Streitfrage kann nicht beantwortet werden, wenn wir uns nicht darüber Klarheit verschafft haben, wie wir in dieser Welt stehen, ob so, daß wir gar nicht gefragt werden und uns entscheiden können, mithin auch uns nicht Gedanken über eine „Verantwortung" zu machen brauchen derart, daß sie uns belastet, weil wir selber gar nichts zu entscheiden haben oder dorfi so wenig selber beitragen können, daß wir unsre Gewissen beruhigen können. Wir stehen mithin dem Problem der F r e i h e i t gegenüber. § 7-

Freiheit. Das viel behandelte Problem der Freiheit 1 ) kann innerhalb der Erziehungswissenschaft nicht in irgendwelcher Einschränkung aufgenommen werden, etwa in einer die Frage von vorneherein verengenden Beziehung zur Sittlichkeit oder zur Erkenntnis oder zum Vernunftproblem. Selbst H e r bart 2 ) anerkannte den Unterschied zwischen der Einstellung des Erziehers und derjenigen des Ethikers, wenn er in § 5 der Schrift „Über die ästhetische Darstellung der Welt" sagte, die Sittlichkeit sei für den Ethiker reine Sittlichkeit, für den Erzieher „in der Seele des Zöglings" Ereignis, eine Naturgegebenheit. Für uns handelt es sich um den „lebendigen Freiheitsbegriff", an dem erst die Denkarbeit der verschiedensten Disziplinen absetzt, den sie aber alle zum Ausgangspunkt nehmen müssen. So suchen wir eine lebendige Anschauung von dem zu gewinnen, was der Mensch innerhalb seines Lebensraumes als Freiheit erlebt und in seinem Nachdenken darüber als Freiheit von etwas und zu etwas festzuhalten vermag. Vgl. zur ersten Klärung der vielgestaltigen Streitfragen die guten Analysen in Hermann Schwarz", Grundfragen der Weltanschauung, S. 121—197. *) Ausgabe Sallwürk I, S. 388ff.



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Innerhalb des R a u m e s gewinnt sich jeder normale gesunde Mensch das sichere Gefühl, sich einen für seine Bedürfnisse hinreichenden Raum abstecken zu können 1 ). Er unterliegt als Körper dem Gesetze aller Körper, daß zwei Körper nicht am gleichen Orte sein können, und empfindet die Tatsache, daß es Körper und Gegenstände gibt, die ihm undurchdringlich sind, nicht als Beschränkung seiner Freiheit; denn diese besteht nicht darin, daß sein Körper alles vermöge, sondern darin, wieviel er als Organ des Geistes vermag. Ebenso verhält es sich mit Schranken, die dem Menschen seine Konstitution setzt, etwa, daß einer ungeeignet ist, in den Tropen zu leben oder an der Meeresküste. Er mag ferner mit seiner Sehnsucht dieses oder jenes Land umfassen und nicht imstande sein, aus finanziellen Gründen, diese Sehnsucht je zu erfüllen: in alledem wird kein normal denkender Mensch sich unfrei nennen. Er wird darin keine andere Begrenzung seiner Menschlichkeit sehen als in der Tatsache, daß er nicht Tag und Nacht wandern kann, ohne inzwischen zu schlafen, nicht leben kann, ohne zu essen, und was dergleichen Schranken mehr sind. Er trägt in sich das klare Gefühl, räumlich hinreichend Bewegungsfreiheit zu besitzen, soweit es ein Mensch haben kann. Wie sehr er aber des Raumes bedarf, um gesund aufzuleben, und d. h. genügender Bewegungsfreiheit, das beobachtet jeder Kinderfreund und Erzieher an Kindern. Das freie Herumschweifen in einer häuslichen Umgebung, in einer Landschaft, verbunden mit dem kräftigenden sieghaften Gefühl, sich in den Raum hineinzukämpfen, ihn sich zu erobörn, oft umspielt mit starker kindlicher Phantasie, das gehört zu dem Wertvollsten, was Kindern geboten werden kann. Die Art, wie Kinder am neuen Orte sich die Landschaft erobern, beweist immer wieder die große Bedeutung des Raumes für das Leben und seine Entfaltung 2 ). Im Laufe seiner Jahre steckt !) S. u. S. 131 ff. — Hier bleibt zunächst außer Betracht, ob es ihm gelingt, sich den zum gesunden und guten Leben nötigen Raum auch faktisch zu sichern; es wird aber auf diese Seite des Freiheitsproblems im Folgenden ebenfalls eingegangen. 2 ) Vgl. im Werke Georges Rouma's, Sociologie pedagogique, 1914, die reichen Belege über die Bedeutung des Lebensraumes für eine gesunde Entwicklung des Kindes.



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sich jeder Mensch nach und nach diesen Bewegungsraum für sich ab, unterwirft sich, soviel er kann, und besitzt damit s e i n e n Spielraum. Ähnlich steht es mit dem Faktor der Zeit. Daß der Mensch nicht unbegrenzt lange in einem fort dies oder das tun kann, daß er seine Zeit einteilen, sich mit ihr auseinandersetzen muß und dadurch in seinem Planen und Können beschränkt ist, bringt ihm kein quälendes Gefühl der Unfreiheit, wenn auch mancher wünscht, der Tag habe zweimal vierundzwanzig Stunden u. ä. Schließlich setzt er sich auch mit der Tatsache auseinander, daß er nicht ewig lebt, und nimmt den Tod als naturgegeben in seine Lebenssphäre hinein und überwindet ihn eben dadurch, madit sich so auch zum Herrn über den Tod. Je weniger zerklügelt ein Mensch ist, desto wundervollere Charaktere findet man, die in ihrem Älter eine unvergleichliche Harmonie und Ruhe dem Tode gegenüber aufweisen. Und es ist immer ein unverkennbares Zeichen von Unfreiheit, wenn vor allem ältere Menschen sich mit dieser Tatsache, daß ihr Leben begrenzte Dauer hat, nicht abgefunden haben und wenn Menschen nicht mit Würde zu sterben wissen. Solche finden sich besonders häufig auf der „Höhe" der Zivilisation, die es darum auch am wenigsten versteht, daß es Zeiten gab, in denen Menschen ihr Leben dahinwarfen wie in einem Tanz, wie in einem Festrausch, und sie nennt solche Zeiten und Menschen primitiv oder kulturlos; jedenfalls sucht sie damit ihr eignes Hängen am Leben zu entschuldigen und so dem Einzelleben einen übersteigerten Wert zu geben. Auf w i r t s c h a f t l i c h e m Gebiete empfindet es kein Mensch als Beschränkung seiner Freiheit, daß er für sein tägliches Brot arbeiten muß, auch nicht, daß er oftmals hart arbeiten muß. Das ist Menschenlos und Folge davon, daß wir keine Götter sind. Wofür der Mensch aber kämpft, und das bis zu Taten der Verzweiflung, das ist dies, daß er nicht im wirtschaftlichen Lebenskampfe seine W ü r d e als Mensch verlieren und zum Sklaven erniedrigt werden will. Ist er dessen sicher, so wird niemand sagen, er könne nicht frei sein, nicht Mensch sein, weil er um sein täglich Brot arbeiten müsse, sondern er habe mehr Aussichten, die in ihm liegende Idee des Menschen zu verwirklichen, wenn



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andere ihn fütterten und er nur seiner Freiheit, seiner Vergeistigung leben könne, oder wenn er in einer Gegend der Erde wohnte, die ihm seine tägliche Nahrung fast schenkte. Zu seiner Freiheit bedarf der Mensch innerhalb der G e s e l l s c h a f t seiner Zeit des sicheren Gefühls, daß er in der Stellung, die er einnimmt, die Ächtung von so vielen Menschen zum mindesten findet, daß er innerhalb der Gesellschaft sich von einem Wirbewußtsein einer Gruppe seiner Mitmenschen getragen weiß, das ihn inmitten seiner Mitmenschen die Äugen frei erheben und eine stolze Stirn zeigen lassen kann. Es ist immer ein Zeichen von Unfreiheit, wenn ein Stand, eine Berufsgruppe nicht in sich selber und durch sich selber die gesellschaftliche Ächtung finden und sich in der Umwelt verschaffen kann, sondern sich andere Stände zum Vorbild nimmt und in der Nachahmung lebt, statt eine eigene Lebensgestaltung und eine gemeinsame Lebenserhöhung anzustreben. Dasselbe gilt für den Einzelmenschen. Sonst entsteht unweigerlich eine pervertierte seelische Haltung, und damit Unfreiheit. Zur Freiheit aber gehört auch unbedingt dies, daß der Mensch in einem trauten Kreise fest und sicher stehe: einem Freundeskreise, Verwandten- und Familienkreise, sei er noch so klein; denn Zahlen machen es nicht. Die gleiche Sicherheit will erworben sein gegenüber dem eigenen Triebleben, durch das sich jeder Mensch selber Gegenwelt ist. Es gilt hier sich selber, als physisches Wesen, fest in der Hand zu haben, sich zu beherrschen zum Leben wie zum Tode. So finden wir bereits in dieser ersten skizzenhaften Durchmusterung der Freiheitssphäre Beschränkung und Freiheit nebeneinander innerhalb des Raumes, der Zeit, der Wirtschaft, Gesellschaft, der Ichwelt: das, was der Mensch Freiheit nennt, kann in Wirtschaft, Gesellschaft, Ichwelt bedroht sein, allein kein Mensch verliert das Gefühl dafür, was es denn sei, das ihm die Freiheit nimmt, und damit bekundet er, daß in ihm selber ein Maßstab für Freiheit ist. Nur daß niemals vergessen werden darf, daß wir bisher immer nur noch vom Einzelnen redeten, und daß das Bedürfnis nach Freiheit, in dem lebendigen Sinne, wie wir sie fassen, bei jedem Einzelnen ganz verschieden ist, etwa innerhalb der wirtschaftlichen oder der Sittensphäre. Da



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mag sich jemand ganz und gar unterordnen, sich scheinbar aller Freiheit begeben, aber das ist für ihn nötig, um seine Freiheit zu leben und darzustellen. Es gibt in der lebendigen Wirklichkeit nicht Freiheit im Sinne eines allgemein-gültigen abstrakten Normalmaßes, das wir wie ein Metermaß anlegen und daran Menschen messen könnten. So kennt wohl jeder Menschen, die nach der ersten Kenntnis in größten Abhängigkeiten lebten derart, daß man schließen wollte, sie seien unfreie, unterwürfige, in ihrem Selbstbewußtsein gebrochene Menschen, allein bei genauerer Prüfung erkennt man, daß diese Abhängigkeiten nur Rahmen für sie sind, die sie tragen so geduldig wie ein Bild, daß sie aber i n n e r h a l b dieses Rahmens selber das Bild eines wundervollen und schönen Menschentums darstellen. Und welche ungeheure Mannigfaltigkeit gibt es nicht an Bildern, schönen und wertvollen, reizten sie auch nicht beim ersten Sehen! Nichts ist verkehrter, ja nichts ist gefährlicher, als mit vorgefaßten, ausgeklügelten, gedanklich konstruierten Maßen zu kommen. Die lebendige Wirklichkeit wird tausendmal des künstlichen Maßes spotten. Darum kann nicht genug davor gewarnt werden, das Leben auf Begriffe zu spannen: der Begriff ist einer, das Leben Million. Im s e e l i s c h e n Leben des Einzelmenschen liegt das Moment der Freiheit besonders an drei Stellen im Willensvorgang. Zunächst erlebt der Mensch in der Willenshandlung, daß er die Möglichkeit der Freiheit besitzt. Denn in all denjenigen Fällen, wo er unter mehreren Motiven wählen, wo er sich entscheiden kann, dort gewinnt er das Gefühl der Freiheit. Ganz besonders in der Willkürhandlung, wenn er sich dem behaglirfien Gefühl seiner Freiheit der Wahl hingeben kann, bis sie sibh verengert zur Qual der Wahl. Und dieses Gefühl der Freiheit legt sich über die menschlichen Handlungen in jedem Zeitablauf: er bereut eine vergangene Tat, doch weil er sich zurückversetzt in die Lage, wo es ihm möglich war, auch anders zu wählen; er blickt planend in die Zukunft und wirft dem zukünftigen Geschehen das Netz seiner Pläne und Absichten über, doch weil er von dem Bewußtsein getragen wird, er könne die Zukunft so oder so gestalten, sie seinem Willen unterwerfen, und zu dieser Ansicht



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berechtigt ihn auch eine Unzahl früherer Erfahrungen. Je reicher und stärker gerade diese Erlebnisse sind, desto stolzer wird sich ein Mensch aufrecken und selbstbewußt werden. Darum ist es nun auch erstes und unbedingtes Erfordernis, dem jungen Menschen diese Erlebnisse zu ermöglichen, ihn demnach so früh als möglich an der Gestaltung seiner Zukunft in den kleinsten Akten und Geschehnissen "schon teilnehmen zu lassen, ihm also in der Ausgestaltung des Zukünftigen nicht zu viel abzunehmen, sonst entstehen passive, rezeptive Menschen und nicht aktive, schaffende, frohe. Es erstickt aber auch die produktive Kraft, und je unfreier ein Mensch ist, desto unproduktiver ist er, und umgekehrt. Darum soll man auch dem Schüler so wenig wie möglich abnehmen. Es ist falsch, für ihn alles zu bestimmen und zu planen, statt ihn wählen und entscheiden, bestimmen und mitplanen oder allein oder mit seiner Gruppe entscheiden zu lassen. Der Lehrer und Erzieher hat dann die Aufgabe, in solchen Fällen an der Ausführung der gesetzten Aufgabe, des entworfenen Planes als Berater, Mahner, Antreiber, vor allen Dingen aber, und das am besten, als Führer m i t z u w i r k e n , damit der Entschluß zur Tat, der Plan zum Werk gedeihe. Bei zunehmender Klarheit über die seelischen Vorgänge erkennt der Mensch sodann ihren s c h ö p f e r i s c h e n Charakter. Es ist das jene Grundtatsache des Seelenlebens, welche W i l helm W u n d t sein Prinzip der schöpferischen Resultanten oder der schöpferischen Synthese aufstellen ließ. Das Produkt seelischer Vorgänge ist mehr als bloß die Summe seiner Teile; es weicht nicht nur irgendwie qualitativ oder quantitativ als Gebilde von der Summe seiner Teile ab, sondern es ist „ein neues, nach seinen wesentlichsten Eigenschaften mit den Faktoren, die bei seiner Bildung zusammenwirkten, schlechthin unvergleichbares Erzeugnis" 1 ). Es hat einen neuen Wertcharakter, einen Wert höherer Stufe, ist darum ein schöpferischer Vorgang. „Jeder geistige Zusammenhang schafft neue geistige Werte", und so erkennt der Mensch, dem über sein Seelenleben zur Klarheit verholfen ist, ein W a c h s t u m geistiger Werte. Phgsiolog., Psychologie, III, S.755. Vgl. m. Schrift „Wilhelm Wundt und seine Zeit", S.71—91.



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Bei steigender Einsicht in die Zusammenhänge und in den Werdegang des geistigen Geschehens lernt der reifende Mensch das G e s e t z der E n t w i c k l u n g kennen. Die individuelle geistige Wirkungsfähigkeit kann aufhören, aber der Mensch versteht nun alles Individuelle in seiner unaufhebbaren Verkettung mit der Gemeinschaft und sieht es aus der Gemeinschaft leben und durch sie, und so sieht er alles in einer umfassenden währenden Entwicklung. Und in dieser wird das Ausscheiden der individuellen Wirkungsfähigkeit aufg?wogen durch das Wachstum geistiger Energie innerhalb der Gemeinschaft, welcher der Mensch angehört, und jede solcher Gemeinschaften mündet in ein Ganzes „geschichtlicher Entwicklung" ein, und in diesem großen Ganzen setzt sich ihre Wirkungsfähigkeit fort. So findet sich der einzelne Mensch als Glied und mehr noch als Träger und Erzeuger dieser Welten der Freiheit. Und ein Drittes zeigt die rein psychologische Betrachtung des Willenvorganges. Die Entwicklung des Willens ist doppelter Art: eine progressiv fortschreitende und eine regressiv zurückschreitende Art. In der progressiven Entwicklung werden die Äffektbestandteile der Willensvorgänge zunehmend ermäßigt, indem sie unter die Herrschaft i n t e l l e k t u e l l e r Motive kommen, und damit wird die den Willensvorgang abschließende H a n d l u n g mehr und mehr aus einer äußeren Bewegung zu einem psychischen Vorgang, zu einer i n n e r e n Willenshandlung. Und diese inneren Willensvorgänge werden immer selbständiger ; man denke etwa an den Vorgang des Sprachenerlernens oder des Fortschreitens in den Fertigkeiten einer Kunst oder Wissenschaft. Auf diese Weise e r w e i t e r t sich unsre Willenshandlung fortwährend, indem sie neue Zielvorstellungen aufnimmt und neue Fertigkeiten gewinnt. Gleichzeitig findet aber ein rücklaufender Prozeß statt. Wenn sich die Entscheidung zwischen ähnlichen oder übereinstimmenden Motiven häufig wiederholt, so wird der Kampf der Motive immer leichter, und damit kann schließlich ein Willensvorgang in eine Triebhandlung zurückverwandelt werden. Die Mittelglieder zwischen Anfangs- und Endpunkt des Willensvorgangs werden immer mehr beseitigt, und damit findet eine allmähliche M e c h a n i s i e r u n g und A u t o -



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m a t i s i e r u n g der Vorgänge bei öfterer Wiederholung aller neu erworbenen Handlungen statt. Der Hinweis auf die Dressur mag genügen. Diesen nämlichen Vorgang fand Meumann 1 ) in der geistigen Entwicklung des Menschen während des Kindheitsstadiums bestätigt. Sobald ein Organ entsprechend entwickelt und dadurch das Kind befähigt ist, sich mit irgendeinem neuen Kreise von Gegenständen zu beschäftigen, tritt das Gesetz der „Variation des psychophysischen Gesdhehens" in Kraft. Die Beschäftigung mit dem neuen Objekt variiert die bisher schon vorhandenen Tätigkeiten in mehr oder weniger größerem Umfange und bewirkt dadurch eine E r w e i t e r u n g und B e r e i c h e r u n g des kindlich-geistigen Lebens. Das ist die progressive Entwicklung. Sobald sich nun aber Eindrücke oder Tätigkeiten in gleicher oder ähnlicher Form oft wiederholen, tritt das Gesetz der Äutomatisierung in Kraft. Die bisher ausgeführten Tätigkeiten werden durch Übung und Gewohnheit verkürzt und erleichtert; es beginnt immer mehr eine Erstarkung in festen Gewohnheiten und eine Verflachung in gewohnten Denkweisen, die schließlich jeden geistigen Fortschritt zu hindern vermag. Andererseits macht aber das Geschehen unter diesem Gesetz seelische Kraft, Aufmerksamkeit und Willen, frei, sich neuen Aufgaben zuzuwenden. Der Willensvorgang wird mechanisiert, um zu neuen Aufgaben frei zu werden. Also entfaltet sich erst in solchem Zusammenspiel von Automatisierung und Erweiterung das seelische Leben reicher und reicher und besitzt immer neue Kraftzufuhren. Es ist das ein elementarer Rhythmus, den vor allem kein Lehrer gründlich genug kennen und studieren kann. Als wollende Menschen haben wir alle erlebt und erleben es ständig aufs neue: wir konnten in unserm Leben einiges tun, was wir wollten, und fühlten uns bei der Ausübung frei; und dieses, das wir k o n n t e n , hatten wir uns erworben. Dahin gehört alles Können, das sich ein Mensch durch Übung und Lernen erwirbt vom Gehen und Klettern angefangen bis zu den höchsten Fertigkeiten. Solches Können ist aufgespeichertes, frei gewordenes E. Meumann, Vorlesungen, 1911, I, S.685; W. Wundt, a . a . O . III, S. 278ff.



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Wollen, freie Energie, die ich in Bereitschaft halten und zu gegebener Zeit frei von mir aus in Tätigkeit setzen kann. Ich kann die Sonate spielen, d. h. ich habe alle Widerstände aus dem Wege geräumt, die mich gefangen hielten, mich unfrei machten; jetzt bin ich frei; ich „beherrsche" die Sonate, wie treffend gesagt wird, und so in allem: ich beherrsche die und die Sprache, die und die Technik, Wissenschaft, Kunst oder midi selbst oder die Menschen — ich kann es. Der Mensch erlebt in diesem erworbenen Können den Vorg a n g der E n t s t e h u n g von F r e i h e i t . Freiheit ist überhaupt nichts, das mit einem Male da ist, sondern etwas, das im Leben des Menschen, und zwar von jedem einzelnen z u l e t z t einzig und allein durch ihn selber, geschaffen werden und sich entfalten kann — mag es auch am Antreiber, seien es Mensqhen, Umweltnöte, Ideale, dabei nicht fehlen. Es kommt darin zum Äusdruck, daß der Mensch das Leben mit seinen Widerständen nicht einfach hinnimmt, sondern er besitzt von der Geburt an die Kraft, mit den Widerständen zu ringen, und hat das Vermögen, sie in großen Teilen mit E r f o l g niederzuzwingen, um siah Lebensraum zu gewinnen und sich über die Widerstände zu erheben. Und dabei erwirbt er sich in der Summe alles dessen, was er kann, einen Bereich der Freiheit, der für seine ganze Lebensr haltung und Lebensgestaltung von ungeheurer Bedeutung wird und aufs stärkste auf die von uns zuerst aufgestellten Gebilde zurückwirkt. Innerhalb dieses „Könnens" steckt eine Menge Gedankliches, insofern der Mensch in jedem Anstieg zum Können planend, mit Absicht und Vorsatz vorgeht, im voraus sein Denken irgendwie über das Zukünftige ausspannt, um die Erfolge, das Können, vorwegzunehmen. Mit der Erkraftung des Denkens und in dem Grade, wie der betreffende Mensch in seinem Leben das Denken benutzt, erweitert sich im Menschen das Bewußtsein und das Gefühl einer Freiheit, die schrankenlos ist: die Gedanken sind frei! Im Gedankenspiel kann der Mensch Zeit und Raum überfliegen und alle Verhältnisse und im Phantasiedenken Himmel, Hölle und Welt besitzen, sich alle Möglichkeiten, die seinem Verstände und seiner Phantasie zugänglich sind, vorstellen

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und seine Entscheidungen — in Gedanken — treffen, wie er möchte. Daher erklärt es sich auch leicht, daß die Denker par excellence, wie ζ. Β. die Philosophen, immer dazu neigen, die Freiheit des Menschen ganz und gar in den Denkakt zu verlegen, während das doch nur eine Seite des Freiheiterlebens ist (so Locke und Herbart). Der Lehens-Umkreis der Freiheit des Einzelnen besteht damit also in seiner räumlich-sozialen Bewegungsfreiheit innerhalb des Zeitablaufs, einer Bewegung, die im Denken grenzenlos ist, in der praktischen Durchführung dagegen von dem Können, d. h. von dem aufgespeicherten, frei gewordenen Wollen bestimmt wird. Dieses ist stets der Radius, mit dem jeder von uns den Kreis praktischer Arbeit und praktischer Beeinflussung seines eigenen Lebens wie desjenigen anderer schlagen muß. So viel einer kann, so viel kann er ins Leben rufen, kann er Ursache sein und Schöpfer, ein Etwas von sich aus beginnen lassen, Anfang, Ursprung eines Werdenden sein, es sei das die künftige Ernte oder eine Statue, ein Schuh oder ein Gedicht, und so liegt auch hier die Quelle aller Schöpferl^st und -freude des rechten Erziehers. Das wahre Leben des Einzelmenschen erhält in diesem Lebensumkreis seine Sicherheit, den Rahmen zum eigentümlichen Inhalt. Nun aber gibt es den Einzelnen nicht in seiner Vereinzelung, sondern: dieser Lebensumkreis der Freiheit ist bereits von ihm auch am a n d e r n abgesteckt, als ein Eigenreich. Zur Bildung eines eigenen Reiches ist jeder Einzelne berufen, eben als besondere Variante der Gemeinschaft, und er besitzt als Ganzheit eigentümlicher Ärt ein bestimmtes Maß von Lebensenergie und geistiger Kraft, durch die er aber wiederum mit dem Geistleben zusammenhängt. Der Umfang seines Lebensraumes ebenso wie der Grad seiner Durchgeistigung hängt von der funktionellen Inanspruchnahme während des Lebens ab, und eben dadurch macht er sich etwas „zu eigen", versieht es mit dem Stempel seiner Eigenheit. In diesem Eigenen liegt ferner der Gegensatz zum andern, ein Gegensatz, der durch nichts von einem andern voll ausgeschöpft und nie ganz begreiflich gemacht werden kann. Aus dieser Tatsache entspringt alles, was innerP e t e r s e η , Erziehungswissenschaft.

II.

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halb aller Kulturen an Gegensätzen vorhanden ist, was deren Buntheit, deren Wandlungen, die unaufhörlich neuen Bilder bedingt. So sind die Kulturen, gehalten an dem Grundurteil: Immer alles! wie Figuren eines Riesenkaleidoskops, bewegt von der Hand des Weltenschöpfers, in dem aus ewig denselben· Kristallen ewig neue Bilder fallen. Der Lebensraum des Einzelnen kann, wie wir ausführten, nicht ohne den andern gebildet werden, vor allem nicht ohne die geistige Gemeinschaft, den großen Wirkungszusammenhang der geistigen Welt, in den jeder Mensch hineingeboren wird. Darum ist auch die geistige Entwicklung des Einzelnen und deren Ergebnis im Lebensraum niemals restlos nur Eigenes. Könnte sich doch kein Mensch ohne dieses Gemeinschaftliche entfalten und bilden. Es wächst der eine am andern, und der andere ist, gerade auch als Gegensatz zu mir, notwendig zu meiner Entwicklung, bedingt also dadurch meine Entfaltung zur Eigenart. Solcher Übergang zwischen mir und dem andern, das Hin und Her, das Geben und Empfangen, ist nur erklärbar durch eine vorherbestimmte Harmonie oder durch den Verkehr von mir zum andern in einem Reiche der Freiheit. Und das Letztere ist unsre Anschauung. Die Funktion, welche zwischen dem Ich und dem Du, mir und dem andern wirkt, ist die Schaukraft des Menschen. Sie gibt uns das Du in einer intuitiven Gewißheit, als eine ursprüngliche Erkenntnis und nicht als erschlossen, sei es durch Analogie zum Ich oder durch Induktion aus sogenanten Du-Erlebnissen, Du-Erfahrungen. In der inneren Anschauung wird von Ursprung her das Du mitumspannt. Und wollte man weiter dringen, fragen und Antwort darauf fordern, was denn jene Kraft des Schauens im Menschen hervortreibt, das Du zu suchen und aufzunehmen, so ließe sich nur antworten, es ist die alles umspannende und durchwirkende Liebe in jenem Sinne, in welchem wir vom Absoluten aussagten, es sei Güte, alles vereinende Sympathie. Die Erscheinungsformen des Wirklichen als eines Guten, sind die hundertfältigen Arten der Liebe und Sympathie unter Menschen und in der Natur. In diesem Sinne ist uns also der E r o s die



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Menschen vereinende Kraft und steht als antreibende Macht hinter der Schaukraft des Menschen die Liebe. In ihr gründet es, daß der andere in mir, als Du, als Bruder ist und daß diese Akte stets einen g e i s t i g e n Charakter tragen, also z.B. mehr als Erkennen sind!). Der Zusammenschluß mit dem andern im Lebenskampfe vollzieht sich durch die Assoziationen des verschiedenartigen Könnens der Einzelnen. Sie vereinigen verbandsweise ihr Können und arbeiten gemeinsam. Auch im Reiche der Arbeit, durch das der Mensch der Lebensnot entgegentritt, gilt die „größte aller organischen Tatsachen" (Lorenz von Stein), „daß der eine gerade durch diese seine individuelle Entwicklung nicht bloß er selbst ist, sondern die Bedingung für die Entwicklung des andern wird", und dadurch entsteht einmal das ganze Geglieder der Arbeitswelt in ihren unzähligen Formen und Gebilden*). Der eine gebraucht die Kraft des andern, und so treten sie im B u n d e an, zum Kampfe gegen die Widerstände, welche Natur, Mitmenschen und einem jeden das eigene Selbst entgegensetzen, um sich gemeinsam Luft und Lebensraum zu schaffen. In den Lebensreichen der Technik, der Wirtschaft, der Politik, des Volkes spielt sich dieser Ringkampf um F r e i h e i t ab, in welchem Mensch Seite an Seite mit dem Menschen steht 3 ). Das erste gemeinsam aufgebaute Können hat immer dazu gedient, den Menschen innerhalb der Natur ein freieres Dasein zu ermöglichen. Der Mensch gebraucht erst die Hacke, zuletzt den Schreibstift, erbaute zuerst sich die Hütte und zuletzt den Tempel. Das Ornament am Arbeitsgerät, am Kochgeschirr ist die erste Kunst, das Arbeitslied das älteste dichterische Kunstwerk, das wir kennen; der einfacher lebende Mensch kennt nur Arbeits- und Kultlied, und noch lange nicht feiert sein Lied Liebesleid und -freude, gar seine Gefühle und Empfindungen der Natur gegenüber. Es ist dies das große Reich des Nütz1) Vgl. oben S. 51 f. ?) S. m. Ällgem. Erziehungswissenschaft, I, S. 46ff. 3 ) Vgl., bes. auch zum Folgenden: Eberhard Zschimmer, „Die Philosophie der Freiheit" in den „Beiträgen zur Philosophie des Deutschen Idealismus", 2. Bd. 1921, S. 13—31.

