Alfred Döblin: Erzählkunst im Umbruch [Reprint 2015 ed.] 9783110862416, 9783110103397


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German Pages 433 [436] Year 1985

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Table of contents :
Ausgaben und Abkürzungen
Einleitung
Das Stiftsfräulein und der Tod
Die Tänzerin und der Leib
Astralia
Die Ermordung einer Butterblume
Die Segelfahrt
Die Nachtwandlerin
Der Kaplan
Das Krokodil
Die drei Sprünge des Wang-lun
Döblins chinesischer Roman
Handeln und Nichthandeln
Die drei Sprünge
Wallenstein
Döblins »historischer« Roman
Der Friedländer
Ferdinand der Zweite
Manas
Döblins »indisches Epos«
Die Hadesfahrt
Berlin Alexanderplatz
Manas auf berlinisch
Uneigentliches Dasein
Das neue Ich
Die Entscheidung des Lesers
Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall Stilpluralität
Tragikomödie des Exils
Amazonas
Die Unbehausten
Die Jesuitensiedlungen
Nov-18
Chronologie
Ende und Anfang
Die Sprache als Modell der Temporalität
Die Suche nach dem Ich
Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende
Künstlerisches Heilverfahren
Traumgestalt und Tierwesen
Dionysos, der Maskengott
Nachwort
Personenregister
Sachregister
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Alfred Döblin: Erzählkunst im Umbruch [Reprint 2015 ed.]
 9783110862416, 9783110103397

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Erwin Kobel Alfred Döblin

w DE

G

Erwin Kobel

Alfred Döblin Erzählkunst im Umbruch

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1985

Verschiedene Aspekte der vorliegenden Arbeit sind seit 1970 in Übungen und Vorlesungen an der Universität Zürich herausgearbeitet worden. Der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich danke ich für die Gewährung eines Semesterurlaubs. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für das großzügige Stipendium. Druckfertig geworden ist das Manuskript freilich nur dank der vielseitigen Mithilfe meiner Frau.

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Kobel, Erwin: Alfred Döblin : Erzählkunst im Umbruch / Erwin Kobel. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. ISBN 3-11-010339-7

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei - pH 7, neutral)

©

Copyright 1985 by Walter de Gruyter Sc Co., Berlin 30. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Meinen Töchtern Barbara und Elisabeth

Inhalt Ausgaben und Abkürzungen Einleitung

IX 1

Das Stiftsfräulein und der Tod Die Tänzerin und der Leib Astraila Die Ermordung einer Butterblume Die Segelfahrt Die Nachtwandlerin Der Kaplan Das Krokodil

7 22 35 47 78 95 113 132

Die drei Sprünge des Wang-lun Döblins chinesischer Roman Handeln und Nichthandeln Die drei Sprünge

147 160 173

Wallenstein Döblins »historischer« Roman Der Friedländer Ferdinand der Zweite

189 198 206

Manas Döblins »indisches Epos« Die Hadesfahrt

223 231

Berlin Alexanderplatz Manas auf berlinisch Uneigentliches Dasein Das neue Ich Die Entscheidung des Lesers

251 259 269 278

Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall Stilpluralität Tragikomödie des Exils

289 301 VII

Amazonas Die Unbehausten Die Jesuitensiedlungen

312 322

November 1918 Chronologie Ende und Anfang Die Sprache als Modell der Temporalität Die Suche nach dem Ich

336 342 350 358

Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende Künstlerisches Heilverfahren Traumgestalt und Tierwesen Dionysos, der Maskengott

368 377 389

Nachwort

403

Personenregister

407

Sachregister

414

VIII

Ausgaben und Abkürzungen Wir zitieren Döblin nach der Ausgabe »Ausgewählte Werke in Einzelbänden«, in Verbindung mit den Söhnen des Dichters herausgegeben von Walter Muschg, weitergeführt von Heinz Graber, Edgar Pässler und Anthony W. Riley. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, 1960 ff. A AL AS

Amazonas, 1963 Aufsätze zur Literatur, 1963 Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, Jubiläums-Sonderausgabe zum hundertsten Geburtstag des Dichters, 1977 Β Briefe, 1970 BA Berlin Alexanderplatz, Die Geschichte vom Franz Biberkopf, 1961 BMG Berge Meere und Giganten, 1977 BW Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall, 1962 DM Der deutsche Maskenball (von Linke Poot) / Wissen und Verändern!, 1972 E Erzählungen aus fünf Jahrzehnten, 1979 Η Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, 1966 JR Jagende Rosse / Der schwarze Vorhang und andere frühe Erzählwerke, 1981 M Manas, Epische Dichtung, 1961 O Der Oberst und der Dichter oder Das menschliche Herz / Die Pilgerin Aetheria, 1978 Ρ Pardon wird nicht gegeben, 2. Α., 1962 PG Schriften zur Politik und Gesellschaft, 1972 RP Reise in Polen, 1968 SW Die drei Sprünge des Wang-lun, Chinesischer Roman, 1960 UD Unser Dasein, 1964 UM Der unsterbliche Mensch (Ein Religionsgespräch) / Der Kampf mit dem Engel (Religionsgespräch), 1980 IX

W WK

Wallenstein, 1965 Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine, 1982

Andere Ausgaben: FG FS GK IN KM

Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, Frankfurt a. M. 1971 Flucht und Sammlung des Judenvolks, Hildesheim 1977 Gespräche mit Kalypso, Über die Musik, Ölten 1980 Das Ich über der Natur, Berlin 1927 Ein Kerl muß eine Meinung haben, Berichte und Kritiken 1921 - 1 9 2 4 , Ölten 1976

Ν I Ν II Ν III Ν IV

November 1918, Eine deutsche Revolution, 4 Bände, München 1978 Bürger und Soldaten Verratenes Volk Heimkehr der Fronttruppen Karl und Rosa

NU Ζ

Der neue Urwald, Hildesheim 1977 Die Zeitlupe, Kleine Prosa, Ölten 1962

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Einleitung

Es ist nicht möglich, Döblins Dichtungen besser zu loben, als es getan worden ist, nämlich von jenen, die loben können, ohne sich damit über das Belobigte hinauszuheben: von den Dichtern. Für Kafka, Musil oder Loerke waren sie sogleich Anlaß, aufmerksam zu werden und auf sie aufmerksam zu machen. Was ihnen auffiel und sie bewegte, hat, gleichsam stellvertretend, Thomas Mann in einer der schönsten Würdigungen formuliert, nämlich in seinem Brief zu Döblins 65. Geburtstag: »Auch mir ist die Gelegenheit lieb und festlich willkommen, Ihnen alle Bewunderung meines Herzens auszudrücken für soviel Kühnes, Neues, Belebendes, Vorwärtsführendes, womit Sie die deutsche dichterische Prosa beschenkt haben.« 1 Daß von einem solchen Dichter vielseitige Anregungen ausgehen, sei mit zwei bekannten Beispielen belegt. Bertolt Brecht erklärt: »von döblin habe ich mehr als von jemand anderm über das wesen des epischen erfahren, seine epik und sogar seine theorie über epik hat meine dramatik stark beeinflußt.« 2 Und Günter Grass — um einen Dichter der jüngern Generation zu Wort kommen zu lassen — bezeichnet sich als Schüler und Nachfolger Döblins, er betont, daß er sich das eigene Schaffen ohne die futuristische Komponente in den Werken seines Lehrers nicht vorstellen könne. 3 Trotzdem ist Döblin ein zu wenig und schlecht gekannter Dichter geblieben, von dem man allenfalls »Berlin Alexanderplatz« zur Kenntnis genommen hat. Auf die Jahre der Verfemung folgte die Ignorierung. Er

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3

Thomas Mann, Altes und Neues, Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 1953, S. 778 f. Bertolt Brecht, Zu Döblins 65. Geburtstag, Typoskript, in: Jochen Meyer, Katalog zur Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum »Alfred Döblin 1878 · 1978«, Marbach a. N. 1978, S. 294. — Der Zusammenhang zwischen Brechts Dramen und der Epik Döblins ist dargestellt bei Otto Keller, Brecht und der moderne Roman, Bern 1975. — Vgl. dazu auch Viktor Zmegac, Alfred Döblins Poetik des Romans, in: Deutsche Romantheorien, hg. von Reinhold Grimm, Frankfurt a. M. 1968, S. 304f. Günter Grass, Über meinen Lehrer Döblin, in: Akzente, August 1967, S. 291.

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mochte denken: »Laß mich mit Popularität zufrieden. Es ist das vergänglichste und schließlich auch unwichtigste Ding der Welt.« 4 Aber Verkanntsein und Mißachtung sind mit der Zeit derart entwürdigend, daß man die Bitterkeit versteht, deren er sich in den Nachkriegsjahren gegenüber seinem früheren, nunmehr für ihn unzugänglichen Verlag 5 und vor allem gegenüber dem so erfolgreichen Thomas Mann 6 nicht zu erwehren vermochte. Auf Döblins Los trifft das Wort Hofmannsthals zu: »Kein Dichter wird bei seinen Lebzeiten erkannt, außer von Einzelnen.« 7 So ist es wohl nicht zufällig, daß ein am Ende der fünfziger Jahre erschienener Aufsatz über die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts von Thomas Mann, Musil, Rilke, Joyce, Broch und Kafka spricht, aber den Namen Döblin nicht einmal erwähnt. 8 Noch ein Jahrzehnt nach Döblins Tod stand Günter Grass, als er seinen rühmenden Vortrag hielt, unter dem Eindruck, daß er von einem Vergessenen rede. Warum es Döblin so erging, hat verschiedene Gründe. Intoleranz, Ressentiment, Scham waren an der Abwehrhaltung der Verleger, Kritiker und Leser beteiligt. Mittlerweile dürften solche Ursachen ihre Virulenz eingebüßt haben. Aber es stellen sich der Rezeption immer noch Hindernisse in den Weg, und diese sind mit dem dichterischen Werk selbst gegeben. Darüber war sich Döblin durchaus im klaren. In einer Epoche der feuilletonistischen, essayistischen Degeneration des Romans, da man sich gerne Psychologie, Bildung, kulturelle Probleme, Zeitfragen habe vorsetzen lassen, seien seine Sachen zu dicht gewesen, »viel zu dicht für Zeitungsleser« 9 . Aber nicht nur verlangen seine Dichtungen eine ungewöhnliche Gesammeltheit des Lesens, sie entsprechen auch in anderer Hinsicht keineswegs dem Gewohnten. Zu den Schwierigkeiten, die dem Leser daraus erwachsen, hat Döblin folgendermaßen Stellung genommen: »Ich schreibe weder schwere Bücher noch leichte Bücher. Ich gebe Daten — die, wie es scheint, neu und fremd sind.« 1 0 Daß man sich auf Neues einlassen muß, ist wahrscheinlich das größte Hemmnis bei Ν III 305. Vgl. Döblins Karte vom 24. September 1953 an Ernst Johann, den damaligen Lektor des S. Fischer Verlags, in: Katalog, S. 500. 6 Zum Verschwinden von Thomas Mann, AS 5 7 5 ff. 7 Walther Brecht, Gespräch über die »Ägyptische Helena«, in: Helmut A. Fiechtner, Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde, Wien 1949, S. 342. 8 Wilhelm Emrich, Die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts und ihr geschichtlicher Sinn, in: Deutsche Literatur in unserer Zeit, hg. von Wolfgang Kayser, Göttingen 1959. ' Epilog, AL 390. 10 AL 356. 4 s

2

der Döblin-Lektüre; man findet sich im Ungewohnten nicht zurecht. Der Alexanderplatz-Roman, der ungeachtet seiner Neuartigkeit großen Anklang fand, widerlegt diese Behauptung nur scheinbar; denn dieses "Werk gibt in besonderem Maß Anlaß zu Mißdeutungen und Umbiegungen ins Herkömmliche. Jedenfalls hatte Döblin keine ungetrübte Freude an dem Erfolg. »Hat man Erfolg, wenn man gelesen, aber mißverstanden wird?« gab er zu bedenken. 11 Um Döblins Dichtungen in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung zuverlässiger und genauer erfassen zu können, müßte man offenbar untersuchen, was es mit den neuen Daten auf sich hat. Was für Befunde werden vorgelegt? Was ist das Neue und daher Befremdende gegenüber Früherem? In Entsprechung zu zeitgenössischen Dichtern, Malern, Bildhauern, Musikern bemüht sich Döblin — so ist anzunehmen — um Grundlegendes. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, aber auch die Philosophie, ist mit dem tiefgreifenden Wandel der Raum- und Zeitkonzeption beschäftigt. Die traditionellen Vorstellungen sind erschüttert, man sieht sich genötigt, von Raum und Zeit anders zu denken als bislang. Deshalb gilt unser Vorhaben der Frage, inwiefern Döblins dichterisches Schaffen von den Veränderungen im Kategorienfeld betroffen sei und ob sich von diesen Grundlagen her das Verständnis seiner Dichtung im ganzen wie im einzelnen fördern lasse, vor allem im Hinblick auf die Menschendarstellung und die Erzählweise. Was mit dem Umbruch im Kategorienfeld gemeint ist, mögen zwei Stellen aus Rilkes »Malte Laurids Brigge« anschaulich machen. Die eine handelt vom Vorgang des Hörens: »Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin.« 1 2 Bei dieser Weise zu hören fällt die Unterscheidung von Innen und Außen dahin. Die Straßenbahn ist nicht dort, wo man sie zu lokalisieren pflegt. Sie ist weder das in den Straßen Vorhandene noch das an bestimmten Plätzen Zuhandene und Verfügbare, vielmehr ist sie das Furchtbare, das dort ist, wo es nicht sein dürfte. Diese Darstellungsart bezeichnet man als expressionistisch; man will damit sagen, daß ein innerliches Erlebnis ausdrucksstark geäußert werde. Mit dieser Auslegung wird der überlieferte Dualismus von Innen und Außen, von einer überräumlichen, unräumlichen Innenwelt und einer dreidimensionalen Außenwelt auf-

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Über Erfolg und Mißerfolg (1932), AL 371. Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Sämtliche Werke, hg. von Ernst Zinn, Band 6, Frankfurt a. M. 1966, S. 710.

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rechterhalten, die Formulierung des Dichters zu einer façon de parier gemacht. Das Neue der Dichtung besteht dann bloß in der Neuartigkeit der Ausdrucksweise. Aber man muß sich fragen, ob das von Rilke Gesagte nicht wörtlich zu nehmen, das heißt sachlich zu verstehen sei. Für denjenigen, der schlaflos im Bett liegt, ist die Straßenbahn, das Automobil nicht da draußen, so daß er im Innern des Hauses geschützt ist und seine Innerlichkeit unberührt bleibt, nein, er ist wehrlos, er liegt unter den Rädern, und das ist die exakte Beschreibung des Sachverhaltes, wogegen eine Aussage wie »Ich höre die Straßenbahn vor dem Haus« die Situation ins Harmlose verfälscht. Rilke stellt somit nicht im mindesten eine subjektive Auffassung der Dinge dar 1 3 , er porträtiert nicht einen Menschen von besonderer Lärmempfindlichkeit oder sogar von dekadenter Hypersensibilität. Ihm geht es um etwas ganz anderes. Er will zeigen, daß der Raum nur unter gewissen Bedingungen das übliche Nebeneinander von Plätzen ist und unter andern Umständen nicht. Er behandelt das Ereignis »Lärm der Straße dringt in das Haus« ähnlich wie der Maler Umberto Boccioni 14 : Haus und Straße, Hier und Dort sind wohl auseinandergehalten, dennoch durchdringen sie sich gegenseitig. Dieses Ineinander ist aber nicht dadurch bedingt, daß der Künstler es hier mit dem Akustischen zu tun hat. Rilke kann ja auch sagen: »Die Vögel fliegen still durch uns hindurch.« 15 Ein solcher Satz signalisiert, daß das Wesen des Menschen neu bestimmt wird. Wenn ich mich nämlich als ein körperhaftes Wesen auffasse, kann der Vogel nicht durch mich hindurchfliegen, ebensowenig wenn ich mich als unkörperliches, als seelisches, geistiges Wesen verstehe. In einer andern Aufzeichnung notiert Brigge, daß er sehen lerne. Und was er wahrnimmt, veranlaßt ihn zur Frage: »Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt?« Dazu gehört die Erläuterung: »Es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte von oben bis unten.« 1 6 Hier gilt es, das Paradoxe zu beachten, daß die Häuser nicht mehr sind und doch sind. Man kann auch das in die vertraute Denkweise zurückübersetzen; dann wird man erklären, in der Erinnerung

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Gegen diese verbreitete Mißdeutung hat sich Beda Allemann gewandt: Zeit und Figur beim späten Rilke, Pfullingen 1961, S. 272. Vgl. das Ölgemälde »La strada entra nella casa« (Nr. 137 des Katalogs in: L'opera completa di Boccioni, Presentazione di Aldo Palazzeschi, Rizzoli, Milano 1969), ausgestellt 1912 in Berlin, thematisch ähnlich wie das Bild »Visioni simultanee« (Nr. 136), das in der »Sturm«-Ausstellung ebenfalls zu sehen war. Sämtliche Werke, a. a. O., Band 2, S. 93. Band 6, S. 749.

seien die Hauser noch da. Indessen hat Laurids Brigge gar keine Erinnerungen an diese Häuser. Deshalb muß man den-Gedanken erwägen, ob denn Zeit stets als Ordnung des ausschließlichen Nacheinanders zu verstehen sei.17 Auch Rilke gibt neue, befremdliche Daten. Daß er das Zusammensein von Mensch und Ding neu dichtet, ist zudem daran zu erkennen, daß er, entgegen der Tradition, das Sehen nicht mit dem Raum, das Hören nicht mit der Zeit verknüpft, sondern es gerade umgekehrt macht. Den Problemen von Zeit und Raum hat sich Döblin früh zugewandt. Er ist sciion dadurch auf sie aufmerksam geworden, daß er in enger Fühlung zum künstlerischen Schaffen stand, und zwar nicht nur auf literarischem Gebiet; er hatte eine besondere Affinität zur Musik, und in den von seinem Freund Herwarth Waiden organisierten Ausstellungen sah er immer wieder Bilder der bedeutendsten zeitgenössischen Maler, Gemälde, die später wegen ihrer Andersartigkeit als entartete Kunst bezeichnet werden sollten. Aber auch als Psychiater machte Döblin die Erfahrung, daß es notwendig ist, die gewöhnliche Vorstellung von Zeit und Raum — die mathematisierte Gestalt dieser Kategorien — in Frage zu stellen, ihre Gültigkeit zu relativieren, und auf dem Weg der Krankheitserforschung gelangte er zu Einsichten in die ursprünglichen Phänomene. Überdies philosophisch interessiert, setzte er sich mit Descartes auseinander, von dessen Philosophie die europäische Neuzeit geprägt ist, und befaßte sich mit den Gegenströmungen, etwa mit Schelling, der dem Erbe nichtkartesianischen Denkens verbunden ist; vor allem aber hat er sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in ostasiatische Weisheit vertieft, von der aus gesehen sich so viel Grundsätzliches anders ausnimmt als in europäischen Augen. Wenn nun auch in unserem Vorhaben Zeit und Raum die Leitgedanken hergeben, wird dennoch nicht versucht, daraus ein System aufzubauen. Das Theoretische bildet nur den Hintergrund; auf ihn ist freilich alles mehr oder weniger explizit bezogen. Grundsätzlich aber soll die Arbeit ganz in der Nähe des einzelnen Werks gehalten werden, weil sie nur so zu dessen Erhellung beizutragen vermag. Darum sind auch die Kapitel in der Weise angelegt, daß sie aus dem Zusammenhang herausgelöst und für sich gelesen werden können. Das läßt sich allerdings nur um den Preis gewisser Wiederholungen verwirklichen. Immerhin verdeutlicht sich dabei, daß das Döblinsche Œuvre keineswegs so hetero-

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Vgl. Beda Allemann, a. a. O., S. 18.

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gen ist, wie es scheinen mag. Seine Einheit, verbürgt durch die neuen Daten, die es enthält, verdient Beachtung, denn von Unterschieden zwischen den einzelnen Werken oder von Entwicklung zu reden ist erst dann sinnvoll, wenn man die Konstanten kennt; auf ihnen und weniger auf den Variablen liegt denn auch der Akzent. Zur Darstellung ist schließlich noch zu bemerken, daß sie den Konsequenzen unterliegt, die sich aus dem großen Umfang des Gesamtwerkes ergeben. Alle Dichtungen zu berücksichtigen ist ebenso unmöglich, wie in der wünschenswerten Ausführlichkeit auf die ausgewählten Romane einzugehen. Daher kommt es, daß sich die Länge der Kapitel sozusagen umgekehrt proportional zur Länge der Dichtungen verhält. Die kurzen Erzählungen erschließen sich erst, wenn man sich um das Detail bemüht; bei den Romanen muß sich der Blick auf anderes einstellen, nämlich auf die das Ganze organisierende Kraft.

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Das Stiftsfräulein und der Tod Die Erzählung vom Sterben eines vornehmen, im Damenstift lebenden alten Fräuleins ist mit einem doppelten Privileg ausgestattet: auf sie fiel die Wahl, als Döblin 1908 zum erstenmal etwas Erzählerisches veröffentlichen konnte, und fünf Jahre später wurde diese Geschichte abermals begünstigt, indem Ernst Ludwig Kirchner sie mit Holzschnitten illustrierte. Dichter, Künstler und Verleger müssen dieses 1905 entstandene Werk als beispielhaft für das avantgardistische Schaffen angesehen haben. Daß die Erzählweise, vieles aussparend, durch ihr Herkommen aus der Wortkargheit bestimmt und äußerster Knappheit verpflichtet ist, daher das Ungefähre haßt wie nichts sonst und danach strebt, wirklich sprechend zu sein, wo sie sich zum Reden entschließt — dies mag als Zeichen der Modernität gegolten haben, nicht minder aber, daß hier der Tod zum Thema gemacht ist, daß das Sterben nicht nur das Ende, sondern das Ganze einer Geschichte ist. Immer wieder wendet sich, verwunderlich genug, die Dichtung der damaligen Zeit — der Belle Epoque — dem Tod zu: Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, Kafkas »Verwandlung«, die Lyrik Georg Trakls ebenso wie Hofmannsthals frühes Dramolett »Der Tor und der Tod«. Döblin springt mit dem Anfang seiner Kurzgeschichte ohne Präliminarien ins Zentrum des Themas. Unvermittelt wird das Stiftsfräulein inne, daß es bald sterben werde. Der Leser vernimmt nichts davon, daß die Dame krank sei. Zwar ist ihr Alter hervorgehoben, doch wird zwischen ihrem Altsein und dem Tod kein ausdrücklicher Zusammenhang hergestellt. In Döblins Erzählungen holt der Tod denn auch unversehens Menschen besten Alters, auch Mädchen und Jünglinge. Er steht jeweilen plötzlich da. Das Wissen um das baldige Sterbenmüssen wird nicht begründet, ist auch nicht begründbar, dennoch ist es nicht grundlos. Der bevorstehende Tod ist ja nicht Einbildung, so daß sein Ausbleiben die Ahnung Lügen strafte; das Fräulein redet ihn sich aber auch nicht ein, so daß die Befürchtung ihn herbeiriefe. Traditionelle Lesererwartungen erfüllen sich nicht. Döblin gibt keinen Hinweis, woher es komme, daß dieses und jenes geschieht. Nicht auf Grund und Folge, nicht auf die

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Verkettung von Ursache und Wirkung hat er es angelegt, somit auch nicht auf Allmählichkeit, Übergang, Entwicklung. Dadurch wird das Verstehenkönnen in Frage gestellt, dem Verstehenwollen die Grundlage entzogen. Wo sich indes in einer Döblinschen Erzählung etwas mit Plötzlichkeit ereignet, gilt es aufzumerken. Das Plötzliche ist das Rätselhafte, mehr noch: das ganz und gar Unfaßbare. Wenn sich Döblin wie andere zeitgenössische Dichter so sehr mit dem Tod beschäftigt, ist er weder vom Makabren angezogen noch vom Trübsinn überwältigt; er handelt aus der Notwendigkeit, sich und den Leser dem Nichtverstehbaren auszusetzen. Er will nicht das Kausalitätsdenken befriedigen, sondern dessen Grenzen sichtbar machen. Es geschieht beim Anblick des vergehenden Schnees, der schwärzlichen Schmelzwasser draußen vor dem Fenster, daß das Stiftsfräulein mit einemmal um den baldigen Tod weiß. Was sie vor Augen hat, ein Bild der Vergänglichkeit, weckt bei ihr nicht einfach Todesgedanken, lockt vielmehr auf geheime, magische Art das Wissen um das Wann aus seinem Versteck. Der Bereich des Sinnbildlichen ist überschritten: nicht um ein allgemeines Wissen handelt es sich, sondern um eine persönliche Wahrheit, nicht um den Tod, den alle einmal zu erleiden haben, sondern um das Sterben hier und jetzt. In der Umwandlung des Schnees zu Wasser, im Weiß und Schwarz ist für das Stiftsfräulein der Tod allbereits gegen-" wärtig — wie das auch Kirchners Holzschnitt mit seinen starken Kontrasten von vornherein, unabhängig vom Dargestellten, zu suggerieren vermag —, und er zeigt sich da draußen, weil er bei ihr einzutreten im Sinne hat. Das Sterben hat begonnen, ist nicht mehr etwas bloß Künftiges, daher die tiefe Betroffenheit. Nicht erst dadurch, daß es ihr bewußt Verkettung von Ursache und Wirkung hat er es angelegt, somit auch vorher erreicht, sie in einer tiefern Schicht getroffen; das verrät die Gebärde, mit der sie die Hyazinthengläser — die Farben — beiseiteschiebt, so daß nur noch das Weiß des Schnees und das Schwarz der Bäume und des Schmelzwassers auf sie eindringt. Von ihr, die mit aufgestütztem Ellbogen am Fenster sitzt, ließe sich mit Trakl sagen: »Durch ihre Arme rieselt schwarzer Schnee.« 1 Schnee und Wasser, Weiß und Schwarz, starre Bäume - diese Dinge bilden bei Döblin eine Motivkombination, die im frühen Roman »Der schwarze Vorhang« 2 wie in »Berlin Alexanderplatz« 3 und anderswo 1

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Georg Trakl, Im Dorfe, Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Walther Killy u. Hans Szklenar, Bd. I, Salzburg 1969, S. 64. J R 181. - Döblin hat diesen Roman 1902 und 1903 geschrieben. BA 216.

vorkommt, die aber auch — stark abgewandelt — vorliegt, wenn Döblin davon schreibt, wie ein Stück Zucker im Kaffee, »eine ganze Insel im Meer, sich auflöst, verschwindet, verschlungen worden ist«, und dieser Vorgang ihn in Bann schlägt: »zum Staunen rätselhaft diese Katastrophe« 4 , wobei durch die surrealistische Verquickung des Großen mit dem Kleinen das Unheimliche in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. Der weiße Zucker, der dunkle Kaffee haben miteins ihre harmlose Gegenständlichkeit preisgegeben und sind zu etwas Ungeheurem geworden, das nicht bleibt, was es ist, und ebensogut wie es als Insel und Meer erscheint, als Mensch und das ihn Verwandelnde und Verschlingende erscheinen kann. »Es passierte mir«, erzählt Döblin, »daß ich über meiner Kaffeetasse saß und mich nicht zurechtfand vor dem, was da geschah.« Er verliert sich selbst, für einen Moment wenigstens. Nachträglich wird er fragen: »Was tut das Fließende, Flüssige, Warme dem Festen, so daß es nachgibt, sich hinschmiegt?« Damit ist aber der ursprüngliche Sachverhalt bereits verfälscht. In jenen Augenblicken nämlich hat Döblin keine Frage gestellt, sondern die Bewegung des Nachgebens und Hinschmiegens mitvollzogen. Er könnte sonst nicht sagen: »Ich weiß, daß mir oft ängstlich, körperlich ängstlich, schwindlich unter diesen Dingen wurde.« 5 Was Döblin hier darlegt, ist von ähnlicher Art und Bedeutung wie das, was Hofmannsthal im sogenannten Chandosbrief schildert. 6 Beide sind in ihrem Dichtertum entscheidend geprägt vom Betroffensein durch Zerfall und Auflösung. Vor allem die variierten Wiederholungen dieses Motivs in ihren Werken legen davon Zeugnis ab, aber auch ihre Ansicht vom Wesen der Kunst. Döblin erklärt, die Kunst stelle einen Durchgriff der nichtmenschlichen Welt auf den Menschen und seine

4 s

6

Ferien in Frankreich, 1926, Ζ 111. Bemerkungen zu »Berge Meere und Giganten«, 1924, AL 348. Vgl. hierzu »Buddho und die Natur«, in: Die neue Rundschau, Jg. 32, 1921, S. 1196: »Solange ich als Einzelgeschaffenes an diesem Leben festhalte, freue ich mich an hellen Farben, der Jugend; ich kann nichts weiter loben; ihr Fehlen betrübt mich. Sobald ich den Blick auf das Wasser richte, sehe, wie das Salz im Wasser verschwindet — es war eben da - , sehe dieses große geheimnisvolle Geister-Hin-und-Her der Naturen, - beuge ich den Kopf und bezähme mein Herz.« Weitere Parallelstellen: W K 186 und Η 335. Es ist anzunehmen, daß Döblin den Chandosbrief schon in der Erstpublikation, nämlich in der Berliner Zeitung »Der Tag«, 1902, gelesen hat; jedenfalls ist er als Student in Freiburg auf diese Zeitung abonniert — vgl. den Brief an Else Lasker-Schüler vom 10. November 1904, Β 26 —, sie dürfte also seit längerem zu seiner Lektüre gehören, eine Annahme, die durch folgende Bemerkung aus dem Jahr 1925 gestützt wird: »Ich verfolge seit fünfundzwanzig Jahren die deutschen Tageszeitungen. Seit so lange bin ich diskret und offen mit dem Kunstbetrieb in Zusammenhang.« AL 273.

9

Erzeugnisse dar. 7 Diese Auffassung ist für sein ganzes Schaffen maßgebend; freilich, im Verständnis dessen, was die nichtmenschliche Welt sei, verschieben sich die Akzente, kommt es auch zu Erweiterungen. In der zitierten Äußerung des Jahres 1933 ist für Döblin das Nichtmenschliche die tierische, pflanzliche, anorganische Welt; zuvor hat ihn vor allem der Durchgriff des Anorganischen beschäftigt, und dementsprechend betont er, es handle sich in der Kunst, wie »besonders der Durchgriff des Anorganischen« zeigen könne, »um spontane Ansätze zur Überwindung der Individuation«. Mithin vertieft sich sein Dichten in die Erfahrung, daß wir manchmal schon im Leben »die Neigung zum Zerfall, zur Auflösung, zur Hingabe an unsere Grundelemente« haben. 8 Es ist bedeutsam, daß Döblin, um vom Sterben zu reden, von Nachgeben, Sich-Hingeben, Sich-Hinschmiegen spricht. Zu einem solchen Sterben führt er in seiner Erzählung das Stiftsfräulein. Sterbend wird hier ein alter Mensch das tun lernen, was er in seinem Leben nie vermocht hat. Das Stiftsfräulein — der Titel macht ja von allem Anfang an darauf aufmerksam — ist unverheiratet, kinderlos geblieben, und da sie, gewiß schon seit langem, in einem Stift zur Versorgung lediger Frauen lebt, hat sie sich keiner Berufung und keiner Berufstätigkeit, keiner wirklichen Aufgabe hingegeben, ist weder Krankenschwester noch Fürsorgerin noch Nonne, sondern einfach — Fräulein, die vornehme Dame aus begütertem Hause, die in selbstgenügsamem Stolz, wohlbehütet und gegen jegliches Übel abgeschirmt, sich selber lebt. Die Situation, die der Anfang der Erzählung umreißt, sagt alles Wesentliche aus: das Für-sich-Sein im Zimmer, das Sitzen am Fenster, die Gegensätzlichkeit von Innen- und Außenwelt, von Mensch und Natur, das distanzierte Zuschauen als Daseinsform. Döblin hält in seiner Zeichnung gerade noch den letzten Moment dieser Seinsweise fest, die radikale Veränderung ist schon im Gang, das Draußen ist nicht mehr draußen, es ist im Begriff, in die innere Welt einzubrechen. Da die eindringende verändernde Gewalt die Zeit ist, kann man sagen, das Stiftsfräulein habe sich bisher gewissermaßen in der Zeitlosigkeit aufgehalten, dem Immergleichen zugetan, abhold jeder Abweichung vom Gewohnten, und dergestalt habe sie sich selbst bewahrt und sei alterslos geblieben, jedenfalls des Älterwerdens kaum gewahr geworden. Man fürchte nicht, daß damit zu vieles in den Text hineingelesen werde. Solchen Frauen, die nicht altern wollen, nicht altern können, 7 8

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UD 242. Ebd.

begegnet man in Döblins Werk verschiedentlich, und wenn man erkannt hat, daß er sich in ganz bestimmten Grundfiguren bewegt, rückt auch das scheinbar Entlegene nahe, ordnet sich einem Sachverhalt ein und trägt zu dessen Erhellung bei. So ist es bemerkenswert, wie Döblin einmal über einen ungewöhnlichen Schneefall in Berlin berichtet: in die Stadt, in der die Menschen nichts wüßten von Vollmond und Neumond, vom periodischen Wachsen und Welken, in der man kaum das Längerund Kürzerwerden der Tage, nur gerade noch die Jahreszeiten bemerke — in diese Stadt habe sich mit Furchtbarkeit und Größe die weite, weite, in Schnee versenkte Landschaft hineingedrängt, und mehr als dies: es sei das Urelement, das nach uns lange, das Wasser berühre uns. 9 Für Döblin ist die Stadt der energischste Versuch des prometheischen Willens, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik eine Gegenwelt zur natürlichen Welt zu errichten, den Einfluß der Elemente abzudämmen 10 , künstlich Geschaffenes an die Stelle des Gegebenen und Gewordenen zu setzen und damit die Zeitlichkeit zu eliminieren, also eine Art von Ewigkeit hervorzubringen. Und nun bricht auch in diese Zitadelle des Sich-Bewahrens das Elementare, das Ursprüngliche ein, und es verwundert kaum mehr, daß diese Erfahrung bei Döblin alsbald die Dimension des Bedrohlichen gewinnt und sein prophetisches Gemüt von Ahnungen des Untergangs heimgesucht wird: »Mir fällt ein, daß das Abendland in naturhafte Zustände untergehen wird in vier, fünf Jahrhunderten.« 11 Den Einfluß der Elemente abdämmen, das ist bereits in Döblins früher Erzählung, in der so vieles vorgebildet ist, ein Thema. Von Veränderung bedroht, sucht das Stiftsfräulein das Herandrängende abzuwehren. Sie versteift sich, zieht sich im Bett zu einem Klumpen zusammen (14), nimmt die Konsistenz eines Klotzes an (15), sie verdichtet sich gleichsam, damit nichts in sie eindringen kann, sie wird kleiner, dafür schwerer, sitzt stundenlang reglos in einer Ecke, sie füllt nun mit ihrer Gegenwart nicht einmal mehr ihr Zimmer aus, es ist um sie herum »alles zu weit geworden« 12 , so sehr hat sie sich auf sich selbst zurückgezogen und verstummend in sich selbst verschlossen, sogar die Speisen kann sie sich nicht mehr einverleiben (14). Die Darstellung, die in diesen Notierungen von einem Menschen gegeben wird, macht deutlich, daß Döblin, der angehende Arzt, Leib und Seele nicht zertrennt, die Vorgänge nicht in

' Glossen, Fragmente, von Linke Poot, 1920, PG 138. Vgl. den Essay »Prometheus und das Primitive«, 1938, PG 351. 11 Glossen, Fragmente, PG 138. 12 Dies sagt in der »Babylonischen Wandrung« Konrad kurz vor seinem Tod. BW 650. 10

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solche körperlicher und solche psychischer Natur sondert, daß er vielmehr, den üblichen Entgegensetzungen aus dem Wege gehend, die jeweilige Daseinsweise, die Zeitigung und Räumlichung des Menschen, ins Auge faßt. Sonderbar mag es anmuten, daß das Stiftsfräulein auch völlig anders sein kann, voller Unrast, an sich herumnestelnd, redselig, gierig beim Essen (14). Bald ist sie so, bald das pure Gegenteil. Äußerstes Ansichhalten schlägt in Haltlosigkeit um, das Sich-gehen-Lassen, Sich-treibenLassen wiederum wechselt mit Verkrampfung und Erstarrung, als ob sich der Aggregatzustand immer wieder änderte. Von einer bestimmten beständigen Wesensart, von einem Charakter, kann hier nicht mehr gesprochen werden. Die Einheit der Person löst sich auf, und man wäre wohl geneigt, dies als etwas Negatives zu betrachten, als Zerfallserscheinung auf dem Weg in den Tod, müßte man nicht daran denken, daß die Selbstbewahrung, in der das Stiftsfräulein ein Leben lang ihre Wesenseinheit hatte, doch wohl nicht höher zu schätzen ist als die nun möglich werdende Hingabe. Ist es vielleicht so, daß das Stiftsfräulein in ihrem bisherigen Dasein lebendig-tot gewesen ist und erst jetzt, da es ans Sterben geht, lebendig wird? Wären somit das Hin und Her, das Widersprüchliche, die Sprunghaftigkeit, das im Nu sich Ereignende nicht Symptome des verlorenen Gleichgewichts oder gar des Zerfalls, sondern Zeichen des Lebens? Sich bei Döblin in den Wertungen zurechtzufinden ist schwierig. Da beginnt man sich zu fragen, ob er die Dinge darzustellen suche, ohne sie zu werten. Will er — gesetzt, es sei so — den Leser zu eigener Wertung oder zur Enthaltsamkeit im Urteilen bringen? Oder sind die Wertungen ganz unaufdringlich vorgenommen, im Dargestellten versteckt? Oder gibt es für Döblin gar keine eindeutig zu wertenden, sondern nur ambivalente Sachverhalte? Solche Fragen drängen sich zum Beispiel im Zusammenhang mit den Regressionstendenzen des Stiftsfräuleins auf. Der oft dem Kindesalter eigene Pavor nocturnus befällt sie, und sie bittet eine befreundete Stiftsdame, die Nacht bei ihr zu verbringen. Sie reproduziert Verhaltensmuster vorrationaler Prägung, nimmt Zuflucht zu apotropäischen Maßnahmen: sie ist darauf bedacht, daß Tür und Fenster gut verschlossen sind, sie gibt, indem sie Decken über die Stühle legt, zu verstehen, daß niemand zu Hause sei und daher kein Besucher empfangen werden könne, sie besprengt die Wände mit Kölnischwasser (15), als ob sie mit Weihwasser das Böse abwehren müßte oder — Ähnliches gibt es auch in der »Ermordung einer Butterblume« — mit Parfum einen andern Geruch, den halluzinierten Verwesungsgeruch, vertreiben wollte. Soll 12

man nun bei diesen atavistischen Reaktionsweisen von Lebensrückentwicklung sprechen, von Zurücksinken auf eine niedrigere Stufe, von einem Rückfall ins Primitive? Oder soll man darin die Weisheit der Natur sehen, die dem von einem plötzlichen Schlag erschütterten Menschen Auswege aus der Ratlosigkeit öffnet und dort, wo Verzweiflung das Leben bedroht, neue Daseinsmöglichkeit gibt, wenn vielleicht auch bloß für Augenblicke? Von diesen beunruhigenden Fragen wird der Leser bis zum Schluß der Erzählung begleitet; denn nach dem Abklingen der Schockwirkung, nachdem sich in einer dem Trotz entsprungenen Selbstmordanwandlung das Sterben nochmals als unüberwindbar schrecklich erwiesen hat, treten die auffallendsten Anzeichen der Regression auf. Das Stiftsfräulein verjüngt sich in einem gewissen Sinn. Ihr verfallenes Gesicht (14) wird strahlend (16), wird blühend (17), sie singt und trällert vor sich hin (16 f.), sie putzt sich für ihre Spaziergänge, legt statt des schwarzen Kleides (14) eine hellblaue Bluse an und trägt weiße Handschuhe (16), auch geht sie elastischer und gerader einher, sie schreibt sogar Liebesbriefe auf Rosapapier, Briefe voll verschämter Anspielungen, kokett, scherzhaft, und da niemand zu erraten vermag, wer ihr Liebhaber ist, muß sie wahrlich zu einem jungen Ding mit unüberbietbar exzentrischen Einfällen geworden sein. Verjüngung, so sehr gewünscht und gepriesen, hat das Stiftsfräulein zum Gespenst seiner selbst gemacht. Die Frage, wie Regression zu werten sei, scheint entschieden. Und doch wird man wieder unsicher. Denn mit der Regression ist verknüpft, daß das Fräulein - das dem Tod ausweicht, ihm zu entrinnen sucht, sich gegen ihn verschanzt — ein anderes Verhältnis zu ihm gewinnt. Der geheimnisvolle Liebhaber, mit dem sie sich in ihren Wachträumen nun unablässig beschäftigt, ist nämlich der Tod. Offensichtlich ist ihre Einstellung ihm gegenüber in eine neue Phase getreten. Nachdem sie zunächst vor ihm zurückgeschreckt ist, dann sich ihm in die Arme werfen wollte, wartet sie jetzt auf sein Kommen, lädt ihn sogar ein, erwartet ihn Nacht für Nacht, den Bräutigam, den Eheherrn, und macht ihm im Bett an ihrer Seite Platz. Sie ist bereit zur Hingabe. So wäre sie also doch in das wahre Verhältnis zum Tod gekommen. Döblin betrachtet ja das Nachgeben, Sich-Hingeben, Sich-Hinschmiegen als wesenhaft für das Sterben. Tod und Liebe treten hier zueinander wie auf dem Kaltnadelstich Edvard Münchs aus dem Jahre 1894.13 Um Raum zu geben neuer Unruhe und

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Vgl. Rolf Stenersen, Edvard Munch, Zürich 1949, S. 56.

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Mischung, sagt Döblin, ist die Liebe der beiden Geschlechter und der Tod da. 1 4 Die Liebe ist ihm »Wille zur Verschmelzung bis zur Aufgabe des Ichs«. 1 5 So möchte man denken, das Stiftsfräulein erfahre wenigstens im Sterben die Macht der Liebe, hole nun nach, was sie versäumt oder was das Leben ihr versagt habe. Allein, man kann auch von dieser Interpretation nicht befriedigt sein. Das Verhalten des Stiftsfräuleins bleibt gespenstisch. Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die den Tod als Bräutigam herbeisehnende Frau sich der Fragwürdigkeit ihres Tuns einen Augenblick lang bewußt wird: sie erschrickt vor dem Marienbild in ihrem Zimmer. Vor der »Gebenedeiten« (16), der »Himmelskönigin« (17) — so wird Maria genannt, so daß anzunehmen ist, das Bild stelle die gekrönte Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm dar — empfindet sie, auf welchem Irrund Sündenweg sie sich befinde. Liebe und Tod sind ja auch das Thema der christlichen Ikonographie, und zwar nicht nur im Passionsbild und in der Pietà, ist doch Weihnachten ebensowenig von Karfreitag abzutrennen wie Karfreitag von Ostern. Richtet das Wort »Himmelskönigin« den Gedanken auf Mariä Krönung nach ihrem Tod, so erinnert das Wort »Gebenedeite« an die Verkündigung; das Frühere und das Spätere, Ende und Anfang sind ineinandergeschlungen, doch weder dieser noch jener Maria ist richtig gedacht, wenn die Schmerzensmutter vergessen wird. Lebensverheißung, Bitternis des Todes, Erhöhung sind in ihr gleichzeitig und ganz Gegenwart. So weist ihr Bild über das zeitliche Nacheinander hinaus in das Zugleich. Was dieses Zugleich bedeutet, wird vielleicht erst an der Stelle erkannt, wo das Stiftsfräulein bei ihren beiden Wanduhren das Pendel anhält. Bisher ist sie von keiner Uhr gestört worden, nun aber erträgt sie das Ablaufen der Zeit nicht mehr, mag es sich in gemütlich-behäbigem oder in gierig-hastigem Ticken manifestieren. Sie will aus der Zeitlichkeit ausbrechen, und damit setzt jene Gegenläufigkeit gegen die einsinnige Zeit ein, die sie wieder jung werden läßt und solchermaßen ein seltsames Ineinander von Früherem und Späterem erzeugt, eine Pervertierung jenes andern Zugleich, das die Ewigkeit ist. Das Thema der Erlösung von der Zeitlichkeit wird also mehrfach variiert. Im Nichtsein, in der Wiederkehr, im Zugleich erscheint Vergänglichkeit als überwunden. Wie klar das Stiftsfräulein diese Dinge erkennt, kann dahingestellt bleiben; gewiß ist, daß sie mit all diesen Möglichkeiten Fühlung bekommt. 14 15

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Das Ich über der Natur, IN 132. Schicksalsreise, AS 422.

Das Stiftsfräulein verweilt nur kurz vor dem Marienbild, sie verstellt es mit Blumen und wendet sich wieder ihren Träumereien von einem liebreichen Tod zu. Dieser kommt jedoch, ganz anders als erwartet, nicht als zärtlicher Bräutigam und nicht als Herr und Gebieter zu ihr, sondern als ein Bauernlümmel (17), ungehobelt und brutal, ein Unhold, ein Würger und Mörder wie Blaubart. Damit setzt Döblin der zu seiner Zeit herrschenden Vorstellung ein neues Bild vom Tod entgegen. Man muß sich der Todesbeschönigung bewußt sein, welche über lange Zeit, von der Aufklärung bis zu Richard Wagner und darüber hinaus, betrieben worden ist und schließlich dazu geführt hat, daß an den Tod zu denken überhaupt als unnötig erachtet wurde, und man wird die Notwendigkeit von Dichtungen begreifen, die ohne Schonung auf das Verdrängte aufmerksam machen und für Wahrhaftigkeit gegenüber dem Tod eintreten. Daß man in den literarischen Werken, die sich mit dem Tod befaßten, Dekadenz sah und dieses diffamierende Schlagwort sogleich zur Epochenbezeichnung machen konnte, sagt wenig über diese Literatur aus, jedenfalls nichts Angemessenes, wirft aber ein Licht auf den Kult der Gesundheit, der Vitalität und des Rechts des Stärkeren, der die Voraussetzung solcher Schmährede ist. Man glaubte der verunglimpften Dichtung auch zum Vorwurf machen zu können, sie richte den Blick auf das Häßliche und Grauenhafte, wovon man im Leben ohnehin schon mehr als genug zu sehen bekomme; man war demgemäß der Meinung, Kunst habe es nur mit dem Schönen zu tun, mit dem, was den Feierabend und Sonntag auszuschmücken berufen sei, denn es war üblich, das Gute, das Wahre und das Schöne voneinander zu trennen und verschiedenen Bereichen zuzuteilen. Wie aber, wenn Kunst nicht einfach auf das Ästhetische eingegrenzt werden könnte, sondern vor allem der Wahrheit verpflichtet wäre? Döblin hat erklärt: »Die Kunstwerke haben es mit der Wahrheit zu tun.« 1 6 Indem sich Döblin, im Dienste der Wahrheit, gegen die Todesverklärung wendet, greift er die Einstellung an, welche im 18. Jahrhundert mehr und mehr an Boden gewonnen hat und in Lessings berühmter Schrift »Wie die Alten den Tod gebildet« besonders eindringlich formuliert ist. Die Griechen und Römer, steht dort zu lesen, hätten sich den Tod keineswegs in abschreckender Gestalt gedacht; die christliche Religion indes habe mit dem Gedanken, daß der Tod — auch der natürliche und nicht bloß der gewaltsame, unzeitige — die Frucht und

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Der Bau des epischen Werks (1929), AL 109.

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der Sold der Sünde sei, das heitere Bild des Todes verdrängt und die Schrecken des Todes unendlich vermehrt; da aber diese Religion versichere, daß der Tod der Frommen nicht anders als sanft und erquickend sein könne, sei das scheußliche Gerippe wiederum aufzugeben und das alte, bessere Bild erneut einzusetzen. Döblins Geschichte hat offenbar genaue Bezüge zu dieser Schrift: sie handelt von einer alten Frau, die fromm ist — was man so gemeinhin fromm nennt — und eines sogenannten natürlichen Todes stirbt, nur ist ihr Tod alles andere als sanft und erquickend, sie hat sich das bloß so ausgemalt. Auch der natürliche Tod ist ein gewaltsamer Tod. Die Unterscheidung wird nur dort noch zugelassen, wo es sich um die rein praktische Frage handelt, ob die Todesursache eine Krankheit oder ein Unfall, allenfalls die Tat eines Verbrechers sei. Wenn aber tatsächlich dieser Unterschied unwesentlich geworden ist, muß man sich fragen, ob der Tod überhaupt der Natur des Menschen zugehörig, ob er nicht vielmehr das völlig Widernatürliche sei. Lessing dagegen will den Tod als das Natürliche verstanden wissen, darum ist ihm daran gelegen, daß im Tod der Bruder des Schlafes gesehen werde, daß man auch ihn als schlafende Gestalt darstelle, und zwar was ihm wichtig ist - am besten mit übereinandergeschlagenen Füßen, denn dies sei die natürliche Lage, die der Mensch in einem ruhigen Schlafe einnehme. 17 Das natürliche Sterben, aufgefaßt als ein Entschlafen, steht ihm im Gegensatz zum bösen Sterben, für das er, so auch in der Fabel »Der Fuchs und der Rabe«, das Wort »verrecken« - die Glieder starr ausstreckend sterben - braucht. Diese Stelle in Lessings Abhandlung dürfte den Hintergrund dafür abgeben, daß Döblin das Ableben des Stiftsfräuleins so ausdrückt: »Sie streckte sich.« (17) Nicht nur im ganzen also, sondern auch im einzelnen scheint er hier gegen das von Lessing Vertretene zu schreiben. Daß etwa die Lampe heftig gelöscht wird, nimmt sich aus wie ein Gegenstück zu der alles Brüske vermeidenden antiken Vorstellung, der Tod sei ein geflügelter Jüngling, der die Fackel senkt. Die Tragweite von Döblins Erzählung läßt sich noch deutlicher erkennen, wenn man auch die Auswirkungen der Lessingschen Schrift berücksichtigt, wie sie zum Beispiel in Schillers Gedicht »Die Götter Griechenlands« sichtbar werden:

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Lessings Werke, in: Deutsche National-Litteratur, Historisch kritische Ausgabe, Berlin und Stuttgart 1883 - 1 8 9 0 , Band IX, 2, hg. von H. Blümner, S. 319.

Damals trat kein gräßliches Gerippe vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß Nahm das letzte Leben von der Lippe. 18 Thanatos beginnt die Gestalt des Eros anzunehmen; in Eichendorffs »Marmorbild« sind sie vollends einerlei geworden, wenn es in einem der eingelegten Gedichte heißt: Sein Mund schwillt zum Küssen So lieblich und bleich, Als brächt' er ein Grüßen Aus himmlischem Reich. 19 Bei der Bekanntheit des Zitierten darf als wahrscheinlich gelten, daß es Döblin vor Augen stand, als er seine Erzählung schrieb; er hat diese Stellen übrigens, falls er die oben erwähnte Lessing-Ausgabe benützt hat, dort in der Einleitung lesen können, wo sich auch der Satz findet: »Hades ist der Bräutigam des als Jungfrau sterbenden Mädchens.« 20 Von hier aus verdeutlicht sich die mythische Dimension, die schon in dieser frühen Erzählung enthalten ist und Döblins ganzes Werk, bis zum HamletRoman, kennzeichnet. In der Traumversunkenheit, in welcher dem Stiftsfräulein der Tod zum Bräutigam wird, reaktiviert sich, weit über das individuelle Leben hinausgreifend, ein früher, unbewußt gewordener Vorstellungsbereich. Damit kommt nun aber auch die von Lessing eingeleitete Renaissance griechischer Todesauffassung unter das Zeichen der Regression zu stehen und zeigt sich als Versuch einer tief verletzten Seele, dem Sterben das undurchdringliche Dunkel zu nehmen und sich ins Helle zu retten, als das vergebliche Bemühen, aus einem seelischen Notstand einen seelischen Glücksstand zu machen. In der Milde und Lieblichkeit, die dem Tod angedichtet wird, in dem Bild der Heiterkeit, das man von ihm malt, äußert sich — wie es schon Eichendorff gesehen hat — Schwermut. Döblin steuert in dem umkippenden Hin und Her, welches seiner Erzählung eigentümlich ist, die Erkenntnis an, daß der Mensch,

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Schillers Werke, Nationalausgabe, Band I, S. 193, Weimar 1943. Joseph Freiherr von Eichendorff, Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, hg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Bandii, Stuttgart 1957, S. 313. A. a. O., S. 292.

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er mag den Tod als Feind oder als Freund betrachten, in großer Not, in Angst und Schwermut, stirbt. 21 Erneut hat unsere Interpretation revidiert werden müssen. Auch wenn Döblin die Beschönigung des Todes als unwahres Verhältnis zu ihm bloßstellt, so ist diese Unwahrhaftigkeit doch ein Ausdruck menschlicher Not und insofern wiederum nicht unwahr. Dieses Paradox läßt erkennen, wie schwierig es mit dem Verhalten gegenüber dem Tod bestellt ist. Es ist zwar abwegig, den Tod zu fliehen oder ihn fernhalten zu wollen, aber nicht minder abwegig ist das Umgekehrte: ihn herbeizusehnen und sich ihm in die Arme zu werfen. Der Weg in den Tod führt in die Weglosigkeit. Daß Döblin nicht den Weg der Beschönigung zu betreten gewillt ist, heißt nicht, er schlage den Weg ins Häßliche ein. Gewiß, er stellt den Tod in weit schrecklicheren Bildern dar, als das Gerippe des Sensenmannes eines gewesen ist; die Menschen in seinen Dichtungen sinken nicht wie Gras und Blumen hin, sie werden »mit Faustschlag und Fußtritt« umgeworfen 22 , mit dem Beil »Zentimeter um Zentimeter zerhackt« 23 , in der Bombenexplosion zerfetzt 24 . Aber was in derartiger Radikalisierung vor sich geht, ist nicht die simple Umdrehung des Bisherigen. Anhand des Wortes, mit dem Goethe seine Begeisterung über die Schrift »Wie die Alten den Tod gebildet« ausdrückt, mag dies erläutert werden: »Hier konnten wir nun erst den Triumph des Schönen höchlich feiern, und das Häßliche jeder Art, da es doch einmal aus der Welt nicht zu vertreiben ist, im Reiche der Kunst nur in den niedrigen Kreis des Lächerlichen verweisen.« 25 Würde Döblin die Dinge umdrehen und auf den Kopf stellen — oder wie in solchen Fällen gesagt wird: das auf dem Kopf Stehende auf die Füße stellen —, so hieße das, daß er am Häßlichen seine Freude hätte und das Schöne der Lächerlichkeit preisgäbe. Wer nur eine Gegenbewegung ausführt, läßt sich Ziel und Weg von dem Bekämpften vorgeben und vermag im Grundsätzlichen nicht das mindeste zu ändern. Döblin hingegen ist in entschiedenem Sinne ein moderner Dichter. Er bleibt nicht innerhalb des Grundrisses der Antithetik, das eine preisend, das andere verwerfend, allenfalls die Mitte oder die Synthese suchend; ihm ist es darum zu tun, durch das Gegensätzliche

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Der Akkord »Schwermut und Angst« tönt einem des öftern aus dem Roman »Der schwarze Vorhang« entgegen; vgl. JR 158. Der schwarze Vorhang, J R 205. BA 477. H 9. Dichtung und Wahrheit, Artemis-Ausgabe, Band 10, S. 348.

hindurchzustoßen, über die Entgegensetzungen hinauszugelangen. Natürlich ist er nicht der einzige, der solches unternimmt. Hier muß jener frühverstorbene Dichter genannt werden, dessen schmales Werk nach Jahrzehnten der Vergessenheit erst um die Jahrhundertwende, dafür umso nachhaltiger, seine Wirkung auszuüben begann und dessen Spuren auch bei Döblin oft erkennbar sind: Georg Büchner. Auch er hat sich gegen die Schönfärbung des Todes gewandt, und sein Danton ist mit dem Stiftsfräulein zu vergleichen, wenn er sagt: »Ich kokettire mit dem Tod, es ist ganz angenehm so aus der Entfernung mit dem Lorgnon mit ihm zu liebäugeln.« 26 Aber die Leichtfertigkeit des Kokettierens hat ein Ende, »wenn der Tod einem so unverschämt nahe kommt und so aus dem Hals stinkt und immer zudringlicher wird« und einen vergewaltigt 27 , so daß es für Danton wie für das Stiftsfräulein ein Elend ist, sterben zu müssen. 28 Ein durchaus verwandtes Grundmuster liegt auch in Hofmannsthals lyrischem Drama »Der Tor und der Tod« vor. Claudio erfährt den Tod ebenfalls anders als erwartet, nur verläuft die Wandlung seines Verhältnisses zu ihm umgekehrt. Auf das anfängliche Zurückweichen und Sträuben folgt die Hingabe: »Sei du mein Leben, Tod.« 2 9 Das mißbilligende Kopfschütteln des Todes läßt keinen Zweifel: da ist jenes Kokettieren, das eine falsche Einstellung zum Tod anzeigt, Korrelat eines unwahren Bezugs zum Leben. Mit der Todesthematik ist das Thema des ungelebten Lebens verknüpft, und genau dieser Zusammenhang erscheint auch in Döblins »Stiftsfräulein«. Im Kokettieren mit dem Tod drückt sich, da ja durch die Regression die Mädchenzeit wiederkehrt, das frühere Verhältnis zum Leben aus. Gebundenwerden und Binden ist dem Stiftsfräulein fremd geblieben, sie hat sich nicht ins Leben hineinverweben, sich nie ans Leben verlieren können. Sie hat es sich vom Leibe zu halten versucht, aus der Ferne mit ihm geliebäugelt. Da in dieser Erzählung Tod und Leben ineinandergespiegelt sind, ermißt der Leser, wie sehr Lebensangst dieses Verhalten bestimmt haben muß. Alle diese M o tive finden sich schon im »Schwarzen Vorhang« und bilden dort ein eher

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Georg Büchner, Sämtliche Werke, hg. von Werner R. Lehmann, Band I, Hamburg 1967, S. 39. Ebd. S. 60. Ebd. S. 66. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, III, Dramen 1, Frankfurt a. M. 1982, S. 70. - Auf dieses Wort Claudios weist Helga Stegemann hin: Studien zu Alfred Döblins Bildlichkeit, Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen, Bern 1978, S. 100.

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amorphes Konglomerat. Sie sind im Prozeß der Verdichtung, der den Erzählungen das überaus enggeschlagene Gewebe gegeben hat, zumeist aus der Form direkter Mitteilung ins Indirekte gewendet worden; so kommen Ausrufe wie die folgenden kaum mehr vor: »Ich habe nie gelebt« 30 , »O, Tod, wie süß bist du? O, ich bin so verdorrt« 31 , »Tot ist das Leben, leichenstarr das Leben; es gibt kein Leben, sonst müßte es Liebe und Hände geben.« 3 2 Doch sind sie in das Geflecht der Erzählungen eingegangen, und man darf vielleicht sagen, daß die Geschichte vom sterbenden Stiftsfräulein ein einziger Hilferuf sei. Döblin wird in der »Helferin« das Thema des liebreichen Todes ein weiteres Mal aufgreifen: Bessie Bennet, die mit zwanzig Jahren hat sterben müssen und unsäglich ungern gestorben ist, darf als Gehilfin des Todes ins Leben zurückkehren und den Sterbenden mit ihrer Anwesenheit die Angst vor dem Tod nehmen und ihnen mit ihrem zauberisch verlokkenden Wesen zu einem sanften, friedlichen Ende verhelfen. (44) Aber sie wird vertrieben und ist nun bloß noch eine Sagengestalt, Gespinst aus Schwermut und Sehnsucht. Seinen Vorbehalt meldet Döblin hier nur schon dadurch an, daß es sich um eine Gespenstergeschichte handelt; überdies fällt auf, daß die Kranken diesen Todesengel »wie in einer unentrinnbaren Sucht« zu sich rufen lassen, »eher noch als einen Priester oder einen Arzt«. (41) Wie eine Ergänzung zu dieser Geschichte liest sich deshalb die Legende »Die Flucht aus dem Himmel«. In einer Erzählweise, die das Ineinander von Zeit und Ewigkeit, von Ablauf und Gleichzeitigkeit wiederzugeben versucht, wird darin berichtet, wie den Gottessohn danach verlangt, sein himmlisches Dasein zu verlassen, um als Mensch bei den Menschen zu sein, ihr leidvolles Erdenleben zu teilen. Auch er ist ein Helfer, aber hilft nicht zum Tode, und wäre dieser noch so leicht und sanft, sondern erweckt Tote zum Leben, »als hätte er ein ganz neues Dasein für sie vor« (293). Daß Döblins Dichtungen von Hilflosigkeit und Hilfe handeln, ist nicht verwunderlich. Einem Arzt ist es ums Helfen zu tun, schwerlich wird er sich als Dichter untreu sein. Ob er sich das dichterische Wort nicht nur als Darstellungsmittel, sondern gar als ein helfendes Wort denkt? Ob er, wie Rilke 3 3 , der Dichtung zutraut, sie könne dem Menschen

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J R 190. J R 135. J R 204. Rainer Maria Rilke, Die Briefe an Gräfin Sizzo, hg. von Ingeborg Schnack, Frankfurt a. M . 1977, Brief vom Dreikönigstag 1923, S. 52 f.