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liehen und Zweckmäßigen, unterstellt dem ökonomischen Prinzip, mit einem Minimum an Opfern das Maximum des Erfolges, und zwar an Nutzen und Lust, zu erreichen. Das Reich des wirtschaftenden Menschen, das Zweckhandeln unter dem ökonomischen Prinzip, ist von Ursprung an ein Zweckhandeln organisierter Gruppen, also gesellschaftlich. Daher ist es unmöglich, jemals zu scheiden, ob die gesellschaftlichen Formen von den wirtschaftlichen abhängen oder umgekehrt, weil die einen nie ohne die andern sind, noch sich wandeln. Die gemeinsame Arbeit aber dient dazu, den Menschen, und damit auch jedem Einzelnen, f r e i e n Raum zum Leben zu verschaffen, damit sie sich als Eigene und als Persönlichkeit entfalten können. Darum war es ein glücklicher Gedanke Z s c h i m m e r s als „Leitfaden zur Entdeckung der Freiheitsarten" die Arten der Widerstände, die vom menschlichen Willen gemeinsam zu überwinden sind, zu verwenden und danach die Welt dieser Arbeit einzuteilen 1 ). Da sind auf der Seite des Wirtschaftlichen die Widerstände der sogenannten blinden, unbewußten Dinge und Kräfte der Natur, die, als Gegenwelt des Menschen und somit für ihn, infolge der zufälligen Unordnung der bloß von Naturgesetzen beherrschten anschaulichen Welt entstehen. Der Kampf des Menschengeistes gegen diese Widerstände spielt sich ab innerhalb der Technik. Alles technische Schaffen vom Steinbeil bis zur Turbine ist eine „absichtliche Regelung von Naturkräften, die es dem Willen ermöglicht, etwas Neues zu können. So viel neue Erfindungen, so viel neue Möglichkeiten des Könnens oder der Freiheit des Willens! Nichts anderes als die Idee der Willensfreiheit ist dies Letzte, zugrunde Liegende in der Geschichte der Technik 2 )." Nach der Erfindung des ersten Werkzeugs konnte der Mensch auch vollkommener die elementarsten Formen des Widerstandes überwinden, nämlich „den Mangel an der Menge der gebrauchten Mittel"; damit ist dies gemeint, daß sie manchmal da sind, manchmal nicht, an gewissen StelM A.a.O. S.20f. 2 ) Eb. Zschimmer, Technik und Idealismus, 1920, S.23. Vgl. desselben Verfassers-„Philosophie der Technik", 2. Ä. 1920.



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len auf der Erde in Massen, anderswo nicht, zu bestimmten Jahreszeiten im Überfluß, sonst nicht. Hier ordnend und fürund vor sorgend einzugreifen, das ist die Aufgabe der Ökonomik. Sie sucht dem Menschen Freiheit zu verschaffen, indem sie die richtige Verfügung über den Gebrauch der Mittel verschafft. Und es erheben sich Widerstände, die von den sich widerstrebenden Willen unter den Menschen selber ausgehen. Diese verschiedenen Willen müssen geordnet, organisiert werden, damit sie nicht einander allzu sehr hindern, sondern neben einander sich gegenseitig die größtmögliche Freiheit lassen, eine Freiheit, die immer auf zweierlei abzielt, freien Raum zum Leben und freien Raum, um als Menschen zu leben. Dafür zu sorgen ist die Aufgabe der P o l i t i k , und zwar vor allem in den höchsten Einheitsformen des Staates und der Kirche. Zuletzt jene Widerstände, welche einem jeden das eigene Ich entgegensetzt. In dieser Hinsicht ist die menschliche physische und psychische Natur, wie sie dem Einzelnen auch eine Gegenwelt ist, in ihrer Summe innerhalb der menschlichen Gesellschaft eine Quelle von Widerständen, die gemeinsamer Ordnung bedürfen und bei rechter gemeinsamer Ordnung genau so heilsam und segensreich geordnet werden können wie die anderen Gebiete, zum Wohle des Einzelnen wie der Gesamtheit. Es ist die Welt der Sinne und Gedanken, der Vorstellungen, Triebe und Gefühle nicht ohne weiteres und ohne Arbeit an ihr in einer solchen Ordnung, daß sich ein freies Menschenkind in ihr erheben und über sie erheben kann, noch so, daß ein Zusammenleben der Menschen in geselliger Form und als geistige Gruppe möglich ist. Darum bedarf es auch hier der Organisation, einer Organisierung körperlicher und seelischer Kräfte im vereinten Bunde, um in den einzelnen Menschen zu ihrem Heile und zum Segen der Gesamtheit, ein wohlgeordnetes körperlichseelisches Kräftespiel herzustellen, daß der Mensch Herr werde seiner Vorstellungen, Triebe, Begehrungen und Gefühle, daß er die Kunst der Selbstbeherrschung lerne, der Bändigung des inneren Menschen, die Technik der Selbstüberwindung im Verkehr mit sich selbst und im Verkehr mit den andern, daß er



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die Selbstachtung nicht verliere und im Umgang seine g e s e l l i g e Seite in einem ungezwungenen Wesen, natürlich und durchwachsen von seinem persönlichen Leben, offenbare und ausgestalte. — Diese Ausführungen haben gezeigt, daß wir nicht jene Verantwortlichkeit als Erzieher uns einfach dadurch von der Hand weisen können, daß wir sagen, wir könnten die Verantwortung eben nicht tragen, ja, wir brauchten sie nicht zu tragen, weil wir überhaupt keine Möglichkeit f r e i e r Betätigung besitzen, und daß solche Bemühungen und Sorgen nur Beweise einer sensiblen Natur seien. Vor uns steht, wenn wir das Problem der Freiheit so angreifen, vielmehr die Verpflichtung, die Verantwortlichkeit, welche wir als Erzieher übernehmen, voll und ganz zu durchdenken und in der ganzen Bürde auf uns zu nehmen. Ich erinnere daran, daß diese Aporie der Erziehungswissenschaft dort entsprang, wo wir sagten, alle planvolle Erziehung, das heißt alle Führung, muß sich einfügen in die Urmacht der Erziehung. Es ist ein Ineinander einer Urmacht und menschlicher Bemühungen um planvolle Lebensgestaltung. Ein Mensch, der sich demnach in ihren Dienst stellt, nimmt eine Verantwortung auf sich, und so werden wir in zwei Fragen diese Verantwortung zu prüfen haben: 1. Was folgt daraus an Verpflichtung für den Einzelnen, der zum Führer ward oder sich setzte, — für seine „Haltung?" 2. Was folgt daraus an Aufgabeil, Schranken und Zielen für die „Führung", für die Pädagogie?

§ 8.

Die erzieherische Haltung. In der Haltung muß zu einem lebendigen Ausdruck kommen, von welcher Art die Verantwortlichkeit ist, die der Mensch in sich fühlt und aus der heraus er handelt. Man denke nur an die Haltung des Richters in seiner strengen Würde, an die Haltung des Polizisten, des Geistlichen, des Soldaten. Aus ihrer

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Haltung erkennen wir, aus welchem Grunde die Würde und die Verantwortlichkeit stammen, die diese Haltung bestimmen. So untersuchen wir die erzieherische Haltung und fragen nach deren rechter Art und nach ihren Quellen. Wahrt der Richter das Recht und der Polizist die Autorität der Staatsmacht, so blickt der Erzieher auf alles, was der freien Geistwerdung, der Vergeistigung von Menschen dient. Dazu hat man gesagt und sagt heute noch: der ä l t e r e Mensch ist der erfahrenere, der einsichtigere, der weisere, und d a h e r stammt sein Verantwortlichkeitsgefühl und stammt auch sein Recht zur Führung des jungen Geschlechts, ein Recht und eine Pflicht der „älteren Generation". Ja, überhaupt habe der Ältere auf Grund seiner Einsicht, Klugheit, Weisheit ein Recht zum Führen, und führe er tatsächlich, in den bekannten Wendungen der älteren Generation der jüngeren gegenüber: „Was weißt Du davon? Was verstehst Du von der Welt? Ich sage Dir, so mußt Du die Sache ansehen. Dies und das mußt Du tun." Das wäre eine Verantwortung aus eigener Lebense r f a h r u n g heraus. Oder es tritt ein Mensch dem anderen gegenüber und sagt: „So war es, und so war es gut und recht. So mußt Du auch urteilen und handeln," eine V e r a n t w o r t u n g hergeleitet aus der Ü b e r l i e f e r u n g . Und diese kann sich mit H e r b a r t s Worten hinstellen als „Inbegriff des Höchsten, was die Menschheit in jedem Moment ihrer Fortdauer tun kann, daß sie nämlich den ganzen Gewinn ihrer bisherigen Versuche dem jungen Nachwuchs konzentriert darbiete, sei es als Lehre, sei es als Warnung" 1 ). Genügen diese beiden Quellen? Enthalten Überlieferung und individuelle Lebenserfahrung, beide in ihrem besten Sinne genommen, hinreichende Begründung, eine erzieherische Haltung Mitmenschen gegenüber zu rechtfertigen, oder bedürfen sie, um in dem, was sie an Richtigem und Wertvollem enthalten, zu gelten, nicht nur einer Ergänzung, sondern selber erst einer tieferen Begründung? so daß wir zu fragen hätten: woher erhalten individuelle Lebenserfahrung und Überlieferung, wenn !) Werke Hartenstein X. S. 7.



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überhaupt, ein Recht, bestimmend auf Menschen einzuwirken und diese zu leiten und zu begrenzen? Es liegt in diesen beiden Fällen doch so, daß ein Mensch, der sich nur auf die Überlieferung stützt, sich unter ein Gesetz außer ihm stellt und andere auch darunter zu zwingen sucht, und so ist es kein Wunder, sondern eine selbstverständliche Folge, daß jeder, der im Namen und für die Güter der Tradition kämpft, hart ist und herb. Er kennt ja den Weg, die Methode, die rechte Einsicht, das System; er duldet keinerlei Ausweichen. Wer sich auf die eigene Lebenserfahrung beruft, umschließt unter Umständen damit auch diejenigen, welche er andere neben sich hat machen sehen, und kann durchaus über seine eigenen Lebenserfahrungen im engsten Sinne hinausdenken. Nun hängt es ganz und gar von diesen Erfahrungen und von dem Menschen ab, welcher sie gemacht hat, wie sie genutzt werden, ob nun versöhnlich-milde oder wiederum hart, weil er die eigenen Erfahrungen als letzte Möglichkeiten, als l e t z t e Lösungen, mit Lebensverhältnissen fertig zu werden, betrachtet. D a r u m werden sie nun auch anderen Menschen gegenüber als feste, unverrückbare Richtlinien zur Geltung gebracht, etwa von Eltern Kindern gegenüber durchgesetzt werden, wenn sie ihnen auf Grund ihrer eigenen Anschauungen feste Lebensgrenzen setzen. Um diese landläufige Betrachtung zu prüfen, müssen wir zunächst einmal uns über die Stellung des Einzelnen als eines Einzelwesens klar werden. Der Einzelne ist, eben als ein Einzelner, durch seine individuelle Prägung, Bedingung für die Entwicklung des anderen. Und diese Tatsache gilt nicht nur für unmittelbare Einwirkungen auf den anderen durch Handlungen, durch irgend etwas, was dieser Einzelne absichtlich tut, sondern für sein ganzes Sosein schlechthin. Daß er körperlich so und nicht so gestaltet ist, das ist etwas, wozu er selber einiges, aber nicht alles tun kann, wie wir wissen; denn die Körperkonstitution ist in den letzten Kräften unwandelbar, so wie der gute Schwimmer, der Reckturner usw. geboren werden 1 ). Man kann wohl einiges durch Übung erreichen, aber x

) Äuch die Individualisation in den Großbetrieben, ihre immer größere Arbeitsteilung hängt mit der Erkenntnis zusammen, daß besondere Geschicklichkeiten angeboren sind und nicht anerzogen werden



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niemals alles. Auch die entwickelte Körperlichkeit eines Menschen ist, selbst wenn sie nicht bewußt aufgespielt wird, wie in der Koketterie, etwas, wozu der andere Stellung nimmt, was im anderen Kräfte auslöst. Dasselbe gilt von allen seelischen und geistigen Kräften, die ein Mensch besitzt. Immer ist ein Mensch, so wie er ist, bereits durch sein Sein, sein Wesen, wie wir sagen, dem anderen etwas, das dessen Kräfte aufregt, sobald er sich diesem gegenüberstellt und wofern er nur in den Umkreis seiner Aufmerksamkeit fällt und ihn fesselt, zur Auseinandersetzung zwingt. Es ist sicherlich ein Verdienst J u n g s , immer wieder darauf hingewiesen zu haben, daß es in der Schulerziehung von außerordentlicher Wichtigkeit sei, welche seelische Stimmung der Lehrer um sich erzeuge, lediglich durch seine Art zu sein und sich zu geben, und daß man sich selbst gar nicht genug beobachten und in Zudht halten könne, — wie ich auch davon überzeugt bin, daß wir Menschen für unsere Gedanken eine volle Verantwortung dem nächsten Menschen gegenüber tragen. Auch das, was im guten und feinen Sinne unter Erosgewalt verstanden wird, hat seine Wurzel in der Tatsache, daß einer des anderen bedarf und anders kein ganzer Mensch werden kann, daß es darum dieses unaufhörliche Suchen und Sehnen des Menschen nach dem anderen Menstihen gibt, und daß gegenüber allem Handeln und Leben aus einem Wirbewußtsein heraus dasjenige aus einem reinen Ichbewußtsein unterlegen ist. Es feiert auch die Sage und das Lied, der Mythos und das Drama den Einzelnen in seinem Einzelkampf für sich nicht als Überwinder, sondern sie lassen stets einen solchen untergehen. Die Hybris zerschellte immer vor den Göttern; den Himmelstürmer traf immer der Blitz aus der Höhe. Diese Grundtatsache, daß der eine des anderen bedarf, wird nun als E r k e n n t n i s sich dessen bewußt gewordener können, daB deswegen die Arbeitsteilung das Beste ist. Denn sie fördert einmal am besten die Entwicklung derjenigen, welche eine natürliche Begabung besitzen, und sodann auch am besten den Erwerb besonderer Geschicklichkeiten bei denen, welche keinerlei Sonderbegabung aufweisen.



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Menschen zu einem stärksten v e r p f l i c h t e n d e n Motiv, sich nämlich zu einem Menschen zu machen, der eine reine, gesunde und stärkende heil- und segenbringende Macht ausübt, sich so zu halten, daß er im reinsten Sinne a u t o r i t a t i v wirkt. Hier ersteht die g r ö ß t e P f l i c h t e i n e s Menschen gegen sich selbst, weil sie zugleich die höchste Pflicht des Menschen gegen den anderen ist. Eins ist hier in das andere verwoben und kann nicht voneinander getrennt werden. Und diese Pflicht gegen sich selbst erstreckt sich über den ganzen Menschen, in seiner ganzen körperlichen und seelischen Einheit. Wir wollen gerade gegenüber manchen, besonders älteren, Richtungen hier betonen, daß wir in nichts an eine Herabwürdigung des Vitalen denken. Im Gegenteil, wir wissen ja gerade, daß der Mensch auch in seiner ganzen V i t a l i t ä t und seiner ganzen Körperlichkeit auf andere Kräfte auslösend wirkt und diese in ihrer Entfaltung bedingt. Unter Verwendung eines von Ludwig Kl ages viel gebrauchten Begriffes, nämlich des der „Ursprünglichkeit", könnten wir so zusammenfassend sagen: Dort, wo eine Individualität die reinste U r s p r ü n g l i c h k e i t aufweist und wo sie zu einer P e r s ö n l i c h k e i t geworden ist, dort haben wir den Menschen der reinsten und wirkungskräftigsten erzieherischen Haltung. Was wir unter „Ursprünglichkeit" verstehen, ist die von einem Menschen ausstrahlende ganze Lebendigkeit dieses Menschen, ausstrahlend in die Gesamtheit seiner Äusdrucksbewegungen vor allem, in denen immer, und mit Recht, die lebendige, lebendurchpulste Seite des Menschen gefunden wird. Immer wieder führt Ludwig Klages aus, daß die Äusdrucksbewegungen eines Menschen um so höher zu bewerten sind, je mehr dieser Mensch uns als ein Sammelpunkt des „unendlichen Stromes" biologischen Lebens erscheint, ausgestattet mit einer Fülle des Seelenlebens. Damit ist nicht gemeint Leidenschaftlichkeit oder nur Sinnlichkeit (auch nicht Lebendigkeit in Gestikulationen). Man braucht nur auf Nietzsche zu verweisen, der ganz gewiß Ursprünglichkeit besaß, aber Sinnlichkeit nur ganz gering. Andererseits ist unter dieser Ursprünglichkeit nicht zu verstehen Vernunft, sondern eben Ur-



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sprünglichkeit. Solche Eigenheit, die wir „ursprünglich" nennen, finden wir an allem, was etwas Neues, noch nicht Dagewesenes und nie wieder Erscheinendes ist, so in der Natur, im biologischen Leben. Die M e n s c h e n weisen Ursprünglichkeit deswegen auf, weil sicf eben auch biologischer Natur sind, nicht nur Vernunftwesen. Sie sind Geist und Leben. Der Verstand schafft, soweit er eindringt, überall die Regel, das Gesetz, das Gleiche; nur in der Natur, im Leben findet sich niemals das Gleiche. Hier ist alles einander höchstens nur ähnlich, niemals aber einander gleich. Daher beruht alle Ursprünglichkeit auf den Lebenskräften, und wo sich diese ins Geistige hinein nachhaltig auswirken, dort reden wir vom dionysischen gegenüber dem somatischen Menschen, und dort kann bei starker Aufspaltung in gewissen Persönlichkeiten von einem homo duplex, von einem διψυχος, einem Zweiseelenmanne, geredet werden. Das Ursprüngliche entstammt nie dem Verstände; sondern, wie gesagt, dieser ist nur das Ordnende, Regelnde, das Gesetz. Und wie alles Verständige erst veredelt wird, wenn es vom ursprünglich Lebendigen durchpulst ist, das lehrt ja am deutlichsten das Kunstwerk. Wir bewerten ein Kunstwerk dann um so höher, j e mehr, wie wir sagen, in ihm „ungesuchte Ursprünglichkeit" ist, j e mehr Leben es enthält. Äuch das ist wieder nicht gemeint in rein äußerlichem Sinne, wie: leidenschaftliche Zerrissenheit, Wildheit; sondern dieses Ursprüngliche hat auch die Madonna Raphaels, der Apoll von Belvedere. E s ist gemeint: Leben in all den Formen, die eine adelnde Gebundenheit, eine Harmonie von Lebendigem und Geist im Kunstwerk erkennen lassen. Weiter handelt es sich bei dieser Eigenart, bei dieser Ursprünglichkeit, von der wir reden, nicht um gesuchte, bewußte, gekünstelte, schauspielerische Besonderheiten, sondern um Eigenart, die wie ein Organismus gewachsen ist, um naturhafte Eigenart. Wir vermögen das keineswegs letzlich zu b e g r e i f e n , in Begriffe zu fassen. Der Lebensreichtum eines Menschen ist ebensowenig wie der eines Kunstwerks voll und ganz begrifflich auszudrücken. Wir können das, was hier gemeint ist, nur erleben. Wir alle wissen, welche Erlebnisse ich meine.



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Der lebensvollere Mensch oder das Kunstwerk, überhaupt das Lebensvollere, w i r k t einfach anders, stärker, tiefer auf uns. Und eben, weil das Erfassen der inneren Lebendigkeit nicht Sache des Verstandes ist, darum ist die Frau besser fähig, den anderen Menschen richtig einzuschätzen als der Mann. Ihre Feinheiten des u n m i t t e l b a r e n Seelenerkennens sind größer als beim Manne, bei dem die verständige Überlegung eine größere Rolle spielt schon durch seine Berufstätigkeit. Wo seltener nach dem Gefühl gehandelt wird, dort nimmt die Fähigkeit, den Lebensreichtum des anderen und dann auch seine spezifische Ärt mitzuerleben, um so mehr ab, je mehr das Gefühlsleben zurücktritt gegenüber der Verstandesüberlegung. Je lebensärmer ein Mensch ist, je mehr er ein abstrakter, logischer oder berechnender Kopf ist, um so geringer ist die Gabe des Miterlebens und unmittelbaren Menschenerkennens. Es tritt eine Verarmung der Erlebnissphäre ein, die für den Umgang mit Menschen von der allergrößten Gefahr wird, und das ganz besonders für den Erzieher, der die Fähigkeit, menschliches Wesen erlebend als Einheit, als Totalität aufzunehmen, in allerhöchstem Grade besitzen muß. Von hier aus wird auch das Urteil berechtigt, daß der „Intellektualismus" eine Gefaihr für jede wahre Lehrerbildung bedeute. Wir bejahen also des Menschen volle Lebendigkeit in ihrer individuellen Besonderheit und sehen in dieser vitalen Seite eine Notwendigkeit, auch um den Wert und die Würde des Menschen voll zu machen. Älles, was unsere Zeit von gesunden Grundlagen aus anstrebt, die schöne Körperlichkeit, die schöne Natürlichkeit der menschlichen Äusdrucksbewegung zu entfalten, bejahen wir auf der ganzen Linie. Es ist Pflicht des Menschen gegen sioh selbst, zu tun, .was im Umkreis seiner Macht liegt, auch das Vitale an sich in beste Pflege zu nehmen. Das ist die erste Pflicht des bewußt gewordenen Menschen gegen sich selbst, und es ist selbstverständlich, daß von ;hier aus ebenfalls alles bejaht wird, was einer dem anderen an Hilfe in diesen Dingen tun kann. Kann denn nun nicht — so wollen wir zunächst fragen, — aus dieser Tatsache der Lebensverbundenheit aller Menschen,

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aus dieser Tatsache, daß sie alle, jeder für sich, sind auf' zuckende, eigentümlich gefärbte, verschieden hohe Flammen eines und desselben Lebens, kann nicht aus dieser Tatsache bereits zur Genüge die von uns gesuchte Verpflichtung des Dienstes des einen am anderen gefolgert werden? Und in der Tat gibt es nicht wenige Menschen, in der Gegenwart in allen europäischen Ländern, welche die erzieherische Einwirkung, die Führung, von dieser Seite der Lebendigkeit aus auffassen. Und das ist, um aus der Literatur ijur ein Werk zu nennen, nirgends besser zum Ausdruck gekommen als in der: „Pädagogik deines Wesens" (herausgegeben von Fritz Jode, 1920). Wer diese Aufsätze des Hamburger „Wendekreises" nicht wie ein kalter Stiesel liest, den wird das Leben aufjagen, das durch sie hindurchtreibt. Alles ist im Rhythmus des Blutes geschrieben, des neuen ursprünglichen Erlebens erzieherischen Tuns iftid der Lebensverbundenheit mit Kindern und deren Weihe. So wird hier auch davon gesprochen, daß zwischen Erzieher und Kind ein Verhältnis sein müsse wie das in einer guten Ehe. Man will mit den Kindern leben im vollsten Sinne des Wortes, buchstäblich ihr ganzes Leben teilen, verzichten aufs eigene Leben. Man reist flußauf flußab, man lebt in dem Schulheim und auf den Wanderungen mit ihnen zusammen. Man arbeitet im Schulgarten bis in die späten Abendstunden hinein, man wandert durch neue Landschaften, lagert und schläft mit ihnen, um der Kinder ganzes Leben, ihre ganze Vitalität, voll und ganz mitzuerleben, zu erfassen und durch dieses Zusammenleben, weil man sich auch selbst in ganzer Ursprünglichkeit gibt, sie zu formen. Was hier gefordert wurde, können wir bis heute in vielen der Neuen Schulen Deutschlands getan sehen. Eine große Zahl junger Erzieher und Erzieherinnen preist als die einzig richtige Haltung diese Lebenseinheit mit ihren Zöglingen und versucht auch wirklich in ihrer Praxis, was ich hinzufügen möchte, es in einem tiefehrlichen Streben durchzuführen. Ich habe auch schon gesagt, daß ich auf diese Seite einen unbedingten Wert lege. Aber sogleich lehrt diese einseitige Betonung dessen, was ich Ursprünglichkeit genannt habe, der Aufbau eines



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Gemeinschaftslebens von dieser Seite aus, daß sie zu einer Romantik führt, einer Romantik, die dem ganzen Menschenleben sowohl des Zöglings wie des Erziehers nicht gerecht wird; und das ist der beste Fall; denn das ist der Fall, der nicht hoffnungslos ist, weil in solchen ideal gerichteten Männern und Frauen mit den Jahren ganz von selbst die anderen, nämlich die von der Geistesseite aufsteigenden und formgebenden Kräfte sich durchsetzen und die übersprudelnde Vitalität abmildern und begrenzen werden. Freilich sehen wir heute auch zwei bedenkliche Entwicklungserscheinungen dieses Typus: zum Glück in kleinster Zahl einen sich erotisch verirrenden Typ, in größerer einen verkrampften, sich selbst übersteigernden, unnatürlich lebendigen, einen nicht gehaltenen und ausgeglichenen Typ; dann bleibt man etwa Wandervogel bis ins vierte Lebens jähr zehnt. Handelt es sich nicht um eine eitle Schauspielerei, sondern um ernste Lebensführung, so bedeutet solcher Einsatz des Vitalen eine übermäßige Inanspruchnahme von Lebenskräften. Ein solcher Typ kann immerhin für Jugendliche eines gewissen Lebensalters und Typs von Wert sein, kann für gewisse Kinder und Jugendliche tatsächlich erzieherischen Wert haben. Freilich ist die Gefahr am größten, wenn solche Erzieher mit selber sehr stark vitalen Zöglingen zusammenkommen, weil im Umgang alsdann das Kind, der Jugendliche allzuleicht außer sich selbst getrieben, exzentrisch wird, und so eine Übersteigerung einer Seite des Menschen erfolgt. Immerhin sind es wenige Menschen, die die Kräfte ihrer Ursprünglichkeit derart gesteigert in den Dienst der J u g e n d stellen und stellen können, weil man dabei bald körperlich zugrunde ginge. Es ist eine zu starke Verausgabung von Kräften. Überall dort, wo es sich nicht um die Jugendführung, sondern um eine starke Ausgabe ursprünglicher Kräfte für andere Lebensaufgaben handelt, finden wir auch immer Formen des E g o i s m u s auftreten, eines egoistisch lebenden Menschen, eines seinem Ich dienenden Menschen. In jener Romantik ist auch ein feiner Egoismus enthalten, da eben der Selbstgenuiß durch das Zusammenleben mit den anderen, hier durch das



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Zusammenleben des Erziehers mit seinen Zöglingen, gesteigert wird, gleichsam doppelt genossen wird, und so sehen wir auch hier die Formen der Überheblichkeit, einer Eitelkeit unter Umständen, die uns zeigt, bis zu welchen Fehlformen diese erzieherische Haltung gedeihen kann. Alle egoistischen Lebensformen sind Verzerrungen, Pervertierungen einer Individualität. Jede Individualität hat die Richtung auf inneres Wachstum in ihrer Ganzheit, auf Ausdehnung und Einheit, sie handelt synthetisch und sympathetisch, und dann folgt auch aus ihrem Handeln stets eine reine Lust, eine Lust, wie sie niemals aus egoistischen Handlungen folgen kann. Und diese Lust geht jeder Handlung einer voll aus sich tätigen Individualität voraus und begleitet sie, weil Freude nur aus einem ungebrochenen Ganzen folgen kann. Und solche ungebrochene Freude ist es ja gerade, die in der wahren erzieherischen Haltung unbedingt erforderlich ist. Alles reine Ich-Handeln ist aber ein Teil-Handeln, und darin liegt für den Beginn der Handlung und für alle sie begleitenden Gefuhlszustände die Quelle von Unlust. Es besteht eben keine Übereinstimmung mit dem ganzen Wesen. Im Egoismus schlechthin haben wir es zu tun mit einer Überbetonung des Ich, d. h. einer Verzerrung, einer Verschrumpfung der Willensseite auf das eigene Ergehen, die eigenen Interessen, seien sie nun leibliche, wirtschaftliche oder geistige, das ist ganz gleichgültig; denn die egoistischen Formen verzerren natürlich sämtliche Lebensgebiete. Das Eigentümliche in allen egoistischen Formen ist weiterhin dies, daß der „Einzelne" sich sieht a u ß e r h a l b der anderen. Er versucht sein Leben zu führen, für sich zu kämpfen, zu erraffen, zu genießen für sich allein, und die anderen sind ihm nichts weiter als Mittel, mit denen er glaubt, schalten und walten zu können nach seinem Ermessen. So lebt er in einem unnatürlichen, unwahren Verhältnis, und das ist es, was die anderen an ihm und seinen Verhaltungsweisen als lächerlich auffassen, und wenn es harmlosere Seiten sind, als eine leichte Überheblichkeit oder Eitelkeit; was sie aber an ihm hassen und was sie zum Kampf cjegen solche Menschen stachelt, wenn es sich



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um brutale Seiten handelt. Die Menschen reagieren instinktiv auf solches Verhalten, weil es im Widerspruch steht mit dem, was w e s e n h a f t gefordert wird. Auf das Wesen gesehen, ist die Haltung eben pervertiert, nämlich auf ein „Einzelnes" eingestellt, welches so nicht ist, kein Rechts-Sein besitzt. Es ist ein Einzelnes, das versucht, sich vom Seinsgrund zu lösen, der Gemeinschaft gegenüberstehen und sich allein behaupten will. Wenn wir nun auch zugegeben haben, daß sich in der geschilderten romantischen Haltung in Äusnahmefällen eine erzieherische Haltung aufbringen läßt, die sich wesentlich auf das stützt, was ich Ursprünglichkeit nannte, so können wir also doch auf keinen Fall darin ein a u s r e i c h e n d verpflichtendes Motiv für den erkennenden, sich seiner Stellung zum Menschen bewußt gewordenen Menschen sehen, um an sich zu arbeiten, sich zum Dienst für den anderen zu bereiten, zu erhalten und in Dienst zu setzen. Es muß unbedingt gefordert und angestrebt werden, daß diese Ursprünglichkeit hineinverwoben werde in das, was wir die „Persönlichkeit" 1 ) nennen, und daß es demnach zu einer lebensvollen P e r s ö n l i c h k e i t im vollsten Sinne dieses Begriffes komme. Eine Individualität wird nur dann zur Persönlichkeit, wenn sie sich einfühlt in das alle Menschen umspannende Mutterreich des Geistigen, und wie die Millionen Menschen es tun — Persönlichkeiten sind ja nicht nur die Gipfelmenschen, sondern in allen Menschen um uns treibt persönliche Kraft, und alle haben das Recht, von uns als Persönlichkeiten geachtet und behandelt zu werden — schlechthin sich so lebt, wie in einem „gesunden Schlafe", mit Nietzsche zu reden und um vom Standpunkte höchster Selbstbewußtheit eines geistig Schaffenden zu urteilen, oder wenn sie sich erlebt als Teil dieser Gemeinschaft und sich bewußt erkennt, fühlt, weiß inmitten dieser geistigen Wechselwirkung aller Wesen. Die Individualität erfaßt sich dann nicht mehr als eine isolierte Willenseinheit, die sich für sich ausleben und durchsetzen kann, sondern als ein nicht herauszulösendes Glied in dem stetigen, ununterS. ob. S. 87 und m. Allgemeine Erziehungswissenschaft, I. S. 45 bis 56.



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brochenen Wirkungszusammenhange der geistigen Welt, die ein Strom rastloser Tätigkeit ist, ein Kraftfeld ungezählter Tateinheiten, im engsten Zusammenspiel eine in die andere verwoben. Unentrinnbar in der Mitte dieses Urzusammenhangs der Tateinheiten — und ein jeder von uns ist im Mittelpunkt des Seins — mitten in diesem Strome steht der Einzelne gemeinschaftserfüllt und wie ein Spiegel der Welt, wenn sie sich in ihm bricht und nun in ihm Glanz aufleuchtet, der zurückstrahlt in die Welt und diese für andere lichter, deutlicher macht, so daß die anderen durch ihn in ihrem Leben Helligkeit erlangen, ihr Lebensdunkel durchleuchtet und damit auch ihr persönliches Leben kräftiger wird 1 ). Wo diese E r k e n n t n i s der Gliedschaft und des verpflichtenden persönlichen Lebens von einem Menschen wahrhaft begriffen und zu einem wirkenden Motiv wird, dort ist nun der Einzelne mehr als bloß d a s t e h e n d e Bedingung für den anderen, für das geistige Aufleben und Ausleben des anderen. Er ist b e s t i m m t für ihn, und er weiß sich nun selbst in dieser Bestimmung für den andern und daß diese Bestimmung nur in der Form des D i e n s t e s gelebt werden kann. Es gibt keine Persönlichkeit, es gibt keinen Menschen, von dem wir wissen und dem wir die Bezeichnung Persönlichkeit zuerkennen, die nicht in höchstem Sinne eine dienende gewesen wäre. Das eignet einer jeden Persönlichkeit, daß sie sich den hohen Ideen unterordnet, die über den einzelnen hinausweisen, die hinaufweisen in das Reich der Werte. W o sich nun ein Mensch im besonderen erkennt als im Dienste der Idee der B r u d e r s c h a f t stehend und für d i e s e n geistigen Dienst geboren, dort tritt die E r z i e h e r persönlichkeit in ihrer tiefsten Wesenheit heraus. Gewiß teilt sie auch hier das, was jeder Persönlichkeit eigen ist; denn nur dort, wo sich die Individualität mit den Zweckel' der Gemeinschaft erfüllt hat und sich mit allen Kräften des Leibes und der Seele in den Dienst dieser Zwecke stellt, ') M. AUgem. E r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t , I. S. 51. Ρ :

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sich ihnen unterwirft, entwickelt sie sich zur Persönlichkeit. Aber in der Er zieh er persönlichkeit wird diese Entwicklung zu einer b e w u ß t e n Tat eines g a n z e n Lebens, eines Berufslebens, und in dem steten Ringen um die Erfüllung ihrer Individualität mit den Zwecken und Kräften der geistigen Gemeinschaft, um die Treue gegenüber der Bruderschaftsidee, bleibt sie selber kraftvoll, bleibt sie führend. In jeder Persönlichkeit, die wir als eine wahrhafte ansprechen, werden wir nun auch jene Ursprünglichkeit finden. Durch die Ursprünglichkeit bleibt die Persönlichkeit mit dem Leben verbunden, und auf sie gründet sich ihr schauendes Vermögen, ihre S c h a u k r a f t , die Funktion, durch die sie befähigt ist, teilzuhaben an der Wirklichkeit, dem Absoluten, sich in Eins zu setzen mit dem All. Was wir Schauen genannt haben, das ist Bezeichnung dafür, daß wir es vermögen, unmittelbar mit dem Sein in Verbindung zu kommen, „auf den Grund zu schauen", wenn auch alle unsere Schauungen immer nur Teile des Seinsgrundes sehen, genau wie wenn wir im tiefen Wasser auf den Grund zu schauen versuchen, wir niemals den ganzen Grund erkennen können, sondern nur einen Teil. Alle unsere Schauungen und Lotungen auf den Grund des Seienden werden es niemals in seiner Totalität erfassen; genug, daß wir als schauende Menschen in Verbindung stehen mit dem Grunde und daß sich in unserm Werk die Stärke unserer Schaukraft ständig offenbaren wird. Denn vom Grade der die Persönlichkeit durchpulsenden Ursprünglichkeit und ihrer Sdiaukraft hängt ab der Wert des Kunstwerks, der Dichtung, der Lehre, jeder Handlung im Alltag, für uns im besonderen die erzieherische Leistung. Wer auf dem Wege zu einer solchen Persönlichkeit ist — denn sie ist Aufgabe eines ganzen Menschenlebens —, wer auf dem Weg« ist, wer bereits Ziel und Form hat, an dem man das Gepräge „dieses" Menschen schon erkennen kann, von dem sagen wir: er ist ein aus sich s e l b s t r e i f e n d e r Mensch. Das ist dann derjenige, der nun sich ohne Zaudern an das Wagnis der Führung machen kann. Wenn ich sage, er ist aus



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sich selbst gereift, so verstehen wir aus allem Voraufgehenden, daß diese Reifung nur erfolgen konnte in der Sonne der geistigen Gemeinschaft, d. h. weil dieses Selbst von den Strahlen dieser Sonne durch und durch erwärmt und weil ihm die Frucht dadurch allein ermöglicht ward. Eigenstes und Gemeinsamstes sind ineinander, und so, daß das Gemeinsame durch die u r s p r ü n g l i c h e Eigenkraft des Einzelnen wunderbar und eigentümlich, wie in einer Linse farbig gebrochen, erscheint. In diesem aus sich selbst reifenden Menschen bricht d a s r e c h t e G e f ü h l d e r V e r a n t w o r t l i c h k e i t f ü r d e n a n d e r e n hervor aus dem Erlebnis der engsten Gemeinschaft Mensch zu Mensch und aus der Erfülltheit mit dem alle verbindenden Wesen und aus der zur Tat drängenden L i e b e zum B r u d e r , in jedem andern den Bruder zu gewinnen. Ich meine aber eine Bruderschaft in dem Sinne, wie sie Albert G ö r l a n d 1 ) fordert, für den sie auf keiner Identität des Geistigen in allen Menschen gegründet ist, so daß ich das Du in dem anderen erstrebe und im Grunde nur das Ich in diesem Du. Es handelt sich hier auch nicht um Ergebnisse einer Induktionsreihe aus Du-Erlebnissen und dgl., sondern um die Anerkennung einer u r s p r ü n g l i c h e n V e r b u n d e n h e i t d e s Ich u n d d e s Du, bei der im Bruderbegrifi gerade das Gegensätzliche mitumschlossen ist. Und ich will nun den Bruder als den „andern", und nicht mich in ihm; und darauf kommt es in aller Führung an. Ich will in meinem erzieherischen Tun dem Zögling zu s e i n e r Vollendung, zu seiner Bildung und Menschwerdung verhelfen, nicht in ihm mich selbst finden oder meine Neigungen, als Neigungen eines Ego, befriedigen, sondern mit meinem ganzen Sein und Vermögen dem andern a l s einem andern, von -mir Unterschiedenen, dienen. Deswegen auch die e r s t e Voraussetzung für jedes erzieherische Wirken dies ist: den Zögling in seiner Art zu b e j a h e n . Das gilt ζ. B. auch in der Fürsorgeerziehung wie überall: das Erste ist immer, sich ganz in den Zögling hineinversetzen, ihn zu verstehen, ihn gewissermaßen nachzuerleben, um zu begreifen, daß er heute so !) Neubegründung der Ethik, 1918, S. 33 f.

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sein maß, wie er ist. Und von diesem Ja aus erfolgen dann alle Akte, welche auf Begrenzung oder Äufweitung, auf Befreiung oder gar auf Zwang abzielen. Und jeder, der irgendwo als Erzieher tätig war, weiß es ebenfalls, daß, wenn unser Versuch zur Hilfe fehlschlug oder doch nicht ganz die Ergebnisse zeitigte, die wir erhofft hatten, daß wir dann jedesmal wieder zurück mußten zu einem Ja. Wir müssen uns von neuem in ihn hineinversetzen, den Zögling, wie er ist und wie er ward, verstehen, hinnehmen und nun zu einem neuen Versuch ansetzen. Das bedeutet es, wenn ich sage: es geht dem Erzieher immer und immer wieder darum, den andern als den Bruder zu gewinnen. Als den Bruder! denn wir können uns nicht tief und voll und ernst genug in einen andern versetzen, wenn wir auch nur etwas weniger suchten oder wollten. Im Grunde treibt im Erzieher wie bei allen Menschen das Sehnen zum anderen, dessen wir bedürfen. Aber es ist ihm nicht ein unsicheres, unklares oder nur instinktartiges Suchen und Sehnen, sondern treibendes Verlangen zum Dienst für den anderen „als einen andern", aus der Erkenntnis der Verantwortung heraus, die der eine für den andern hat. Darum ihn nicht nach Deinem Bilde formen, als wenn Du ein Gott wärest, der das Recht hätte, Menschen nach seinem Bilde zu formen!

§ 9.

Autorität. Vom Recht der eigenen Lebenserfahrung und der Überlieferung (Tradition). 1. In solcher erzieherischen H a l t u n g liegt nun auch das Geheimnis der A u t o r i t ä t umschlossen, der rechten und wahren Autorität, ohne die kein erzieherisches Tun möglich ist. D e n n Erziehung will g e i s t i g e Kräfte lösen, soll frei machen und helfen, frei zu werden. W a n n löst der andere in mir geistige Kräfte a u s ? W a n n wirkt er „befreiend" auf mich und f ü r m i c h ? Gerade für mich! denn d a s ist ja die tiefste Bedeutung, d e r Sinn alles Autoritativen, daß es f ü r uns eintreten will.



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Nur d e r andere macht mich frei und wirkt mit zu meiner Vergeistigung, meiner Menschwerdung, der mir autoritativ wird. Und so gibt es keine Erziehung ohne Autorität, ohne ein den anderen Zwingendes. Aber es dürfte bereits zur Genüge deutlich sein, daß dieses Zwingende niemals ein Vergewaltigendes sein darf. Ich darf nicht das Gefühl haben, daß mir Gewalt angetan wird, gegen die ich gar anknirschen möchte. Sondern nur dann wirkt das, was mir autoritativ wird, für mich befreiend, wenn in mir, bei meiner Einordnung und Unterordnung, das deutliche und starke Gefühl bestehen bleibt, daß ich mich dadurch erst in meinem Wesen und Sinn erfülle und daß demnach m e i n e F r e i h e i t g e w a h r t b l e i b t . Dort, wo sich in solchem Sinne ein Mensch einem Autoritativen fügt, strömt er gleichsam hinüber in etwas, das ihm ist wie Ruhestatt, Heimat, Zuhausesein s e i n e s Besten, seines persönlichen Lebens im andern; so ruht ein Kind in seiner Mutter, der Fromme in Gott. Dabei kann jemand durchaus dem fremden, vor allem dem oberflächlichen Beurteiler als ganz untergeordnet, als abhängig erscheinen; man denke an einen streng kirchlichen Mensdien, an einen Mönch, aber auch an einen Beamten, einen Offizier, einen Parteimenschen usf. Und doch erlebt dieser selbst, mit vollem Recht, in dieser Ein- und Unterordnung die E r f ü l l u n g seines Daseins als Mensch. Und was sucht denn jeder von uns anderes in seinem Leben als die Erfüllung und die Darstellung seines Sinnes, und mehr darf und kann auch keiner von dem andern verlangen, vor allem aber zu etwas andern darf keiner dem andern helfen wollen; denn solches Helfen müßte ein Vergewaltigen werden. Unsre wahren Erzieher und Bildner, sind unsre wahren Befreier; sie verraten uns, wie es N i e t z s c h e an Schopenhauer erlebte, den wahren Ursinn und Grundstoff u n s e r e s Wesens, die sonst nicht erfaßt und erkannt würden. In folgenden Fällen haben wir es also mit verderblichen Wirkungen einer Autorität zu tun; sie sind mißbrauchte Autorität, Gegenerziehung, etwas, das auch von jenem Rätselvollen innerhalb der Menschheit zeugt, daß es nichts gibt in Himmel,

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Hölle und Erde, das in Menschenhand nicht auch mißbraucht werden könnte. Wenn im Zögling oder im Mitmenschen — denn Erziehung durchzieht ja das ganze Leben eines Menschen — durch den andern das Gefühl geweckt wird, ihm selbst sei die Verpflichtung abgenommen, sich selber zu erziehen. Eine außerordentlich häufig vorhandene Gefahr und Lage! Wo Staatsautorität auftritt, da nimmt sie gern den Bürgern das Empfinden der Mitverantwortlichkeit ab, auch wenn es im Programm anders lautet, denn das Regieren verleiht das Bewußtsein einer Äbsolutheit, und wir werden auch vom Staatrechtler darüber belehrt, daß sich jede Regierung als absolut fühle und begreife und daß dies zum Wesen der Regierung gehöre. Und so erklären sich die bekannten schroffen Lehren über Autorität in der Schule, die Z i l l e r entwickelt hat, eben durch seine Übertragung juristischer, staatsrechtlicher Ansichten auf das Verhältnis von Schüler und Lehrer 1 ). Die gleiche Gefahr besteht in einer Kirchenlehre, welche stellvertretend des Menschen Sünde auf sich nimmt, sowie in jeder Schulwirklichkeit, in welcher die Selbstverantwortlichkeit der Schüler für alles und jedes Einfachste nicht ständig selbstverständliche Tatsache ist. Hier liegt auch die oft geschilderte gefährliche Wirkung unserer höheren Schulen, weil sie junge Menschen bis zum 19./20. Lebensjahre leiten und lenken und in ihnen allzu leicht Initiative, Selbststreben in einem bedenklichen Umfange zerstören, sodaß die Klagen darüber niemals verstummen bei allen, die es wohl mit unserm Volke meinen. Denn wer kann sich dann darüber wundern, daß Menschen, die zwei Jahrzehnte hindurch fast nur gestellte, umgrenzte, von außen gegebene Aufgaben, autoritativ gegeben, haben hinnehmen und machen müssen, um versetzt zu werden, Examen zu machen, „aufzusteigen", das Vermögen verlieren, von sich aus anzugreifen, selber anzupacken, sich selber für ihr Leben verantwortlich zu fühlen? Bisher konnte die d e u t s c h e U n i v e r s i t ä t als ein Ort betrachtet werden, an dem dieser junge Mensch sich wieder finden, zu sich selber zurückkehren konnte, um frei zu werden, x

) S. m. Allgemeine Erziehungswissenschaft I. Teil, S. 200ff.

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sich seinen Weg zu bahnen und auszubauen. Wenn aber nun unter dem Druck einer akademischen Massenbewegung die Studiengänge fester geregelt werden, wenn ganze Studentengruppen vom ersten Semester an sich in vorgeschriebenen Studienbahnen bewegen müssen und dabei sofort wieder unter den Druck des künftigen Examens rücken, unter Umständen gar mit der Bindung an bestimmte Orte und, was noch verderblicher ist, an bestimmte Personen, so haben wir die Freizügigkeit beseitigt und den deutschen Weg „höchster" Bildung so entwertet und verflacht, daß ein kultureller Abstieg nicht ausbleiben kann. Auch die Universitäten würden züchten, nicht erziehen! Die S e l b s t e r z i e h u n g muß als stete Pflicht eines jeden Einzelnen in allem das Kernstück aller Bildungswirklichkeit sein. Sonst wirkt diese abstumpfend und erzeugt Gleichgültigkeit, und in allen Fällen ist das „Menschliche", das Wertvollste erstickt, zum mindesten verschüttet. Noch schlimmer ist aber der Mißbrauch der Autorität dort, wo ein Mensch in autoritativer Stellung diejenigen Kräfte eines Mitmenschen, welche der Bildung seines M e n s c h e n t u m s dienen sollen, in Kräfte des Ressentiments, des Hasses, der Verbitterung gegen andere verkehrt. Also wo jemand, der zum Erzieher bestellt ist, die Zöglinge beeinflußt gegen Mitmenschen, gegen Einrichtungen, die ihm als Einzelmenschen und Parteimenschen nicht zusagen; wo er sich in seiner Aufgabe verkennt und etwa gar zum reinen Parteimenschen wird, sich als Teilmensch zum Führer in Schulen aufwirft. Diese Art der Einwirkung von Mensch auf Mensch ist die Quelle des radikal Bösen, desjenigen Reiches, zu dessen Machthaber der Teufel gemacht ist. Man könnte sagen: Alles radikal Böse in der Welt ist nichts anderes als verkehrte Erziehung. Mißbrauch erzieherischer Autorität ist die Quelle dieses Bösen in der Welt. Es ist darum auch richtig, wenn heute in der Gefangenenerziehung „Behandlung statt Strafe" gefordert wird, d. h. den gefallenen Menschen in die rechte und beste Erziehungswirklichkeit zu stellen. Wir verstehen ferner, welche Diener der Teufel heute besitzt in Schule und Presse, in Parteiwesen und Klatschgesellschaft, kurz überall dort, wo unter



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Menschen Verhetzung und Zwietracht gesät wird, wo von der Uneinigkeit und dem Unfrieden, dem Schlechtmachen und Herabmindern des andern gelebt wird. Eine Stütze falscher Autorität bildet auch die Lehre von der allgemeingültigen Moral, deren Gesetze alsdann über jeden und schon über das Kind aufgestellt werden und deren Befolgung gefordert wird. Das hat jenen „Geist der Schwere" erzeugt, gegen den Zarathustra-Nietzsche mit Recht sich wandte; weil er den Menschen in die Erde hineindrückt und ihm das Fliegen-lernen unmöglich macht. „Fast in der Wiege gibt man uns schon schwere Worte und Werte mit: 'Gut' und 'Böse' — so heißt sich diese Mitgift. Um derentwillen vergibt man uns, daß wir leben. Und dazu läßt man die Kindlein zu sich kommen, daß man ihnen bei Zeiten wehre, sich selber zu lieben: also schafft es der Geist der Schwere. 'Das — ist nun mein Weg, — wo ist der eure?' so antwortete ich Denen, welche mich 'nach dem Wege' fragten. Den Weg nämlich — den gibt es nicht!" Und: „Nicht die Menschen 'besser' machen, nicht zu ihnen auf irgend eine Art Moral reden, als ob 'Moralität an sich', oder eine ideale Art Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Z u s t ä n d e s c h a f f e n , unter denen s t ä r k e r e M e n s c h e n n ö t i g sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine l e i b l i c h - g e i s t i g e D i s z i p l i n ) , welche s t a r k m a c h t , brauchen und folglich haben werden!" (Der Wille zur Macht, IV. Buch, Aphor. 981.) Die erzieherische Haltung geht auf den B r u d e r im andern; sie will den Bruder gewinnen, dem andern helfen zur Erfüllung und Darstellung seines wahren Menschentums. Wehe dem, der auch nur durch seine Haltung dazu mitwirkt, daß dabei der Mitmensch dem andern als ein „unheiliges Du" erscheint. In den besten und sittlich ernstesten Kreisen der deutschen Jugendbewegung, dort, wo man ernstlich über die engeren Kreise zum Verständnis anderer Jugendbünde, ja der Jugendbünde aller Kreise und Weltanschauungen hinstrebt, ist dieses tiefe Problem des „unheiligen Du" in seiner vollen Schwere heraufgestiegen, näm-



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li:h daß man auf Menschen, auf ganze Gruppen stieß, die als fremde und feindselige Gruppen gegenüberstanden, unverstanden und nicht verstehend, etwa in der proletarischen Bewegung Menschen, die keinen Sinn für Vaterland, Volksgemeinschaft, Religion zu haben schienen; in der bürgerlichen Welt Menschen, welche dagegen Worte von Nächstenliebe, Vaterland, Gott, kirchlicher Liturgie äußerlich und oberflächlich hinnahmen, sie in die Sphäre nüchterner Lebensinteressen hineinrückten und nicht durch die gewaltige Forderung solcher Worte und Symbole beunruhigt und innerlich aufgeregt wurden. Da war es, daß dies Wort vom „unheiligen Du" geprägt wurde und zu seiner Überwindung die Forderung aufstand, den festen Willen aufzubringen, Schritt für Schritt darum zu ringen, den andern zu verstehen, und die Geduld aufzubringen, welche stark genug sei, auch immer neue Ablehnung und Mißtrauen zu ertragen. Daß es gelte, über solche Äbgründe hinwegzukommen. Es gelte, auch das „unheilige Du", also einen bekämpfenden, nicht verstehen wollenden Mitmenschen in das eigene Leben und Wollen mitaufzunehmen und diesen andern zu lieben, so lange und leidenschaftlich, bis der Tropfen den Stein höhle und bis ein Gemeinschaftsleben erkämpft sei, in dessen Ordnungen und Formen sich der ewige Sinn des Menschen klarer und klarer spiegele. Wer im Leben von Schulen Neuer Erziehung gestanden hat und steht, der weiß, daß dieses Ringen in genau derselben Inbrunst und Echtheit und mit demselben Ernst dort sich unablässig abspielt und daß es auch hier dieses Kämpfen um den andern ist, durch dessen Ehrlichkeit, Innigkeit und Kraft das gesamte Gemeinschaftsleben der Gruppen, wie der gesamten Schule ständig gewinnt und sich seiner tiefsten Verantwortlichkeit unaufhörlich bewußt bleibt. Denn eben, wo sich Gemeinschaften solchen Geistes bilden, dort ist jene kosmische Funktion der Erziehung in höchster Kraft und Lauterkeit lebendig und wirksam; keine Schulgemeinde kann anders Erziehungsgemeinschaft sein. 2. Wir begannen unsre Betrachtungen über die erzieherische Haltung mit der Entwicklung landläufiger Gedanken 1 ): es sei Μ S. oben S. 135.



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der lebenserfahrenere, reifere Mensch, oder es sei der Mensch im Dienste der Uberlieferung, die ältere Generation gegenüber der jüngeren, schon immer dadurch zur Erziehung berufen, und wir verneinten es, daß die V e r a n t w o r t u n g zur Erziehung daraus schon abgeleitet werden könne. Jetzt können wir abschließend klären, in welchem Umfange und wann die eigene Lebenserfahrung und die Uberlieferung ein R e c h t haben, als e r z i e h e r i s c h e Kräfte eingestellt zu werden. Wer sich nämlich auf seine Lebenserfahrung dem nodh nicht reifen Menschen gegenüber beruft, der wird recht tun und Erfolg haben, w e n n er sich auf Erfahrungen beruft, durch die sein p e r s ö n l i c h e s Leben geweckt und genährt und in sich selber fortgetrieben wurde. Alle diejenigen Erfahrungen eines Menschen — wobei ich also absehe von ökonomisch-tedhnischen Dingen, vom praktischen Handgriffe —, in denen sich d i e s e s Menschen G e i s t i g k e i t zu dieses Menschen letztmöglicher Form aufbaute, diese Erfahrungen sind krafterfüllt für andere, ganz gleichgültig, wo dieser Mann im Leben, im Beruf steht. Das sind aber Erfahrungen, die nicht Mittel schlauer Überredungskunst oder selbstgefälliger Darstellung sind, sondern jene Erfahrungen, die man, wie wir so deutlich und bedeutend sagen, dem Menschen „anmerkt", die irgendwie an ihm Gestalt gewonnen haben. Er ist uns als Persönlichkeit Träger, Künder seiner persönlichsten, ihn als Persönlichkeit formenden Erlebnisse, und n u r dadurch für den anderen, der sich ihm gegenüberstellt, oder vor den er hintritt und nun dessen Wertungen herausfordert, eine Kraft zum Geistigen. Max S c h e l e r sagte 1 ), daß der Wert eines Gegenstandes den Gegenständen, den Sachverhalten vorausgehe, daß der Wert das Allererste sei, was uns von ihnen zugehe, daß der Wert gleichsam ihnen voransc^ireite als der erste Bote ihrer besonderen Natur. Genau so stehl es mit dem Menschen. Seine Werthaftigkeit geht ihm voraus, und daher ist der aus sich selbst reife Mensch für den anderen der fürstliche Bote, der adligste Herold des geistigen Wesens, das in uns allen treibt und dessen Darstellung unsere Bestimmung ist. !) S. oben S. 73.



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Wir sehen aber daraus auch, daß es nicht darauf ankommt, mit diesen Erfahrungen zu prunken, von ihnen zu reden, sie zu Zwecken der „Belehrung", als „Musterbeispiele", mit einem Wort sie „moralisch" anzuwenden. Nein, im Gegenteil, das wäre der. beste Weg zu bezeugen, daß es sich n i c h t um tiefe Gßisterfahrungen, n i c h t um Persönlichstes, sondern um Außenwerk an diesem Menschen handelt, das er aus Büchern gelernt hat und nun im Auftrag einer Behörde übermittelt. Das heißt, um ein paar praktische Dinge zu nennen, nicht Sitten l e h r e mit der Aufgabe, sittliche Charaktere zu bilden, sondern sittliche Menschen als Erzieher; das heißt nicht Staatsbürgerkunde in der Schule — diese Erfindung von Schulbeamten — mit dem Ziele, beste Staatsbürger zu züchten, sondern Erzieher, die wirklich Bürger sind; das heißt nicht Religionsunterricht mit dem Ziele, religiöse Menschen zu erziehen, sondern religiöse Menschen als Erzieher. Alles Wortemachen, alles Maulbrauchen, wie P e s t a l o z z i sagen würde, und das ewige Belehren zerstört, zerredet; es kann im schlimmsten Falle jungen Menschen diese wichtigsten Dinge zum Ekel machen. Es genügt, ja es gibt nur eine einzige rechte Art, nämlich die, d a zu s e i n , sich rein und ganz unbefangen hinzustellen und so, w i e man i s t , gerade immer auf der Stufe des Wachstums seines geistigen Lebens, auf der man sich gerade befindet, zu sein zu wagen. Das ist die einzig wahre erzieherische Haltung, und in sie gehen alle persönlichen Lebenserfahrungen von selbst mit hinein. Es ist daher viel zu wenig, zu sagen, die Erzieherpersönlichkeit ist eine ethische Persönlichkeit, weil gerade, um recht führen zu können, jene Ursprünglichkeit, die ganze Vitalität mit eingesetzt werden muß, und zwar nicht ethisiert, sondern lebenswarm, natürlich, wesenserfüllt. 3. Nun verstehen wir auch, wie wir uns zu dem Problem der Ü b e r l i e f e r u n g , der Tradition, stellen müssen. Es steckt in der Tradition, wie in aller Erfahrungsmasse, ein Doppeltes. Man möchte, roh scheidend, sagen: ein Ökonomisch-Praktisches und ein Geistig-Energetisches, und deren Einschätzung hat genau so zu erfolgen wie die der gleichen Seiten in der individuellen Lebenserfahrung. Zum Beispiel sind sicherlich in der Frage der



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Kleidung und Ernährung (natürlich wissenschaftlich als richtig bestätigte) überlieferte Bräuche geradezu als Lebensnotwendigkeiten erster Ordnung weiterzugeben. Zu fordern ist immer nur für jedes eine Überprüfung durch die derzeitige Wissenschaft in Verbindung mit dem Leben, und das Beste wäre hierein Grundkanon in bester volkstümlicher und praktischer Aufmachung, übrigens erkennt man schon bei der Überprüfung dieser Frage, wie keine Zeit es sich nehmen läßt, auch das best Überlieferte von sich aus noch einmal zu prüfen, um festzustellen, was denn „gute" Überlieferung sei, selbst nicht einmal das ÖkonomischPraktische. Es ist ja auch keinerlei Brauch und Sitte von l e b e n diger Wirkung, wenn sie nicht von der vollen Kraft der Gegenwartsmenschen ergriffen sind. Ich brauche nur den Zusammenbruch des Versuchs zu erwähnen, alte Volkssitten, mittelalterliche Spiele zu erneuern. Sofern sie nicht getragen werden von den Gegenwartskräften, sofern sie nicht von uns heute geistig gebraucht werden, werden sie versinken. Und scheinbar versinken sie bereits. Was nun die Überlieferung anlangt, so steht sie nach dem Grundsatz: „Immer alles", in der vollen Kraft unter uns, immer fähig, lebendig zu werden. Was an ihr „gefährlich" wird und mit Recht als gefährlich bezeichnet wird, das tritt auf, wenn die älteren F o r m e n einfach als solche übernommen werden und sich das, was Lebensform für uns heute sein soll, dann wie eine leere und tote Hülse um einen lebendigen Menschen legt und für ihn zu einem Panzerkleid werden kann, das die freie Bewegung, das freie Aufleben hemmt. Wo wir nun in einer „lebensvollen Persönlichkeit" Kräfte der Überlieferung, Stücke einer Überlieferung sehen, dort müssen wir es verstehen, daß in d i e s e r Persönlichkeit die traditionellen Elemente Notwendigkeiten für diese Menschen waren, um persönlich, geistig zu wirken. Ich denke ζ. B. an einen schlicht religiösen Menschen, für den Gott und Gebet nicht Redensarten, sondern Lebenskräfte sind. Ich denke an die Vertreter konservativer Anschauungen, für die die Familie in der patriarchalischen Form Lebensform ist; an den Philologen, für den Hellas und Rom zu Gegenwartskräften geworden sind, mit denen er Gegenwartsleben zu formen vermag, und an all die



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vielen, in denen Überliefertes, neu durchglüht, umgegossen ist in Gegenwartsform und damit dann auch immer Gegenwartskraft gewonnen hat. Alles aber, was in anderer Weise als Überlieferung vorgetragen und für den Gegenwartsmenschen, einen Jugendlichen, als V e r p f l i c h t u n g zur Unterordnung hingestellt wird, aber nicht geformt ist in persönlichem Gegenwartsleben, das ist toter Ballast und muß über Bord geworfen werden. Zwingt man jungen Menschen auf ihrem Lebensschiff während der Fahrt an den Küsten der Kindheit und Jugend solchen Ballast auf, dann werfen sie ihn doch über Bord, wenn sie auf dem freien Meere angelangt sind. Es ist nur leider ein großer Schaden angerichtet: es ist frische jugendliche Kraft an Stoffen verbraucht, die diese Seelen und diese Leben nicht nährten. Und das ist ein Schaden, der nie wieder gut zu machen ist.