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Mittel ins Gemüt geben, sich mit dem Tod zu vertragen und zu verständigen? Verschiedene Stellen in Döblins Werk - besonders deutlich der Abschnitt über Hiob in »Berlin Alexanderplatz« 34 — legen den Gedanken nahe, daß seine Dichtungen Geringeres im Sinne haben: den Menschen zur Einsicht in seine Hilfsbedürftigkeit zu bringen, so daß er bereit und willens wird, Hilfe zu empfangen.

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BA 156 f.

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Die Tänzerin und der Leib Die Titel sind bei Döblin mehr als bloße Überschriften, sie geben Winke ins Wesentliche. Die Erzählung, die er 1910 als seinen ersten Beitrag in der eben gegründeten Zeitschrift »Der Sturm« veröffentlichte, stellt zwar, ähnlich der Geschichte vom Stiftsfräulein, dar, wie ein Mensch ans Ende seines Lebens gelangt, diesmal ein junger Mensch, aber die Hauptsache ist das Verhältnis zum Leib. Es zeigt sich im Titel eine eigentümliche Entfremdung zwischen Person und Leiblichkeit an. Für das Mädchen, das nach dem Willen der Mutter, nicht aus eigenem Antrieb, Tänzerin geworden ist, verschärft sich der Gegensatz von Seele und Körper, von Geist und Natur zum Streit, den austragen zu müssen sein Verhängnis wird. Der Hang der kleinen Ella zu Gliederverrenkungen und Grimassen ist von der Mutter als Anzeichen tänzerischer Begabung aufgefaßt worden. Dabei ist sie, bevor der Tanzunterricht eingesetzt hat, in jedem Schritt »läppisch« gewesen (18), was den Anschein von ulkiger, clownesker Wesensart erweckt haben mag, worin sich jedoch in Wahrheit eine mehr als bloß täppische Unbeholfenheit dokumentierte. 1 Die Mutter hat gegen die Natur des Töchterchens gehandelt und damit einen schlimmen Fehlentscheid getroffen. Sie hat ihr Kind vergewaltigt, gleich wie in dem stark autobiographisch gefärbten Roman »Pardon wird nicht gegeben« die Mutter mit ihrem Sohn Karl verfährt, indem sie mit einem Beschluß, gegen den es keine Appellation gibt, über seine ganze Zukunft verfügt 2 und ihm dadurch einen Schlag versetzt, von dem er sich nie mehr erholen wird 3 . Ausbildung bedeutet für Ella, da sie nicht im mindesten eine geborene Tänzerin ist, vor allem Willensschulung. Sie lernt den Körper bezwingen und beherrschen, ihre Aufsicht ist überall zugegen, schleicht sich in die

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Goethe braucht in »Faust II«, 1. Akt, »läppisch« als Steigerung zu »täppisch«, vgl. Artemis-Ausgabe, Bd. 5, S. 309. Ρ 76. Ρ 61.

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Zehen, die Knöchel, die Knie ein. (18) So führt sie vorerst Krieg mit ihrem Leib, überwacht sodann den besiegten Feind, lebt im Mißtrauen wegen ständig möglicher Unbotmäßigkeit und Rebellion. Was Döblin im »Schwarzen Vorhang« von Irene sagt: »Sie war von den Dingen getrennt, fühlte sich in ihren Gliedern«4, könnte auch von Ella gesagt sein. Wer sich in seine Glieder einschleichen muß, ist nicht dort, wo man ordnungsgemäß und üblicherweise zu sein pflegt, nämlich bei den Dingen, etwa bei einem zu formulierenden Sachverhalt, beim krummgeschlagenen Nagel, bei der Bergwanderung von gestern. Von den Dingen getrennt sein heißt für Döblin auch: nicht bei sich selbst sein. Irene nämlich ist »entselbstet«, wie dem Leser kurz zuvor mitgeteilt wird 5 , sie ist ganz von sich »abgedrängt«6, was darauf zurückzuführen ist, daß Johannes ihre Seele »von ihr getrennt« hat 7 . Bei sich selber sein ist also dasselbe wie bei den Dingen sein. Nur konkreter Weise ist man bei sich selbst, in dem so oder so gearteten Umgang mit Menschen und Dingen, nicht etwa bloß in der Rückwendung zu sich selbst, vielmehr in seinem Da-sein mit der jeweiligen dazugehörenden Bewandtnisganzheit, und dies in einer solchen Unauffälligkeit des Leibes wie des Bewußtseins, daß keine Entgegensetzung aufkommt. Darum hat einst »mîn lip« die Bedeutung von »ich« gehabt. Bei Ella hingegen verhält es sich anders. Die Redewendung »wie sie leibt und lebt« will nicht recht zu ihr passen, sie lebt nicht, indem sie leibt, sie ist nicht leiblich, sondern hat einen Leib. So ist ihr Leib gar nicht mehr Leib, er ist zum Körper geworden. Ihr Tanzen bezeugt »wundervoll beherrschte Körperlichkeit«, um auf sie ein Wort zu beziehen, das in Thomas Manns »Tonio Kröger« den Tanzlehrer Knaak und darüber hinaus die damalige, schon lange herrschende Auffassung vom Tanz charakterisiert.8 Man muß sich Ella als Tänzerin des klassischen Balletts im Stil der Jahrhundertwende vorstellen. Ergebnis einer geradezu gewalttätigen Körperschulung, ist ihr Tanz nichts Natürliches. Natur ist unterjocht, berechenbar gemacht, vom Kalkül gelenkt. Auch noch über den üppigsten Tanz ist Kälte gesprüht. (18) Es kann hier nicht die Rede davon sein, daß der Tanz, wie Pindar sagt, der Beginn festlicher Freude sei. 9 Ella

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J R 178. J R 176. J R 170. J R 168. Thomas Mann, Ausgewählte Erzählungen, Stockholm 1948, S. 129. Pindar, Erste Pythische Ode, V. 2: básis aglaías archá.

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ist nicht wie Bessie Bennet »zum Springen gefüllt mit Lebensbegier« 10 , bei ihr ist es nicht so, daß sie springen und tanzen muß, wenn es sie nicht zersprengen soll. Sie tanzt nicht die Lebensliebe, wird uns doch ihr ganzer Habitus als lieblos geschildert (18): sie hat einen ungeduldigen Gang, eine abgehackte, befehlerische Stimme, einen kühlen und spöttischen Blick für die Schwächen der andern. Als Döblin seine Erzählung schrieb 11 , hatte eine Tänzerin ganz anderen Wesens mit ihren ersten erfolgreichen Auftritten - 1904 auch in Berlin - die Umgestaltung der Tanzkunst eingeleitet: die Amerikanerin Isadora Duncan, die zu demonstrieren vermochte, daß der Tanz nicht das Resultat technischer Perfektion zu sein braucht, sondern der natürliche, spontane Ausdruck von Gefühlsbewegungen sein kann. Die Kunst des Tanzens begann sich auf ihren Ursprung zu besinnen und sich aus ihm zu erneuern. Dabei spielte die Begegnung mit fremdländischen Kulturen eine besondere Rolle. So vergegenwärtigten indische Tempeltänzerinnen den Zusammenhang zwischen Tanz und Kult. Wie ihre Darbietungen aufgenommen wurden, dafür dürfte ein pointiertes Wort Rodins kennzeichnend sein: »Die Bewegungen dieser Frauen, wenn sie tanzen, sind richtig. Die Bewegungen der europäischen Tänzerinnen sind falsch. Man kann das nicht erklären, aber es ist gar nicht zu diskutieren, man fühlt es mit dem Auge, so wie man falsche Noten mit dem Ohr fühlt.« 1 2 Bei seiner Agilität und seinem Interesse für alle Erscheinungsformen der Kunst, dürfte es Döblin kaum entgangen sein, was sich da anbahnte. Die Kenntnis neuer Möglichkeiten, auch wenn er von ihnen bloß gehört und keine eigene Anschauung davon gewonnen hätte, kann den Anstoß zu dieser Kurzgeschichte gegeben haben, in der sich am Beispiel einer Ballerina Wesenszüge europäischer Sinnesart darstellen ließen. Mit dem Porträt, das Döblin von Ella zeichnet, wird ein Bild des neuzeitlichen Menschen entworfen. Seit im Spätmittelalter die Entgegensetzung von Seelisch-Geistigem und Körperlich-Naturhaftem gängig geworden ist, seit sie — namentlich auch dadurch, daß Descartes sie in

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Die Helferin, E 44. Verschiedene Indizien sprechen für eine frühe Entstehung, vor allem die zeitliche Reihenfolge in der Publizierung und die Anordnung im Sammelband »Die Ermordung einer Butterblume«, aber auch auffallende Parallelen zu Isolde im »Schwarzen Vorhang«, der schwebsam leichten, bläulich Schwarzhaarigen (JR 131), Flinkfüßigen, Schwarzäugigen (JR 136), auf deren strengen Lippen Hohn liegt (JR 137). Diese in einem Interview gemachte Bemerkung ist wiedergegeben in Hugo von Hofmannsthals Essay über Ruth St. Denis »Die unvergleichliche Tänzerin« aus dem Jahre 1906. Prosa II, Frankfurt a . M . 1951, S. 260 f.

der antithetischen Form des ego cogitans und der res extensa zum Fundament des Denkens erklärt hat — in allen Lebensbereichen vorwaltend geworden ist, hat man das Wesen des Menschen im Rahmen der psycho-somatischen Differenz und Interferenz ausgelegt, und dabei ist im Zuge der Erhöhung des einen und der Erniedrigung des andern mehr und mehr der Herrschaftsanspruch des Geistes hervorgetreten, so daß die Gegenseite nur insofern anerkannt wird, als sie sich willfährig und dienstfertig und in ihrem Werkzeugcharakter zweckmäßig und funktionstüchtig zeigt. Es soll alles machbar sein, und in dem Beispiel, das Döblin für dieses Postulat gibt, bleibt der Erfolg auch keineswegs aus: Ella wird, gerade weil sie mehr Widerstand als andere hat überwinden müssen, eine vorzügliche Balletteuse. Ein rätselhaftes Geschehnis beendet nun aber jäh die Karriere der Tänzerin: das Mädchen wird von einer Krankheit befallen. Über deren Ursachen sagt Döblin nichts. Er beschränkt sich — wie er es im sogenannten »Berliner Programm« 1913 von der Dichtung verlangt — »auf die Notierung der Abläufe«, und es scheint sich zu bestätigen, daß er für das Warum nur ein Achselzucken übrig hat. 13 Indes muß man bei der polemischen Natur vieler Äußerungen Döblins darauf achten, daß sie nichts Allgemeingültiges auszusagen beabsichtigen, sondern gegen bestimmte Auffassungen vorgehen wollen. Die zitierte Stelle richtet sich gegen die retrospektive Bewußtseinspsychologie, gegen die »Analyse von Gedankengängen«, wie sie in Romanen, Novellen und Dramen üblich sei, gegen die im Rückblick sich einstellende Meinung also, Handlungen und Ereignisse gingen unmittelbar aus bewußten Reaktionen, Folgerungen und Absichten hervor. Döblin hat nicht im Sinn, die Ätiologie vom Tisch zu wischen — was für einen Arzt auch reichlich sonderbar wäre - , er will vielmehr ihr Spektrum erweitern und Einsicht in das Komplexe geben. Er macht darauf aufmerksam, daß in der Psychologie die Vorstellungen von den Zweckursachen zu revidieren sind und in der Medizin das naturwissenschaftliche Kausalitätsdenken nicht länger eine solch beherrschende Rolle spielen darf 14 . In der Erzählung von der Tänzerin wissen die Internisten des Krankenhauses keinen Rat, weil sie in den hergebrachten Kategorien befangen sind. Sie untersuchen die verschiedenen Körperorgane, stoßen trotz allen Bemühungen auf keinen Befund und sind deshalb nicht in der Lage, das Schädliche zu erkennen und zu 13 14

An Romanautoren und ihre Kritiker, AL 16. Döblin sagt, das Kausalitätsdenken habe »sein Recht, aber auch seine Grenzen« (UD 140).

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beseitigen. Sie scheinen gar nicht auf den Gedanken zu kommen, daß es sich um psychogene Krankheitserscheinungen handeln könnte und der Fall überhaupt nicht in ihre Kompetenz gehöre. Wenn nun Döblin weder im seelischen noch im körperlichen Bereich irgendwelche Krankheitsursachen namhaft macht, heißt das nicht, daß er keinerlei Anhaltspunkte gäbe, die eine im Rahmen der Erzählung hinreichende Erkenntnis der Zusammenhänge ermöglichten. Die Krankheit der neunzehnjährigen Ella äußert sich vor allem darin, daß ihre Glieder schwer werden. Sie entziehen sich ihr, wie Döblin sagt (18); das Krankheitsgeschehen greift also in das System von Gewaltherrschaft und Kadavergehorsam ein. Etwas in Ella lehnt sich gegen die Vergewaltigung auf, sei es, daß der geknechtete Leib aufbegehrt oder der Geist, der die Unterwerfung erzwingt, mit sich selbst hadert, sei es, daß die Tochter sich gegen die Mutter empört. Die Verschiedenheit dieser Vermutungen legt den Gedanken nahe, daß dasjenige, was hier rebelliert, im Grunde genommen weder das Seelische noch das Leibliche ist, sondern das Lebendige, die Einheit des Leiblich-Seelischen. Die gekränkte Lebendigkeit verlangt ihr Recht und droht mit allem Nachdruck, sich zu verweigern, was sogleich am gespenstischen Aussehen, an Ellas »bleichem Siechtum« erkennbar wird. In ihr mögen sich Empfindungen regen, wie sie die Tänzerin Rosetta in Büchners »Leonce und Lena« beschleichen, dumpfer wohl, weniger bewußt: O meine müden Füße, ihr müßt tanzen In bunten Schuhen, Und möchtet lieber tief, tief Im Boden ruhen. 15 Ihr Leiden, nicht anders als bei Rosetta, ist Mangel an Liebe. Im achten der »Gespräche mit Kalypso« vertritt ein alter Mann die Ansicht, der Tanz sei der Liebe entgegengesetzt, er müsse eine hoheitsvolle, strenge, fromme Kunst sein, welche »die Unterjochung des Leibes unter den Willen« verwirkliche, den jungen Menschen mit Kampfgeist erfülle, dem Gefasel von Liebe entgegenwirke und die Unzucht fernhalte. 16 Ähnlich mag auch Ellas Mutter, die gleichfalls als alt bezeichnet wird (18), über die Tanzkunst denken. Man erahnt nun einiges vom lebensgeschicht-

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A . a . O . , S. 111. GK 110. - Das achte Gespräch wurde im Juli 1910, vier Monate nach der Erzählung von der Tänzerin, veröffentlicht.

lichen Hintergrund, aus welchem der Beschluß der herrischen Mutter, die Tochter zur Tänzerin zu machen, hervorgegangen sein muß. Unter dem gewalttätigen Regime, dem sich Ella während der Ausbildung hat unterziehen müssen, das sie aber auch ganz in ihren Willen aufgenommen hat und unerbittlich ausübt, hat sich ihre Weiblichkeit nicht entwickeln können. Gestalt und Gesicht haben etwas Knabenhaftes. Ella ist in der vorpubertären androgynen Wesensart steckengeblieben. Tief in ihr verborgen, regt sich nun aber der Wunsch, anders zu sein. Wenn sie zu sprechen verlernt, will diese Aphasie dafür sorgen, daß sie das Befehlerische ihrer Stimme nicht mehr hören muß (18 f.): offensichtlich soll die männliche Komponente ihres in geschlechtlicher Indifferenz blockierten Wesens zurückgedrängt werden. Das Versagen der Wortsprache läßt ermessen, in welch qualvollem Zustand Ella sich befindet und wie groß seit längerem ihre Kommunikationsnot gewesen ist. Mit der zunehmenden Unfähigkeit, zu reden und sich mitzuteilen, hat der Leib die Funktion der Sprache übernommen, ähnlich wie etwa ein Kind, das sich vergeblich Gehör verschaffen will, in der Weise protestiert, daß es sich auf den Boden wirft und sich weigert weiterzugehen. Die Reduktion auf die Leibsprache ist ein Symptom dafür, daß sich Ella, abgedrängt von sich selbst, zum Kindesalter zurückbewegt. Man hat also entgegengesetzte Tendenzen zu registrieren, zurückweisende und vorwärtsweisende. Daß ihr die Glieder den Dienst versagen, ihre »seidenleichte Figur« (18) für ihr Empfinden zum schweren Leib wird, ist als Versuch einer Mitteilung aufzufassen, und zwar darf man annehmen, daß diese sich ebenso an Ella selber wie an ihre Mutter richtet. Wäre diese Leibsprache vielleicht dahin zu verstehen, daß Ella nicht mehr tanzen kann, weil sie nicht mehr tanzen will, daß sie schwere Glieder bekommt, weil sie — ihr unbewußt — einen schweren Leib haben möchte, weil dieses Etwas in ihr, das sich gegen das Dasein einer Tänzerin auflehnt, den Wunsch nach Mutterschaft hat? Die rätselvolle Verhinderung des Tanzens, die sich bis zur Abasie steigert, hätte demnach mit einem Konflikt zwischen Unbewußtem und Bewußtheit, zwischen Trieb und Willen zu tun. Dergleichen zu vermuten mag gewagt scheinen, die sonderbare Zeichnung jedoch, welche das kranke Mädchen in kindlicher Gestaltungsweise und Darstellungstechnik auf ein Stück Leinwand entwirft und mit roter Seide ausstickt — Sprache in Form einer Bildphantasie —, nötigt einen, die Sache doch ernsthaft zu erwägen. Ella zeichnet nebst einem Arzt zwei Figuren, die Selbstbildnisse sind, wovon das eine in dem zur Diskussion stehenden Zusammenhang Aufmerksamkeit verdient: »ein runder unförmiger Leib auf zwei Beinen, ohne Arm und Kopf, nichts als 27

eine zweibeinige dicke Kugel.« (20) Das Nebensächliche ist weggelassen, so — verräterisch genug — der Kopf. Denken, Willenskraft, Herrschaft, für Ella als Tänzerin von entscheidender Bedeutung, kommen bei dem, was sie sagen will, nicht in Betracht; das Wesentliche ist demnach das von der Natur Veranlaßte und von selbst Geschehende. Gewiß, Ella porträtiert sich in ihrem jetzigen Zustand krankhafter Schwere und Unbeholfenheit, aber die Zeichnung, aus dem Unbewußten entstehend, dürfte, wie Traumbilder es sind, fluktuierenden und ambivalenten Charakters sein. Ein und dasselbe kann mehreren Gedankengängen zur Darstellung dienen. Könnte dann die Figur nicht auch eine Schwangere abbilden? Ein Interpret psychoanalytischer Observanz hätte jedenfalls keine Mühe, weitere Argumente für diese These zu finden. Auf andere Weise läßt sich dieser Gedanke weiterverfolgen, wenn man der von Walter Muschg geäußerten Mutmaßung nachgeht, Döblin sei zu seiner Erzählung von Kleists Aufsatz über das Marionettentheater inspiriert worden. 17 Im Marionettenaufsatz wie in der Erzählung ist der Gegensatz zwischen Körper und Seele, zwischen dem Bewegten und der bewegenden Kraft wesentlich, wobei allerdings bei Döblin das Thema der unbewußten Grazie durch das der willentlichen Beherrschung abgelöst ist; beide Dichter sprechen von der Schwerelosigkeit, dem einen ist sie ein fragloser Vorzug, dem andern eine zweifelhafte Errungenschaft. Kleist lobt die Marionetten dafür, daß sie von der Trägheit der Materie, »dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften«, nichts wüßten, weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebe, größer sei als jene, die sie an die Erde feßle, sie seien »antigrav«. 18 Da für Döblin »Materie« nichts Minderes oder gar Niederträchtiges ist — er lehnt die Interpretation der Materie als purer Stofflichkeit ab 1 9 - , mag ihn das von Kleist gebrauchte Wort »antigrav« angeregt haben, die Gravidität und nicht die Gravitation dem Schwebenwollen entgegenzusetzen. Hier reiht sich nun auch eine Stelle der Erzählung »Das Krokodil« ein. Von Julie, die als Kind eine Krankheit mit schweren Bewegungsstörungen durchgemacht hat, dann aber nach ihrer Heilung nachholen kann, was

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Alfred Döblin, Die Ermordung einer Butterblume, Ausgewählte Erzählungen, Ölten 1962, Nachwort des Herausgebers, S. 424. - Döblin, schon im Gymnasium eingehend mit Kleist beschäftigt, hat dessen Werke nach Freiburg mitgenommen (vgl. den Brief an Else Lasker-Schüler vom 10. November 1904, Β 25); dies könnte als weiteres Indiz für die frühe Entstehungszeit der Erzählung gewertet werden.

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Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, München 1965, 2. Band, S. 342. Vgl. »Nochmal: Wissen und Verändern«, in: PG 279 f.

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ihr in der Jungmädchenzeit vorenthalten geblieben ist, so auch das Tanzen — von dieser gesund gewordenen Julie heißt es, niemand sei bei Festlichkeiten so hochmütig und kühl wie sie und drehe sich »so unberührbar im Tanze« (231). Döblin verbindet das schwebende Tanzen mit der Vorstellung der Unberührtheit und Unberührbarkeit. 20 Es gehört zum stillschweigenden Kontext, daß sich Ella — als Tänzerin — den Gedanken an Liebe und Mutterschaft verbietet. Aber mit ihren neunzehn Jahren ist sie nicht mehr ausschließlich Tänzerin. Deshalb haßt sie ihren Beruf in gleichem Maß, wie sie ihn liebt. Wollte sie aber Mutter werden, müßte sie als Tänzerin abtreten, weshalb eine Schwangerschaft ebenso unerwünscht wie erwünscht wäre. Ella ist in einer ausweglosen Situation. Döblin hat mehrfach Menschen in einem nicht behebbaren Dilemma gezeigt. In der »Nachtwandlerin« ist es mit Antonie dahin gekommen, daß sie Valentin haben möchte und doch nicht haben möchte 21 , und diese Ausweglosigkeit hat bei ihr Krankheitserscheinungen zur Folge, die sich mit denen Ellas vergleichen lassen: »Ein plötzlicher Trieb kam über sie, sich nicht zu bewegen.« (155) In Döblins Geschichte von der Tänzerin wird der Gegensatz Seele/ Leib, Geist/Natur zum Zwiespalt. Bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr hat Ella noch keinen solchen gekannt. Sie hat zwar in dem ausgeprägtesten Gegeneinander von Geist und Natur gelebt; weil ihr aber der Geist - Erkenntnis, Bewußtheit, Wille, Herrschaft und was sonst noch zu nennen wäre — das wirklich Lebendige, somit das Höhere gewesen ist, der Leib hingegen das Untere, nämlich dasjenige, das kein eigenes Denken und Wollen hat, sich daher nicht von selbst bewegt, sondern sich bewegen läßt gleich einem Sklaven, Pferd oder Werkzeug — kurz weil es für sie ein fraglos gültiges Oben und Unten gegeben hat, hat sich kein Zwiespalt aufgetan, wie ja zwischen oben und unten keine Kluft entstehen kann. Mit der möglich gewordenen Mutterschaft zeichnet sich für Ella die Möglichkeit ab, daß sich dieses Verhältnis umdreht: der Leib würde sich dann als das Wesentliche erweisen, der Geist als das Untergeordnete. Diese Umkehrung würde aus dem oben beschriebenen Grund noch nicht in einen Zwiespalt führen. Wenn nun aber Geist und Leib gleichermaßen — wodurch die Unterscheidung zwischen einem Obern und einem Untern dahinfällt — den Anspruch geltend machen, das Lebendige zu sein,

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Vgl. auch H 324, wo Proserpina im Kreis der Nymphen geschildert wird: »Sie tanzte zwischen ihnen, heiter und fein, unnahbar fein.« Mit diesen Worten formuliert Döblin in seiner Nonfiction Story »Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord« einen ähnlichen Widerstreit (FG 73).

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jedoch in der Auslegung dieses Lebendigen völlig entzweit sind, bildet sich der Zwiespalt. Wer da hineingerät, muß daraus gerettet werden, oder er geht zugrunde; daß er sich selber heraushelfen könnte, ist nicht denkbar. Die Ärzte müssen Ella zu Hilfe kommen. Da nun aber die Ärzte, ausschließlich mit dem Leib beschäftigt, nach Prozessen suchen, die personfremd sind, fühlt sich die Kranke übergangen. Es kommt ihr vor, sie sei tot und niemand kümmere sich mehr um sie. (19) Der Leib hat sich zum Herrn aufgeworfen, ihm gilt alle Wertschätzung. Bei ihren Bemühungen setzen die Ärzte voraus, daß die Lebendigkeit von leiblicher Wesensart sei, so aber verhärten sie bei ihrer gedemütigten, herrischen Patientin die Entzweiung, ohne es zu wissen, und vertiefen die Kluft. Die letzte Phase in der Leidensgeschichte des Mädchens ist eingeleitet: aus dem Zwiespalt wird Zerrissenheit. Ella sagt sich von ihrem Leib los, sie führen »getrennte Wirtschaft« (20), er soll sie nichts mehr angehen. Damit ist die radikalste Abwertung der Leiblichkeit vollzogen. Von minderer Art ist für sie der Leib schon immer gewesen, nur zum Sklaven tauglich, als solcher fügsam, aber auch aufsässig und rebellisch, so daß sie ihn in Ketten gelegt und eingesperrt hat (19); dann ist er zu einer Sache geworden, zu einem Haus, einem Fuchsbau endlich (19). Die Ärzte haben zu dieser Verarmung das Ihre beigetragen. Mit ihrem rätselvollen Untersuchungsgebaren haben sie ihr den Körper noch mehr entfremdet, sie haben sie beraubt 22 , Stück um Stück von ihr davongetragen, statt ihr den Leib wiederzugeben. Nun stößt sie ihn ins Nichts. Der Verderb des Leibes läßt sie gleichgültig, ist ihr sogar willkommen. Indem Ella jene Zeichnung entwirft und ausstickt, übt sie sich in den Selbstmord ein. Marschmusik hat sie zu diesem jähen und doch keineswegs überraschenden Entschluß gebracht: sie will wieder gehen können, will tanzen. (21) So stellt sie sich in der Doppelgestalt dar, als unförmigen Leib und als das kleine Mädchen, das auf nackten Füßen tanzt, mit der linken Hand dem Arzt eine lange Nase macht und mit der rechten eine spitze Schere in den Leib stößt. Die in der Zeichnung dargestellte Vorwegnahme des Ausgangs gibt sich als endgültiger Sieg des »Höheren« über das »Niedere«, des »Geistigen« über das »Leibliche«. Ihr Selbstmord ist, wesentlich verschieden vom Selbstmordversuch des Stiftsfräuleins, eine Entleibung im wörtlichen Sinne. Mit ihrem letzten Tanz, dem Totentanz, glaubt sie einen Ausweg gefunden, durch ihre Entleibung die 22

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Zu dieser Stelle gibt es eine Parallele im Aufsatz »Sigmund Freud zum 70. Geburtstage«, Ζ 86.

Freiheit gewonnen zu haben, das heißt — mit Kleist zu reden — antigrav geworden zu sein, ledig der Erdenschwere jeglicher Art, und dies gibt ihr die spöttische Überlegenheit zurück; indes, es ist ein ebenso kläglicher wie stolzer Triumph: sie stirbt mit einem Aufschrei, mit einem Schrei, von dem ihre Zeichnung nichts enthält. Gesiegt hat nicht die Freiheit, sondern die Lieblosigkeit, die ihr Zeichen auf dem toten Gesicht hinterläßt. Auch ihre letzten Worte sind davon geprägt: es sind Beschimpfungen und Schmähungen, die ihren Selbstmord zu einem Akt der Rache an dem Manne, den sie als Versager betrachtet 2 3 , werden lassen. Gerade dies aber zeigt Ella im Widerspruch zu sich selbst. Daß ihr Leib verdirbt, ist ihr offenbar doch nicht gleichgültig oder gar willkommen, wie sie es sich einzureden versucht. Und deshalb kann man auch mit Sicherheit sagen, daß sich in ihrer Zeichnung ungewollt auch noch anderes als das Vorhaben des Selbstmordes und das Überlegenheitsgehabe der Selbstmörderin mitteilt. Auf die Entzweiung von Seele und Körper ist die unheilvolle Krankheit zurückzuführen, die überdies mit Schwierigkeiten in der geschlechtlichen Differenzierung und Entwicklung einhergeht. Deshalb kann man aus dem Gang des Geschehens Schlüsse ziehen, in welcher Weise sich Döblin die Möglichkeit einer Heilung gedacht hat, und erst wenn dieser Gedanke nachvollzogen wird, ist die Erzählung im Sinne des Autors wirklich gelesen. Die Entzweiung muß nicht notwendig zur Zerrissenheit und damit in die Zerstörung führen. Der Zwiespalt, in den Ella gerät, zeigt ja die Entzweiung nicht nur als Auseinanderklaffen, er enthüllt auch dasjenige, worin das Entzweite sein Einvernehmen hat. Der zum Zwiespalt gewordene Gegensatz von Geist und Natur macht offenbar, daß das Wesen der Lebendigkeit anders als bisher gedacht werden muß, daß es weder in den reinen Geist gesetzt werden darf, was die Verachtung des Leiblichen zur Folge hat, noch umgekehrt in der ungeistigen Stofflichkeit des Leibes zu erblicken ist, was zur Geringschätzung des Geistes führt. Döblins Erzählung ist gegen diese wie jene Mißachtung gerichtet. Sie deckt das Unwesen jener Tanzkunst auf, die die Unterjochung des Leibes betreiben muß, um schwereloses, immaterielles Schweben zu mimen 2 4 ; sie zielt auf Rehabilitation der Natur, die Thomas Mann in

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Der Ausdruck »Schlappschwanz« (21) ist bei Döblin eine Bezeichnung für Unfähigkeit im allgemeinen (vgl. AS 55), gehört für ihn aber auch in den Sinnbezirk der Sexualität (vgl. AS 39). Deshalb übt Döblin auch Kritik an dem von den Anthroposophen praktizierten Tanzen nach Ideen: »Ich weiß, [...], daß man nach keiner Idee tanzen kann.« (KM 65)

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der Lübecker Rede von 1926 kurzerhand als das »übergewaltig Dumme« apostrophiert 25 und in seinem 1902 geschriebenen »Tristan« den »blöden, ungefügen und verächtlichen Götzen« nennen läßt 2 6 . Döblin hat schon 1896 festgehalten, daß die Natur ihre Rechte verlange: »Es darf kein Glied des Körpers vernachlässigt werden, bei Strafe der furchtbarsten Krankheiten. Und wer es wagt, der Natur zu trotzen, seine >tierischen Triebe< zu unterdrücken, er wird in diesem Kampfe gebrochen unterliegen.« Er hält sich darüber auf, daß man als »tierisch« bezeichne, was doch bei der modernen Gesellschaft das einzige Natürliche sei, »natürlich« in seiner vollen Bedeutung genommen: »von der Natur veranlaßt« 2 7 , und erklärt sogar: »Ein unerbittliches Naturgesetz sagt, du mußt deinem Geschlechtstriebe folgen!« 28 Wenn Döblin die Verleumdung der Natur bekämpfen will, heißt das nicht, daß er die kartesianische Rangordnung einfach umzukehren gedenke. Es geht ihm um die »Erweckung einer als inferior verschrieenen Leiblichkeit zur Seele«, um einen Vorgang, den er 1922 in einem Bühnenwerk verwirklicht sieht und der ihm »schon lange nicht fremd« sei. Was er mit dieser Erweckung meint, verdeutlicht er durch ein Wort Walt Whitmans: »Und wenn der Leib nicht die Seele wäre, was wäre die Seele?« 29 Der Leib ist Seele: dieser Satz behauptet keineswegs die Einerleiheit von Seele und Leib, wohl aber ihre Einheit; er spricht davon, daß der Leib mit der Seele eins ist, und damit ist auf dasjenige verwiesen, worin sie zusammengehören. 30 Dieses Einssein nennt Döblin »ein einziges körperlich-unkörperliches Glück« 3 1 . Weil sich der Dualismus nicht aufheben läßt, ist Döblin genötigt, im Zickzackkurs zwischen den Gegensätzen hindurchzusteuern, um über sie hinauszugelangen, und wenn er von dem anvisierten Ziel reden will, muß er es in widersprüchlichen Formulierungen tun. Er muß gegen das Wort »körperlich« das Wort »unkörperlich« anlaufen lassen. Eine Gegenläufigkeit darf nicht für sich betrachtet werden, denn sie wäre so

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Thomas Mann, Altes und Neues, Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, Frankf. a. M . 1953, S. 310. Thomas Mann, Ausgewählte Erzählungen, Stockholm 1948, S. 91. Modern. Ein Bild aus der Gegenwart. - Aus einem unvollständigen Manuskript, teilweise gedruckt in PG. Vgl. dort S. 13 f. Ebd. S. 15. Der Gott und die Bajadere, KM 73. Zum immer wieder falsch verstandenen Satz der Identität vgl. Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957, und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Schriften von 1806 bis 1813, Wissenschaftl. Buchgesellschaft Darmstadt 1974, S. 285 f. KM 73.

bloße Abkehr vom Ausgangspunkt. Sie hat aber ihren Sinn einzig in einem Ganzen. So gilt es bei der Tänzerin Ella zu erkennen, daß der Entzweiung von Leib und Seele, die zur Zerrissenheit führt, als Gegenstück die behinderte Entzweiung des androgynen Wesens in die geschlechtliche Differenz entspricht. Entzweiung ist von Übel und ist zugleich von Gutem. Sie ist lebensbedrohend, sofern sie nicht Einklang ist; was aber überhaupt nicht entzweit und somit auch nicht gefährdet ist, kann nicht Einklang sein. Von hier aus ist die Notwendigkeit der für Döblin so kennzeichnenden Hin- und Herbewegungen einzusehen. Nicht nur in seinen Dichtungen fällt dieses Hin und Her auf, sondern auch in seiner beruflichen Tätigkeit. Er studiert Medizin, also Naturwissenschaften, und dann wendet er sich der Psychiatrie zu, fasziniert davon, daß körperliche Erscheinungen — zum Beispiel Lähmungen — von seelischen Vorgängen erzeugt sein können 3 2 und nicht durchwegs auf Gehirnkrankheiten zurückzuführen sind. Nach drei Jahren psychiatrischer Tätigkeit wechselt er 1908 zur innern Medizin, und damit kehrt er nicht etwa der Psychiatrie den Rücken, er will vielmehr auf anderem Weg das Dunkel, das um die Geisteskranken ist, lichten helfen: »Die psychische Analyse, fühlte ich, konnte es nicht tun. Man muß hinein in das Leibliche, aber nicht in die Gehirne, vielleicht in die Drüsen, den Stoffwechsel.« 33 Da er von der Psychiatrie herkommt, ist sein Ziel ein anderes als das seiner neuen Kollegen. Diese haben es mit Lungenentzündungen oder Herzkrankheiten zu tun, Krankheiten, die wahllos über die Menschen fallen, ob einer nun böse oder freundlich, gedankenvoll oder gedankenarm ist 34 . Döblin dagegen beschäftigt sich offenbar nicht mit Krankheiten, sondern mit dem kranken Menschen, und der hat nicht irgendeine, sondern seine, die seiner Person zugehörige Krankheit. Döblin sucht nach dem Einssein von Leib und Seele und hofft nun, bei seinen Forschungen auf dem Gebiet der innern Medizin Antworten zu finden, die ihm die psychische Analyse schuldig geblieben ist, sei es, weil sie, die das Unbewußte in Bewußtheit übersetzt, ihm immer noch als rationalistisch, als Derivat kartesischen Denkens erscheint, sei es, weil ihm das Analysierte, der Trieb, nicht als Grenzbegriff des Leiblichen und Seelischen gilt, sondern als Teil des Somatischen. Der Arzt wie der Dichter Döblin sucht den Menschen anders zu sehen, als die vom kartesischen Denken geprägte Neuzeit es tut, nicht

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Sigmund Freud zum 70. Geburtstage, Ζ 82. Arzt und Dichter, AL 362. Ebd.

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als Geistwesen und Körperding, nicht als das Übersinnliche einerseits, das im Bewußtsein seiner selbst jenseits aller Stofflichkeit ist, und nicht als das Ausgedehnte, das Raumding anderseits, das, vermittelt durch die Sinnesorgane, Gegenstand des erkennenden Geistes ist. Der Leib ist etwas anderes als der Körper. Dieser Wandel im Verständnis der Leiblichkeit deutet darauf hin, daß die Auffassung, was Raum sei, in einem Wandel begriffen ist, gleich wie das Wesen der Zeit nicht mehr im einsinnigen Nacheinander von Jetztpunkten erblickt wird. Der Raum wird nicht länger von der Ausdehnung her gedacht.

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Astraila Die von Adolf Gotting gegründete Brüderschaft »Astraila« ist getragen von der Erwartung des Jüngsten Tages und von der Hoffnung, daß bei der Auferstehung der Toten die Gläubigen mit einem Lichtleib bekleidet werden. Denn die Ewigkeit wird dem Tauben das Gehör, dem Blinden das Gesicht und dem Mißgeschaffenen Schönheit des Leibes geben. Der grobstoffliche Körper wird dann zu einem Astralleib geworden sein. Das Denken Gottings und seiner Anhänger ist also von der Eschatologie her bestimmt, mehr noch: die zeitliche Dimension reicht auch in den Anbeginn zurück, ist doch der Privatgelehrte Gotting Verfasser einer Geschichte der hauptsächlichen Fehler im menschlichen Handeln seit dem Sündenfall bis zur Gegenwart. Die im Herbst 1904 entstandene Erzählung verknüpft somit das Thema der Leiblichkeit mit demjenigen der Zeit. Auf die Leiblichkeit macht Döblin den Leser zunächst einmal aufmerksam, indem er ein Ehepaar von ausgesprochener Gegensätzlichkeit zeichnet und überdies durch Wiederholungen den Kontrast unterstreicht: er, Gotting, ein Männlein, verschrumpelt und hutzelig, dünne Arme, dünne Beine, ein Alräunchen, ein Nachtschattengewächs - sie, Elfriede, aufgeschwemmt, dick, sanft. (9 f.) Es ist ein Paar, das an die im »Schwarzen Vorhang« geschilderten ungleichen Eheleute denken läßt: »eine herrische, starkknochige Mutter mit kühlem Blick, ein fügsamer, gedrückter Vater, der nicht klagte, stillstilles Alräunchen, das langsam vertrocknete und einging.« 1 Aber indem Döblin Früheres aufgreift, variiert er es auch. Gotting ist nicht deshalb ein »gedrücktes Männlein« (9), weil er mit einer Frau verheiratet ist, die ihn in seinen Lebensmöglichkeiten einengt. Elfriede gleicht einer andern Person in Döblins frühem Roman, nämlich jener Verwandten, bei welcher Johannes wohnt, einer fettleibigen Frau, die über seinen Appetit und seinen Schnupfen, über seine zerrissenen Socken und schmutzigen Hemden mit einer solchen Teilnahme waltet, daß er oft ungeduldig und seufzend abwehrt. Da Döblin die Leibesbe-

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JR 110 f.

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schaffenheit immer in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen sieht, muß man sich bei beiden Frauen überlegen, welche Erfahrungen und welche Einstellung zu diesen auf sie eingewirkt haben könnten. Nun hört man freilich aus dem Leben jener um Johannes so besorgten Verwandten nicht eben viel, das wenige dürfte umso beachtenswerter sein: ihre Tochter ist verdorben, der Sohn verschollen. Man blickt in ein Frauenleben, das von der Schwermut geprägt ist. Schwermut ist es, die diese Existenz in ein »behäbiges, dickwanstiges Dasein« mit leichter Atemnot verwandelt hat. 2 Wenn Döblin Frau Elfriede »das schwermütige dicke Geschöpf« nennt (12), beschreibt er also nicht einen seelischen Zustand und außerdem das körperliche Aussehen, er meint beides in einem. Er spricht, über den Dualismus von Leib und Seele hinausgreifend, vom Dasein und verbindet dieses Wort auf ungewöhnliche Weise mit einer Körpereigenschaft. In schwermütig-dickwanstigem Dasein wird Döblin noch etliche Personen darstellen: den elefantenhaften Blasierten 3 , den Prinzgemahl in der Geschichte »Die Verwandlung«, und gleichfalls in diese Reihe gehört der in seinem Fett eingekerkerte Gordon Allison 4 . Döblin hält es, anders als im »Schwarzen Vorhang«, nicht für nötig, bei Elfriede Gotting zu sagen, in welchen Bezügen ihre Schwermut zu sehen wäre; aber bei ihm kann auch das Nichtgesagte bedeutsam ..sein. Da man nichts davon vernimmt, daß das Ehepaar Kinder habe, muß man sich seine Kinderlosigkeit vor Augen halten. Als Ursache der Schwermut ist sie freilich nicht zu betrachten; Schwermut hat nicht in diesem oder jenem Umstand ihren Grund, sie geht der Kinderlosigkeit voraus, fühlt sich indes durch diese bestätigt. Elfriede ist in ihren Lebenserwartungen enttäuscht worden. Die Erwartung, die Hoffnung — und daraus ergibt sich ein weiterer markanter Unterschied zu ihrem Manne — gehört nicht mehr zum Dasein dieser »verblühten Frau« (9). Die Sinnlosigkeit von Erwartungen wird ihr ja auch sonst ständig vorgeführt. Was immer sie wegen des feuchten Herbstwetters, des langen Ausbleibens, des vielen Trinkens zu ihrem Mann sagt, sie findet kein Gehör, nichts wird anders werden, es bleibt alles so, wie es ist und schon immer gewesen ist. Wenn nun ihrem Dasein die Ausrichtung auf das Künftige und damit auch jede Spannkraft und Straffheit abgeht, ist es dann vielleicht so, daß sie in ihren Erinnerungen eine Zuflucht hat? Doch nicht der geringste Hinweis berechtigt zu solcher Annahme. Es ist nichts mit der Hoffnung und

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JR m .

Die Memoiren des Blasierten, E 89. H 44.

nichts mit der Erinnerung. Und aus der Gegenwart tönt ihr entgegen: »Du weißt nicht, was du sprichst«, »Ich sollte dich nicht anhören.« (9) Ihr Dasein ist vom Nichts durchsetzt. So erklärt es sich, daß sie selbst als Nichts bezeichnet wird, »das aufgeschwemmte liebevolle Nichts« (10), ein Wort, dessen Berechtigung auch dann, wenn es nicht die Meinung des Autors, sondern nur die Ansicht Gottings mitsamt seiner Überheblichkeit wiedergeben sollte 5 , nicht wesentlich eingeschränkt wird. Daß die Schwermut mit dem Thema der Nichtigkeit beschäftigt ist, braucht kaum erläutert zu werden; wie sie jedoch mit der Fettleibigkeit zusammenhängen soll, ist weiterhin unklar. Als Folgen des lähmenden Nichtigen, das dem Leben jede Selbstverständlichkeit, jede Sicherheit entzieht, sind Schlaffheit und Trägheit — »die schwermütige Ruhe« 6 — an der Korpulenz mitbeteiligt, das Primäre indes dürfte im Wort »behäbig«, das Döblin im »Schwarzen Vorhang« braucht, zu erkennen sein. Das »behäbige, dickwanstige Dasein« ist darauf bedacht, sich an dem, was es hat, was sich hat ergreifen lassen, festzuhalten. Als »häbig« kann sich dieses so nichtige Dasein nur an dem erweisen, was es sich einverleibt. Ausdrücklich vermerkt der Blasierte in seinen Memoiren, daß alle Schwermut ihn nicht um den Appetit gebracht habe. 7 Man kann sich diese Zusammenhänge klarmachen, wenn man bei Kafka liest, daß Menschen, deren Stellung im Leben von Unsicherheit gekennzeichnet sei, »nur das zu besitzen glauben dürfen, was sie in der Hand oder zwischen den Zähnen halten, daß ferner nur handgreiflicher Besitz ihnen Recht auf das Leben gibt und daß sie, was sie einmal verloren haben, niemals wieder erwerben werden.« 8 Kein Dasein ist nun aber so unsicher wie dasjenige, welches völlig auf das Momentane reduziert ist, auf die kleine Kümmernis, die geringe Lebensfreude - dasjenige, das von der Zukunft nichts erwartet, weil in der Vergangenheit das Leben nicht gehalten hat, was es zu versprechen schien; umso willkommener ist in einem solchen Leben des Zukurzgekommenseins und Nichthabens alles, was die Behäbigkeit und das Behagen mehrt. Das Ehepaar Gotting ist in derart profilierten Gegensätzen gezeichnet, daß man den Eindruck bekommt, es habe sich zwischen den beiden eine

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Auch mit dem Wort »Bußsalbadereien« drückt Döblin kein persönliches Werturteil aus, sondern dasjenige der Leute, vor denen Gotting seine Anprache hält. (10) Die Verwandlung, E 63. Die Memoiren des Blasierten, E 89. Franz Kafka, Briefe an Milena, hg. von Willy Haas, Frankf. a. M . 1966, S. 34. Ähnlich im »Brief an den Vater«, in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, New York City 1953, S. 191.

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tiefe, unüberbrückbare Kluft aufgetan; da aber diese Gegensätze genau aufeinander bezogen sind, sich entsprechen, ergänzen und korrigieren, sind die Gatten zusammengehalten und scheinen ihre Zusammengehörigkeit wahren zu können. Adolf Gottings Zukunftserwartung ist das Gegenstück zu der jeglicher Züversicht entbehrenden Schwermut seiner Frau, aber nicht so, daß die Schwermut mit einem negativen, die Erwartung mit einem positiven Vorzeichen versehen wäre. Die Hoffnung ist bei ihm eine pervertierte Hoffnung; sie ist die spiegelverkehrte Schwermut. Pervertiert ist Gottings Hoffnung vor allem in dem Sinne, daß sie zur Gewißheit verfälscht ist. Zukunft ist ihm nicht der Bereich des Glaubens und Hoffens, sondern ein Gegenstand des Wissens. Daß Gotting ein Wissender sei, wird immer wieder betont. Er weiß, daß er ein Denker ist — seine Frau weiß es nicht; er weiß, was er sagt — sie weiß nicht, was sie spricht; er kennt die Fehler im menschlichen Handeln von Anbeginn bis zur Gegenwart; er versichert den Brüdern, daß der Weltuntergang unmittelbar bevorstehe; er weiß, daß der Heiland schon in den Wolken steht, bereit, sein Werk auf Erden zu vollenden. Er mag sich Hiob vergleichen, wenn er in der Brüderschaft singt: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« 9 , zu Unrecht, denn Hiob weiß es in seinem Herzen, Gotting hingegen, der Gelehrte, mit seinem Kopf. Daß er Wissen und Wissen nicht auseinanderhält, daß er Glauben und Wissen zusammenfallen läßt, spiegelt sich auch in seinem Verhältnis zum Künftigen. Er meint ein Prophet zu sein (10), aber er versteht das Prophetentum nur in einem trivialen Sinne: er ist der Ansicht, das Prophetische bestehe im Verkünden geoffenbarter Zukunft. Deshalb sieht er seinen Auftrag darin, den Zeitpunkt der im letzten Gericht sich verwirklichenden ewigen Gottesherrschaft zu weissagen. Er zitiert aus dem Matthäusevangelium die Prophétie, der Heiland werde in den Wolken kommen 10 , aber er hat nicht zur Kenntnis genommen, daß kurz danach geschrieben steht, niemand wisse von dem Tag und von der Stunde, auch die Engel im Himmel nicht, sondern allein Gott 11 . So ist er ein falscher Prophet, er bringt nicht die Majestät Gottes zur Geltung, sondern tritt ihr zu nahe. Damit daß Gotting ein ihm nicht gegebenes Wissen usurpiert, verliert für ihn das Künftige den Zukunftscharakter und wird Gegenwart. Er ist mit Ma-noh verwandt, von dem es im Wang-lun-Roman heißt, sein Glaube an das Westliche Paradies sei vormals in ein Entrückungsgefühl, 9 10 11

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Hiob 19, 25. Matth. 24, 30. Matth. 24, 36.

in ein überschwengliches Sehnen eingewickelt gewesen, dann aber habe er den Glauben mit eisernen Griffen gepackt vor sich hingehalten und das Paradies zu etwas Nahem gemacht. Auch das folgende Wort über Ma-noh kann auf Gotting bezogen werden: »Kein Götze konnte blinder blicken als er.« 1 2 Die zeitliche Dimension hat nun nicht mehr die Spannweite, wie sie anfänglich ins Auge fiel. Das gilt auch für den Bezug zum Vergangenen. Wenn nämlich Gotting eine Geschichte der verfehlten Handlungen seit dem Sündenfall schreibt, zielt er darauf ab, die gesamte Menschheitsvergangenheit von sich zu tun und sich über sie zu erheben. Der Verfasser eines solchen Buches will sich selbst vom status corruptionis ausnehmen und als Unbefleckter dastehen; daß er an seiner Frau unrein zu werden fürchtet, ist symptomatisch (13). Er verharmlost die Sünde zum Fehler, zum Vermeidbaren also und von ihm selber auch tatsächlich Vermiedenen. Außerhalb der Geschichte stehend, kann er seinen Richterspruch über die Vergangenheit fällen und sie damit zu dem Endgültigen machen, mit dem er sich nicht länger zu beschäftigen braucht. Auch sein Dasein, gleich dem seiner Frau, zieht sich auf das Momentane zusammen. Der Unterschied besteht darin, daß das Momentane gegensätzlich akzentuiert ist. Bei ihr ist es dasjenige, das sich im Zeitablauf nicht zu halten vermag und immerfort ins Nichts hinschwindet; bei ihm will es sich ins Größte steigern, die Zeitfolge sprengen und das allumfassende, unveränderliche Jetzt werden; dort liegt Anspruchslosigkeit vor, hier wird der denkbar größte Anspruch erhoben; dort ist das Momentane das einzige noch nicht Verlorene, hier ist es der für alles entschädigende Gewinn. Diesen entgegengesetzten Ausformungen des Momentanen hat Döblin die Leibesgestalt zugeordnet, und zwar in der zunächst sonderbar scheinenden Weise einer Widersprüchlichkeit: dem »liebevollen Nichts«läßt er die Massigkeit zugehören; dem, der seinen Sinn auf das All richtet, gibt er das dürftige Aussehen eines Alräunchens. Ein Reflex von diesem Sachverhalt findet sich — viele Jahre später — in Döblins Bericht über den internationalen Kongreß der Psychoanalytiker, der 1922 in Berlin stattfand: »Ich vermag auch nicht einzusehen, daß etwa die paralytische Gewichtszunahme ein Ausdruck der angestrebten Ichvergrößerung ist; man findet Zunahme besonders bei schweren Verblödungen; Größenideen sind sehr gern mit motorischer Unruhe verbunden und damit

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S W 218.

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parallelen Gewichtsverlusten.« 13 Döblins Beobachtungen - und diese reichen, wie »Astralia« beweist, bis in die Studienzeit zurück — sprechen dagegen, daß Gewichtszunahme immer als Ichvergrößerung zu verstehen sei, sie widerlegen den psychosomatischen Parallelismus und gleichzeitig die Theorie, daß der Trieb, eben zum Beispiel das Streben nach Ichvergrößerung, der gemeinsame Boden sei, auf dem Seele und Leib sich treffen. Soll also der Mensch in der ungespaltenen Einheit von Leib und Seele dargestellt werden, muß man anders von ihm reden, muß man seine Daseinsweise, die jeweilige Art, zeitlich und räumlich da zu sein, beschreiben. Damit verliert die Rede von der Seele und vom Leib, die Frage nach dem, was sie verbindet, die grundlegende Bedeutung, die sie die ganze Neuzeit hindurch gehabt hat, und wird zu etwas Vorläufigem und Behelfsmäßigem. Adolf Gotting ist in seinem Dasein gar nicht wirklich da. Er möchte eine Leichtigkeit und Behendigkeit erlangen, die es ihm ermöglicht, hinaufzuspringen in die Luft, sich emporzuschwingen und sich überallhin zu bewegen (9). Es nimmt mit ihm den Weg der Verflüchtigung, im Unterschied zur Verfestigungstendenz bei Frau Elfriede. Er möchte mehr und mehr zu einem geistigen Wesen werden. In diesem Zusammenhang spielt das viele Trinken seine Rolle. Er und seine Konventikelbrüder trinken — jetzt im Herbst — Most, das heißt Sauser, von dem sie meinen, er wandle sich in ihrem Innern zu Wein um und beflügle sie. Nur schon beim Gedanken daran »schlägt ein Entzücken in seiner Stimme auf« (9) und trägt ihn empor. Gotting sucht sich in einen Rauschzustand zu versetzen, sucht im Rausch das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle, denn er leidet darunter, daß »ihm die Kraft nicht gegeben« sei (10). In der Stimmung des Kraftüberschwangs, in manischer Gehobenheit ist er gewiß, daß er von innen heraus alles überwinden werde, daß sein Gemüt für das Kommende bereit sei. Er, der sonst mit eingeknickten Beinen schlurrend geht (9), ist nun auf dem Sprung. Was es mit dieser sich alles zutrauenden Bereitschaft und mit der unermeßlichen Kraft zur Verwandlung (9) auf sich habe, wird erst im Laufe der Erzählung genauer faßbar. Die Pervertiertheit der Hoffnung erscheint dabei in einem weiteren Aspekt. Adolf Gotting kündet das Kommen des Menschensohnes mit den in diesem Zusammenhang eher ungewöhnlichen Worten an, es habe sich das Zukünftige im stillen vorbereitet »gleichsam wie das Kind in einer Schwangeren« (11). Und

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Psychoanalyse von heute, Ζ 70.

dann stellt sich sogar heraus, daß Çôtting sich selbst als diese Schwangere versteht, welche die Zukunft, das heißt das Ewige, zur Welt bringen wird. Von Neumond zu Neumond hat er erwartet, daß dieses Wunder sich erfüllen, ihn »ergreifen«, »berühren« und »verwandeln« werde (10). In seinem Innern hat er vom Heiligen Geist Jesus empfangen, den er, indem er sich in ihn verwandelt, aus sich gebiert, so daß die Herabkunft aus den Wolken seine Niederkunft ist. Von hier aus läßt sich abschätzen, in welcher Richtung sein neues Buch über »das innere Leben und seine körperliche Darstellung« (10) geht und welche persönliche Bedeutung dieser Arbeit zukommt. Es handelt sich bei den angeführten Absurditäten nicht um die Phantasien eines Dichters, der es unternimmt, einen dem Alkohol verfallenen Geistesgestörten in seinem religiösen Wahnsinn darzustellen. Döblin stützt sich auf dokumentierte Wirklichkeit. Im selben Jahr 1903, da er Gottings umfangreiches Buch erscheinen läßt (10), sind Daniel Paul Schrebers »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« herausgekommen. Schreber, der sich für einen geistig hochstehenden Menschen von ungewöhnlich scharfem Verstand hält 14 , führt in seinem autobiographischen Bericht aus, daß er eine bittere Schule der Leiden durchgemacht habe 15 , daß seine Ehe durch die mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen getrübt worden sei 16 , daß er in einem Zustand der Erschöpfung seinen Lebensmut vollständig verloren und keinen andern Ausweg als den Selbstmord gesehen habe 1 7 . Mitunter habe er aber auch das Gefühl gehabt, als ob er zur Seligkeit hinaufgezogen werde und von den Höhen des Himmels herab auf die ganze Erde unter sich blicken könne, als ob sein Kopf sehr häufig von einem Lichtschimmer umflossen sei, ähnlich dem Heiligenschein, mit welchem Christus abgebildet werde 18 . Schreber fühlt sich — gemäß dem psychiatrischen Gutachten, das er im Anhang zu den »Denkwürdigkeiten« hat drucken lassen — dazu berufen, die Welt zu erlösen und der Menschheit die verlorengegangene Seligkeit wiederzubringen, und er behauptet, durch unmittelbare göttliche Eingebungen zu dieser Aufgabe gekommen zu sein wie die Propheten. Nach seiner Auffassung ist das Wesentliche bei seiner erlösenden Mission, daß

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Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hg. von Samuel M. Weber, Frankf. a . M . 1973, S. 93. S. 90. S. 94. S. 101. S. 126 £.

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zunächst seine Verwandlung zum Weibe zu erfolgen hat: in seinen Körper seien bereits massenhaft weibliche Nerven übergegangen, aus denen »durch unmittelbare Befruchtung Gottes neue Menschen hervorgehen würden« 19 . Parallelen zu Döblins Erzählung lassen sich bis in Einzelheiten hinein nachweisen, so wenn Schreber vom Weltuntergang spricht und alle Zeit bis dahin für bereits abgelaufen und sich selbst für den einzigen noch übriggebliebenen Menschen hält 2 0 , oder wenn er von der »Mondscheinseligkeit«, welche die weibliche Seligkeit vorstelle, erzählt 21 oder davon, daß er auf dem Klavier die Arie aus Händeis »Messias« »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« gespielt habe 2 2 . Die Übereinstimmungen sind so augenscheinlich, daß man mit Fug behaupten darf, Döblin habe diese Schrift für seine Erzählung ausgewertet, zumal der Erlösungswahn zwar häufig den Kern der religiösen Paranoia bildet, der Zusatz hingegen, daß die Erlösung sich durch die Verwandlung des Mannes in ein Weib vollziehen müsse, ungewöhnlich ist, wie später Sigmund Freud anmerken wird 2 3 . Der Hinweis auf Schrebers »Denkwürdigkeiten« trägt zwar nichts Entscheidendes zur Interpretation von »Astraila « bei — allenfalls verstärkt er diese oder jene Linie, so die Bedeutung der Kinderlosigkeit —, er macht jedoch klar, daß Döblins Erzählungen wie seine Romane ein Fundament in »Quellenstudien« haben und in enger Fühlung mit Realien geschrieben sind. In einer Hinsicht jedoch unterscheidet sich Gotting grundlegend von Schreber: er meint der wiedergekehrte Christus zu sein. Damit setzt Döblin diese Gestalt in Bezug zu einem bestimmten geistesgeschichtlichen Hintergrund, er läßt Gotting den Weg in die Innerlichkeit einschlagen, wie ihn die Mystiker und die pietistischen Brüderschaften gegangen sind. Für sie geschieht die Fleischwerdung des Wortes Gottes im Innern des Menschen, der Abstand der Zeiten wird durch die Vergegenwärtigung in der Innerlichkeit vollständig aufgehoben: die eigentliche Geburt Christi ist die in uns. 2 4 »Ich muß Gotts schwanger sein«, sagt Angelus Silesius. 25

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S. 378 f. S. 123. S. 158. S. 202. Sigmund Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über den autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, London 1943 (Erstpublikation 1911), S. 250. Vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 1946, S. 94. Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke, hg. v. H. L. Held, Bd. 3, Cherubinischer Wandersmann, München 1949, S. 54 (Nr. 101).

Gotting zieht nun gleichsam die Konsequenz aus diesen Voraussetzungen, indem er, mitbestimmt von der Tradition supranatural diesseitiger Zukunftserwartung, den Akzent von der Geburt Jesu auf seine Wiederkunft verlegt und diese ebenso gegenwärtig macht — indem er somit den inwendigen Christus aus der Innerlichkeit heraustreten und dergestalt die Wiederkunft verwirklichen läßt. Da der Wiederkehr Christi sein irdischer Leidensweg vorausgeht, interpretiert Gotting all das, was er selbst zu leiden und zu dulden gehabt hat, als Vorbereitung: das Zukünftige habe sich im stillen vorbereitet, »wer wisse, in welchem Leid« (11). Damit ist das Einssein mit Christus aufs tiefste gefährdet, ja zerstört. Gotting kann nicht mehr mit Christus eins sein, er und Christus sind einerlei. Die Nachfolge Christi ist zur Nachahmung, die Sehnsucht nach Gottesnähe zur Selbstvergottung pervertiert, auf die möglicherweise schon der Name Gotting einen Hinweis geben soll. Die Beachtung der Differenz zwischen dem innern und dem äußern Menschen hatte die Pietisten vor solcher Einebnung und dem damit verbundenen Identitätsverlust bewahrt. 2 6 Dadurch daß für Gotting der Unterschied zwischen innen und außen dahinfällt, wird er ein Wahnsinniger, also dadurch, daß er den grobstofflichen Leib schon in den als Mittler zwischen Geist und Körper fungierenden — und daher auch denknotwendigen — Astralleib verwandelt glaubt. Döblins Erzählung »Astralia« ist ein Zeugnis dafür, daß die Geschichte der Innerlichkeit in eine schwere Krise getreten ist: das Auseinandertreten von Geist und Körper — die Erzählung »Die Tänzerin und der Leib« zeigt es - wirkt sich zerstörerisch aus; ebenso in die Katastrophe führt die Aufhebung des Gegensatzes. Die Krankheitserscheinungen signalisieren die in der Tiefe sitzende Störung, nämlich die Zerspaltung des Einheitlichen in ein rein Geistiges und ein nur Stoffliches, in die Innerlichkeit und das Äußere, und dies mit der Tendenz, das sogenannte Inferiore entweder zu knechten oder aber in das Höhere, ins Ubersinnliche zu verwandeln, wie man ja auch aus Gott ein reines Geistwesen gemacht hat, was natürlich für die Auffassung vom Menschen - dem Ebenbild Gottes - nicht ohne Folgen blieb. Gotting hätte nicht ein Geistesgestörter der ihm eigenen Art werden können, wäre nicht die Disposition dazu in den kulturellen Voraussetzungen angelegt gewesen. Döblin übt Kritik an diesen Voraussetzungen, indem er ihre Opfer beklagt. Er kritisiert die

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Identität, im Gegensatz zur Einerleiheit, betont die Differenz, wie die Sprache sie in der Formulierung »eins sein mit« zum Ausdruck bringt. - Vgl. S. 32, Anm. 30.

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seit langem - und längst bevor sie zum Schlagwort wurde - herrschende Auffassung, Kultur sei das Ergebnis einer Sublimierung. Was von dem Sublimierungsprozeß, dem Übergang des festen Körpers in den gasförmigen Zustand, das heißt der Leibesstofflichkeit ins Geistige zu halten sei, geht aus der Erzählung » Astraila « aufs deutlichste hervor. Nicht als Verflüchtigung aus dem Dasein oder als Verwandlung des Körperlichen ins Geistige gestaltet sich Kultur, sondern als Dasein im Dasein des Menschen. Man muß den Sublimierungsvorgang, der sich bei Gotting durchsetzt, als Antwort auf eine Notsituation verstehen. Gotting hat Zeiten der Bitterkeit und Verzweiflung durchgemacht. Unter den Ulmen spazierend und nachdenkend, ist er von etwas Bitterem, etwas Schwarzem verfolgt worden. (10) Eine autobiographische Äußerung Döblins erlaubt es, das Bedeutungsfeld des Ausdrucks »Bitterkeit« genauer zu erfassen. Döblin schildert, wie er als Student in Freiburg — es ist die Zeit, da er »Astralia« schrieb — »allein, einsam, durchaus und völlig verlassen« war 2 7 , wie ihm auch Berge und Wälder nicht helfen konnten, wie sie ihm vielmehr das Alleinsein erst recht zum Bewußtsein brachten: »Ich habe jahrelang und noch jetzt einen Haß auf sie gehabt, einen Widerwillen; sie bereiteten mir Pein; es ist, als ob ich allein in ein großes Vergnügungslokal trete und niemand spielt, alle Tische leer: wer soll sich da freuen. Bitterkeit: das ist der richtige Ausdruck; so empfinde ich oft genug jetzt noch Wälder.« 28 Mit der Empfindung der Bitternis revoltiert das Gemüt gegen Verlassenheit, Ausgeschlossensein, Unverstandensein, Lieblosigkeit und was der sozialen Kränkungen mehr sind, gegen alle Gebrechen und Verbrechen, gegen Stupidität und Häßlichkeit, Vergänglichkeit und Tod. Diese bitteren Dinge beleidigen die Würde des Menschen und können nicht akzeptiert werden als etwas, was ihm angemessen wäre. In der Revolte und im Kampf nun aber die Erfahrung der Ohnmacht machen zu müssen, ist wohl das Allerbitterste. Gotting weint verzweifelt, weil ihm »die Kraft nicht gegeben« ist. (10) In solcher Verlassenheit kann etwas Eigentümliches geschehen. Darüber berichtet Döblin im Anschluß an das eben Zitierte: »Bitterkeit: das ist der richtige Ausdruck; so empfinde ich oft genug jetzt noch Wälder. Wenn ich nicht schwermütig verliebt in sie bin, reif, weich, zärtlich,

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Einsamkeit ist eine Grundsituation, die sich in Döblins Leben immer wieder einstellt und die schon im »Schwarzen Vorhang« belegt ist. Vgl. das Zarathustra-Zitat, J R 108, sowie zum Gebrauch des Wortes »Bitterkeit« J R 117 und 128. Ich nähere mich den Vierzig, AS 11 f.

sohnsmäßig ergeben mich auf eine Wurzel setze, zu den Blättern aufblicke und mich in einem Grabe dünke — in einem schönen weltfremden Raum.« Hier ist all das versammelt, womit Döblin Gottings Frau kennzeichnet: Melancholie, zärtliche Sanftheit, Ergebenheit. Auch Elfriede muß sich im Grab dünken, ähnlich wie Gordon Allison in dem Grab aus Fett, das schon bei Lebzeiten über ihn wächst 2 9 . Mit Adolf Gotting schlägt Döblin den entgegengesetzten Weg ein, von der Auflehnung nicht in die Ergebenheit, sondern in die Entrücktheit, nicht erdwärts, der Schwerkraft nachgebend, sondern himmelan. Döblin hat hier zerlegt und zwei verschiedenen Personen zugeteilt, was er im »Schwarzen Vorhang« in einer Person allein geschehen läßt, wenn er von Irene sagt: »Ihre ungefüge Schwere lichtete und leichtete sich immer mehr zu vermessener Lust.« 30 Elfriede überläßt sich der Schwere, Adolf wird all der Bedrängnis, die ihn zu einem gedrückten Menschen macht, enthoben. Mit diesen Antworten auf den Zustand der bitteren, einsamen, »angststarren« (10) Verlorenheit suchen sie sich aus dem Unerträglichen zu retten; allein, sie gelangen nicht in das dem Menschen Angemessene, sondern ins Unmäßige und Ungefüge einerseits, ins Vermessene andererseits. Die Verkehrtheiten sind nun freilich nicht etwas nur Negatives; durch sie hindurch geht auch die Spur des Nichtpervertierten. Das Schwere soll offenbar weder bloß schwer sein noch ins Leichte verflüchtigt werden; so sieht man sich zu sagen genötigt: Das Schwere soll schwer und zugleich leicht sein. Gleiches läßt sich im Bereich der Zeit beobachten. Das Künftige des Weltuntergangs ist gewiß nicht das Gegenwärtige, daß aber Gotting es als gegenwärtig sieht, macht bewußt, daß Zukunft auch nicht einfach als das Ferne, eben als das Nicht-Gegenwärtige zu verstehen ist, sondern an die Gegenwart heranreicht, ankommend ist und somit auch angekommen. Dementsprechend ist das Vergangene nicht vergangen und abgetan, es ist aber auch nicht das Nicht-Vergangene und stets Gegenwärtige: das Vergangene ist, aber es ist als das Gewesene. Die Pervertierungen entstehen durch das Auflösen der Paradoxie. Die Entgegensetzungen zusammenzufügen und zusammenzuhalten ist die schwierige Rede, die sich Döblins Dichtung vorgenommen hat. Wenn man von Adolf Gotting liest, er gehe seines Weges »so selig, leidvoll« (12), berührt man die innerste Zone dieser Erzählung.

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H 542. J R 163. — Der Satz ist auch ein frühes Beispiel dafür, daß Döblin auf die Etymologie achtet.

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Der Schluß hat denn auch, weil die ergänzende Wechselbeziehung sich enger als je gestaltet, etwas Versöhnliches. Elfriede ist mit ihrem Manne geschlagen, und doch ist sie so um ihn besorgt, als wäre er ihr Kind. Und er, der sie verachtet hat, ist auf sie angewiesen. Der krasse Kontrast des Ehepaars hat das Lächerliche verloren, das man anfänglich vielleicht wahrzunehmen bereit ist, und im Leser regt sich gegen das gelle unflätige Gelächter der Leute (13) ein Unwille. Es ergeht ihm wie Johannes im »Schwarzen Vorhang«: Wie Irene auf einem Spaziergang »eine dürre, stark seelische, fadenscheinig aufgeputzte Tannenjungfer« neben einem »schmerbäuchigen Bierbrauerbaum« sieht, sich die beiden einander umarmend und ewige Treue schwörend vorstellt und darob in wildes Lachen ausbricht, erzürnt sich still etwas in ihm. 3 1 Das Ungestalte verrät durch die Zusammengehörigkeit des ins Gegensätzliche Entstellten die Sehnsucht nach Anderssein. Deshalb ist das Chiliastische, dem Gotting und seine Brüderschaft zugetan sind, dieser Dichtung nicht wesensfremd; allerdings macht sie sich weder zu seinem Sprachrohr, noch behandelt sie es als bloßes Detail der Charakterisierung. Im Chiliasmus drückt sich die Sehnsucht nach Wiederherstellung der Menschenwürde aus. Das Verlangen nach Menschenwürde, heißt es am Schluß des Romans »Pardon wird nicht gegeben«, habe seinen alten Zufluchtsort in den Träumen der Dichter. 3 2 Und 1950 wird Döblin den ihm seit jeher vertrauten Gedanken erneut darlegen und erklären, die Dichtung, jede Dichtung plane etwas Chiliastisches, der Dichter zeige die Überrealität, die als bloß erdacht, erfunden und als Irrealität anzusprechen nicht erlaubt sei. 33

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JR 163 f. Ρ 369. AL 220, 222.

Die Ermordung einer Butterblume Döblin hat in seinen Werken verschiedentlich geisteskranke Menschen dargestellt. Das kann nicht verwundern, er ist ja Psychiater. Wenn von einer solchen Dichtung die Rede ist, werden denn auch immer wieder Ausdrücke gebraucht wie »psychiatrische Studie« 1 »exakte Beschreibung einer Psychose« 2 , »regelrechte Schizophrenie-Studie« 3 . Demnach wären die dem Leser vorgeführten Menschen von einem »Arzt und kühlen Beobachter« 4 porträtiert, wohl sogar »klinisch kalt« 5 , Objekte einer auf Anomalien gerichteten Wißbegierde oder vielleicht auch bloßen Neugierde, nüchtern, sachlich, unbeteiligt beschrieben, Sammlungsgut in einem Raritätenkabinett, von Interesse allenfalls für den, der die Mannigfaltigkeit anthropologischer Erscheinungsformen kennenlernen will, im übrigen befremdend, denn wie soll man sich mit Menschen, die sich so sehr vom Normalen entfernt haben, ins Einvernehmen setzen oder auseinandersetzen können. Nun ist Döblin tatsächlich auch Verfasser psychiatrischer Studien, als Arzt nämlich 6 , und man hätte ausreichendes Vergleichsmaterial zur Verfügung, um zu sehen, daß seine Dichtungen etwas anderes sind. In einer medizinischen Studie geht es um Abgrenzungen und Erklärungen. Sie will zwischen Krankheit und Gesundheit sowie zwischen Krankheit und Krankheit unterscheiden. »Was hatte ich«, fragt sich Döblin, »die Jahre über in den Irrenanstalten und Krankenhäusern gelernt? Wie die Krankheiten verliefen, welche es waren — und ob sie es wirklich waren, woran diese Leute litten. Es schmeichelte meinem Denktrieb —

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Klaus Müller-Salget, Alfred Döblin, Werk und Entwicklung, Bonn 1972, S. 71. Walter Muschg, Die Ermordung einer Butterblume, Ausgewählte Erzählungen, Nachwort des Herausgebers, a. a. O., S. 425. Leo Kreutzer, Alfred Döblin, Sein Werk bis 1933, Stuttgart 1970, S. 32. Letzte Aufzeichnungen, AS 565. Robert Minder, »Die Segelfahrt« von Alfred Döblin, Struktur und Erlebnis, in: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, hg. von Helmut Kreuzer (Festschrift für Fritz Martini zum 60. Geburtstag), Stuttgart 1969, S. 481. Vgl. Matthias Prangel, Alfred Döblin, Stuttgart 1973, S. 118 f.

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auch dem meiner Chefs — zu wissen, wie alles verlief.« 7 In den Dichtungen hingegen ist es Döblin nicht um unterscheidendes Wissen zu tun. Es wäre für die jeweilige Interpretation nichts gewonnen, wollte man Diagnostik betreiben und Krankheitsbilder studieren, Paranoia bei Gotting, Hysterie bei der Tänzerin Ella, Katatonie bei Biberkopf. Auch legt die Dichtung offensichtlich gar keinen Wert auf die Unterscheidung von Gesund und Krank, sie glaubt nicht, daß sich dieses von jenem scharf sondern lasse, daß von qualitativer Verschiedenheit zwischen den Bedingungen der Gesundheit und denen der Krankheit gesprochen werden könne; sie hält sich vielmehr vor Augen, daß die Unterschiede bloß gradueller Natur sind, daß das sogenannte Normale auf Konvention beruht und es daher fraglich bleibt, ob ein Gesunder gesund sei. Die Dichtung hat also eine der psychopathologischen Studie entgegengesetzte Blickrichtung. Döblin bestätigt das ausdrücklich, wenn er über seinen Roman »Der schwarze Vorhang« sagt, sexuell Pathologisches werde darin »auf ein normal-psychisches Verhalten zurückgeführt, als dessen Verschärfung, und eben durch diese Zurückführung begreiflich und künstlerisch darstellungsfähig«. 8 Der in der Dichtung dargestellte Mensch ist somit kein klinischer Fall, er ist ein Mensch wie der Leser. Noch größer ist der Unterschied zwischen der Dichtung und der psychiatrischen Studie, wenn diese sich die Aufgabe stellt, das krankhafte Geschehen zu erklären, und zu diesem Zwecke die wahrgenommenen Phänomene unverzüglich der Phänomenalität entkleidet und auf angenommene, unsichtbare Wesenheiten zurückführt, auf Kräfte und Strebungen, Triebe und Mechanismen. Dieser wissenschaftliche Umgang mit dem Menschen ist nur möglich, wenn man die Gesamterfahrung des Menschen vom Menschen preisgibt. Der Mensch wird dann ausschließlich in seiner Naturzugehörigkeit gesehen und damit von dem abhängig gemacht, was Natur gemäß der Auslegung der Physik ist. Diese Art von Wissenschaftlichkeit hat selbstverständlich auch Döblins psychiatrische Studien geprägt, wie etwa folgenden Formulierungen zu entnehmen ist: »Ich habe aus der Anstalt Buch einmal einen Fall von Hysterie mit Dämmerzuständen veröffentlicht — das war etwa 1906/07 —, den ich analysierte und dessen Störungen ich auf Veränderungen in der seelischen Dynamik und Energetik zurückführte.« 9 In der Dichtung ist vom Menschen in anderer Weise die Rede. Wenn Döblin sich nicht nur psych-

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Arzt und Dichter, AL 364. Brief an Axel Juncker vom 9. April 1904, Β 23. Arzt und Dichter, AL 362.

iatrischen Untersuchungen widmet und die dabei gewonnenen Erkenntnisse in den Dienst der Therapie zu stellen sucht, sondern daneben auch Dichtungen schreibt, in die der Erfahrungsbereich des Psychiaters hineinragt, so ist das ein Anzeichen dafür, daß ihn von Anfang an ein Ungenügen an der Wissenschaft begleitet. Sein Dichten steht in einem Spannungsverhältnis zu seinem Forschen. Einen weiteren Einblick in die Differenz zwischen der Sehweise des Dichters und der des Psychiaters gibt ein Brief Döblins aus dem Jahre 1928, in dem er die von Freud und schon vorher von Schopenhauer vertretene Ansicht, daß die Triebe — und unter ihnen vor allem die Sexualität - das Zentrum des Menschen seien, verspottet. Er setzt dem ein anderes Zentrum entgegen, eine Ordnung, von der die Psychotherapeuten nichts wüßten, denn der Blick dafür könne nicht durch Beobachtung und Analyse von Einzelnem oder gar Vereinzeltem gefunden werden, »sondern nur durch Hinwendung zum Ganzen«. Dem Ganzen soll die Dichtung zugewendet sein; ihre Kraft besteht im Wissen um jenes andere Zentrum, nur ist sie meist mit vielem Peripheren vermengt und damit abgeschwächt. 10 Diese Auffassung ist wesentlich mitbeteiligt an Döblins Neigung, seine Werke ins Weltumspannende, im geographischen wie historischen Sinne, auszuweiten, kennzeichnet aber schon von allem Anfang an seine Menschendarstellung. Was nun den Dichter mit dem Ganzen verbindet, nennt Döblin »Phantasie«, sie ist es, die er der Beobachtung gegenüberstellt: »Daß ich nun als Mediziner mich in den Kliniken herumbewegte und beobachtete, ging in merkwürdiger Weise zusammen mit meiner literarischen Neigung, mit dem Phantasieren, und es ergaben sich da die ersten besonderen Verschmelzungen.« 11 Wenn man Photographien Döblins und Freuds vergleicht, glaubt man sogar im Physiognomischen den Widerschein des unterschiedlichen Anteils von Phantasieren und Beobachten erkennen zu können. Während die Aufnahmen von Freud, wie Döblin sagt, immer den Beobachter zeigen, »einen deutlich mißtrauischen und skeptischen Menschen, einen Pessimisten« 12 , liegt auf Döblins Gesicht oft ein Zug des Sinnierens und Träumens. Bei der Hinwendung zum Ganzen rückt auch das Soziale ins Blickfeld. »Ich fand meine Kranken«, sagt Döblin, »in ihren ärmlichen Stuben liegen; sie brachten mir auch ihre Stuben in mein Sprechzimmer mit. Ich sah ihre Verhältnisse, ihr Milieu; es ging alles ins Soziale, Ethische und

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An die Zeitschrift »Eckart«, Β 146. Journal 1952/1953, AS 470. Sigmund Freud zum 70. Geburtstage, Ζ 88.

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Politische über.« 13 Daß Döblin früh auf das Soziale aufmerksam war, versteht sich bei den Familienverhältnissen, in denen er aufwuchs, von selbst; Belege dafür finden sich schon in seinen ersten Dichtungen, zum Beispiel in »Astralia«. Man hat deshalb die Meinung, Erzählungen wie »Die Ermordung einer Butterblume« seien als psychiatrische Studien zu lesen, da und dort auch bekämpft, indem man das Schwergewicht auf den sozialen Aspekt verlegte. Demnach hätte jeweils nicht der Psychiater, sondern der Gesellschaftskritiker die Feder geführt. Und dieser sei, wie in seinen Schriften zur Gesellschaft und Politik genugsam bezeugt werde, darauf aus, die mißlichen Zustände zu verurteilen und zu beseitigen. Ein Arzt mag ein Skeptiker und Pessimist sein wie Freud, von dem es in Döblins Würdigung heißt: »Er wäre kein Kenner der menschlichen Seele, wenn er glaubte, mit irgendwelchen Änderungen im Sozialen ließe sich Entscheidendes an der menschlichen Seele ändern.« 14 Aber mit dem Dichter verhält es sich anders, Dichtungen planen ja, nach Döblin, alle etwas Chiliastisches 15 . Deshalb sind sie als gesellschaftskritische Schriften zu lesen, genauer: als Satiren auf das Bürgertum. 16 Spott und Hohn ergieße der Autor über den geistesgestörten Spießbürger, und da das Krankmachende die bürgerliche Gesellschaftsordnung sei, werde der Leser zur Änderung dieses Systems aufgerufen, wobei man einzig bedauern müsse, daß Döblin anfänglich noch nicht genügend klar gesehen habe; er richte die Aufmerksamkeit auf diese oder jene Personen, gar noch auf den Sonderfall einer singulären Geistesverwirrung, statt sie auf das Ausschlaggebende, auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Mechanismen zu lenken und so der allgemeinen Kritik die volle Stoßkraft zu geben. 17 Bei dieser Art von Interpretation hat man freilich das Ganze längst aus den Augen verloren: man hat einen Teil — das Soziale — aus dem Ganzen herausgelöst, auf die Wirtschaftsordnung reduziert, davon bloß einen Sektor — die Eigentumsverhältnisse — genommen und diesen womöglich nur im Lichte einer bestimmten Theorie gesehen.

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Arzt und Dichter, AL 364 f. Ζ 88. Vgl. S. 46. Werner Zimmermann, Deutsche Prosadichtungen unseres Jahrhunderts, Bd. I, Düsseldorf 1977 (5. Α.), S. 172 f.; Kindlers Literaturlexikon, Bd. II, S. 2307; Herbert Lehnert, Geschichte der deutschen Literatur vom Jugendstil zum Expressionismus, Stuttgart 1978, S. 451. Klaus Müller-Salget, a. a. O., S. 78. Roland Links, Alfred Döblin, Leben und Werk, (Ost-)Berlin 1965, S. 19.

Ob man die Dichtung als psychiatrische Studie oder als Satire liest, sie wird so oder so verfehlt, denn man hat es dann nicht mit dem Ganzen, nicht mit jenem Zentrum zu tun, das für Döblin zum Dichtertum gehört; überdies distanziert man sich vom Dargestellten, ist höchstens mit der Neugierde dabei oder mit dem Aberwillen und läßt sich die Dichtung im Grunde genommen nichts angehen. Wenn die Erzählungen mit ihren krankhaften Vorgängen weder vom Psychiater noch vom Gesellschaftskritiker, sondern vom Dichter Döblin verfaßt sind, wenn sie nicht um der Analyse willen und nicht zum Zwecke der Geißelung geschrieben worden sind, ist es denkbar, daß die Personen, statt Außenstehende und Fernstehende zu sein, dem Dichter gerade besonders nahestehen. Ist etwa Autobiographisches in ihnen enthalten? Muß man gar annehmen, daß die Kunst neuerdings im Krankhaften ihren Nährboden hat? Am Ende kann in unserem Jahrhundert einer nur dann Künstler sein, wenn er in seiner physischen, psychischen oder moralischen Gesundheit angegriffen ist? Derartige Auffassungen, die sich schon bei Nietzsche finden 18 , werden auch in Thomas Manns »Tonio Kröger« vertreten und haben vielleicht doch eine nicht nur persönliche Bedeutung: ein rechtschaffener, gesunder und anständiger Mensch schreibe, mime, komponiere überhaupt nicht 19 , ein künstlerisches Werk entstehe nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens, man müsse krank sein und erfahre dann, daß in dem Maße, wie Gesundheit geschwächt werde, das Künstlertum sich steigere 20 , oder man müsse in irgendeiner Strafanstalt zu Hause sein 21 . Es sind Gedanken, die Döblin nicht fremd sind. Der Künstler, hat er einmal erklärt, sei eine gefährliche, abseitige Figur mit psychopathischen und kriminellen Zügen, von der Verehrung des Künstlers als einer gelungenen Schöpfung sei man längst abgekommen. 22 Angenommen, die besagten Erzählungen Döblins müßten in solchen Zusammenhängen gesehen werden, dann spräche der Dichter in ihnen auch von sich selbst, und dies wohl kaum aus dem Bedürfnis, in mehr oder weniger verdeckter Weise Privates auszubreiten, eher im Willen,

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Vgl. »Der Wille zur Macht«, Nr. 811. Thomas Mann, Tonio Kröger, a. a. O., S. 143. Ebd. S. 136 f. Ebd. S. 145. - Vgl. »Doktor Faustus«, Stockholm 1947, S. 366: »Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten.« Döblin in der improvisierten Eröffnungsrede zur 64. Ausstellung der Berliner Sezession, 11. April 1931, Tonaufzeichnung, Deutsches Rundfunkarchiv, Frankf. a . M . , DRA-Nr. C 1979; vgl. Katalog zur Döblin-Ausstellung, a . a . O . , S. 312.

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auf die Frage »Wer ist der Mensch?« eine Antwort zu finden. Kranksein wäre mithin nicht etwas, worauf man in kühler Distanziertheit hinblicken könnte oder was man, weil es nicht sein soll, müßte beseitigen können; Krankheit wäre dem Menschsein zugehörig, und zwar weder als das bloß Mögliche ihm innewohnend noch einfach als das Zufällige es überfallend, sondern mit diesem Menschsein so wesentlich und notwendig verbunden wie der Tod, von dem der Mensch auch nicht irgendwann ereilt wird, von dem er vielmehr im voraus weiß, von dem er also schon immer betroffen ist, ins Herz getroffen, wie Döblin sagt. 23 Dann aber ist jene Scheidung von Gesund und Krank, die Tonio Kröger vornimmt, unmöglich. Das Kranksein ist keine Besonderheit der Künstler, wogegen der »normale« Mensch, das heißt das wohleingepaßte, nützliche Glied der Gesellschaft, der Bürger also, gesund ist. Das Verhältnis dieser beiden Gegensätze könnte demzufolge für Döblin nicht dahin bestimmt werden, daß er als Künstler ein Bürger auf Irrwegen, daß er ein Künstler mit schlechtem Gewissen zu nennen wäre. 24 Um von Döblins Dichtungen angemessen reden zu können, muß man zu ermitteln suchen, wie der Arzt, der Gesellschaftskritiker, der Dichter, die wir an Döblin zu unterscheiden haben, miteinander übereinkommen, wie der Kritiker und der Psychiater im Dichtertum als dem Umfassenden zusammengehören. Soviel nämlich ist gewiß, daß die drei nicht beziehungslos nebeneinander herleben, daß sie aber auch nicht ineinander vermengt sind. 25 Wenn man dies im Auge behält, ist es vielleicht eher möglich, im Umgang mit dieser Dichtung die Einseitigkeiten und Verzeichnungen zu vermeiden. Die »Ermordung einer Butterblume« weist Partien auf, welche die Dinge mit distanziertem Blick registrieren, und dies mag mit ein Grund dafür sein, daß man in der Erzählung einen sachlichen Bericht gesehen hat. Der Anfang der Geschichte zeigt einen Verfasser, der dem Spaziergänger Michael Fischer äußerst achtsam folgt und dabei viele Einzelheiten vermerkt: hellbraune Augen, entrüstete hastige Abwehrbewegungen der Hände, die Goldkette auf der schwarzen Weste. Es ist ein Verfasser, der sich auch im Innern der Person auskennt. Er weiß, was Michael Fischer denkt oder vergißt oder was er fühlt: »Er erschrak bei dem Gedanken, daß ihn jemand sehen könnte, etwa von seinen Geschäftsfreunden oder eine Dame.« Kurz, der Verfasser weiß in jeder

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Schicksalsreise, AS 422. Tonio Kröger, a. a. O., S. 153 und 188. Vgl. auch die spaßige Behandlung dieses Themas in »Döblin über Döblin«, AL 359 — 361.

Hinsicht Bescheid, er ist ein Beobachter der Erscheinungen wie auch verborgener Vorgänge, beinahe so etwas wie ein Gott, dem alles Sichtbare vor Augen liegt und dem das Sichtbare zugleich transparent ist. Das scheint bei Erzählern das Übliche zu sein. Sie haben gleichsam eine gesteigerte Fähigkeit des Blickens. Nun stößt der Leser aber sehr bald auch auf Unübliches. Da heißt es: »Die hellbraunen Augen, die freundlich hervorquollen, starrten auf den Erdboden, der unter den Füßen fortzog.« Der Boden zieht unter den Füßen fort: das ist aus der Sicht dessen gesagt, der gedankenverloren sein Gehen nicht realisiert, so daß sich eben der Boden bewegt, es ist dies also ganz mit Michael Fischers Augen gesehen, wogegen doch soeben noch, im gleichen Satz, einer gesprochen hat, der Michael Fischer anblickt und dessen Augenfarbe notiert. Wenig später begegnet dem Leser ein ähnliches Beispiel: »Die Luft laut von sich blasend, mit blitzenden Augen ging der Herr weiter. Die Bäume schritten rasch an ihm vorbei; der Herr achtete auf nichts.« Offensichtlich wechselt Döblin immer wieder und jedesmal unvermittelt die Perspektive. 26 Bald schaut er auf Michael Fischer hin, bald aus ihm heraus. Bald ist Distanz hergestellt, bald ist sie preisgegeben. In diesem Hin und Her ist der Autor, wie auch der Leser, jetzt Zuschauer, jetzt Handelnder. Die Besonderheit des wiederholten Standortwechsels wird noch deutlicher, wenn man Büchners Novelle »Lenz«, an die so manches in Döblins Erzählung anklingt, zum Vergleich heranzieht. Die bei Büchner häufig anzutreffende Formulierung »es war ihm, als ...« markiert den ganzen Unterschied. Hätte Döblin seine Geschichte in der Darstellungsweise Büchners erzählt, so wäre ein Text ähnlich dem folgenden Versuch einer Zusammenfassung entstanden: Michael Fischer gerät auf einem Spaziergang außer sich, wie sich der Griff seines Stöckchens, das er über Gräser und Blumen wippen läßt, in einem Löwenzahngewächs verfängt, er schlägt auf Stiele und Blätter los, kurz darauf stürzt er sich erneut auf eine Butterblume und schlägt ihr den Kopf glatt ab, und da ist ihm, als ob der abgetrennte Blütenkopf durch die Grasdecke hindurch in den Boden sinke, in das Erdinnere, als ob der weiße Saft aus dem Stiel zu einem dicken Strom würde, der gegen ihn losbreche und schon gegen seine Füße brande, so daß er mit Sprüngen zu entrinnen sucht. Er kehrt jedoch wieder zurück, getrieben von der Wahnvorstellung, er müsse die

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Auf diesen Perspektivenwechsel hat schon Ernst Ribbat aufmerksam gemacht (Die Wahrheit des Lebens im frühen Werk Alfred Döblins, Münster 1970, S. 56).

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verletzte Blume heilen, ihr um Kopf und Stiel einen Klebeverband anlegen. Er kniet sich auf den Boden und sucht nach dem Blütenkopf, vergebens. Nun schleicht er davon, quer durch den Wald, da kommt es ihm vor, als verenge sich der Weg, und er meint, die Bäume träten zum Gericht zusammen. Die Umformung soll zeigen, wie sehr sie die Sache verfälscht, und zwar nicht so sehr durch die Raffung als vielmehr durch Formulierungen wie »es ist ihm, als ob«, »es kommt ihm vor«, »er hat die Wahnvorstellung«. Döblin braucht keine solchen Ausdrücke. Die Verfälschung besteht darin, daß mit derartigen Worten der Standort eines sogenannten normalen Menschen suggeriert wird, von dem aus man die Vorgänge in Michael Fischer als Einbildung, als Wahn, als etwas Irreales taxiert. Es wird dabei alles in ein einheitliches Bezugssystem gestellt, das den Gesetzen der Zentralperspektive gehorcht, das heißt im diesseitigen Augenpunkt und im jenseitigen Fluchtpunkt verankert ist. Alle Dinge sind auf einen zuschauenden, erkennenden Geist bezogen, der außerhalb des Dargestellten, außerhalb der Dreidimensionalität steht, bezogen gleicherweise auf das Un-endliche, das sich ebenfalls außerhalb dieser Dreidimensionalität befindet. Was in solchem Doppelbezug dargestellt ist, steht in dem Lichte, das dem jenseitigen, göttlichen Geist und dem diesseitigen, menschlichen Geist gemeinsam ist: im Lichte der Vernunft. In diesem Licht läßt sich nun auch das Nicht-Vernünftige zeigen, wie das bei dem perspektivisch gemalten Bild der Fall ist, das den unglücklichen, der Umnachtung entgegengehenden Lenz porträtiert, das aber auch Pfarrer Oberlin, diesen vorzüglichen Repräsentanten der Aufklärungszeit, einschließt und dessen Verständigkeit als Gegenstück zum Verlust des Verstandes, zugleich als eine andere Art des Nicht-Vernünftigen hinstellt. Anders als Büchner blickt Döblin nicht von einem unveränderten Standort außerhalb des Geschehens auf die Menschen hin. Er versagt es sich, nach Maßgabe der Vernunft über das, was ihm vor Augen kommt, zu urteilen. Deshalb fällt die Unterscheidung zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft, zwischen Wirklichkeit und Wahn, zwischen Tatsache und Phantasie dahin. Döblin berichtet von den sogenannten Einbildungen in der gleichen Art und im selben Ton, wie von den sogenannten Realitäten: »Sein Arm hob sich, das Stöckchen sauste, wupp, flog der Kopf ab. Der Kopf überstürzte sich in der Luft, verschwand im Gras. Wild schlug das Herz des Kaufmanns. Plump sank jetzt der gelöste Pflanzenkopf und wühlte sich in das Gras. Tiefer, immer tiefer, durch die Grasdecke hindurch, in den Boden hinein. Jetzt fing er an zu sausen, in das Erdinnere, daß keine Hände ihn mehr halten konnten.« (23)

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Der Leser verliert die Position des Außenstehenden, er weiß nicht, wie ihm geschieht: miteins erscheinen ihm die Dinge unter demselben Aspekt wie diesem Michael Fischer. Besonders verwirrlich wird das, wenn man ein Urteil zu vernehmen glaubt, das im Namen des Autors ergeht, alsbald sich jedoch fragen muß, ob man nicht unvermerkt in die Figurenperspektive hineingebracht worden sei. 27 So stößt der Leser auf den Satz: »Im Dunkeln auf einen Pfad flüchtend, merkt er bald, daß sich der Weg sonderbar verengt.« (28) Stellt Michael Fischer fest, was auf demselben Weg jeder andere auch bemerken würde, daß nämlich der Pfad schmäler wird? Indes, die Verengung geschieht auf sonderbare Weise; das macht stutzig. Dann würde also Döblin keinen objektiven Sachverhalt nennen, vielmehr erklären, Michael Fischer habe den Eindruck, der Weg verenge sich? Aber eben, so drückt sich der Autor nicht aus. Offenbar soll weder Objektivität noch Subjektivität zum Ausdruck gebracht werden. Wenn man an der Denkgewohnheit festhält — nichts ist schwieriger, als diese aufzugeben — und sagt, subjektiv gesehen verenge sich zwar der Weg, objektiv gesehen hingegen nicht, wird man dem, worauf es ankommt, nicht gerecht. Denn bei der Verengung des Weges, die Michael Fischer erfährt, handelt es sich nicht um etwas, was mit dem Metermaß widerlegt oder mit dem Wort »Einbildung« abgetan werden könnte. Die Interpretation, daß die Verengung ein in der Seele geschehender Vorgang sei, ist einseitig und daher unzureichend, es verengt sich ja der Weg. So muß man sich zur Folgerung entschließen, daß der Raum mitnichten jene Stabilität des Offenstehens hat, die dem geometrisierten, homogenen, leeren Raum eignet. Wir pflegen diesen Raum in seiner abstrakten Dreidimensionalität, worin sich die Dinge vorfinden, für den Raum schlechthin zu halten, nun werden wir auf die Möglichkeit aufmerksam, daß der geometrisierte Raum nur eine bestimmte, vielleicht sogar sehr beschränkt gültige Form des Raumes ist. Die Erzählung kommt auch an anderer Stelle auf dieses Problem zu sprechen. Gleich am Anfang wird Michael Fischer vorgeführt als einer, der seine Schritte zählt, »eins, zwei, drei, bis hundert und rückwärts«, während er den breiten Fichtenweg nach St. Ottilien hinansteigt. Wenn man diese Stelle mit jener von der Verengung des Weges zusammenhält, beginnt man zu ahnen, daß Michael Fischer mit seinem Schrittezählen versucht, den Raum zu etwas Meßbarem, Berechenbarem zu machen, ihn

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Vgl. S. 37 die Ausdrücke »das aufgeschwemmte liebevolle Nichts« und »Bußsalbadereien«.

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der Zahl zu unterwerfen. Die untergründige Angst, der breite Fichten weg könne sich verengen, könne, statt der gebahnte, hindernisfreie, bequeme Weg des Flaneurs zu sein, ungangbar werden und sich gar als Falle erweisen, diese Beklemmung ist der geheime Antrieb seines sonderbaren Benehmens, das man allzu rasch als die nichtssagende Marotte eines Müßiggängers einzuschätzen geneigt ist oder das man als die für einen bürgerlichen Bürokraten typische Manie des Zählens auffaßt. Um sich der Geräumigkeit zu versichern, nimmt Michael Fischer auffallend lange Schritte und wiegt sich mit den Hüften stark nach rechts und links: Stummfilmgebärden dessen, der sich nonchalant geben will. Bei Döblin gibt es auch das Entgegengesetzte: daß die Dinge einem nicht auf den Leib zu rücken drohen und dabei unheimliche Ausmaße annehmen wie der fast sintflutartig heranbrandende Butterblumensaft, sondern daß sie zurückweichen 28 , daß Menschen und Möbel sehr weit entfernt sind und kleiner und kleiner werden. 29 So sehen wir uns zum Umdenken genötigt. Die gewöhnliche Vorstellung von Raum kann nicht länger als das Selbstverständliche gelten. Eine Umwälzung ist im Gang, an der die Kunst, die Physik und die Philosophie beteiligt sind. Deshalb wird man sich hüten müssen, in all dem, was an Michael Fischer befremdet, sogleich Pathologisches sehen zu wollen. Wer würde es denn krankhaft nennen, daß die Gemälde von Félix Vallotton Verfremdungen aufweisen, die entgegen den Gesetzmäßigkeiten perspektivischer Darstellung das Nahe beklemmend nahe, das Entfernte unheimlich weit weg erscheinen lassen? Die Malerei gibt nicht Anomalien wieder, sondern entdeckt etwas Alltägliches, das aber durch die Mathematisierung des Raumes verdeckt worden ist und hat verdeckt werden sollen, sie entdeckt den »gelebten Raum«, um es behelfsmäßig mit einem von Dürckheim in andern Zusammenhängen vorgeschlagenen Begriff zu sagen 30 . Wenn die Erkenntnis dieses gelebten Raumes besonders durch die Psychiatrie gefördert worden ist, so erklärt sich das daraus, daß man das verborgene Allgemeine mit Hilfe eines Verstärkers, eben der Anomalien, besser wahrzunehmen vermochte.

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JR 162. WK 24 und 26. — Vgl. auch den Satz: »Klein wie eine Fliege wurde sie.« (Die Tänzerin und der Leib, E 19) Karlfried Graf Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, Neue psych. Studien, hg. von F. Krueger, Bd. 6, H. 4, München 1932. Ludwig Binswanger, Das Raumproblem in der Psychopathologie, in: Zeitschrift f. die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 145. Band, Berlin 1933.

Das Hin und Her des Perspektivenwechsels und die Ausweitung und Verengung in Döblins Novelle geben dem Räumlichen das Fluktuierende, das gegenüber der vertrauten Statik der überkommenen Raumvorstellung als etwas Neues, Kühnes, Bedeutsames sofort auffällt. Ebenso überraschend ist die Verbindung, welche die Zeit mit der neuen Raumkonzeption eingeht. Der Wechsel der Perspektive kann mit einem solchen der Zeitform Hand in Hand gehen: »Der Rumpf ragt starr in die Luft, weißes Blut sickert aus dem Hals. Herr Michael streckte leicht abwehrend die Hände vor. Es gerinnt oben ganz dick und klebrig, so daß die Ameisen hängen bleiben. Herr Michael strich sich die Schläfen und blies laut die Luft von sich. Und daneben im Rasen fault der Kopf. Er wird zerquetscht, aufgelöst vom Regen, verwest.« (24) Der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist ein Auf und Ab von Selbstbehauptung und Überwältigtsein. Im Präteritum, der traditionellen Erzählform, beruhigen sich die Dinge; indem sie wegrücken, werden sie überblickbar, lassen sie sich aufreihen, so daß man sie aufzählen, sie erzählen kann. Aber in diese verfügbar gemachte Welt bricht das Unverfügbare immer wieder herein. Wie der Raum, dadurch daß man ihn jeglicher Bedeutsamkeiten entkleidet und ihn zum bloß Meßbaren macht, zu einer gleichförmigen, leeren Dreidimensionalität formalisiert und somit beherrschbar wird, so kann die Zeit bis zum Abstrakten reduziert werden: Vergangenheit ist dann nur noch das Vorübergegangene, das entweder als das Abgetane der Vergessenheit anheimfallen soll oder allenfalls als das Unwiederbringliche Gegenstand der Wehmut und Verklärung ist; Zukunft ist dann bloß noch etwas, was mich als das Noch-nicht-Seiende nichts anzugehen braucht oder was ich planend in den Griff zu bekommen suche, und die Gegenwart ist verkümmert zu dem aus dem Nichts auftauchenden und ins Nichts verschwindenden Moment, der für die alleinige Wirklichkeit gehalten wird. Wenn nun Döblin das Präteritum mit dem Präsens durchsetzt, gibt er damit zu verstehen, daß die Zeit nicht in diese drei auseinanderstrebenden Dimensionen zerlegt werden kann, daß das Vergangene nicht nur das Vergangene, die Gegenwart kein bloßes Jetzt ist. Nicht nur die Raumvorstellung, auch der Begriff der Zeit ist von einer Umgestaltung erfaßt. Man wird diesen Veränderungen nachgehen müssen, weil sich von ihnen her Döblins Dichtung, wie auch die Kunst zu Beginn unseres Jahrhunderts, erschließt.

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Als 1912, veranstaltet von Herwarth Waiden, in Berlin die FuturismusAusstellung stattfand, schrieb Döblin über ein Bild Umberto Boccionis: »Sehen Sie das Bild Boccionis: Das Lachen. Der Maler tanzt wie ein Trunkener um den Hut einer Frau; immer wieder kehrt der Hut, gesehen von oben, von rechts, von links, schräg, aufgestellt. Der Maler sieht sich nicht satt an dem spiegelnden Marmortisch, der wie ein Leitmotiv durch alle Elane des Bildes wandert; und immer wieder zünden zwei Hände über einer roten Flamme eine Zigarette an.« 3 1 Boccioni — man erkennt es unschwer - hat es Döblin angetan; dieser Maler arbeitet in einer Weise, die seiner eigenen verwandt ist. »Der Maler tanzt um den Hut einer Frau«: einen solchen fortgesetzten Standortwechsel hat er schon in seinen frühen Erzählungen, Jahre bevor er die Bilder der futuristischen Maler kennenlernte, praktiziert. Er wendet sich mit seiner Dichtung, wie die zeitgenössischen Maler mit ihren Bildern, gegen die statisch perspektivische Darstellungsart, gegen »die dreimal verdammte Perspektive« 32 . Um Döblins Auffassung vom Künstler, vom Dichter noch deutlicher vor unser Auge zu bringen, konfrontieren wir sie mit jener andern Auffassung, welche den Realismus des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. Gottfried Keller hat im »Grünen Heinrich« mit schönster Anschaulichkeit eine Theorie der Dichtkunst entworfen: »Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muß es auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirkender Teil von ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so anzuwenden, daß er sich eher leidend und zusehend verhalten und die Dinge an sich vorüberziehen lassen, als ihnen nachjagen soll; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so beschreiben, wie der, welcher am Wege steht.« 3 3 Von diesen so bedeutungsvollen 31

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Die Bilder der Futuristen, Ζ 9. - Es handelt sich um das Bild »La risata«, Werkverzeichnis, a. a. O., Nr. 138 a. Der rechte Weg, DM 91 (Erstpublikation 1920). Sehr wahrscheinlich denkt Döblin bei dieser Formulierung an einen Passus im Aufsatz »Über Zweidimensionalität« von Wilhelm Hausenstein: »Dreidimensionalität ist nahezu der Inbegriff des ästhetischen Denkens der Renaissance gewesen. Vasari mißt den Wert der Helden, deren Lebensläufe und Kunsttaten von ihm beschrieben werden, nach ihrem Verhältnis zur Perspektive. La divina prospettiva ist Idol seiner Begeisterung.« (Die Erhebung, Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, hg. v. Alfred Wolfenstein, Berlin 1919; darin ist auch Döblins Aufsatz »Jenseits von Gott« gedruckt.) Gottfried Keller, Sämtl. Werke, Bd. 18, S. 6, Erlenbach 1926: Der grüne Heinrich, III. Band, 1. Kapitel.

Sätzen sei festgehalten, daß nach Gottfried Keller der Dichter einen bestimmten Standort hat. Er steht am Rande, außerhalb des Geschehens, möglichst unbewegt, während die Dinge an ihm vorbeiziehen. Man könnte keineswegs sagen, er mache nicht mit, er sei nicht beteiligt, nein, er gehört durchaus dazu, freilich in der Rolle des Zuschauers, aber ein Festzug will ja auch gesehen werden, braucht also den Zuschauer, findet im Zuschauer seinen Sinn. Nicht den Mitziehenden erschließt sich der Sinn, sondern den Dastehenden. Der Dichter als Zuschauer: dieses Thema hat Thomas Mann aufgegriffen und dabei den Gegensatz von Betrachten und Handeln ins Äußerste getrieben. Er zeigt den Schriftsteller Tonio Kröger in einer überaus charakteristischen Situation: Kröger, der unweit von Helsingör — denn er fühlt sich Hamlet, »diesem typischen Literaten«, nahe 3 4 - einige Zeit verbringen will, trifft in seinem Hotel auf eine Festgesellschaft; darunter sind junge Leute, in denen er seine einstigen Jugendfreunde wiederzuerkennen glaubt, so daß sich alles Frühere zu wiederholen scheint: er findet in ihnen die Lebendigkeit des Lebens verkörpert, wogegen er selbst mit seinem Künstlertum sich als ein dem Leben Entfremdeter, als ein Ausgeschlossener vorkommt; um sie zu beobachten, begibt er sich in eine leere und unerleuchtete Veranda: »Dorthin schlich er sich auf leisen Sohlen, und der diebische Genuß, hier im Dunkeln stehen und ungesehen die belauschen zu dürfen, die im Lichte tanzten, verursachte ein Prickeln in seiner Haut.« 3 5 In Thomas Manns Erzählung ist der Gegensatz von Kunst und Leben, von Geist und Natur bis zur Entfremdung gesteigert, dergestalt daß das Naturhafte zwar lebensvoll, aber völlig geistlos ist und anderseits der Geistige ein erkaltetes und gar erstorbenes Gemüt hat, jedoch mit einem alles durchschauenden Blick Komik und Elend als das Letzte hinter allen Worten und Taten erkennt und, um sich von der Traurigkeit der Welt nicht überwältigen zu lassen, seine Zuflucht zum Beobachten und Aufzeichnen nimmt, in den Vergnügungen des Ausdrucks 36 Trost sucht und im Vollgefühl sittlicher Überlegenheit auf die abscheuliche Erfindung des Seins 37 herabblicken zu können meint. Und so wie Tonio Kröger in seinem Verhältnis zum Seienden von Gedanken Schopenhauers bestimmt ist, ist er es auch in seiner Kunstauffassung. Er deutet die Kunst als Quietiv des Lebens, dank ihr kann man den Fesseln

Thomas Mann, Tonio Kröger, a. a. O., S. 147. Tonio Kröger, S. 180. * Ebd. S. 135 f. 37 Ebd. S. 147. 34

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des Raumes und der Zeit entrinnen 38 , »ein erlöstes Schweben über Raum und Zeit« genießen 39 — falls solche Beruhigung nicht von der Sehnsucht nach dem Menschlichen, Lebendigen, Gewöhnlichen durchkreuzt wird. Döblin versteht den Dichter anders, nicht als dastehenden und zuschauenden, sondern — wie sich entsprechend seinen Worten über den Maler Umberto Boccioni sagen läßt — als tanzenden Dichter. Er sieht in König David den Ahnherrn und Schutzpatron der Dichter, und er zitiert, um das Wesen des Dichters darzutun, in seinem Mainzer Akademievortrag von 1950 die folgende Bibelstelle: »Da ging David hin und trug die Lade Gottes aus dem Hause des Obed Edom heraus mit Freuden. Und David tanzte mit aller Macht vor dem Herrn her und war bekleidet mit einem leinernen Leibrock. Und David sang dem ganzen Israel, führte die Lade des Herrn mit Sprüchen und Posaunen, und da die Lade in die Stadt Davids kam, so blickte Michal, die Tochter Sauls, durchs Fenster und sah König David springen und tanzen und verachtete ihn im Herzen.« 40 Hier steht als Zuschauer am Rande des Geschehens nicht der Dichter, sondern der dem Dichter entfremdete Mensch, der sich selbst vom Leben und dessen Darstellung und Darbietung ausschließt; der Dichter hingegen bewegt sich inmitten des Lebendigen, er ist tanzend und springend ein Dichter. Dieses Gleichnis hat Döblin schon früher gebraucht; in seinem Vortrag »Der Bau des epischen Werks«, gehalten 1928 in der Berliner Universität, sagt er von Dante, er habe teilgenommen am Leben seiner Figuren — sei also nicht lediglich ihr Betrachter gewesen —, er habe wie König David vor dem siegreichen Heer seiner Figuren getanzt. 41 Doch längst bevor er da und dort, mehr oder weniger programmatisch, das Wesen des Dichters umreißt, hat Döblin mit seinen ersten Erzählungen gezeigt, wie sehr dieses Springen - der fortwährende Wechsel des Standorts, die Bewegtheit — zum Ursprünglichen seines Dichtertums gehört. Wenn er schreibt, zu den elementaren Einsichten der Futuristen zähle »écrasez l'infâme, nämlich den Zuschauer« 42 , nennt er nicht einfach einen Beweggrund im Schaffen einer Malergruppe, er spricht von etwas, was ihn selbst bestimmt und was er nun, 1912, anläßlich der Futuristen-Ausstellung, auch in einem andern Bereich der Kunst am Werk sieht.

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T h o m a s Mann, Tristan, in: Ausgewählte Erzählungen, a. a. O., S. 81. Tonio Kröger, S. 175. 2. Sam. 6, 12 ff. — Das Zitat (AL 263) folgt nicht streng der Lutherübersetzung. AL 114. Die Bilder der Futuristen, Ζ 8.

Einem tanzenden und springenden Dichter zeigen sich die Dinge anders als einem dastehenden Dichter. Eine tiefgreifende Veränderung im Bezug zwischen Dichter und Ding ist eingetreten. Gottfried Keller hat es darauf angelegt, verstehen zu können: man müsse wie die "Welt innerlich ruhig und still sein, wenn man sie verstehen wolle. Zu verstehen ist derjenige in der Lage, der dort steht, wo er das Ganze überblickt, so daß er das Einzelne einzuordnen vermag. Indem er das ihm vor Augen Kommende beschreibt, beurteilt er es zugleich: er sagt, wie gut oder wie schlecht es ins Menschenwesen gefügt sei, wie natürlich es sich gebe oder wie absonderlich es sich ausnehme. Der Leser, der in den Spiegel einer solchen Dichtung blickt, wird sich und die Welt besser zu verstehen meinen als je. Wie verhält es sich mit dem Verstehenkönnen bei Döblin? In der »Ermordung einer Butterblume« gibt es auch die betrachtende, urteilende Erzählerhaltung. So wird uns mitgeteilt, daß Michael Fischers hellbraune Augen freundlich blicken. Wenn wir zudem vernehmen, dieser Mann habe ein Kindergesicht mit süßem Mündchen (22), so ergibt sich das Porträt eines netten, harmlosen, wohl etwas infantilen Menschen. Nur, dieser Michael Fischer ist, wie der Leser bald einmal merkt, ganz und gar nicht harmlos. Er schlägt mit dem Stock drein, er ohrfeigt die Lehrlinge, und schließlich sagt ihm sein Triumphgefühl, daß er morden könne, soviel er wolle. Das erste Urteil wird gründlich widerlegt. Döblin gibt also Urteile ab, um sie dann als wertlos hinzustellen, ja, man muß vielleicht weiter gehen und erklären: er gibt Urteile ab mit der Absicht, das Urteilen überhaupt zu diskreditieren. Von Michael Fischer gilt dasselbe, was von Franz Biberkopf gesagt wird: »Das ist ein gefährlicher Kerl, so gutmütig unser Franz sonst ist.« 4 3 Zu meinen, Franz und Michael seien nur scheinbar gutmütig, in Wirklichkeit jedoch gefährlich, wäre ebenso unrichtig, wie zu denken, sie seien bald gutmütig, bald weniger gutmütig. Sie sind gutmütig und gefährlich in einem, ihre Gutmütigkeit ist nicht gutmütig. Sie sind Menschen mit ihrem Widerspruch. Was wir hier beobachten, entspricht einer Forderung im »Berliner Programm«: »Die Hegemonie des Autors ist zu brechen.« 44 Vorherrschaft des Dichters besagt, daß er die Dinge so darstellt, wie sie sich ihm aus seiner Perspektive zeigen, weshalb der Leser gar nicht anders kann, als dieselbe Sicht zu übernehmen, jedenfalls für die Dauer des Lesens, wobei

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BA 317. - Die Parallele erlaubt den Schluß, daß die Erzählung von Michael Fischer ebensowenig eine Satire auf den deutschen Bürger ist wie die Biberkopf-Geschichte eine Satire auf den deutschen Arbeiter. AL 18.

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es Nebensache ist, ob der Autor seine Hegemonie mit handfesten oder subtilen Methoden aufrechterhält. Die Weisung, der Übermacht des Autors ein Ende zu setzen, ist gleichbedeutend mit dem, was an einer anderen Stelle so ausgedrückt ist: »Der Leser in voller Unabhängigkeit einem gestalteten, gewordenen Ablauf gegenübergestellt; er mag urteilen, nicht der Autor.« 45 Man muß darauf achten, daß Döblin nicht sagt: Der Leser soll urteilen. Er mag urteilen: damit ist doch wohl gemeint, er mag urteilen, wenn er trotz der ganzen Komplexität immer noch glaubt urteilen zu können. Es dürfte sich nämlich nicht so verhalten, daß Döblin die Hegemonie des Autors zu brechen gedenkt, damit nun der Leser seine eigene Hegemonie aufrichte. Die Schwierigkeiten, bei Döblin zu einem Verständnis zu gelangen, hängen somit meist mit der Problematik des Urteilens zusammen, sei es, daß er sich im Urteilen zurückhält, daß er unvermerkt das Urteil seiner Figuren vorschiebt und damit die Etablierung eines Allgemeingültigen stört, oder sei es, daß er ein Urteil auf ein gegensätzliches auflaufen und so scheitern läßt; doch nicht genug: ihm ist auch nicht daran gelegen, Zusammenhänge nachzuweisen und Hintergründe zu erhellen. Da darf man sich nicht wundern, wenn der Leser erklärt: Ich finde mich nicht zurecht, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Nicht etwa nur bei den umfänglichen Romanen wie »Wang-lun« oder »Amazonas« geschieht es, daß man in der wimmelnden Menschenmenge und in den vielfältigen Ereignissen die Orientierung verliert, auch mit einer kürzeren Erzählung kann es einem ähnlich ergehen. Was soll man zum Beispiel mit der folgenden Stelle anfangen, wo es von Michael Fischer heißt: »Wenn er die Blume nur rufen könnte. Aber wie hieß sie denn? Er wußte nicht einmal, wie sie hieß. Ellen? Sie hieß vielleicht Ellen, gewiß Ellen.« (26) Warum kommt Michael Fischer gerade auf den Namen »Ellen«? Spielt eine Person dieses Namens in seinem Leben eine Rolle? Welche Rolle? Gegen den Schluß der Erzählung ist plötzlich von der Schwiegermutter die Rede: »Die Alte, die Schwiegermutter, konnte jetzt fluchen und sagen, was sie wollte. Er hatte mit ihr nichts zu schaffen.« (32) Ist Ellen vielleicht Fischers Frau? Aber er hat doch eine Haushälterin, dann könnte er verwitwet sein. Hat er etwa den Tod seiner Frau herbeigewünscht? Es ist verräterisch, wenn er sich selbst versichert: »Es konnte ihm niemand etwas nachsagen; er hatte nicht mit dem geheimsten Gedanken den Tod dieser Blume gewünscht, nicht die Fingerspitze eines Gedankens dazu

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geboten.« (32) Soll man aus der Abwehr einer möglichen Anschuldigung am Ende schließen, daß er seine Frau in den Tod getrieben habe? Diese und ähnliche Kombinationen bleiben bloße Mutmaßungen. Der Autor, falls er sich überhaupt präzise Vorstellungen gemacht haben sollte, scheint seinen Leser im Stich zu lassen. Wie soll man demjenigen, der nun mißmutig die Lektüre abbricht, weiterhelfen? Da Döblin es als Autor in der Hand gehabt hätte, Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen, muß man sich sagen, daß es seinem künstlerischen Wollen entspringt, wenn er manches von seiner Geschichte dunkel läßt. Er dichtet aus einem andern Grundgefühl als die Dichter des Realismus und Naturalismus. Er sieht das Leben nicht als etwas überschaubar Geordnetes. Das braucht nicht zu heißen, es sei für ihn chaotisch. Aber das Leben und seine Ordnung ist ihm nicht von solcher Art, daß man den Überblick darüber zu gewinnen vermöchte. In der großen Abhandlung, die 1933 unter dem Titel »Unser Dasein« herausgekommen ist, schreibt Döblin, die Welt sei ihrer Struktur nach nicht zum Verstehen da.46 Gottfried Keller sah das anders. Er zweifelte nicht, daß es unsere Aufgabe sei, zu verstehen, und er zweifelte nicht an der Verstehbarkeit der Dinge. Deshalb fragt er sich: Wenn ich die Welt verstehen und in der Dichtung wiedergeben will, wie muß ich mich dann verhalten? Döblin ist dagegen vor die Frage gebracht: Wenn die Welt nicht zum Verstehen da ist, wie muß dann gedichtet werden? Unter dieser Voraussetzung wäre nämlich ein Werk der Kunst nicht mehr echt, wenn es sich als übersichtlich und durchsichtig darstellte. Daß Döblin nicht erst in den dreißiger Jahren zur Auffassung kommt, die Welt sei kein zu Verstehendes, läßt sich leicht belegen. In dem 1900 geschriebenen lyrischen Ich-Roman »Jagende Rosse« folgt auf die Einsicht, daß Sonne und Erde ein Rätsel seien, die Aussage: »Den Menschen scheint vieles zu klar. Mehr Dunkel für diese Menschen.«47 Und im November 1904 schreibt er aus Freiburg an Else Lasker-Schüler: »Wie ich auf der Fahrt hierher die Felder nackt oder gelbstoppelig, die Weinberge weiter südlich mit den langen schwarzen Stockreihen sah, dann in Westfalen die roten Erdmassen und immerfort braunes, gelbes, grünes, rotes Laub neben der Eisenbahn hoch, zuletzt die nebligen runden Berge mit den dicken Tannenwolken drüber, der Schwarzwald, drängte sich mir das Unbegreifliche, Dunkle dieser ganzen Erdangelegenheit recht

" UD 186. 47 JR 33.

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energisch und nachdrücklich auf. Hol mich der Kuckuck, wenn ich diese ganze Geschichte noch einmal verstehen lerne.« 48 Die Reise durch die Herbstlandschaft zum Schwarzwald, während noch Verse, die Arno Holz aus seinem neuesten Werk vorgelesen, in ihm nachklingen, darunter die Stelle »O Adame o Eve / Vita somnium breve« 4 9 — das hat ihn Vergänglichkeit und Tod und damit das Nichtverstehen erfahren lassen. Unbegreiflich ist nicht allein der Tod, es ist ebenso unbegreiflich, daß, wenn doch alles vergehen muß, überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts. Darum wird Döblin jene zeitgenössischen Schriftsteller bekämpfen, die sich anheischig machen, die Erdangelegenheiten zu durchschauen. Er greift die Romanpsychologie an, die für ihn »der zudringlichste, meist gehätschelte Rationalismus« ist, »reine abstrakte Phantasmagorie«, Scheinzauberei des Verständnisses; der Rationalismus aber sei immer der Tod der Kunst gewesen. 5 0 Doch wenngleich die Dichtung von der Einsicht bestimmt ist, daß die Welt — anders als der durch alles hindurchblickende, eben per-spektivische Rationalismus meint — grundsätzlich nicht zum Verstehen da ist, so heißt das natürlich nicht, daß ganz und gar nichts zu verstehen sei oder dem Verständnis nahegebracht werden könne. Döblins Dichtung stellt das Dasein weder so dar, daß man es durch und durch zu verstehen glaubt, noch so, daß es als das Unverständliche schlechthin erscheint. »Wir verstehen es, in einer bestimmten Ebene«, sagt Döblin einräumend und einschränkend. 51 Wir verstehen jedenfalls so viel davon, als zur Erkenntnis, daß es nicht zum Verstehen da sei, nötig ist. Auch das Dunkel, das zur Erzählung von der Ermordung einer Butterblume gehört, enthebt den Leser nicht der Aufgabe, so weit wie möglich in das Rätselhafte einzudringen. Dabei haben wir zunächst darauf zu achten, daß uns ein Mensch gezeigt wird, der als Herr auftritt, Herr seiner selbst sein will und andern gegenüber den Meister herauskehrt, nun aber in den Zusammenbruch seiner Herrschaft geführt wird. 5 2 Wiederholt heißt er ausdrücklich »Herr Michael Fischer«, auch etwa kurzerhand »der Herr«, und er ist vom Dichter mit den zu seiner Zeit

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Brief v o m 10. N o v e m b e r 1904, Β 26. — Im M a n u s k r i p t steht »Tannen wölken«. Die Emendation »Tannen Wolken«, die der Herausgeber vorschlägt, scheint mir nicht überzeugend. Vgl. Β 508: Anmerkung zu S. 26. An R o m a n a u t o r e n und ihre Kritiker (»Berliner P r o g r a m m « ) , A L 16. F G 97. Vgl. dazu T h o m a s Anz, D i e Problematik des autonomiebegriffs in Alfred Döblins frühen erzählungen, in: "Wirkendes Wort, 24. J g . , 1974, H . 6, S. 389 und 399.