§ 10. Die Führung.

(Pädagogie).

In der erzieherischen Haltung offenbart sich eines Menschen Bestreben, dem andern etwas zu sein. Die schlichte und ungekünstelte Weise, nur da zu sein, ist die rechte Haltung, mit anderen Worten: Die erzieherische Haltung ist dort nicht vorhanden, wo sie einen Anspruch erhebt, w o sie ihr Sein zu einem Soll umbildet und Formeln gebraucht wie: So ihr nicht werdet wie i c h . . . nicht handelt wie ich . . . nicht tut, was ich tue . . . So darf nur ein Gott sprechen. Auch wenn die Haltung dergleichen nicht durch Worte verrät, sondern nur durch ihre Art, sich zu geben, so daß wir diesem Menschen gegenüber das Gefühl haben, er steht da mit einem z w i n g e n d e n Sein, das unserem Sein Gewalt antun will, auch dort wird stets ein Widerstreben der anderen die natürliche Antwort sein. Wir haben uns bereits ein volles Verständnis für dieses W i derstreben, vor allen Dingen im Kinde dem Erwachsenen gegenüber, verschafft. Wir können nicht mehr, wie H e r b a r t und die Herbartianer nach ihm, beim Kinde von einem „wilden Ungestüm" reden, das die Ordnung der Erwachsenen zu verwirren drohe, oder mit K a n t von einer Tierheit sprechen, von Auße-



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rungen eines bösen Willens, der gebrochen werden muß, sondern darin bekundet sich, daß in jedem Kinde etwas ist, das es schützen muß als s e i n E i g e n e s , etwas, das nur d i e s e s Menschenkind ausfähren kann und in seinem Leben durchführen muß. Von dem Erzieher ist deswegen als erstes zu fordern die Achtung vor dem Eigenen, der „Sendung" des Menschenkindes, das vor ihm sitzt, mit dem er umgeht. Und die Kinder sind ja auch in ihrem Eigensten durch viele Dinge von Natur geschützt 1 ). So hat das Kind, wie alle wissen, noch nicht die Fähigkeit, die Ermahnungen und die Belehrungen, die ihm von so vielen Seiten gegeben werden, lange Zeit im Gedächtnis zu behalten. Immer wieder sehen wir, wie Kinder, die ihre Eltern so lieben, daß die Liebe gar nicht bezweifelt werden kann, nicht einmal imstande sind, auch nur e i n e Stunde sich still zu verhalten, damit die Mutter, vielleicht die kranke, schlafen kann. Sie vergessen es immer wieder. Das ist kein böser Wille, kein Zeichen von Boshaftigkeit im Kinde. Es könnte ja gar nicht ein Eigenes werden, wenn es all die hundert und aberhunderte von Vorschriften und Ermahnungen, mit denen wir Erwachsene es umspannen und gängeln wollen, wirklich behalten und durchführen sollte. Wir kennen alle denjenigen Menschentypus, der auf diesem Wege am steten Gängelbande erzogen wird, etwa durch eine Mademoiselle oder Miß, zu einer „wohlerzogenen Puppe". Dieser Menschentypus wird zu bestimmten Gesellschaftsformen von früh auf nach einem bestimmten Schema des betreffenden Standes erzogen, um dann später als Mensch zu sein wie d i e a n d e r e n dieses Standes, in dessen Konventionei. sie oder er hineinleben und sich dereinst bewegen soll. Wir wissen, daß in ungezählten Fällen diese Führung von Menschenkindern nach einem Schema dazu führt, daß sie ihr e i g e n e s Leben hinter der gesellschaftlichen Maske führen, weil in ihnen nicht die Harmonie ihres vollen ursprünglichen Lebens mit den geistigen Kräften, die das Kind formen und bilden sollten, durch eine rechte Führung zustande kam. Das Kind ist mit Recht egoistisch, damit aber für uns nicht böse. D i e s e r Vgl. die eingehenderen Husführungen in m. Schrift: Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (JenaPlan) 1930, I. Teil, S. 10ff., bes. l q f f .



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Egoismus des Kindes ist vielmehr Schutz der Selbstentfaltung des Wesens, das gut ist. Das, was wir „böse" im Menschenleben nennen, wäre also ganz anders zu verstehen. Ein Mitmensch ist oft nur deswegen böse geworden, weil er das Eigene, das, wozu er bestimmt war, in unserer Welt nicht werden konnte, weil wir ihn nicht dazu kommen ließen. Desgleichen ist nun auch kein Kind dazu da, das zu werden, was eine ehrgeizige Familie aus ihm machen möchte, ebensowenig dazu bestimmt, in e r s t e r L i n i e zu werden, wozu irgendeine Institution es heranbilden möchte, sondern es liegt erziehungswissenschaftlich und ganz allgemein gesehen so 1 ): wenn wir endlich dahin gelangen könnten, die Kinder unter der fürsorgenden Hilfe rechter Erzieher in Schulgemeinden und Erziehungsheimen in R u h e , k ö r p e r l i c h u n d s e e l i s c h g e s c h ü t z t gegen die schädlichen Einflüsse u n s e r e r , der E r w a c h s e n e n , Kultur aufwachsen und reifen zu lassen, alsdann wäre es ganz selbstverständlich, daß sie sich während dieser Jahre auch mit dem auseinandersetzen würden, was Familie, Staat, Kirche, Vaterland usw. bedeuten, und daß sie diesen Verbänden als wertvolle, frei entwickelte junge Menschen zuwachsen würden in einem ganz anderen und wertvolleren Sinne, als es heute möglich ist, wo sich diese sozialen Verbände mit ihren zeitgebundenen Forderungen schon des Kindes und des Jugendlichen bemächtigen und sie um ihre eigene freie Entwicklung bringen wollen. Aus diesen Bestrebungen sozialer Gebilde, wie es Staat und Kirche sind, nach der längst hundertmal durch die geschichtlichen Tatsachen widerlegten, völlig törichten Meinung, wer die Jugend habe, der habe die Zukunft (— nein, wer die Zukunft hat, wer mit ihr schwanger geht, der hat die Jugend! —), spricht nur die Angst um den Bestand. Allein für. den, der ihre soziologische Struktur erkannt hat und aus ihr jene Angst zu deuten versteht, ist sie ein weiterer Beleg für die Erkenntnis, daß jene Gebilde, wie alles Soziale, nicht erste Ordnungen sind, sondern abgeleitete, gewordene, wandelbare, gleitende, und daß sie darum, wie S. die „grundsätzlichen Vorbemerkungen" und die Ausführungen über das Erziehungsziel in m. Schrift „Eine freie allgemeine Volksschule usw." a. a. 0 .



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alles Gleitende, das Bestreben zeigen, sich zu halten. Sie wollen nicht vergehen und sich wandeln; sie wollen nicht das Gesetz des Todes, der steten Wandlung, das in ihnen treibt, anerkennen, und darum suchen sie, sich künstlich zu erhalten. Deswegen bieten auch solcher Staat und solche Kirche, und d. h. d i e Menschen, welche aus solchem Geiste heraus um ihren Bestand kämpfen, so häufig dasselbe Bild wie Frauen und Männer, die ein Grauen davor haben, alt zu werden, sich zu ihrem Älter zu bekennen, und die sich deswegen künstlich jung erscheinen lassen wollen. Es ist auch im ersten Umgange der „Allgemeinen Erziehungswissenschaft" ausführlich gezeigt worden, wie alle sozialen Gebilde gegenüber der Gemeinschaft das Zweite sind. Deswegen erstand schon hier die Forderung, jede Schulgemeinde zur Erziehiungsgemeinschaft für alle Kinder eines Volkes fortzuentwickeln. Dafür müsse sie aber so weit wie nur irgend möglich frei sein vom E t h o s der Wirtschaft, des Staates und der Kirche, damit die rein geistigen Wirkungen und die rein menschlichen Bindungen und Forderungen so stark und kräftig wie nur irgend möglich wirksam werden können. Weil in j e d e m Menschenkinde ein inneres echtes Streben vorhanden ist, sich in seinem Wesen allen diesen, sein Wesen verfälschenden Einwirkungen gegenüber zu entfalten, erscheint das Kind uns egozentrisch. Allein es hat als Kind ein volles Recht auf seinen Egozentrismus. „Das Kind weiß nichts von Vergangenheit und nichts von Zukunft. Es weiß nichts von einer Gesellschaft, zu der es gehört; es lebt nur sich selbst und der Gegenwart unreflektiert. Der Anfang der Welt fällt in den Anfang der Welt des Kindes. Die Welt ist da für das Kind; die Ereignisse der kleinen Welt drehen sich um das Kind." So schilderte u. a. E u g e n von D ü h r i n g auf dem 3. Kongreß für Heiloädagogik (1926) diesen Egozentrismus. In ihm erschöpft sich aber durchaus nicht des Kindes Eigenart, nur hat im Kinde solcher Egozentrismus ebenfalls seine s i t t l i c h e Berechtigung. Es ist kein unsittlicher Egoismus, den wir früher bereits als Pervertierung des Grundwesens erklärt haben, sondern L e b e n s s c h u t z . Daruni ist er auch nicht wie aller andere Egoismus böse. Vielmehr ist der Egoismus seinerseits nur allzu häufig eine Folge der



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nicht zur Gemeinschaft hin geöffneten und ihr hingegebenen, tätig gewordenen Kräfte des Egozentrismus der Kindheit und Jugendlichenzeit. Das ist eine falsche Erhaltung oder Entwicklung des Egozentrismus, weil einmal die soziale Umwelt schon die Ichtriebe des Kindes und des Jugendlichen in i h r e n Dienst einspannte und dadurch die Gemeinschaftskräfte bereits im Kinde vernichtete oder doch verkümmerte oder weil diese selbe Welt diesen jugendlichen, ihr zulebenden und in sie hineinstrebenden Menschen keinen Ort anwies oder ihnen zu suchen gestattete, an dem sie nach i h r e r Art werden und sich im Dienst und zum Segen der Gemeinschaft, und damit dann unweigerlich stets auch der Gesellschaft, entfalten konnten. Alle Erzieher und Pädagogen sollten daher jedesmal, wenn sie ein solches Widerstreben im Zögling wahrnehmen, z u e r s t immer dem nachgehen, was daran Wahrung b e r e c h t i g t e r Interessen ist, d. h. Wahrung der in diesem Menschenkinde angelegten Eigenart, und von dieser Betrachtung aus alle Beurteilungen anstellen. Dann wird der Erzieher jedes Menschenkind in seinem Lebenskampfe um Entfaltung seiner Eigenart und um Entwicklung zu einer geistigen Persönlichkeit zwischen den beiden großen Mächten stehen sehen, zwischen denen zu stehen eben Menschenschicksal ist. Er wird sehen, daß es einmal gilt, sich mit den physischen und seelischen Kräften, die jedem mitgegeben sind, innerhalb der Reiche der Lebensnot den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen persönliches Leben geformt werden kann, um sich sodann mit den Geistesmächten, mit denen allein der Mensch wahrhaft leben und zu einem persönlichen Sein gelangen kann, auseinanderzusetzen. Für die Praxis fordern wir, daß alle Führung von einer glaubensvoll vertrauenden Einstellung zu dem zu führenden Menschenkinde getragen werde, und sodann einen offenen Blick für eines jeden Kindes Eigenart und deren Kampf um Selbstdarstellung. Andeutend gesprochen, für den Erzieher treten immer mehr in den Mittelpunkt die charakterologischen Studien und Beobachtungen an den Kindern an Stelle oder doch als unentbehrliche Ergänzung der psychologischen i. e. S. Zugleich wird es klar sein, daß die erzieherische Haltung, welche ein ErP e t e r s e n , Erziehungswiss;nsctaafr.

II.



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wachsener aufzubringen vermag, niemals, selbst bei redlichsten Bemühungen, derart sein kann, daß sie für a l l e Kinder erzieherisch ist. Immer wird es darum für eine Schulpraxis von Vorteil sein, wenn sie schon organisatorisch Möglichkeiten offenhält, Kindern unter mehreren Erwachsenen eine gewisse Wahl zu lassen, oder eben verschiedene erwachsene Menschen in der Schule mit dem Kinde zusammenzuführen. Wir stehen hier aber vor Grenzen, die schwer zu überwinden sind. Wir können nicht auf dem Lande die einklassige Schule mit einem Schlage beseitigen, um nur ein Beispiel zu nennen. Soll die erzieherische Haltung anspruchslos sein, nur da sein, so verbindet sich nun aber mit der F ü h r u n g irgendwie unvermeidlich der Anspruch, dem anderen nicht nur etwas zu sein, sondern ihm etwas vorzuschreiben, ihn zu leiten und zu bestimmen. Wir sahen, woher dieser Anspruch seinen Rechtsgrund ableitet, nämlich aus der Einsicht, daß der eine des andern bedarf zum Leben wie zu seiner geistigen Vollendung, und daß Menschen, die sich, ergriffen von dieser Einsicht, in den Dienst des anderen stellen, sich aus einem inneren Getriebensein und Nichtanderskönnen unter die Idee der B r u d e r s c h a f t stellen müssen. Dieser Anspruch verliert sofort jeden Rechtsgrund, wenn der Betreffende der steten P f l i c h t gegen sich s e l b s t nicht folgt, sich selber, sichtbar in seiner ganzen Haltung, zu einem würdigen Verkünder von Kräften des Lebens und des Geistes zu machen. Das bleibt für alle Pädagogie der einzige Untergrund, auf dem sie zum S e g e n für andere werden kann; denn das ist in aller Führung d i e j e n i g e H a l t u n g , die k e i n e s anderen M e n s c h e n F r e i h e i t b r i c h t , wenn sie auch mit Recht für einen anderen zur Begrenzung werden kann, vielleicht sogar werden muß, innerhalb welcher sich dieser andere in Freiheit vollenden kann, sobald er nämlich die durch den Erzieher gesetzte Begrenzung als eine werthafte, für sein werterfülltes Leben gute und rechte Grenze empfindet, schließlich anerkennt und nun von sich aus sich setzt, sie innerlich bejaht. Wo diese Haltung des führenden Menschen demnach unsere Forderung nach Vereinigung von Ursprünglichkeit und Person-



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lichkeit erfüllt, dort eignet ihr nun das, was auf allen Gebieten des Lebens den Führer kennzeichnet, nämlich eine eigentümlich« S c h a u - u n d L e u c h t k r a f t , eine Fähigkeit, die Verhältnisse eigentümlich zu erkennen und zu beleuchten. Er überschaut sie anders, und zwar so, daß er dazu befähigt wird, andere zu beraten, ihnen Weisungen zur Beurteilung, zur Erarbeitung, zur Beherrschung von Menschen, Verhältnissen, Sachverhalten zu geben. Dies aber vermag er, weil er aus einem G a n z e n heraus diese Verhältnisse umspannt und die gegebenen Teile in ein Ganzes hineinzuschauen vermag. Das gilt aller Orten, wo wir einen Menschen führen sehen, ob es das seine Geschwister in den Spielen der Kinderstube führende Kind ist, ob es der achtjährige Junge einer Grundschulklasse ist, oder der Maurermeister, der zum Erstaunen seiner Lehrlinge imstande ist, eine Mauer in kurzer Zeit frei so gerade aufzuführen, als wenn er mit der Wasserwaage gearbeitet hätte, oder ob es der Bildschnitzer ist, der das Messer mit erstaunlicher Sicherheit an dem Holzklotz herumführt, aus dem für ihn die Statue gleichsam hindurchleuchtet, die er nun mit dem Messer von den Fesseln befreien muß usw. Jeder, der irgendwie und irgendwo führt, hat für diese Seite jene Schaukraft und Leuchtkraft. Bei der Führung von Menschenkindern ist diese Schaukraft noch aus folgender Besinnung heraus ganz besonders nötig: Der Mensch ist mehr als nur Einheit, er ist organische Totalität. In ihm wirkt sich auf jeden Fall nicht nur ein Naturgesetz aus, sondern zugleich — und das ist das Entscheidende — ein S i n n als das, was mit dem individuellen Geistigen verwirklicht werden soll. Das Gesetz als die allgemeine Regel für einen Zusammenhang von Tatsachen oder Abläufen kann, ich errechnen und in einen Begriff fassen; es ist ein logisches Äbstraktum. Den Sinn, als den Kern einer Ganzheit, kann ich stets nur e r s c h a u e n , und zwar dann, wenn ich es vermag, in das betreffende Individuum derart hineinzuschauen, daß ich die Tendenz, die R i c h t u n g aufgreife, mich in sie hineinfühle, in der sich der Sinn dieses Individuums verwirklicht. Denn dafür gibt es in jedem Menschen K r ä f t e einer o r g a n i s c h e n S e l b s t e u e r u n g . Damit setzt sich eine organische Ganzheit den von außen kommenden Eingriffen 11*



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als Ganzheit immer entgegen, um alles von außen Kommende ihrem Sinn einzuordnen. Um also ein Menschenkind recht führen zu können, muß ich imstande sein, die Richtung gebende Idee in ihm, den Plan, den Sinn alles Geschehens, aller Vorgänge in dieser individuellen Erscheinung erschauen zu können. Das ist im Pädagogischen wiederum besonders schwierig, da wir es hier mit dem sich entwickelnden Menschen, mit der „werdenden Persönlichkeit" zu tun haben. Deswegen wird es hier einer besonderen Hilfswissenschaft bedürfen, die wir die „ p ä d a g o g i s c h e C h a r a k t e r o l o g i e " genannt haben 1 ). Nun handelt es sich in diesem Zusammenhange um „Führung" im p ä d a g o g i s c h e n Sinne, und daher gilt es, den Führertyp, dem dieser Erzieher zugehört, noch näher zu begrenzen. Er gehört, kurz gesagt, zu jenem Typ der Führer, „die des Volkes bedürfen". Er will nicht durch eine Werkleistung führen, die er hinstellte, und nun warten, ob diese anerkannt wird, so wie Künstler, Fachwissenschaftler, Ingenieure usf. Sie alle können warten, bedürfen freilich zuletzt auch menschlich des anderen; denn es ist über Menschenkraft, zu ertragen, mit seinem Werk, woanders es ein Werk des Blutes war, vereinsamt zu bleiben. Dennoch kann der Wissenschaftler, der Techniker so leben und so arbeiten und sich mit stolzer Ruhe wappnen, glaubend an den Erfolg, und sei es ein Erfolg nach dem Tode, der Erzieher nicht. Er will ja den anderen, den Bruder im jugendlichen Mitmenschen aus der Einsicht heraus, daß sie einander zur Vergeistigung brauchen. Und aus dieser Einsicht gewann er sich eine sein Leben bestimmende V e r p f l i c h t u n g zum D i e n s t und fühlte sich im tiefsten Wesen verantwortlich für den Bruder. So treibt ihn das reinste menschliche -Verantwortungsgefühl, er kann nicht Vgl. m. Schrift „Die Grundfragen der Pädagogischen Charakterologie", 1928, und R o b e r t R e i g b e r t s Beitrag „Graphologie und Physiognomik im Dienst der Erfassung der werdenden Persönlichkeit" im II. Teile der Schrift „Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung", Weimar, 1930, S. 91 ff., und von demselben Verfasser „Äusdruckspsgchologie und Praktische Pädagogik", 1929, sowie „Die Physiognomik im Dienste der Praktischen Pädagogik" in den „Mitteilungen der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt Jena" V., 1929, S. Iff.



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ruhen und die Last der Verantwortung sich nicht erleichtern. Ihn unterscheidet aber von einer großen Gruppe von Führern, die auch des Volkes bedürfen, etwa vom Politiker dies: Er bedarf des Volkes nicht um seiner selbst oder einer Partei willen im Sinne irgend eines Egoismus, sondern soweit er es um seines Selbst willen braucht — weil er ja in diesem Dienst am andern sein Wesen erfüllt sieht — bedarf er seiner als ein Gebender, Schenkender, sich selbst Verschenkender, der jedoch den g e i s t i g e n Widerhall im andern vernehmen muB, sonst würde er vereinsamen. Der rechte Erzieher stellt seine Kraft dem Mitmenschen im höheren Grade zur Verfügung, als es die Regel ist. All sein Sein und sein Können, sein ganzes Leben soll der Entwickelung der Kinder und der Jugendlichen seines Volkes dienen. Dazu will er da sein, dazu fühlt er sich berufen, und aus diesem Berufsgefühl heraus strömt seine Kraft zur Hingabe, nährt sich sein Wille und hält sich seine Tatkraft rege. Und rege muß er bleiben; er kann es aber nur, wenn er Widerhall findet. Der Pädagoge bedarf des geistigen Widerhalls im anderen. Er muß gleichzeitig selber weiterwachsen, und das führt zu zwei wichtigen Betrachtungen. Menschen, die sich um i d i o t i s c h e Kinder mühen müssen, werden sich trotz all ihrer Hingabe, trotz aller Liebe, trotz allem Aufwand von Kräften allzu leicht geistig und menschlich zerstören, ihren eigenen Geist verengen und verkümmern. Ich halte es für verkehrt, Menschen länger als höchstens 5—6 Jahre mit idiotischen Kindern zusammenleben zu lassen. Dann müßten sie ausgetauscht werden, weil ihre Arbeit über Menschenkraft hinausliegt. Das gilt in gleicher Weise von vielen Psychiatern, Irrenärzten, Krankenschwestern, überhaupt für alle, die mit Menschen zu arbeiten haben, bei denen der geistige Widerhall ermattete, verstummt ist oder nahezu ganz aussetzt. Dagegen, wo noch in einem Menschenkinde auch nur ein kleinster geistiger Funke vorhanden ist, dort entwickelt sich im langen Kampf des echten Erziehers um die Belebung dieses Funkens oft die schönste und edelste Erzieherpersönlichkeit, der beste Erziehungsgeist. Und es ist gar nicht verwunderlich und kein Zufall, daß so viele wichtige Erziehungsreformen gerade von solchen



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Männern und Frauen ausgehen, die mit anormalen Kindern gearbeitet haben. Wir verstehen von diesen Gedankengängen aus ferner das den Lehrer in geistiger und menschlicher Hinsicht Herabsetzende des einseitigen, gebundenen K l a s s e n u n t e r r i c h t e s der älteren Lernschule, weil hier die geistige Wechselwirkung auf ein Mindestmaß herabgedrückt ist. Wo der Lehrer immer gibt und nur das Echo seiner Worte braucht, um seine Pflicht zu erfüllen; dort, wo man die wenig abgewandelten Pensen Jahr für Jahr nach demselben Lehrplan erledigt, da mag der Schüler manches lernen, er mag dank der methodischen Routine des Lehrers sehr viel lernen, aber von Führung im vollen Sinne kann keine Rede sein, auch nicht von wirklicher Begeisterung. Lehrer, die uns begeistert haben, sprengten irgendwie diese Fesseln des gebundenen Klassenunterrichtes. Denn nur wo Wille und Kraft zur Führung von dem Grunde jener rechten erzieherischen Haltung aufsteigen, dort entdecken wir an dem Führer auch das, was alle wahren Führer charakterisiert: daß sie O p t i m i s t e n sind und daher zu begeistern verstehen. Ein Pessimist kann nicht Führer sein, weil er herabdrückt. weil er Minderwertigkeitsgefühle, die ihn selbst beherrschen, auf andere überstrahlen läßt. Der wahre Führer ist immer Optimist, und er kann es sein, weil er sich im Ganzen ruhen und von ihm getragen weiß. Darum beruht nun auch das, was andere in einem solchen Menschen den Führer sehen läßt, zum allermindesten darauf, daß sie mit ihm durch gemeinsam gewonnene Erkenntnisse und Einsichten verbunden sind. Sie fühlen vielmehr aus seinen Worten und mehr noch aus seinen Handlungen heraus seine Verbundenheit mit dem Seinsgrunde, sein Wurzeln in der Wirklichkeit, und ohne daß sie es sich klar machen können in Wort und Satz, ja auch ohne das Bedürfnis nach einem s o l c h e n Verständnis, haben sie unerschütterliches Vertrauen zu diesem Menschen. So ist sicher ein R u d o l f S t e i n e r , um ein Beispiel zu nennen, Führer für Tausende von Menschen, die das, was er geschrieben und gelehrt hat, niemals verstanden haben noch verstehen können. Es hängt auch mit dieser Gefühlsverbundenheit zwischen Führer und Geführten zu-



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sammen, daß bei Abkehr vom Führer Haß und Abscheu sich als verdrängte Liebes- und Zuneigungsgefühle, als „Enttäuschung" besonders stark entladen. Alles, was zuletzt über den Führer ausgesagt ward, gilt für jeden, der einen Anspruch auf Pädagogie geltend macht, demnach auch für die E l t e r n . Allein bei den Eltern wirkt stets noch eine andere Kraft, und zwar eine erzieherische oder gegenerzieherische mit, die der Nur-Pädagoge nicht besitzen kann und für fremde Kinder auch darum nicht hat, weil er vielleicht selber Vater oder Mutter ist oder, unverheiratet, väterliche oder mütterliche Neigungsgefühle besitzen soll. Die pädagogische Liebe unterscheidet sich von der elterlichen, weil in der elterlichen Liebe unvermeidlich Triebgefühle, rein im Blute wurzelnde, auf das eigene Kind mit eigentümlicher, für keinen andern so aufzubringender Zuneigung bezogene Gefühle vorhanden sind, die kein Dritter dem Kinde gegenüber aufbringen kann. — Um von der pädagogischen Aufgabe, der „Führung" i.e.S., der Pädagogie, ein rechtes Bild zu gewinnen, müssen wir uns jenen anderen charakterisieren, dem diese Führung dienen soll, also das Kind, den Jugendlichen, den Schüler i. e. S. Sie sind bereits aus äußerlichen Gründen ihres Lebensalters innerhalb der Gesellschaft, in der sie aufwachsen, u n f e r t i g aus sich s e l b s t , noch nicht reife Menschen, körperlich, seelisch, geistig unausgereift, auf dem Wege zum Menschen. Und wegen dieser Unreife ist das Kind innerhalb der Gesellschaft hilfsbedürftig. Es hängt allerdings von der kulturellen Struktur der Gesellschaft ab, innerhalb deren es reifen muß, in welchem Maße es hilfsbedürftig ist. In allen Weltteilen aber sind die Menschenkinder beim Eintritt in das Leben länger hilflos und der Hilfe bedürftig, als andere junge Lebewesen. Wann hört diese natürliche Hilflosigkeit eines Menschenkindes auf, d. h. wann könnte der Mensch genau wie ein Tier junges soweit sein, daß er sich neben den Erwachsenen leidlich durchschlagen könnte? Das Tier junge bedarf alsdann keiner weiteren äußeren Pflege und Unterstützung durch die Eltern, wenn es körperlich und in der Entwicklung der Sinne soweit ist, daß es sich selbst



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Nahrung suchen und die Nahrung so, wie es sie vorfindet, auch verdauen kann. Dann geht es ohne Hilfe allein auf Nahrungssuche aus. Dabei nimmt es natürlich weiterhin körperlidh zu und verändert sich. Untersucht man, wann Menschenkinder sich durchschlagen können, wenn sie sich wie solche Tierjunge durchschlagen müssen, so besonders in den Großstädten aller Welt, sei es in Berlin oder Newyork, Kanton oder Moskau, alle Großstädte sind sich in dieser Beziehung gleich, dann muß festgestellt werden, daß sich die Menschenkinder viel früher, als manche vermuten möchten, allein helfen können. Vom 3. bis 4. Lebensjahre an, manchmal sogar noch früher, sind sie durchaus imstande, sich in solchen Großstädten selbständig durchzusetzen, mit anderen Worten: dann, wenn die wichtigste körperliche und seelische Entwicklung des normalen Menschenkindes beendet ist und es alles essen, vor allen Dingen auch sprechen kann. Wo Menschenkinder ähnlich wie Tier junge aufleben müssen, haben sie damit dieselben Voraussetzungen, um sich wie Tier junge durchzuschlagen. Daß wir es in solchen Fällea mit einer kulturellen Rückentwicklung zu tun haben, ist klar. Denn in sog. „primitiven Kulturen", die nicht von der europäischen zersetzt sind, gibt es eine sorgsame Führung bis zur Pubertät, abschließend mit mannigfachen Weihen zur Aufnahme in den Stamm. Von unseren europäischen Verhältnissen, im besonderen den deutschen Verhältnissen aus ist jedes Menschenkind so lange hilfsbedürftig, bis es imstande ist, aus sich selbst teilzunehmen an dieser Kultur, d. h. teilzunehmen aus sich selbst an dem, was von ihm als Glied der G e s e l l s c h a f t verlangt wird, und an dem, was es als Glied der g e i s t i g e n G e m e i n s c h a f t , des geistigen Wirkungszusammenhanges seines Volkes, und dadurch als Glied der Menschheit, an seinem Teile leisten soll und kann. Und offenbar unterschätzen wir keine von beiden Seiten, entscheidend ist aber die Einführung in die geistige Gemeinschaft des Volkes, einmal weil für uns alles Gesellschaftliche in der Gemeinschaft wurzelt und sodann weil sich nur in ihr des Menschen Wesen erfüllt. Schüler ist also der j u n g e Mensch, der auf dem W e g e zum Menschen ist, und das bedeutet wiederum: auf dem

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W e g e zur s e l b s t ä n d i g e n T e i l n a h m e an der g e i s t i g e n G e m e i n s c h a f t , zu dem w a s den Menschen als Menschen c h a r a k t e r i s i e r t und ihn in seine nur ihm e i g n e n d e S p h ä r e e r h e b t . Zum Hineinleben in diese Sphäre bedarf das junge Menschenkind in unserer Kultur besonderer Führung bis zur vollen Reife, körperlich und seelisch. Das brauchen die Menschenkinder in Wahrheit in allen Kulturen, mindestens bis in die Mitte des zweiten Lebensjahrzehntes. Und daß bereits die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der europäischen Völker die Notwendigkeit einer solchen Führung bis zum 18., mindestens bis zum 16. Lebensjahre anerkennen, macht die Berufsschulbewegung in allen europäischen Ländern jedem Menschen heute klar. Es ist nur bedauerlich, daß die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Führung in den maßgebenden und gesetzgebenden Kreisen der verschiedenen Staaten oft so außerordentlich gering ist. Es bildet recht eigentlich die Aufgabe und den tiefsten Sinn aller Schulen, in unserer Kultur zu helfen, daß die Menschenkinder voll und ganz fertig werden aus sich selbst. Deswegen ist jede wahre Schule eine Hilfsschule, eine Hilfsveranstaltung für das aufwachsende Geschlecht, das sidi hier sammeln soll um einen Kreis vorbedachter Helfer, um Menschen, die für diesen Hilfsdienst das rechte schauende Vermögen besitzen, Menschen, die in diesen Schulheimen ein der Entfaltung kindlicher und jugendlicher Kräfte angepaßtes System von Hilfen anlegen, dem heranreifenden Menschenkinde zur Autonomie, zur Freiheit, zu seinem Menschentum zu verhelfen. § 11.