üblichen Statussymbolen ausgestattet worden, mit einem steifen Hut, einer goldenen Uhrkette, einem Spazierstock, so daß wir gewissermaßen eine neuartige Sorte von König mit Krone, Ordenskette und Szepter vor uns haben, einen König von eigenen Gnaden, dessen Devise die Selbstbestimmung ist. 5 3 Dieses Herrsein ist nun allerdings vom Anfang der Erzählung an aufs tiefste bedroht. Wie prekär es damit steht, erkennt man an den unverhältnismäßig heftigen Reaktionen, die von diesen und jenen Behinderungen oder Belästigungen ausgelöst werden. Wenn das Abendlicht zwischen den Stämmen die Augen des Spaziergängers zum Zwinkern bringt, machen die Hände entrüstete hastige Abwehrbewegungen. Für derlei Einzelheiten bekommt man einen geschärften Sinn, wenn man die Motive durch die verschiedenen Dichtungen Döblins hindurch verfolgt. In »Berlin Alexanderplatz« gibt es, ganz am Anfang, eine Parallele: »Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen.« 54 In dieser Haltung ist der Leibspruch Franz Biberkopfs konkret geworden: »An mich kann nichts ran.« 5 5 Dennoch dringt irritierend etwas auf ihn ein. So ergeht es auch Fischer. Und überdies will man ihn zurückhalten, am Fortschreiten hindern. Mit Hieben rechts und links verschafft er sich Luft. So kann er wieder seines Weges gehen, ungehemmt, rücksichtslos. Aber immer von neuem zeigt sich, daß man es auf ihn abgesehen hat und ihm übelwill. Er fühlt sich beobachtet, belächelt, beleidigt. Proteushaft wechselt das Bedrohende die Gestalt. Die Fliegen machen ihm zu schaffen; Bäume stellen sich ihm in den Weg, schelten hinter ihm her; ihn erwarten Folterqualen, Hinrichtung. Wenn er auch jeweils in Momenten der Ruhe über das, was ihm widerfährt, den Kopf schüttelt, als sei eigentlich nichts, so umgibt ihn doch etwas Lauerndes, Unbestimmtes und überfällt ihn dort, wo er wehrlos ist: hinterrücks wirft sich Angst riesengroß über ihn (25). Abrupt verwandelt sich Herrschaft in Ohnmacht. Dieses Umschlagen des einen ins andere legt den Gedanken nahe, daß Döblin nicht Entwicklungen, allmählich vor sich gehende Prozesse darstellen will. Auch hier erwartet er vom Leser, daß er sich auf Ungewohntes einlasse. Statt uns

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Eine sozialkritische Interpretation müßte in diesen Rahmen gestellt werden. Wie unstatthaft die Reduktion auf das Klassenkämpferische ist, zeigt sich u. a. in der Verwandtschaft Michael Fischers mit Johannes, der als Herr seiner selbst durch die »machtvolle Unvernunft« der Triebe bedroht und niedergeworfen wird: »Der Herrscher des bedrohten Landes lag am Boden.« J R 130.

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BA 14. BA 364 sowie verschiedene andere Stellen.

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plausibel zu machen, wie es komme, daß sich Stärke in Schwäche verändere, daß Gebietendes unterliege, zeigt er uns das Unvermittelte, Plötzliche, Diskontinuierliche. So beginnt man sich zu fragen, ob Macht und Ohnmacht, wenn Döblin sie so nahe zusammenrückt, nicht als zusammengehörig, als einheitliche Erscheinung gesehen sein wollen. Wir hätten uns dann nicht vorzustellen, daß dieser Michael Fischer früher einmal kraftvoll gewesen sei, nun aber - durch welche Ursachen auch immer — seine Kraft eingebüßt habe; wir müßten vielmehr denken, daß seine Stärke zugleich Schwäche sei und daß deshalb die Schwäche auch so plötzlich hervortreten könne. Was sich vor dem Leser ereignet, ist nicht Entwicklung, sondern Enthüllung. Ein Beispiel solcher Entlarvung ist Michael Fischers Sturz, bei dem der Hut verlorengeht und das Stöckchen zerbricht. (26) Es genügt Geringfügiges, lästige Fliegen etwa, und schon ist einer demaskiert: Er lasse sich nicht auf der Nase herumtanzen, schreit Herr Michael und schlägt mit der Faust auf den Tisch, er werde einmal aufräumen im Geschäft und überall (29). Vom Gefälle zwischen den Gegensätzen geht eine komische Wirkung aus. Schon darin ist ein komisches Element enthalten, daß Döblin diesem Herrn Fischer den Vornamen Michael gegeben hat. Es ist ein Name, der sowohl an den Erzengel Michael wie an den deutschen Michel denken läßt, zumal Döblin gelegentlich auf den einen wie den andern zu sprechen kommt. Weil die Deutschen den Erzengel Michael, diese Kämpfergestalt, besonders verehrten und es dem Bannerträger der himmlischen Heerscharen, dem Besieger des Höllendrachens gleichzutun gedachten, konnte die Wende ins Ironische nicht ausbleiben, es mußte bei solcher Anbiederung die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in die Augen fallen. 5 6 Auf dieses Mißverhältnis deutet auch Kleist bei seinem Michael Kohlhaas hin, indem er den historischen Namen Hans Kohlhase abändert. Michael Kohlhaas sieht sich als Statthalter Michaels des Erzengels, er verkündet in einem Mandat, er sei gekommen, mit Feuer und Schwert die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen. 57 Döblins Michael Fischer beruft sich nicht auf den Erzengel, wir hören auch nichts davon, daß er je an ihn denke; trotzdem stellt sich für den

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Döblin hat auch sonst bei der Namengebung eine solche Diskrepanz zum Ausdruck gebracht: Valentin in der »Nachtwandlerin« ist alles andere als gesund und kräftig; Reinhold in »Berlin Alexanderplatz« ist ein Unhold. Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, a. a. O., S. 9 ff. Auch Kohlhaas ist ein Wahnsinniger, ein »Vermessener«, der »im Wahnsinn stockblinder Leidenschaft« handelt, wie sich in der Novelle Luther ausdrückt. (S.42)

Leser dieser Bezug ein, nicht nur dort, wo Herr Michael sagt, er werde einmal mit allem aufräumen, sondern auch bei der Stelle: »Er fühlte sich als scheusäliger Drache, der geruhsam Lebendiges herunterschluckt.« (30) Aus dem Drachentöter ist ein Drache geworden. Herr Fischer ist der pervertierte Michael, der nicht im Dienste des Lebens steht, sondern Lebendiges vernichtet. Wenn wir von diesem Herrn Michael Fischer sagen müssen, er sei ein entmachteter Herr, so heißt das also nicht nur, daß er jetzt schwach sei. Seine Macht ist zu etwas Bösem, zur Gewalttätigkeit geworden. Schwäche und Gewalttätigkeit schließen sich nicht aus, sie gehören vielmehr zusammen. Döblin wird das ebenso an Kaiser Ferdinand dem Zweiten wie am Transportarbeiter Franz Biberkopf darstellen. In derselben Ambivalenz sieht er die Frau des Tischlers Link auf ihrem Weg zum Gattenmord: »Sie saß hilflos über sich, ihrer selbst überdrüssig, schlaff und dann wieder zu allem fähig.« 58 Die Enthüllung, daß Kraft und Herrlichkeit des Menschen nichtig sind, daß seine Stärke zu Schwäche und Gewalttätigkeit entartet ist, erfolgt in dem Moment, da der Tod in den Gesichtskreis tritt. Nur wer den Tod aus seinem Blickfeld weggeschafft hat, wird sich auf Stärke etwas zugute tun. So gilt es auch bei Michael Fischer darauf zu achten, daß es der Tod ist, der ihn so tief erschüttert. Döblin zeigt das in einer Spiegelung. Er stellt dar, wie Michael Fischer, indem er eine Butterblume köpft und den Frevel vergeblich rückgängig zu machen versucht, den Tod erfährt. Ähnlich wie in der Erzählung »Das Stiftsfräulein und der Tod« unterstützen die tiefschwarz dastehenden Bäume den Vorgang der Bewußtwerdung: das verdrängte Wissen um den Tod überfällt ihn, kommt gleichsam vom Rücken her über ihn, nicht anders als die Angst, die sich hinterrücks über ihn wirft (25): »Ihn entsetzte der endgültige Todesgedanke und schüttelte ihm die Schultern.« (27) Es ist natürlich nicht so, daß jenes blindwütende Abschlagen einer Löwenzahnblüte die Ursache des Angstzustandes wäre und den Übeltäter zum Wahnsinn triebe. Diese Handlung bildet — auf einer andern Ebene, mit verwandeltem Szenarium, in einer Sprache, die an Träume erinnern mag - ein Geschehen ab, an das Michael Fischer am liebsten nicht denken möchte, das er aber nicht los wird, weshalb es sich ihm auf diese Weise vorführt. Schon das Wort »Ermordung« im Titel gehört ja in den menschlichen Bereich, und aus allmählich klarer hervortretenden Umrissen ergibt sich

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FG 18.

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das Bild der eigentlichen Todeserfahrung, das besonders an folgender Stelle kaum mehr verschleiert ist: »Es konnte ihm niemand etwas nachsagen; er hatte nicht mit dem geheimsten Gedanken den Tod dieser Blume gewünscht, nicht die Fingerspitze eines Gedankens dazu geboten.« (32) Von Entsetzen erfaßt ist Michael Fischer beim Gedanken an den Tod eines Menschen; ihn schaudert, daß er diesen Tod verschuldet hat und daß seine Schuld ebenso unabänderlich ist wie der Tod. Weil die Schuld ihn zu erdrücken droht, will er sie als möglichst gering erscheinen lassen. Darum maskiert sich das Verschulden als bloßer Blumenfrevel. Damit nun aber der Leser die Larve nicht für das Gesicht nehme, spricht Döblin von »geheimnisvoller Schuld« (29). Was sich an Schuldhaftem manifestiert, weist auf ein verborgenes Schuldigsein hin. Der Leser wird freilich nur dann bereit sein, sich auf ein solches Geheimnis einzulassen, wenn ihm die Erzählung hinreichend deutlich macht, unter welchen Umständen und inwiefern Michael Fischer schuldig geworden ist. Döblin gibt dafür verschiedene Anhaltspunkte, so daß eine Rekonstruktion des Geschehenen, wenigstens in großen Zügen, möglich ist. Man darf jedoch die Erkundung des Hintergrundes nicht für das Wesentliche halten. Der Dichter hätte ja diese Dinge in aller Ausführlichkeit darlegen können. Wenn er es bei Andeutungen bewenden läßt, ist das ein Zeichen, daß es ihm weniger um Anlaß, Art und Grad des Verschuldens als vielmehr um das Schuldigsein als solches und um das Verhältnis zur Schuld zu tun ist. Nur wird eben, solange nicht durchschaut ist, daß die Butterblume für etwas anderes steht, Michael Fischers Schuld nicht ernst genommen, sondern als wahnhafte Einbildung betrachtet. Was also an lebensgeschichtlichen Daten läßt sich der Erzählung entnehmen? Da einmal von der Schwiegermutter die Rede ist (32), kann man davon ausgehen, daß Michael Fischer mit der Tochter dieser Frau verbunden ist, wobei zunächst ungewiß bleibt, ob er verheiratet ist oder nicht. Der auffallende Umstand, daß in Fischers Mordphantasien die Butterblume ausdrücklich als erwachsen bezeichnet wird (24), legt die Annahme nahe, die ganze Sippschaft (32), mit der er es zu tun hat, umfasse auch ein Kind. 59 Aus dem unvermittelt auftauchenden Satz »Nach Kanossa gehn wir nicht« (25) kann geschlossen werden, daß Herr Michael eine Heirat ablehnt. Anders als König Heinrich IV. hat er nicht im Sinn, sich der Kirche zu unterwerfen. Er will die Mutter seines Kindes nicht zum Altar

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Wie Traumbilder mehrere Bedeutungen haben können, nacheinander oder gleichzeitig, vertritt die Butterblume verschiedene Personen.

führen, und diese seine Schäbigkeit sucht er mit dem berühmten Wort aus einer Reichstagsrede Bismarcks zu drapieren, was durch die Disproportion erst recht das Klägliche hervorhebt.60 Eine Reminiszenz der Heiratsverweigerung darf man auch in dem Gedanken sehen: »Die Alte, die Schwiegermutter, konnte jetzt fluchen und sagen, was sie wollte.« (32) Und daß ihm, wie er auf die zum Schloßberg spazierenden Menschen blickt, in einem Augenblick der Reue Brautglück und Kinderwagen vor Augen treten (30), spricht eine deutliche Sprache. Wenn Michael Fischer nicht hat heiraten wollen, mag er auf sein Recht gepocht haben: man kann schließlich niemanden zur Ehe zwingen. Wie aber soll man sich erklären, daß er mit Frohlocken verkündet, nun seien sie geschiedene Leute, das Recht und auch das Glück stünden auf seiner Seite? (32) Plausibel wird dieser Ausbruch des Triumphgefühls nur in einem Fall: das, was eine Heirat als notwendig hat erscheinen lassen, muß hinfällig geworden, das Kind muß tot zur Welt gekommen oder gestorben sein. Diese Annahme wird gestützt durch die Stelle, da Michael Fischer sich umsonst bemüht, die geköpfte Blume wieder zu finden: »Wenn er die Blume nur rufen könnte. Aber wie hieß sie denn? Er wußte nicht einmal, wie sie hieß. Ellen? Sie hieß vielleicht Ellen, gewiß Ellen.« (26) Nur beim Namen des neugeborenen Kindes ist es denkbar, daß er ihn nicht sicher oder überhaupt nicht weiß und deshalb den Namen der Mutter in Erwägung zieht. Die Schuld kann nun näher bestimmt werden: Fischer fühlt sich schuldig am Tod seines Kindes. Er hat dessen Tod herbeigewünscht, der Wunsch hat das Kind umgebracht; daher weist er gerade diese Anschuldigung weit von sich: er habe nicht mit dem geheimsten Gedanken den Tod des Kindes gewünscht. Diese Verkettung von Gedanke und Tatsache gewinnt Gewalt über ihn und zwingt ihn, das Geschehene wie einen Angsttraum zu wiederholen und dabei die Rolle eines Mörders zu übernehmen. Jetzt erkennt man auch, daß es kaum von ungefähr geschieht, wenn Döblin die Spaziergänge Michael Fischers nach St. Ottilien führt — und nicht auf den Tuniberg oder den Schönberg — und diesen Wallfahrtsort sogar dreimal, also mit einem gewissen Nachdruck erwähnt, so daß ihm eine ähnliche Bedeutsamkeit zukommen dürfte wie etwa im HamletRoman dem Namen Montmartre oder Sacré Cœeur. Nach der Legende

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Die Figur Michael Fischers illustriert den Satz: »Es laufen lauter kleine Tyrannen herum, armselige Menschen in der Toga der Cäsaren, ein entsetzliches Maskenfest.« Das hat Döblin 1938 geschrieben (Prometheus und das Primitive, PG 364), beobachtet hat er es schon viel früher.

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wollte Herzog Adalrich seine Tochter Ottilie, weil sie blind und schwächlich war, gleich nach der Geburt töten, sie wurde aber gerettet und erlangte bei der Taufe das Augenlicht, wogegen umgekehrt die Verworfenen in die äußerste Finsternis, in die Blindheit gestoßen werden. 61 Indem Döblin den Namen der heiligen Ottilie einflicht, bringt er eine kontrapunktische Bewegung in die Novelle. Der aus dem Text erschlossene Hintergrund der Erzählung stimmt mit einer Aussage überein, die Robert Minder überliefert hat: der biographische Klartext zur »Ermordung einer Butterblume«, habe Döblin 1955 gesagt, sei das Verhältnis, in das er zu einem Mädchen gekommen sei; »in der letzten Studentenzeit bekam sie ein Kind: es starb rasch, ich hatte Glück.« 6 2 Die letzte Bemerkung — welchen Ton sie auch immer gehabt haben mag — klingt an den Gedanken des triumphierenden Michael Fischer an, das Glück stehe auf seiner Seite. Diese Hinweise sollen aber nicht dazu dienen, die Dichtung ins Biographische zurückzuübersetzen, als ob Dichtung nichts anderes als eine Art Chiffrierung von Erlebnissen wäre. Wir haben sie herangezogen, weil sie im ganzen wie im einzelnen zu besserem Verständnis führen können; zum Beispiel läßt sich in der folgenden autobiographischen Notiz der Ausdruck »belasteter Mensch« genauer erfassen: »In Freiburg im Breisgau im letzten Studienjahr kam mir beim Spazieren über den Schloßberg das Thema der Novelle »Die Ermordung einer Butterblume^ ich wußte nun etwas von Zwangsvorstellungen und anderen geistigen Anomalien. Es liefen da Jungens über die Wiese und hieben mit ihren Stecken fröhlich die unschuldigen schönen Blüten ab, daß die Köpfe nur so flogen. Ich dachte an die Beklemmungen, die wohl ein feinfühliger oder, wenn man will, auch belasteter Mensch nach einem solchen Massenmord empfinden würde.« 63 »Belastet« heißt hier »schuldbeladen«. Der biographische Zusammenhang erlaubt eine präzisere Umschreibung des zentralen Themas. Wer dem aber entgegenhalten wollte, gerade die Meinung, daß man mit dem Todeswunsch den Tod herbeiführe und somit schuldig sei, bezeuge das Wahnhafte, die bloße Einbildung, der verhielte sich kaum anders als einer, der nicht verstehen kann, daß König ödipus sich schuldig fühlt, wo doch die Götter, die ihn ins Unglück geführt haben,

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Alban Stolz, Legende oder der christliche Sternenhimmel, Freiburg im Breisgau 1872, 4. Band, S. 438. Robert Minder, »Die Segelfahrt« von Alfred Döblin, a . a . O . , S. 4 8 1 . Journal 1 9 5 2 / 1 9 5 3 , AS 4 7 0 .

verantwortlich sind. 6 4 Döblins Dichtungen bewegen sich nicht auf der rationalen Ebene der Bewußtseinsvorgänge, um in »psychologischer Manier« Gedankenabläufe zu analysieren, in ihnen die Motive menschlicher Handlungen zu suchen. Nach seiner Überzeugung kommen die wirklichen Motive »ganz anderswoher« 65 . Sein Werk beschäftigt sich mit diesem Anderswoher, und so kann man in bezug auf die Thematik »Schuld und Tod« sagen, dem Dichter Döblin sei schon früh vertraut gewesen, was später Sigmund Freud mit folgenden Worten ausgesprochen hat: »Für das unbewußte Denken ist auch der ein Gemordeter, der eines natürlichen Todes gestorben ist; die bösen Wünsche haben ihn getötet.« 6 6 Daß der Tod, statt über einen, der dem Verstorbenen nahestand, Trauer zu bringen, Erleichterung und Frohlocken hervorruft — dieses Aufeinanderstoßen unverträglicher Gegensätze löst in Michael Fischer die schweren Erschütterungen aus, welche die Novelle aufzeichnet. Selbst die als unerschütterlich geltenden Fundamente des Daseins sind mitbetroffen. Es gilt nicht mehr das Nacheinander des Früheren und Späteren, nicht mehr das Auseinander von hier und dort. Im Wald geschieht, was anderswo geschehen ist: zwischen der Butterblume hier und den Menschen dort ist kein Abstand, kein Unterschied; so ist es unmöglich, jenem Dort zu entfliehen und bei einem Hier Zuflucht zu suchen, es gibt nur das Überall. Was geschehen ist, geschieht erneut, ja man hat es gar nicht mit etwas zu tun, was vorbeigegangen ist und deshalb allenfalls auch wieder auftreten kann, man ist in ein dauernd Geschehendes einbezogen, es gibt allein das Gleichzeitige. Gleichzeitig sind auch Todeswunsch und Eintritt des Todes. Man muß sich den Zusammenhang nicht kausal in der Weise vorstellen, daß der Wunsch als das Vorausgehende bewirke, was sich sodann ereignet; eine so gedachte Verknüpfung wäre wohl wieder zu lösen, das Nacheinander wäre nicht in Frage gestellt, und so könnte man alles, auch das Schlimmste, mit der Zeit hinter sich bringen. Auf der Grundlage des Nacheinanders bleibt August Strindberg mit seinem 1899 geschriebenen, im Oktober 1902 in Berlin gespielten Drama 64

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Döblin hat nach Freiburg auch die Dramen des Sophokles mitgenommen. Vgl. den Brief an Else Lasker-Schüler, 10. Nov. 1904, Β 25. »Berliner Programm«, AL 16. Sigmund Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, 9. Bd., London 1940, S. 77 (Erstpublikation 1912/13 unter dem Titel »Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«), Wenn Döblin erklärt, ihm persönlich habe Freud nichts zum Verwundern Neues gebracht (AS 25), so hängt das damit zusammen, daß er seine Erkenntnisse aus denselben Quellen wie Freud geschöpft hat, nämlich bei den Dichtern: »Noch immer hat Dostojewski vor Freud gelebt, haben Ibsen und Strindberg vor Freud geschrieben.« (Sigmund Freud zum 70. Geburtstage, Ζ 87)

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»Rausch« 6 7 , das ebenfalls von der »Ermordung« eines illegitimen Kindes handelt: ihm, das im Wege steht und das Voranschreiten hindert, wird der Tod gewünscht. Döblin hat 1923 in einer für das »Prager Tagblatt« verfaßten Theaterrezension die Handlung des Stücks folgendermaßen zusammengefaßt: »Ein Dichter will im Rausch seines Erfolges mit der neuen Geliebten von der alten weg. Im Liebesgespräch verwünschen sie die erste Geliebte und ihr Kind. Und siehe da: das Kind stirbt plötzlich. Die Polizei läßt die beiden bald frei; aber sie vergeben sich die Gedankenschuld nicht. Wühlen darin, klagen sich an, vergiften sich gedanklich. Bis sie sich losreißt; er den Rausch, den Traum durchschaut und zu einem neuen Leben, gestraft genug, zurückkehrt.« Man habe einen zahmen Strindberg vor sich, bemerkt Döblin dazu. Er findet die Aufführung nicht durchwegs überzeugend. Anfänglich habe das Spiel »eine beglückende Unwirklichkeit« gehabt, man sei von der »Transzendenz des Vorgangs« ganz eingezogen worden, dann jedoch sei es in »eine unsichere Realität« abgeglitten. 68 Obschon Strindberg hier das Nacheinander der Ereignisse nicht antastet und die Ebene rationaler Gespräche kaum je verläßt, ist es der Inszenierung des Lessing-Theaters — Döblin spricht von einer »Musteraufführung« — offenbar in den ersten Akten gelungen, jenen andern Bereich zu suggerieren, der über der gewöhnlichen Wirklichkeit, jenseits der üblichen Zeit- und Raumvorstellungen liegt. Darum darf man vermuten, daß dem Rezensenten die Figur des Bildhauers Adolphe glaubhafter erschienen sei als die beiden Hauptpersonen; denn er, der seinen Vater aus dem Leben gewünscht hat, lebt seit dessen plötzlichem Tod in dem unveränderten Gefühl der Schuld und ist

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Das Stück wurde von M a x Reinhardts Kleinem Theater aufgeführt. (Vgl. Julius Bab, Das Theater der Gegenwart, Geschichte der dramatischen Bühne seit 1870, Leipzig 1928, S. 119) Es ist sehr wohl möglich, daß Döblin diese Aufführung gesehen hat, zumal Reinhardt sich in jener Zeit auch einer Reihe von Einaktern annahm, die Döblin zu seinem Einakter »Lydia und Mäxchen« (geschrieben 1905) angeregt haben könnten. — Es sei hier noch eine auffallende Parallele zwischen der »Ermordung einer Butterblume« und Strindbergs »Beichte eines Toren« erwähnt (erste deutsche Ubersetzung 1893): Der Beichtende schildert, wie er auf der Höhe der Verzweiflung in den Hochwald stürzt, gegen die Bäume stößt, mit Fußtritten Schwämme und Pilze zerstört. (Deutsche Gesamtausgabe, München 1921, S. 98.)

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KM 219 und 220. — Döblin wird später das Wort, ein Ehebrecher sei schon der, welcher nur in Gedanken das Weib eines andern begehre (Matth. 5,28), in Zusammenhang bringen damit, daß der Gedanke an Mord Mord sei, daß man somit der spielerischen Welt der Gedanken Realität und Wucht zuerkennen müsse und so über die greifbare, rohe, juristische Realität hinaus in eine höhere gelange. (Der Kampf mit dem Engel, UM 544 f.)

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ein unablässig Büßender geworden.69 Der Dichter Maurice und seine Geliebte dagegen meinen, nach zwei Tagen sich losreißen und alles hinter sich lassen und so zu einem neuen Leben gelangen zu können. Jedenfalls ist Döblin in seiner Erzählung alles andere als ein zahmer Dichter: Michael Fischer gerät, gerade wie er alles hinter sich gebracht zu haben wähnt, nur tiefer ins Elend. Daß ausgerechnet die sogenannte Gedankenschuld, entgegen dem, was man so gemeinhin denkt, besonders schwer wiegt, hängt mit der »Transzendenz des Vorgangs« zusammen. Man hat es hier nämlich nicht mit jenem Schuldigsein zu tun, in das man durch ein faktisches Verschulden hineinkommt 70 , es geht nicht darum, daß man schuldig wird. Handelte es sich allein um die Tatsache, daß die himmlischen Mächte den Menschen ins Leben hineinführen, ihn schuldig werden lassen und ihn dann der Pein überantworten, würde zwar gelten, daß sich alle Schuld auf Erden räche 71 , aber man könnte sich auch sagen, daß Schuld sich abbüßen lasse, daß die Zeit alles mildere und heile. Wie aber, wenn mit der Gedankenschuld das jedem Verschulden zugrundeliegende und dieses erst ermöglichende Bösesein an den Tag gebracht würde, wenn also jenes Schuldigsein zum Vorschein käme, das nicht im Dasein des einzelnen Menschen entsteht, sondern mit dem Dasein gegeben ist, daher auch nicht getilgt werden kann? Strindberg charakterisiert diesen Zustand, indem er Maurice sagen läßt: »Schuldig und nicht schuldig; nicht schuldig und schuldig. Ich werde wahnsinnig davon!« 72 Was Döblin die »geheimnisvolle Schuld« (29) nennt, enthüllt nun seinen tiefsten Sinn. Es ist damit nicht lediglich der so sonderbar schwer genommene Blumenfrevel gemeint, auch nicht einfach eine dahinter versteckte, zunächst unbekannte Untat, vielmehr wird damit auf die »Erbschuld« des Menschen und sein »Sündgefühl« verwiesen, Dinge, von denen schon im »Schwarzen Vorhang« die Rede ist 73 , auf »das unklare Leidens- und Schuldgefühl, das er nun einmal hat«, wie es 1938 im 69

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August Strindberg, Rausch, in: Deutsche Gesamtausgabe, Ubersetzung von Emil Schering, 6. Α., München und Leipzig 1916, S. 63, 73, 82. Das faktische Verschulden läßt sich ermessen; wäre die Gedankenschuld von dieser Art, könnte man zu Recht davon reden, daß der Schuldbelastete sie maßlos übertreibt, daß er, wie Freud sagt, die Wirkung seiner feindseligen Gefühle in der Außenwelt überschätze (Sigmund Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Erstpublikation 1909, Gesammelte Werke, Bd. 7, London 1941, S. 451). Döblin zitiert diesen Vers aus dem Goethegedicht »Wer nie sein Brot mit Tränen aß« im »Schwarzen Vorhang«, J R 123. Rausch, a. a. O., S. 69. J R 122.

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Aufsatz »Prometheus und das Primitive« heißt 7 4 . Es ist eine Schuld, die dem Verständnis nicht zugänglich ist. Döblins Erzählung »Die Ermordung einer Butterblume« hebt sich ab vom Hintergrund eines rational und deterministisch denkenden Zeitalters, welches nur noch einen verkümmerten Begriff von Schuld hat. Man anerkannte das Schuldigsein einzig noch als das Schuldhaben im Sinne der Rechtsverletzung, widerwillig genug, waren doch damit zeitlich und örtlich beschränkt geltende, durchaus gesellschaftlich bedingte und wandelbare Normen übertreten; und man kannte das Schuldigsein als Schuldenhaben und sah den Ursprung allen Übels in den ökonomischen und sozialen Mißständen. Deshalb konnte man auch allenthalben an der Beseitigung des Begriffes »Schuld« arbeiten, den Menschen von der Verantwortung entlasten, sein Handeln als ein Werk der Erbanlagen — der Triebe vor allem — und der Umwelteinflüsse darstellen. Ein solcher Mensch der Schuldvergessenheit ist Michael Fischer. Er hält alles für erlaubt und huldigt der Ansicht, man müsse die Triebe ausleben, weil sich ihre Unterdrückung rächen würde. 7 5 Der Mangel an Verantwortlichkeit ist auch an seiner Physiognomie abzulesen, in dem Kindergesicht, das bloß ältlich, aber kein männliches Gesicht geworden ist. Fischer ist der Mensch, der von Schuld nichts wissen will; das Schuldigsein aber holt ihn ein und kommt über ihn. Und nun weiß er sich auch da schuldig, wo ihn niemand außer ihm selbst anklagt, jedermann aber, nur er nicht, im Selbstvorwurf wahnhafte Einbildung sieht, und ist imstande, sogar unter der Geringfügigkeit, daß er Löwenzahnblüten geköpft hat, zu leiden. 76 Es ist, als ob die Literatur des 20. Jahrhunderts das ursprüngliche Schuldigsein wieder hätte entdecken müssen, und es gibt zu denken, daß Döblin und Kafka am eindringlichsten davon handeln. Das Wahnhafte bei Michael Fischer besteht also weder darin, daß er Schuldgefühle hat, noch darin, daß er die Schuld vor sich selbst verschlimmert oder sie sich zu sehr zu Herzen nimmt. Vielmehr ist er,

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PG 354. Michael Fischer ist das genaue Gegenstück zur Tänzerin Ella; die beiden Erzählungen entsprechen sich und sind in notwendigem Widerspruch gegeneinandergeführt. Vgl. S. 32. Butterblumen vertreten für Michael Fischer nicht unausgesetzt Personen; in eingeschränkter Weise hat also der Pflanzenfrevel, der verschiedentlich ins Zentrum gerückt worden ist, auch seine Bedeutung. — In diesem Zusammenhang ist die folgende Bemerkung Döblins zu erwähnen: »Manchmal habe ich ein unruhiges verbrecherisches Gefühl beim Rupfen eines Grashalms.« (Zwischen Helm und Zylinder, 1920, PG 170.) Wenn man von der »Ermordung einer Butterblume« herkommt, findet man es auffallend, daß dieser Stelle ein Abschnitt über den Abortus vorangeht.

indem er sich als Schuldigen erkennt, in die Wahrheit hineingekommen und hat zu sich selbst gefunden. Das wird nirgends so deutlich wie in dem einzigen wirklich lichten Augenblick der Erzählung, der so stark ist, daß er das sonstige Dunkel erträglich zu machen vermag: »Die Sonne schien in diesen Tagen oft auf die Stadt, das Münster und den Schloßberg, schien mit aller Lebensfülle. Da weinte der Verhärtete eines Morgens am Fenster auf, zum ersten Male seit seiner Kindheit. Urplötzlich, weinte, daß ihm fast das Herz brach. All diese Schönheit raubte ihm Ellen, die verhaßte Blume, mit jeder Schönheit der Welt klagte sie ihn jetzt an. Der Sonnenschein leuchtet, sie sieht ihn nicht; sie darf den Duft des weißen Jasmins nicht atmen.« Und weiter: »Ihr ist alles versagt: das Mondlicht, das Brautglück des Sommers, das ruhige Zusammenleben mit dem Kukkuck, den Spaziergängern, den Kinderwagen.« (29 f.) Wir haben hier den unter der Last der Schuld zusammengebrochenen, den verzweifelten Michael Fischer vor uns. Aber Zusammenbruch und Verzweiflung sind in den Augen Döblins nichts bloß Beklagenswertes, sie machen ja den Blick frei für das Schöne, wie es in der Lebensfülle dieses Augenblicks hingebreitet ist, für »die überwältigende Wahrheit der Daseinslust«, die Lust, »zu gehen, zu atmen, zu essen und trinken zu sehen und sprechen, unter diesem Himmel zu sein.«77 Daß es all dies gibt und daß dies alles da ist für das ruhige Zusammenleben 78 , das ergreift Michael Fischer und erfüllt ihn einen Augenblick lang. Allerdings vernehmen wir eine Einschränkung: all das Schöne sei ihm nicht gegeben, sondern genommen, weil Ellen nicht daran teilhaben könne, ihm entzogen durch die Schuld, mit der er sich beladen habe; aber gerade in diesem Entzug zeigt sich ihm die Schönheit als Schönheit, wogegen er vorher kein Auge für sie hatte. Die Klage Michael Fischers ist zugleich ein Lob des Daseins, und dies, so möchte man beifügen, ist vielleicht die dem Menschen einzig angemessene Art, zu loben und zu klagen. Michael Fischer vermag sein Leben nicht von diesem Augenblick her zu leben. Warum das so ist, gehört zum Nicht-Verstehbaren. Aus der Verzweiflung hätte ein neues Leben hervorgehen können. Döblin führt einmal Henri Dunant als Zeugen für eine derartige Verwandlung an: »Es wäre aber aus diesem Dunant, dem reichen Bürgerssohn, so wenig etwas geworden wie aus dem indischen Königssohn, der später Gautama 77 78

IN 225. Der Satz »Die Welt ist ihrer Struktur nach nicht zum Verstehen da« (vgl. S. 63) hat hier seine Ergänzung.

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Buddha hieß, ohne die drei erschrecklichen erweckenden Erlebnisse des Todes, des Alters, der Krankheit.« 7 9 Tod und Schuld hätten für Michael Fischer die erweckenden Erlebnisse sein können, aber nach jenem Augenblick nehmen vollends die Praktiken überhand, welche das Verhältnis zum Schuldigsein verfälschen und die Buße in eine Methode der Verrechnung und Abgeltung pervertieren. Dieser Weg, auf dem die Schuld beglichen, die ganze lästige Angelegenheit erledigt werden soll, führt Michael Fischer in eine Geistesverfassung, von der man den Eindruck hat, sie bestehe aus zerbrochenen Stücken einer früheren Kulturstufe: er treibt »Gottesdienst mit der Butterblume« (29), sie nimmt Züge eines Totems an, wird gehegt und gepflegt, stiftet die Zusammengehörigkeit der Sippe, hat Anspruch auf alle Schonung und weckt dennoch das Verlangen nach unerhörter Verletzung des Tabus, damit jede Bindung zerreiße, auch wenn »eine schwere Strafe« zu gewärtigen ist. (30) Aus alledem ergibt sich das Zerrbild einer Religion. Döblin hat so schon 1905 dichterisch dargestellt, was er Jahre später von den »Verlockungen tierischer und pflanzlicher Gottheiten« sagen wird: »Man drängt herunter auf historisch tiefere Stufen, lebt sich um diese Gottheiten wieder in einen gewissen primitiven Zustand ein, wenigstens zwischendurch.« 80 Selbst auf der Stufe verzerrter und entstellter primitiver Religionsübung sind Michael Fischers Handlungen von jenen Motiven geleitet, die entscheidende Bedeutung hätten, wäre er in ein wirkliches lebendiges Leben hineingekommen: Rücksicht, Fürsorge, Lebensgemeinschaft, aber alles erscheint in völliger Verdrehtheit. Er sorgt für eine Pflanze, die der Fürsorge nicht im mindesten bedarf, denn für sie würde die in sich geordnete Natur sorgen, hätte er sie an ihrem Platz gelassen, statt unsinnigerweise zu denken, sie verderbe dort. Eine weitere Verkehrtheit wird augenfällig, wenn man im Ausgraben und Ins-Haus-Nehmen der Butterblume die Reminiszenz an Goethes Gedicht »Gefunden« erkennt: Michael Fischer nimmt »eine Tochter der Toten« zu sich (31), als ob die Mutter und nicht das Kind gestorben wäre, als ob es nicht darum ginge, sich der Mutter der Toten anzunehmen. So ist die Rücksicht unecht, und was einem sozialen Verhalten ähnelt, ist asozialer Natur, was er Religion nennt (29), ist nichts als Pseudoreligion, sie wird denn auch bald zur Seite gedrängt durch ein vernachlässigendes, ja wegwerfendes Verhalten

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Das Rote Kreuz (1938), PG 391. Prometheus und das Primitive (1938), PG 354.

(30), Vorspiel dazu, daß schließlich »das gemeine Mistzeug« in den Mülleimer geworfen wird (31). 8 1 Nun hält Michael Fischer alles für abgetan. Er hat nichts mehr mit früheren Dingen zu schaffen. Keine Rücksichten sind mehr nötig, nicht einmal flüchtige Momente des Andenkens. Die Zeit ist auf das pure Nacheinander von Jetztpunkten reduziert. Das Wissen um das Schuldigsein ist ersetzt durch die Gewißheit, daß alles erlaubt sei. Aus der Zukunft sind keine Ahndungen zu gewärtigen, denn es gibt nur noch das Jetzt. Nicht als einer, der sich schuldig weiß, ist Michael Fischer wahnsinnig, aber wie er das Verhältnis zur Schuld zu verfälschen beginnt, sich von ihr loszukaufen sucht - ein Prozeß, der schon vor Beginn der Erzählung einsetzt - , betritt er den ins Irresein führenden Weg, und damit, daß er die Schuld von sich wirft, gelangt er vollends in die Umnachtung. Die letzten Sätze der Novelle lassen kaum noch eine Hoffnung zu: »Laut lachte und prustete er. Und so verschwand er in dem Dunkel des Bergwaldes.« Ist er ein Blinder gewesen, dem für einen Augenblick die Augen aufgetan worden sind, so ist er nunmehr, wie er in den Ottilienwald hinaufstürmt, ein Verblendeter. Er wird in keine Beklemmung geraten, der Weg wird sich ihm nicht verengen. Er ist in der übermütigsten Ausgelassenheit: es gibt nichts, was ihn bedrängen könnte. Denn ihn umgibt die Leere.

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Döblin, der im »Berliner Programm« ausführt, »der Wortkünstler« müsse »das Wort auf seinen ersten Sinn zurück>sehenIch< ohne Schwere, und schwebt Und im Augenblick bin ich da bei dem Geliebten. 30 Dieses Ich ohne Schwere hat Copetta verloren, er ist sozusagen ganz stofflich, ganz Leib geworden, ihn verlangt mehr und mehr, dem Willen der Schwere folgsam zu sein, und im selben Maß gewinnt das Wasser, das am nachgiebigsten und schmiegsamsten die Schwerkraft gewähren

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Das verwerfliche Schwein, E 309. - Schon in der Erzählung »Die Tänzerin und der Leib« begegnet man diesem Motiv: »Sie wollte ihn auf den Boden kollern, die Tonne, das hinkende Männlein, Hals über Kopf es hintrudeln, ihm Sand ins Maul stecken.« E 21. Wie die Schwermut vom Wasser angezogen ist, hat Döblin, gleich manchen Dichtern vor ihm, verschiedentlich dargestellt. Vgl. dazu Gaston Bachelard, L'eau et les rêves, Paris 1942, S. 123: »Si à l'eau sont si fortement attachées toutes les rêveries interminables du destin funeste, de la mort, du suicide, on ne devra pas s'étonner que l'eau soit pour tant d'âmes l'élément mélancolique par excellence.« S. 125: »L'eau est alors un néant substantiel. On ne peut aller plus loin dans le désespoir. Pour certaines âmes, l'eau est la matière du désespoir.« M 215.

läßt, Macht über sein Gemüt. So legt er sich dann über den Bootsrand rücklings in eine Meereswoge wie auf ein Kissen und läßt sich sinken. Auch die beiden Hauptpersonen der »Verwandlung« von 1911, die Königin und der Prinzgemahl, von denen gesagt wird, daß ihre Schwermut kein Ende kenne 31 , suchen den Tod im Meer. Daß nun aber Copetta vor den Augen der L aus dem Leben geht, muß den Leser aufs äußerste befremden, umso mehr, als es sich nicht um eine Tat aus dem Moment heraus handelt. Copetta hat L mit der Absicht, sich in ihrer Gegenwart umzubringen, zur Segelfahrt eingeladen. Er hat alles vorbedacht, auch an die Behörden eine entsprechende Mitteilung abgeschickt, die eintreffen wird, wenn sein Vorhaben bereits verwirklicht ist. Von der Anwesenheit der L verspricht sich Copetta offensichtlich das Glücken des Selbstmords, nachdem ein früherer, spontaner Versuch — vielleicht muß auch die in schwere Erkrankung mündende Lebensweise in Paris als kaschierter Selbstmordversuch angesehen werden — nicht zum Ziel geführt hat. Es ist undenkbar, daß Copetta sich nicht vorstellen könnte, was er mit seinem Vorgehen der Person antut, die seine Einladung, wie er genau weiß, durch und durch mißdeuten muß. Der Gewalttätigkeit, die bei ihm ja schon früher hervorgetreten ist, freien Lauf lassend, handelt er verbrecherisch an ihr. Die schlimmen Folgen, die sich sogleich in den gellen Hilferufen der Unglücklichen ankündigen und ihr weiteres Leben bestimmen werden, gestatten darüber nicht den geringsten Zweifel. Döblin hat im »Wang-lun« eine Verhaltensweise ausgeführt, die derjenigen Copettas genau entspricht: »Es ging hie und da ein unterer Beamter wochenlang wie benommen und träge herum, antwortete bissig auf jede Frage, zuckte frech mit der Achsel bei einer Rüge; dann beging er plötzlich ein erstaunliches Verbrechen, unterschlug öffentliche Gelder, zerriß wichtige Aktenbündel oder griff einen harmlosen Menschen an und zerbrach ihm Rippen. Verurteilt ertrug er seine Strafe und Schande gleichmütig, oder entwich aus dem Gefängnis, ging in den Wald. Dies waren die Leute, denen die Trennung von Familie und Besitz am schwersten wurde und die sich nur durch ein Verbrechen von ihnen ablösen konnten.« 32 Erst das Verbrechen gibt den genügenden Anstoß zum Schritt, der aus dem Dasein in Haus und Familie hinausführt an den Unort, zu jenen andern Leuten, die keine Wohnstätten haben, keine haben wollen. 33 So läßt sich sagen, daß Copetta durch die Untat, 31 32 33

E 64. SW 13. SW 11. 87

die er an einer fremden und daher auch nicht mit vollem Namen genannten Ahnungslosen begeht, seiner Schwermut das noch fehlende Gewicht hinzufügt, damit er in die Tiefe gezogen werde. Schuld und Selbstbestrafung geben dem Selbstmord das Ansehen des Notwendigen. Wie er sich ans gesuchte Ziel gebracht sieht, ist es denn auch nicht nur Gleichmut, was ihn erfüllt; auf seinem Gesicht erscheint der Ausdruck der Gelöstheit, als ginge ein »glückerfülltes Wort« um ihn herum (51). Aus dem »hoffnungslosen Glück« verjagt, ist er nicht zu einem von der Hoffnung geprägten Dasein gelangt; er ist — ein unheimlicher und gespenstischer Vorgang - auf einem Abweg zum Glück zurückgekehrt. »Das Einsame, das vernichtend auf andere Einsame übergreift«: dieses Stichwort, mit dem Döblin den »Schwarzen Vorhang« gekennzeichnet hat 3 4 , trifft auch auf die »Segelfahrt« zu. Copetta ist, seit er seine Familie verlassen hat, einsam geworden; einsam ist auch die unverheiratete L, die zwar ihre alte Mutter betreut, jedoch gerade deshalb, weil sie so sehr Haustochter geblieben ist, sich in einer von Jahr zu Jahr empfindlicheren Isolierung befindet. Daher muß man sich fragen, ob denn das Zerstörerische nur von Copetta ausgehe und nicht auch von ihr. Unter den Hunderten von Menschen auf der Seepromenade ist es L, die Copetta auffällt und auf ihn einzuwirken beginnt. Das dreimalige Sichkreuzen auf der Digue ruft in ihm gegensätzliche Regungen hervor. Sie beschäftigt ihn, provoziert seinen Unwillen, bringt ihn zum Seufzen und Lächeln, läßt ihn ihre Bekanntschaft suchen, erzürnt ihn, so daß er die Zimmertür dröhnend zuschlägt (48), kurz, die Ratlosigkeit, die ihn ohnehin umtreibt, verschärft sich. Sie soll sich offenbar auch auf den Leser übertragen. Könnte L, da sie keine von »hoffnungslosem Glück« Begünstigte ist, vielmehr die Vergänglichkeit vor Augen hat und ihre Zeichen an sich trägt, könnte sie für Copetta nicht eine Person sein, deren Dasein von der Hoffnung bestimmt ist? Oder spürt sein schwermutvolles Gemüt in ihr die verwandte Seele? Ahnt er etwa gar, daß L ihm zur Sterbehilfe werden könnte? L hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Bessie Bennet in der Erzählung »Die Helferin«: eine gesangvolle Stimme, einen schwebenden Gang (48), in der Gestalt hermaphroditische Züge (49). 3 5 Unterschiede ergeben sich daraus, daß Bessie ein Fabelwesen ist: sie ist der Tod, der liebreiche Tod, sie darf die Angst vor dem Sterben nehmen, sänftigen

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Brief an Axel Juncker, 9. April 1904, Β 23. E 40 f. — »Die Helferin« ist zwei Monate vor der »Segelfahrt« in der Zeitschrift »Der Sturm« erschienen.

und rasch beenden. 36 Da L keine Märchengestalt ist, erscheint hier das Thema variiert. Es kann nicht die Rede davon sein, daß L den Sterbewilligen zu töten die Erlaubnis hätte, also, wie Bessie sagt, »im Namen der gütigen Macht« 3 7 handelte. Vielmehr greift sie vernichtend in das Dasein eines andern ein, auch wenn sie das in keiner Weise will und nicht einmal etwas davon weiß. Und wenn in ihrer Anwesenheit dem Brasilianer Copetta das Sterben sanft wird, so vermischt sich — bedenkt man, was der Sterbende ihr antut — mit dieser Sanftheit das Grauen. Das Zusammentreffen mit L nimmt für Copetta in dem Moment die lebensgefährdende Wendung, da er ihr seinen Besuch macht. Sie hat ihn auf eine seltsame Art eingeladen. Statt einen bestimmten Zeitpunkt vorzuschlagen, hat sie ihn bitten lassen, nicht mittags sie zu besuchen. So wäre er mit der einen Ausnahme jederzeit willkommen? Oder hat eine Fehlleistung die Hand im Spiel? Hätte sie ihn am liebsten mittags bei sich gesehen, dann aber gerade dies verleugnet? In der »Verwandlung« liest man, das von der Königin zum Prinzen gesagte »Geh, geh« habe wie »komm, komm« geklungen. 38 Hat jenes »Nicht mittags« etwa die gegenteilige Bedeutung? Kann als Indiz dafür gelten, daß sie später in ihrer Geistesverwirrtheit dem längst toten Copetta nach Ostende telegraphiert: »Erwarten Sie mich morgen Mittag« (52) ? Jedenfalls dringt Copetta, ob er nun der Seltsamkeit dieser Einladung auf den Grund gehen will oder ob sich gegen seinen Willen etwas Unbewußtes durchsetzt, am Mittag — zur Unzeit — in ihr Zimmer ein und findet sie im Bett vor. Daß er erschüttert ist und totenblaß wird, entzieht sich wiederum jedem auf Eindeutigkeit ausgehenden Erklärungsversuch. Scham über sich selbst mitsamt dem Wunsch, in den Boden zu versinken, mag über ihn gekommen sein, und ebenso mag ihn die Erkenntnis getroffen haben, daß L sich nach jenem Glück sehnt, das er mit seiner Flucht aus Familie und Heimat hinter sich gelassen hat. Gerade dieses Verlangen nach Glück, von L lange unterdrückt, nun aber machtvoll hervorbrechend, stößt ihn ein weiteres Stück auf dem Weg des Todes voran, stößt ihn schließlich vollends aus dem Dasein 39 , in dem Moment, da sie sich an ihn herandrängt und er sich von ihr wegstemmt und den Kopf verneinend hin-

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E 44.

Ebd. Vgl. zu diesem Widerspruch S. 29, Anm. 21, dazu H 447: »Sie wollte ihn nicht. Vielleicht wollte sie ihn zugleich doch.« In der Verknüpfung von Lebensbegier und Sterbehilfe ist die Ähnlichkeit mit Bessie Bennet am ausgeprägtesten.

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und herwiegt (50) Das Lebensglück verlockt ihn nicht, ihn zieht das Glück des Schwermütigen an, das Glück, nicht mehr leben zu müssen, das nur übertroffen werden könnte vom Glück, nie geboren zu sein. Der entsetzten L widerfährt Gleiches wie dem Schriftsteller Stauffer, der seine Frau beschuldigt, ihn »ins Nichts gestoßen« zu haben 4 1 . In der Leere, in welcher sie sich nun befindet, rückt alles sie Umgebende in die Ferne, so daß sie den Bezug dazu verliert, selbst zum nächststehenden Menschen, zu ihrer Mutter. Weil in diesem entleerten, unabsehbar gewordenen Raum alles gleich weit entlegen ist, wird ihr alles gleichgültig, kann nichts mehr sie angehen. Sie läßt die gebrechliche, auf die Tochter angewiesene Mutter im Stich, begibt sich in die Großstadt, geht auf die Straße, eine Unbehauste, die nirgendwo hingehört, schon kaum mehr da ist, so flüchtig ist sie in ihrem Dahinleben geworden, eine jener Kokotten, wie sie der mit Döblin befreundete Kirchner, vielleicht gerade von der »Segelfahrt« angeregt, gemalt hat: »Hingewischt, beim nächsten Male weg.« 4 2 Gleichgültig ist sie auch gegenüber sich selbst; was immer mit ihr geschieht, es kümmert sie nicht. Sie macht sich zur Beute jeglicher Krankheit (51), sie verwüstet sich 43 und bringt sich auf diese Weise um das Da-sein, welches in der Wüste sowenig wie im Wald oder im Meer möglich ist. 4 4 Sie ist gar nicht bei sich selbst, sondern sucht in schweifendem Träumen unablässig den entschwundenen Copetta, umso stärker von ihm angezogen, als er sich ihr entzogen hat, und weil er nirgends ist, muß sie sich immer wieder in den Armen eines andern zu ihm hinträumen. Der furchtbare Schlag, der ihr von Copetta versetzt

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Diese Gebärde erinnert an Shakespeares Hamlet. Vgl. die erste Szene des zweiten Aufzugs, Vers 92 (Übersetzung von A. W. Schlegel). — Nichts berechtigt zu der von Robert Minder vertretenen Annahme, L sei bereit, mit Copetta zu sterben, werde aber von ihm zurückgestoßen. (»Die Segelfahrt« von Alfred Döblin, a. a. O., S. 462.)

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Ν III 44. Kirchner an Gustav Schiefler, Brief vom 28. März 1916, zitiert im Ausstellungskatalog »Ernst Ludwig Kirchner 1 8 8 0 - 1 9 3 8 « , Berlin 1980, S. 215. - Der Ausdruck »hingewischt« ist wohl so zu verstehen, wie ihn Alfred Polgar 1911 in einer Rezension des Films »Die kleinen Vögel« braucht. »Wird es aber wieder hell im Saal, so sieht man, daß all dieses graue oder kolorierte Leben nicht die geringste Spur auf der Leinwand zurückgelassen hat«, sagt er, um das Fazit zu ziehen: »So spurlos, o Freunde, wischt unser Dasein über die Zeit hin!« (zitiert nach Fritz Güttinger, War Shakespeare Brillenträger? Das Publikum und die Wirkung von Theater und Kino, in: Neue Zürcher Zeitung, 4./5. April 1981, Nr. 79, S. 66.)

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Vgl. zu diesem Ausdruck Ν IV 30. In diesem Sinne wird in »Pardon wird nicht gegeben« Berlin als Wüste bezeichnet. Vgl. das Zitat S. 79.

worden ist, hat gewissermaßen Leib und Seele dissoziiert. 45 Wie einen Verschollenen hat sie Copetta zu einem Traumbild gemacht 4 6 , ähnlich wie im Hamlet-Roman Alice es mit dem ertrunkenen Marineoffizier Glenn tut. 4 7 Sich nach dem Verschwundenen sehnend, ist sie ins Umherirren geraten, zu einer Irren geworden. L hat das Da des Daseins auf andere Weise verloren als Copetta, der mehr und mehr auf die Leiblichkeit, auf diese schwer und schwerer gewordene Masse reduziert worden ist, fast nur noch als Leib dagewesen und eben deshalb nicht mehr dagewesen ist, denn der Mensch ist nicht in dieser Weise da. 4 8 Sie hingegen ist bei ihrem Traumbild, sie weilt gar nicht dort, wo ihr Leib anwesend ist. Das zeigt sich an der eigentümlichen Tanzart, mit welcher sie, im Anschluß an eine Reminiszenz aus der Zeit vor ihrer Begegnung mit Copetta - sie stößt jede berührende Hand zurück (51) 4 9 —, die Segelfahrt wiederholt, ihre Suche nach dem Manne, der nichts von ihr hat wissen wollen, darstellt und ihre Zukunft vorwegnimmt. Wie Lucie »aus einem lebenden Menschen eine Briefschreiberin« wird, weil der Mann, den sie liebt, auf keinen ihrer Briefe geantwortet hat, aber das Idol ihrer Sehnsucht geblieben ist 5 0 , so ist L in ihr Tanzenmüssen verhext. Im Tanz fühlt sie - um es mit Worten aus »November 1918« zu sagen — Gemeinschaft mit dem Abwesenden, aber kein Gefühl kann ihn wirklich fassen und halten, und so lebt sie mit Armen und Beinen, Kopf und Leib in Paris, wo auch der Abwesende sich aufgehalten hat, aber sie ist »nicht wahrhaftig mehr da« 5 1 . Im Fortgang der Zerstörung hebt sich für L der Unterschied von hier und nicht-hier vollständig auf. Copetta ist nun nicht länger im unerreichbaren Nichthier, sie wähnt ihn in Ostende, ist also aus dem Nirgendwo ihres Träumens zurückgekehrt, ein Gespenst nunmehr, wie sie an ihrem früheren Wohnort erscheint. Sie bewegt sich im Irrealen. Es ist nicht das wirkliche Ostende, in das sie zurückkommt, auch nicht das frühere, denn einstmals, jetzt und dereinst, diese Gliederung, die noch ihren Tanz bestimmt hat, gilt für sie nicht mehr, so daß sie fast ganz auf das

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Vgl. S. 23 (JR 168). Ν II 343. Η 498. Vgl. S. 83. Sie zeigt darin das typische Verhalten »einer Haustochter, die das Geschlechtliche ablehnt, ja fürchtet« ( F G 3 7 ) . Ν III 56. - Vgl. auch Ν IV 378. Ν 1113. - Diese Stelle handelt von Hanna, die sich in Sehnsucht nach Leutnant Heiberg verzehrt.

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Augenblickhafte reduziert ist. Die Segelfahrt, zu der Copetta sie vor einem Jahr eingeladen hat, geschieht jetzt, und ebenso ereignet sich jetzt, was sie pantomimisch, in einer Art Analogiezauber, der Zukunft »vorahmte«: wie sich Copetta über den Bootsrand in die Welle zurücklehnt, den Blick nicht verschlossen diesmal, sondern aufgeschlossen, springt sie ihm nach und wird von seinen Armen umschlungen. In wörtlichem Sinne vollzieht sich an ihr, daß sie ihm verfallen ist. Der Schluß der Erzählung mag an den Liebestod in Wagners »Tristan und Isolde« denken lassen. Man dürfte aber bald erkennen, daß der Gegensatz in der Darstellung des Sterbens nicht größer sein könnte. Die Liebesvereinigung im Tod ist für Döblin nichts, was zu feiern wäre. Er hat ein grausiges Bild gezeichnet von der Umarmung der Frau, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, und des Mannes, dieser unförmig geschwollenen Wasserleiche mit schwarzgrünem Tang über dem Gesicht. In dieser Zeichnung ist Kritik an Wagner enthalten, die Döblin später in die Worte fassen wird: »Was ist mit diesen beiden, Tristan und Isolde? Ihre Liebe ist schrankenlos, und ihre Sehnsucht geht darauf, das Wörtchen >und< zwischen sich wegzuwischen. [···] Kein Tod bringt das fertig, kein Tod beseitigt das Wörtchen >undglückverhärtete Herzen A L 182. 33

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Dichtung ist gerade »nicht mehr degradiert zu einer subjektivistischen Spielerei«, sie dringt durch die gewöhnliche Realität hindurch, in »die Sphäre einer neuen Wahrheit und einer ganz besonderen Realität« 4 0 . Im Umgang mit Döblin erweist sich das Begriffspaar objektiv-subjektiv als untauglich. Die Dichter seien eine besondere Art Wissenschaftler, sagt er, »sie haben aus Gründen ihrer Wissenschaft mehr Zugang zur Realität und zu mehr Realität Zugang als sehr viele andere« 41 . Gesetzt, es verhalte sich so, wie Döblin meint, daß der Dichter in seinem Schaffen — in einem Zustand der Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit 42 — Fühlung mit einer volleren Realität hat, wäre anzunehmen, daß ein heutiger Historiker, der sich mit Wallenstein und seiner Zeit befaßt, das Werk des Dichters beachtet. Golo Mann aber, der den Dichter Schiller häufig und die Poetin-Geschichtsschreiberin Ricarda Huch mehrmals zitiert, als Experten, die in Wallensteins wunderliche Seele zu blicken verstanden hätten 43 , erwähnt Döblin nirgends; gegenüber Robert Minder soll er sich entsetzt über den Wallenstein-Roman geäußert haben, er könne damit nichts anfangen 4 4 . Hat sich Döblin überschätzt? Er scheint einer Selbsttäuschung zum Opfer zu fallen, wenn er zu seiner Darstellung Kaiser Ferdinands sagt: »Hier kann ich nichts unklar gelassen haben, ich habe ihn und von ihm aus die ganze Umwelt mit intensivster Deutlichkeit gefühlt.« 4 5 Denn selbst dem Historiker, der sich in den Ereignissen auskennt, ist die Sache offenbar doch unklar geblieben, hat ihn nur ratlos gemacht. So muß man abzuklären versuchen, was Döblin, indem er die Wallenstein-Ferdinand-Geschichte von neuem erzählt, in Fühlung mit der »Sphäre einer neuen Wahrheit« an den Protagonisten entdeckt zu haben meint. Es ist zu fragen: Was hat Döblin mit der »Parteilichkeit des Tätigen«, die nichts Subjektives sein soll, zugänglich gemacht oder jedenfalls zugänglich machen wollen? Mit seinen eigenen Worten gefragt: »Welches ist heute unsere Sache, die des Autors und des Lesers, welches sind die Prinzipien, mit denen man historische Stoffe wählt, durchdringt und tätig gestaltet?« 46 Die Antwort darauf muß dem Roman entnommen werden.

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AL 111. AL 179. AL 119, 181. Vgl. op. cit., S. 974. Robert Minder, »Die Segelfahrt« von Alfred Döblin, a . a . O . , S. 484 f. AL 343. A L 185.

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Der Friedländer »Über die Wogen der graugrünen Ostsee kam die starke Flotte der Schweden windgetrieben her, Koggen Galionen Korvetten« (489): diese Einleitung zum fünften Buch berührt das Ursprüngliche, das die Wahl und Gestaltung des Stoffes aus dem Dreißigjährigen Krieg gelenkt hat. Döblin kommt verschiedentlich darauf zu sprechen, die Sache ist ihm wichtig; er schildert dabei einen elementaren Vorgang, nichts Ausgedachtes und Zurechtgelegtes, es kann sich also nicht um eine nachträgliche Konstruktion handeln. Ihm stand plötzlich, als er 1916 in Kissingen zur Kur war, ein Bild vor Augen: »Gustav Adolf mit zahllosen Schiffen von Schweden über die Ostsee setzend. Es wogte um mich, über das große graugrüne Wasser kamen Schiffe.« 47 Dieses Bild nötigte ihn, einige historische Bücher über jene Zeit zu lesen; er wollte herausfinden, warum sich ihm dieses Schiffsgewoge aufdrängte und ihn nicht mehr verließ. Döblin faßt einen solch übermächtigen Bildeindruck als Anzeichen dafür auf, daß Vorgänge im Inkubationsstadium des dichterischen Produktionsprozesses nunmehr einen gewissen Schwellenwert erreicht haben und ihm in Sicht kommen 4 8 . Daß in dieser Initiation das Element Wasser eine wesentliche Rolle spielt, verwundert einen bei Döblin nicht, ist er doch dem Wasser besonders zugetan. Hier gilt es ihm als das Element Gustav Adolfs. Dem Schwedenkönig habe an der Ostseeherrschaft gelegen, sagt er einmal 49 . Dieser Herrscher greift nun aber nach Deutschland über, betritt in Stettin den Boden des Reiches, um in die Tiefe des Festlandes vorzustoßen. Offensichtlich geht es Döblin bei diesem Ereignis um den Konflikt zwischen Seemacht und Landmacht, wobei daran zu denken ist, daß sich dieser Gegensatz seit der Thronbesteigung Wilhelms II., vor allem seit der 1898 in Stettin ausgegebenen Parole »Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser«, radikal verschärft hat und zu einer der wichtigsten Kriegsursachen geworden ist. Döblin führt die Gegnerschaft zwischen Landmacht und Seemacht - die der Historiker Jacques Pirenne seiner Weltgeschichte zugrundelegen sollte 50 — auf das Elementare, auf die

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48 49 so

Der Epiker, sein Stoff und die Kritik, A L 339. - Im Text steht » g r a s g r ü n « , w a s als Druckfehler zu betrachten ist, denn die Parallelstellen haben immer » g r a u g r ü n « : vgl. W 489, A L 119. Der B a u des epischen Werks, A L 120. Der Dreißigjährige Krieg, PG 55. Les g r a n d s courants de l'histoire universelle, Neuchâtel 1944.

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Macht der Elemente zurück, gemäß der Aufgabe des Dichters, das Wort auf seinen ersten Sinn zurückzuführen 51 . Die geschichtlichen Vorgänge werden hier nicht aus den Überlegungen des als Vernunftwesen begriffenen Menschen, zum Beispiel aus strategischen Konzepten hergeleitet, auch nicht aus den statistisch erfaßbaren materiellen Grundlagen und den ihnen inhärenten Zwängen, sondern aus der Materialität des Geistigen, wie sie dem Dasein seine Struktur gibt, den Hochsinn oder die Engstirnigkeit, das Beharrliche oder das Flüchtige, Starrheit oder Geschmeidigkeit, um mit wenigem die Vielfalt anzudeuten, die in der Vierheit von Erde, Wasser, Luft und Feuer enthalten ist. Wenn in der Daseinsstruktur des schwedischen Königs das Wasser das bedeutsamste Element ist, kann es für ihn keine größere Gefährdung geben als jenes Eindringen in das Territorium des Römischen Reiches deutscher Nation. Über das Wasser sagt Döblin in der Schrift »Unser Dasein«, im Abschnitt »Die Elemente in uns«: »Das ist auch in uns, das sehnt sich nach ruhiger Fläche, nach einem allgemeinen Fließen und Ausbreiten in Seen und im Meer und gibt Langsamkeit, Friedensliebe, Beschaulichkeit.«52 Gustav Adolf wird seinem Wesen untreu. Das ist es, was dem Dichter mit dem Bild der vielen gegen Stettin fahrenden Schiffe vor Augen tritt. Nachdem Gustav Adolf auf dem Weg nach Leipzig schon tief ins Landesinnere vorgerückt ist, heißt es von ihm: »Er war schon kein schwedischer König mehr. Seine Stimme ertönte metallisch.« (509) Was hat ihn in diese Selbstentfremdung getrieben? Döblin nennt den bösen Ehrgeiz des jungen Herrschers (385); der hat ihn dazu verleitet, sich und der Welt einzureden, ihm obliege die Pflicht, den protestantischen Glauben zu unterstützen. So ist er sich untreu geworden, gerade in der Meinung, sich selber treu zu sein. Kurz vor seinem Tod geht er mit sich ins Gericht, er beschuldigt sich, er sei zu groß daher gefahren, und kommt — zu spät und überdies nur einen Moment lang — zur Einsicht: »Man muß sich nicht vermessen, alle Dinge meistern zu wollen. Wir werden eine klare Linie ziehen müssen zwischen dem, was erforderlich, und dem, was überflüssig und schädlich ist.« (585) Er hat sich nicht in die Grenzen fügen wollen, ist vielmehr aus seinem Kreis herausgetreten, um sich — man denkt an Pachom in Tolstois Erzählung »Wieviel Erde braucht der Mensch?« — anzueignen, wovon er nicht genug zu haben meinte. In der Gestalt Gustav Adolfs sieht Döblin das im Wang-

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Vgl. S. 77, Anm. 81, und S. 102; dazu S. 134 (IN 121). UD 341 f.

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lun-Roman zitierte Wort bestätigt: »Die Welt erobern wollen durch Handeln mißlingt.« 53 Aus dem Schwedenkönig ist nun aber im Wallenstein-Roman, entgegen Döblins ursprünglichen Erwartungen, eine periphere Figur geworden. Die »blendende Vision von meerüberfahrenden Koggen und Korvetten« 5 4 hat nicht gehalten, was sie versprach. »Diese Konzeption blieb stumm und gab nichts her«, berichtet Döblin 5 5 . Doch wenn er auch mit dem ersten Zufassen noch nicht das Richtige in die Hände bekommen hat, die Hinwendung zu den Elementen ist nicht unrichtig gewesen. Der Akzent verlagert sich auf ein anderes Element, auf den »tellurischen Gesellen« Wallenstein. 56 Gustav Adolf wird in die umfassendere Wallenstein-Geschichte eingeordnet. Wallenstein ist in seiner Daseinsweise der Erde zugehörig. Das Meer hingegen ist für den Herzog von Friedland das Fremde, ihm gegenüber ist er ohnmächtig, wie sich bei der Belagerung von Stralsund erweist. »Wasser war dem Herzog neu, nach den Chausseen, marschierenden Truppen, Kanonen in Fahrt, rollenden Wagen und Zelten. Jetzt fehlte das Einfachste, der Weg, eine flüssige, schwere Masse schwamm vor seinen Füßen; die Herren, kraftstrotzend, standen mit einem Strick am Bein am Küstenrand. Gegen sein neues Herzogtum Mecklenburg schwankte das zerquellende widerstandslose Element an, er beobachtete es widerwillig.« (317) Ein Vertrauter der Erde, kennt Wallenstein die Wege, sie stehen ihm wie keinem andern zu Diensten, so daß er auf ihnen allseitig das Land zu durchdringen vermag und überall mit dem Widerstand, der nur der Erde und keinem andern Element eigentümlich ist 5 7 , fertig wird, ihn zu überwinden oder zu umgehen versteht, ratlos nur, wo er es mit dem widerstandslosen und weglosen Element Wasser zu tun hat. Mit reflexartiger Sicherheit weiß er den Hebel an der günstigsten Stelle anzusetzen 58 und was stockt zu verrücken und voranzubringen. Seine vorzüglichste Begabung ist es, alles mögliche in Bewegung zu setzen, die Menschen anzutreiben und sich Antreiber wie Michna zunutze zu machen (169), zahllose und vielgestaltige Unternehmungen zu betreiben, weshalb ein unaufhörlicher Betrieb um ihn ist und er aus

53 54 55 5Í 57 58

SW 48. AL 340. AL 129. AL 343. Gaston Bachelard, La terre et les rêveries de la volonté, Paris 1948, p. 10. D M 112.

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dem »Befehlen Lärmen Hetzen« (193) nicht herauskommt. Er ist ein Vorausdenkender, wendet sich nie zurück, er kennt daher keine Rücksicht, ist aber auch nicht nachträgerisch. Zu Slawata, der die Rebellion der Böhmen und den Prager Fenstersturz nicht verwinden kann, bemerkt er: »Der Herr Vetter trägt ja viel nach, in dieser Weise wird er nichts vor sich bringen.« (193) Seine Parole lautet: »Voran!« Weil aber »vorwärts«, wie Döblin sagt, niemals die Parole des Romans ist 5 9 , ist es eine Frage, ob Wallenstein die zentrale Figur eines solchen sein könne. Vermutlich hat diese Problematik dazu beigetragen, daß Döblin nicht ihn, wie eine Zeitlang beabsichtigt und wie der Titel ankündet, sondern den Kaiser Ferdinand ins Zentrum gerückt hat. Da bei Wallenstein die Zugehörigkeit zur Erde sich als Weg und Bewegung ausprägt, ist er nicht im alten feudalistischen Sinn mit der Erde verbunden. Seßhaftigkeit widerspricht seinem Wesen. Soviele Schlösser und Paläste sein eigen sind, er wohnt nirgends, höchstens daß er sich gelegentlich in ihnen aufhält, immer wieder sieht man ihn unterwegs. Wohl gehören ihm riesige Ländereien, mit deren Erzeugnissen - Korn und Wein (168) — er Handel großen Stils betreibt, aber er versteht sie nicht als Besitz traditioneller Art. »Er kannte nur umsetzen, umwälzen, kannte keinen Besitz. Er war nur die Gewalt, die das Feste flüssig macht.« (374) Flüssig wird das Feste nur in der Glut. Darum muß bei Wallenstein zusammen mit dem Element Erde vom Feuer die Rede sein, während für Gustav Adolf Wasser und Erde entscheidend sind. Der tellurische Wallenstein, so läßt sich jetzt präzisieren, ist von vulkanischer Art. Wiederholt erwähnt Döblin den Jähzorn: Wallenstein erschreckt seine Umgebung mit tobsüchtigen Ausbrüchen (717), er kann ein Rasender sein (253), der in der Wut brüllt (265), der auf seinem zu Boden geschmetterten Hut herumtrampelt (426) oder ihn zerreißt (470). Im Laufe der Zeit treten seine Wutanfälle häufiger auf (648), er wird wilder und brutaler denn je (575). Mehrfach nennt ihn Döblin einen Drachen. Er ist der unersättlich regsame Lindwurm, langschweifig und tausendfüßig (564), »wonnig schlangenwütig den heißen Atem stoßweise entlassend« (244). Vom Drachen sagt Gaston Bachelard: »L'animal fabuleux est terre et feu. Il crache des flammes. C'est une forge mobile.« 6 0 So wäre mit Wallenstein auch das Bild einer Schmiede — einer neuzeitlichen, mobilen, überall ihre Tätigkeit aufnehmenden - zu assoziieren? Ohne Zweifel.

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AL 20. La terre et les rêveries de la volonté, a. a. O., S. 173.

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Denn wenn es richtig ist, vom Vulkanischen zu reden, muß man auch an Hephaistos denken. Daß Wallenstein hinkt, weist in diese mythologische Dimension. Gleicherweise wie Chausseen, marschierende Truppen, Kanonen in Fahrt, rollende Wagen das Dasein Wallensteins kennzeichnen, tun es auch seine Besuche in der Prager Münze, deren Betrieb ihm, der um die Schätze unter der Erde weiß, und einem Konsortium vom Kaiser übertragen worden ist. »Wallenstein, lang hohlbrüstig, mit schwarzem Knebelbart, eine kostbare Diamantkette am Hut, stand halbe Stunden lang vor Prägestöcken; wie man auf ihn aufmerksam wurde, wurde er unruhig, schloß die Augen, verschwand.« (173) Nicht beaufsichtigend wie Michna, auch nicht in den Riesengewinnen schwelgend, steht er hier in den Stempelstuben, die an die glühenden Schmelzräume angrenzen; er schaut in einer Versunkenheit zu, welche verrät, daß die Vorgänge des Schmelzens und Prägens ihm zutiefst entsprechen. Das Feuer, das ist unsere Wildheit, der Angriffsmut, die Wut, sagt Döblin, das haben wir in uns, immer zerstören wir und werden zerstören müssen, solange etwas von diesem Element in uns ist 61 . Die Flamme, ein abenteuerliches Urwesen, ist ruhelos, schreibt er anderswo, bewegt sich wie der Wind, aber der Wind hebt, trägt, fliegt an, fliegt vorbei, die Flamme setzt sich fest, etwas Infektiöses, schrecklich fruchtbar, in einem Nu zu erzeugen; ist sie einmal da, neigt sie dazu, zu wuchern mit dem Wind im Bunde 6 2 . Was von Feuer und Flamme gilt, trifft auch auf Wallenstein zu. Und wenn das wuchernde Feuer mit dem Wind im Bunde ist, wird man sich unwillkürlich fragen, ob nicht Kaiser Ferdinand dieses andere Element sei. Der Wucher jedenfalls wird von ihm begünstigt. Döblin stellt den »sogar für damalige Zeiten unerhörten Mißbrauch« 6 3 auf mehreren Seiten ausführlich dar. Das Konsortium kann prägen, soviel es will, und dabei untermischt es unedles Metall bis zum Verschwinden des edlen (169). Ohne die Konzession des Kaisers wäre der Wucher nicht möglich: wie das Feuer auf die Luft, so ist Wallenstein auf den Kaiser angewiesen. Man sollte diese Zusammenhänge nicht einfach metaphorisch nehmen. Döblin meint sie durchaus real. Mit dem Blick des Arztes betrachtet er Wallensteins Konstitution: dieser hohlbrüstige Mann ist vom Element Luft nicht in vollem M a ß durchströmt. Daß ihm in dieser Beziehung etwas abgeht und er der Ergänzung bedürftig ist, begründet die starke Bindung

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Die Elemente in uns, UD 341. I N 25 ff. Der Dreißigjährige Krieg, PG 5 0 .

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an den Kaiser. Deshalb ist er, sosehr er von Natur zur absoluten Alleinherrschaft geneigt ist (392), dem ungeheuerlichen Gedanken, den Kaiser anzugreifen, nicht gewachsen (471). Wallensteins Tun und Lassen kann nach Döblins Auffassung nicht unabhängig von der Leibesbeschaffenheit, von der Lebensbeschaffenheit also, gewürdigt werden. Erst recht ins Gewicht fallen muß da die Krankheit, das böse giftige Blut (352), das schwere Gichtleiden, die immer wiederkehrenden psychotischen Zustände (200) und was sonst an Störungen vorhanden gewesen sein mag. Wenn Schiller die Krankheit überhaupt nicht berücksichtigt, so ist das als entscheidender Mangel seiner Wallenstein-Darstellung zu bezeichnen. Dementsprechend kann Döblin auch mit Hegels Interpretation des Schillerschen Dramas nicht einverstanden sein, von der Golo Mann glaubt, daß sie der Wahrheit am nächsten komme 6 4 . Hegel spricht von der Unbestimmtheit einer »erhabenen, sich selbst genügenden, mit den größten Zwecken spielenden und darum charakterlosen Seele«, die am Ende bestimmt wird durch gemeinen Zwang von außen 6 5 . Hiervon könnte Döblin überhaupt nichts gelten lassen, nicht einmal das Wort »charakterlos«, denn Wallenstein ist hart, rücksichtslos, brutal, und so ist er weder unbestimmt noch erhaben — wie Hegel, nicht aber Schiller es sieht —, auch ist er nicht das Opfer eines äußeren Zwangs, sondern auf den Tod krank (648) — dies schon 1620 —, das Produkt seiner furchtbaren Leiden und der Rastlosigkeit (608). Döblin kann auch Ricarda Huch, mit der er sich vorzüglich verstand, nicht beipflichten, wenn sie, in den Bahnen der Goetheschen Hamlet-Interpretation denkend, meint, bei Wallenstein habe der Intellekt die vitalen Kräfte paralysiert 66 . Die Deutungen, denen Döblin mit dem Wallenstein-Roman entgegentritt, gehen alle von der kartesischen Zertrennung von Geist und Natur aus und postulieren das Geistige als das Freischwebende, vom Leib Unabhängige, einzig Wesenhafte und Beachtenswerte. Schiller ignoriert ja Wallensteins Krankheit nicht allein, weil er sie als Dramatiker nicht brauchen kann, sondern auch, weil er, selbst ein Schwerkranker, dem Leiden keine Macht über seinen Geist zugesteht, was ihm bewundernswert gelingt und doch insofern mißlingt, als dieser Kampf seinem Geist etwas Gewaltsames gibt.

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66

A. a. O., S. 975. G. W. F. Hegel, Über Wallenstein, Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, Band X X , Vermischte Schriften aus der Berliner Zeit, Stuttgart 1930, S. 457. Ricarda Huch, Wallenstein, Eine Charakterstudie, Leipzig 1915, S. 148.

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Döblins Wallenstein-Darstellung steht im Rahmen seines Antikartesianismus. Deshalb sucht er den Ansatz bei den Elementen: in ihnen sind das Geistige und das Materielle eins. Wallenstein in der Münze: das ist ihm wichtig, weil sich hier die leiblich-seelische Verfassung zeigen läßt, wogegen für ihn die Frage, welchen Gewinn der Falschmünzer gehabt habe, nebensächlich ist. Wallenstein ist der dem Feuer und der Erde Hingegebene und Dienende, von ihnen Beherrschte und auch reich Beschenkte. Das Verbundensein beider Elemente ist dabei das Wesentliche. In dieser Verbindung ist das Feuer nicht nur das Zerstörerische, die Erde nicht die in allem Wechsel Gleichbleibende. Das Irdene, Metallene wird unter der Einwirkung der Hitze umgestaltet. Wallenstein ist der Homo Faber, ein neuzeitlicher Schmied allerdings, nicht selber Handwerker, sondern Organisator, Unternehmer, der die Gestaltungskräfte zusammenballt, sie ausrichtet und ihnen so eine früher unbekannte Wucht verleiht. Als Homo Faber ist Wallenstein ein Abkömmling des Prometheus, vorausdenkend und mit Vorbedacht handelnd, voranschreitend und nicht gesonnen, an Zurückliegendes zu denken. Er wirft sich »mit voller Macht vorwärts« 6 7 , läßt Tat auf Tat folgen, setzt Werk um Werk in die Welt. In Gitschin, der künftigen Hauptstadt von Friedland, entstehen kurz hintereinander ein Gymnasium, ein Alumnat, ein Armenhaus, Hospitäler, ein Kolleg für Jesuitenväter, in Prag werden sieben Gebäude eines Klosters und zwanzig Lagerhäuser niedergerissen, damit dort sein Palais errichtet werden kann (191). Wo immer er auftritt, greift er verändernd ein. Zur Verwirklichung der Vorhaben werden jeweils alle verfügbaren Mittel eingesetzt. Er wirft sein Geld hinaus, weil es doch wieder zu ihm zurückläuft (195). Er verwendet den erworbenen, erschlichenen, eroberten Gewinn zu immer neuem Einsatz, »nicht um mehr zu erwerben, sondern um mit dem Mehrbesitz höher und gefahrvoller spielen zu können« 6 8 . Er ist ein Spekulant, ein Vabanquespieler (173), risikofreudig, aber nicht leichtsinnig, denn wem, wie beim Umgestalten nicht anders möglich, fortwährend Widerstand zu schaffen macht, der kennt keinen Leichtsinn. Abenteurertum und Leistungswille, dieser der Erde, jenes dem Feuerwesen zugehörig, sind ein Bündnis eingegangen und dadurch

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Prometheus und das Primitive, PG 355. Der anthropologische Umschwung hinter der Wirtschaft, UD 448. - Döblin zieht die Bezeichnung »Unternehmer« dem Ausdruck »Kapitalist« vor, weil dieser etwas Nebensächliches nenne.

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im Kaiserreich eine neuartige Gewalt geworden, erschreckend allein schon dadurch, daß sie etwas Unbekanntes ist. Indem Wallenstein das Erreichte wiederum zu Mitteln macht, postuliert er den Werkzeugcharakter von allem und jedem. Bei solchem Instrumentaldenken wird die Armee, dieses Werkzeug des Angriffs und Zugriffs, das Modell für die Organisation anderer Bereiche, zum Beispiel des Wirtschaftlichen, so daß Wallenstein zugleich Heerführer und »moderner Industriekapitän« 69 zu sein vermag. Die fortlaufende Umwälzung scheint ins Grenzenlose zu führen. Es geht »in ein freieres stolzeres frecheres Leben hinein« (227). Und doch wird Wallenstein in diesem Voranschreiten aufgehalten, er wird merkwürdigerweise von der Krankheit gerade an seinem Fuß angegriffen: das Podagra lähmt ihn (285). So wie das Meer, an dem er »mit einem Strick am Bein« steht (317), ihm feindlich gesinnt ist, so ist es auch das in ihm fließende Element, das böse giftige Blut. Vergeblich ruft er das Feuer zu Hilfe und läßt den Fuß in einem gepolsterten Eisenkasten von heißen Ziegeln erwärmen (380). Prometheus »wird nach einer Weile immer wieder zur Ordnung, zur großen Ordnung gerufen«, sagt Döblin. 7 0 Die revolutionäre Gewalt Wallenstein hätte auch die politischen Verhältnisse in Deutschland von Grund auf umwälzen können. Eine Umformung des zersplitterten Reiches zu einem zentralistischen Einheitsstaat - nach französischem Muster: ein Land, ein König (382) — wäre von Döblin begrüßt worden, das Los der Untertanenschaft in kleineren und mittleren Despotenstaaten wäre so den Deutschen erspart geblieben und damit auch das Los der Untertanenmentalität, der Servilität und der zugehörigen Kompensationsversuche 71 . »Ein Mann wie Wallenstein hätte etwas leisten sollen. Man konnte noch eingreifen. Er war im Begriff, die Fürstenlibertät zu unterwühlen; die äußeren Kriege gaben ihm den Vorwand für sein Heer und das tödlich wirkende Kontributionssystem; da erlag er und mit ihm Deutschland: die Fürstenlibertät siegt, der deutsche Untertan ersteht.« 72 In diesen - politisch fragwürdigen — Sätzen wird sichtbar, was Döblin dazu bewogen hat, sich Wallenstein zuzuwenden. Die Dichtung hätte mit denen, die seinen Tod wollten, ins Gericht gehen, sie anklagen sollen, die Umgestaltung Deutschlands verhindert zu haben. Von Schillers Drama herkommend, wußte Döblin

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Aus einem unvollständigen Manuskript über den »Wallenstein«, Β 533. PG 351. Der Dreißigjährige Krieg, PG 58. D M 111.

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zunächst nichts von der Krankheit des Friedländers. Die Erkenntnis, daß er »um die kritische Zeit schwer krank war« und nicht mehr lange gelebt hätte, auch wenn er nicht ermordet worden wäre 73 , hat zu einer zweiten Schwerpunktsverlagerung geführt. Wallenstein muß aus dem Zentrum der Dichtung, das er, wie der Romantitel immer noch anzeigt, hätte einnehmen sollen, weichen. »Das Gesicht des Werkes enthüllt sich erst bei der Arbeit«, sagt Döblin 7 4 . »Der Autor rudert lustig los, und siehe da: alles wird anders. Es wird so, wie er es nie vorausgesehen hat.« 7 5 Kaiser Ferdinand der Zweite wird zur Hauptfigur. »Man schreibt sich an sein Thema heran.« 76

Ferdinand der Z w e i t e Der Wallenstein-Roman wäre wohl ein bloßes Projekt geblieben, hätte nicht die Gestalt des Kaisers den Dichter zu fesseln vermocht. Aus verschiedenen Äußerungen Döblins und aus der Anlage des Werks läßt sich erkennen, was seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und seine Phantasie beschäftigt hat: das Rätselhafte nämlich, daß der Kaiser 1630 seinen erfolgreichen Feldherrn absetzt und damit das vorzüglichste Instrument seines Handelns — sowohl zur Verteidigung wie zur Umgestaltung des Reiches — aus der Hand gibt. In der Mitte des Romans steht denn auch das Buch mit dem Titel »Kollegialtag zu Regensburg«. Die Erklärungen der Historiker müssen für Döblin wenig Überzeugungskraft gehabt haben, deshalb unternimmt er es, die Dinge selber zu ergründen. Er findet es nicht plausibel, daß der Kaiser aus Schwäche den Pressionen der päpstlichen Politik und der geistlichen Kurfürsten sowie des Bayernherzogs Maximilian nachgegeben haben soll, denn nach den Siegen seines Generalissimus gegen Christian von Dänemark, nach der Eroberung Mecklenburgs ist er ja stärker als je zuvor. Aber schon den Zeitgenossen galt Ferdinand als schwach, vergnügungssüchtig und faul; Döblin belegt diese Meinung an verschiedenen Stellen. Er habe immer nachgegeben, wenn man etwas habe durchsetzen wollen, sagt Maximilian, »er schickt den Friedländer weg, weil man ihn drängt, und wird ihn wieder holen, wenn man ihn drängt« (475), und nicht anders denkt Wallenstein: »Der

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D M 112. Der Bau des epischen Werks, AL 122 £. Der historische Roman und wir, AL 181. AL 123.

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Kaiser ist schwach, er ist in der Hand der Memmen und Schelme, die sich gegen mich nicht herauswagen.« (370) Wenn es nun aber mit der Hypothese der Schwäche nichts ist - auch Golo Mann verwirft sie, indem er Ferdinands Zähigkeit betont 77 —, dann muß man sagen, daß der Entschluß zur Abschaffung des Reichsfeldherrn dem eigenen Willen des Kaisers entspringt. Der Beichtvater Lamormain, der Wallensteins Absetzung zu erwirken hat, legt es darauf an, daß der Kaiser von sich aus den Weg zu gehen meine, auf den man ihn zwinge (455). Wie sich jedoch zeigt, hat der Beschluß beim Kaiser bereits festgestanden. Nicht dank der Nachgiebigkeit Ferdinands, so sieht es Döblin, ist der Konsens am Fürstentag zu Regensburg zustande gekommen, sondern durch das Zusammentreffen ganz unterschiedlicher Motivationen. Daß Ferdinand die Entlassung des Feldherrn aus eigenem Antrieb beschließt, braucht allerdings nicht zu heißen, er verfolge damit ein bestimmtes Ziel, er komme den Kurfürsten entgegen, damit sein Sohn, der junge König von Ungarn und Böhmen, zum Römischen König gewählt und so die Kaisernachfolge geregelt werde. Davon ist in Regensburg kaum die Rede, so daß nicht einzusehen ist, wie man die Handlungsweise des Kaisers als Zugeständnis, als Gegenleistung sollte verstehen können. Bei der Fragwürdigkeit der von den Historikern gegebenen Interpretationen muß sich ein Dichter, der sich in seiner Arzttätigkeit mit der menschlichen Seele befaßt, zu eigener Deutung geradezu aufgefordert fühlen, und man kann es ihm nicht verargen, wenn er dann mit Genugtuung erkärt: »Die Absetzung Friedlands auf der Regensburger Tagung ist ein nur so faßbares Ereignis.«78 Diese Entlassung — das zentrale Ereignis, wie sich auch in dem eben zitierten Wort wieder zeigt — gliedert den Roman. Was von Kaiser Ferdinand nach 1630 noch zu berichten ist, dient der Verdeutlichung: »Von dem Augenblick an gibt es in ihm keine eigentliche Entwicklung mehr, sondern nur ein Ausbreiten, ein Deutlicherwerden, sich Differenzieren.« 79 In den vorausgehenden Partien ist das erst später sich Enthüllende schon enthalten, freilich zumeist nur dem sichtbar, der das oft unverständlich scheinende Einzelne auf Grund des Ganzen zu durchschauen beginnt. Um dem Leser mit dem ersten Eindruck von Kaiser Ferdinand etwas Wesentliches zu vermitteln, schildert Döblin zu Beginn seines Romans ein Bankett, welches den Eröffnungssatz illustriert: »Nachdem die Böhmen 77

Golo Mann, Wallenstein, a. a. O., S. 1061 f. Der Epiker, sein Stoff und die Kritik, AL 343. 7 » Ebd. 78

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besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser.« Döblin hatte, als ihm dieser Satz unvermittelt einfiel, sofort das Gefühl, an der richtigen Tür angeklopft zu haben: »Die Melodie und der Rhythmus waren da, ich konnte anfangen, mir konnte nichts mehr passieren.« 80 Was ihn an diesem unscheinbaren Satz derart beglückte, kann man durch Einfühlung in Klang und Duktus nicht nachvollziehen, aber die Aussage, das mit einem Nachdruck versehene »froh«, das weit mehr einschließen muß, als man beim ersten Lesen vermutet, läßt sich ausdeuten. Döblin betont mit diesem Wort das Hurtige, Eilige, das den Kaiser belebt und sich in zappeligen Beinen und vor allem im Essen und Trinken darstellt und umso auffallender ist, als Ferdinand zwischen dem steifen päpstlichen Nuntius und dem Fürsten Caraffa, »dem schweren kopfhängerischen Büffel«, sitzt. Mit dem ganzen Aufgebot barocker Sprachüppigkeit, weit entfernt von der Kargheit der frühen Erzählungen, gibt er das Siegesbankett wieder. Als folgte er Logaus Sinnspruch: »Kan die deutsche Sprache schnauben, schnarchen, poltern, donnern, krachen,/ Kan sie doch auch spielen, schertzen, liebeln, gütteln, kürmeln, lachen« 81 , reiht er die Wörter zu Kaskaden, so wenn er von Ferdinand sagt: »Kaute, knabberte, biß, riß, mahlte, malmte.« Froh sein heißt lebhaft, hurtig sein, erklärt das etymologische Wörterbuch; Döblin geht auch hier, bei der Darstellung der Eßfreuden, auf die Grundbedeutung zurück. Frohsein als behendes Verzehren, Verschlingen, Vertilgen: es ist der Eroberungswille und Einverleibungsdrang, der das Bankett gibt. Da mag einem ein Aphorismus Nietzsches in den Sinn kommen — Döblin hat ihn sicher gekannt — : »Das, was man >Ernährung< nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden.« 82 Das unaufhaltsame Stärkerwerden-Wollen ist ein Motiv, das nicht nur den Friedländer, sondern auch den Kaiser kennzeichnet;. Das Bankett ist als Siegesfeier die Mimesis der siegreichen Schlacht am Weißen Berg, die Vertilgung der Feinde vollzieht sich nochmals auf éiner andern Ebene. Die beiden Bereiche spiegeln sich ineinander, wenn es heißt: »Die Hühner sind erschlagen; auf Silberschüsseln gebahrt; von feinen weißen Kerzen beleuchtet« (10), oder wenn beschrieben wird, wie beim Klang der Tafelmusik, bei den Trompetenfanfaren, die Festgesellschaft wollüstig das Gespensterheer des geschlagenen Königs Fried-

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82

Der Bau des epischen Werks, AL 129. Friedrich von Logau, Sämmtliche Sinngedichte, hg. von Gustav Eitner, Tübingen 1872, Nr. 3567. Der Wille zur Macht, n. 702.

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rich durch den Saal ziehen fühlt: prächtig zerhiebene Pfälzerleichen, Rumpf ohne Kopf, Augen ohne Blicke (11). Ein kannibalischer Untergrund wird spürbar. Beim Siegermahl erlabt man sich gleichsam am Schlachtopfer. Der Krieg ist hier zum tragischen Schauspiel geworden und hat das gräßlich Schöne einer jeden Tragödie bekommen. Wenn wir uns, sagt Döblin, im Theater sattfüttern, Othello und Desdemona, König Lear und seine süße Tochter schmausen, wenn wir uns dann triefend erheben, meint nur der Naive, wir seien gereinigt, »wir sind gesättigt, für diesmal.« 83 In dieser Weise erhebt sich der Kaiser vom Bankett, und wie er, »noch triefend von den Soßen Weinen der Festmähler« (13), aus Wien wegreitet, begibt sich etwas, auf dessen Bedeutsamkeit Döblin sorgfältig aufmerksam macht: er führt aus, wie das Gebaren des Kaisers dem Hof und den Räten auffällt, wie ihnen schwer faßbar ist, was dahinter steckt (13 f.). Später wird einem klar, daß hier präfiguriert ist, was sich am Kaiser als das Entscheidende herausstellen wird. Die Bankettszene soll vor allem deutlich machen, daß in der Sättigung die Gier ihre Grenze hat, daß also wie bei Wallenstein, nur auf andere Weise, das unaufhaltsame Stärker-werden-Wollen behindert und beendet wird. Ferdinand empfindet es als »Schand und Schmach, daß einer Graf, Fürst, Erzherzog, Römischer Kaiser werden kann und der Magen wächst nicht mit.« (11) Sättigung ist hier noch von Bedauern begleitet. Schließlich aber, nachdem ihm Wallensteins Siege zu weit größerer Macht verholfen haben, verliert sich die Einstellung, daß genug nicht genug sei. Die Sattheit allein wird bestimmend. »Das Reich der Erde und seine Herrlichkeit ist nicht nur in seinem Besitz, sondern er ist gesättigt vom Besitz«, kommentiert Döblin. »In ihm vollziehen sich dann alle Konsequenzen einer solchen Lage. Das Gefühl, allen Reichtum in sich und also unter sich zu haben, verläßt ihn nicht mehr. So verstärkt es sich in ihm, daß er zum Schluß ohne Bewegung — alles von sich abtut.« 84 Auf solchem Weg sieht Döblin den Kaiser schon am Anfang des Romans; er zeigt den Aufbruch aus der Sättigung, einen Ausritt, dessen Ziel zwar Ferdinand nicht zu nennen wüßte, dessen Richtung jedoch eindeutig ist. Der verwachsene Narr Jonas, einer der wenigen, die der Kaiser zur Begleitung auswählt, interpretiert den Aufbruch pantomimisch, indem er am Stadtrand den Mantel der Majestät ausschüttelt und ausklopft, ihn ausstäubt. Es soll nichts aus Wien mitgenommen werden, keine Reminiszenzen an

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Kannibalisches (1919), D M 13. AL 343.

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die Regierungsgeschäfte, keine Spuren des dortigen Daseins. Das närrische Tun des Narren enthält eine Kritik, die im »Schwarzen Vorhang« so formuliert ist: »Die Vergangenheit ist kein Staub, den ich mir von den Kleidern schüttele.« 85 Wenn auch der Narr nur einen Aspekt des Aufbruchs erfaßt, so erkennt er doch scharfsichtig, daß der Kaiser einen Irrweg eingeschlagen hat. Desgleichen ist für den Oberstallmeister dieser Ausritt ein ungutes Zeichen, er befürchtet »etwas Sonderliches« (16), und was er damit meint, liegt auf der Hand, weiß man doch, welch schlimmes Erbe seit der Heirat Philipps des Schönen mit Johanna von Kastilien in der Habsburgerfamilie geistert; auch wird erwähnt, Ferdinand trage sich mit dem Gedanken, nach Prag zu ziehen, in den prächtigen düstern Gemächern seiner Vettern Matthias und Rudolf zu hausen (13). Es ist offenkundig, daß Döblin bei seinem Ferdinand-Porträt die hereditäre Geisteskrankheit als wichtigen Zug einzeichnet. M a n darf wohl sagen, er teile seine eigenen Gedanken mit, wenn Eggenberg und Trautmannsdorf finden, der Kaiser — es ist das Jahr 1632 — versinke auf unheimliche Weise in sich: »Beide dachten, ohne es auszusprechen, an den geisteskranken Kaiser Matthias.« (586) Um diesen Ferdinand zu »durchfühlen«, wie Döblin es verlangt 86 , muß man bei der Bankettszene noch etwas anderes beachten als das hurtige, gierige Wesen der Eßlust und die mit befremdenden Konsequenzen verbundene Sättigung. Daß der Kaiser wie kein anderer froh ist, wirft die Frage nach dem Grund auf. Ferdinand ist erleichtert, daß die Böhmen besiegt sind, der Gegenkönig in die Flucht geschlagen, aber das kann die Nachdrücklichkeit der Formulierung nicht recht erklären. Stand denn die Sache für die Österreicher so prekär, daß ein Sieg der Böhmen möglich gewesen wäre? Davon kann im Ernst die Rede nicht sein. Döblins Einleitungssatz erweist sich als hinterhältig. Man meint ihn verstanden zu haben, und doch bleibt er in manchen Teilen dunkel. Erst später fällt einiges Licht darauf, wenn Ferdinand in der Unterredung mit dem englischen Gesandten vom starken Bayernherzog sagt: »Er hätte es verdient, statt meiner auf dem kaiserlichen Stuhl zu sitzen.« (41) Ein untergründiges Gefühl der Unwürdigkeit macht dem Kaiser zu schaffen. Im Moment der Sieghaftigkeit ist Ferdinand erleichtert, leichter geworden, nicht mehr niedergedrückt, weil er jetzt nicht an der Berechtigung zweifeln muß, Kaiser zu sein. Was nach dem Prinzip zunehmender

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JR 198. AL 343.

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Deutlichkeit erst mit der Zeit voll zu erkennen ist, gilt in geringerem M a ß schon jetzt: Ferdinand wird von den Siegen, die ihm eine höhere Macht zuweist, in die Höhe geschoben (354). In solcher Gehobenheit ist er gewiß, daß die Gnade des Himmels mit ihm sei (362), daß es im Reich gut gehe (9) und Gott ihn segne (457). Auf dem »obersten Platz unter dem Baldachin« (12) sitzend, könnte Ferdinand wie Kaiser Khien-lung sagen: »An solchen Tagen fühle ich nur den Himmel über mir, und ich habe die Überzeugung, daß er es mit mir gut meint.« 87 Die vertikale Strukturierung fällt auf, Gegensätze wie Hoheit und Niedrigkeit, Erhabenheit und Unterwürfigkeit, Erwähltsein und Verworfensein, und weiter, daß schon auf der ersten Seite der auf dem Herrscherthron Sitzende vom Gegenteil, vom Sitzen auf dem Boden, spricht: »Die Böhmen geschlagen, Ludmilla und Wenzel, die heiligen, hatten die Hand von ihren tollen Verehrern gezogen: da saßen sie auf dem Sand.« (9) Der über die Geschlagenen spottende Ferdinand wird bald nachher unter dem Galgen von Hoheneich auf dem nackten Erdboden sitzen und nicht einmal dulden, daß man eine Piache für ihn ausbreitet: er ist »wie ausgewechselt«, das Gesicht gelbfahl und faltig (15), keine blanken Wangen, die vor Wohlgefallen strotzen (12). Die Munterkeit, die Ungeduld, die überlebendige Raschheit sind von ihm gewichen, er versinkt in sich und wird von Müdigkeit befallen. Das Gefühl, ein Unwürdiger zu sein, muß ihn überwältigt haben. In Variationen läßt Döblin das Thema der Erwählung und Verworfenheit da und dort aufklingen. Er sagt von den »in einem schmutzigen Winkel in der Finsternis« sitzenden (181) Juden: »Das große Königsvolk, seit Jahrtausenden von seinem Stuhl geworfen, hatte in einem Bann nichts gelernt; auf dem Gesicht liegend, die Knie gebrochen, den Mund voll Sand; es duldete das Dasein; sinnlos, abgründig tot, was geschah: Jerusalem der letzte Schein des Lebens« (229), und er zitiert das Christuswort: »Und du, Kapernaum, bist du nicht in den Himmel erhoben? Du wirst in die Hölle hinuntergestoßen werden.« (273) 88 Ferdinands Unwürdigkeitsgefühl kann sich verschlimmern bis zu dem Grade, daß er mit dem Narren Jonas ins Dunkel des Weinkellers hinuntersteigt - den Weg der Melancholie, des Tiefsinns —, um sich einem vollends entwürdigenden Tun hinzugeben, sich zu besaufen, auf allen vieren herumzukriechen, das Gesicht sich vollzuschmieren (82ff.). Von

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SW 308. Matth. 11, 23. -

Die Stelle hat einen Bezug zu Jes. 14, 1 3 - 1 5 .

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diesem Äußersten her kommt es dann zu dem entgegengesetzten Extrem, zu dem fast unirdischen Machtgefühl (382), in welchem Ferdinand von gleichmäßiger unbeweglicher Heiterkeit (522) und sakraler Ruhe (412) erfüllt ist. Diese Extreme der Höhe und Tiefe sind schon während des Banketts präsent. Die Schwermut verrät sich in der Eßgier, froh ist also der Kaiser in melancholischer Art. 89 Hoheit und "Würde erscheinen in Kleidung, Sitzordnung und Zeremoniell. Döblin nennt Ferdinand einen latenten Kaiser, niedergehalten von anderen irdischen Gewalten, vom Bayernherzog vor allem. Aber er ist doch nicht bloß nominell Kaiser, er hat durchaus das Kaiserliche in sich, weshalb er auch »leidet in dieser irdischen Schicht«90, er weiß um das Hohe und will ihm dienen, »ein Werkzeug des Allmächtigen« (354). Vermöchte er das Oben und das Unten zusammenzuhalten, zwischen Himmel und Erde zu vermitteln, er wäre wahrhaft Kaiser. Güte und Macht wären in ihm vereint. Er könnte in seinem Reich verwirklichen, daß dem Kaiser gegeben würde, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (459 und 669). Ihm geschieht jedoch, daß er, durch Wallenstein mit einem Höchstmaß an Macht ausgestattet, aus der niederhaltenden Fesselung befreit und hochgehoben (670), »über das Tellurische hinausgeschoben« wird 91 . Er verliert den Boden unter den Füßen, wird in den Luftraum gezogen 92 und in ein Luftwesen verwandelt. So verfehlt er die Ganzheit, die dem Kaisertum eigen sein sollte und die in der Bankettszene angedeutet wird, indem der Dichter, Ferdinands Schuhe und die kurzen Säulen seiner Beine (9, 12) wie auch den Hut mit der Reiherfeder (10, 11) erwähnend, auf des Kaisers Zugehörigkeit zu den Elementen Erde und Luft hinweist. 93 Kaiser Ferdinand gerät aus der Balance (565), und es wird mit ihm dahin kommen, daß seine Einheit zerreißt (628). Die

89 90 91 92

93

Vgl. S. 37. AL 343. Ebd. Der Roman »Berge Meere und Giganten« greift Leitthemen des »Wallenstein« auf und variiert sie; aus Döblins »Bemerkungen« zu diesem Buch sei die folgende Stelle zitiert: »Aber ich wollte nicht in die Luft zu den Sternen gehen, es sollte ein tellurisches Abenteuer werden, Ringen mit der Erde.« (AL 349) An diesem Beispiel wird evident, warum bei Döblin Details nie als Krimskrams wirken. So wie bei Ferdinand die Reiherfeder auf Wesentliches hindeutet, ist bei Khien-lung wichtig, daß wir ihn beim Füttern einer Riesenschildkröte sehen und die Verwandtschaft zwischen dem Kaiser und dem Tier deutlich wird (SW 276) : der chinesische Kaiser wird ganz der Erde verhaftet bleiben — »über den Boden gebückt« (SW 311) — und seinem Auftrag, Himmel und Erde zusammenzuhalten, ebensowenig gewachsen sein wie der Habsburger Kaiser, nur aus dem entgegengesetzten Grund.

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allmählich sich durchsetzende Tendenz, ein Entschwindender, Entrückter, über der Erde Schwebender zu sein, enthüllt sich in einer Episode, die an den Somnambulismus Antonies erinnert 94 : Eines Abends, wie der Mond hervortritt, legt er sich träumend, fast lüstern, in das offene Fenster, spürt den Wind am Hals und hat Fühlung zu den vielerlei Wesen, die - wie das Gespensterheer des Winterkönigs — im Wind ihren Aufenthalt haben. »Er fühlte sich gedrängt, einen Sessel zu nehmen und über das Fensterbrett ins Freie zu steigen. Sie halfen ihm rechts und links steigen. Faßten ihn bei den Händen, wie er herunterstieg. Er ging ein paarmal zwischen den schwarzen Bäumen. Lief plötzlich, um es zu machen wie sie, rasch laufen, weich andrängen, sich anheben, fliegen.« (587) Ferdinand ist zu einem ätherischen Wesen geworden. Wochenlang schwer krank (304), ist er zum Skelett abgemagert und hat ein dünnes, beängstigend zartes Gesicht mit verschatteten, sehr weiten Augen bekommen (325). Seine ehedem prallen Hände sind jetzt durchsichtig: »Wenn er sie vor das dünne Gesicht hob gegen das Kerzenlicht, entzückte ihn in einer unverständlichen Weise das durchscheinende helle feine pulsierende Rot; es schien ihm beglückend zu sein wie das, was ihn erwartete.« (326) Man könnte nicht sagen, daß die Krankheit ihn zu etwas gemacht hätt;e, was er vorher nicht gewesen wäre; sie hat vielmehr das Ätherische in ihm hervorgeholt. Und vielleicht ist es sogar umgekehrt: das niedergehaltene Ätherische in ihm hat die Krankheit herbeigerufen. Erstaunlich ist ja der Satz: »Es war ihm eine Freude, als er bei den Jagden in Sumpfgebieten vom Sumpffieber ergriffen wurde.« (304) Daß Ferdinand längst auf dem Weg zur Verklärtheit und Entrücktheit ist, wird durch jenes Ereignis manifest, das zeitlich dem Roman vorausliegt, jedoch immer wieder, gut ein dutzendmal zur Sprache kommt: die Begegnung zwischen dem in Frankfurt eben zum Kaiser gewählten Ferdinand und Herzog Maximilian von Bayern. Der Kaiser unterschrieb damals, im Oktober 1619, den Münchner Vertrag, der dem Bayernherzog die Leitung der erneuerten Liga und damit den militärischen Oberbefehl im bevorstehenden Böhmischen Krieg übertrug, ihm Entschädigung für alle über den Ligabeitrag hinausgehenden Unkosten zusprach und überdies mit der mündlichen Zusage verbunden war, daß die pfälzische Kurwürde den'Wittelsbachern verliehen werde. Auch wenn es sich von selbst versteht, daß Maximilian für seine Dienste belohnt werden mußte

94

Vgl. S. 109 f.

213

und daß diese Belohnung, weil die Habsburger auf Bayern angewiesen waren, beträchtlich zu sein hatte, mit der Zusage der Kurwürde ist Ferdinand überaus weit gegangen. Döblin steht vor der Aufgabe, diese unverhältnismäßige Konzession plausibel zu machen. Zweierlei führt er an: den Glücksrausch und das Schuldbewußtsein. Ferdinand ist glückstrunken von Frankfurt nach München gekommen, und in dieser tagelang dauernden Gehobenheit, auch aus Dankbarkeit, hat es ihn zu seinem Schwager Maximilian gedrängt (70). Bei dem Besuch ist es zu einem Disput unter vier Augen gekommen. Die beiden Kontrahenten geben darüber verschiedene Versionen; da aber diejenige Ferdinands mit dem, was sich in der Folge noch mehrmals zutragen wird, übereinstimmt, besteht kein Grund, sie zu verwerfen. Er habe sich nicht selbst gebunden, er sei gefesselt worden, »in einem verwirrten betäubten Augenblick«, in welchem er nicht habe rechnen können (77). Es ist also nicht Max, der ihn gleichsam überwältigt und gefesselt hätte, obschon er das behauptet (226), sowenig Ferdinand von sich aus die strittige Verpflichtung eingegangen ist. Der Kaiser hat sich in der Gewalt eines ekstatischen Zustandes befunden, sich selbst entrissen und in einen erhöhten Augenblick der Fülle, des Lichts und Klanges entführt, »aufgerissen zu blendender betäubender mystischer Größe« (298). Unverkennbar ist die Verwandtschaft mit Adolf Gotting, mit Kaplan Anselm. Das bedeutet aber auch, daß diese besondere Gehobenheit nicht allein durch die Stellung als »des Heiligen Römischen Reiches alles übersteigende gesalbte Kaiserliche Majestät« (11) erzeugt worden ist. Ferdinand ist, um es mit einem Ausdruck des Wang-lun-Romans zu sagen, überwältigt von jener »Kaiserherrlichkeit«95, die nicht ausschließlich dem Monarchen eignet, sondern jedem Menschen zukommt und ihn mit Hoffnung belebt. Der Monarch Ferdinand erfährt sich als Präfiguration des dem Menschen zugesagten Königtums 96 . Gleich wie in Ferdinand das Menschliche und auch das Allzumenschliche zu erkennen ist, so in den Menschen das »Ferdinandinische«, denn »Ferdinand ist nichts Vereinzeltes unter den tausend Personen«, von denen Döblin sagt: »Ich konnte sie verschieden geben, ihnen wechselnde Namen und Masken umhängen: ich möchte aber nie das Kaiserliche, ich meine das Ferdinandinische, in ihnen vergessen haben. Und wenn es nur von fern leuchtet.« 97 Im ekstatischen Augenblick, da das Land, das ferne leuchtet, nahe ist, verschenkt er aus 95 96 97

SW 80. Vgl. Off. 1, 5; 5, 10. AL 344.

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seiner Machtfülle, weil sie, von millenarischer Art, sich nicht vermindern kann, Macht an den Herzog von Bayern. Den tiefsten Einblick in den Zustand der Betäubung gibt Döblin erst spät in seinem Roman, indem er einen solchen plötzlich eintretenden, mit Schwindelgefühl verbundenen Augenblick eingehender darstellt. Von Ferdinand heißt es da, daß er in einer bewußtlosen Freude — also wohl in einer Freude, die nicht weiß, worüber sie sich freut — »nicht wußte, was heute war, was morgen sein wird, in welchen Zimmern er ging, in wessen Zimmern er ging« (565)98. Er ist dem alltäglichen Bewußtsein entrückt, die gewöhnliche Vorstellung von Zeit und Raum ist außer Kraft gesetzt. Nicht daß er überhaupt von nichts mehr wüßte. Was er nicht weiß, ist das Wann, das Wo. Statt des Nacheinanders von morgen, heute, gestern gilt jetzt offenbar die Gleichzeitigkeit; was morgen sein wird, kann gestern gewesen sein und umgekehrt. Die Stelle, wo er geht, kann auch ein anderer Ort sein. Und was ihn besonders tief beglückt: er weiß manchmal nicht, in wessen Kleidern er herumgeht. Er ist ebenso ein anderer wie er selbst. Wie die folgenden Verse aus »Manas« zeigen, besteht zwischen diesem erhöhten Zustand und dem Sich-in-die-Luftschwingen-Wollen ein Zusammenhang: Ach das Fliegen im Wind. Unruhiges unablässiges Brodeln und Drehn, Aufschwingen und Herabschütten. Nicht wissen jetzt, und was d a n n . " Es ist zu erwägen, ob Döblin bei der Darstellung dieser eigentümlichen Momente nicht aus eigenen Erfahrungen rede; denn genau so beschreibt er den Vorgang seines dichterischen Schaffens. Auch er geht in andern Kleidern, während er an einem Roman dichtet, seine Zeit und andere Zeiten schieben sich ineinander, desgleichen sein Arbeitszimmer und andere Räume. 100 Er kennt dabei Augenblicke mit einem »Seelenzustand von einer besondern Helligkeit«, da alles wie enträtselt ist: »Man versteht alle Sprachen und überhaupt alles.«101 Diese Äußerung ist kein Zeichen von Überheblichkeit. Döblin spricht ja nicht von einem Geschehen, das er hervorbringt, sondern von einem, das über ihn kommt; erst durch eine unangemessene Haltung gegenüber diesem Phänomen könnte Über-

98

Vgl. dazu die ekstatischen Momente von Kaplan Anselm (S. 126ff.). " M 186. 100 Vgl. S. 158 f. 101 AL 119, vgl. auch AL 181.

215

heblichkeit entstehen. Bedenkt man, wie der Dichter aus dem gewaltigen, weltumspannenden Reichtum, der ihm in diesem klarsichtigen und hellhörigen Seelenzustand zu eigen ist, fort und fort wegschenkt, darf das wohl als Parallele zum kaiserlichen Verschenken gesehen werden. Daß es zwischen seinem Dichten und der Figur des Kaisers einen solchen Bezug gibt, bestätigt sich, wenn Döblin erklärt, das Zentrum seiner innerlichen Arbeit am Wallenstein-Roman sei von dem Augenblick an, da er dieser innerlichen Arbeit Spielraum gelassen habe, Ferdinand gewesen; um dessen Seele sei es gegangen: »nur seinetwegen habe ich die lange lange Zeit über dem Buch gehangen.« 102 . Indem sich Döblin mit Ferdinand beschäftigt, setzt er sich mit Gefahren auseinander, die ihn selbst bedrohen. Das Wort »Ich möchte Kaiser sein und nicht so handeln wie Ferdinand der Andere« 103 ist vielleicht hintergründiger, als es aussieht. Kritik am Kaiser bringt Döblin auch vor, indem er ihn parodiert. Er schreibe ein großes Werk über die Geister, verrät der Narr dem Kaiser, aber wie er gesehen habe, dauere alles so lange, ein Buch jahrelang, viele Autoren stürben, ehe sie ihr Buch fertig hätten, deshalb mache er es anders, flink, hurtig, im Nu. Über einen frischen Bogen Papier gießt nun der Narr aus dem Tintenfaß einen Strom Tinte: »Sieh an, wie es geht. Sieh, wie es läuft. Ich mache es auf einmal. Da, eine ganze Seite auf einmal, aus dem Fäßlein kommt der Brunnen. Im Nu.« (81) Man erkennt, daß diese pantomimische Parodie Ferdinands Neigung, das Nacheinander der Zeit zu überspringen, zum Gegenstand hat. Natürlich wendet sich der Narr nicht dagegen, daß der Kaiser in jene erhöhten Augenblicke, da alles im N u ist, hineingerät, er tadelt ihn aber, weil er aus ihnen nicht ins Gewöhnliche zurückkehren, die Mühsal des Nacheinanders nicht auf sich nehmen will. Die alltägliche Zeitauffassung ist Bedingung unseres Daseins, ebenso notwendig wie die Einsicht, daß die Gleichzeitigkeit das innerste Wesen der Zeit ausmacht. Wenn man sich allmählich in diesen Zusammenhängen zurechtfindet, wird man gewahr, daß von solchen merkwürdigen Augenblicken öfter die Rede ist. Daß der Kaiser, nachdem ihn sein Pferd abgeworfen, benommen ist, »gefesselt von Betäubung« (21), scheint eine ganz normale Folge des Sturzes zu sein, dennoch läßt die Formulierung an jenen andern Zustand der Betäubung denken. Und erst jetzt kommt man dahinter,

102 103

AL 342 f. DM 112.

216

daß diese Betäubung gar nicht dasselbe ist wie die Benommenheit unmittelbar nach dem Aufschlagen. Ferdinands Augen sind nicht mehr trüb und jammervoll, sondern mondhaft weich, seine Züge entspannt, es ist eine sanfte Betäubung, in welcher ihn der eben erschallende Hornklang besonders schön dünkt. Kurz zuvor hat sich seiner eine steigende Erregung bemächtigt, Zuckungen im Gesicht sind aufgetreten, auf dem Mund ist Schaum erschienen. Die betäubten Augenblicke haben bei Ferdinand einen epileptischen Aspekt. Oft sind die Anfälle kaum zu erkennen, oder sie sind leicht zu mißdeuten wie im eben dargelegten Beispiel, aber gegen den Schluß des Romans ist ein großer Anfall beschrieben, bei welchem Ferdinand zu Boden stürzt, mit den Armen und Beinen zuckt, knirscht, weint, schäumt (699). Auch die gelegentlichen Dämmerzustände, der Hang, schattige Orte aufzusuchen, das gesteigerte Schlafbedürfnis müssen zu den Krankheitssymptomen gerechnet werden, ebenso wie die Momente der Erhöhung und Erweiterung. 104 Ferdinands politisches Handeln kann von derartigen Erfahrungen nicht unberührt sein. Die Dankbarkeit, zu der ihn der beglückende Augenblick der Gehobenheit stimmt, und die Berufung, das Glück der andern zu mehren, das Unrecht aus der Welt zu schaffen, wirken sich in seinem Schenken aus. Bei der Zusage der Kurwürde ist überdies daran zu denken, daß sich Ferdinand gegenüber Maximilian in der Schuld weiß, sich daher zur Wiedergutmachung gedrängt fühlen muß. Als Zwölfjähriger hat er vor fast dreißig Jahren in Ingolstadt, wo sie zusammen bei den Jesuiten zur Schule gingen, den siebzehnjährigen Mitzögling in der Kirche aus der ersten Bank fortgewiesen (226), was Maximilian nicht hat vergessen können. Während aber dieser Vorfall für den Wittelsbacher ein Rangstreit ist, der als andauernde schwierige Rivalität (72) weiterwirkt, hat er für Ferdinand eine andere Bedeutung: ihm steht er als frevelhafte Tat vor Augen, als eine Gotteslästerung, bei der Mutwille und Unbedachtheit keine mildernden Umstände sind. Wie schwer er daran trägt, zeigt Döblin auf indirekte Weise. Beim früher erwähnten Ausritt nach dem Bankett ist der Kaiser in Hoheneich, den Galgen erblickend, »wie ausgewechselt« (15). Eine Erklärung dafür findet man nur in der Legende, die kurz vorher erzählt worden ist. Ein frecher Landadeliger wollte mit zwei Spießgesellen den Gottesdienst stören, indem er, als eine Prozession nahte, die Tür des Wallfahrtskirchleins 104

Da Döblin den Leibarzt Thomas Mingovius, »Verwalter kaiserlicher Gebrechen«, erwähnt (12), ist zu vermuten, daß seiner Darstellung nicht ausschließlich Phantasie zugrunde liegt.

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verrammelte. Die Tür sprang aber auseinander und ließ die Prozession ein, während die drei Frevler, in Hunde verwandelt, beim Galgen erschlagen und verscharrt wurden. (14) Daß das Ungeheure der Erhöhung von Ferdinands Seele Besitz ergriffen hat, ist allein vom Ungeheuerlichen der entgegengesetzten Möglichkeit her zu durchfühlen, auf die ja auch immer wieder angespielt wird: die Menschen bekommen Tiernamen, Ferdinand kriecht im Weinkeller auf allen vieren, die Befürchtung des Papstes ist zu vernehmen: »Wir, das heilige süße Wort Christi verwaltend, machen Platz Schakalen, Untieren; man wird die Schönheit, Reinheit, den Glanz eines Menschengesichts nur noch aus frommen Bildern kennen.« (446) Döblin stellt hier in Wesenszügen dar, was er die »metaphysische Periode« nennt, jene Epoche also, für die der Gegensatz von Jenseits und Diesseits, Geist und Natur bestimmend war. Im Essay »Der Geist des naturalistischen Zeitalters« von 1924 schreibt er: »Daß der Schwerpunkt der gesamten weltlichen Existenz im Jenseits lag, war ein Gedanke von tiefer Demut. Und das produktive Elementargefühl dieser metaphysischen Periode konnte nur ein Minderwertigkeitsgefühl, ein Gefühl vom eigenen Nichts sein. Anders gesehen aber war es eine naiv hochmütige, höchstmütige Epoche. Denn ihr Jenseits und ihr Gott war ein Gott für diese Menschen. Andere Wesen oder gar die physikalische Natur kamen für das Jenseits nicht in Frage. Und da war es ja ein beispielloser Aufwand: ein ganzes Jenseits und ein Gott für die gläubigen Menschen Europas. Gleichzeitig Demut und Hochmut.« 1 0 5 Nimmt man die Ausdrücke »Demut« und »Hochmut« so, wie Döblin sie hier meint, nämlich als Wissen um die Nichtigkeit und als Wissen — »kein Glauben im heutigen Sinne« 106 — um die Unvergänglichkeit im Jenseitigen, versteht man, daß die Menschen, die Döblin in seinem Wallenstein-Roman darstellt, Melancholiker und zugleich Größenwahnsinnige sind, vor allem Wallenstein, Maximilian und Ferdinand. Und man versteht auch den Pomp, mit dem sie sich umgeben. Wer davon durchdrungen ist, daß, was jetzt so pocht und trotzt, morgen Asch und Bein ist, daß uns jetzt das Glück anlacht, bald aber die Beschwerden donnern, wie Gryphius sagt, braucht die Allongeperücke und die Pracht in Kleidung und Palast, weniger um etwas zu sein, als vielmehr um zu repräsentieren, um das Dereinst vorzuahmen.