Der Stoff. Alle Pädagogie steht vermittelnd zwischen dem jungen Menschen und der Stoffwelt, zwischen dem Kraftzentrum, das der Mensch darstellt, und dem Gegenständlichen, der Objektwelt, an der jene Kraft sich betätigen, sich den Lebens- und Arbeitsraum abstecken und sich als geistige Kraft offenbaren soll. Und es gibt auch Pädagogie dort, wo es noch nicht nötig



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geworden ist, für dieses Geschäft besondere Einrichtungen in Form von Schulen einzurichten. In allen einfacheren kulturellen Verhältnissen, seien es ländliche inmitten höherer Zivilisationsformen oder sog. primitiv«, vollzieht sich diese Führung stärker in Formen sozialer Assimilation. So steht die Jugend eines primitiven Volkes vom ersten Lebensjahre an mitten im vollen Leben ihres Stammes. Das Kind begleitet etwa die Mutter regelmäßig im Tragkorb zur Feldarbeit, zum Wasserholen, um schon mit seiner ersten frei gewordenen Körperkraft ein wenig mitzuwerken an der Seite der Mutter, des Vaters, des Onkels, eines Nachbars. Durch unmittelbare tägliche Anschauung und Mitübung, alles stark gefühlsmäßig betont, setzt es sich mit der gesamten Objektwelt der Umgebung nach und nach auseinander. Es sieht die Älteren mit den Gegenständen schaffen, hört sie von ihnen benennen, beschreiben, bewerten und nach ihrer Bedeutung für den Menschen erklären, und es beginnt mit erster sich regender Kraft, sich selber mit diesen Gegenständen auseinanderzusetzen. Und diese Auseinandersetzung erfolgt mithin unter den beiden günstigsten Bedingungen, die es überhaupt dafür geben kann: einmal in echt lebensvollen Vorgängen und lebenserfüllten Bezugssystemen — und allem Lebendigen und Lebenserfüllten gegenüber besteht beim Menschen unmittelbare Einfühlung — sodann im Verein mit t ä t i g e n Erwachsenen. So verdichten sich die Erlebnisse dieser Jugend zu Erfahrungen, zu Kenntnissen und Fertigkeiten, und damit gelangt sie zu einer Beherrschung des Gegenständlichen ihrer Welt inmitten eines tätigen gesellschaftlichen Verbandes, dem auch sie als tätiger, fest eingeordneter, gar mit bestimmten Rechten und nach altüberlieferten, hoch gehaltenen Formen eingefügter Volksteil angehört. Weil sie aber einen festen Platz in der Gesellschaft ihres Stammes hat, darum hat sie auch in jedermann, der mit dieser Jugend zu tun hat — und wer hätte es in diesen Verhältnissen nicht? — Helfer und Berater, Vorbild und Führer. Es hängt damit auch zusammen, daß uns immer wieder berichtet wird, wie das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern in allen diesen Kulturen ein viel herzlicheres und natürlicheres sei als in der



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Zivilisation, selbst dort, wo sich noch Kindestötung und -aus~ Setzung aus wirtschaftlicher Not oder aus religiösen Beweggründen finden. Wer aber darüber moralisieren will, der möge bedenken, daß die sogenannten höheren Zivilisationen ein Kinderelend kennen und zulassen, dem gegenüber jene „Barbarei" geringfügig erscheinen muß, sobald man nur den Dünkel des fortgeschrittenen Europäers abgelegt hat und nichts anderes als menschlich denken und urteilen und vergleichen will. Für den Teil der Jugend, den ein Stamm heranwachsen lassen kann, steht dort jedermann auch mit ein. Jeder hat ein Interesse daran, daß sich aus den Jugendlichen vollwertige, brauchbare Glieder des Stammes entwickeln, und das kann nur der Fall sein, wenn sie befähigt sind, im Kampfe gegen die Widerstände mitzuhelfen, welche diesem Stamme aus der Natur, aus der politischen Gesellschaft und den sich hier widerstrebenden Einzelwillen erstehen. Also ist nötig: vollständige Kenntnis der Landschaft mit ihren Pflanzen und Tiegen undMenschen, der Sitten undBräuche und all derjenigen Formen undFormeln, mit ihnen fertig zu werden, welche bislang dort entwickelt sind, d. h. die Summe dieser Kenntnisse und Fertigkeiten samt dem w e l t a n s c h a u l i c h e n Verständnis der Umwelt und des Lebensganzen dieses Volkes. Dieses Weltanschauliche ist selber wiederum stark an Konkretes gebunden in Symbolen, Fetisch, Tabu-Tieren, Götzenbildern, Götzentempeln, Kultplätzen, also wird auch dies zu einer Auseinandersetzung mit Gegenständlichem. Denn besitzt dieses Tier den und den Wert als Jagdtier, so jenes als heiliges Tier; jener Stock als Speerstange, so dieser als Träger Fieber heilender Kräfte usf. In ganz geringem Maße ist die abstrakte Welt vom Konkreten losgelöst, an dem sie gesehen, betastet werden kann. Selbst das Wort wird so gut wie ausschließlich erlebt als das gehörte Wort, begleitet von seiner ganzen Mimik und seiner Klangfarbe im Munde dieses Redenden 1 ). Es hat sich noch nicht, ebensowenig wie die Ideen, von dem Konkreten frei gemacht und sich als Schrift- oder Druckwort ein eigenes Reich geschaffen, in dem

Μ Vgl. Leo Frobenius, Erlebte Erdteile IV. 1925. S. 72ff.; Th. W. Danzel, Kultur und Religion des primitiven Menschen, 1924. S. 19ff.



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es in den Buchstaben und auf den Papierflächen schlummert und der besonderen Kunst neuer Erweckung bedarf. Diese Bindung an das Gegenständliche gilt jedoch für jede Kulturlage. Wir können auch unsre Kräfte nur so aufzeigen, daß wir sie an einem Gegenständlichen auslassen. Was wir an körperlicher wie an intellektueller Kraft besitzen und desgleichen an sittlich-religiösen und geistigen Kräften, alles muß in Handlungen nach außen gesetzt werden, es muß an Gegenständlichem in Erscheinung treten (und nie zu vergessen, zu diesem Gegenständlichen gehören auch wir selber in unsrer ganzen Erscheinung), genau so wie es nur daran in sich selber erkraften konnte. Eine Ausnahme scheint nur die Denkkraft des Menschen zu machen dann, wenn wir sie zur mündlichen Darstellung von Gedachtem benutzen oder in einem Wortkampfe Denken gegen Denken aufbieten. Allein jeder kennt den Drang des Menschen, mindestens in Stichworten das mündlich Gebotene festzuhalten, oder er weiß, wie es unmöglich ist, ohne besondere Übung in diesem Verhalten zu folgen, und daß es einer gut durchgearbeiteten Denkmaschine und zudem jedesmal eines aufnahmefähigen frischen Körperzustandes bedarf. Sonst kann man weder die im Muskel schlummernde Kraft noch die in einer Hirnpartie gebundene noch die Güte seines Herzens rein als solche vorzeigen, so wenig wie die elektrische Kraft im Element. Sie alle verhalten sich wie die unsichtbare, im Draht ruhende elektrische Kraft; erst wenn e t w a s an sie rührt oder sie an etwas rühren und dann richtig verbunden, eingeschaltet ist, da zuckt die Kraft auf, wird sichtbar, meßbar und zu bewerten. Es kann darum nun auch kein Mensch zu etwas f ü h r e n , an dem er nicht selber seine Kraft erprobt und ausgebildet hat, es sei buchbindern oder griechisch, säen oder töpfern, Schauspiele genießen oder kochen, alles ist gleich. Wer nicht sich mit dem Gegenstande gemessen hat und die Distanz s e i n e r individuellen Kräfte zu ihm erlebt und festgestellt hat, der kann dem andern dabei nichts helfen. Die Notwendigkeit der b e r u f l i c h e n Ausbildung zum Lehren und zum Führen tritt demnadi sofort dann auf, wenn sich in einer Zivilisation Gegenständliches anhäuft, um des Lebens dieser Kultur willen, das nicht jeder-

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manns Sache, d. h. nicht Alltagssache ist. Der Lehrer und Führer von Beruf, also der für das Lehren bestimmter Stoffe besonders ausgebildete Volksgenosse, wird mithin unbedingt notwendig, sobald eine bestimmte Differenzierung der Kultur erreicht ist. Es ist wiederholt ausgeführt worden, daß damit kein „Fortschritt" bezeichnet wird, sondern lediglich eine Wandlung, denn es wird in China oder Rußland dadurch nichts sittlich besser, daß man Schulen einrichtet, sondern damit erfolgt nur eine bessere Anpassung an den wirtschaftlichen und sozialen Weltstandard. Ist diese Stufe gegeben, so wird die Pädagogie zu einer lehrbaren Kunst, als die lehrbare Kunst der Führung der J u gend: a) zur Beherrschung der Objektwelt, und zwar in der Schulpädagogie immer in einer besonderen Auslese dieser Objektwelt und in einer besonderen Art der Behandlung dieser Objekte, und b) um sich darzustellen und sich auszudrücken im Gegenständlichen, sich zu erkennen in Kraft und Beschränkung am Gegenständlichen. Das besagt, daß die S t o f f p r o b l e m e im M i t t e l p u n k t a l l e r P ä d a g o g i e s t e h e n m ü s s e n und e w i g s t e h e n w e r d e n . Darum müssen auch bei allen Schulreformen die Stoffragen neu behandelt werden. Die pädagogische Urhaltung dem Gegenständlichen gegenüber ist das S e l b e r - V o r m a c h e n des Führers. In der Schulpädagogie ist dieses Vormachen nur systematisiert, methodisch geworden. Da schreibt der Lehrer die Buchstaben vor, spricht vor, sagt vor, singt vor usw., und die Kinder machen es ebenso; so löst das Tun des einen das Tun des andern aus, dadurch daß der, welcher es kann, aufzeigt, wie menschliche Kraft, diese bestimmte körperliche oder seelische, Gegenständliches beherrscht, dazu ansetzt und es meistert. Daran schließen sich dann die Formen der Anweisung, Anleitung, Belehrung, Handgriffe zeigen, erläutern, nachmachen lassen. Auch beim Arbeiten mit dem Entfaltungsmaterial der M a r i a M o n t e s s o r i steht es keineswegs anders. Auch hier zeigt die Lehrerin den Gebrauch, ja hält darauf, daß nur ein bestimmter Gebrauch davon gemacht werde. W a s heute u. v. a. anzustreben wäre, das ist ein Kanon der



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wichtigsten und der unumgänglich heute nötigen Techniken und Handgriffe, die so ökonomisch wie nur möglich, was den Äugenblick des Erlernens wie die Kraft und Zeit angeht, zu übermitteln wären, also mit dem geringsten Aufwand an Zeit und Kraft und doch mit dem bestmöglichen Nutzen und Erfolg, gerade auch in den Schulen. Dazu rechnet alles das, was der aufwachsende Mensch braucht zur Beherrschung und an Kenntnis von Gegenständlichem, um seine körperliche und intellektuelle Kraft auszulösen zum Erwerb dieser nützlichen und notwendigen Dinge, nützlich und notwendig für ihn als Individuum wie als Glied der Gesellschaft. Also ein Kanon des Elementaren im Leistungs- oder Herrschaftswissen. Ein Schulwesen kann auch innerhalb einer Kultur so stehen, daß es alles Gewicht auf den Erwerb dieser Dinge legt, wie es die überlieferten Volksschulen sicher taten, zum Teil noch tun. Das, was man geistige Güter nennt, gehört dann zum Ranken- und Schmuckwerk solcher Schule, seine besondere Pflege wird der Familie, den verschiedensten Einrichtungen der öffentlichkeit für die Übermittlung von Geistigem und der eigenen Initiative der Schüler überlassen, für deren erfolgreichen Einsatz die Schule ihnen dann eben nur die elementare Ausrüstung lieferte. Schulen brauchen durchaus nicht Turnplätze des Geistes zu sein, eine Inanspruchnahme der Intelligenz genügt vollauf. Auch kann nicht oft genug betont werden, daß die Zahl der Schulen keinen sichern Schluß auf die Geistigkeit eines Volkes, und damit also nicht auf die Höhe seiner Gesinnung zuläßt. Es sind demnach Schulen denkbar, die nur dazu da sind, die individuellen körperlichen und intellektuellen Kräfte zum Höchstmaß des ihnen erreichbaren Könnens zu führen, ja die körperliche Schulung könnte durchaus auch durch andere Einrichtungen neben der Schule, etwa durch private Organisationen, die sich Kinderund Jugendlichengruppen anschließen, übernommen und ausgeführt werden. Die Schulen eines Volkes trügen dann allesamt den Charakter, den unter uns die Fachschulen tragen: Haushaltungsschulen, Werkschulen, Musikschulen usw. Die Schüler solcher Fachschulen erwarten von diesen Schulen keinerlei Pflege und Förderung ihres geistigen Lebens, höchstens als

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Rankenwerk und gelegentlich. Ebenso stand und steht wohl noch die Volksschule inmitten einer dörflichen Gemeinschaft mit starkem Gemeinschaftsleben, mit noch nicht oder nur wenig zersetzter bodenständiger Sitte und Weltanschauung 1 ). Der Lehrer auf dem Lande trete, vor allem wenn er landfremd ist, nicht sofort reformierend auf, eher stelle er sich schlicht bejahend in das Leben hinein, das er vorfindet. Ist er ein recht ausgebildeter Erzieher, so versteht er zu erkennen, was hier an echter und guter Sitte und Gesinnung vorhanden ist, wo mithin seine besondere Teilnahme und pflegerische Mitwirkung zu beginnen hat. Dann suche er, sobald er seine Dorfgemeinde, ihre Menschen und ihr Tagewerk, ihre Sorgen und Freuden kennen gelernt hat, irgendwie eine Stelle zur ersten Mitarbeit innerhalb des dörflichen Alltages und seiner Feierzeiten, um sich mit der ihm eignenden Kraft und Begabung in seiner ganzen Menschlichkeit dem Leben eben dieser Gemeinde einzuordnen. Schlimm, wenn er auf die nächste bessere Stelle schielt! Jedem sei ernstlich geraten, immer dort, wo man steht, so zu arbeiten, als wenn man gerade dort sein Lebenswerk beschließen müsse und nie wieder fortkäme. Das gilt für jeden, wo er auch stehe; hat doch niemand von uns die Schere in der Hand, sondern allein die Norne. Der Landlehrer, der so denkt und handelt, wird dann herausfinden, was er von sich aus tun kann, um der Dorfjugend zu einem angesehenen Platze im Gemeinschaftsleben der Dorfbewohner zu verhelfen. Alles pädagogische Tun in einer Landschule kann ja ganz anders mit dem praktischen Leben des Dorfes verschmelzen und darauf bezogen werden als in einer Stadt, wo die Beherrschung und die Ubersicht des Gesamtlebens der Ortschaft schwieriger ist. Darum können auch die Stoffwelt und die Arbeitswelt dieser Schulstuben leichter in die lebendigste Gegenwart eingefügt werden. Nun ist unsre Kultur überaus reich an solchen Stoffen, mit denen ein Geistiges und Weltanschauliches verknüpft war. Wir brauchen nur unsre Lage mit derjenigen einer Kultur zu vergleichen, die keine oder nur eine geringe schriftliche Über') Vgl. Johannes Dietz, Das Dorf als Erziehungsgemeinschaft 1927, und ders. „Volksbildung auf dem Lande" in der „Erziehung", 1930.



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lieferung besitzt. Was in solchen Kulturen bedeutende Menschen in ihrem Leben, ihrer Gesinnung und ihren Werken ausdrückten und für ihre Mitmenschen bedeuteten, ist mit ihrem Tode, endgültig mit dem Tode des Letzten, der noch von ihnen wußte, unwiederbringlich dahin, genau so wie in der Regel ihr Körper und der Gräberschmuck. Wir müssen uns unbedingt frei machen von dem Wahnglauben, als ob es vor Walther von der Vogelweide keinen Sänger und Dichter gleicher oder ähnlicher Art gegeben habe, als wären nicht in allen Jahrtausenden vor Laotse und Heraklit, vor Homer und Catull gleich große Denker, Dichter, Künstler und Sänger gewesen, nur daß wir, bis jetzt wenigstens, keine schriftlichen Aufzeichnungen darüber oder andere Zeugnisse besitzen. In unseren Tagen, und schon seit ein paar tausend Jahren, besteht die Möglichkeit, die besondere Geistigkeit längst verschiedener Menschen und deren Anschauungen von Welt, Mensch und Leben in Teilen wenigstens wieder lebendig zu machen. Darum steht unter uns, zum Dienst bereit auch für unser geistiges Wachstum, eine Stoffwelt ganz besonderer Struktur, und die Arbeit an ihr und die Auseinandersetzung mit ihr machen ein ganz besonderes Verhalten nötig. Das Äußerlichste ist offenbar hier das Wissen um diese Stoffwelt. Aber seine Übermittlung ist erforderlich, weil diese Stoffe nicht in gleicher Weise dem Menschen in seinen Tagen offen liegen wie die Landschaft mit Tier, Pflanze und Mitwelt. Am meisten tot steht in einer Landschaft ein Heimatmuseum da mit seinen Sammlungen, selbst wenn es so vollständig wie nur möglich ausgestattet wäre, auch mit allen schriftlichen, musikalischen, plastischen usw. Werken, die von dieser Landschaft ausgingen und von ihr zeugen. Der Intellektuelle und der Berufsgelehrte, die nicht ganz frei sein können von dem, was L a g a r d e den Bildungsschleim seines Jahrhunderts genannt hat, können nicht ernst genug gemahnt werden, nicht aus ihrer Verliebtheit in Bücher oder Kunst, urgeschichtliche Sammlungen usf. und aus ihrem Vermögen, daraus etwas für sie Wertvolles und sie Bereicherndes zu holen, auf ein_> allgemeine Tendenz im Menschen zu schließen. Und im besonderen wird man stets von neuem den Lehrer und Be-



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rufserzieher mahnen müssen, von sich fortzudenken und sich in diejenigen Mitmenschen hineinzudenken, welche nicht ihre Berufsausbildung und damit ihre intellektuellen Interessen und geistigen Neigungen haben und — sie n i e m a l s haben werden noch können, und das sind in jedem Volke die Millionen. Die Behandlung dieser „Stoffe" der geistigen Kultur in Schulen ist heute so überwiegend, daß man sagen darf, nahezu ausschließlich, derart, daß sie dazu dienen, des Lehrer-Interpreten Ansichten davon bzw. die von ihm übernommene, für die Behandlung angeeignete Betrachtung eines andern oder eine Synthese mehrerer anderer dem Kinde und Jugendlichen anzubieten, ja zu „lehren", einzuprägen. Mit zunehmendem Alter und bei starker Wiederholung verwächst wohl ein Lehrer so mit diesen Ansichten, daß er sie als seine eigenen ansieht. Das hängt zum größten Teile damit zusammen, daß alle Schulen übervoll von Stoffen sind, die nur der ausgereifte und besonders begabte Mensch verstehen kann. Aber die überlieferte Meinung ist, daß sie irgendwie für den Aufbau der geistigen Welt dieser Kinder wichtig seien. Das aber könnte nur dann der Fall sein oder werden, wenn die Inhalte mit dem lebendigen Leben organisch verbunden würden, also in echter Kohärenz. Denn „die wirklich organische Verbindung, das Kohärenzverhältnis des subjektiven Geistes mit dem objektiven, wobei dieser mit jenem innerlich verwächst und der objektive Geist zugleich Förderung erfährt, kann nur dort erfolgen, wo das Individuum den Werdegang des objektivierten Geistes in seinen Hauptphasen wiederholt und diesen aus sich selbst erzeugt" 1 ). Wer sich, überzeugt von dieser psychologischen Wahrheit, die sich auch in der pädagogischen Welt auszubreiten beginnt, daran macht, die tagaus tagein in unseren Schulen behandelten Teile objektivierten Geistes daraufhin zu prüfen, in welchem Umfange und in welchem Grade sie von den Schülern wertvoll organisch erfaßt werden können, der wird wohl zu der Überzeugung kommen, daß die Erich Jaensch, Wirklichkeit und Wert in der Philosophie und Kultur der Neuzeit, 1929, S. 226, und das Material in der Hrbeit von Hans Wiedling, s. Erich Jaensch, Grundformen menschlichen Seins, 1929, S. 343 ff. Petersen,

Erziehungswissenschaft.

II.

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verhängnisvolle, mindestens sehr bedenkliche „unorganische Wertbildung", wie sie u. a. in den jüngsten Untersuchungen der Marburger Schule aufgewiesen und geschildert worden ist, die Regel ist. Das bedeutet zugleich, daß die F o r m e n der F ü h r u n g ganz b e s o n d e r s in allem G e i s t i g e n und W e l t a n schaulichen von G r u n d auf neu g e s t a l t e t w e r d e n müssen. § 12.

Die Grundformen der Führung (Pädagogie). Alle Formen der Führung sind Hilfen für ein Menschenkind in seiner Auseinandersetzung mit dem Gegenständlichen innerhalb derjenigen Kulturepoche, in welcher er aufwächst, sich entfaltet und persönlich geformtes Leben darstellen soll. Zu diesem Gegenständlichen gehört auch der Mensch selber, insofern er sich selber gegenübertritt und nur so sich bearbeiten, bilden und erziehen kann. Für die Zwecke einer analysierenden Betrachtung der Führungsformen wäre mit dem Bereich des Vitalen zu beginnen, mit dem, was wir die Seite der „Ursprünglichkeit" genannt haben. In der Wirklichkeit eines individuellen Lebens ist alles innigst verbunden, und es kann jede Analyse nur einen Wert haben, wenn sie zu Beginn dringlichst dazu auffordert, bei allem an diesen Bezug aufs Qanze und an die unendliche Variationsfähigkeit menschlichen Seins und Schaffens zu denken. Andererseits muß alle Führung Plan und System haben, oder sie ist nicht. In diesem Sinn und in dieser Einschränkung, sagten wir, das Erste sei der eigene Körper und die Führung dieses Körpers in der Entwicklung seiner Kräfte zur Gesundheit und in seinem ganzen Bewegungsspiel zu einem Ebenmaß dieser Kräfte wie zu der ihnen möglichen schönen Form. Die Formen der Führung sind von der eigentümlichen individuellen Vitalität abhängig und von dem jeweils entwicklungsmäßig erreichten Zustand; darum müssen sie sich auf einem sorgfältigen Studium dieser Kräfte gründen. Was vom Arzte gilt, das hat auch für den Pädagogen seine volle Gültigkeit: jeder ist anders, ist darum anders zu behandeln;



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daher die Bedeutung der „personalen Situation", deren völlige Kenntnis und Beherrschung gilt nicht nur für den Arzt seinem Patienten gegenüber und in der Erziehung von Gefährdeten oder Verwahrlosten, sondern auch in aller Pädagogie. Glücklich, wenn es gelingt, für die Behandlung einigermaßen durchsichtige „Typen" und eine danach typisch zu gestaltende Führung, also wichtigste Leitformen, ausfindig zu machen. Darüber belehrte uns u. a. ein Versuch mit der Anwendung rhythmischer Gymnastik auf psychopathische Kinder. Für den gefühlsgehemmten Typus brachten Übungen im Anschluß an die Loheland-Schule mit Einfügung von Musik befreiende Wirkung; beim hemmungslosen Typ bewährte sich die strenge Formgebundenheit der Eurhythmie, wie sie die Waldorf-Astoria-Schule pflegt; beim verkrampften Kinde die Ausdrucksgymnastik R u d o l f B o d e s usf. Die Ordnung seiner Kindergruppe von einem Ansatzpunkte im Vitalen aus als Kerl-(Schalk-)Typus und Mutter-(Hetären-)Typus ermöglichte auch H e i n r i c h S e s e m a n n erst eine wertvollere pädagogische Behandlung der Kinder 1 ). Kenntnis und Verständnis des Vitalen werden gefördert, zum Teil überhaupt erst wertvoll gewonnen durch das Studium der Kinder während der freien Beschäftigung im Spiel, im freien Sprechen, in freier Arbeit mit der Farbe, beim plastischen Gestalten, bei der ungeleiteten Anwendung von Techniken aller Art. Ob es sich um Zeichnungen oder Flechtarbeiten oder worum sonst handeln möge — nur vorausgesetzt, daß es sich um wirklich „freie", nicht auf Anordnung von außen her gemachte Arbeiten handelt — immer entstehen bestimmten Kindern eindeutig zuzuordnende Werke. Dabei schadet es nichts, wenn das Thema nachgeahmt wird; denn wenn es sich um freie Nachahmung handelt, so offenbart sich dabei doch das Wesen des nachahmenden Kindes unverkennbar echt. Bei der Zusammenstellung eines Dreiklangs in Farben mag die Wahl der beiden ersten, blauviolett und feuerrot, noch Nachahmung sein, wenn dann aber das eine Mädchen lachshell, das andere blaugrün legt, so ist es 1

) Vgl. Untersuchungen Dr. Günther Fredes in einer nicht veröffentlichten Jenaer Dissertation (1925) und Heinrich Sesemann, Der Kerl(Mutter-)Typus und der Scshalk-(Hetären-)Typus, 1928.