105 106

AL 63. Ebd.

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In Ferdinand zeichnet Döblin einen Menschen, der den gewaltigen Spannungen dieser Gegensätze nicht gewachsen ist. Zur Zeit, da er dem Bayernherzog die Kurwürde schenkt, wehrt er sich noch, im Bewußtsein des Unterschieds zwischen Jetzt und Künftig, gegen das ihn überwältigende Ekstatische. Wegen der Vergeblichkeit dieses Widerstandes ist er gebrochen, finster (40). Er macht sich und andern Vorwürfe, man habe ihm abgewunden, was er nie hätte hergeben dürfen (99), er findet sogar, daß man ihn hätte beseitigen müssen (114). Alarmierend ist, daß er für sich die Last der Regierung als etwas »Unertragbares« (270) empfindet, daß ihn »die fürchterliche Leistung der Gewalt« entsetzt 107 . Man ahnt, daß er sich dieser Last zu entledigen suchen wird. Noch stellt er sich dem ihm vorgeschlagenen Restitutionsedikt entgegen (366), man muß ihm die Rückgabe aller seit 1552 säkularisierten geistlichen Besitzungen abringen (382), aber mit dem Frieden von Lübeck gerät er in ein widerstandsloses Verschenken hinein. Der Wiener Hof will dem besiegten Dänenkönig die schwersten Bedingungen auferlegen (379), der Kaiser gewährt ihm einen überaus günstigen Frieden: Christian bekommt alle Provinzen zurück und braucht keinen Schadenersatz zu zahlen (385). »Unberührt schenkte er alles weg, wie er zuletzt die Stifter weggegeben hatte, aus der Fülle seiner kaiserlichen Macht. Er war versteift in seine Majestät.« (383) Er gleicht einem andern »Verschwender auf dem Thron«: dem König Lear, von dem es im Hamlet-Roman heißt: »Man muß sich eigentlich hüten, bei ihm überhaupt den Ausdruck >Besitz< zu gebrauchen. Er besaß nie etwas. Besitzen wir die Luft, die wir ein- und ausatmen? Er war so stolz, so königlich, daß er sich nicht dazu herabließ, etwas zu besitzen.«108 Ferdinand demonstriert höchste Macht, indem er sich der Macht begibt. Er ist in anderem Sinn als Wallenstein ein NichtBesitzender.109 So erklärt sich auch die Absetzung Wallensteins, mit welcher, wie Döblin sagt 110 , Ferdinands Entwicklung abgeschlossen ist. Er lebt in der Zitadelle des ekstatisch-eschatologischen Lebensgefühls, Zeit und Ort überspringend, über dem Tellurischen, im Ätherraum, phantastisch geworden, sich als die künftige Personalunion von Kaiser und Papst sehend (458), mehr und mehr ein gespenstischer Mensch, der von nichts mehr berührt wird, nichts an sich herankommen läßt und, was herankommt, abschüttelt, um nicht aus seiner Ruhe geschreckt zu

107 108 109 110

AS 409. H 219. Vgl. S. 201. Vgl. S. 207.

219

werden (393). »An mich kommt nichts heran. Alles beglückt mich« (567), sagt er, der früher von den Greueln des Krieges, obwohl er sie nur vom Hörensagen kannte, erdrückt worden ist, nun aber von dem tausendfachen Leiden nicht mehr weiß. Es kann nun versucht werden, die Frage zu beantworten, inwiefern die sprunghafte Handlungsweise des Kaisers mit den drei Sprüngen zu tun hat. Daß Ferdinand das Schwert aus der Hand legt und es dann doch wieder ergreift, läßt sich ohne weiteres mit Wang-luns erstem und zweitem Sprung in Beziehung setzen. Allerdings ist es nun nicht ein Untertan, der auf Macht verzichtet, sondern der Kaiser selbst; der Antrieb dazu ist also nicht derselbe. Der zweite Sprung, bei Wang-lun Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung, bedeutet beim Kaiser keine eigentliche Wandlung, obwohl die Notwendigkeit, Wallenstein wieder um die Übernahme des Oberbefehls zu ersuchen, ihm die Augen dafür hätte öffnen können, daß der Staat braucht, was des Staates ist. So führt dann der dritte »Sprung« nicht über die beiden vorherigen hinaus, sondern wiederholt verdeutlichend den ersten; Ferdinand kommt nicht in Fühlung mit dem Urgrund, er löst sich davon ab, er entfernt sich aus dem Da-sein, läßt den Gegensatz zwischen dem menschlichen und dem göttlichen, dem weltlichen und dem geistlichen Bereich hinter sich, desgleichen den Unterschied zwischen Gut und Böse 1 1 1 . Sein majestätisches Wesen bezeugt die Gottebenbildlichkeit und wird zugleich zu ihrem Zerrbild. In der Gestalt Kaiser Ferdinands sind Komponenten des Wang-lun-Romans neue Verschmelzungen eingegangen, dabei ist das Thema der drei Sprünge in den Hintergrund getreten, anderseits haben die vier Elemente, die auch im »chinesischen« Roman ihre Rolle spielen, an Bedeutsamkeit gewonnen. Döblin setzt der metaphysischen Epoche eine neue Möglichkeit entgegen, wenn er zur Darstellung menschlichen Daseins die Elemente heranzieht, bei Ferdinand Erde und Luft, bei Wallenstein Erde und Feuer, bei Gustav Adolf Erde und Wasser; denn die Elemente sind nicht das bloß Materielle, sie sind geistige Mächte, aber nicht Geist im Sinne der Metaphysik, nicht das Jenseitig-Geistige, von dem jedes Materielle wegzudenken wäre. Es gilt von allen Elementen, was Döblin an einem Beispiel klarstellt: »Das Feuer ist ein großartiges physisches — und wie alles Physische zugleich überphysisches — Wesen.« 1 1 2 Mit den beseelten

111 112

Vgl. AL 344. IN 35.

220

großen Wesen die Verbindung wieder zu finden, mit dem Wasser, dem Stickstoff, Sauerstoff, den Steinen, Metallen, mit der Wärme, darum ist es ihm zu tun. Suchten früher die Menschen »sich krampfhaft und ekstatisch in >Gott< einzustellen«, so sollen sie sich jetzt regenerieren im Umgang mit den Elementen. 113 Diese müßten in ihrem Kräftespiel — sie sind ja keine Substanzen, sondern dynamische Prozesse — harmonisch zusammenwirken. Man soll nicht glauben, daß Döblin, indem er die Metaphysik ablehnt, einem atheistischen Naturkult das Wort rede; wie er es meint, ist im Aufsatz »Der dreißigjährige Krieg« mit dem Hinweis auf den heiligen Franziskus angedeutet, der seine Schwester das Wasser, seinen Bruder den Wind, seine Schwester die Sonne geliebt habe. 1 1 4 Solche Geschwisterschaft hat ihre Voraussetzung darin, daß es kein Auseinanderklaffen in das Geistige und das Körperliche gibt, daß das Jenseitige, statt Gegensatz zum Diesseits zu sein, sich mit diesem vereint hat. Auf Franz von Assisi hinweisend, tut Döblin einen Schritt weg vom Gott der Metaphysik, diesem zu einem reinen Geistwesen entwirklichten Gott. Es mag mit dem Furchtbaren der Entstehungszeit zusammenhängen, daß Döblins Roman zwar von der Bedeutsamkeit der Elemente, nicht aber von der Regeneration im Umgang mit ihnen handelt. 115 Wenn der Dichter zuletzt den Kaiser aus seiner Höhe herabholt und ihn auf die Landstraße unter die Scharen Landesflüchtiger bringt — und damit eigentlich dieselbe Bewegung vollzieht wie in den Erzählungen »Astraila«, »Die Nachtwandlerin«, »Der Kaplan« - , so geht es nur noch darum, ihn an die Stelle zu führen, wo er den Atem dem Wind, die Seele dem Feuer, das Blut dem Wasser, den Leib der Erde abgibt 1 1 6 . Historisches Wissen beiseite schiebend, rückt Döblin seinen Kaiser Ferdinand mehr und mehr in die Nähe König Lears, wie eine Stelle aus dem HamletRoman bestätigt: »Er hatte früher einen Narren zur Begleitung, als Adjutanten. Das ist nicht mehr nötig; er ist selber Narr genug. Und dann hat er eines Tages selbst genug vom Schloß. Er liegt auf der Straße, und das ist jetzt sein Element. Er lebt bei den Dorfarmen, mit den Landstreichern, den Deroutierten, und siehe da: er ist selig.« 117 Kaiser Ferdinand, wie er das Dokument der zweiten Absetzung Wallensteins

113 114 115 116 117

Buddho und die Natur, a . a . O . , S. 1199. PG 53. Vgl. Β 533. Vgl. M 370. H 217.

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unterzeichnen soll, entweicht. »Die längst vollzogene Lösung vom Kaisertum, vom Reich der Welt und ihrer Herrlichkeit wird nun auch für die Augen sichtbar«, kommentiert Döblin den Romanschluß, »seine Seligkeit kommt zum Durchbruch. Er hat nicht dem Thron entsagt, sondern ihn sich selbst überlassen. Der Thron ging ihn nichts mehr an.« 1 1 8 Man hat es freilich mit pervertierter Seligkeit zu tun 1 1 9 . In seinem gespenstischen heiteren Gleichmut, der nur für Momente erschüttert wird, wirkt er wie die Parodie eines chinesischen Weisen 1 2 0 . Als Figur, in welcher Khienlung und Wang-lun und auch Ma-noh zusammengebracht scheinen, erinnert er an die Wahrhaft Schwachen 1 2 1 , aber ein Schwacher, auf den das Wort »Meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig« (729) zuträfe, ist er wahrlich nicht, er ist ein Schwacher, der alles aufgibt 1 2 2 . Mag er, welcher der höchste Herr gewesen ist und sich nun unerkannt unter die Niedrigsten mischt, für einen Augenblick an die Kenosis Christi 1 2 3 denken lassen, er ist nicht dem zu vergleichen, der erschienen ist, »um alles auf sich zu nehmen« (123). Denn an ihn soll nichts herankommen können. Und doch, seine pervertierte Seligkeit — indem sie unertragbares Leiden zum Hintergrund hat und das Befreitsein von diesem Leiden antizipiert — weist über die Verkehrung hinaus in ein Ursprüngliches.

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A L 343 f. Walter Muschg sieht dagegen in Ferdinand »die Verkörperung eines religiösen Ideals von irdischer Vollendung«, W 7 4 9 (Nachwort). Wolfdietrich Rasch, a. a. O., S. 45. Vgl. AS 409. A L 388. Vgl. die Erzählung »Die Flucht aus dem Himmel«, E 293 (Erstdruck in: »Die Erhebung« 1920).

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Manas Döblins »indisches Epos« Der utopische Roman »Berge Meere und Giganten« schildert eine jahrhundertelange Entfremdung der Menschen von der Natur, um im letzten Buch wiederum die Erde in ihrer Schönheit zu preisen. Wenn man dabei durch die Stromlandschaften geführt wird, rhoneabwärts vom Gotthard bis nach Marseille, der Garonne entlang, zwischen sanften Hügeln und Weinbergen 1 , zur Mündung der Gironde, mag man an die großen Stromdichtungen des von Döblin schon früh entdeckten und mit tiefer Verehrung gelesenen Hölderlin denken, an die Verse auch, die dem Nordostwind den Auftrag geben: Geh aber nun und grüße Die schöne Garonne, Und die Gärten von Bourdeaux. 2 Von diesem Hafen fahren Hölderlins Schiffer — die kommenden Dichter 3 — nach Indien aus. Die Fahrt nach Indien, das ihm als Land des Ursprungs gilt, ist im Zusammenhang mit der Aufgabe des Dichters zu sehen, wie er sie gemeinsam mit Schelling umschrieben hat: es sei eine Mythologie der Vernunft zu schaffen 4 . Dieses Postulat, das zwei scheinbar unverträgliche Begriffe zusammenschließt, richtet sich gegen die absolute Autonomie, welche der Vernunft in Fichtes »Wissenschaftslehre« zusteht. Der menschliche Geist soll anders verstanden werden, nicht losgelöst von der sinnlichen Anschauung, sondern an sie und damit an die Gestaltenwelt von Natur und Geschichte gebunden. Vernunft und

1 2

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BMG 455. Andenken, in: Sämtliche Werke, hg. von Friedrich Beißner, 2. Band, 1. Hälfte, Stuttgart 1951, S. 188. Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1951, S. 82. Entwurf (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus), in: Sämtliche Werke, 4. Band, 1. Hälfte, Stuttgart 1961, S. 299.

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Sinnlichkeit sollen in ihre ursprüngliche Einheit gebracht werden. 5 Den Gedanken einer neuen Mythologie hat Schelling in den Jenaer Romantikerkreis getragen. Novalis ist von dieser Auffassung des Dichterberufs erfüllt, und es ist bezeichnend, daß er in der fünften der »Hymnen an die Nacht« den Sänger »voll Freudigkeit nach Indostan« ziehen läßt. Friedrich Schlegel sucht in seinem »Gespräch über die Poesie« Wege, »die Entstehung der neuen Mythologie zu beschleunigen«. »Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich, wie die des Altertums! Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen, wenn einige deutsche Künstler mit der Universalität und Tiefe des Sinns, mit dem Genie der Ubersetzung, das ihnen eigen ist, die Gelegenheit besäßen, welche eine Nation, die immer stumpfer und brutaler wird, wenig zu brauchen versteht.« 6 Von der Zeit an, da die Indologie in Deutschland durch die Brüder Schlegel, durch Franz Bopp und andere begründet wurde, sollte es freilich noch lange dauern, bis das in Mythen sich darstellende, vorbuddhistische Indien dem deutschsprachigen Leser erschlossen war und sich gegenüber den einseitigen, im späteren 19. Jahrhundert einflußreichen Vorstellungen Schopenhauers 7 geltend machen konnte. Wo aber sind die Dichter, von denen sich sagen ließe, daß ihrem Dichtertum der neue, aus Indien fließende Quell zugute gekommen sei, daß er nicht nur inhaltliche Anregungen vermittelt, sondern im Medium heutiger Sprache Dichtungen eines neuen Geistes habe entstehen lassen? Jedenfalls hat keiner außer Döblin mit derart entschlossenem und kühnem Sinn sich an die neuen Möglichkeiten gewagt. Doch die epische Dichtung »Manas« ist bis heute ein so gut wie unbekanntes Werk geblieben, trotz Robert Musils Begeisterung, trotz seinem Wort: »Auch wenn ich es mir kühl überlege, traue ich mich, zu behaupten, daß dieses Werk von größtem Einfluß sein sollte!« 8 s

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Vgl. Guido Schmidlin, »Die Psyche unter Freunden«, Hölderlins Gespräch mit Schelling, in: Hölderlin-Jahrbuch 1 9 7 5 - 1 9 7 7 , S. 303 ff. Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1956, S. 312. Schopenhauer kannte die Upanischaden in der lateinischen Ubersetzung der persischen Übertragung des Sanskrit-Textes, in einer Ubersetzung, die der Indologe M a x Müller, ein Schüler Schellings, fürchterlich nennt. Schelling hatte einen bessern Zugang: Müller hat ihm verschiedene Upanischaden übersetzt. - Das sei hier erwähnt, weil eine Reihe von Indizien darauf hinweisen, daß Schelling für Döblin eine wichtige Gestalt ist, und weil anderseits, wie der Essay »Buddho und die Natur« zeigt, Schopenhauers Auffassung, seine Philosophie stimme mit Buddha überein, von Döblin nicht geteilt wird. Die Besprechung Musils aus dem Jahre 1927 ist im Anhang der »Manas«-Ausgabe abgedruckt, M 375 ff.

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An Döblins »indischem Epos« fällt natürlich zunächst die Sprachgestalt auf: freie Rhythmen, ungleich lange Zeilen, wechselnd zwischen drei, vier, fünf Hebungen, mitunter mehr, oft auch weniger. Es ist eine Dichtung ohne das Gleichmaß des Metrums, zu deren Wegbereitern Arno Holz gehört. 9 Döblin schreibt eine Art Urvers, so sieht es Musil, »eine ganz unstabile, fortwährende Mischung und Entmischung, und wieder wie zum erstenmal aus dem Gefüge der Prosa hervorgezaubert« (380). Mit diesen Versen verwirklicht Döblin bis in den Satzbau hinein das Gesetz der Epik, das er ein Jahr nach Erscheinen seiner Dichtung so definiert hat: »Im Epischen wächst die Handlung Stück um Stück durch Anlagerung. Das ist die epische Apposition. Im Gegensatz dazu steht die Entwicklung des Dramas, die Herauswicklung aus einem Punkt.« 1 0 Bei dieser Auffassung wäre es verwunderlich, wenn in Döblins epischem Werk die freien Rhythmen völlig unvermittelt aufträten. Beispiele finden sich denn auch, freilich ohne die Phrasierung durch die Zeile, schon im Wallenstein-Roman: kürzere oder längere attributive Satzteile vom Typus »Herr Anton Wolfrath, Mönch Abt Bischof Fürst Nichts« n , ausgedehnte Partien wie die Beschreibung Wiens 1 2 . Auch im »Wang-lun« kommt dergleichen gelegentlich vor: »Besonnte Zacken der Granitberge. Träumerische Landschaften eingesenkt. Schlanksäulige Fächerpalmen mit hellen Stimmen. Kamelien hunderttausend. Hauchende Teiche, schwimmende Lotos. Zwischen Hecken, hinter steinigen Wegen Tempel am Fuße des Hanges. Starrgespannter Himmel.« 1 3 Daß nun aber Döblin der Zeile die besondere Aufgabe der Phrasierung überträgt, hat erhebliche Konsequenzen. Die in verschieden lange Zeilen gefaßten Teile gewinnen größere Selbständigkeit, das logische Gefüge wird gelockert, die Funktionalität des Einzelnen schwächt sich ab. Dafür verträgt die Sprache Wiederholungen, die sie sonst nicht duldet; die Variabilität der Zeilenlänge lädt dazu ein, das Anreihungsprinzip mit dem Gesetz der wachsenden Glieder zu kombinieren. Das dient den Abstufungen in der Intensität. Ein Ostinato kann ebensogut erzeugt werden wie das Glissando der Gedankenflucht, das Volatile von Träumen. Eine neuartige Sprachmusik ertönt, monoton und bunt zugleich. Döblin kann von der aus dem Schlaf aufgeschreckten Sawitri sagen,

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Vgl. Döblins »Grabrede auf Arno Holz« (1929), AL 137. Schriftstellerei und Dichtung, AL 96. W 13. W 66 f. SW 478.

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»daß sie saß und saß und saß / und saß und saß« (115); man muß aber darauf achten, was für einen Bedeutungsreichtum der Kontext diesem Sitzen mitteilt. Es sind darin noch die früheren Nächte enthalten, da Sawitri, wenn sie aufwachte, ihren Kopf dem schlafenden Manas unter die Füße legte, um sein Zucken zu fühlen, und es drückt sich darin das beklommene und schon schreckensbleiche Gewärtigsein aus, das alsbald vom Hilfeschrei ihres fern von ihr im Sterben liegenden Mannes erreicht wird. Da das Gleichmaß des Metrums preisgegeben ist, hat die Zeit nicht mehr die Wesensart eines ruhig dahinfließenden Stromes, sie hat etwas Augenblickhaftes, das jedoch nicht mit dem zum regelmäßigen Fließen gehörenden Moment zu verwechseln ist. Die rhythmische Entfaltung, gefördert durch die allergrößte Beweglichkeit in der Satzstellung, ist nicht daran gebunden, mit dem Metrum zusammenzuwirken oder ihm allenfalls entgegenzuwirken, sie ist voller Spontaneität, stets neu sich in fluktuierenden, rasch wechselnden Energiefeldern vollziehend. Die Sprachbewegung ist nicht darauf ausgerichtet, vom einen zum andern und weiter und weiter zu führen; eher kann man mit Worten aus den »Gesprächen mit Kalypso« sagen, daß sie »das Nacheinander des Zeitlichen in ein Nebeneinander verwandelt« 14 . Eine epische Dichtung von dieser Intention erzählt nicht in herkömmlicher Art. Deshalb sieht sich der Leser vor Schwierigkeiten gestellt. Er ist daran gewöhnt, einen Bericht zu vernehmen, hier aber ist die Berichtform aufgegeben. Döblin läßt nicht in beschaulichem Schreiten und Verweilen Ereignis auf Ereignis folgen, zeigt nicht Gegenstand um Gegenstand her. Mag er auch auf Homer als ein Vorbild des Epikers hinweisen, er setzt die Reihe der Hexameter-Epen nicht fort. Vorbildlichkeit erkennt er Homer nur insofern zu, als bei ihm »jeder Augenblick unseres Lebens eine vollkommene Realität ist«, »sich aus sich rechtfertigt« 15 , weshalb er von keiner Idee der Charaktereinheit behindert wird, sondern den Menschen in seinen vielgestaltigen spontanen Regungen samt allem Widersprüchlichen darstellt 16 . Aber die gegenüber dem zu Erzählenden Abstand wahrende und so die Berichtform ermöglichende Haltung nimmt der Dichter des »Manas« nicht ein; er mißbilligt, daß dadurch der Bezug zu den Dingen eingeengt und in dieser Beschränkung verfestigt worden ist. Demgemäß lautet sein Programm: »Wir müssen wieder hin

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GK 93. Bemerkungen zum Roman, AL 21. Vgl. dazu Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946, S. 134.

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zum frischen Urkern des epischen Kunstwerks, wo das Epische noch nicht erstarrt ist zu der heutigen Spezialhaltung, die wir ganz irrig die Normhaltung des Epikers nennen. Es heißt meines Erachtens noch hinter Homer gehen.« 17 Dieser Schritt zurück führt von der Ilias zum Rigveda, der in Indien eine ähnliche Stellung hat wie in Griechenland das Epos Homers. In welchem Sinne sich dabei der Begriff des Epischen verändert, zeigt der Rat, den Döblin den Autoren gibt, nämlich »in der epischen Arbeit entschlossen lyrisch, dramatisch, ja reflexiv zu sein« 18 . Er will nicht das Rein-Epische, wie es am ehesten von Homer verwirklicht worein ist, kultiviert wissen, denn das ist für ihn nicht das Ursprüngliche, sondern eine spätere Spezialhaltung. Als »Urkern des epischen Kunstwerks« gilt ihm die Zusammengehörigkeit verschiedener Haltungen; so vereint der Rigveda Hymnen für das Gebet, Darstellungen für die Opferhandlung, Erläuterungen für das Verständnis. Auch das Drama sei in seinem Ursprung keineswegs auf die Reinheit der Gattung bedacht. Im Drama, sagt Döblin, sei ehemals die große pathetische Szene Zentrum und Hauptgegenstand gewesen. 19 Und Shakespeare lasse gelegentlich eine Person vor den Vorhang treten und erzählen 20 . Deshalb wird er auch den Bühnenautoren empfehlen, die Gattungen zu mischen, und er wird damit Bertolt Brecht einen wichtigen Anstoß zum epischen Theater geben. Dadurch daß Döblin in das epische Kunstwerk Lyrisches, Reflektierend-Meditatives, Dramatisches einschließt, durchbricht er die distanziert-betrachtende Erzählerhaltung, die das Leben in Gegenständlichkeit verwandelt. Vom Dichter soll gesagt werden können: »Er hat teilgenommen am Leben seiner Figuren.« 21 Döblin vergleicht ihn dem König David: wie dieser tanze er vor dem siegreichen Heer seiner Figuren; ja er gehört selbst zu seinen Figuren, er ist nicht bloß ein mehr oder weniger teilnahmsvoll oder gar wie Sauls Tochter Michal verständnislos blickender Zuschauer 2 2 . Der teilnehmende Dichter »verliert seine fühDer Bau des epischen Werks (1929), AL 114 f. — Möglicherweise hat, bei der musikalischen Begabung Döblins, auch die indische Musik, die bei den Auftritten indischer Tänzerinnen zu hören war, ihren Anteil an der Manas-Sprache. Daß nicht nur die Dichtung, sondern auch die Musik Indiens auf die europäische Kunst des 20. Jahrhunderts einwirkt, zeigt sich beispielsweise bei Olivier Messiaen, unter anderm an der Eliminierung des Taktgleichmaßes und der Übernahme additiver Rhythmen. 18 AL 113. " AL 20. 2 0 AL 112 f. 21 AL 114. 2 2 Vgl. S. 60. 17

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rende Haltung gegenüber dem Werk«, er legt Masken an, »tanzt um sein Werk herum« 2 3 . Zwischen Dichter und Figur kann der Abstand sogar völlig aufgehoben sein. Wenn es mitten unter andern Versen heißt: »O zuckendes Herz, das dies singt, wohin reißt du mich« (16), so hat man es gewiß mit einem Selbstgespräch des Dichters zu tun, zugleich jedoch fragt man sich, ob nicht Manas, von dem an dieser Stelle die Rede ist, das zuckende Herz sei. Wenn der Dichter an den Figuren teilhat, bewirken die Figuren, daß der Leser sich ihnen gegenüber nicht distanziert zuschauend verhält. »So sehe ich eines Tages eine epische Dichtung kommen, die nach erfolgter Sprengung der Tradition und Aufgabe der Berichtform uns ehrlich etwas angehen kann«, sagt Döblin zwei Jahre nach der Publikation des »Manas« 2 4 . Der Mißerfolg dieser Dichtung hat ihn nicht beirrt. Noch im »Epilog« schreibt er: »Das Buch war für mich in Ordnung.« 25 »Manas« ist eines von jenen Werken Döblins, die im Gegenzug zur vorausgegangenen Dichtung entstanden sind 26 und demzufolge auch darauf bezogen bleiben. Die Besonderheit dieses Versepos ist darum erst durch den Kontrast zum utopischen Roman »Berge Meere und Giganten« richtig zu fassen. Während man von diesem ohne weiteres eine Zusammenfassung geben und in ihr alles Wesentliche unterbringen könnte, ist dergleichen beim Manas-Epos unmöglich. Das weckt gegenüber »Berge Meere und Giganten« Vorbehalte. Es meldet sich der Verdacht, eine solche Inhaltsangabe könnte das Buch sogar ersetzen. Döblin selbst scheint diesen Roman mit Mißtrauen zu betrachten. Schon daß er 1924, einige Monate nach dessen Erscheinen, einen ausführlichen Kommentar dazu veröffentlicht, signalisiert ein Unbehagen. Denn mag es durchaus angehen, daß ein Dichter sein Werk mit diesen und jenen Winken begleitet, so hat es eher etwas Mißliches, wenn er eingehende Erklärungen abgibt 2 7 , und dies ausgerechnet bei einem Werk, das weniger als andere auf Erläuterung angewiesen ist. Aber vielleicht sollen die »Bemerkungen zu >Berge Meere und Giganten< « Rechenschaft ablegen über das, was nicht geglückt ist. Das Buch will ja darstellen, wie die Menschen, nachdem Wissenschaft, Technik und Industrie die Eroberung der Welt

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AL 121. AL 115. AL 390. Vgl. AL 387, 348. Das ist sonst auch Döblins Meinung; vgl. den Brief an Martin Buber vom 13. Dezember 1915, Β 80.

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beendet und im Kampf mit der Natur die Erde bewohnbar gemacht haben, die Waffen gegen die Natur niederlegen. Sie wollen nicht länger in dieser nun fast ausschließlich aus Gemachtem bestehenden Welt leben und finden zur Erde zurück. Das Buch will »ein besänftigender und feiernder Gesang auf die großen Muttergewalten« 28 sein. Dazu wäre jedoch eine andere Sprache notwendig gewesen, eine Sprache hymnischen Charakters. Döblin bewegt sich in diesem Roman nicht auf der richtigen Sprachebene; es drängt ihn zu einer andern Sprache, aber er findet sie noch nicht: »Wohin die Reise geht, weiß ich nicht. Die alten Versformen erscheinen mir unmöglich. Man soll nichts zwingen, nicht wollen und alles werden lassen.« 2 9 Döblin will nichts erzwingen, aber sein Roman »Berge Meere und Giganten« enthält sehr viel Erzwungenes. Allein schon im Entschluß, dieses Buch zu schreiben, kündet sich das an. »Kritiker hatten mir vorgehalten«, sagt Döblin mit Bezug auf den Wallenstein-Roman, »ich müßte immer mit großem historischen Apparat arbeiten. Sie bestritten also meine Phantasie. Das ärgerte mich. Ich wollte diesmal gewiß nichts Historisches machen.« 3 0 So herrscht das Willentliche von Anfang an vor, und da überrascht es nicht, daß das entstehende Werk eine wissenschaftlich-technische Utopie entwirft und die vom Menschenwillen gestaltete Welt in allen ihren Konsequenzen zeichnet. Selbst der Gesang auf die Natur hat etwas Gewolltes; sie zu preisen, bezeichnet der Autor als die »besondere Aufgabe« dieses Romans 3 1 . Wie aber soll mit einer derartigen Akzentuierung des Willensmäßigen die Phantasie zusammengehen, die doch im utopischen Roman freien Lauf hat wie nirgends sonst, die sich grundsätzlich vom Willen nicht gängeln läßt? Indes, es ist eigentlich gar nicht die Phantasie, die hier am Werk ist, sondern das vorstellende Denken. Döblin malt sich aus, wie Wissenschaft und Technik sich weiterentwickeln, wie synthetische Lebensmittel produziert werden, wie Strahlen die abgefeuerten Gewehrkugeln zum Stillstand zwingen, wie Eingriffe ins biologische Wachstum Stimulierungen oder Verzögerungen erzielen. Die dichterische Erfindung beruht hier weitgehend auf Extrapolation und ist in die Botmäßigkeit der Rationalität geraten, wo nicht der Willkür entsprungen. Der utopische Roman ist eher ein Werk der

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AL AL AL AL

351. 355. 348. 351.

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Phantastik als der Phantasie. Phantasten jedoch haben, wie im HamletRoman gesagt wird, keine Phantasie. 32 Was Döblin bei der Arbeit an seinem Roman vorschwebt, ist die Verknüpfung von Wirklichkeit und Phantasie: »eine völlig realistische und ebenso völlig phantastische Sache« 3 3 . Es soll das alte Postulat der »Tatsachenphantasie« 34 auf neue Art verwirklicht werden. Daß er dabei das Gewicht stärker als im Wallenstein-Roman auf die Phantasie legen will, erklärt sich aus der Furcht, im vorausgegangenen Werk könnten die Tatsachen zu sehr überwiegen. Ob das angestrebte Gleichgewicht erreicht worden und Dichtung jetzt — um es mit Strindberg zu sagen — »nicht Wirklichkeit, aber mehr als Wirklichkeit« ist, »nicht Traum, aber wache Träume« 3 5 , kann sich allein in der konkreten sprachlichen Gestalt zeigen. »Es sind im Geist glänzende und wunderbare Konzeptionen möglich«, sagt Döblin, »aber ohne die Berührung mit dem Wort kommt es zu keiner Geburt.« 3 6 An nichts liege dem Autor mehr als an der »Innigkeit der Verbindung zwischen seinen Einfällen, Ideen und der Sprache«; wie ihm die schlecht getroffene Sprache das Konzept verderben könne, so könne die gut konzipierte Sprache ihm die halbe Arbeit abnehmen, sogar beim Phantasieren und Erfinden. Die größte Gefahr für den Autor liege darin, daß er auf ein falsches Sprachniveau springe 37 . »Gelingt der Absprung nicht oder erfolgt er auf eine falsche Ebene, so verdirbt das Werk.« 38 Das Thema des utopischen Romans — der Mensch als »Generalvormund aller Naturobjekte« 3 9 , der die totale Bewirtschaftung, auch die der Geburten 40 , organisiert — zwingt die Sprache auf die rationalistische Ebene, auf welcher die Satzaussage, der Ort des vorstellenden Denkens, akzentuiert wird; da aber diese Ebene weder dem Wesen einer Dichtung noch der diesem Buch zugedachten Aufgabe des preisenden Gesanges gemäß ist, müßte eine andere Sprachebene gewählt werden, die es zugleich ermöglichte, das Verschiedene, das sonst auseinanderfallen würde, zusammenzuhalten.

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H 473. Brief an E f r a i m Frisch v o m 2. November 1921, Β 120. Vgl. S. 195. August Strindberg, Ein Traumspiel, verdeutscht von Emil Schering, Deutsche Gesamta u s g a b e , München 1919, S. 205. Die Dichtung, ihre Natur und ihre Rolle (1950), A L 243. Der B a u des epischen Werks (1929), A L 130. A L 243. Der Geist des naturalistischen Zeitalters (1924), A L 69. B M G 66.

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Wenn Döblin nach »Berge Meere und Giganten« von der indischen Welt angezogen wird, droht seiner Dichtung keine Gefahr von der Rationalität, er steht vor der umgekehrten Schwierigkeit. Statt eine rational bestimmte Welt in Dichtung verwandeln zu müssen, hat er eine vorrationale und daher fremdartige, phantastisch anmutende, tropisch üppige Welt mit dem auf Tatsächlichkeit eingestellten abendländischen Denken zusammenzubringen. Aber die Brücke zwischen den beiden Welten besteht ja schon; sie besteht, seit das Unbewußte entdeckt und als Tatsache anerkannt ist, seit der Romantik also. Döblin hat tragfähigen Boden unter den Füßen. Vielleicht leitet ihn ein Wort von Georg Brandes: »Es war kein Wunder, daß ein Augenblick in der Geschichte Deutschlands erschien, wo man mit Leib und Seele begann, den Geist und die Cultur des alten Indiens in sich aufzunehmen und sich zu eigen zu machen. Denn dies große, dunkle, traumreiche und gedankenvolle Deutschland ist in Wirklichkeit ein modernes Indien.« 41

Die Hadesfahrt Beginnt man Döblins indisches Epos als Bericht zu lesen, machen einen bald einmal diese und jene Einzelheiten ratlos. Was hat zum Beispiel der Anfang, der vom Sturm wetter berichtet (9), mit der anschließenden Szene zu tun? Hier ist davon die Rede, daß im Garten vor dem Königspalast Gesänge zum Lobpreis des siegreichen Feldherrn, des Königssohnes Manas, ertönen (9): somit muß in Udaipur eine andere Witterung herrschen, offenbar scheint die Sonne (12), jedenfalls ist nachts der Himmel sternenklar (15). Und wie soll man sich erklären, daß von Manas, den man doch eben im Palast am Fenster hat stehen sehen, unvermittelt gesagt wird: »Der Sturm schüttete Hagel, der bürstete Manas' Leib.« (17) Wo sind wir denn? Am Fuß der Himalaya-Kette, in der Gegend des Nanda Dewi? Oder im Radschputana-Staat Mewar, in dessen Hauptstadt Udaipur? Bald hier, bald dort? In einem Bericht pflegt man über den Ort nicht im ungewissen zu sein, auch dann nicht, wenn dieser wie Ogygia auf keiner Landkarte nachzuweisen ist. Die im Manas-Epos vorkommenden Namen von Bergen, Flüssen und Städten entsprechen alle der geographi-

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Georg Brandes, Die Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. I, Berlin 1872, S. 270; zitiert nach Leopold von Schroeder, Indiens Literatur und Cultur, Leipzig 1887, S. 6. - Eine Reihe von Indizien sprechen dafür, daß Döblin dieses Werk Schroeders gekannt hat.

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sehen Wirklichkeit, und doch weiß man nicht recht, wo man sich befindet. Und was ist eigentlich der Gegenstand der Erzählung? Die Siegesfeier in Udaipur, an der teilzunehmen der siegreiche Feldherr sich weigert? Eine reale Situation also? Aber es wird auch geschildert, wie Manas und der Schiwa-Priester Puto mit einer eisernen Kette aneinandergeschmiedet werden (16), einer Kette, die dann doch wieder dehnbar ist, als bestünde sie aus Gummi (19). Reales und Irreales durchdringen sich. Bald bildet sich Gegenständliches heraus, bald löst es sich auf. Döblin will offenbar so erzählen, wie in der Frühzeit der Dichtung erzählt worden ist: »Es waren damals Realität und Traum und Phantasie viel weniger getrennt als heute.« Der »Urzustand der Vermischung von Traum, Phantasie und Realität« sei auch heutzutage, so scharf und nüchtern die beiden Bereiche auseinandergehalten würden, anzutreffen, bei einfachen Menschen zum Beispiel 42 . Diesen Urzustand registriert Döblin auch bei den Dichtern, zum Beispiel dem von ihm sehr geschätzten Franz Kafka, der gesehen habe, daß es auf zweierlei ankomme: die Tatsachen zu kennen, aber besonders sie zu durchdringen, »darum lag ihm der Traum so« 4 3 . Dem Traum ist auch die Manas-Dichtung vergleichbar. Sie gibt, wie schon an der Ungewißheit des Ortes und am Fluktuieren des Gegenständlichen zu erkennen ist, Träume wieder. Daß Manas träume, erklärt Döblin zwar nicht ausdrücklich; damit würde er Traum und Wirklichkeit genau voneinander scheiden, und gerade dies will er nicht. Der Leser wird in den Träumenden versetzt, der nicht weiß, daß er träumt. Einen solchen Träumer hat Döblin schon in der 1917 gedruckten Erzählung »Der vertauschte Knecht« dargestellt, für den Leser freilich die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit nicht aufgehoben. Wenn nun der Dichter diese Grenze nicht bestehen läßt, darf man sie auch nicht rekonstruieren wollen. Dennoch wird dem Leser da und dort das reale Substrat vor Augen treten und ihm die Orientierung erleichtern, und schließlich wird ein Träumender ja auch einmal erwachen. Die folgenden Hinweise beabsichtigen keineswegs, Döblins Dichtung in die Berichtform zurückzuübersetzen, sie sollen die Verwandlung der Berichtform verdeutlichen; sie sind sich darüber im klaren, daß sie nicht immer Zuverlässiges über die Fakten aussagen können, setzen anderseits in keiner Weise voraus, daß Träume keine Realität seien. In diesem Sinn

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Der Bau des epischen Werks, AL 108. Die Romane von Franz Kafka (1927), AL 286.

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sei vom Anfang der Dichtung ein Bericht gegeben: Der Feldherr Manas wird in der letzten Schlacht des Krieges, den er an der Spitze seines Heeres siegreich gegen die feindliche Großmacht im Westen geführt hat, von einer plötzlichen Lähmung im rechten Arm befallen, nachdem er eben nochmals vom Pferd herab todbringend zugeschlagen hat. Die Schrecken des Krieges, die ihm kurz zuvor ganz zum Bewußtsein gekommen sind, wie er sich zu einem Feind, den er getötet, niedergekniet und ihn berührt hat - diese Schrecken, in seine Seele eingedrungen, beginnen sich an ihm auszuwirken und lassen ihn erstarren (12), am liebsten wäre er tot; auf dem Weg zurück in die Heimat verschwindet er, flieht in die Einsamkeit und verkriecht sich in unablässigem Schmerz, entkräftet von den langen Märschen, geschwächt vom Hunger, während der Monsunregen einsetzt und zum Unwetter anschwillt. Im langdauernden Schlaf physischer und psychischer Erschöpfung träumt er von den Siegesfeiern in Udaipur, von den Schlachten, von seinem Gang ins Totenreich. Der Einleitungsabschnitt — so läßt sich jetzt erkennen — ist aus der Perspektive des in den Bergwäldern verschwundenen Manas komponiert, der vom Wachzustand in den Halbschlaf hinübergleitet und nun die Nebel als Segelschiffe, dann, schon tiefer in den Traum versunken, als dunstweiße Seelen sieht. Später merkt man, daß Manas wegen der Tiger und Kobras (244) im dichtbelaubten Geäst eines Baumes Schutz gesucht haben muß, er ist auf einen Feigenbaum gestiegen, zerschlagen, zerschunden (64, 238); vorher war er offenbar auf einer Platane (19): der Priester Puto, der in Manas' Traum da oben auf den Ästen liegt, vor Kälte starr, ist hier nämlich eine Projektion des Träumenden, jener Teil von ihm, der am Leben bleiben will und den Todessüchtigen, Todeswilligen gleichsam an einer Kette zurückhält: »Steht keinem Lebenden zu, was du willst.« (13) Von der Platane muß Manas im Schlaf heruntergestürzt, beinahe zu Tode gestürzt sein, ein Ereignis, das entsprechend seiner traumatischen Wirkung immer wieder erwähnt wird, das heißt sich in der Seele des Träumenden wiederholt. So hört man, daß Manas von Puto an der Kette durch die Luft geschleppt werde, über die Abhänge des Himalaya, über schwarzgrüne Wälder, Platanenspitzen entgegen: Die Vögel schwirrten hoch, wie er mit Manas über die Wipfel fuhr, Die Affen wurden aufgescheucht. Aber er mußte, mußte herunter zwischen den Stämmen. Der Leichnam krachte schon zwischen den Ästen, Dumpf scholl er auf dem weichen Boden.

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Und langsam senkte sich Puto nach, hinterher, stand unten. Auf die Brust, auf das Gesicht war sein Manas gefallen. (80) Der Sturz vom Baum ist ein Leitmotiv, das sich in vielen Variationen durch die ganze Dichtung zieht. Er ist auf der Hadesfahrt, die nach der Schlacht am Narafluß begonnen hat, der entscheidende Moment: er bringt Manas an den Rand des Lebens, seine Seele löst sich vom Leib und gelangt ins Totenreich. Und er selbst, Manas, über einer zerschmetterten Brust, Sprudelndes Blut unter sich, wurde höher gehoben, gezogen, Nach rückwärts getragen, durch eine Blätterlücke, Durch den Wipfel des Baums. Und flog. (253) Die Blätterlücke, beim Sturz auf einen brechenden und dabei Manas schwer verletzenden Ast (75 f.) in den Baum gerissen, fällt Sawitri auf, die vom Stöhnen und Brüllen ihres Mannes erreicht worden ist (116) und ihn suchen geht: Ihre aufgerissenen Augen sahen in den Wipfel, durch die Astlücke. Und - sie — fühlte — alles, Es war hier — geschehen. (138) Selbst gegen den Schluß der Dichtung erzeugt der Sturz vom Baum nochmals ein Traumbild: Wie Schiwa an seinem Hals einen Atem fühlt und mit der Hand nachforscht, War es ein schlafender warmer Mensch, blutüberströmt, zusammengeknäult Mit aufgefetztem Rücken, Unförmig geschwollen die Beine, gedunsen die Lippen, die Ohren. (364) Döblins epische Dichtung hat im ständigen Zurückkommen auf die entscheidenden Ereignisse eine zirkuläre oder spiralförmige Struktur. Deshalb wäre es auch möglich, daß der Sturz vom Baum dem Epos vorausliegt. Denn bereits auf den ersten Seiten des Buches finden sich Stellen, die mit dem schlimmen Erlebnis in Verbindung gebracht werden können, ganz eindeutig jedenfalls die folgende: Und einen Stich empfand Manas in der Brust, Als hätte ihn ein kalter Säbel aufgespalten. (16)

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Manas könnte schon zu Beginn auf jenem Feigenbaum sein, auf den er zerschlagen, zerschunden gestiegen ist und von dem er als Gesundender auf den Boden zurückkehren wird, als einer, der in tiefem Schlaf die lebenbedrohende Krisis überwunden hat: Lag Manas, schlief schlief Manas, Auf einem Feigenbaum schlief Manas. Die Äste waren ausgebreitet, der Feigenbaum trug ihn. Und wie sich Manas warf, wippten die Äste, bogen sich. Rollte klatschte Manas in den aufgeweichten Boden, Krümmte sich zusammen, das Gesicht bespritzt, Die Füße in einem Tümpel. Er wischte sich den Mund, schnappte. Federnd stieg das Gezweig wieder auf. Er sah es federn. Im Nu sprang er auf. Stand stand, wischte sich den Mund, Sah: ein Baum, durchschimmernde Eisberge. (238) Die Frage nach dem realen Substrat in dieser weitgehend von Traumbildern beherrschten Dichtung läßt zwei Themen erkennen, die auch in andern Werken Döblins begegnen: die Krisis des Erfolges und die Krisis der Ohnmacht. Das Verschwinden und wochenlange Verschollensein des Manas (296), der »auf einem Thron gesessen« hat (63), erinnert an Kaiser Ferdinand. Beide geben dem Drang zu verschwinden in dem Augenblick nach, da sie siegreich sind, wobei freilich zu sagen ist, daß es sich bei Manas um ein verzweiflungsvolles, bei Ferdinand um ein »seliges« Verschollensein handelt 44 . Dem siegreichen Manas, den niemals einer im Spiel hat besiegen können, im Kampf keiner besiegt hat (70), ist bewußt geworden, daß alles Siegen nichts nutzt, daß es einerlei ist, ob er die Feinde schlägt oder die Feinde ihn schlagen (12). Nach dem Grundsatz, daß eine Bewegung, die ihr Äußerstes erreicht hat, an ihrer Grenze sich umwenden muß, heißt es von Manas: »Als er genug gesiegt hatte, drängte er weg aus seinem Palast.« (20) Döblin illustriert wiederum das Wort aus dem »Tao-te-king«, das er im Wang-lun-Roman zitiert: »Die Welt erobern wollen durch Handeln mißlingt. Die Welt ist von geistiger

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Vgl. S. 221 f. - Von seliger Verschollenheit spricht - freilich mit anderer Nüancierung Eichendorff. In der Novelle »Die Glücksritter« lautet der letzte Satz: »Siglhupfer aber blieb fortan in den Wäldern selig verschollen.« Vgl. dazu Paul Stöcklein, Joseph von Eichdorff, Rowohlts Monographien, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 137.

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Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie; wer festhält, verliert sie.« 4 i Im Unterschied zum utopischen Roman »Berge Meere und Giganten«, der die Eroberung der Welt und das Ende dieser Eroberung darstellt 46 , geht es im Manas-Epos um das Festhalten, um die Verteidigung des Besitzstandes, wie ein Blick auf die historischen Verhältnisse lehrt. Da der Mogul-Kaiser Jehanghir erwähnt wird (327), läßt sich das Kriegsgeschehen zeitlich situieren. Jehanghir, dessen Vater Akbar 1567 Tschitor zerstört hatte (15) 4 7 , eroberte 1614 Udaipur und unterwarf nach fünfjährigem Krieg, nach siebzehn Niederlagen, den letzten unabhängigen Radschputenstaat Mewar 4 8 , der Königssohn Manas ist also der in vielen Schlachten unbesiegte Verteidiger, der das Land vor dem Zugriff des Großmoguls rettet (9). Indem Manas den Kampf aufgibt, nimmt er die Kapitulation seines Vaters, des Königs Jajanta — Rana Amra Singh — , voraus. Der Herrscher von Udaipur wird sich der Einsicht nicht verschließen können, daß er trotz erfolgreichem Widerstand sein Land vollständig ruiniert, wenn er auf weiterer Verteidigung beharrt. Daß sich Manas vom weltbejahenden, heldischen, sieghaften, triumphierenden Daseinsgefühl abwendet und als einer, der das Dasein nicht mehr erträgt, der nicht länger sein will, der er ist (44), den Weg der Verneinung geht und weggenommen, vernichtet, ausgelöscht sein will (48), darin ist ein Wesenszug der indischen Geistesgeschichte zusammengefaßt: die Ablösung des vedischen Zeitalters durch asketische Gesinnung 4 9 . Von der Begegnung mit dem Tod ins Herz getroffen wie der Königssohn Siddhartha 50 , den Krieg verabscheuend wie Aschoka nach seinem Sieg über das Königreich von Kaiinga, der hunderttausend Feinden das Leben gekostet hat, sieht Manas das Höchste darin, »zu erlöschen, nicht mehr zurückzukehren zu dieser Welt« 5 1 :

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SW 48. - Vgl. Tao-te-king, Nr. 29. Döblin hat den Wortlaut - nicht den Sinn - der Ubersetzung Richard Wilhelms erheblich verändert; beim Schluß des Zitats dürfte es sich allerdings um ein Versehen oder einen Druckfehler handeln, bei Wilhelm heißt es nämlich an dieser Stelle: »Wer handelt, verdirbt sie. Wer festhält, verliert sie.« (Erstausgabe von 1911)

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Vgl. AL 351. Von dieser Eroberung, bei welcher sich die Einwohner nach alter Radschputenweise das Leben nahmen, ist die Eroberung Tschitors durch den Panthankaiser Alla-uddin im 13. Jahrhundert (297) zu unterscheiden. Zur Geschichte dieses Staates vgl. James Tod, Annals and Antiquities of Rajasthan, Vol. I, London 1829, Annals of Mewar p. 211—507. Auf diesem mehrfach aufgelegten Werk beruhen auch andere Darstellungen; Döblins Kenntnisse gehen, ob direkt oder indirekt, auf diese Quelle zurück. Vgl. dazu Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Zürich 1961, S. 369. 51 Buddho und die Natur, a. a. O., S. 1194. Vgl. S. 183.

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»Ah! Nicht leben! Nicht leben! Und nicht geboren werden! Und niemals wieder geboren werden.« (35) Nun aber bleibt es nicht bei solcher Weitabgewandtheit, sie ist für Manas ein Durchgangsstadium, er kehrt nach seinem Gang ins Totenreich zur Erde zurück. In der tiefsten Ohnmacht, in der Bewußtlosigkeit ist eine Wende eingetreten. Davon handelt schon die Erzählung »Der Kaplan«. Der Priester Anselm ist nach dem fatalen Sturz vom rasend schnellen Gefährt drei Wochen lang bewußtlos, die Arme gelähmt, sozusagen in der Todesstarre, er hält sich im Totenreich auf, in der Hölle 52 , und dann kehrt er ins Leben zurück. Ähnliches ist an Franz Biberkopf dargestellt, der einige Wochen in einem Zustand der Starrheit daliegt 53 , besinnungslos und abwesend 54 , schwächer und schwächer werdend und schließlich dem Tode nahe, und dann doch eine »Rückfahrkarte« bekommt 55 . Die Krisis der Ohnmacht, dieser Vorgang in der Schlafversunkenheit, der darüber entscheidet, ob einer dem Tod verfällt oder »den Zugang zu dem Lebensquell« 56 findet und in ein neues Leben hineinkommt, ist in der Erzählung vom Kaplan aussparend wiedergegeben, als die Zone, in der die Sprache verstummt und die Dichtung endet. Jetzt dagegen bildet diese Krisis das Zentrum der Dichtung; sie hätte auch die Mitte des zweibändig geplanten Biberkopf-Romans einnehmen sollen. Das Dichtertum läßt sich von den in der Tiefe des Daseinsgrundes verborgenen Vorgängen herausfordern und in Anspruch nehmen. So wichtig das Geschehen in den Traumtiefen ist, sosehr die Dichtung davon geprägt ist — weit stärker als durch das tatsächliche Geschehen —, es kann nicht sein Bewenden damit haben, daß man das Manas-Epos als Abbildung innerer Vorgänge auffaßt. Schon der dauernde Wechsel zwischen Autoren- und Figurenperspektive - eine Eigentümlichkeit bereits der »Ermordung einer Butterblume« 57 — gibt zu verstehen, daß den beiden Blickrichtungen ein Drittes zugrunde liegen muß. Soweit die Dichtung Bericht ist, wird sie von der Bewußtheit geleitet, soweit sie das Traumleben wiedergibt, läßt sie sich auf Unbewußtes ein, aber der

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E 137. ΒΑ 462. ΒΑ 472. ΒΑ 492.

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Ρ 228.

57

Vgl. S. 55 ff.

237

Gegensatz von Bewußtheit und Unbewußtem setzt die Nichtzweiheit voraus. Mit dieser muß die Dichtung ebenfalls zu tun haben. Dann wäre Manas noch anders als im Zustand des Traumschlafes oder der Wachheit dargestellt. Muß etwa der Zustand tiefer Bewußtlosigkeit besonders beachtet und vom Traumschlaf unterschieden werden? Ist das, was in dieser Bewußtlosigkeit vor sich geht, auch ein Thema der Dichtung, ein anderes als die Traumerscheinungen? Döblin nennt die tiefe Bewußtlosigkeit »schwarze dichte Bewußtlosigkeit« und »himmelsüße Bewußtlosigkeit«: sie nimmt alles Grausen und Toben von Manas (61). Sie ist nicht zugänglich, weder der Beobachtung noch der Einfühlung. Kein Traum meldet von ihren Geheimnissen. Damit ist die Grenze des Sagbaren erreicht. Aber gerade über diese Grenze setzt sich die Dichtung hinweg. Sie dichtet die »traumlose, sprachlose« Wirklichkeit (227), sie wird zu dieser Wirklichkeit und ist als solche nicht Darstellung von etwas, sie dichtet den Bereich jenseits der Entgegensetzung von Bewußt und Unbewußt, und deshalb ist sie weder ein Epos in der objektivierenden Berichtform noch eine »subjektive Epopee« 5 8 , die die Welt im Spiegel der individuellen Seele zeigt. Die epische Dichtung »Manas« bleibt auch nicht bei jener späten Spielart der subjektiven Epopee stehen, welche sich des inneren Monologs mit seinem assoziativen Kräftespiel bedient 59 , ebensowenig bei der »gut dichterischen Darstellungsart, die die Art des Traumes nachahmt«, wie sie uns seit Strindbergs »Nach Damaskus«, »Rausch«, »Totentanz« vertraut geworden ist 6 0 . Dichtung gestaltet sich in der »Entfernung von der Realität«, wie Döblin 1928 in einem Aufsatz erklärt, der sich ohne Zweifel auf das Manas-Epos bezieht. Diese Entfernung von der Realität will nicht dahin verstanden sein, daß von der Realität abgesehen werden solle, denn »Dichten verlangt einen sehr scharfen Blick auf die Realität«. Seine Dichtung will also die Realität nicht ausklammern, sondern umfassen, sie soll als »Zusatz zur Realität« aufgefaßt werden: »Der Mensch wächst im Kunstwerk über die vorhandene Natur hinaus.« 61 Wenn Döblin die Realität, die es zu durchstoßen gelte 6 2 , als das Vorhandene

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60 61 62

Goethe, Maximen und Reflexionen, Artemis-Ausgabe, Band 9, S. 511, Nr. 133. Ich gehe mit Heinz Graber nicht einig, wenn er in seiner instruktiven Dissertation erklärt, im »Manas« erscheine der epische Bericht einzig im innern Monolog des Autors und die Wirklichkeit, von der berichtet werde, sei ausschließlich die des Traumes. (Alfred Döblins Epos »Manas«, Bern 1967, S. 92.) Vgl. Döblins Rezension von M a x Brods Schauspiel »Die Fälscher« (1922), KM 60. Schriftstellerei und Dichtung, AL 91 - 96. Der Bau des epischen Werks (1929), AL 107, 132.

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bezeichnet, so ist sie dasjenige, was sich beobachten, registrieren, beschreiben, abbilden und nachbilden läßt. Daß das Wesen der Kunst jedoch nicht darin bestehen könne, einfach das Vorhandene nachzuahmen, ist schon im Wang-lun-Roman programmatisch festgehalten. Dort sagt Kaiser Khien-lung, der in der chinesischen Literaturgeschichte einen Platz als Lyriker hat: »Eine Bauersfrau, wie die dort drüben, wirft das weiße Korn in den Boden; ein Knabe führt eine Karre hinter ihr her mit Jauche. Lerchen singen, Herbst. Man hat keinen Anlaß, diesen Anblick — zu dichten; er ist unübertrefflich vorhanden. Immerhin könnte ich in die Versuchung kommen, ihn zu dichten, aber dann übernehme ich eine Verpflichtung gegen — den Anblick.« 6 3 Das Wort »Anblick« nennt die Realität, »Verpflichtung« meint den Zusatz zur Realität. Schwer auszudeuten ist freilich, was »Verpflichtung« hier heißt. Khien-lung fügt bei: »Nämlich die Verpflichtung, ihn ehrerbietig zu schonen, den Geist dieser Minute unberührt zu lassen, ihm als irdisches Geschöpf zu opfern.« Als Dichter verhält sich der Kaiser so, wie im »Tao-te-king« gefordert ist: »Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren.« 64 Das Gedicht versucht hier also nicht, den Geist jenes Moments, der »vor fünf Tagen lebte«, festzuhalten, indem es ihn reproduziert oder indem es aus dem Erblickten das zeitlose Wesen, die Idee, »herausreißt«, wie sich Dürer ausdrückt, das heißt in die Zeichnung, in den Riß bringt. Das Schöne ist hier nicht mit Hegel als das »sinnliche Scheinen der Idee« zu bestimmen; Döblin verknüpft es, der Etymologie folgend, mit »schonen«. Der Dichter, eingedenk dessen, daß er ein irdisches, ein sterbliches Geschöpf ist, will sich der Dinge nicht bemächtigen, er schont das Erblickte, läßt es in Frieden, er überläßt das Seiende dem, worin es eingelassen ist: dem Walten des Urgrundes. So gestaltet er das Momentane um zur »verehrungswürdigen Minute« 6 5 und bringt damit das Schöne zum Vorschein. Die Verehrung weiß, daß die Minute sich nicht selbst zu eigen hat, sondern der Ewigkeit zugehört. In solchem verehrenden Wissen Dichter sein heißt: sich ebenfalls nicht zu eigen haben, sich loslassen, den Mut haben, inneren Verzauberungen — also Verwandlungen — zu erliegen, und sich ihnen zum Opfer machen. 66 Der Dichter in dieser Zeit hat nicht die Gestalt eines Herrschers, sondern die des Opfers. Mit diesem Wandel des Dichtertums ist Döblin in seinen Werken immer

SW SW 65 SW " AL 63

64

279. 48. 280. 122.

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wieder beschäftigt. Der Mächtige, der entmachtet wird oder der Macht entsagt, ist die Figur, die ihn anzieht. »Die Hegemonie des Autors ist zu brechen« 67 : dieser frühe Satz spricht Döblins Grundthema aus. Wenn Döblin als Realität das Vorhandene bezeichnet, sieht er den Dichter bei seinem Schaffen dem zugewandt, was nicht den Seinsmodus der Vorhandenheit oder gar Zuhandenheit annimmt, der »überrealen Sphäre«, die aber nichts Irreales, sondern das höhere Reale ist, »die Sphäre einer neuen Wahrheit und einer ganz besonderen Realität« 6 8 . Dichtung als Zusatz zur Realität handelt davon, daß die Vorhandenheitsrealität in eine höhere Realität eingelassen ist. Es gilt bei der ManasDichtung zu erkennen, daß das im Bewußtsein Vorhandene — dasjenige, worüber berichtet werden kann — vom Unbewußten umgriffen ist und daß darüber hinaus auch dieses, das ja immer noch im Bereich des Registrierbaren, Feststellbaren, somit der Vorhandenheit liegt, seinerseits in etwas Weiteres eingelassen ist. Während der Bewußtlosigkeit, in welcher Manas nichts sieht, nichts fühlt, nichts hört (61), bemächtigen sich Dämonen seines Leibes, sie dringen in ihn ein, in das Gehirn, die Brust, das Gedärme (67), sie treiben ihren Spott mit dem Leib (62), treiben Unfug mit den unabhängig vom Bewußtsein tätigen Organen, sie desorganisieren die leiblichen Funktionen, erzeugen in der Muskulatur Schüttelkrämpfe wie bei epileptischen Erkrankungen (60) oder langandauernde krampfhafte Starre, so daß er wie eine Säule steht, die Gelenke versteift (37, 67). Diese leiblichen Erscheinungen können dem Traum als Material dienen; so träumt Manas, er stehe in Udaipur in seinem Palast am Fenster und müsse sich Stunde um Stunde die Siegesfeier anhören (10). Es müssen also drei Zustände unterschieden werden, derjenige völliger Bewußtlosigkeit, derjenige der Wachheit sowie ein Zustand dazwischen, der durch die Träume gekennzeichnet ist. Manas ist in seiner Bewußtlosigkeit den schrecklichen Dämonen Schanda, Munda und Nischumba (66) 6 9 nicht völlig ausgeliefert. Sawitri, seine Gattin, hat sich ins Totenreich begeben, um vom Sterbensgott Schiwa (48) ihren Mann zurückzuerbitten (104). Beim weiblichen Schatten, der gleichzeitig mit den Dämonen Manas erreicht, dürfte es sich um Sawitri handeln; das Staunen der Dämonen deutet darauf hin, und auch die Formulierung:

67 68 69

AL 18. AL 110 f. Man muß darauf achten, daß das Wort »Dämon« im Manas-Epos nicht die gleiche Bedeutung hat wie im »Wang-lun«; vgl. dazu S. 159.

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Und Manas hielt still und ließ sich, als wäre er ein Toter, Aufheben von dem Schatten, dem Weib. (63) Der Dämon »zog ihn an den Haaren hoch«, sie hebt ihn auf, wie Döblin auch im »Epilog« sagt: »Sawitri, seine Frau (es ist eine Göttin, die göttliche Liebe), hebt ihn auf.« 7 0 Dasselbe Wort findet sich in der Widmung der »Schicksalsreise«: »Diese Schrift widme ich meiner Frau Erna, die den schiffbrüchigen Robinson, wie man lesen wird, am Strand aufhob und ihn, dazu sich selbst und unsern Jüngsten rettete.« 71 So geht es um die Frage, wer den Sieg davontragen wird, Sawitri oder die Dämonen, die Liebe, die den Gott Schiwa um Erbarmen anflehen will, oder der Hohn und Spott, der wähnt, Schiwa vermöge gegen ihn nicht einzuschreiten (66) und werde dem begonnenen Zerstörungswerk den Lauf lassen. Sowenig mit den Dämonen rein seelische Geschehnisse abgebildet werden, sowenig ist die Gattensuche Sawitris als innerpsychischer Vorgang zu interpretieren. Gewiß erscheint die Gattin, ihre zu jedem Opfer bereite Liebe in Manas' Träumen — daß er von Sawitri träumt, wird zum Beispiel dort erkennbar, wo das Traummotiv »Wie lange soll ich stehn am Fenster« eingeblendet ist (101) —, aber seinen Träumen geht ihre Liebe voraus, ohne dieses Zugrundeliegende wären sie nichts als Einbildungen. Döblin dichtet dieses Zugrundeliegende und übersteigt dabei jeden möglichen Realismus. Wäre er innerhalb des Realismus geblieben, so hätte er etwa dargestellt, daß Sawitri als Witwe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird und so dem Gatten in den Tod folgt, wie das hauptsächlich in der Kriegerkaste, bei den Radschputen also, üblich war und worauf im Manas-Epos auch angespielt wird (97). Immer noch innerhalb des Realismus bliebe die Darstellung, wenn gezeigt würde, wie Sawitri in ihrem Innern um die Todesgefahr weiß, in der ihr Mann ist, wie sie ihn mit der Seele sucht und am liebsten, falls er sterben müßte, auch den Tod erlitte, wovon ebenfalls die Rede ist (100, 104). Aber Döblin dichtet - in der Nachfolge des Orpheus-Mythos und der Divina Commedia, die ihm das Vorbild der als Zusatz zur Realität verstandenen Dichtung ist 7 2 — die Fahrt zu den Toten, die Vereinigung mit dem wiedergefundenen Gatten (224), seine Wiedergeburt (226), lauter Nichtfakta, und »doch niemals symbolisch«, um ein Wort, das er über Kafkas 70 71

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AL 389. Schicksalsreise, Bericht und Bekenntnis, Frankf. a. M . 1949. Aus unerfindlichen Gründen ist im Neudruck (AS) diese Widmung nicht wiedergegeben. AL 96.

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Dichtungen gesagt hat 7 3 , auf ihn selbst zu beziehen. Die Dichtung durchstößt hier gemäß Döblins Forderung die Realität. Sie überschreitet den Bereich des Seelischen, nicht nur den des bewußten Seelischen, sondern auch denjenigen Bereich des Seelischen, der um das Unbewußte erweitert ist. Döblin hat sich für den Gang Sawitris ins Totenreich auf die SawitriSage des Mahâbhârata gestützt, desgleichen auf den dort eingefügten Gesang von Damajantis Suche nach ihrem verschollenen Mann, einer Suche, die alle Schrecken des Urwaldes und Schmähungen, Mißhandlungen, Verfolgungen auf sich nimmt 7 4 ; er zieht aber auch Gedankengut der Upanischaden heran, die in der Dichtung übrigens erwähnt sind (245). Einige wenige Hinweise müssen hier genügen. In der BrhadâranyakaUpanischad 75 liest man, daß während des Tiefschlafes, im traumlosen Schlaf also, die Seele eins werde mit Brahman, mit der Allseele, der ewigen, unendlichen Kraft, die alle Welten schafft und erhält. 7 6 Diese unio mystica mit der Gottheit wird durch einen Vergleich anschaulich gemacht. So wie einer, von dem geliebten Weib ganz umschlungen, nicht mehr wisse, was außen oder innen sei, so wisse jener Menschengeist — »manas« —, vom Geistigen ganz umschlungen, nicht mehr, was außen oder innen sei. 77 Der Vergleich dient dazu, den Uberstieg ins nicht mehr Vorstellbare zu vollziehen, aus der Zweiheit in die Nichtzweiheit zu gelangen, zugleich mit der Unterscheidung von innen und außen auch jede andere Antithetik wie zum Beispiel die von früher und später zu überwinden: »Brahman hat nichts vor ihm und nichts nach ihm, nichts was in ihm oder was außer ihm wäre.« 7 8 Das Brahman ist nicht das, was vom Denken ausgedacht wird, sondern das, wodurch das Denken denkt. »Was man mit dem Auge nicht sieht, durch das die Augen sehen, das erkenne als das Brahman. Was man mit dem Ohr nicht hört, durch das das Ohr hörend wird, das erkenne als das Brahman.« 7 9

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AL 285. Beide Sagen sind durch die Nachdichtung Friedrich Rückerts bekannt geworden. Die folgenden Zitate nach Karl F. Geldner, Die Religionen der Inder, Vedismus und Brahmanismus, in: Religionsgeschichtliches Lesebuch, hg. von A. Bertholet, Tübingen 1908. - Aus der erwähnten Upanischad (Brh. Up. 3,2,13) stammt, verkürzt und etwas umgestaltet, die Stelle am Schluß des »Manas« (370): »Was bleibt vom Menschen,/ Der seine Seele dem Feuer abgibt,/ Seinen Atem dem Wind,/ Seine Augen an die Sonne,/ Sein Blut an das Wasser?« (Vgl. Geldner, S. 189.) Geldner, S. 187. Ebd., S. 196. Ebd., S. 182. Ebd., S. 183 (Kena-Upanischad).

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Auch im Manas-Epos ist diese Richtung über die Sinnenwelt hinaus ins rein Geistige, in den Bereich jenseits der Unterscheidung von Objekt und Subjekt eingeschlagen, bis in der bloßen Nennung heiliger Silben wie »om« (218) ein Äußerstes an nicht-vorstellendem Denken und ungegenständlichem Sprechen erreicht ist, vergleichbar Kandinskys Gemälden, in denen Döblin die Parallele zu Arno Holz' »Phantasus« sieht: bunte Flächen und farbige Linienzüge, die zu einer Komposition zusammenschwingen, vor der es »verboten ist, zu denken und zu fragen: was soll das?« 80 Aber damit, daß Sawitri und Manas sich finden und umarmen, tritt eine Wende ein. Die Umarmung, die im Upanischad-Text als Bild gemeint ist, als Verwandlung der Wirklichkeit ins Literarische und damit als Weg zum übersinnlich Geistigen, bekommt den umgekehrten Sinn: den der Ermöglichung konkreter Wirklichkeit, der Rückkehr von der Hadesfahrt zur Erde. Auf dem gleichen Weg, der ihn vom wachen Zustand zum Traumschlaf und weiter zum Tiefschlaf geführt hat, in welchem einer keinen Traum mehr sieht, kehrt Manas zurück, blickt vom Zwischenbereich her ins Jenseits und ins Diesseits 81 und erwacht zu neuem Bewußtsein (238 ff.). Ihn begleitet ein Wissen, das er vorher nicht gehabt hat. Er gehört nicht mehr zu jenen Menschen, von denen es heißt: Gleichwie den verborgenen Goldschatz die des Ortes Unkundigen nicht finden, obwohl sie dicht darüber wandeln, so finden sie, obwohl sie Tag für Tag im Tiefschlaf dort eingehen, die Welt des Brahman nicht. 8 2 Möglich wird die Abwendung von dem Drang, zu erlöschen (336), zu verschwinden und nicht wieder zu sein (204), weil das Einswerden mit dem Brahman — mit der in allem wirkenden, schaffenden Kraft — das Vereintsein mit der Liebe ist. Das Umfassende, in welchem alles Seiende sich hält, ist wohl Geist zu nennen — weshalb es das NurMaterielle gar nicht gibt —, man muß jedoch hinzusetzen, daß der Geist Geist der Liebe ist. Wenn Sawitri die »göttliche Liebe« heißt 8 3 , ist die Liebe nichts nur Menschliches, sie ist vielmehr das Wesen des schöpferischen Urgrundes. Daher kann sich Sawitri von Schiwa Hilfe erhoffen. Sie ruft ihn vor der Gatten wähl um Beistand an: drei Tage lang betet

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81 82 83

Einführung in eine Arno-Holz-Auswahl (1951), AL 161. - Döblin ist durch Herwarth Waiden früh mit der Kunst Kandinskys und Klees in Berührung gekommen. (Vgl. Journal 1952/53, AS 471.) Geldner, S. 194 f. Ebd., S. 187. Vgl. S. 241 (AL 389).

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sie zu ihm, und dann wählt sie unter den sieben verschleierten Fürstensöhnen ohne ein Zögern den ihr von Gott bestimmten Manas (87). So wird der »Seelenbeglücker« Schiwa ihr auch helfen, wenn sie ihn darum bittet, ihr ein zweites Mal Manas zu geben. Schiwa ist nicht lediglich Töter, Beender, wie Manas zunächst wähnt; und der Belebende und Beseelende (47) ist er nicht in dem Sinne, daß erst das Sterben Leben sei (46). Zu Manas sagt denn auch die Dichtung: Was weißt du von Schiwa? Und wenn du ein Gesicht von ihm kennst, Kennst du das andere? (55) Die Frage nach dem Wirken des Gottes findet nicht nur im Beispiel Sawitri eine Antwort, die Dichtung als Ganzes beantwortet sie, indem sie vom Thema »Sehnsucht« so sehr geprägt ist, daß man sagen möchte, der Grund, auf dem das Dasein beruhe, sei seinem Wesen nach Sehnsucht. 84 Von Sawitri heißt es, sie sei alle Stufen der Sehnsucht gegangen (97), und Manas sagt einmal: »Ich bin nur Sehnsucht nach ihr« (338); aber auch sein Verlangen, dem erschlagenen Feind, dem Bruder, in den Tod zu folgen, ist Sehnsucht. Wenn die glühende indische Ebene den Monsunregen herbeiwünscht, wenn die Klage ertönt: »Die liebe Sonne ist mir entrissen« (12), oder wenn die liebe Nacht erwartet wird, damit sie die schreckliche Sonne zudecke (258), allemal ist Sehnsucht zum Ausdruck gebracht, nicht anders als in den eingeflochtenen Gesprächen der Toten. Der Grundzug der Sehnsucht, auch in den indischen Kosmologien als Antwort auf die stillschweigend vorausgesetzte Frage, warum überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts sei, immer wieder anzutreffen 85 , dieser Grundzug bringt dem zurückkehrenden Manas die ganze Vielfalt des Lebendigen vor das innere Auge: Er dachte: »Ich muß die Erde wiedersehen. Muß sehen, wie sie blüht. Ist etwas anderes als Tote jagen.

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Die Annahme, daß Döblin Schriften Schellings gekannt hat, so die Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, findet in diesem Thema eine Stütze wie auch in andern Themen, die er mit Schelling gemeinsam hat, z. B. dem der Identität und Differenz, der Vermischung des Menschen mit Gott, der Verkehrtheit. Die dichterische Gestaltung des letzten Themas sei mit folgender Stelle aus dem »Manas« belegt (35): »Taumelnd Manas sah seine Knie wandern, seine Füße abwärts steigen./ Stammelnd: >Und niemals niemals geboren werden.Manaseigenen< Stil, den ich ein für allemal fertig als meinen (>Der Stil ist der Menscheigenen< Stil.« In eine derartige Konfiguration zusammengehöriger Gegensätze weist Döblin, wenn er — ein Dichter der Stilpluralität — sich an die Seite Kafkas stellt 10 , bei dessen Romanen man von gar keinem Stil sprechen könne 1 1 . Die Stilpluralität, die dadurch entsteht, daß das künstlerische Schaffen den Stil aus dem Stoff verschiedener Zeitalter kommen läßt, enthält eine ausgeprägte geschichtliche Dimension. Daher könnte man vermuten, Stilpluralität sei eine Erscheinung des Historismus, einer Epoche, in der man die Fähigkeit habe, sich in vielerlei Stilen zu bewegen, nicht aber die schöpferische Kraft zu einem eigenen Stil. Dann wäre also an die Stelle des Dichtertums das Literatentum getreten? Da Hofmannsthal in seinem Werk keinen einheitlichen Stil aufweist, und zwar weder in den Bühnenstücken noch in den Erzählungen, bezeichnet man ihn gerne als den typischen Literaten. Bedenkt man jedoch, an welche Voraussetzungen dieses Urteil gebunden ist, wird seine Gültigkeit fraglich. Es beruht ja auf der als selbstverständlich erachteten Annahme, daß die Zeit ein

Gemäß einem Kapitel der im Erscheinen begriffenen Hans-Brühlmann-Monographie von Lothar Kempter. ' Pablo Picasso, Mensch und Werk, hg. von Domenico Porzio und Marco Valsecchi, a. a. O., S. 87. 10 Die deutsche Literatur (1938), AL 190. 11 Die Romane von Franz Kafka (1927), AL 286. 8

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Nacheinander sei, auch ein Nacheinander von Epochen, deren jede, per definitionem, einen neuen Stil hervorbringe, und daß sich ihr Ablauf jeweils in Aufstieg, Vollendung und Niedergang gliedern lasse, wobei Vorläufern und Epigonen ihre Rolle zugeteilt wird. In diesem Verständnis von Zeit hat die Simultaneität - die Gleichzeitigkeit des Gegenwärtigen mit dem Gewesenen und dem Künftigen - keinen Platz; das Nacheinander wird nur in seinem antithetischen Bezug zur Zeitlosigkeit, nicht aber in einer Relation zur Gleichzeitigkeit gesehen. Dies alles muß sich verändern und umgestalten, sobald man auf die Gleichzeitigkeit als das Zugrundeliegende aufmerksam wird. Die Abfolge ist dann nicht mehr einziges Gesetz, sie ordnet sich in etwas Umgreifendes ein. Dementsprechend sind die Vorstellungen von den historischen Abläufen zu revidieren. Man kann sich nicht mehr damit begnügen, das Nacheinander ins Auge zu fassen. Geschichtsschreibung kann nicht die Konstruktion einer Sukzessivbewegung sein, die Literaturgeschichte nicht aus einer Folge von Stilepochen bestehen. Das Bestreben, im Umgang mit Werken der Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei das Hintereinanderdenken zu überwinden, kann sich an das früher zitierte Wort Picassos 12 halten: »Für mich gibt es in der Kunst weder Vergangenheit noch Zukunft. Lebt ein Kunstwerk nicht in der Gegenwart, so lebt es überhaupt nicht. Die Kunst der Ägypter, der Griechen, der großen Maler von gestern ist nicht Kunst der Vergangenheit. Sie ist Kunst von heute.« Die Künstler der Döblin-Generation zwingen den Historiker zum Umdenken. Er muß erkennen, wie unzureichend seine Basis ist, nämlich die auf das Historische, d. h. auf die Abfolge der Ereignisse reduzierte Geschichte. Er wird dann auch der Rede vom Aufstieg und Niedergang mißtrauen. Vielleicht ist ja das, was Niedergang genannt wird, unter andern Gesichtspunkten als Aufstieg zu bezeichnen. Man ist jedenfalls nur deshalb zur Ansicht gekommen, die Stilpluralität sei der Ausdruck einer sinkenden, unschöpferischen Periode, weil man, im Banne hegelianischer Zeitauffassung und Geschichtsphilosophie, völlig verkannt hat, daß die schöpferischen Kräfte dieser Periode mit der Gleichzeitigkeit beschäftigt sind. In seiner Betrachtung »Über das Licht« 13 verlangt Robert Delaunay, daß man nicht bei der Sukzessivbewegung, »sozusagen beim Takt der Uhr«, stehenbleibe, er fordert von der Kunst, »sich zu Gesichten vielfachen Zusammenklangs zu erheben, eines Zusammenklangs von Farben, die sich

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Vgl. S. 153. Vgl. S. 288.

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teilen und in gleicher Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließen«, er befaßt sich mit dem »Gleichzeitigkeitsverhältnis von Teilung und Vereinigung« des Lichts und bezeichnet, indem er »synchron« und »synchrom« in eins setzt, »diese synchromische Aktion« als eigentliches und einziges Sujet der Malerei. 1 4 Stil ist Sukzessivbewegung, Rhythmus der Wortfolge im Satz und damit Rhythmus des Autors, Zögern oder Hast, Straffheit oder Schmiegsamkeit und was alles sonst noch anzuführen wäre. Den Stil geradezu für das Wesen des Menschen zu nehmen wird nahegelegt durch die Beobachtung, daß einem bestimmten Menschen ein bestimmter, ein einziger, wenn auch modifizierbarer Stil eigen sein kann. Mit dem Aufkommen der Stilpluralität enthüllt sich, daß die Gleichung »Le style c'est l'homme« als unzulänglich zu betrachten ist. Das Wesen des Menschen geht nicht in der als Nacheinander verstandenen Temporalität auf, sondern beruht auf der als Gleichzeitigkeit verstandenen Temporalität. Sprache, zum Wesen des Menschen gehörig, ist daher nicht in ihrem Kern anvisiert, wenn man das Rhythmische an ihr zur Hauptsache macht, statt die Aufmerksamkeit vor allem auf ihre vom Sein getragene Struktur zu richten, die in den elementaren Aussagen besonders gut sichtbar ist: Ich bin ich, ich bin da, ich bin gewesen. Solche Sätze sind es, welche, diesseits des Stils, den Menschen in seinem Wesen berühren. Sie sind das Primäre, und zwar deshalb, weil sie auf das »Bin« zentriert sind. Demgegenüber ist die Frage nach der Eigenart des Ich, nach der Weise des Daseins, nach der Beschaffenheit des Gewesenen etwas Abgeleitetes. Nicht der Stil, sondern die Ermöglichung von Stil ist für Döblin das Wesenhafte. Seine Formulierung, er habe den Stil aus dem Stoff kommen lassen, deutet das an: Es gibt die Möglichkeit und das Vermögen, diesen und jenen Stil herbeizurufen. Was je gewesen ist und sich zu einem bestimmten Stil gestaltet hat, kann mit der Gegenwärtigkeit des Ich-bin gleichzeitig sein. Wie Döblin über Stil und Stilwechsel denkt, spiegelt sich in einem Aperçu aus der »Babylonischen Wandrung«, das die Darstellung der Muttergottes durch Maler und Bildhauer aller Zeiten betrifft. »Nun begann der Siegeszug der Notre Dame durch die Jahrhunderte. Es hat sich vieles an ihr probiert. Sie war wie eine Frau, die die Liebhaber wechselt und nach ihnen das Kostüm einrichtet. Die Gelehrten sprechen

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Freie Übersetzung von Paul Klee, publiziert in: Der Sturm, Wochenschrift für Kultur und Künste, 3. Jahrg., Nr. 144/145, Januar 1913, S. 255 - 256, Berlin; vgl. Paul Klee, Schriften, hg. von Christian Geelhaar, Köln 1976, S. 116 f.

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diskret von >StilenBabylonische Wandrung< verspottet schrecklicherweise die Opferidee des >Alexanderplatz< «, und er hat seine Spottlust als Rückschlag gedeutet, als Zeichen eines Widerstandes, einer Sperrung und Versteifung in ihm. 18 Man muß allerdings bedenken, daß die Gedrängtheit des Epilogs nur summarische Bemerkungen zuließ. Die Sache dürfte komplexer sein. Verspottet wird ja nicht die eigentliche, sondern eine verzerrte und depravierte Opferidee. Mag der Leser darüber lachen, daß einst ganze Völker, von einer Priesterkaste unterjocht und ausgebeutet, glaubten Opfer darbringen zu müssen, er befreit sich mit dem Lachen — ob er es weiß oder nicht — von gängigen Mißverständnissen die Religion betreffend, womit der Zugang zu deren unverstelltem Sinn wieder ermöglicht ist. Das Opfer im wahren Sinn wird vom Spott nicht getroffen und kann von ihm auch gar nicht berührt werden. Döblin stellt nur die Meinung in Frage, mit dem vom Menschen gebrachten Opfer des eigenen Lebens geschehe das Entscheidende. In dem Maße, wie dieser Opfergedanke verworfen wird, gewinnt der gekreuzigte Jesus an Bedeu-

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Thomas Mann, Der Zauberberg, Stockholmer Gesamtausgabe, 1950, S. 478 u. 493. Schriftstellerei und Dichtung (1928), AL 90. AL 392.

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tung; von ihm ist in der »Babylonischen Wandrung« eindringlich die Rede. Freilich ist er, wie in der »Reise in Polen« 19 , als Mensch aufgefaßt, als »Schmerzensmann«, als »der Geschlagene aus dem Volk der Juden«, »das leidende Menschenwunder« (546f.), Inbegriff des menschlichen Elends und dennoch von unsäglicher Sanftheit. Was Döblin in der »Schicksalsreise« schreiben wird, ist hier verschwiegen: »Unfaßbar der andere Gedanke: was hier hängt, ist nicht ein Mensch, dies ist Gott selber.«20 Aber man kann erkennen, daß dieser Gedanke da ist und die Dichtung ihm ausweicht. Er wird von dem Umweg, den sie einschlägt, umrissen. Marduk, der sich Opfer darbringen läßt, ist der Gegensatz zu Christus, der sich selber opfert; der Roman von der Exilierung des babylonischen Gottes ist das Gegenstück zur Erzählung »Die Flucht aus dem Himmel« 21 . Döblins »Verspottung der Opferidee« zeigt, wie sehr man sich davor hüten muß, das Verständnis auf dem kurzen, direkten Weg zu suchen. Man hat es hier mit der Kunst des Indirekten zu tun. Wenn der Gott Marduk in disproportionierter Figur dargestellt, bis ins Detail optisch erfaßt und damit rücksichtslos profaniert wird, erscheint das zunächst als Diffamierung der Gottheit, aber dabei bleibt die Erzählung nicht stehen; und wenn der Erzähler zu berichten weiß, vernünftige Priester hätten zwar von den furchtbaren Zwiebeln und Knollen, die die Götter an Nasenstatt im Gesicht trugen, gewußt, aber einen Schleier darüber gelegt und die Lehre verbreitet: jeder sterbe, der das Angesicht der Gottheit sehe (16) — so kann man das gewiß als Entlarvung einer lügenhaften Geistlichkeit auffassen, aber das ist nicht das eigentliche Ziel dieses Erzählens. Die Groteske ist kein aufklärerisches Pamphlet, sie lenkt vielmehr mit dem Spottbild des babylonischen Gottes den Gedanken auf das Gebot: Du sollst dir kein Gottesbild machen. Döblins Roman führt den Leser auf Umwegen. Darum ist das Wort, das am Ende dem zurückblickenden Konrad in den Mund gelegt wird, als bedeutsam zu werten: »Und was bleibt zuletzt? Dieser Umweg. Es ist ein Umweg, man kann sagen, was man will.« (653) Hier drückt sich das aus, was in der »Babylonischen Wandrung« das organisierende Prinzip ist. Die Abschweifungen gehören zum Wesen dieser Dichtung. Manchmal dienen sie vielleicht lediglich dem Zweck, den Umwegcharakter des Erzählens zu demonstrieren; der Abschnitt über den elektrischen Schiffs19 20 21

RP 239 ff. AS 186. E 291-295.

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antrieb mit besonderer Berücksichtigung der Schiffahrt auf dem Genfersee (537 ff.) wäre dafür ein Beispiel. Oder sie ahmen das fortgesetzte Dazwischentreten irgendwelcher Umstände nach, das wie bei einer Chaplinade ein Vorhaben behindert, wofür die folgende Stelle Keimmotive nennt: »Konrads heroische Zeit, nachdem sie annonciert war, wollte und wollte sich nicht einstellen. Es kam immer etwas dazwischen. Mal lag es daran, mal daran, lag es nicht am Genitiv, lag es am Dativ, waren es nicht Halsschmerzen, war es ein bloßer Schnupfen, immer hatten die Kinder etwas.« (620 f.) Die Abschweifung folgt hier den Analogien, dabei sorgt das Gefälle dafür, daß das Außerordentliche sogleich auf das Niveau des Trivialen herunterkommt. Uberhaupt sind die zahlreichen Einschübe auf ihre mögliche analogische Bedeutung hin zu befragen. Eine fünfseitige Divagation unter dem Titel »Schwierigkeiten im Frachtverkehr« (417 ff.) hat ihren Bezug zum Romanganzen nicht bloß als Kontrast zur vorausgehenden problemlosen, sanften Autofahrt, sondern auch im Thema »Schuld«. Eine Eisenbahnbehörde, die eine Obsthandelsfirma einklagt und für nicht rechtzeitig entladene Wagen Standgebühren fordert, wird selber vom Gericht verurteilt: nicht der Angeklagte, der Kläger ist schuldig. So glaubt auch Konrad Grund zur Anklage zu haben (27) und ist doch selbst ein Angeklagter und Verurteilter. Gewiß ist dieser Roman ein locker strukturiertes Gebilde, aber so inkohärent, wie es manchmal scheint, ist er nicht. Die Analogien stellen Zusammenhänge her. Der Umweg — anders als der Abweg — verliert sich nicht, er verbindet Beginn und Ziel. Er führt durch Gegenden, die dem direkten Weg unbekannt bleiben. In einer größern Vielfalt sich bewegend, hat er für Eile nicht viel übrig. Er verweilt gerne und ist doch nicht ziellos, er scheint bisweilen zurückzukehren und kommt gleichwohl voran, er ist schmiegsam wie der Lauf des Wassers, bis zur Selbstaufgabe sich anpassend, zugleich jedoch seinem Gesetz verpflichtet. Döblin hat beklagt, daß in dem Deutschland, wie es durch das Aufkommen der Maschinen und durch die Regierung Bismarcks umgestaltet worden sei, jeder seinen graden Weg verfolge, einen Weg, der kein Tao sei22; in der »Babylonischen Wandrung« verspottet er diese eindeutigen gradlinigen Handlungen (246) am Beispiel des schwedischen Piloten, der prahlt, er werde, und zwar in besoffenem Zustand, nonstop von Upsala nach Stockholm und retour fliegen, und am Beispiel eines Sechzehnjährigen,

22

Einleitung zu Heines »Deutschland« und »Atta Troll« (1923), AL 274.

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der es unternimmt, »in einer Richtung geradeaus« um die ganze Welt zu schwimmen. Der Wille, diesem »Geradeaus«, der Sturheit und dem Fanatismus, entgegenzuwirken, hat an der Entstehung der »Babylonischen Wandrung« einen wichtigen Anteil. Die Dichtung wollte das Verbissene und Unerbittliche, das Düstere, das in Deutschland herrschend geworden, in das heitere Reich der Kunst hinüberspielen. »Es war noch Heiterkeit und Kunst aus alter Zeit«, schrieb Döblin nach der Publikation des Romans 2 3 , anknüpfend an das Schillerwort »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« 2 4 . Er habe das Buch nicht mit seinem Blut geschrieben, deshalb solle der Leser auch gar nicht »warm« werden, er solle sich amüsieren, ihn jedenfalls habe es amüsiert 25 . Döblin setzt sich gegen die schlimme Wirklichkeit zur Wehr, sie soll ihn nicht überwältigen können, das Lachen hält sie ihm vom Leib. Er schreibt ein Phantasiebuch: das ungebundene Fabulieren, das fessellose Berichten von Nichtfakta ist das Überlegenheitsgelächter über die Realität. »In der Dichtung ist die Leichtigkeit und Verspottung der Realität vollkommen. Dies ist der ungeheure Lustgewinn, den die Berichtform des Fabulierens gewährt, dem Autor wie dem Hörer.« 2 6 So ist der burleske Roman »Babylonische Wandrung« ein Versuch, sich in das Dichtertum zu retten. Der spielerisch distanzierende Umgang mit der Realität verrät in seiner gewollten und auch forcierten Einseitigkeit, wie prekär das Unterfangen ist. Die Haltung dieser künstlichen Überlegenheit teilt sich der Hauptfigur mit. Konrad sperrt sich gegen die Einsicht, daß sein Leben entwürdigt und nichtig ist. Er verharrt im uneigentlichen Dasein, läßt sich nicht an das Ziel bringen, zu dem Biberkopf gelangt. Vielleicht muß man sogar sagen, daß Döblin mit ihm weite Umwege macht, gerade um ihn vom Eigentlichen fernzuhalten. Damit sucht er sich das Dichtertum zu bewahren. Denn seit »Berlin Alexanderplatz« weiß er, was dem Dichter darzustellen versagt ist. 2 7 Ist der Umweg zu Ende, muß der Dichter abdanken. Das ruft in ihm

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26 27

Brief an Elvira und Arthur Rosin, 12. Juni 1934, Β 193. Prolog zu »Wallensteins L a g e r « . Brief an Ferdinand Lion, 22. M a i 1934, Β 192. - Diese Briefstelle veranlaßt einen zur Frage, o b die Bemerkung über die »Babylonische Wandrung« im »Epilog« (AL 392) so g a n z wörtlich gemeint oder nicht eher mit einem gewissen Augenzwinkern vorgebracht sei. (Vgl. S. 297). Der Bau des epischen Werkes (1929), A L 109 f. Vgl. S. 287 (AL 226).

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Widerstand hervor. 28 Ungeachtet aller Verschiedenheiten könnte Döblin gleich Kafka von sich sagen: »Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.« 2 9 Mit der »Babylonischen Wandrung« läßt Döblin auf die Dichtungen »Manas« und »Berlin Alexanderplatz«, die so viel Tragisches enthalten, eine Art Satyrspiel folgen, ähnlich wie er nach den Schrecknissen des Wang-lun-Romans die Burleske »Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine« zu schreiben das Bedürfnis hatte. Das Bedrückende und Erdrückende kann ja nicht beanspruchen, die ganze Wahrheit zu sein, die Einseitigkeit der Darstellung muß korrigiert, die Rede durch die Gegenrede ergänzt, das Finstere aufgehellt werden. An diese Einsicht hat sich Döblin auch innerhalb von »Berlin Alexanderplatz« wie von »Manas« gehalten. Entsprechendes, nur in umgekehrtem Sinn, geschieht bei der »Babylonischen Wandrung«. Der Anfang hat einen leichten Ton. Aber gegen die Tendenz, die Dinge ins Burleske umzusetzen und dem liebevoll Komischen der scheinbaren Tragik zu seinem Recht zu verhelfen, setzt sich immer wieder die Gegenbewegung durch, etwa in Konrads Traum von der Bitterkeit, dem Schrecken und der Furchtbarkeit (244), in der Erzählung vom Feuertod der zweitausend Juden in Straßburg (499), im Bericht von der Belagerung der spanischen Stadt Numantia und dem grauenvollen Zugrundegehen der Eingeschlossenen (581), in der Einfügung der letzten Strophe von »Hyperions Schicksalslied« (138): »Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn. Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen blindlings von einer Stunde zur andern, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, jahrlang ins Ungewisse hinab.«

T r a g i k o m ö d i e des Exils Döblin hat an diesem Roman, dessen Hauptperson ein Emigrant ist 30 , 1932 zu schreiben begonnen, also noch vor seiner Flucht aus Deutschland. Die Dichtung lief in die Zukunft voraus: »Es war die Vorwegnahme des Exils.« 3 1 In das Phantasiebuch 32 sollten sich die ersten Stationen des Exulanten aus Berlin eintragen: Zürich, Paris. Nicht daß der Roman die

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AL 392. Franz Kafka, Tagebücher 1 9 1 0 - 1 9 2 3 , hg. von M a x Brod, New York City 1948, S. 561. Brief an Ferdinand Lion, 4. April 1933, Β 178. Schicksalsreise, AS 367. Brief an Ferdinand Lion, 22. Mai 1934, Β 192.

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Gestalt eines Erlebnisberichts annähme! Wirklichkeit und Phantasie, Realität und Überrealität sind ineinandergefügt und bilden, wie Döblin es eh und je angestrebt hat, mit ihrer gegensatzreichen und spannungsvollen Zusammengehörigkeit das dichterische Kunstwerk. Die Beschäftigung mit dem Thema »Exil« drohte alte Wunden aufzureißen. Döblin hatte ja, zehnjährig, nachdem der Vater die Familie im Stich gelassen, die Heimat verloren und von Stettin nach Berlin umziehen müssen. In seinem nächsten Buch, dem stark autobiographisch geprägten Roman »Pardon wird nicht gegeben«, wird er diesen Auszug darstellen und von seiner Mutter sagen: »Sie floh, schwarz verhüllt, das Land, wo sie geboren war, Liebe und Glück gesucht hatte, und ging in die fremde Stadt, die Wüste.« 3 3 Er setzt diese Flucht in Parallele mit dem Sündenfall; schon früher hat er gesagt: »Wir waren aus einem kleinen Paradies vertrieben worden.« 3 4 Weil sich diese schmerzlichen Kjndheitserlebnisse wieder herandrängen, sucht er sie mit burlesken Variationen des Exilschicksals abzuwehren, ähnlich sich verhaltend wie im »Ersten Rückblick« an der Stelle, wo er von seinem Vater zu erzählen sich anschickt. Damit wird das Schwere des Exils verharmlost, zugleich jedoch diese Verharmlosung zum Thema gemacht. So gewendet, bekommt das Dasein des Emigranten Allgemeingültigkeit. Nicht nur der aus einem bestimmten Staat Vertriebene, der politische Flüchtling, der Angehörige des Judenvolkes im besondern, ist in seinem Los und in seinem Verhältnis zu diesem Los dargestellt, vielmehr der Mensch ganz allgemein und vor allem derjenige, der im Exil vergißt, daß er in der Fremde ist, den es nicht nach Heimat verlangt, weil er in ihr zu sein wähnt. Die »Babylonische Wandrung« ist ein Buch mit verschiedenen Bedeutungsebenen. »Es war die Vorwegnahme des Exils, und noch vieles mehr«, erklärt Döblin und weist damit über das rein Persönliche hinaus in eine Vielfalt von Aspekten. Indem er erzählt, wie sich die Verfluchung Babylons durch Jeremía in einer letzten Phase erfüllt, gibt er eine Variation der Vertreibung aus dem Paradies: Jahrhunderte nach dem Niedergang und Zerfall der glanzvollen, mächtigen Stadt, die in hellenistischer Zeit zur menschenleeren Stätte, zur Behausung der Schakale geworden (26) 3 5 , wird Marduk aus seinem Himmel vertrieben und auf die Erde verbannt, wird der Gott zu einem Menschen, zum Zeitgenossen Döblins. Obwohl in die Fremde

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Ρ 15. Erster Rückblick (1928), AS 41. Jer. 51, 37.

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verstoßen, hat er keineswegs ein bedrücktes Gemüt; er empfindet das fremde Land nicht als Elend. Im Gegenteil, die Erde ist wunderbar, wie sie ihn mit schönem Wetter und bunten Farben empfängt (117). Ihm gefällt alles, was er zu sehen bekommt, so neu und abwechslungsreich ist es (118). Dieser himmlische Exulant ist nicht jener Adam, der mit Kummer und Mühsal den Acker bestellt, im Schweiß seines Angesichts sein Brot ißt, er ist ein neuzeitlicher Adam, ein Forschungsreisender (117), dem die Welt als das Interessante begegnet, dem sie als Terra incognita Gegenstand der Neugierde ist und, weil er nirgends wirklich dabei ist, nie vertraut werden kann. Sogar der eigene Leib hat nichts von der Selbstverständlichkeit und Unauffälligkeit, die zu seinem Wesen gehört, solange er nicht durch Krankheit fremd wird. Marduk verhält sich zum Körper, den er für das Leben auf der Erde bekommen hat, von Anfang an neugierig-distanziert; er ist ein Robinson, den es in die Leiblichkeit verschlagen hat und dem nun auf diesem Neuland Ungeahntes — Begeisterndes und Beschämendes — widerfährt. Der zum Menschen Konrad gewordene Gott Marduk repräsentiert auch die kartesianische Zweiheit von ego cogitans und res corporea. Dadurch daß Döblin nicht ausführt, wie das leibliche Dasein allmählich seiner selbst bewußt wird, sondern zeigt, wie ein volles Bewußtsein sich unversehens mit der Leiblichkeit verkoppelt sieht, wird der Gegensatz verfremdet, so daß das Possierliche daran zutage tritt. Die Auffassung, daß das ego cogitans ein überweltliches Ich 36 , freischwebendes Bewußtsein 37 , also etwas rein Geistiges sei, wird in Wiederaufnahme der kritischen Betrachtungen in »Unser Dasein« mit Spott bedacht. Konrad, der Erhabene (57) und Hochmütige (158), ist ein Autokrat (650), der auch im Leibesexil von seinem herrischen Ton nicht läßt (611) und selbst jetzt noch, ein Besiegter, nichts Höheres über sich, keinen Sieger anzuerkennen gedenkt. Döblin führt das Thema weiter, das er bereits in den »Gesprächen mit Kalypso« angeschlagen hat: die Philosophen, die sich mit der Frage beschäftigten, was den Dingen gehöre und was dem Ich, hätten den Dingen alles geraubt und alle Herrlichkeit über das Ich gehäuft, so daß der Hochmut ins Höchste getrieben worden sei und keinen andern Gott kenne »als diesen einen: >Ichdas Recht auf< «. Konrad ist der typische Vertreter dieses Jahrhunderts, in welchem sich die Menschen, dank der stupenden Entwicklung der Technik, »das Leben ungeheuer komfortabel eingerichtet« haben (248). »Hang zum Wohlbehagen« und »Technik« werden von Döblin synonym gebraucht 60 . Daß Konrad sich das Leben angenehm gestalten kann, daß er im Unterschied zum biblischen Adam von Arbeit und Mühsal verschont bleibt, ist das Werk seines andern Begleiters, Georgs, der seinem früheren Herrn zu Reichtum verhelfen kann, weil er sich in den irdischen Gegebenheiten schlau und wendig zurechtzufinden weiß, sich der technischen Mittel zu bedienen versteht, Chef einer Druckerei wird, dann Banknotenfälscher, Spekulant, Rüstungsindustrieller, vom Recht des Stärkeren, vom Willen zur Macht bestimmt 6 1 . Ein tellurischer Geselle wie Wallenstein, ein Drache (617), ist Georg das erklärte Gegenstück zum Schmerzensmann am Kreuz (618). Er ist der neue Gott der Erde (600). Da Konrad im Exil lange Zeit keine Not leiden muß und er auch von der Not der andern, von der krassen Ungleichheit der wirtschaftlichen

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AL 229. AL 261. Da Waldemar und Georg den bei Pascal vorkommenden Gegensatz von libido sentiendi und libido dominandi verkörpern, Konrad von der libido sciendi getrieben ist (Pensées Nr. 458), scheint es nicht ausgeschlossen, daß sich Döblin schon bei der Arbeit an seinem Roman mit den »Pensées« beschäftigt hat. Am 12. Juni 1934 schreibt er dem Ehepaar Rosin, daß er Pascal auf Französisch lese (B 194).

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Verhältnisse etwa, nicht sonderlich berührt wird, er sich also mit der Fülle und nicht mit der Dürftigkeit beschäftigt, ähnlich wie sich der Weise - gemeint ist Konfuzius 62 - nicht mit dem Tod, sondern allein mit dem Leben befaßt (289), scheint es ihm unglaubhaft, daß über sein irdisches Dasein ein Fluch ausgesprochen worden sei (434), und vollends absurd will ihm der Gedanke erscheinen, daß er die Exilierung verschuldet haben könnte (519). Und daher spottet er auch darüber, daß er sich auf einem Bußgang befinden solle. »Konrad denkt absolut nicht daran, zu büßen«, faßt Döblin im »Epilog« zusammen, »er fühlt sich nicht einmal entthront.« 63 Wenn diese Dichtung durch Konrad die Idee verhöhnt, auf dem Leben laste ein Fluch und deshalb sei es ein Bußgang in der Heimatlosigkeit, so wird anderseits der Hohn potenziert: die Dichtung spottet über den Spötter. Döblin läßt dabei zwei entgegengesetzte Verfahrensweisen zusammenwirken. Er verknüpft mit Konrads Dasein all das Possierliche und Läppische, das bald belustigt, bald irritiert, und zum andern schiebt er Kontrastbeispiele schweren Schicksals ein, Variationen des Hölderlinschen »Schicksalslieds«, die entweder von einzelnen Personen handeln, etwa der in schrecklicher Liebesknechtschaft entwürdigten und zugrundegehenden Alexandra, oder von ganzen Völkern, so vom Volk der Zigeuner, das gleich einem irdenen Krug zertrümmert worden ist (271 f.). Konrad wird gleichsam gewogen und zu leicht befunden, und in seiner Ahnungslosigkeit und Leichtfertigkeit könnte er auch die Anteilnahme des Lesers verspielen, wäre nicht das Komische dieser Figur mit tragischen Elementen durchsetzt. So geht es Döblin in der »Babylonischen Wandrung« um zweierlei: das Komische der scheinbaren Tragik darzustellen wie im »Wadzek«, und, in bezeichnender Umdrehung, das Tragische im scheinbar Komischen. Vielleicht ist man dem Ort, wo die Mischung von Spaß und Elend entsteht, nirgends näher als bei Georgs Feststellung: »Es ist keine Herrschaft da. Und das ist grade die Eigenart und der Reiz der neuen Welt. Wir können hier tun, was wir wollen.« (209)64 Dieses Unentschiedene, Zwiespältige gewinnt seine Gestalt in der Groteske, von der Döblin sagt, sie sei, als »unreine Form«, »etwas Gefährliches, eine seelische Flauheit und Schiefe«65.

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Vgl. Döblins Einleitung zur Konfuzius-Ausgabe (in der italienischen Ubersetzung, a.a.O., S. 17). AL 392, vgl. AS 433. Was hier leicht hingesagt ist, lautet anderswo: »Gott ist tot« und »Alles ist erlaubt«. KM 55 und 74. — Zu Recht sieht Patrick O'Neill Parallelen zwischen Dürrenmatt und

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Es liegt nach alledem nicht in der innern Logik dieser Dichtung, Konrad eine Wandlung durchmachen zu lassen, ihn wirklich zur Erkenntnis zu führen und aus dem uneigentlichen Dasein herauszubringen. Mit gespielter Enttäuschung und Resignation gesteht der Autor das ein: »Ach, was haben wir alles getan, um Konrad so weit zu bringen. Nicht grade Größtes, Monumentales, keine tolstoianische, augustinische Wandlung, aber doch einen kleinen Zehrpfennig erwarten wir von ihm.« (620) Konrad ist nicht Franz Biberkopf. Döblin spielt deutlich darauf an: »Wie gerne würden wir ihn als kleinen Handwerker mit Leinenhosen oder als kämpfenden Fabrikarbeiter sehen, als einen, der in die schweren, ja allerschwersten wirtschaftlichen Kämpfe von heute hineingezwungen wird. Er weicht aus.« (621) Mit diesem Schluß müßten jene Kritiker, die sich über die Wandlung Biberkopfs geärgert und sie unglaubwürdig genannt haben, eigentlich zufrieden sein, aber natürlich wird man auch diesen Ausgang nicht akzeptieren — Döblin läßt sich die Gelegenheit zu Spott und Ironie nicht entgehen —, man wird enttäuscht und sogar entrüstet sein, denn »man hatte das überzeugende Beispiel eines Sünders, Büßers und Bereuers erwartet« (621). Wenn Döblin es sich versagt, die Hauptgestalt des Romans zum neuen Leben zu führen, bleibt ihm einzig noch übrig, sie zum Lebensende zu bringen. Das Alter spricht über Konrad, auch über ihn, der »ewig« zu sein vermeinte, sein Urteil. Der Weißhaarige ist feister denn je, eine Schwere ist in ihm, die wie immer bei Döblin, vom »Schwarzen Vorhang« bis zum »Hamlet«, mit der Melancholie zusammengehört. Über ihn ist, wie er sich ausdrückt, das große Gericht gekommen (649), und mit dem Dichter könnte er sagen: »Das muß man hinnehmen und dagegen kann man nicht protestieren, kein Gericht nimmt diese Klage an.« 6 6 Er kann sich nicht länger darüber hinwegtäuschen, was es heißt, im Exil der Zeit zu leben, ein aus der Ewigkeit Verstoßener, für den die Zeit nichts anderes als ein einsinniges Nacheinander, ein Sein zum Tode ist, nervus rerum der Tragikomödie, denn daß alles vorübergeht, ist das Übel schlechthin und ist doch das Gute zugleich: auch das Übel geht vorüber. Aus dem Himmel auf die Erde geworfen (450), berührt er sie nun nicht mehr bloß (410), er ist ganz auf ihr angelangt, und bald wird er zu Erde werden (244).

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Döblin: Alfred Döblin's »Babylonische Wandrung«, Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, N o . 13, Bern und Frankfurt a. M . 1974, S. 123. A L 324.

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Es ist nicht so, daß der Tod die unsterbliche Seele aus der Kerkerhaft des Leibes befreite: Döblins Roman gestattet nicht, sich einzureden, man sei nur mit seinem Leib im Exil. Auch die Seele ist betroffen, ist ihrem eigenen Wesen fremd geworden, im Elend verelendet. Die Zeit holt diese Züge schärfer und schärfer aus dem Menschengesicht. So kommt es, daß Konrad seine Umgebung oft bis zur Grausamkeit mißhandelt (644). Er kann sich nicht mehr verhehlen, daß er ein Besiegter ist (659), die Bitterkeit des Besiegtseins kommt ihm auf die Zunge. Schwer lernt er, wieviel man abieben, ablieben, ableiden muß (653). Sterben bedeutet nicht Rückkehr in die Ewigkeit, der Tod macht lediglich klar, daß die Ewigkeit das ganz Andere ist. Die Friedhöfe künden »auf zehntausend Steinen: >Der Herr ist ewig.< « (271) Nicht vom leeren Grab aus wird das verkündet. Wenn auch im Roman auf die Erweckung der Toten hingewiesen wird (430), für Konrad ist der Tod nur das Ende und kein Beginn. Als Besiegter sieht sich Konrad in allem widerlegt. Er glaubte in der Stadt seinen Ort gefunden zu haben — das war eine Illusion; er gedachte auf dem Land in die idyllische Ruhe einzukehren — und auch dies war nichts als ein schöner Wahn. Er weiß sich nun keinen Weg mehr. Der Seufzer »Ach wäre ich nicht hier«, früher bloß der Wunsch, den einen Ort der Emigration mit einem andern zu vertauschen (228), ist jetzt Sehnsucht, das Da des Daseins zu verlassen und die Jetztfolge dieses Seins zu enden. Einen Moment lang scheint es, Konrad wolle seinem Leben selbst ein Ende machen. Er ist »kein Büßer, sondern ein Beender« (631). Und doch, in seinem Sterben, mit der Hingabe des Lebens, vollzieht sich, ob er will oder nicht, die Buße. Ans Ende gebracht, in der äußersten Ohnmacht, steht er vor dem Unbekannten, der so mächtig ist, daß er ihm dies hat antun können. Auf seinem Exilweg herab aus der Höhe, der »sein Aufstieg zu einem armen Menschen« ist (527), erweist sich schließlich die Wahrheit des Pascalworts: »La grandeur de l'homme est grande en ce qu'il se connaît misérable.« 67

67

Pensées Nr. 397.

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Amazonas Die Unbehausten »Den sinkenden versunkenen Göttern, den sinkenden versunkenen Völkern, den sinkenden versunkenen Menschen ist unser Buch gewidmet!« Dieses Wort aus der »Babylonischen Wandrung« 1 könnte auch das Leitwort sein, unter dem der Amazonas-Roman entstanden ist. Denn er handelt davon, daß die Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer den Untergang ganzer Völker bedeutete. Die Widmung enthält einen Fingerzeig, wie die dargestellten geschichtlichen Ereignisse aufzufassen seien. Indem nämlich nicht allein von versunkenen, sondern auch, in dreimaliger Verknüpfung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen, von versinkenden Menschen, Völkern, Göttern die Rede ist, wird deutlich, daß Döblin nicht einfach mit historischen Vorgängen beschäftigt ist. In den Versunkenen sind die Noch-nicht-Versunkenen präfiguriert. Der am Boden liegende Besiegte nimmt das Geschick des Siegers voraus. Was sich dazumal in Südamerika abgespielt hat, ist nicht vergangen und abgetan und bloß noch mit den Nachwirkungen am Heute beteiligt. Jener Ereignisse gedenken heißt das Vergangene aus der Vergangenheit zurückholen, so daß es uns wieder etwas anzugehen vermag und sogar als Künftiges auf uns zukommt. Deshalb ist es unbegreiflich, daß der letzte Teil der Romantrilogie, der in unserm Jahrhundert spielt und bis in die Zeit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten führt, in der von Muschg besorgten Ausgabe nicht abgedruckt ist, zumal er gemäß dem Prinzip zunehmender Deutlichkeit wichtige Einblicke in die Struktur des ganzen Romanwerkes gibt. Wenn der Amazonas-Roman sich den Versunkenen und Sinkenden zuwendet, liegt der Gedanke nahe, daß Döblin, gleich dem »Prediger« des Alten Testaments, die Nichtigkeit aller Dinge zu zeigen bestrebt sei. Wie aber wäre dieses Vanitas vanitatum zu verstehen? Als Ausdruck des

1

BW 268.

312

Pessimismus, gar der Verzweiflung, entsprechend der Verdüsterung des Horizontes in den spätem dreißiger Jahren? Ein Korrektiv also zu der fast leichtfertig anmutenden »Babylonischen Wandrung« aus der ersten Exilzeit? Oder eher als Variation des im »Wang-lun« zitierten Wortes aus dem »Tao-te-king«: »Die Welt erobern wollen durch Handeln mißlingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verdirbt sie; wer festhält, verliert sie«2, mithin als Äußerung unverlierbarer, unzerstörbarer Zuversicht? Dann wäre für das Buch letztlich nicht die Einsicht in das Nichtige, sondern das Wissen um das Geistige bestimmend? Diese Erwägungen lassen ein die Welt charakterisierendes Wort des Amazonas-Romans als bedeutsam erscheinen: »Sie liebt den Zerfall — nicht um zu vergehen.« (578) Ein sonderbares Diktum! Liebe zum Zerfall ist doch nichts anderes als Liebe zur Vergänglichkeit. Döblin aber, in überraschender Gegenbewegung, nach einer durch den Gedankenstrich signalisierten Kehre, wendet sich gegen diese Gleichsetzung. Ihn beschäftigt der Widerspruch, daß es in der Natur dieser Welt liegt, die Vergänglichkeit zu lieben und ihr zu Willen zu sein, daß dies jedoch nicht aus Liebe zur Vergänglichkeit geschieht; oder pointierter formuliert: Die Welt liebt die Vergänglichkeit, und gerade deshalb muß man sagen, daß sie nicht die Vergänglichkeit liebt. Daß es notwendig ist, die Sache, um die es hier geht, in doppelter und zwar entgegengesetzter Weise, affirmativ und negierend, auszudrücken, diese Paradoxie - Ärgernis für den bloßen Verstand3 - ist das Geheimnisvolle und Unausdenkliche, dem nahe zu sein das Dichtertum Döblins ausmacht. Auf die Ursprünglichkeit dieses Dichtertums weist eine Aufzeichnung der »Schicksalsreise« hin: »Er wußte schon früh von dem Geheimnis«, schreibt Döblin, die dritte Person für die erste setzend, » - von dem Geheimnis der Existenz der Welt. Er wußte, ohne daß es ihn einer gelehrt hätte, daß es vor dem Geheimnis nur eine einzige menschliche Bewegung gibt, das Hinsinken. Dies war mir vertraut. Und wenn ich von der Natur schrieb und sie durchdachte, hatte ich nur im Sinn, mich diesem

2 3

SW 48. - Vgl. S. 236, Anm. 45. Diejenigen, die sich keine Gedanken darüber machen, auf welchen Axiomen das rationale Denken beruht, haben Döblin schon früh und stets wieder seinen angeblichen Irrationalismus vorgehalten. Da aber nur rational denken kann, wer - wie z . B . der Mathematiker Pascal - um die Grenzen dieses Denkens weiß, gibt Döblin auf den Anwurf die Entgegnung: »Ich bin rational wie nur einer. Wie verhalten sich aber die Herren vor der jenseits jeder Realität liegenden Realität? Sie drehen ihr den Rücken.« (AS 410 f.)

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Geheimnis zu nähern und ihm meine Verehrung zu weisen. Und an dieser Verehrung ließ ich alle meine Werke teilnehmen.« 4 Später, im »Epilog«, bestätigt Döblin diese Äußerung, indem er von seinem SüdamerikaRoman sagt: »Mitten darin steht unbeweglich eine scheue und tiefe Ehrfurcht. Religion steht da und schweigt.« 5 Offenbar verlangt das Buch vom Leser, daß er die hier bekundete Mitte zu erkennen suche und sich frage, wie das einzelne auf sie hingeordnet ist. Indessen muß man sich weit in den Roman hineinlesen, bis man zu merken beginnt, wie man einer solchen Forderung genügen könnte. Denn nichts anderes scheint das Thema dieser Dichtung zu sein als das Verderben, das die indianischen Völker ergreift und auch die verderbenbringenden Eroberer in den Strudel reißt, ein schauerlicher Totentanz, ein mit aller Gräßlichkeit und Entsetzlichkeit sich vollziehendes Werk der Vernichtung, so daß das A und O in jenem Lied enthalten ist, welches mit den Worten beginnt: »Meine Mutter hat mich geboren im Regen, im Nebel, um zu weinen wie der Regen, um zu vergehen wie die Wolken,« und welches endet mit: »Oh, verflucht der Tag meiner Geburt. Oh, verflucht, du Nacht, wo meine Mutter mich empfing. Verflucht, verflucht für immer.« (36) Wenn das Seiende — so beginnt man sich zu überlegen — im einzelnen wie im ganzen nicht ist, um zu sein, sondern um zu vergehen, wäre es dann nicht besser, es gäbe überhaupt nichts? Mit dem Satz »das ist das Ende vom Lied« (24) wird an die bekannte Stelle in Schillers »Räubern« erinnert, zu der die Erwägung gehört: »Es war etwas und wird nichts — heißt es nicht ebensoviel als: es war nichts und wird nichts?« 6 Auf diesen Ton ist der Schluß des Ersten Buches gestimmt. Wie Francisco Orellana und seine Gefährten, den Amazonas hinuntertreibend, 1542 das Ziel der Expedition, die Mündung, erreichen, schreibt Döblin: »Über die Wassermassen strich der Meerwind, der vom Ozean heraufkam, und fegte die Schiffspuren weg, blies, schäumte: es war nichts! Der Wind vertilgte den Hauch ihrer Atemluft. Der Strom rollte nach Osten und schrie auf das Meer hinaus: ihr seid nicht dagewesen!« (82). Daß dieses Erste Buch unter dem Haupttitel »Das Land ohne Tod« steht, wirkt wie bitterer Hohn. Die Indios, die, aufgescheucht durch Unheilsbotschaften, die Fahrt nach Osten, nach dem verheißenen Land unternehmen und sich den Weg dahin vom Amazonas weisen lassen, suchen umsonst, ja noch schlimmer, sie verlieren auf ihrer Suche das Leben oder werden nach ihrer Rückkehr umgebracht. 4 6

5 AS 214. AL 394. Vierter Akt, Zweite Szene (Nationalausgabe, Band III, S. 95).

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Von dem spät im Roman stehenden Wort über die Welt: »Sie liebt den Zerfall — nicht um zu vergehen« ist vorderhand nur die erste Hälfte wirksam. Das aber bedeutet, daß die Liebe — als Liebe zur Nichtigkeit in pervertierter Art erscheint. Solche Liebe ist nichts die Vergänglichkeit Transzendierendes. Was Döblin von den Amazonen erzählt, spricht ja eine deutliche Sprache: wie sie gegen Kränkung und Unterdrückung rebellieren, sich gegen die Vormacht der Männer auflehnen und alle, die männlichen Geschlechts sind, hinmorden, um die Frauenherrschaft zu errichten, wie fortan Männer, auf Kriegszügen erbeutet, ihnen nur zu Fortpflanzungszwecken dienen und hernach getötet werden, wie auch die zur Welt gebrachten Knaben nicht leben dürfen. Liebe darf sich nicht regen, gleichgültig wer die Herrschaft ausübt, und wenn die Liebe das Leben nicht begleitet, kann sie auch im Sterben nicht nahe sein. Nur dies, daß die Amazonen ein Volk sein, sich als solches erhalten und Töchter haben wollen, ist ein Anzeichen von etwas der Nichtigkeit Entgegengesetztem, und von der Fortsetzung her erkennt man dann, daß der Erste Teil gewissermaßen die Hohlform bildet für das, worum es Döblin zu tun ist. Zurückblickend, namentlich von den Kapiteln über die Jesuitensiedlungen aus, erkennt man weiter, daß mit dem Urteil »Ihr seid nicht dagewesen« die Frage nach dem Da-sein, dem Dichter seit langem wichtig, aufgeworfen wird und daß die Suche gewisser Indianerstämme nach dem Land ohne Tod gleichfalls in diesen Zusammenhang zu stellen ist. Es werden die Grenzen gezogen, an denen Dasein anfangen könnte. Wer das Land sucht, »wo man immer lebt und nicht alt wird« (19), gelangt ebensowenig ins Dasein wie die europäischen Abenteurer; er hofft einen Ort zu finden, den es nirgends gibt, er verstößt gegen den Geist der Utopie, die ihren »Ort« allein im Gemüt, in den Träumen und Dichtungen hat. Diese Suche ist der Ausdruck einer Verstörung. Was die Indios zutiefst beunruhigt, ist das Gewahrwerden von Veränderlichkeit und Veränderung, von Umbruch und Umsturz. In dieser Hinsicht lassen sie sich mit dem Kaiser Khien-lung vergleichen, der in Döblins chinesischem Roman erklärt, er wolle nichts wissen von Verwandlung, er wolle unverändert bleiben, wie er sei, seine Väter hätten nicht anders gedacht — eine Haltung, die der Taschi-Lama verachtet und tadelt: in China breche nicht einmal der Tod die Familien entzwei, ihre Ahnen blieben bei ihnen. 7 Etwas Analoges zu dieser Stabilität, die wie Geschichtslosigkeit

7

SW 309 und 311.