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klar, daB sich in dieser letzten Wahl, und damit nun entscheidend für die gesamte Wahl, eben das ausdrückt, was jedem der beiden gerade charakteristisch ist und sie unterscheidet. Und so gibt es nichts Gleiches „im Grunde", also dort, wohin des Führers schauendes Vermögen zu dringen bestrebt sein muß, damit er sich den rechten Tiefblick gewinne. Än zweiter Stelle stehe die Entwicklung der Sinne. Das sog. Montessori-Material hat auf diesem Gebiete reiche Anregungen gebracht und soll ja im besonderen auch der Entfaltung aller Sinne dienen. Seine Vorteile liegen zuerst darin, daß es die Sinne isoliert und dabei in die einzelnen Sinnesbereiche Ordnung zu bringen sucht; richtiger, und genauer gesprochen, sie sucht die isolierten Sinnesenergien zu kräftigen, zu spezialisieren und zu spezifischer Tätigkeit zu bilden. Äls „Ergänzung der Natur" kann diesem wie allem ähnlichen wissenschaftlich entworfenen didaktischen Material der Wert nicht völlig abgesprochen werden. Pädagogisch bedenklich, besonders audi für das Montessori-Material, wird es aber, wenn es nicht aus sich selbst weiter führt. Es wird eines Tages beherrscht, und nun ist das Kind am Ende. Es treibt nicht aus sich selber weiter. Außerdem bleibt das Kind an den vormachenden Lehrer gebunden und muß es genau so machen, wie er es zeigt, darf mit dem Material nichts anderes anfangen, nicht aus eigener Phantasie und seinem Betätigungs- und Gestaltungsdrange folgend damit arbeiten. Der Freiheitsdrang solcher Selbstbetätigung kann sich am Material einer Montessorischule fast nur dann Geltung verschaffen, wenn das Kind die geometrischen Formen verschieden kombiniert, und nun in der Wahl der Farben bei der Ausfüllung dieser Formen, wofür ihm Freiheit gelassen-wird. Wie. stark aber solche Bindungen fortwirken, zeigt sich im Schaffen der Schüler noch Jahre, nachdem sie ζ. B. eine vierjährige Montessori-Grundschule verlassen haben und sich nun in einer freien Schulwelt durchaus anpassen und ganz aus sich heraus gestalten, formen, malen und zeichnen könnten. Was wir an diesem besonderen Material kritisch herausstellen, das gilt aber in allen Fällen von Kunstmaterial, wenn es nicht bloß zur ersten Anleitung oder zum „Vorzeigen", also



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nur als erste Stufe, die zur Fertigkeit, zu einer Geschicklichkeit, einem Wissen und Können hinführt, verwendet wird. Wo es sich, wie in diesem Abschnitte, um Hilfe zur Entwicklung der Sinnesenergie handelt, dort geht nichts über innigste und unaufhörliche Verbindung mit der Natur selbst. Deswegen bleiben auch die Kindergärten im echten Sinne F r ö b e l s , welche die Natur der Landschaft, in denen der Kindergarten errichtet ist, unverfälscht und mannigfaltig direkt in die Stuben bringen, für uns den Kinderheimen der Maria M o n t e s s o r i stets überlegen. Inmitten der Natur selbst gilt es die Farben und Formen, die Töne und Geräusche, die Bewegungen und Rhythmen zu studieren und bewußt zu machen. Leiseübungen, um einen Vogel auf seinem Neste zu belauschen, sind denen überlegen, die mit einem Glöckchen, das nicht anschlagen darf, im Zimmer ausgeführt werden; und so in jedem Falle. Ohne Zweifel ist das, was die Methode Decroly an reichen Anregungen für die Schärfung der Beobachtung enthält, ebenfalls der Montessori-Methode überlegen; denn auch sie bringt die Kinder in unmittelbarste Berührung mit Tier und Pflanze und läßt in solcher „Kohärenz mit dem Lebendigen" lernen 1 ). Psychologisch wie soziologisch wird es richtig sein, drei große Stadien, damit zugleich drei Stufen in der schulischen Führung von Kindern und Jugendlichen zu unterscheiden: zuerst diejenige einer allseitigen und möglichst auch harmonischen Ausbildung; darauf die Vorlehrzeit, in welcher bereits eine Besonderung nach Begabungen und Interessen, demnach auch ein Kurssystem, einsetzt; zuletzt die eigentliche Lehrzeit, die nun schon geradliniger auf einen Beruf zuführt bzw. auf eine Gruppe von Berufen, die eine ähnliche allgemeine Vorbildung erfordern. Das wird für die erste Stufe, und noch zum größten Teile auch für die zweite Stufe, bedeuten: den Kindern reichlich Gelegenheit geben, sich auszugeben, sich zu offenbaren und dabei sich innerlich zu befreien. „Offenbarendes Gestalten" bedeutet stets ein Entladen und damit ein Freiwerden von Kräften. Nur nicht immer oder in übertriebenem Maße nach Krankem., Anormalem Ämelie Hamalde, Die Methode Decroly, 1928, mit 56 die Methode ausgezeichnet illustrierenden Bildbeigaben.



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suchen, sondern alles „natürlich" nehmen und vor allem wissen, daß mit der Entladung ja auch die Befreiung von Drückendem oder Dunklem erfolgt oder daß die Hilfe jetzt von dem geschulten Führer angesetzt werden kann! Überall wird in der Führung zweierlei notwendig: das Erste ist immer, ein« g e s u n d e und k r ä f t i g e n d e A r b e i t s a t m o s p h ä r e und G r u n d l a g e f ü r A r b e i t e n zu s c h a f f e n . Dabei ist ebenso wichtig das genaue Studium des Raumes und seiner Gegenstände, über die man dem Kinde zur Herrschaft verhelfen muß, wie die Vermittlung rechter Umgangsformen und richtiger Erkenntnisse und Einsichten, bevor irgend etwas unternommen wird. Diese v o r b e r e i t e n d e n A u f g a b e n der F ü h r u n g sind ein Arbeitsfeld der Pädagogie, das noch viel zu wenig durchforscht ist, und doch ist es ebenso wichtig, wie alles, was der Landmann am Acker tut, bevor er den Samen sät. Auch das Bildsam-machen, bevor die bildende Tätigkeit einsetzen kann, ist viel zu wenig unter uns brennendes Problem der Pädagogik und der Didaktik. In Angriff genommen, vielfach erprobt und in vorbildlichen Formen vorhanden ist eigentlich nur die Seite des Zusammenlebens, die Gemeinschaftsformen für Schularbeit, aber es fehlt noch viel, bis die Forderungen an eine „Pädagogie des Unterrichts" als auch nur einigermaßen erfüllt angesehen werden können. Dahin gehört alles das, was den Raum und die Atmosphäre, in denen Unterricht stattfinden soll, sowie die seelische Einstellung und die Haltung der Kinder angeht, bevor sie nun Subjekte und Objekte von U n t e r r i c h t werden sollen. Das Zweite ist überall das Aufzeigen, das Vormachen und das Lehren des Technischen und Mechanischen: der rechte Gebrauch von etwas, seien es Stifte, Kreiden, Schwämme, Federn oder Werkzeuge oder technische Hilfsmittel für bestimmte Lehrfächer. Auch hier ist strenger, als es bislang geschieht, noch zu untersuchen, wo etwas a'.s Zwangsform gelernt werden darf; denn sicherlich gibt es für das Erlernen des Schreibens nicht die Feder, so wie es für bestimmte Papiertechniken nur diese Schere, für bestimmte Holzbearbeitung nur diesen Hobel zu nehmen gestattet, ja allein möglich ist. Wir haben an der Jenaer Universitätsschule angefangen seit Jahren, diese Unterscheidun-



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gen strenger auszubilden. Sie gehen weit hinaus über das, was Werkzeug im engeren Sinne ist, und unsre Forderung gilt auch für Methoden, ζ. B. des Lesen- oder Schreibenlernens, die der gewöhnlichen Schreibfeder in unserm Vergleiche verwandter sind als der Schere und dem Hobel. Daß Schablonen und Modelle allüberall gefährlich sind, wenn sie zu lange als Zwangsformen gebraucht werden, das ist heute wohl Allgemeingut unserer Didaktik geworden. Wir erstaunen ja stets von neuem darüber, wie die Kinder imstande sind, von sich aus harmonische und „schöne" Dinge zu erfinden und zu gestalten, auch ohne unsre Anleitung und Vorschrift 1 ). Als diese Fähigkeiten, von 1900 an, auf den verschiedensten Gebieten mehr und mehr festgestellt wurden, da setzte die große Begeisterung für das „schöpferische" Kind ein. Darin ist viel Übertriebenes mitunterlaufen bis hinauf zu H a r t l a u b s Werk „Genius im Kinde". Ganz allgemein bewerten wir in der Kunst dasjenige höher, was die größere Ursprünglichkeit, das kräftigere Leben besitzt und daher auch die stärkere Wirkung ausübt. Ebenso lag und liegt es gegenüber diesem Lebendigen, aus ursprünglicher Lebenskraft Formenden, Stoffe Gestaltenden im Kinde. Dennoch sollten wir lieber nicht von Kunst schlechthin reden, sondern deutlicher abgrenzen und sagen: Kinderkunst, Pubertätskunst u. dgl. Wie wir heute aus der Beobachtung von Tausenden von Kindern wissen, deren Arbeiten uns aufmerken ließen und die über den Durchschnitt der Kinder des betreffenden Lebensalters weit hinausgingen, bietet im Regelfalle kaum ein einziges Stück uns die feste Gewähr dafür, daß bestimmt ein zweites derart gelingen wird oder daß gar hier eine Anlage enthüllt wurde, die im g e r e i f t e n Menschen einen k ü n s t l e r i s c h e n Anstieg sichert, d. h. von vollkommenem Werk zu vollkommenerem führt. Der wahre Kinderfreund und der echte Künstler, sie mögen beide sich an solchen Kinderleistungen rein begeistern und es mit Fug und Recht tun, dieser Schranke müssen sie stets einSchilderungen aus der Versuchsschule der Jenaer Universität enthält in reichem Maße die unten S. 200 f. angeführte Literatur zum „ J e n a - P l a n " .



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gedenk bleiben. Wir beobachten zudem stets diese „Wellen" im Schaffen, die nicht nur die individuelle Entwicklung charakterisieren, sondern auch in einer Schülergruppe als typisch für Schaffen in Gemeinschaft auftreten und die ganze Gruppe ergreifen, Wellen, die sicherlich mit den im Wachstum immer neu zuschießenden Energien zusammenhängen. Was während der Kindheit und der Jugendlichenperiode nämlich noch fehlt, ist die jener Ursprünglichkeit schließlich souverän gebietende g e r e i f t e Geistigkeit. Um deutlich zu machen, was hier mit Reife gemeint ist, kann am besten auf die Musik Bezug genommen werden. Wenn wir von den ein bis zwei Genies absehen, welche jede Epoche hervorbringt (Mozart, Korngold), so findet sich auf diesem Gebiete jene ursprüngliche Kraft bei Kindern am wenigsten früh. Denn die Musik ist die geistigste Sprache, welche der Mensch entwickelt hat. Darum kann nun aber auch die in den Musikschöpfungen schlummernde geistige persönliche Welt nur von Menschen geweckt werden, welche ein gleiches oder ähnliches Erleben der Natur und menschlichen Schicksals und eine Aufrüttelung ihres eigenen Lebens durchgemacht haben, von Menschen, in denen das Reifen aus sich selbst eine gewisse Stärke und Form gewonnen, die Vergeistigung und Befreiung ihres persönlichen Lebens von der Tiefe aus begonnen hat. Wer in das Spiel von Kindern und Jugendlichen, oft auch noch von Studenten, hineinzuhören vermag, die die Technik des Klaviers, einer Geige wirklich für ihr Älter tadellos beherrschen, der weiß: es fehlt doch ein Etwas, es fehlt, wie man wohl sagt, die „persönliche Note", ein „Letztes", das, was für uns das Spiel zum Ausdruck eines aus sich selber gereiften Menschen erhebt und es damit über die Leistung einer guten, sogar recht guten und einwandfreien Wiedergabe des Stückes hinaushebt. Es bleibt etwas eigentümlich Leeres, Unerfülltes zurück, so daß man nicht ganz hingerissen wird, wenn man auch aufrichtig bewundert. Aber wird sich je sagen lassen, w a n n etwa in der Entfaltung und Darstellung der schöpferischen Fähigkeiten jene Entwicklungsstufe erreicht ist, auf der nun jene Leistungen ein-

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setzen, denen das Merkmal einer Reife zukommt? Wir besitzen durchaus Maß stäbe, um darauf Antwort zu erteilen. Man braucht nur an Dichter und Künstler zu denken, deren kindliche und Jugendarbeiten uns bekannt sind, die auch für ein Studium ihrer Entwicklung von ganzem Interesse sind, die dennoch niemals in ihr« „Gesammelten Werke" bez. in Museen aufgenommen werden. Und es müßte einmal dem im besonderen nachgegangen werden, was es für Merkmale an Dichtungen und Kunstwerken sind, die dem Kenner das Recht geben, die Grenze zwischen dem vorbereitenden, tastenden ersten Schaffen und der „Kunst" dieses Dichters oder Künstlers zu ziehen. Jeder Dichter und Künstler ist dabei selber die beste Hilfe; denn er hat ja selber diese Scheidelinie gezogen, und zumeist leitete ihn ein untrüglicher Instinkt, diese frühen Werke nie zu veröffentlichen, sie gar zu vernichten; also eines Tages hatte er selber das Gefühl der Distanz, und doch mögen die abgelehnten Leistungen schon die Begeisterung seiner Freunde, Lehrer und mancher sonst geweckt haben. Bestimmt wissen wir, daß sich während der Pubertät ein Versiechen oder eine neue Blütezeit einstellt. Es brechen dann neue Lebenskräfte im Menschen auf, und damit ergeben sich auch neue Wandlungen in der Darstellung dieser Kräfte nach außen in Werken aller Ärt. Was in unserer Kulturlage besonders hinzukommt, auf dem Gebiete der Darstellung, das ist die literarische Form, d. h. die Möglichkeit, sich in Dichtung und anderem Schrifttum auszugeben und darzustellen, etwas, das ja in manchen Kulturen wegfällt oder nur im geringen Maße vorhanden ist. Da aber ein Pubertätswerk selten die Gewähr der Dauer und eines künftig aufsteigenden Schaffens bietet, so verlangt es das Gebot rechter Pädagogie diesen Leistungen gegenüber: sie hinzunehmen mit leicht bekundetem, freilich echtem Interesse, aber ruhig und nicht mit Überschwänglichkeit, so daß der Jugendliche fühlt, es ist nicht das Höchste, aber wenn ich so weiter schaffe, dann wird es gut werden und Vollkommenes entstehen können; es ist für mich jetzt eine gute Leistung, aber eben doch nur ein Versprechen an die Zukunft. —



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Fassen wir alles zusammen, was die Haltung und die Aufgabe des Führers angeht, sofern er „zwischen" Zögling und Stoff zu treten hat, so ergeben sich vier Stufen: 1. Die Darbietung des Stoffes „rein als solchen"; 2. Die Übermittelung des Technisch-Mechanischen im Sinne der Elementargrammatik in allen Dingen samt der Übung und dem Einüben; 3. das Selber-Darstellen und Selber-Leben; 4. das rechte Begeistern. Zu 1. Die Kinder sollen die Wirkung von Farben undFor>nen und Rhythmus in schlichter Darbietung ohne sentimentales Gerede und ohne Bombast und Verzückung selber erleben, sollen etwa so die motorische Kraft der Farben und ihre belebende, weckende Wirkung auf die Phantasie empfinden, auch immer selber lesen oder hören, hineinhören und vom Dargebotenen aus ergriffen werden, nicht von den Worten der Erklärung, der Erläuterung, die so selten lauter wirkt und Lauterkeit erzeugt, gewonnen werden. Dabei ist das erste Gebot für den Pädagogen, darüber mit Strenge zu wachen, daß die Echtheit, Reinheit und Wirklichkeit des Materials rein und unverfälscht zur Geltung kommt, es seien Holzarten oder Papiersorten, Webstoffe, Schrift, Zahlen oder Wörter, es sei Sand oder Ton. Das ist wichtiger als deine und meine „Meinung" darüber. Du und ich sollen nicht uns für das Kind in das Gegenständliche hineinstellen, sondern nur „zwischen" dem Kinde und dem Gegenstande stehen. Meine und deine Meinung haben allerfrühestens ihr Recht und dürfen eingefügt werden, wenn sich die Glieder der geführten Gruppengemeinschaft zuvor ihre Meinungen gebildet, ihre Erfahrungen gemacht und ihre Erlebnisse gehabt haben. Und im lebenslänglichen Studium dieses „zwischen" erwirbt sich der Pädagoge eine zunehmend vollkommenere Haltung und damit die zunehmend größere Fähigkeit zur Führung. Sicherlich ist es ζ. B. falsch, planmäßig zu. moralisieren oder regelmäßig zur Stufe der „Vertiefung" vorzuschreiten, sondern gerade die Vertiefung, dieser wichtigste und zugleich gefährlichste Schritt, bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung und mehr noch der rechten Gunst der Stunde. Vertiefen, wenn ein Kind oder die Gruppe danach ver-



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langt, sich ein Drängen danach einstellt und von allen empfunden wird oder sich als nötig herausstellt zwischen Kind und Lehrer; sittliche Betrachtungen anstellen, wenn gleichfalls aus der Umwelt der Gruppe oder dem Gemeinschaftsleben selber die Notwendigkeit aufsteht! Denn ob es sich um Arbeitsmaterialien oder sozialethische Gegenstände handelt, zu einer wertvollen und nachhaltigen Fühlungnahme kann es immer nur kommen, wenn das „Selbstleuchten der Stoffe" oder das unmittelbare Offenbarwerden einer sozialethischen Frage empfunden wird und somit ein erstes „Wissen um" diese Dinge da ist, an das sich ein verständiges Wissen anschließen, auf dem es aufbauen und ruhen kann. Solche Darbietung der Stoffe rein als solche gilt für schlechthin alle Fächer: für Gedichte wie für Holzarbeit, fremde Sprachen und einzelwissenschaftliche Fragen, und auf allen Gebieten sehen wir, wie die Kinder dann die Stoffe von sich aus aufgreifen und angreifen und sich mit ihnen zu schaffen machen und gern damit ringen: Buchstaben lesen und schreiben, Rechnen, Pappe, erdkundliche, mathematische Stoffe usw. Überall hat die Neue Erziehung gezeigt, wie bei solchem Verhalten des Lehrers das Kind immer von sich aus den Weg des freien, besser gesagt, des natürlichen Lernens einschlägt, und je älter es wird, dabei die schon erlernten Wege in freier, Anwendung und Verbindung benutzt und daß der Führer sich vor allen Dingen in d i e s e Wege hineinzudenken hat, um bei Stockungen oder Abirrungen auszuhelfen. Zu 2. Die Übermittlung des Technisch-Mechanischen bedeutet aufklären über die richtige Handhabung aller Hilfsmittel und Werkzeuge: der Scheren, Farbstifte, Federn, Messer, des Phonetischen wie des Elementargrammatischen und der Rechtschreibung in der Muttersprache wie in der fremden Sprache, der Elemente und Hilfsmittel in Rechnen und Mathematik usf., worüber die Didaktik der einzelnen Fächer zu berichten hat. Die Klarheit über den Zweck und den Wert dieser Mittel und Techniken wird längst nicht immer gleichzeitig mit der Handhabung, dem „Gebrauch", gelehrt werden können, in der Regel nur knapp, in ersten Andeutungen oder überhaupt nicht. Zuerst muß immer

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das Tun kommen; während des Tuns und durch das Tun selbst klären sich bereits die meisten Beziehungen, in denen es steht. Ist solcher Vorkursus und alles, was sich aus ihm zur Bereicherung des technischen Könnens ergibt, auf einem Gebiete unter ökonomischen Gesichtspunkten durchgeführt, alsdann heißt es warten, beobachten, sehen, wohin das Kind und die Gruppe geführt werden durch die neu erworbenen Möglichkeiten, Fähigkeiten zu verraten, Fertigkeiten zu erwerben, Kräfte einzuspannen, Gegenständliches zu bewältigen und zu gestalten. Wo es nicht aus wirtschaftlichen oder fachlichen Gründen erforderlich ist, dort darf nicht der vom Lehrer geplante, vorher entworfene Kursus dasjenige sein, was erledigt werden soll, sondern der Lehrer muß alles aufbieten, um nicht im Laufe seiner Dienstjahre die freie und frische Aufgeschlossenheit für neue, andere Wege, als er sie ging und lernte, zu verlieren. Das sei eine Methode, daß er die Methode, nach der er lernte, stets unter strenger Kritik halte! Daß er nur wisse um das technisch Richtige und um das zu erreichende Ziel und nun tausend Mittel erspähe, erwerbe und erweitere, um individuell einzugreifen, zu klären, zu glätten, Anregungen und Winke zu geben! Auf allen Gebieten liegt es ja so, daß bereits die Technik rein als solche Form schafft. Sie besitzt in sich ein eigenes Gesetz, das sich in Kraft setzt, sobald sie an einen Gegenstand herangebracht wird. Rein als verschiedene Techniken bewirken Mosaikschnitt und Faltschnitt an ein und demselben Material verschiedene Formen, geben als Techniken Stil und Ausdruck. Gibt der Mosaikschnitt einer Landschaft naturalistische Wirkung, so der Faltschnitt etwas Feierliches, und so spricht Ci£ek mit Recht von der Technik als einem formschaffenden Faktor 1 ). Genau dasselbe gilt aber auch vom Technischen auf kulturkundlichem und jedem anderen Gebiete, und so unterscheiden sich als f o r m e n d e Faktoren ebenfalls Formalstufenmethode, Arbeitsschule in allen ihren Arten, natürliches Lernen usw. Wo immer es möglich ist, soll man das Technische in Verbindung mit der vitalen Seite bringen, es auch körperlich tun ') S. Papier-, Sohneide- und Klebearbeiten. 3. Λ. 1925, S. 12.



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lassen. Das heißt, es verbinden mit dem Spiel, mit der rhythmischen Bewegung, der direkten Sinnesbeobachtung, so vielseitig wie nur möglich (wie es ζ. B. die Methode Decroly und die Waldorf-Astoria-Schule anstreben), dramatische Szenen im Anfangsunterricht der Fremdsprachen, Sprechchöre, kindgemäße grammatische Spiele aller Art. „Das Verstehen ist ebenfalls ein intensiveres, wenn den Kindern reichlich Gelegenheit zu körperlicher Betätigung im Rechen- und Mathematikunterricht gegeben wird. Man lasse jedes Kind mit dem Maß in der Hand messen, nicht e i n Kind nur, wobei 39 zusehen müssen. Figuren, die im Hof gelaufen oder sonst körperlich dargestellt wurden, wurden tiefer verstanden und blieben besser im Gedächtnis 1 )." Erst danach komme das Anschaulichmachen, kommen Bilder. Zu 3. Keine Führung hat Wert und hat Erfolg, wenn der Führer sich nicht selber durch die T a t mit dem auseinandersetzen kann, in dem er zu führen unternimmt. Darüber bedarf es keiner langen Worte. Der geführt werden soll und will, bedarf der Sicherheit seines Führers, und solange er diese Sicherheit voll empfindet, sie herausfühlt, solange hat die Führung auch eine Wirkung und eine Bedeutung für ihn. Ist diese Sicherheit erschüttert, alsdann wendet er sich einem anderen Führer zu. Das ist auch deutlich an Kindern zu beobachten, welche andere irgendwie führen. Sobald die sich anschließenden und sich willig unterordnenden Kinder merken, daß der Kamerad ihnen nichts mehr zu bieten hat, so wenden sie sich ab und wechseln die Gruppe. Konnte aber ein Kind Führer sein, so wies es auf irgendeinem Gebiete eine überlegene Art und Weise auf, seine Befähigung für Aufgaben dieses Gebietes darzustellen, oder in seiner ganzen Art zu sein, mit den Kameraden umzugehen, sein Leben zu leben, zog es an und riß andere mit sich» Zu 4. Das Höchste in aller Führung wird sein, zu begeistern. Begeisterung kann nur wecken, wer selber von dem, wofür es zu begeistern gilt, ganz erfüllt ist, wen eine echte Begeisterung aus persönlichem Erleben heraus erfüllt und fortreißt. Maßhalten mit der Äußerung seiner Begeisterung ist oberste Pflicht, J) Vgl. Petersen, Schulleben usw. a. a. 0 . 1930, S. 193.



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ja eine nabeliegende Maßregel der Klugheit. Immer in höchsten Tönen reden, stumpft ab und dient am wenigsten der Sache. Zur rechten Pädagogie gehört neben der Macht über das Wort auch das schöne Maß, die gehaltene Form. Die alte Mahnung behält ihr Recht, es sei sechs Tage lang Werkeltag und nur an einem Tage der Woche Sonntag. Aber es darf dazu noch eingeschärft werden, daß auch am Sonntage nur eine bestimmte Stunde der Feier gewidmet ist, daß der bei weitem größte Teil der Sonntagszeit der Vorbereitung und Einstellung sowie der Besinnung nach der Feier, dem stilfen Nach-innen-leben und Überdenken geweiht sein sollte 1 ). § 13.

Das Bewußtmachen — die Pädagogie des Unterrichts. Der Ursprung der Didaktik. Ein Problem der Führung von höchster Zartheit ist das Bewußtmachen. Und wie wenig wird es im überlieferten Unterricht in seinen Feinheiten erfaßt und für die Praxis behandelt! Es hat u. a. so einseitiger Strömungen wie der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und vor allem dann der strukturpsychologischen Richtungen bedurft, um dies Problem in seiner ganzen Schärfe und Bedeutung für den geistigen Aufbau des Menschen zu erkennen. Es gehört zur Aufgabe des Unterrichts, dem aufwachsenden Kinde zu helfen, sich selber und seine Umwelt klar und deutlich zu erkennen, zu benennen, zu verstehen und zu behandeln, kurz sie ihm zum Bewußtsein zu bringen. Aber es wird stets auch die Aufgabe der „Führung des Unterrichts" bilden, manches aus dem Bewußtsein verschwinden zu lassen, das einmal darin war, und ihm möglichst für immer seine Kraft zu nehmen: gewisse Triebe und Neigungen, gewisse Ansichten u. dgl., und es kennzeichnet die gute Lösung, wenn später einer sagt: „Ich danke Ihnen, daß Sie mich damals davon abgebracht haben." Ebenso Zur Ergänzung dieses Kapitels vgl. den ausführlichen Äufsatz: „Der Lehrer als 'Führer' im Unterricht" in m. Schrift: „Innere Schulreform und Neue Erziehung", 1925, S. 253—261.



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wird es nötig, manches, das sich spontan ins Bewußtsein drängen will, nicht oder doch nur zum Teil hineinzulassen, damit das Menschenkind lerne, seine Gedanken zur rechten Zeit zu äußern und nicht hemmungslos, sondern wohlabgewogen, sinnvoll, oder gesittet und planvoll zu handeln, kurz, sich als fühlendes und denkendes Wesen zu beherrschen. Auf der anderen Seite müssen nun aber auch neue Inhalte ins Bewußtsein gebracht werden, darunter (und gerade auch vermittelst der Schulen) eine große Anzahl von solchen, die nicht in der Umwelt des Kindes vorhanden sind, auch nicht aus ihr stammen oder dort irgendwie Wurzeln haben, also vielerlei, das es aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem ganzen Leben niemals lernen würde. Was würde in manchem Dorfe, mancher Kleinstadt, aber desgleichen überall, ζ. B. an Wissen und Verstehen von deutscher Literatur und Kunst, an Kenntnis weltwirtschaftlicher Beziehungen und unsrer wissenschaftlichen Deutung der Himmelserscheinungen, rationeller Ernährung und Körperpflege rein aus der Umwelt herauswachsen? Hier soll es die Aufgabe des bestellten Führers in den Schulen sein, diese Dinge in gewisser Auswahl und der Fassungskraft entsprechend zu übermitteln, und man kennt die G e g e n s ä t z e , welche dabei aufspringen. Denn unter diesen neuen Inhalten befindet sich eine außerordentlich große Anzahl solcher, welche D e u t u n g e n des Lebens und des Geschehens sind, vom menschlichen Bestreben getragen und geformt, das Seiende zu verstehen, ihm einen Sinn zu geben und so Einzelhaftes in den höchsten Bezug einzuordnen. Und dadurch unterscheidet sich das unmittelbare und absichtsvolle Zuführen neuer Inhalte von jener Klärung bzw. Hemmung oder rechten Leitung vorhandener oder frei auftretender Bewußtseinsinhalte — wiewohl auch hier das „Klären" oft ein Deuten einschließen wird und muß. Auf die letztere Tätigkeit gesehen, so wird zunächst klar sein, daß alles Bewußtmachen nur Wert und Erfolg haben kann, wenn die zum Verständnis erforderlichen seelischen und geistigen Fähigkeiten des Kindes entwickelt sind; es muß ein primäres Wissen da sein oder der Anlage nach möglich sein. Wenn

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wir ζ. Β. versuchen, einem Schüler klar zu machen, daß er in seiner Zeichnung gegen die Gesetze der perspektivischen Zeichnung verstoßen habe, dann müssen wir zuvor wissen, ob das Kind überhaupt perspektivisch sehen kann. Ob sich das jemals lehren läßt? Und wann kann man diese Fähigkeit bei einem Kinde voraussetzen? Ein Mädchen zeichnete im zweiten Schuljahre nach einem Besuche des Naumburger Domes den Kreuzgang perspektivisch richtig, stand aber unter dem Einfluß eines sehr kultivierten Elternhauses und war selber besonders begabt. Hier verriet uns also die Leistung unmittelbar die Fähigkeit. Sonst bleibt das Beste die „stille Probe": auf der farbigen Fläche ganz einfach durch das Aufsetzen einer kleinen Farbnüance, einer Verdunkelung oder anderen Belichtung, das Verändern einer Nüance oder einer Strichführung durch den Führer die Probe machen — das kann genügen. Der Schüler sieht dann auf einmal, was falsch war; er begreift, worum er, unklar in sich selber, rang und sich an der Zeichnung, dem Bilde mühte, und wird nun durch eine solche kurze Handlung des Führers frei. Er erlebt auf einmal das Geheimnis des Perspektivischen in der Zeichnung, wie ihm durch die Farbe oder durch die Strichführung Ausdruck gegeben werden kann. Wie dieser Grundsatz ü b e r a l l gilt beim Verstehen-lehren, sei es eine Rechenaufgabe oder ein historisdher Zusammenhang usw. usw., nur abgewandelt mit Rücksicht auf die Stoffeigentümlichkeiten und die Werkzeuge für seine Behandlung, das eingehend darzulegen, wird hinfort ein Hauptkapitel der allgemeinen wie der besonderen Didaktik bilden 1 ). Wo dem Schüler nichts „dämmert", dort darf der Lehrer überzeugt sein, daß seine Belehrung, daß ein weiteres planvolles Bewußtmachen keinen Zweck hat; höchstens würde er ihm etwas einreden und ihn zum Nachsprechen dressieren. In den meisten Fällen wird es aber weiser sein, zu warten und zu schweigen, bis ein andermal sich der Weg zum Verständnis geöffnet findet. Und das bleibt das Wichtigste, daß dieser Weg vom Schüler zum Lehrer offen bleibt, gern gewählt und gegangen wird; nursoer!) Vgl. P. Petersen, Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung, Bd. I. 1930, bes. S. 95ff.: „Das Unterrichtsleben."

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hält sich die echte Pädagogie in allem Unterricht. Denn ein Lehrer kann gewiß dem Schüler aufzwingen, so oder so zu zeichnen, zu rechnen, einen Tatbestand aufzufassen, einen Zusammenhang zu deuten, er kann ihm autoritativ von außen her erklären: so macht man dies und so das! Er kann auch etwas „bis zur Bewußtlosigkeit" üben lassen und ein mechanisches Können „auf den Schlag" erreichen. Allein, wir sind aus reichster neuer Praxis (auch ohne Theorie, die uns die in der Praxis auftauchenden Urteile erst erhellte) davon überzeugt worden, daß dieser Weg falsch ist. Denn er verstört die eigengesetzliche Arbeitslinie im Kinde, und wir müssen uns nach allen unseren Erfahrungen die Entwicklung und Förderung der echten Arbeitslinie angelegen sein lassen aus zwei Gründen: einmal kommt nur dadurch die echte, wahrheitsgemäße Tätigkeit eines Menschen zustande, der Weg von innen nach außen, und gewöhnt er sich an die Ausdrucksmöglichkeiten für das, was seine Art ist und an uns gerade darum wertvoll ist, weil es eine Eigenart ist, während uns als Pädagogen nichts daran gelegen sein sollte, daß er u n s e r e Art nachmacht, es auch macht. Uns als Pädagogen! Im Wirtschaftsleben wird der Schüler wahrscheinlich viel aufgetragene Arbeit der Art tun, daß sie nur ein Nachmachen des Vorgeschriebenen innerhalb eines bestimmten Arbeitsvorganges, eines Büros ist. Aber solche Arbeit wird ein Mensch leisten können auch ohne Schule, die ihn zur Rezeptivität und zum Nachmachen besonders anhält. Sodann gibt jenes Verhalten uns die größte Gewähr dafür, daß wir im Kinde nichts verstören, nichts verbiegen, gar vergewaltigen und verkrampfen, weil wir nicht unser oder ein anderes fremdes Geistleben unaufgefordert aufdrängen, aufzwingen oder auch nur zu einer Auseinandersetzung mit ihm in einem Augenblick nötigen, in dem es verfrüht wäre oder sonstwie falsch. Die Führung muß ferner beachten, daß sich die seelische Entwicklung von Ganzheit zu Ganzheit vollzieht, in einer ständigen Transformation der gesamten seelischen Lage, und daß der Anstoß, der Ausgangspunkt für eine Sinnesänderung, ein Verstehen, ein Können usf. usf. aus den allerverschiedensten Sphären des psychophysischen Seins kommen kann, auch ohne P e t e r s e η , Erziebungswlsscnschifl.

II.

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— 194 — daß wir — bis heute wenigstens — im mindesten den Zusammenhang finden können1). Schon darum kann der Lehrer auch nidht fortgesetzt Element an Element, Steinchen an Steinchen reihen, sondern er muß sich seinen schauenden Blick für diese Art der zugleich rhythmischen Entfaltung und Umwandlung seelischer Lagen im Kinde und Jugendlichen bewahren. Nichts ist gefährlicher und wirkt der Vergeistigung eines Menschen mehr entgegen als verfrühtes Räsonnieren über Dinge, für die im Menschenkinde noch keinerlei seelische Voraussetzungen vorhanden sind. Das gilt von aller sexuellen „Aufklärung" wie von dem überaus Meisten des Literatur- und Kunsterziehungsbetriebes in allen unsern Schulen, nicht minder vom Religionsunterricht — trotz der jahrzehntealten Reformarbeit an ihnen allen. Ja, es liegt geradezu die Aporie von Erziehung und Unterricht im Problemkreis des „Bewußtmachens", und in ihrer Auflösung liegt der Ursprung der Unterrichtslehre 2 ). Überall wo der Erwachsene, der Reifere, im Räsonnieren führt, die Belehrung in weltanschaulichen, künstlerischen, religiösen Fragen planvoll leitet, dort darf er niemals vergessen, daß er mit seiner Autorität arbeitet und durch sie zwingende, leicht auch massenpsychologische Urteile, Wertungen, Verhalten erzielt, die von untergeordneter oder von gar keiner geistigen Bedeutung sind. Es hat gar keinen Wert für unsre Kultur, wenn sämtliche Millionen deutscher Schulkinder gemeinsam mit allen ihren Lehrern wie in einem Schrei ausriefen: Goethe sei der größte Dichter! oder dergleichen. Ein Beweis dafür, daß wir Kultur hätten, wäre es nicht, wohl aber ein weiterer Beleg für das, was Jan Ligthart nannte „eine große Papageienwelt, die sich denkende Menschheit nennt". Bewirkt ein Lehrer andererseits, daß die aufwachsenden Menschenkinder zu früh und bei Unrechter Gelegenheit aufgeVgl. a. a. 0 . pass., auch Bd. II. ) Ich definiere U n t e r r i c h t im p ä d a g o g i s c h e n S i n n e als „jene Summe von absichtsvollen und sinnhaften Veranstaltungen, die mit Ehrfurcht vor dem Leben und unter der Idee der Erziehung zu Fertigkeiten, Kenntnissen und BewuBtheiten f ü h r t " , s. ζ. B. „Der JenaPlan einer freien allgemeinen Volksschule", 2. Ä. 1929, S. 35. 2



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klärt werden, alsdann führt er ihren Seelen Inhalte zu, die sie nicht verarbeiten können, die unter Umständen ungesunde Hemmungen erzeugen, quälend wirken, ausnahmsweise sogar das ganze Leben eines Menschen hindurch nachteilig sein können. In der Regel weiß sich der menschliche Organismus ja selber zu helfen, aber wiederum ist doch wertvolle Kraft unnütz verbraucht und ist die rechte Gelegenheit nicht gesucht und gefunden, nicht abgewartet worden. Die große Gefahr „unorganischer Wertbildung" 1 ) aber zu vermeiden, sollte das allerernsteste Bestreben in jedem Unterrichte bilden. Eröffnet er ihnen den Weg zum Verständnis von allem und jedem ohne Plan und Begrenzung und wohl noch gar so, daß sie wähnen, alles zu kennen und begriffen zu haben, dann erzeugt er Flachheit, Oberflächlichkeit und verhindert dadurch den Äufbruch des Innern, das Hervorbrechen geistigen Lebens, das ja vom Grunde her und nicht von der Oberfläche aus erfolgen kann. Kommt es aber vom Grunde her, dann ist sein Anfang stets das Erstaunen, die Verwunderung, d. h. ein schauendes Verhalten mit großen Äugen in die Wirklichkeiten der Welt hinein wie das eines Aufwachenden, und solches Verhalten ist es ja, durch das der Mensch den Zusammenhang mit dem Seienden wahrt und auch nur den Reichtum seines Geistes offenbaren kann. Daß es sich auch hier nicht um irgend etwas handelt, das berechtigte, dem Schauen einen pathetischen Beigeschmack zu geben, sondern vielmehr um ein alltägliches Geschehen in allen Schulstuben, in denen das Leben im Verkehr zwischen Lehrern und Schülern nicht erstickt ist, das ist den Nur-Theoretikern der Erziehung gegenüber ausdrücklich zu vermerken, der Praktiker sieht es tagaus tagein. Denn wer Kinder beobachtet, wie ihnen das Geheimnis des Thermometers, einer Rechenoperation, einer Technik usw. usw. aufgeht, der sieht ja dieses Leuchten den Augen, dem ganzen Gesichte an, dieses Leuchten, das uns verrät, daß sie „auf einmal" an einem neuen Stück der Wirklichkeit teilgenommen haben, dessen verborgener Zusammenhang mit Μ Vgl. E. Jaensch, Grundformen menschlichen Seins, 1929, S.343 bis 421. 13*



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ihrem Geiste ihnen vertraut wurde, so daß sie es nun kennen oder können. Die Gefahr und das Schädliche in allem Rationalisieren, in aller intellektuellen ökonomisierung für das sittliche Leben zeigt sich besonders typisch in dem, was „cant" genannt wird, der sich überall findet, wenn ihn auch B y r o n , C a r l y l e und viele andere in den schärfsten Ausdrücken als englisches Nationallaster bezeichnet haben und sein Zusammenhang mit der englischen Nützlichkeitsmoral, besonders eines J o h n S t u a r t Mill, unverkennbar ist. Der cant gehört überall in der Welt dorthin, wo mit Menschen wie mit Waren gerechnet wird, und er ist der schroffste Gegensatz zum Religiösen. Insbesondere hat er eine große Kraft, jedes Schuldbewußtsein in der leichten Luft der rationalen Welt zu verflüchtigen, die Stimme des Gewissens zu beruhigen. Das ist aber die immer gleiche Gefahr, wo sittliche oder religiöse Dinge, Weltanschauliches überhaupt, beredet werden; denn dort werden sie nur allzu leicht zerredet. Darum ist das Bewußtmachen dieser Zusammenhänge und Deutungen dasjenige, dem der Führer mit weit mehr Scheu gegenüberstehen muß fortan, als es im allgemeinen die Regel ist, und zwar deswegen, weil immer noch die alte Ansicht von der Bedeutung des Rationalen für den Schulunterricht vorherrscht und daß es dessen Aufgabe sei, zu belehren, ohne daß man genügend auch die Gefahren des Belehrens beachtet hat. Heute aber müssen alle Völker es wissen, daß sie in ihrem Schulwesen eine zweischneidige Waffe besitzen. Der Kampf der politischen Parteien, des Staates wie der Kirchen, um die Schule und um die Jugend in unserm Zeitalter zeigt ja zur Genüge, daß sie es wissen, wie diese Waffe so oder so schneiden kann, nämlich je nach dem wie man das Bewußtmachen der politischen und weltanschaulichen Fragen planvoll im Sinne dieser oder jener Richtung betreibt, also wie man die Waffe geschliffen hat. Demgegenüber muß nachdrücklicher denn je die e r z i e h u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e Forderung erhoben werden, zunächst dem Menschen im Kinde und im Jugendlichen zu dienen jenseits der Schablone, der Richtung, des Bekenntnisses, rein im Dienst der individuellen Kräfte und ihrer Formung innerhalb der



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Schulgemeinschaft, also alles zu tun mit dem Ziele der Vergeis t i g u n g des Menschenkindes vor Augen, nicht seiner politischen Brauchbarkeit, seiner Gesinnungstüchtigkeit in einem äußerlichen Sinne. Sonst wird aus der Pädagogie nur zu leicht Demagogie in der Schule. Solche erziehungswissenschaftliche Forderung, recht eingesetzt und dem Volksleben einer Zeit eingefügt, kann dann wenigstens als Korrektiv wirken und über ihr Maß hinausgehende politische und kirchliche Machtansprüche mäßigen helfen und zugleich zu sittlicherer Auffassung der Kindheit und der Jugend hinleiten.

§ 14.

Disziplin und Autonomie. Disziplin und Autonomie gehören beide dem Menschen zu und nur ihm. Es gibt in der Tierwelt gewiß auch Ordnung und Folgschaft. Man spricht von Tierstaaten und bewundert die Ordnung in ihnen, gebraucht auch wohl das Wort Disziplin, um gewisse Eigentümlichkeiten des gemeinsamen Fluges der Wandervögel, des gemeinsamen Zuges wandernder Tiere oder im Verhalten gemeinsam angreifender Raubtiere zu charakterisieren. Allein, nirgends besteht die geringste Nötigung, dafür g e i s t i g e Akte anzunehmen; es genügt, auf den Instinkt und auf ererbte Triebe zu verweisen, um jene Erscheinungen zu erklären. Auch wenn wir, wie schwer zu bestreiten sein dürfte, einigen höheren Tieren Intelligenz zusprechen müssen, so hätten wir ja damit auch noch nicht den Bereich des Geistigen betreten. Denn Geist nannten wir den Inbegriff aller derjenigen Akte, durch welche ein Mensch sich selbst und alles Seiende und Geschehende in ihm und um ihn aus dem G r u n d e alles Seienden h e r a u s auffaßt, weiß und versteht als seiend, wertempfangend und selber wertend, oder aus dem Grunde der Wirklichkeit heraus fühlt und handelt, sodaß die im eminenten Maße menschlichen geistigen Gefühle und Handlungen entstehen wie Güte, Liebe, Demut, Reue, Andacht, Ehrfurcht. So gibt es auch nur unter Menschen Erziehung, in der Tierwelt Abrichtung, D r e s s u r , und dieses auch in der Menschen-



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welt, weil der Mensch in zwei Welten zu leben hat. Und wie die Vermögen der Dressur und der Erziehung den Menschen als Zweiseelenwesen zeigen, so führt auch die Analyse von Disziplin und Autonomie auf dieselbe Natur, wenn wir beide Begriffe in ihrem reinen Sinne ausdeuten und uns um mißbräuchliche Anwendungen nicht kümmern. Beide gleichen sich darin, daß sie abgeleitete Funktionen der Erziehung sind. Sie sind also beide von g e i s t i g e m Charakter und geistigem Werte, Dienstfunktionen der Erziehung, mit ihr und untereinander in innigster Beziehung stehend. Dennoch hat jedermann recht, wenn er beim ersten Hören der beiden Worte zunächst an den G e g e n s a t z denkt, der sich in beiden ausdrückt. Worin gründet dieser echte und wesenhafte Gegensatz, auf den es uns ganz allein ankommt? Beide zielen ab auf O r d n u n g ; das sagt im Begriffe der Autonomie sein zweiter Teil: Nomos, Gesetz. Sie bezeichnen dasjenige, wodurch der g e i s t i g e Mensch sich, in seinem Sdiaffen und in seinen Handlungen und in seinen Beziehungen zu anderen Menschen, b i n d e t , Bindungen — auch Autonomie ist im echten Sinne Bindung! — denen er als Individuum wie als Gemeinschaftswesen unterworfen ist und sein will. Disziplin und Autonomie gehören zu den konstitutiven Elementen des geistigen Schaffens, in der Begründung, in der Entfaltung und in der Erhaltung der geistigen Welt des Menschen. Der Gegensatz beider springt aber sofort auf, wenn wir nach derjenigen Beziehung fragen, welche diese Ordnungsprinzipien eigentümlich bestimmt. Denn dann ergibt sich, daß alles, was irgendwie unter „Disziplin" verstanden wird, auf die Formungsverhältnisse des Geistigen in seiner Beziehung zur Äußerlichkeit, Weltlichkeit, Öffentlichkeit, auf das unter anderen und mit anderen-Sein abzielt und von dort her seine Richtung erhält. Autonomie aber geht auf die formenden und ordnenden Verhältnisse und Kräfte in ihrer Beziehung zum letzten Grunde des Geistigen und somit auf Innerlichkeit, auf das bei sich-Sein und auf das Schöpferische. Es kommt also darauf an, in dem Begriffe der „Autonomie" das „autos", dieses „Selbst", richtig zu verstehen, das sich zum Gesetz, zum Nomos wird. Nie und nimmer ist es das Selbst im



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Sinne von Individualität, also irgendwie im Sinne des Egozentrischen, gar des Egoistischen. Denn alsdann würde das Triebhafte oder das lediglich Subjektive zur Quelle des Gesetzes werden, nach dem gehandelt oder geschaffen wird. Im Begriffe der Autonomie wird nicht das Selbst in seinem biopsychologischen Sinne angesprochen, nicht nach dem, was es im öffentlichen Leben gilt, überhaupt nicht in seiner „Weltlichkeit", sondern einzig und allein in seiner innerlichsten Wesenheit. Ein jeder bezeugt es vor sich selber, daß unter der autonomen Handlung eines Menschen niemals Handlungen verstanden werden, welche dieses Menschen individuale Besonderheit oder Stellung oder Geltung in der Welt oder irgend etwas dergleichen bezeugen. Es ist vielmehr immer ein Wesenhaftes, das sich darin ausspricht und das deswegen auch nach allgemeiner Anerkennung und nach grundsätzlicher Stellungnahme verlangt. Wo von Autonomie geredet wird, dort handelt es sich stets um ein Leben, Schaffen und Handeln des Menschen, das in Verbindung mit dem Grunde des Seienden steht, das aus dem Grunde der Wirklichkeit gerechtfertigt wird. Darum ist auch zu allen Zeiten von allen Denkern mit dem Geistigen immer der Begriff des Autonomen verbunden und das Reich des Geistigen als autonome Schöpfung des Menschen oder als Schöpfung des autonomen Menschen betrachtet worden, als Bekundung „persönlichen" Lebens in dem Sinne, den deutsche Philosophie mit den Begriffen persönlich und Persönlichkeit verbindet. Wie Autonomie, und nur sie, dem Menschen persönliches Leben und Sein gewährleistet, so verbürgt auch nur sie ihm S i t t lichkeit. Denn Sittlichkeit heißt ja nichts anderes als Lebensführung in Harmonie mit dem Grunde des Seins, Ordnung aller Beziehungen zu sich selber und zu den anderen nach dem Prinzip der Innerlichkeit. Alles andere bleibt im Rahmen von Brauch und Sitte und Gesittung, gehört demnach zum Bezirk der Disziplin. Und jedermann weiß, wodurch sich der sittliche Mensch von dem gesitteten und dem formvollendeten Menschen unterscheidet. Mit den Mitteln der Disziplin lassen sich „anhängliche Kinder", „brauchbare Staatsbürger", „treue Söhne und Töchter von Kirchen" formen, die damit unbedingt wertvoll und achtens-



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wert sind. Ja, ich glaube, daß es niemals möglich sein wird, das sittliche Zusammenleben in Menschengemeinschaften ohne die stärkste Pflege der auf Gewohnheit, Übung und Sitte ruhenden sozialen Ordnung zu erhalten. Es sind demnach — um es noch einmal zu sagen — Disziplin und Autonomie in gleicher Weise unentbehrliche Funktionen des geistigen wie des sittlichen Lebens, aber diese selber leben ihrerseits allein aus dem autonomen Bereich des menschlichen Seins. Sooft mithin Brauch, Sitte, Gewohnheiten des Zusammenlebens erschüttert werden, wie es in diesem Jahrhundert geschehen ist, versagen die üblichen Mittel der Disziplin. Dann, wenn es gilt, wieder einmal den Wurzelgrund des Gemeinschaftslebens zu überprüfen, wird die Menschheit stärker auf die autonomen Kräfte zurückgeworfen, deren Pflege sie vernachlässigt hatte. Das ist aber genau die Lage, in welcher sich die sittliche Erziehung in ihrem ganzen Umfange heute in allen Ländern befindet, die irgendwie auf christlicher Kultur aufgebaut sind. Disziplin ohne ständige Regelung und Ernährung aus den Quellen autonomen Lebens führte allüberall zu leeren Formen, zu bloßer Nachahmung oder zu Erstarrung, zu Versteinerungsformen in allen Bereichen der Gemeinschaft wie der Gesellschaft. Umgekehrt bedarf das autonome Schaffen auf allen Gebieten disziplinierender Kräfte zur Gestaltung ihrer Erkenntnisse, Schauungen, Erlebnisse und Ideen. Wo nun die richtige Synthese gewonnen wurde, dort gelangte von jeher Menschenwesen zur reinsten Ausprägung, deswegen waren auch alle Bewegungen, welche die Forderungen der Autonomie erhoben, h u m a n i s t i s c h , und lassen sich Disziplin und Autonomie einander gegenüberstellen wie Rationalismus und Humanismus, wie Regel und Idee. Durch nichts kann unser Problem besser verdeutlicht werden als durch Bezugnahme auf die Lösungsversuche der sittlichen Erziehung im Lichte „Neuer Erziehung"; denn ihre Grundfrage lautet: welches sind die M ö g l i c h k e i t , der U m f a n g und d i e G r e n z e n a u t o n o m e r L e b e n s f ü h r u n g 1 ) ? Sie ist damit durch !) Vgl. auch die Berichte über von mir geleitete Versuche im Sinne „Neuer Erziehung" an der Jenaer Universitätsschule, aus denen die Theorie und Praxis des sog. „Jena-Plans" erwachsen sind: PetersenWolff, Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und



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und durch als Bewegung Humanismus, und zwar bezeichnete ich sie im Unterschiede von früheren Strömungen als „ N a t i o n a l humanismus" 1 ). Theorie und Praxis dieser sittlichen Erziehung betonen bei allen Völkern (es sind heute mehr als 40, unter denen sie aktive Anhänger besitzt) den nationalen Gedanken, aber in einem anderen Sinne als das vergangene Jahrhundert. Dieses hat als Antithese zum Zeitalter der Aufklärung mit seinem Kosmopolitismus einen Nationalegoismus· erzeugt, dessen letzte Auswüchse und Blüten wir erleben müssen. Und es ist heute ebenso wahrscheinlich, daß durch ihn Europas Weltbedeutung völlig vernichtet wird, wie daß es gelingt, ihn in der höheren Synthese des Nationalhumanismus zu veredeln und den alten Erdteil einer neuen Blüte zuzuführen, den „guten Europäer" zu erziehen. Auf jeden Fall sind diejenigen Kräfte am Werk, die diesen neuen Humanismus in die Tat umsetzen, für diese Aufgabe ihr Leben einzusetzen entschlossen und dafür geeint sind. Für alle diese Männer und Frauen steht es fest, daß ein jedes Volk die Grundlagen seiner Bildung und Kultur aus den eigenen Quellen beschaffeai muß, daß es aber damit auch das Allgemeinmenschliche ausbildet, eben in derjenigen Eigentümlichkeit, die jedes Volk innerhalb des Menschheitsganzen charakterisiert, die seinen besonderen Wert, weil seine nur ihm eignende Aufgabe im Völkerleben darstellt. Ganz im Gegensatz aber zum Zeitalter des Nationalegoismus haben zwei beliebte Gebiete, in den Schulen dementsprechend zwei Unterrichtsgebiete, in ihrem Wert für die sittliche Erziehung von Grund auf einer ernsten Revision unterzogen werden müssen: d i e G e s c h i c h t e und die Religion. Es steht noch keineswegs fest, in welchem Grade und in welcher Umformung sie auch für sittliche Erziehung verpflichtet werden können. Das hat kurz folgenden Grund: Lebensgemeinschaftsschule, 1925; P. Petersen, Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule, 2. A. 1929; P. Petersen, Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (Jena-Plan), 2 Bde. 1930. Ferner m. Schrift: Innere Schulreform und Neue Erziehung, 1925, bes. S. 230—293. !) Vgl. m. Schrift: „Innere Schulreform und Neue Erziehung" 1925. S. 71 f., 228f.



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Die christlichen Religionen befinden sich vom Ural bis zum Atlantik in ihreir größten Krisis seit einem Jahrtausend; denn es ist gerade die Frage nach ihrem Werte für die Begründung s i t t l i c h e n Zusammenlebens der Menschen und der Völker an sie gestellt. In diese ungeheure Problematik ist die christliche Religion deswegen hineingeraten, weil die Gesamtheit der christlichen Völker sich heute vor der Weltmenschheit zu verantworten hat; sie steht vor deren Gericht, um sich wegen dreier Taten zu verantworten: der Kolonisation, der Mission und des Weltkrieges. Von der Weltmenschheit her ergeht an die christlichen Völker Europas der Aufruf, zu begründen, zu beweisen, inwieweit denn die Zivilisation der europäischen Völker die höchste sei, wodurch denn eine auf christliche Religion gestützte Sittlichkeit überlegen sei, warum denn die Friedlosigkeit, die Unsicherheit aller Verhältnisse, die Verhetzung der Menschen gegeneinander seit einem Jahrzehnt einen Umfang angenommen haben wie niemals zuvor, und zwar auf der ganzen Welt. Welcher gebildete Europäer, der seine Zeit mitlebt und an seinem kleinen Teile mitformen helfen möchte, empfindet den Druck dieser Fragen nicht in seiner vollen Schwere und oftmals mit Bangen ob des Endes? Sicher erscheint mir, daß wir mit den Zwangsformen des Nationalegoismus nicht weiter kommen, auch die überlieferte Zwangsschule mit ihrer Z w a n g s e t h i k ist in die Krise mithineingezogen. Denn diese von den einzelnen Staaten aus genormte, für ihren Bedarf zurechtgemachte Zwangsethik der Schulen, die die Lehrer zu lehren und einzuüben haben, war die Nachfolgerin der Zwangskonfessionen, die den Staatsbürgern oktroyiert werden konnten. Sie bedarf der Änderung wie nur etwas. In zwei bis drei Jahrzehnten dürfte es in Europa keinen erheblichen Prozentsatz von Analphabeten mehr geben; ein Zurück in die Unwissenheit und Unbildung verbietet das nackteste Lebensinteresse der Völker, die enge Verbindung der Schulbildung mit der modernen Wirtschaft. Deswegen müssen die S t a a t e n anerkennen, daß es keine „einzige" alle Lebensverhältnisse eines Staates umfassende Schulethik mehr geben kann, die irgendwie p a r t e i i s c h e n Charakter trägt. Die c h r i s t l i c h e n B e k e n n t n i s s e aber müssen beweisen, daß die Religion Jesu praktische Gültigkeit be-



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sitzt so als wenn ihr Verkündcr heute seine Wirksamkeit begönne, d. h. sie muB ihre Überlegenheit zur Ordnung menschlichen Gemeinschaftslebens und der Beziehungen zum Göttlichen dartun unter Abstraktion von der Geschichte, den Mythen und Legenden und ihre G e g e n w a r t s k r a f t rein aus der Lehre als solcher erhärten. Ihrer Geschichte gegenüber muß sie den Mut zur Wahrheit in demselben Grade aufbringen wie damals, als sie zur Anerkennung des kopernikanischen Weltsystems überging. Die „Geschichte" ist aus folgenden Gründen in den großen Konflikt hineingeraten, den die sittlichen Erziehungsprobleme überall aufweisen: In dem, was Geschichte genannt wird, zaubert die Erinnerung uns übersteigerte farbenvolle Bilder des Geschehens, menschlicher Handlungen und Schicksale vor. Verschieden je nach der Subjektivität des Historikers, oder der Partei oder der Nation, für die er schreibt oder Geschichte „gemacht" wird, immer also i r g e n d w e l c h e G e g e n w a r t bezieht das Vergangene in bestimmten Ausschnitten und parteiischen Betrachtungen auf sich und die in seiner Gegenwärtigkeit zufälligen Maßstäbe und leitet daraus ein in sich zusammenhängendes Geschehen, bezogen auf diese Gegenwart, ab. Das Thema dieser Betrachtungen ist aber immer das gleiche, nämlich wie sich der Mensch, sei es als Individuum, sei es als Stand und Klasse oder in nationaler Aufteilung, be h auptet hat, und alle diese Selbstbehauptungen sind seine Triumphe. Auch in seinen Niederlagen ist er stets groß; sein Untergang ist „tragisch", dient aber einem neuen „Aufstieg" anderer Mächte und Ideen. So erscheint alles mit Vorliebe innerlich bedingt. Es mußte so kommen. Im Handeln der Persönlichkeiten, der Gruppen, der Völker glaubt man „Ziele" zu erkennen, und darum auch wähnt man, daraus für die Gegenwart oder ein künftiges Geschehen „Wahrheiten" ableiten zu können. Allein dadurch verfärbt man sich fortgesetzt die Gegenwart, und also gerade den Raum, die Zeit und den unmittelbaren Anlaß und Aufruf auch zum sitt 1 ichenHandeln 1 ). Verdeckt sich verhängnisvoll auch das Meiste, oft, ja in der Regel, das BeVgl. zur Vertiefung das bedeutendste Werk des 20. Jahrhunderts zur Ethik: Eberhard Grisebach, Gegenwart. Eine kritische Ethik. 1928.



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deutendste von dem, was man in die Zukunft hinein planen und mit gewisser Aussicht auf Erfolg heute schon in Angriff nehmen könnte. Wer als wissenschaftlich gebildeter, gar als historisch vorgebildeter Mensch zu einer fachmännischen Kritik befähigt ist und so vorurteilsfrei wie nur möglich die Zeitungen und Streitschriften der Völker, die Begründungen moderner Parteiprogramme aufmerksam durchliest, der muß entsetzt sein und immer erneut sich grauen vor so viel Unbildung, Unwahrhaftigkeit, Lüge und daraus sich ergebender Unduldsamkeit. Die V e r f ä l s c h u n g des G e g e n w a r t s l e b e n s hat unter den c h r i s t l i c h e n Völkern e i n e n G r a d e r r e i c h t , w i e i h n s o g . g e s c h i c h t s l o s e oder p r i mitive Völker nicht kennen und nie g e k a n n t haben. Deswegen zerstören wir uns immer schon heute auch die Möglichkeit einer aussichtsreichen Fürsorge für morgen; wir verstärken die an sich schon gegebene Unsicherheit des Wissens um den morgenden Tag. Auf schwankenden Wagschalen lag immer alles, und mühsam bleibt der Weg in die Zukunft hinein in allen seinen Teilen. Allein, er muß täglich neu in und an der Gegenwart gewonnen, vorbereitet werden. Vor dieser Aufgabe, welche in ihrer Gegenwartshärte Tag für Tag dem Menschen aufgibt, flüchtete sich der gebildete Mensch des vergehenden Jahrhunderts in die Geschichte, schuf sich bunte Gemälde von Kultur und Bildung, sich zu begeistern, allzu oft, um sich selbst zu bewundern, zu vergöttern. Aus solchen Kultur-Bilderbüchern wollte man dann dem aufwachsenden Geschlecht, dem ewig geschichtslosen, Lebenswahrheiten und Lebensziele für die sittliche Haltung in der Gegenwart ableiten und begründen, der jungen Generation, die jederzeit bereit antritt, einen neuen Anfang zu machen, ein neuer Tag zu schönerer Fahrt ins Land der Zukunft zu sein. Das hat zu jener „Verkehrtheit" des Blicks geführt, nicht nur in der Jugenderziehung, sondern überhaupt im Leben der letzten Generationen, wie sie Rainer Maria Rilke in der achten Du ineser Elegie schildert 1 ), deren Anfang und Schluß lauten: Auf diese Elegie wurde ich hingewiesen durch die Arbeit meines Schülers Helmut Schrank, die den Erziehungsgedanken im Schrifttum Rilkes nachgeht.



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Mit allen Äugen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsre Äugen sind wie umgekehrt und ganz um sie gestellt als Fallen, rings um ihren freien Äusgang. Was draußen ist, wir Wissens aus des Tiers Antlitz allein; denn schon das frühe Kind wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts Gestaltung sehe, nicht das Offne, das im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod. Ihn sehen wir allein; das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts in Ewigkeit, so wie die Blumen gehen. Wir haben nie, nicht einen einzgen Tag, den reinen Raum vor uns, in den die Blumen unendlich aufgehn. Immer ist es Welt und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine, Unüberwachte, das man atmet und unendlich w e i ß und nicht begehrt.

Und wir, Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. Wer hat uns also umgedreht, daß wir, was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht? Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt —, so leben wir und nehmen immer Abschied. Wenn für uns also einzig und allein die Gegenwart der Raum und das Gefäß für die sittlichen Aufgaben, das sittliche Handeln und seine Problematik ist, so besitzt alle Ethik einen unendlichen Gegenstand und hat aus dem Charakter dieser Unendlichkeit, dieser Unausschöpfbarkeit, alle Folgen zu ziehen. Oer Mannigfaltigkeit dieses echten und allein wahren Gegen-



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standes der Sittlichkeit, der Gegenwart, kann keine sog. „Allgemeine Ethik" gerecht werden, ebensowenig kann es eine für a l l e passende Geschichte geben; denn diese wird von jeder Gegenwart aus neu gesehen, und jene wird sich zum konkreten Geschehen verhalten, wie sich eben ein Buch zum Lebendigen verhält. Als für alle verbindliche Lehrbücher hergestellt, zum Zwecke einer sittlichen Disziplinierung wenigstens im Umfang der Lehrbuchregeln und -meinungen, würden sie den Charakter einer solchen Allgemeinheit annehmen, daß. die gegenwärtigen Aufgaben vor ihr entweder verdunkeln oder verdunsten. Theorie und Praxis „Neuer Erziehung" sehen keinen anderen Weg zur bewußten aktiven Teilnahme an der sittlichen Erziehung als den, die Gegenwart selber in ihrer ganzen Fragehaltigkeit, und zwar immer in gerade der örtlichen, menschlichen und nationalen Prägung, die die zur Aufgabe sittlicher Erziehung gewordene Gemeinschaft enthält, zum Material dieser Erziehungsarbeit zu machen. Dabei sind aber alle Verfälschungen aus anderen Gebieten wie Geschichte, Politik, Wirtschaftsleben fernzufoalten, um vorgreifend-disziplinierende Kräfte auszuschalten. Sie vertritt mithin die A u t o n o m i e der s i t t l i c h e n E r z i e h u n g , ja der Ordnung des gesamten Gemeinschaftslebens, auch der Jugend in Schulen aller Art. Sie verwirft infolgedessen Selbstverwaltung (selfgovernment) in allen solchen Formen, welche das Vereinsleben oder die parlamentarischen Formen der Erwachsenenwelt nachahmen; sie lehnt es ab, Kinder und Jugendliche Gericht spielen zu lassen; aus demselben Grunde ist sie gegen staatlich subventioniertes oder irgendwie politisch in Dienst genommenes Pfadfindertum. In vielen Schulgemeinden ist es die frei entscheidende und an der Ordnung ihres Zusammenlebens frei aktiv sich beteiligende Jugend selber gewesen, welche die Lächerlichkeit, innere Unwahrheit und im letzten Grunde doch auch die Zwecklosigkeit dieser Formen erkannt und sie darum abgelehnt hat. Es sollen sich vielmehr die Ideen der Ordnung, des Rechtes, der Hilfsbereitschaft und der Menschlichkeit rein als solche, demnach als autonome Triebkräfte, als Grundideen zur Formung menschlicher Gemeinschaft erweisen. Ob das der Fall ist und inwieweit sie dazu imstande sind, das ist es wiederum,



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was die Praxis der sittlichen Erziehung nach den Grundsätzen „Neuer Erziehung" zu erproben unternimmt. Denn wie bereits gesagt, die Möglichkeit, der Umfang und die Grenzen autonomer Lebensführung von Einzelmenschen wie von Gemeinschaften, das bildet ihr Zentralproblem. Wie stellt sich nun in der Verwirklichung neuer Erziehungsformen im Sinne der ausgeglichenen Mitte unser Problem Disziplin und Autonomie in der Erziehung der J u g e n d dar? Die D i s z i p l i n hat sich mit folgenden allgemeinsten Bindungen und Voraussetzungen jugendlicher Entwicklung überhaupt auseinanderzusetzen: Einerlei ob Schule oder Internat, das Jugendleben wird heute in allen zivilisierten Ländern durch Schul- und Erziehungsgesetze geordnet und die Jugend dadurch für die Zwecke sozialer Erziehung in besonderen Räumen und Häusern zwangsweise versammelt. Die Durchführung dieser sozialen Aufgabe ist im stärksten Maße abhängig von den wirtschaftlichen und kulturpolitischen Machtgruppen des betr. Volkes. Der Rahmen dieser Bedingungen und weiterhin die Beschränkungen, welche der Raum und die Zahl der zur Verfügung stehenden erwachsenen Erzieher, sowie deren Ausbildung auferlegen, enthalten zusammen das, was ich hier die „ A u t o r i t ä t der I n s t i t u t i o n e n " nennen möchte. Sie bilden den äußersten Ring der Öffentlichkeit und Weltlichkeit, der alle sittliche Jugeederziehung eines Volkes einschließt. Den nächstliegenden inneren Ring stellen alle diejenigen Forderungen dar, welche Menschengruppen, die gemeinsam zu bestimmten Arbeitsleistungen verpflichtet sind, erfüllen müssen, um überhaupt zu Leistungen zu kommen, wie Ordnung, Pünktlichkeit, Sorgfalt in der Behandlung der Arbeitsmittel, Fleiß, Ausdauer, Aufmerksamkeit, Konzentration usw. Das ist die „ A u t o r i t ä t der Arb e i t s b e d i n g u n g e n " , die sich wohl oder übel erhebt und Tag für Tag eine harte und vernehmliche Sprache redet. Die Autorität der Institutionen und diejenige der Arbeitsbedingungen enthalten für jede Erziehungsgemeinschaft einen Zwang, dem sich jedes normale Kind einfügen läßt und dem sich nur von Natur asoziale und psgchopathische Menschen auf die Dauer und immer von neuem zu entwinden suchen.



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Zu diesen begrenzenden Mächten fügen nun alle Schulen Neuer Erziehung die Verpflichtung zum Umgangs- und Verkehrston der guten Gesellschaft, in den Einzelheiten örtlich wie national recht verschieden 1 ). Hier könnte jemand fragen, ob dann noch ein Recht bestehe, von Autonomie zu reden. Auf solche Frage wäre zweierlei zu antworten: 1. sie dürfte einen falschen Begriff von Autonomie verwenden. Denn die drei bisher aufgezeigten Grenzen sind diejenigen, welche für alle Menschen immer und überall gegolten haben und gelten werden, solange wir nicht eine staatenlose Gesellschaft im Sinne des Edelanarchismus oder das Paradies auf Erden haben. Es wäre darum genau so, als behaupte einer, um ein sittliches Leben zu führen, müsse der Mensch unter ganz bestimmten wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen leben, sonst könne das von ihm nicht erwartet werden, was jeder als irrig erkennt. Ebensowenig kann es Sittlichkeit verhindern oder wesentlich hemmen, wenn ein Mensch in einer Gesellschaftsgruppe genötigt wird, bestimmte, an sich keiner Sittlichkeit widersprechende Regeln des Anstandes beim Gruße, beim Essen usw. einzuhalten. 2. Eher könnte jene Frage meinen, es handle sich hier doch „nur" um A b r i c h t u n g . Dazu wurde bereits bemerkt, daß man sich in der Tat eine Darstellung sittlichen Lebens in einem Menschen, der das Leben ohne die Hilfsmittel der Abrichtung zu beherrschen vermöchte, nur als eine seltene Ausnahme denken könnte. In der individualen Entwicklung jedes Kindes wird sie stets eine Rolle spielen, und so hat auch eine Lebens- und Schulreformerin wie Ellen Key verlangt, ein Kind solle an Brauch und Sitte seines Familienkreises schon vor dem zweiten Lebensjahre gewöhnt sein, eine Forderung, die doch nur auf dem Wege der Abrichtung erfüllt werden und übrigens nicht ernst genug wiederholt werden kann. Allein, alles dieses kann außerdem in den Schulen und Heimen neuer Gesinnung nicht zur Hemmung Zu diesem Absätze vgl. m. Ausführungen über „ Z w a n g und Autonomie in der sittlichen Erziehung" in „Cinquieme Congres Internationa! d'Education Morale (Paris 1930)", Vol. I. Paris, 1930. S. 86 bis 109.



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des sittlichen Lebens werden, weil es überall selbstverständlich ist, daß es zur freien Diskussion gestellt wird. Es sind nicht starr gegebene Formen, sondern entsprechend dem Lebensalter und der erwachten Einsicht werden sie der freien Kritik unterworfen, und auch hier wird das Bessere des Guten Feind. Bewundernswert aber ist es zu sehen, wie früh bereits das Kind zur geistigen autonomen Auseinandersetzung mit diesen Fragen imstande ist. J o h a n n e s R o ß b a c h 1 ) hat das Kind in seinem Heime als Führer auf dem sittlichen Gebiete erkannt und ist ihm gefolgt. Das Kind braucht ja alle die Rücksichten nicht zu nehmen, die die Umwelt später vom Erwachsenen fordert; es ist radikal gut und äußert sich auch radikal. Das Gleiche bezeugen Lehrer aller neuen Schulen, die dem Kinde die Möglichkeit einer freien "sittlichen Entfaltung geben wollen. Es beginnt schon vom ersten Schuljahre an die geistige Verarbeitung, d. h. die Stellungnahme von innen her, bei einer großen Anzahl der Kinder. Die Lage, in der sie sich befinden, in allen ihren Möglichkeiten und Grenzen, also die G e g e n w a r t in i h r e r vollen k o n k r e t e n G e s t a l t , wird somit dasjenige, mit dem eine aut o n o m e Auseinandersetzung und die Bildung des wahrhaft sittlichen Willens anheben. Es ist die Alltäglichkeit selbst mit ihren unendlichen und so vielfach wechselnden Aufgaben, die ständig in den Bereich autonomer Beurteilung rückt und auf das Selbst in seinem eigentlichen Sinne bezogen wird. So entsteht die e c h t e D i s z i p l i n und formt sich der Mensch d e r r e c h t e n Z u c h t . Die Widerstände des Lebens, sowie das, was Abrichtung und Dressur war, wird auf den Sinn des Selbst bezogen bejaht, gewollt und damit Teil des persönlichen Seins. Verstehen aber nicht alle Völker unter dem disziplinierten Menschen den, der sich als ein geistiges Wesen über die Alltäglichkeit, die Zwangslagen seines, wie allen menschlichen Lebens erhebt, sowie in Umgang und Verkehr sich in Zucht hat, Disziplin zu wahren versteht? Eben daran erkennen wir wieder, daß Disziplin eine geistig-sittliche Leistung des Menschen ist und nur dem Menschen zu» kommen kann. !) In seinem Landerziehungsheim Egelundhus auf der Insel Seeland. P e t e r s e n , Erziehungswissenschaft.

II.

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Seit den Anfängen der neuen Erziehungsbewegung wird allerorten von „dem schöpferischen Kinde" geredet, seine Leistungen auf sprachlichen, dramatischen, besonders auf allen künstlerischen Gebieten werden oft bis zur Übertreibung gepriesen. Wer nun denjenigen Gegenstand untersucht, an dem allein das schöpferische Vermögen der sittlichen Kräfte erscheinen kann, also das tägliche Gemeinschaftsleben, und wer dabei prüft, in welchem Umfange es an sittlichen Lebensäußerungen der Kinder reich ist, in welchem Grade es selbst ais Ganzes, als das Leben dieser bestimmten Schulgemeinde, dieses Heimes sittlich ist, der wird mit derselben Sicherheit wie etwa auf künstlerischem Gebiete die schöpferischen Fähigkeiten der Kinder auf dem sittlichen Gebiete feststellen. Es gilt nur, in dieses Gruppenleben der Schulen und Heime so viele Lebenslagen und -aufgaben hineinzunehmen wie irgend möglich. Man verwandle die alte Schulklasse in eine „Schulwohnstube", übergebe den Kindern die gesamte Ordnung, Gestaltung und Erhaltung des Raumes, der Schule, soweit möglich, und es geht beträchtlich viel weiter, als immer noch angenommen wird; man bereichere das Zusammenleben durch von den Kindern gestaltete Feste und Feiern; ζ. B. die Feier sämtlicher Geburtstage enthüllt einen Schatz an Gemüt und Innerlichkeit, an menschlich edelsten Zügen; gestatte die Pflege von Freundschaften und Kameradschaften zwischen den Kindern, und zwar als anerkannte, ihrerseits wieder in den Dienst des Schullebens, auch seines Arbeitslebens gestellte, und halte bei allem immer auf Echtheit, bekämpfe, verhindere alles, was Pose, was Äußerlichkeit, innere Unredlichkeit ist. Denn die erste Probe ist auch hier die auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, genau wie im Künstlerischen, wo auch das, was Nachahmung, was nur übernommen ist oder mit fremder Hilfe vollendet wurde, wertlos genannt wird. Das bedeutet für die P r a x i s sittlicher Erziehung in Schulen und Heimen u. a. das Zurücktreten des W o r t e s . Nichts ist gefährlicher als ein in früheren Jahrzehnten viel gepriesenes Mittel: das Bereden, das Belehren, das Moralisieren. Nur zu gern bedient sich der Mensch des Wortes im „verhandelnden Selbstgespräch", so auch in Menschengruppen, und es beginnt



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das Zerreden, eines der gefährlichsten Mittel, um die Stimme des Gewissens, den Anruf des wahren Selbst aus seiner Tiefe zu übertönen. Nein, sorgsam wache der erwachsene Erzieher inmitten der Jugendlichen, daß dieser Ruf aus dem Innersten des Menschen — im eigenen Innern wie in jedem seiner jungen Freunde — rein vernommen werde, daß er nie von äußerlichen Dingen zugedeckt werde, sondern daß der Mensch sich vor sich selber in Taten kläre, nicht in einem „Maulbrauchen", sondern im „schöpferischen Lebensdienst" der Tat an sich und den Brüdern.

§ 15. Macht und Zwang. Nach K a n t s Ausführungen in der Schrift „Vom ewigen Frieden" ist der Zwang notwendig wegen des Bösartigen in der menschlichen Natur 1 ). Aller Zwang ist abwehrend, eindämmend, verengend, unterdrückend, kurz freiheitbegrenzend. Kann ein Mensch gegen den andern, in pädagogischer Einstellung, Zwang verantworten? Ja. Dort, wo es sich um körperlich wie seelisch mißratene Menschen handelt, also um Menschenkinder, die von der Geburt an oder durch Krankheit oder durch soziale MLßstände soweit zerstört sind, daß ein geistiges Leben in ihnen unmöglich zu erwarten ist; alsdann darf der Zwang angewendet werden. Er muß angewendet werden aus leicht ersichtlichen Gründen. Zugleich ist aber das die Stelle, wo die Erziehungswissenschaft zurücktritt und ihre Rechte an andere Wissenschaften übergibt, an die Psychopathologie, an das Strafrecht. Sie besagt damit zugleich, daß Z w a n g kein E r z i e h u n g s m i t t e l ist. Dasselbe gilt von der S t r a f e . Über Strafen hat ebenfalls der holländische Pädagoge J a n L i g t h a r t das Treffendste geschrieben 8 ). „Ziehe ich mein eigenes Leben zu Rate — und darin haben wir meistens unser bestes Pädagogikbuch —, dann haben Μ Ä. Ä. VIII. S. 381. — S. oben S. 208 Änra. ) Ausgewählte Pädagogische Aufsätze, Weimar, 1931. S. lOOf. 14*

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die Strafen mich n i e m a l s zur Abkehr vom Bösen gebracht, aber wohl zu kurzfristiger und manchmal sogar langandauernder Abneigung gegen den Strafenden. Doch können wir die Strafen nicht entbehren, aber dann sollten sie einen andern Namen tragen, in Ubereinstimmung mit dem Dienst, den sie tun. In jedem kleineren oder größeren Zusammenleben hat man die ungebundenen Naturen, die sich nicht nach den Forderungen des Ganzen oder den Rechten von ihresgleichen richten wollen, und gegenüber ihrer Anmaßung müssen wir uns selbst und die Gesellschaft beschützen durch Z w a n g s m a ß regeln. Willst du nicht, dann werde ich dich zwingen. Diese Zwangsmaßregeln haben jedoch keinen erziehenden, wohl aber einen regelnden und bildenden, einen dressierenden Charakter. Das Individuum wird dadurch in eine bestimmte Form geknetet, zu einem bestimmten Handeln dressiert, und dadurch wird es wohl brauchbarer und so praktisch besser, aber nicht moralisch besser. So wenig wie wir die Moral eines Μaschinenrades loben können, das genau in die Zähne eines anderen Rades greift und so mitwirkt zu einem untadelhaften Lauf der ganzen Maschine, so wenig können wir Sittlichkeit ehren in der unter dem Druck von Zwangsmaßregeln hervorgebrachten Bravheit." Die Strafe gehört, und wie sie, so auch das System der Belohnungen, in die Systeme der „Züchtung" und der „Unterdrückung". Diese Äbrichtungsfunktionen aber sind „erziehungsfeindlich", dürfen demnach nur dort zugelassen werden, wo zwischen dem Erzieher und seinem Objekte eine unmittelbare Verständigung nicht möglich ist, also nur der Weg „unorganischer" Einwirkung gangbar ist 1 ).. Ganz anders steht es mit dem, was ich innerhalb der Führung Macht nenne, die Macht, die von einem Menschen auf den anderen ausgeübt wird und von der immer die Rede sein muß zwischen Erzieher und Zögling, eine Macht, ohne welche niemand Führer sein kann noch es jemals war. Am Beispiele des „Schulzwanges" können wir uns verdeutlichen, was gemeint ist. Vgl. den Aufsatz von Egon Weigl im „Pädagogischen Zentralblatt", 1926, S. 456.



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Werden die Kinder nur mit Hilfe des Schulzwanges, also, weil es gesetzlich gefordert ist, gezwungen, in der Schule zu erscheinen, so kann eine befreiende, eine geistige Wirkung niemals von einer solchen Schule ausgehen; die Kinder, die in diese Schule gehen, mögen so tüchtig, so wertvoll sein, wie sie wollen. Der Zwang kann, um es hier einzuschieben, durchaus vorbereitender Natur sein; er kann einen Rahmen schaffen, in dem dann das Geistesleben, die geistige Gemeinschaft sich entwickeln kann. Die Frage aber, wie der S t a a t sich zum Zwang verhält, erörtere ich hier nicht 1 ), sondern welche Bedeutung Zwang hat als erzieherische Einwirkung. Dann ist er abzulehnen, denn Zwang treibt den Menschen in sich selbst zurück und läßt ihn sich dem anderen verschließen. Wo Kinder mit Zwang lernen müssen, dort wird der Erzieher stets draußen vor den Toren ihrer Herzen sein und niemals Eingang finden, niemals in des Kindes Gemüt eindringen, in die innere Welt des jugendlichen Menschen. Es bleibt das Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling im besten Falle korrekt, aber immer so: „Hier bin ich, und dort bist du." Die menschliche Gemeinschaft spielt nicht zwischen ihnen. Es fehlt eine direkte Leitungsbahn für geistiges Leben von Mensch zu Mensch. Ganz anders steht es mit jener rechten erzieherischen Macht, die in aller Führung eingeschlossen ist. D i e s e Macht, die in jeder Schule vorhanden sein muß, hat nichts an sich von der zwingenden Kraft des kühlen Gesetzes. Es ist die im Erwachsenen als dem reiferen Menschen ruhende, von ihm ausgehende Macht, und diese schafft zugleich zwischen dem Erzieher und dem Zögling die unbedingt erforderliche und wichtige D i s t a n z ; denn rechte Führung ist ohne solche Distanz unmöglich. Die Art dieser Distanz genau zu beschreiben, sie zu lehren, ist unmöglich2). Es kann jemand auf Du und Du mit allen Kindern stehen, und jene Distanz ist da. Es kann ein *) S. Allgemeine Erziehungswissenschaft, I. S. 172ff. ) Vgl. P e t e r s e n , Innere Schulreform und Neue Erziehung, 1925, S. 237ff., wo die Stellung des Erwachsenen in der Schülergruppe behandelt wird. 2



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Hauptmann der Reserve dastehen in der Schule, und es ist doch alles fa,ul, keine Autorität, nichts als entweder gewaltsamer Friede oder albernes Treiben. Das Verhältnis, das ich hier meine, ist das des F ü h r e r s zu s e i n e m G e f o l g e . Überall in den neuen Gemeinschaftsschulen sehen wir dieses Verhältnis sich dort entwicklen, wo die richtige Form gewonnen ist. Wir sehen hier unter neuen Bindungen die Forderung der Treue zwischen Kind und Gruppenführer wieder auftreten. Wir sehen, wie in diesen Verhältnissen der Lehrer dann durchaus schärfste und straffste Forderungen stellen kann, und sie werden geleistet aus der Kraft dieses Treueverhältnisses zwischen dem Schüler und dem Lehrer. Warum? Weil ein Lehrer, der als wahrer Führer in der Gruppe steht, von jedem Kinde in der Gruppe, wenn er etwas verlangt, als „Autorität in Funktion" empfunden wird. Und wir alle haben dafür ein feines Gefühl, ob ein autoritatives Verhalten, das sich uns gegenüber äußert, in Funktion uns gegenüber ist oder nur zwingende, vergewaltigende Äußerung eines Menschen gegen uns. Jeder noch nicht reife Mensch verlangt aber nach einer Macht, unte r die er sich stellen kann. Jedes Menschenkind sucht um seiner eigenen geistigen Befreiung willen, also aus innerlichstem Bedürfnis heraus, d i e s e Macht eines anderen Menschen. Es will und muß s e i n e Kraft daran messen, um sich aufzurecken, auf einen scharfen Widerstand stoßen, und es ist im Grunde nur beruhigt, wenn es dann eine Harmonie zwischen dieser Macht und sich selbst und seinen Kräften hergestellt hat. Das Kind wächst, und so wird eine erzielte Harmonie zwischen Kind und Lehrer nie ungestört bleiben, weil dem Kinde eben immer neue Kräfte zuströmen von Jahr zu Jahr. In diesem geistigen Kampf der Kräfte, die der Heranwachsende hat und die der Erwachsene, der reife Führer, von sich ausstrahlt, geht es nun stets um neuen Ausgleich. Denn den braucht das Kind, um das Gefühl der Ruhe und Sicherheit zu gewinnen, ohne daß selbstverständlich das Kind und noch auf lange hinaus der Jugendliche ein Bewußtsein davon haben, daß dieser Rhythmus von Ringen um Geltung und friedvollen Ausgleich der geistigen Gegenkräfte die treibende Kraft in ihrer geistigen Selbsterziehung ist.

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Daher darf nun vom Führer aus, vom E r z i e h e r a u s , diese Ruhe niemals unbedacht gestört werden. Von ihm aus gesehen, als von dem Reifen, der die Einsicht hat, muß es immer so sein, als ob diese Harmonie, das gegenseitige Machtverhältnis, ungetrübt sei; das g e g e n s e i t i g e ! Die Jugend will — und darf mit Recht fordern, daß der Führer auch die von ihr ausgehende Macht anerkennt. Darum spielt sie oft — absichtlich oder unabsichtlich — ihre Macht auf, im reiferen Älter oft bewußt herausfordernd. Kein Mensch ist glücklich und kann es sein, wenn in ihm nichts wäre, das andere seiner Macht unterwürfe; auch kein Kind. Es muß in seiner Gruppe fühlen, daß es Glied ist, notwendiges Glied, es will aber auch s e i n e Kraft den geistigen Führer in der Gruppe fühlen lassen. W o das nicht der Fall ist, dort entstehen, wie das von der Individualpsychologie mit Recht geschildert wird, wenn auch so oft übertrieben, sogenannte Minderwertigkeitsgefühle, die alles geistige Leben in der Wurzel zerstören. — Wir sagten früher, daß alle erzieherische, alle befreiende, den Menschen vergeistigende Macht aus zwei Quellen gespeist werde. Einmal aus dem Urverhältnis des Menschen zum Menschen, wonach der eine die Bedingung ist für die Entwicklung des anderen, und sodann durch die Macht, welche vom Reiche der Werte ausgeht; und von daher hat der rechte Führer ja seine erzieherische Haltung gewonnen, hat er die Verantwortlichkeit für die planvolle Führung von Menschenkindern verstanden. Damit ist weiter gesagt, daß alle P ä d a g o g i e von begrenzter Zeitdauer ist, daiß es ihr Ziel sein muß, sich selbst unnötig zu machen. A r i s t o t e l e s s a g t im 10. Buche der „Nikomachischen Ethik", das Beste für den Staatsmann sei, die Fähigkeit zu erwerben, Gesetze zu geben. Das Beste für den Pädagogen, so können wir fortfahren, — die beste Führung ist diejenige, in welcher der Erzieher die Fähigkeit besitzt, Menschenkinder anzuleiten, sich selber Gesetze zu geben und sich selbst den besten Gesetzen unterzuordnen, um so zur Autonomie zu gelangen. Dann gelingt es, das Verhältnis zum Führer in das zu einem Freunde zu verwandeln, und ist auch durah die Führung das



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Zuchtproblem in seinem vollen Umfange gelöst. Der als Kind so geführte und freigewordene Mensch ist der Mensch der rechten Zucht geiworden. Dieser freie Mensch ist dann in allem reiner Ausdruck seines Wesens: seiner Vitalität und seiner Geistigkeit, aber in gehaltener Form, in Zucht, ein wahrhaft freier Mensch. Sobald das Menschenkind auf dem Wege ist, aus sich selbst zu reifen, und seinen Stil, seinen Charakter schärfer erkennen läßt, also vom Ende des zweiten Lebens jahrzehntes an, bedarf es der Führung im Sinne der P ä d a g o g i e nicht mehr, sondern es setzt sich selbständiger mit den geistigen Mächten auseinander. Wo die Führung soweit helfen konnte, und innerhalb unserer deutschen Kultur hoffentlich auch bald allen helfen darf, dort hat sie ihre Pflicht erfüllt. Der Führer ist in seinem Verantwortlichkeitsgefühl entlastet; er darf sich sagen, daß er die praktische Äpcwie der Erziehung gelöst hat, sie im Leben und in den Taten seines Zöglings gelöst sieht, auch dank seiner Führung.

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