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aussieht, findet sich bei den von Döblin genannten Naturvölkern des Amazonaswaldes, den Tarianas, Opainas, Carjanas (18). Auch sie leben in itnmergleichen, unveränderlichen Ordnungen, deren Zeitlosigkeit durch die Anwesenheit der Ahnen (31), durch die Bindung an das Totem, durch das rituell dargestellte Gefügtsein in die Welt der Tiere und Pflanzen (48) verbürgt wird. In diese Welt bricht Geschichtlichkeit ein und bewirkt eine radikale Umwälzung, bringt unaufhörlich weitere Veränderungen hervor, die den Indios Vorboten des Weltuntergangs (31) sind. Das Vorgehen der Konquistadoren aus Europa, das Schicksal, das die indianischen Völker erleiden, erfüllt den Betrachter mit Grausen. Gleich Döblin muß der Leser fragen: Wer sind diese Eroberer, diese Europäer, was hat sie zu ihren heroischen und zugleich jämmerlichen, ebenso erstaunlichen wie abscheulichen Taten getrieben? Soll man sie als Exponenten einer höheren Zivilisation, die auf eine niedrigere stößt, verstehen und mit einem mehr oder weniger fatalistischen Unterton die Auswirkungen ihrer Überlegenheit hinnehmen? Aber würde man dann nicht gleich an solchen Wertungen irre? Müßte man nicht eher sagen, daß wieder einmal das Recht des Stärkeren seine perversen Triumphe feiere? Vielleicht macht man es sich jedoch auf diese wie auf jene Weise zu leicht. Scheint es nämlich, ex eventu betrachtet, völlig eindeutig zu sein, wie beim Zusammentreffen der Europäer und Indianer Stärke und Schwäche verteilt sind, so gilt es gleichwohl zu sehen, daß die enorme zahlenmäßige Unterlegenheit der ersten Eroberer nicht wettgemacht wird durch die spektakuläre Überlegenheit der Bewaffnung und der Transportmittel. Die Übermächtigen sind somit ebenfalls machtlos, die Ohnmächtigen nicht ohne Macht. Und überdies: ist denn die brutale Handlungsweise der eindringenden Fremden ein Zeichen der Stärke und nicht vielmehr der Schwäche? Es scheint, daß mit diesem Gegensatzpaar nicht zureichend wiederzugeben ist, wie in den weltgeschichtlichen Ereignissen des 16. Jahrhunderts die Geschicke der amerikanischen und europäischen Völker ineinandergreifen. Man muß darum auf das Zusammentreffen gegensätzlicher, aber gerade deswegen zusammengehöriger Mentalitäten achten, so auf die Vorstellung, die sich die Eingeborenen von den Eindringlingen aufgrund ihres weißhäutigen und bärtigen Aussehens, ihrer Gewalt über Blitz und Donner, ihrer riesenhaften Reitergestalt machen, und auf das Gegenstück zu dieser Überhöhung ins Übermenschliche, auf die Herabsetzung und Entwürdigung, die den Umgang der Europäer mit den als eine Art wilder Tiere geltenden Indios (149) kennzeichnet. Verblendung ist auf beiden Seiten im Spiel. »Wen Gott vernichten will, 316

den schlägt er mit Blindheit«: dieses alte Wort wird mehrmals zitiert (612, 474, NU 107). "Während die einen von einer verhängnisvollen Lähmung befallen werden, geraten die andern in eine Ungebundenheit, in der sie nichts mehr achten (NU 80) und vor nichts mehr zurückscheuen (NU 122), in eine Lust an der Raserei jeglicher Art (NU 45), so daß von diesem tobsüchtigen Wesen her (188, NU 7) das Verderben über sie selbst kommt. Für den Bischof Las Casas sind die Geschicke der indianischen und europäischen Völker nicht in der Weise verbunden, daß sich sagen ließe, Gott habe den Christen zum Sieg verholfen und die Heiden in ihre Gewalt gegeben; er sieht es anders: »Gott hat uns die Länder gar nicht gegeben. Nicht Gott, sondern der Satan. Das Geschwür unserer Verderbtheit soll zum Reifen kommen.« (232) Döblin geht in seinem Südamerika-Roman immer wieder solchen Verschränkungen nach, in der Gewißheit, daß die Menschen sich nicht zufällig treffen, sondern in ihre Begegnungen als Zusammengehörige geführt sind, mit einer Formulierung des Hamlet-Romans gesagt: sie kämpfen ihr Heil oder ihr Verderben zusammen aus 8 . Das ist eine Einsicht, die Döblin schon früh gewonnen hat, nur dichtet er jetzt nicht die Begegnung einzelner Menschen, sondern die ganzer Völker. Eine dieser Verklammerungen ist mehrfach ausgeführt: Döblin spricht von der Katastrophe eines Erdbebens, welches die Andenländer erschüttert (18) und die von den Europäern bewirkte Erschütterung ankündigt, und er spricht von der Katastrophe einer Vulkaneruption: der »Vulkan Europa« hat begonnen, seine Menschen auszuwerfen (143), aus diesem »Menschenvulkan« (207) werden immer mehr Menschen herausgeschleudert und gelangen in weit entfernte Erdteile. Der Vergleich mit dem Vulkanausbruch hat noch einen andern Aspekt. Von den Eroberern wird nämlich gesagt: »Sie waren Steine, die aus einem Feuerberg spritzten und in die Luft sprangen, hinfielen und zersplitterten.« (188) Damit ist deutlich gemacht, daß diese Europäer ihrem angestammten Ort entrissen und ins Leere gejagt sind: Fortgetriebene, Stürzende und Hingeworfene. Sie sind das völlige Gegenteil zu den in ihrem Boden verwurzelten, von den Ahnen umgebenen, in der Wiederholung des Gleichen verharrenden Indios. In den Europäern sind Menschen dargestellt, die kein Verweilen, kein Wohnen und Bleiben kennen, Unbehauste, zu flüchtigem Unterwegssein Genötigte. Sie meinen zu bestimmten Zielen unterwegs zu sein, die sie sich selber gesetzt haben - Gold, Herrschaft, Ruhm (143) —, aber ihr 8

H 5 4 0 f.

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Weg geht ins Ungefähre und Ungewisse, und was sie eigentlich antreibt, wissen sie nicht (101); dem Leser indessen wird klar, daß sie diesen Weg haben nehmen müssen, »um sich zu vernichten und zu verlieren« (94). Ihr Los wird gleich beim ersten Auftreten der Eroberer in einer Szene von stärkster Gerafftheit einsichtig gemacht: »Sie gingen in die Flüsse, kein Krokodil war zu sehen, aber plötzlich schrie der Schwimmer grauenhaft, herzzerreißend auf, und schon versank er, und wenn man ihm im Boot zu Hilfe kam und ihn herauszog, so hatte man statt eines Menschen ein Skelett in den Händen, und an ihm hingen kleine Fische, die zu Tausenden im Wasser wimmelten und nach dem Fleisch schnappten.« (26 f.) Keiner der weißen Abenteurer ist porträtiert oder auch nur genannt, ohne daß sein Sterben knapp oder ausführlich geschildert wäre: Garcia von Lerma fällt im Kampf mit den Indios, Rodrigo Bastidas wird von seinen eigenen Leuten umgebracht (93); ein Felsblock zermalmt Ambrosius Alfinger (92), Nikolaus Federmann ertrinkt (187), Gonzalo Ximenes da Quesada geht am Aussatz zugrunde (184), »so waren sie alle hin, Generäle und Gouverneur, die so getobt hatten.« (188) Der Roman versucht die Hintergründe des rätselhaften Vorgangs zu erhellen, daß im 16. Jahrhundert die Menschen Europas von einer großen Unruhe befallen werden und in plötzlichem Ausbruch über die ganze Erde ausschwärmen müssen (94). Auffällig ist, daß sie sich als die aus dem Paradies Vertriebenen, ins Elend Gestoßenen und dem Tod Verfallenen sehen, ein Selbstverständnis, auf das bei Alfingers Verwundung — ihn hat einer der meist tödlich wirkenden Giftpfeile getroffen - hingewiesen wird: »Alfinger ließ sich vom Pferd heben, alle Menschen müssen sterben, vom Baum der Erkenntnis habt ihr gegessen, darum sollt ihr verflucht sein.« (87) Dieses Ausgesetztsein ist ihnen schon unter dem Himmelsstrich, wo sie aufgewachsen sind, nachdrücklich zum Bewußtsein gebracht worden: »Der Himmel gab ihnen nicht sein ganzes Licht, sogar die Sterne, die sich nachts enthüllten, funkelten nicht gewaltig wie im Süden, sie waren tief in den Himmel zurückgesunken. Hier hätten die Menschen wie Gespenster verdämmern müssen. Aber sie wehrten sich gegen den Tod. Sie wurden stark, wild, übermäßig. Sie waren aus dem Kampf gegen den Tod entstanden. Sie zogen gewaltig in Heeren herum. Sie brachen aus ihren dämmerigen Ländern vor.« (84) Geprägt vom unaufhörlichen Kampf gegen den Tod, sind sie zu todbringenden Menschen geworden. Sie kennen keine Schonung, sie verfahren als selber nicht Geschonte schonungslos mit den andern wie mit sich selbst. Nichts soll sie aufhalten können, weder Urwälder, Dornengestrüpp, Skorpione noch Hitze, Hunger, Kälte (105). 318

Das brutale Vorgehen der Eroberer gegen die Eingeborenen, für das Alfinger, der Grausamste der Grausamen (91), nicht etwa als abwegige Ausnahmeerscheinung, sondern als entsetzlich typisches und zur Entstehungszeit des Romans prophetisches Beispiel zu werten ist - dieses Vorgehen verlangt in seiner Unfaßlichkeit nach mythischer Darstellung: »An ihre Spitze hinter dem Tambour hatte sich die Kriegswut gesetzt mit Helm, Küraß und Schienen von wahren Menschen, ein Pferd hatte sie mit ihrem Gewicht belastet, sie schlug mit dem Schwert und gab keinen Laut, wenn sie zustieß. Man konnte sie hinter dem geschlossenen Visier nicht erkennen. Hätte man sie vom Pferd genommen und aus ihrem Küraß geschält, so wäre der weiche Schleimpilz, der faule Bovist, herausgekommen, er wäre geplatzt und hätte sich als dicker klebriger Saft über den Boden ergossen.« (181) Hier ist der Zusammenhang von Hinfälligkeit und Aggressivität, von Nichtigkeit und Gewalttat evident gemacht. Diese Menschen sind Eroberer, weil sie sich gegen den Tod zur Wehr setzen: sie wollen sich vor ihm sichern, indem sie Macht und Herrschaft erstreben, sie suchen im Ruhm Unsterblichkeit und sind nach Gold gierig, um sich in den Besitz von Unverweslichem zu bringen und sich ein Leben ohne Arbeit und Mühsal zu ermöglichen. Und bei alledem sind sie auf dem Weg, der sie in die Vernichtung führt; sie wollen dem Verhängnis entgehen, und gerade dadurch gehen sie ihm entgegen, wie der im Roman einmal erwähnte ö d i p u s (509). Und sollten auch sie, wie einige Indianerstämme, auf ihren Fahrten das Land, das Freiheit und Glück versprach (NU 5), gesucht haben, das Land ohne Tod, das ihnen hätte Heimat sein können — sie verkommen als die, die sie gewesen sind, als Fremdlinge. Das Fremdsein - Daseinsgefühl dessen, der sich aus dem Paradies verstoßen weiß — ist die Kraft, die wegtreibt und vorantreibt. Denn in der Fremde fühlt man sich durch nichts gebunden und zurückgehalten, und von denen, die sich überall fremd fühlen, kann die Unbekanntheit der Fremde nicht als abschreckend erlebt werden. Die räumlichen Gegebenheiten — Unwirtlichkeit und Feindseligkeit nördlich gelegener, der Winterstarre ausgelieferter Länder — können für sich allein genommen den Aufbruch der Europäer nach dem Süden nicht zureichend erklären. Ganz abgesehen davon, daß Döblin monokausale Erklärungen ablehnt und ein lückenloses Verstehen überhaupt nicht für möglich hält, hat ja die Aufbruchstimmung Europa in einer bestimmten Epoche erfaßt, und somit sind zumindest auch zeitliche Faktoren zu berücksichtigen. Eine Zeitenwende ist eingetreten, ein neues Zeitalter angebrochen. Nach vereinzelten Anspielungen auf die große Umwälzung kommt Döblin schließlich im Achten Buch und im »Neuen Urwald« 319

ausführlicher darauf zu sprechen. Er skizziert den Umbruch vom Spätmittelalter zur Renaissance, zeichnet die Jenseitssehnsucht der gotischen Epoche, das Streben weg aus dem schreckenvollen Dasein, himmelwärts zur überirdischen Seligkeit, und dann die Hinwendung zum Diesseits, die alles verändernde Erkenntnis, daß der Mensch der Erde zugehört, eine Wiederentdeckung, gefördert durch die Lektüre antiker Literatur wie durch die ausgegrabenen Plastiken, bei deren Anblick man sich vor Schreck und Entzücken an die Brust greift (562). So bestürzt sind die Menschen, daß sie für einen Augenblick nicht mehr wissen, wo sie sind, bis sie von den Kunstwerken die Antwort vernehmen: Auf der Erde. Sie haben ihre Wiedergeburt erlebt. Die Renaissance und die von ihr inaugurierte Neuzeit wird von Döblin die prometheische Epoche genannt, als deren vornehmliche Exponenten er Leonardo und Descartes betrachtet. Vom Geist des Prometheus stärker denn je getrieben, verlangt der Mensch danach, nur von sich abzuhängen, von den selbständig gefertigten Produkten zu leben, die Erde nach seinen Bedürfnissen umzuschaffen. Er verfolgt in diesem Zeitalter der Erdeentdecker, für das »entdecken« so viel heißt wie »erobern« und »bezwingen«, »gradlinig« fortschreitend das Ziel, die Welt »handlich« zu machen, »sie in seine Faust zu bekommen«. 9 Den »Einbruch eines neuen Promethismus« verbindet Döblin mit dem Wandel in der Kosmologie. Wie die Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde den entscheidenden Anstoß dazu gab, daß Kolumbus seine Fahrten unternahm und — folgenreichstes Ereignis — auf die Welt der Indianer traf, so hat auch das heliozentrische Weltsystem von Kopernikus und Galilei (563) tiefgreifende Konsequenzen. Wenn die Erde sich unablässig bewegt, kann sie keinen Ort mehr haben; man kann höchstens noch von Stellen, von Punkten reden, an denen sie sich für einen bloßen Moment befindet. Für den Fall, daß man am Ausdruck »Ort« festhalten will, muß man sich der Bedeutungsveränderung bewußt sein: das Wort bezeichnet nunmehr den geometrischen Ort. Somit wird auch unter »Raum« nicht mehr dasselbe verstanden wie zuvor. Er ist etwas Leeres, Homogenes, Unendliches geworden — »unendlich ist der Raum» (NU 12) —, er ist nicht mehr strukturiert mit Oben und Unten, mit Himmelsrichtungen, mit Grenzen und Plätzen. Die auf der Erde sind, die Menschen, haben ihre Stätte nicht mehr zwischen Himmel und Unterwelt. Vielleicht werden sie immer noch solche Worte gebrauchen und weiter davon reden, daß die

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Prometheus und das Primitive, PG 3 5 1 - 3 6 1 .

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Sonne aufgehe und untergehe, aber sie tun es fortan entweder gedankenlos, indem ihnen der Verlust der Legitimation dazu nicht bewußt ist, oder mit schlechtem Gewissen, denn in Wahrheit, wie man ja weiß, verhält es sich anders, oder mit Achselzucken, sind doch die Wörter offensichtlich bloße Hülsen, aus denen das Lebendige längst gewichen ist. Von der Gleichberechtigung der verschiedenen Weltsysteme weiß man noch nichts. 10 Mit diesem Wandel in den Vorstellungen von Ort und Raum hängt es zusammen, daß die Europäer von einer großen Unruhe befallen sind und in unaufhörlicher Bewegung sein müssen, entsprechend der Dynamik, welche die Kosmologie jetzt der Erde zuweist. Sie meinen die Handelnden zu sein, aber das Gesetz des Handelns liegt nicht in ihnen. Daß der Mensch der Neuzeit ein Unbehauster sei, wie Goethe im »Faust« sagt, ein Unmensch ohne Zweck und Ruh 11 , das hat Döblin, über den exemplarischen Einzelfall hinausgehend, als das über viele Völker kommende Geschick, als die Signatur eines Zeitalters, dargestellt. Gleich zu Beginn der Zeitenwende in ihrer ganzen Tragweite sichtbar geworden, beherrscht die Unbehaustheit die folgenden Jahrhunderte, bald schamlos triumphierend, bald verhüllt. Der Dreißigjährige Krieg, der aus weiten Landstrichen Wüsten macht, die Menschen zu Abertausenden in den Untergang reißt (475), ist in Döblins Augen die Entsprechung zu den Feldzügen in der Neuen Welt, in denen die Indios fast ausgerottet, ihre Wohnstätten zerstört worden sind. Mit dem Dreißigjährigen Krieg beginnt sich die indianische Prophezeiung, daß die Weißen sich selbst vernichten würden (200), zu erfüllen, und wenn Döblin seinen Roman weiterführt bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten (NU 136), dieser neuen Eroberer, die den Konquistadoren in nichts nachstehen und am liebsten, wie es in früheren Zeiten geschah, ganze Völker töten und ausmerzen möchten (NU 147), dann kündet er, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, einen weiteren Akt dieser Selbstzerstörung an. Aber Döblin richtet seine Aufmerksamkeit nicht auf die Endphase des Zerstörungswerks, das seinen unabwendbaren Gang nimmt, ihn interessiert der Anfang; deshalb ruft er die Begründer des neuen Zeitalters, Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno, durch Nekromantie ins Ge10

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Daß es gemäß heutiger Auffassung keine Präferenz eines bestimmten Bezugssystems geben kann, deutet Döblin in »November 1918« (III 281) an; dieser Gedanke ist die Konsequenz dessen, daß sich nirgends ein ruhender Punkt ausmachen läßt. Im »Neuen Urwald« heißt es: »Die Erde, die Sonne und alle Sterne bewegten sich« (NU 18); damit ist der Streit, ob die Erde oder die Sonne stillstehe (NU 8), gegenstandslos geworden. V. 3348 f.

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spräch: er möchte wissen, wie es zu alledem gekommen ist, zum Verlust des Ortes, zum Unvermögen, zu wohnen und wohnen zu lassen. Und von der Erfahrung der Hauslosigkeit her kann er nun auch nach der Möglichkeit des Wohnens fragen und dieses Thema in den Kapiteln, die von der Ansiedlung der Indios durch die Jesuiten handeln, erörtern. Dabei ist zu beachten, daß Döblin den Verlust des Ortes unter den Verlust des Konkreten subsumiert. Es setzt sich in der Neuzeit eine alles erfassende Tendenz zur Abstraktion durch. Wie der Raum zur leeren Dreidimensionalität reduziert wird, so macht man aus der Zeit den reinen Ablauf, die Momentwirklichkeit, die Bewegung des Sekundenzeigers — die neue Kosmologie steht denn auch im Dienst der Kalenderreform, der exakten Zeitberechnung, und dies wird, in Gestalt der Sackuhr (587), das Wesen des Menschen prägen —, und in gleicher Weise hat sich die ganze Fülle des Wahrnehmbaren einem ins Abstrakte führenden Reduktionsprozeß zu unterwerfen. Der Augenschein erweist sich als Augentrug. Nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen ist Wahrheit zu suchen. »Die Sonne schien, und es kam einem vor, als ob es Farben gab, auf Blumen, Gesichtern. Aber das war eine Täuschung. Es gab nur Schwingungen«, so daß man sagen kann: »In Unsichtbarkeiten lebte und arbeitete man.« (NU 18) Was das bedeutet, sagt Döblin an derselben Stelle mit der ihm eigenen Radikalität, d. h. in einer auf die Wurzel zurückgehenden Ausdrucksweise: »Die Menschen hatten die Art der früheren Menschen. Es gab aber keinen Himmel, keine Tiere, keine Pflanzen, keine Geister. Man hatte sie alle mit Flinten und Kanonen besiegt und in die Flucht geschlagen. Die Erde, die Sonne und alle Sterne bewegten sich, rasten und waren auf der Flucht nach einem fernen, fernen, furchtbaren Ziel.« Flinten und Kanonen stehen hier als Inbegriff des neuen Wissens und Könnens, welches von der Kinetik präokkupiert ist und aus dieser die Macht gewinnt. Daß in der Neuzeit Himmel, Tiere, Pflanzen und die Geister der Ahnen aus dem Denken verschwunden sind und aufgehört haben, das Dasein des Menschen zu begleiten, gehört wesenhaft zum Verlust der Wohnstatt. Für die Unbehausten gibt es »keine Hilfe von den Feldern, keine Hilfe von den Tieren, keine Hilfe von den Bäumen« (196), sowenig wie von den Ahnen.

Die Jesuitensiedlungen Es ist sehr merkwürdig, daß Döblin im Amazonas-Roman das neue Zeitalter mit seinen Umwälzungen, Entdeckungen, Eroberungen ent322

schieden negativ wertet, Bilder der Unmenschlichkeit aneinanderreiht, die Europäer als Gewaltmenschen, Tobsüchtige und Verzweifelte zeichnet (421), daß er leitmotivartig wiederholt, sie hätten über die ganze Erde ausschwärmen müssen, um sich zu vernichten und zu verlieren (94, 207, 254, 421, NU 64), und zum Urteil kommt, daß alle Reichtümer, die sie sich aus dem neuentdeckten Erdteil geholt hätten, zu nichts gut gewesen seien (475). Denn er sieht doch sonst immer die Komplexität der Dinge und ist dementsprechend zurückhaltend und subtil in den Wertungen. Es scheint keine Eindeutigkeit zu geben, alles steht im Zwielicht. Glück kann Verderben bedeuten, Verzweiflung den Beginn des Heils. Wenn im Wang-lun-Roman zu lesen ist, es werde keine Erweckung im Menschen erfolgen außer durch Unruhe und Beängstigung 12 , müßte man dann nicht auch annehmen, daß für Döblin die tiefe Unruhe der Europäer nicht allein den negativen Aspekt aufweist, den sie uns bisher gezeigt hat? Als eindeutig verwerfend wäre jedoch seine Darstellung des neuen Zeitalters nur aufzufassen, falls sie einen reaktionären Sinn hätte, falls Döblin der spätmittelalterlichen Weltverachtung und Jenseitserlösung das Wort reden wollte. Aber soviel Bitteres er erfahren hat, sosehr er Trauer und Schwermut kennt, nie ist er auf der Seite derer gewesen, welche die Welt verwerfen. Er möchte vielmehr sein Leben verbringen »mit Dank für das trotz aller Schrecken herrliche Dasein« 1 3 . Die von der Renaissance vollzogene Richtungsänderung, die Hinwendung zum Diesseits liegt also durchaus in seinem Sinn. Er spricht in »Amazonas« von Befreiung (563); zwar gibt er nicht seine persönliche Meinung, aber er versetzt sich in die dargestellten Menschen und redet aus ihnen heraus: ihnen ist zumute, als wären sie Gefangene gewesen, in ihrem Haus Angekettete, und hätten sich nun der Fesseln entledigen, die Bewegungsfreiheit zurückgewinnen und endlich einen Schritt vor die Tür tun können. Solche Töne machen das Bild nuancierter. Sie lassen auch etwas von der Notwendigkeit des Neuen erkennen. Jene rätselhafte Unrast ist - gewiß nicht nur, aber jedenfalls auch - gegen die Stabilität der mittelalterlichen hierarchischen Ordnung gerichtet, die das Diesseits und Jenseits durchwaltet; sie erschüttert, was das Denken als ewig Gültiges hat festlegen wollen. Zugleich treibt diese Rastlosigkeit die Europäer dazu, fernab im Inkareich die staatliche Ordnung zu zerstören. Aber die Weißen, so erklären die Indianer nach der Katastrophe, »haben nur

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SW 306. AL 226.

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zerstört, was wir auch nicht erhalten wollten«, und wie das gemeint ist, erfährt man aus den Vorwürfen, die sie ihren Fürsten, auch ihrem Anführer Cuzumarra machen: »Ihr seid schuld, daß die Weißen das Land unterjocht haben und morden und unsere Dörfer verbrennen. Was ihr mit dem Land getan habt, war nicht gut. Nein, Cuzumarra, alle deine Straßen, Vorratslager, die Hilfe für die Alten und Kranken und die Verteilung der Aussaat und der Ernte, wovon du erzählst, es war alles nicht gut. Haben wir ein Wort sprechen dürfen, das der Inka und ihr, die Fürsten und Führer, die eingesetzt waren, nicht vorher geprüft habt? Wir haben kein Kleid getragen, das ihr nicht berechnet habt. Ihr habt uns jeden Bissen in den Mund gezählt.« (57) Was Döblin diese Indios sagen läßt, legt den jedes Urteil verwirrenden Gedanken nahe, daß der Untergang des Inkastaates gut ist, oder vielmehr daß er schlimm und gut zugleich ist, wiewohl natürlich die Gewalttaten der Eroberer eindeutig böse und nur böse sind und bleiben. Aber im menschlichen Handeln, das in keinem Fall dem Urteil der Ethik entzogen ist, macht Döblin das Handeln Gottes erahnbar, das von keinem Urteil erreicht werden kann. 1 4 Das Ungeheure, das mit den Völkern der Neuen Welt geschieht, ist nach Döblins Überzeugung nur so zu erfassen. Auf den schrecklichen Wegen der Vernichtung begegnet nicht nur die Ruchlosigkeit des Menschen, eine Bosheit, die man nicht für möglich halten möchte (247), man begegnet der Vernichtung als dem unentrinnbaren Geschick, mithin dem Schrecken, der von Gott ausgeht. Hier gelangt man in den Bezirk jener scheuen tiefen Ehrfurcht, die nach dem früher zitierten Wort Döblins dasteht und schweigt. 15 Der Südamerika-Roman geht, wie es in der Schrift »Unser Dasein« postuliert ist, den Weg in die Vernichtung, in das Verstummen. 16 Mitten im Erzählten müßte man immer wieder das Schweigen bemerken, aus welchem keine Anklage hervorbricht und nicht einmal eine Klage sich erhebt, das Überwältigtsein vom Nichts der Vernichtung, von der »Angst des Daseins«, die einen »erstickt« 17 .

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Wenn Muschg von Döblins »amoralischer Beurteilung der kolonisatorischen Greuel« spricht (Nachwort des Herausgebers, S. 651), scheint er zu übersehen, daß in allen Dichtungen Döblins die Schuld von entscheidender Bedeutung ist, er scheint über das Wort hinweggelesen zu haben, das in der »Babylonischen Wandrung« steht: »Wir kennen den klaren Unterschied zwischen Mensch und Tier: die Schuld.« (BW 516) Vgl. S. 314 (AL 394). Vgl. S. 149 (UD 476). Frühe biographische Aufzeichnungen, AS 13.

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Durch Untergang und Vernichtung also wird das Handeln Gottes gegenwärtig — für die Indios des Inkareiches ist es der Göttervater Virococha, der die Katastrophe beschlossen und herbeigeführt hat (200) — , aber auch darin zeigt sich, daß jedes einzelne als Teil in ein unfaßbares Ganzes einbezogen ist: »Es ist niemand in dieser Welt allein, ungeheuer verschlungen sind die Zusammenhänge.« (397) Verschlungenheit erweist sich in den Auswirkungen der europäischen Dynamik: sie zerrüttet das weitabgewandte Jenseitsheil und zugleich das staatlich organisierte Sozialheil, sie bringt dabei so Entlegenes und Ungleiches zusammen wie Kopernikus' Frömmigkeit (562) und die Geldinteressen der Welser (85), den Zwist der Inkasöhne (56) und den Vorteil windschneller Reittiere (36), die Verlorenheit der weißen Abenteurer (94) und die Göttlichkeit, die sie anfangs in den Augen der Indios haben (200). Was in all dem Treiben wirksam ist, deutet der Roman höchstens an, oder er spart es in der Wortlosigkeit aus. Erst später wird es in das Wort gefaßt: »Gott ist Geist, der Geist ruft und treibt die Menschen, daß sie nicht ruhen (auch in ihrer Verlorenheit).« 18 Zu den Andeutungen gehören zum Beispiel die Hinweise auf den Glauben der Indianer, ein vom Himmel herabsteigender blauer Tiger werde alles, was lebt, zerreißen (623), die bestehende Welt werde zugrunde gehen und eine neue solle entstehen (201), oder auf den Glauben der Christen, daß die Erde vernichtet werden müsse (226), die Toten jedoch dereinst in ein neues Dasein gerufen würden und dann keinem Tod mehr überantwortet seien (479). Jedes einzelne Zugrundegehen ist der Ausdruck der fundamentalen Unruhe, die zu stets neuen Hervorbringungen drängt und sich so auf das Ende der Welt und zugleich auf ihre Erneuerung hinbewegt, und darum kann Döblin von der Welt sagen: »Sie liebt den Zerfall - nicht um zu vergehen.« (578) All die Unruhe in einer Welt, wo nichts Bestand hat (623), der Aufbruch aus den Wohnstätten wie das Wüten gegen Wohnstätten, die Obdachlosigkeit und das Unterwegssein, dies zielt also im Grunde genommen auf die Möglichkeit des Bleibens. 19 Die Frage nach dem

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Die Dichtung, ihre Natur und ihre Rolle, AL 256. Döblin akzentuiert anders als Nietzsche. Wenn dieser sagt: »Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn sie sind die Hinübergehenden« (Zarathustras Vorrede 4), ist ihm wesentlich, daß der Mensch »den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft« (ebd. 5). Es geht ihm um die Veränderung und Überwindung des Menschen, er preist das unaufhörliche Werden. (Dieses Entwicklungsdenken, der Biologie entstammend, ist von Döblin 1903 in der Schrift »Zu Nietzsches Morallehre« ausführlich kritisiert worden.) Wenn Döblin von den Sinkenden und

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Bleibenkönnen erscheint hier nicht als das Fernste und Äußerste; sie ist im Amazonas-Roman das Zentrale. In der Mitte, umgeben von Kapiteln über Verderb und Zerfall, steht der Versuch, den verjagten und verfolgten Indios zu helfen, einen Ort zu gründen, wo sie in Frieden wohnen können. Angesichts der grauenhaften Verwüstung, welche Anfang und Ende der Romantrilogie beherrscht, verliert das Entstehen eines Ortes das Selbstverständliche und wird zu einem elementaren Vorgang. Orte sind nicht immer schon und überall im Raum vorhanden; sie müssen geschaffen werden und sind gleich allem Geschaffenen von der Vernichtung bedroht. 2 0 Der Begriff des Ortes ist mit dem der Sammlung verknüpft. Die Jesuiten, die das unmenschliche Bild der Eroberer zu korrigieren und »das wahre Gesicht des weißen Menschen zu enthüllen« im Sinne haben (421), wollen die auf der Flucht befindlichen und dem Untergang preisgegebenen Indios sammeln und ansiedeln. Die Gründung eines Ortes geschieht unter den Leitwörtern »Flucht« und »Sammlung«. So lautet auch der Titel, den Döblin über seine Gedanken zur Geschichte des Judenvolkes gesetzt hat. Seit der Zerstörung Jerusalems und der Verwüstung Palästinas durch die Römer dauert die Flucht des Judenvolks an und damit die Gefahr der Vereinzelung und Auflösung, nun aber soll diese Not ein Ende haben: Sammlung und Ansiedlung, ob in Palästina oder anderswo, sollen das Zeitalter der Diaspora abschließen. 21 Denselben Fragen geht Döblin im Amazonas-Roman nach, hier nun ohne die Erwägungen der Politik und Praxis, auch nicht im Stil der Debatte und Polemik. Die dichterische Gestaltung führt tief ins Grundsätzliche. Flucht ist nicht einfach das durch den politisch-militärischen Entscheid einer Großmacht ausgelöste historische Ereignis; ein größerer Horizont tut sich auf, der sogar kosmische Dimensionen annimmt: »Die Erde, die Sonne und alle Sterne bewegten sich, rasten und waren auf der Flucht.« (NU 18) Wenn nun aber in ungewöhnlicher Ausdrucksweise von der »Flucht nach einem fernen, fernen, furchtbaren Ziel« die Rede ist, heißt das ja, daß der Flucht ein Ende bestimmt und in der Flucht auch schon die Sammlung am Werk ist. Im Hinblick auf jenes ferne Ziel — das Ende der Flucht am Jüngsten Tag und die Vollendung der Gesammeltheit

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Versunkenen spricht (vgl. das Zitat S. 312), denkt er über Verlust und Ermöglichung des Bleibens und Wohnens nach. Zum Grundsätzlichen der hier angeschnittenen Fragen vgl. Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: Vorträge und Aufsätze, Teil II, Pfullingen 1954, S. 19 — 36. FS 7 ff.

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- gründen die Jesuitenpatres ihren Ort. Ihnen schwebt das Bild des himmlischen Jerusalems vor (457). Nicht daß der zu gründende Ort schon die heilige Himmelsstadt selber wäre; anderseits kann es auch nicht so sein, daß die irdische Stadt mit der himmlischen gar nichts zu tun hätte; so dürfte man vielleicht sagen, daß der Ort wenigstens mit einer Spitze sie berühre. Wenn der Begriff des Ortes mit dem der Sammlung verbunden ist, wird damit auch gesagt, daß die Menschen, die einen Ort haben, nicht bloß eine Ansammlung bilden, sondern zusammengehören. Was ist es, das sie eint? Döblin berichtet, wie die Indios an der Stelle, wo die Siedlung entstehen soll, daran gehen, »einen Ort für die Kirche mit Ästen abzugrenzen« (396). Abgrenzung: dies ist nach verbreiteter Ansicht das Etymon, das in dem Wort »Tempel« steckt. Es handelt sich um die Grenze, an der der Mensch sich selbst erkennt, nämlich daß er nicht Gott, sondern ein Sterblicher und dergestalt Gottes ist. Im Ausgerichtetsein auf diese Erkenntnis ist Versammlung erst möglich. Darum werden die Indios ihre Häuser an dem Abgegrenzten errichten, sie werden »bei der Kirche wohnen« (388). Nun beginnt sich abzuzeichnen, daß in Döblins Roman die Frage nach dem Wohnen auf die umfassendere Frage nach dem Menschsein abzielt; so werden auch extreme Verfallsformen des Menschlichen in die Darstellung einbezogen: Vergottung und Verwilderung. Nachdem die spanische Regierung die Jesuiten aus allen ihren Ländern ausgewiesen haben wird, werden die von ihnen gegründeten Indianerniederlassungen zerbröckeln und zerfallen (618), die Indios sinken dann in den tiefsten Zustand der Schutzlosigkeit, werden versklavt oder verwildern (619). Diese Möglichkeit, daß nämlich der Mensch mit den Tieren und Pflanzen zusammenwachse 22 , ist im ganzen Roman präsent: verwildert sind die im Urwald lebenden Amazonen, die nach der Begattung, indem sie sich tanzend in Wut und Grausamkeit hineinrasen (78), die Männer töten 2 3 ; als Horden kehren die Reste des Volkes, das geordnet in den Städten und Dörfern von Cundinamarca gewohnt hat, in die Wildnis zurück (205); auch Europa verfällt der Wildnis, es wird zu einem neuen Urwald (NU 5), so daß sich Las Casas' Befürchtung erfüllt: »Ich

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Ν IV 423. Daß Muschg der Meinung ist, Döblin habe die Indianer als kindlich verträumte, friedfertige Wesen geschildert, beruht teils auf der Klischeevorstellung von den unschuldigen Naturkindern und den durch die Zivilisation korrupt gewordenen Europäern (Nachwort des Herausgebers, S. 640), teils auf der Fehlinterpretation der Stelle: »Es gelang den Jesuiten nicht, sie böse zu machen« (S. 651); der Satz will sagen, es sei den Jesuiten nicht gelungen, die Indios zum Bewußtsein ihres Böseseins zu bringen.

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sehe es noch kommen, daß uns der Wald über den Kopf wächst.« (229) Europa ist - wie Grillparzer erkannt hat und Döblin es nachzeichnet, indem er die gleichen Stationen nennt — auf dem Weg von der Humanität 2 4 durch die Nationalität 25 zur Bestialität 26 gelangt. Diese Verwilderung, welche die menschliche Seele mit einem Urwald voller Schlangen und wilder Tiere bedeckt (516), hat ihr ebenso unheimliches Gegenstück in der Vergottung: die Indios sehen in den Weißen übermenschliche Wesen und halten sie für unsterblich (183), der Konquistador selbst fühlt sich als »Herr über die Menschen« (102) und will »die Sintflut spielen und das Lebende ausrotten« (225), Giordano Bruno ist stolz darauf, einer der Wegbereiter für die neuzeitlichen Menschen zu sein und sagen zu können: »Wir haben sie als Herren der Welt eingesetzt« (NU 16), »der Mensch als Schöpfer, das haben wir eingeleitet, der Mensch nicht bloß als Diener und Anbeter.« (NU 15) Diese in vielerlei Spielarten auftretende Vergottungstendenz verlangt ein Korrektiv: aus Bildern von spätmittelalterlicher Kraßheit spricht das Memento mori (322f.). Der Mensch wird damit in seine Grenzen zurückgebracht, sind doch Verblendung (612), Krankheit (234) und Tod »geradezu ein Beweis für das Dasein Gottes«, wie denn auch in der »Babylonischen Wandrung« von den Friedhöfen gesagt wird: sie »künden auf zehntausend Steinen: >Der Herr ist ewig.< «27 Das Wohnen ist ein In-den-Grenzen-sein. Die Konquistadoren aber sind über die Grenzen hinausgetrieben, sei es in die Hybris, sei es in deren Gegenstück, die Verzweiflung: »Grenzenloser Hochmut der weißen Männer! Verzweiflung der weißen Männer!« (561) Und auch jenen andern ist das Wohnen im eigentlichen Sinn versagt, die sich in einen Zustand diesseits des Wissens um Grenzen zurücksinken lassen, im Wald leben als Wilde, keine Abgrenzung gegen die Tiere vornehmen und sich somit auch nicht im Schuldigseinkönnen von ihnen abheben. Nur im Wissen um die Sterblichkeit und die Schuld ist Wohnen möglich. Das ist der Grund, warum die Stätte, wo man Gott »in Frieden anbeten kann« (396), die versammelnde Mitte darstellt, und darum ist die Zerstörung des Tempels — in Guatavita (204) wie in Jerusalem 28 — ein Ereignis

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Repräsentant des Humanismus ist Bischof Felix von Assomption. N U 73: »Die Nation ist die größte aller Realitäten.« Auf das Grillparzerwort angespielt wird auch im Aufsatz »Prometheus und das Primitive« (PG 363 f.) und im Hamlet-Roman (H528). BW 271. FS 39, 128.

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von verheerenden Folgen für das Dasein sowohl der Gemeinschaft als auch des einzelnen. Der in der Diaspora Lebende, auch wenn ihm ein Ghetto zugewiesen oder sogar die Niederlassungsfreiheit gewährt ist, »weiß aufs tiefste wenigstens dieses: er hat keinen Ort.« 2 9 Die Jesuitenväter wollen für die Indios den Ort verwirklichen, wo sie nicht gejagt und verjagt (395), sondern geschont werden, wo sie bleiben dürfen und im Gewohnten sein, d. h. wohnen können, in der Einfriedung, mit der sie die wilden Tiere fernhalten und für sich selbst Raum einräumen (412), wo sie Häuser errichten (408), die Schutz gewähren (411) und das Ausgesetztsein beenden, wo sich Rücksicht und Behutsamkeit zu entfalten vermögen und den Umgang mit dem Leben bestimmen, wo sich deshalb auch die Hege und Pflege von Tieren und Pflanzen, der Landbau (422), entwickelt. Die Verwirklichung dieses Ortes nimmt nun aber einen Gang, daß manchmal ein Entsetzen den Jesuitenoberen Emanuel de Nobrega überfällt: »Das ist ja nicht gemeint, um Gottes willen, wir müssen es noch ändern, man müßte fliehen, in was für Dinge haben wir uns eingelassen.« (413) Das ist nicht mehr die hochgemute Haltung, die nach der Meinung des Provinzials der Jesuit haben sollte: »Es hat noch keinen von der Jesukompagnie gegeben, der daran zweifelte, daß er alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen könnte.« Nobrega erfährt die Wahrheit des Wortes: »Was wir auch machen, wohin wir uns auch begeben, es steckt voller Fallschlingen.« (418) Es bleibt nämlich nicht dabei, daß den Gründern des Ortes das himmlische Jerusalem nur vorschwebt; mehr und mehr ist ihnen, als bauten sie es wirklich. Sie »bauen es in Holz und Lehm« (408), wogegen es doch im Kirchenlied heißt: »Aus Seelen bist du aufgebaut.« (422) Sie glauben sich sagen zu dürfen: »In diesem Land ist kein Tod« (425) und denken nicht mehr an das Wort: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« (443) Nicht als Ordensangehörige, sondern als Apostel fühlen sie sich, als Simon und Andreas und Jakobus, die der Heiland zu Menschenfischern gemacht hat (425): sie meinen mit Jesus gleichzeitig zu sein. Die Differenz zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit scheint eingeebnet, zu einem »stehenden Jetzt«, zu einem Trugbild der Fülle der Zeit geworden zu sein; namentlich den Indios ist die Zeit, da Jesus lebte (431), und die Endzeit, die der Wiederkunft Christi (435), einerlei mit der Gegenwart, so daß in den Entzückungen ihres schwärmerischen Geistes (459) das

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FS 39.

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Heilige und das Profane, die Bitte an Maria und das Hobeln eines Balkens etwa, »eine ungeheuerliche, burleske Mischung« (423 f.) eingehen. Der Gedanke, hier äußere sich einfach die Naivität, die kindliche Unschuld der Indios, wird durch die Bezeichnung »burlesk« abgewiesen. Es ist ein Mangel, kein Vorzug, der den Unterschied zwischen dem Profanen und dem Heiligen aufhebt, nämlich der Mangel an Sündenbewußtsein. Döblin geht den beiden so ungleichen Daseinsweisen des Wohnens und des Unbehaustseins bis in ihre extremen Ausgestaltungen nach und analysiert dabei die zeitlichen und räumlichen Strukturen. In den europäischen Eroberern verkörpert sich die nach dem Mittelalter aufkommende Zeitkonzeption, für die das Wesentliche der Moment ist, die Bewegung des Jetzt, d. h. der Übergang vom Nichts zum Sein und vom Sein zum Nichts, die Abfolge der Jetztpunkte, deren jeder von so dürftiger Dauer ist, daß man sagen kann, er sei, indem er nicht sei, und indem er sei, sei er nicht. 3 0 Diese Konquistadoren, wegstrebend aus ihren Heimatländern, lassen in ihrem Vorwärts und Weiterweiter das Gewesene als das Wesenlose, das sie nichts mehr angeht, hinter sich, während das, was sie als ihre Zukunft betrachten — Glück, Macht, Herrschaft — illusorisch ist, so daß von ihnen gesagt werden muß: »Keinen Vater, keine Mutter, keine Kinder hatten sie. Sie waren ohne Ahnen und Nachfolger.« (188) Und weil das einzig Wirkliche für sie das Hier und Jetzt, das punktuelle Da ist, ist ihnen überhaupt kein Da, kein Bleiben und Wohnen gewährt. Sie sind der Nichtigkeit anheimgegeben. Sie wollen »Tod, für andere und für sich« (182); auf dem Weg, den sie gehen müssen, »um sich zu vernichten und zu verlieren« (207), bringen sie Verderben, die alten indianischen Reiche zerfallen bei ihrer Annäherung (618), ganze Völker gehen zugrunde (18). Daß die Konquistadoren keinen Ort haben, ist auf ihren Zeitigungsmodus zurückzuführen. Für die Indios hingegen, die, von den Jesuitenvätern geleitet, Kolonisten werden, ist der Ort das Primäre. Aber da sie sich an dem orientieren, was sie mit ihren Händen gebaut und angebaut haben, und da sie gewohnt sind, nur das Nahe und Greifbare für wirklich zu nehmen, wollen sie aus dem in der Apostelgeschichte oder den Evangelien Berichteten und aus den Hinweisen auf die Endzeit und die Neuerschaffung lauter Gegenwärtigkeit machen. Die Jesuiten, stets bereit, Tatsachen anzuerkennen und sich anzupassen, geraten in die Versuchung, sich ebenfalls in solche Beschränktheit zu fügen und darob

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Vgl. S. 152.

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die Spannkraft geschichtlichen Daseins zwischen Gewesenheit und Zukunft zu verlieren, sich in der Idylle wohlzufühlen und in deren Wohlgeordnetheit und Wohlstand die »himmlische Seligkeit auf Erden« (583) zu sehen. Darob schwindet ihnen das Erlösungsbedürfnis mehr und mehr. Bei ihnen, erklären sie stolz, sei alles »Plan, Vernunft, Organisation — weiter nichts« (572), das Verdienst waltet vor, und, konform dem in der Neuzeit tonangebenden Geist des Leistungswillens und der Arbeitswut (413), sind sie gar im Begriff zu denken, Verdienst sei überhaupt das einzige, was zähle. Schon hier begegnet man dem »Sinn für Praxis und Nüchternheit«, den »Werkzeuggedanken« und »Werkzeugnaturen«, von denen im »Neuen Urwald« die Rede sein wird (NU 58, 63, 88); die Möglichkeit kündet sich an, daß man wie Gustav Klinkert anstelle eines Kreuzes eine kleine Schere - Inbegriff reiner Zweckmäßigkeit — auf sich trägt (NU 61). Für alles erlassen sie Vorschriften, die von den Indios mit einer Genauigkeit eingehalten werden, als seien magische Riten zu vollziehen. Es geht dabei nicht nur um Einteilung und Regelmäßigkeit der Arbeit oder um die Verteilung der Erträgnisse (481), es wird auch verordnet, wie die Kleidung sein soll, es ist festgelegt, wie in jedem Haus die Pantoffeln zu stehen haben (494 f.), alles, Mensch und Ding, hat den ihm zukommenden Platz. Eine Art Konfuzianismus greift um sich, und man wird an das Urteil erinnert, das der Taschi Lama ausspricht: »Wie abgeschliffen glatt ist das, häuslich, über den Boden gebückt.« 3 1 Hauslosigkeit und Häuslichkeit, Unterwegssein und Seßhaftigkeit, das energiegeladene Weggschleudert- und Vorangetriebensein einerseits (188), anderseits das Beharrungsvermögen, wie es im Wort »Wo wir sitzen, sitzen wir« (573) zum Ausdruck kommt — diese Konfrontation zweier Daseinsweisen, weit entfernt, eine Wahl zwischen den Antithesen zu suggerieren, will offensichtlich auf die umkreiste Mitte aufmerksam machen. »Die Welt lebt von der Mitte« (531), sagt Bischof Felix - ein für diesen Zusammenhang bedeutsames Wort. Der humanistisch gebildete Bischof meint es freilich in einem andern Sinn, nämlich so, als sollten extreme Positionen gemildert und auf ein Mittelmaß gebracht werden, als wären sie in einem Kompromiß zu harmonisieren: »Alles Übermaß wird auf sein M a ß zurückgeführt.« Wenn jedoch die Mitte nicht zu ermitteln und verfügbar zu machen ist, wenn sie sich der Darstellung entzieht, so daß man von ihr eigentlich nicht reden, sondern nur schwei-

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Vgl. S. 184 (SW 311).

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gen kann, dann zielt jenes Wort - gewissermaßen in taoistischem Sinn — auf das Wirken der Mitte, welches das Ganze, den ungeheuer verschlungenen Zusammenhang (397), im Gleichgewicht hält und kein Ausbrechen, keine Absonderung zuläßt, vielmehr das Einseitige zurückholt. Das von den Jesuitenvätern erwirkte »Recht auf Absonderung« (469) erweist sich als nutzlos, denn »man lebt nicht allein in dieser Welt, es wird nichts geduldet, was sich abspaltet und sagen will >Ich, IchNovember 1918« « von Anthony W. Riley, a. a. O., S. 105 ff. Hinweise auf Kierkegaard geben u. a. Monique Weyembergh-Boussart, a . a . O . , S . 3 3 6 f . , 348— 350, und Adolf Steinmann, Alfred Döblins Roman »Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende«, Isolation und Öffnung, Zürich 1971, S. 127 ff.

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in einer Einbildung gefangen ist, nur auf eine einzige Weise in die Wahrheit hineinbringen: indem man ihn betrügt. Wer andrer Meinung ist, verrät damit nur, daß er nicht gerade ein sonderlicher Dialektiker ist, was man doch zu diesem Geschäft notwendig sein sollte.« 36 Man fängt also nicht geradewegs mit dem an, was man mitteilen will, zum Beispiel nicht so: »Das ist Christentum, was ich verkündige, wogegen du in bloß ästhetischen Bestimmungen lebst«, nein, man beginnt mit den Worten: »Wir wollen vom Ästhetischen reden.« Der Betrug dabei besteht darin, daß man dies sagt, nicht um beim Ästhetischen zu bleiben, sondern um zum Religiösen zu kommen. Die indirekte Mitteilung beruht auf einer Verkehrung, indem man, statt etwa zu sagen: »Ich bin Christ, du bist keiner«, erklärt: »Du bist Christ, ich bin keiner.« Indirekte Mitteilung in diesem Kierkegaardschen Sinn ist nun die von Gordon Allison erzählte Troubadour-Geschichte. Genau genommen ist nicht Allison der Erzähler, sondern Lord Crenshaw, wie man ihn im Familien- und Bekanntenkreis nach der Figur einer seiner frühesten Geschichten nennt. Diese Pseudonymität kennzeichnet einen Mann, der seine Identität verloren zu haben scheint, so daß der Fingerabdruck das einzig Sichere an ihm ist (41), eine rätselhafte Person mit auswechselbarer Persönlichkeit (42), einen Menschen, der im Unterschied zu den andern nicht meint, er wisse, wer er sei, sondern sich erst suchen muß (44). Als Dichter ist Allison nicht derjenige, der in seinem eigenen Namen spricht. Es muß darum auffallen, daß ausgerechnet Alice den Decknamen aufgebracht hat, indem sie ihn so und nicht mit seinem Taufnamen Charles anredete (42) 3 7 , als ob sie ihren Mann nicht in seiner Identität annehmen wollte. Ein weiteres Merkmal von Lord Crenshaws Troubadour-Erzählung ist — neben der Pseudonymität — die Umkehrung. Der Erzähler behauptet, Swinburnes Verse »There lived a singer in France of old« stellten eine falsche Version ursprünglicher Verhältnisse dar. Die Ballade, die davon berichtet, wie Jaufie Rudel die Prinzessin von Tripoli liebt, obwohl er sie nie gesehen, wie er im Verlangen, ihr seine Liebe darzubringen, schließlich die Fahrt nach Antiochien wagt, als Sterbenskranker dahin gelangt, ihr gerade noch seine Minne gestehen kann und von ihr geküßt wird, bevor er in ihren Armen stirbt — dieses Gedicht, der mittelalterlichen »Vida« des Jaufre Rudel de Blaia nachgebildet, wird von Crenshaw als eine faustdicke Sentimentalität bezeichnet (48) und 36

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Sören Kierkegaard, Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, zitiert in der Ubersetzung von A. Dorner und Chr. Schrempf, Jena 1922, S. 28 f. Schon »Gordon« ist ein Name, den Allison sich zugelegt hat (H 432).

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gründlich demoliert, indem er, in sehr modern anmutender Art, die Sitte der minnesängerischen Frauenverehrung als Meisterstreich der damaligen, aristokratischen Frauenrechtsbewegung darstellt, als Ausdruck des Geschlechterkampfes, als raffinierte Unterjochung der Männer, die dagegen nichts unternehmen können, weil die Beziehung zwischen Troubadour und Edeldame so honorig ist (73). 3 8 Eine solche Verdrehung macht nun aber Crenshaws TroubadourGeschichte noch nicht zur indirekten Mitteilung. Auch in »November 1918«, wo Satan den biblischen Bericht von der Vertreibung aus dem Paradies auf den Kopf stellt und behauptet: »Die Menschen sind gar nicht aus dem Paradies vertrieben worden. Sie sind von selbst gegangen. Sie hatten genug von der Bevormundung. Ich gestehe, an ihrer Aufklärung beteiligt gewesen zu sein« 39 , hat man es mit einer direkten Mitteilung zu tun; erst durch den Kontext des Romans wird aus dieser direkten Mitteilung des Lügenfürsten die indirekte des Dichters, eben die Täuschung, die denjenigen Leser, welcher sich in solchen Gedanken bewegt, in die Wahrheit hineinzutäuschen versucht. Bei Crenshaws Erzählung entsteht indirekte Mitteilung dadurch, daß er seine Version des Troubadourwesens gar nicht ernst meint, daß er durchaus auf der Seite Swinburnes steht und den Umweg der Entstellung einschlägt, um insgeheim zum Nichtpervertierten, Ursprünglichen zurückzulenken. Döblin hat in dieser Hinsicht für völlige Klarheit gesorgt, er hat vor der JaufieGeschichte und nachträglich die deutlichsten Signale gesetzt, zuerst — zur Information des Romanlesers, nicht aber der Zuhörerschaft — durch Allisons zu sich selbst gesprochene Worte, nachdem er die überlieferte Fassung wiedergegeben hat: »Oh, dies zu können — wenigstens im Tode dies zu haben« (46), dann durch seine Erklärung James gegenüber: »Du mußt nicht glauben, daß das wirklich meine Meinung war.« (539) Crenshaws Erzählung enthält das verhüllte Geständnis der schmerzlichen, troubadourhaft zarten, unbeirrten Liebe Gordons zu seiner Frau Alice. Mag sein, daß seine Zuhörer ihm dergleichen überhaupt nicht zutrauen, der Leser weiß es besser, er läßt sich von Allisons massiger Erscheinung nicht zu den abwegigen Schlüssen verleiten, er sei ein Schlemmer (77) oder ein Gewalthaber wie der massive Gatte Rosamundes, der Schloßfrau mit dem feinen Gemmengesicht (64). Denn beim Anblick des korpulenten Allison wird an Piatons Lehre erinnert, nach

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Diese Auffassung der Liebe findet sich schon in einer der frühesten Erzählungen Döblins, in den »Memoiren des Blasierten« (E 9 2 f . ) . Ν IV 384. - Auch im Hamlet-Roman kommt dieses Thema vor: Η 190 f.

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der die Seele des Menschen im Leib als in einem Kerker wohnt; das Fett hat ihn überwältigt, »wie die Lepra, welche das Gesicht plump auseinanderzerrt und starr macht und zarte, heitere und klagende Seelen hinter einer grauenhaften Löwenfassade begräbt«. (44) Wie öfter in Döblins Dichtung ist auch hier Schwerleibigkeit korreliert mit Schwermut. Es ist die Schwermut, die Allison-Crenshaw zu dem sonderbaren indirekten Umgang mit seiner Frau veranlaßt. Nur noch so, nicht auf direkte Weise, kann er sie zu erreichen hoffen. Sie lebt in Einbildungen und Lügengespinsten, und es muß schon zu Beginn ihrer Ehe gewesen sein, daß sie zu träumen, zu phantasieren anfing: »Unter meinen Händen«, sagt Gordon Allison, »träumte sie mir davon!« (539) Erst spät erfährt man, daß sie sich in ihrem Sinnen und Sinnieren mit dem längst auf dem Grund der Nordsee liegenden Marineoffizier Franklin Glenn Washtrook beschäftigt, den sie in ihrer Jungmädchenzeit auf einer Indienreise mit ihrem Bruder kennengelernt hat und dem sie noch in den ersten Ehejahren ab und zu begegnet ist. »Wir waren Freunde, Kameraden, Liebende«, erzählt sie ihrem Sohn. »Ich liebte ihn vom ersten Augenblick, wo ich ihn sah, und er mich. Wir waren füreinander geboren.« (451) Was daran wahr ist, läßt sich nicht ausmachen, denn ihr ergeht es wie Lucie in »November 1918«: wenn sie Bilder vergangener Situationen vor ihren Geist stellt, retuschiert sie diese Situationen und korrigiert die Vergangenheit, sie bringt schöpferisch neue Nuancen an, und davon ist auch »ihre kurze, selige Jugendliebe« betroffen. 40 Wie es mit Verschollenen geschieht, wird Glenn zu einem Traumbild. 41 »Ihr habt euch nie geküßt«, sagt Döblin an einer der nicht eben häufigen Stellen, da er selber das Wort ergreift, »habt euch die Hände gedrückt und euch selig angeblickt, und das war der Himmel von damals.« (498) Aber Alice eröffnet nun ihrem Sohn, sein wirklicher Vater sei Glenn (457f.). Das hat sie auch ihren Ehemann schon früh glauben machen wollen (477 f.) und damit Streit, ja Handgreiflichkeiten ausgelöst. Von damals datiert der Schrecken in Edwards Seele, was ihm bei der Wiederholung derselben Situation endlich bewußt wird. Daß die Erzählung von Glenns Vaterschaft eine Fabel ist, eine Erfindung des Affektes (491 f.), ist auch dem Arzt Dr. King, wie er davon hört, sogleich klar. 42 Alice indessen spinnt

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Ν IV 372. Ν II 343. Walter Muschg ist das Opfer dieser Fabeleien geworden, und.,deshalb konnte er den in mehrfacher Hinsicht ungeheuerlichen Satz schreiben: »Dann erfährt er die ganze Wahr-

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in ihren stummen Gesprächen mit Glenn die Fabelei immer weiter: »Es ist dein Sohn, obwohl in der Ehe mit einem andern geboren, dem ich nicht angehört hatte. Ich habe ihn für dich, in deinem Namen getragen, zur Erinnerung an dich aufgezogen, ihn dir, ihn uns geweiht.« (496 f.) Alice ist der Rosa Luxemburg in »November 1918« zu vergleichen, die, von Sehnsucht verzehrt, in einen gespenstischen Umgang mit ihrem im Krieg verschollenen Freund gerät, so daß sie selbst ein Gespenst zu werden im Begriff ist. 4 3 Liebe, die nicht ausgeliebt ist, hat auch die Elsässerin Hanna sehnsüchtig gemacht, nachdem der deutsche Leutnant Heiberg am Kriegsende aus Hagenau verschwunden ist und nicht mehr von sich hören läßt. Was Döblin über sie schreibt, könnte auch von Alice gesagt sein: Wie oft hat sie »sich da auf einen Stuhl gesetzt und gewartet und die Gemeinschaft mit dem Abwesenden gefühlt. Aber kein Gefühl konnte ihn wirklich fassen und halten. Und so lebte sie mit Armen und Beinen, Kopf und Leib, in der kleinen Stadt, die jener Abwesende betreten hatte — aber sie war nicht wahrhaftig mehr da, sie war daraus verbannt, jeder Gedanke wehte sie aus der Stadt.« 44 Daß Alice so mädchenhaft jung geblieben ist, schlank, straff und leicht, ein feines Wesen (77), eine Fee, eine Elfe (141), hat wohl ebenso einen Zusammenhang mit dem Seelischen wie die Schwerleibigkeit ihres Mannes: der Einkerkerung der Seele ist die Verflüchtigung ins schweifende Träumen gegenübergestellt. Auch Alice leidet an einer Krankheit, an der mit Mangelerscheinungen verbundenen »Zehrkrankheit« genannt Sehnsucht (453). Wie soll nun Gordon zu seiner Frau, die unablässig von einem anderen Mann träumt und darob phantastisch geworden ist, reden, wenn er mit ihr eben nicht mehr reden kann? Wie ihr, die ihm entschwebt, dazu verhelfen, daß sie wieder konkret wird, wiederum einen Ort hat, ihren Ort als Ehefrau? Er müßte ihr die Augen dafür öffnen können, daß ihre Phantasien Phantasien sind; es ihr direkt zu sagen, wäre sinnlos, sie

heit: er ist gar nicht der Sohn Gordons, sondern die Frucht eines Ehebruchs, den Alice einst beging und der sie die Ehe mit dem Dichter ertragen ließ.« (579). - Diese krasse Fehlinterpretation ist hier deshalb zu erwähnen, weil sie aus falschverstandener Pietät in die Hamlet-Ausgabe aufgenommen worden ist und nun wer weiß wievielen Lesern einen schlechten Dienst erweist. Die Interpretation Muschgs ist in diesem wie auch in andern Punkten schon von Dieter Baacke korrigiert worden, vgl. »Erzähltes Engagement, Antike Mythologie in Döblins Romanen«, in: Text + Kritik, Nr. 13/14, Aachen 1966, S. 31. « Ν IV 48. N I 113.

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müßte es selber erkennen. Statt ihr also vorzuschlagen: Laß uns von unserer Ehe reden, denn ich bin dein Ehemann, du aber bist keine Ehefrau, sondern eine Ehebrecherin, und zwar brichst du die Ehe in einer gespensterhaften Weise — statt eine solche Aussprache herbeizuführen, erfindet Gordon diese Erzählung, die mit den Worten eingeleitet sein könnte: »Laß uns von der Zeit des hohen Minnesanges reden, von den adeligen Damen, die Ehefrauen waren und doch Heiligenbildern glichen und deshalb Gegenstand der Verehrung wurden, laß uns von den Minnesängern und der Minne, der Liebe zum unerreichbar Hohen und Edlen reden, denn was wäre schon von den Ehemännern zu sagen, die der wirklichen Liebe gar nicht fähig sind.« Nicht diese Worte braucht Gordon, aber er führt in seiner Erzählung aus, man habe am 29. April des Jahres 1174 die Frage zur öffentlichen Diskussion gestellt: »Kann es wirkliche Liebe zwischen Eheleuten geben?« und sei zum Ergebnis gekommen, daß Liebe ihre Macht nicht auf verheiratete Leute auszuüben vermöge. »Denn Liebhaber gewähren alles und jedes einander gegenseitig und freiwillig, ohne dazu durch ein Motiv der Nützlichkeit bewegt zu werden. Dagegen werden Eheleute durch die Pflicht gehalten, sich den Wünschen des Ehepartners zu unterwerfen und nichts dem anderen abzuschlagen. Ersichtlich kann unter diesen Umständen keine wirkliche Liebe existieren.« (73) 4 5 Die Troubadourerzählung kann man also nur dann richtig würdigen, wenn man sieht, daß Gordon die minnesängerische Liebe als Gegenbild zur ehelichen Liebe meint und hofft, diese per contrarium in Alice, die »ein Leben ohne Liebe« führt (543), wecken zu können. Mit dieser Intention bewegt sich Gordon auf einer andern Ebene als mit den Belehrungen, in die er seine Geschichte zusammenzieht: »Wir sind völlig zu Traumfiguren und Fabelwesen geworden« (133), und: »Die Menschen tun nicht, was sie wollen, und nicht, was aus ihrem echten Inneren kommt — sie folgen resolut nicht ihrem Interesse. Sie werten ihre Antriebe, die wirklichen natürlichen, nicht hoch, sie verschreiben sich der Phantasie.« (153) Die Belehrung ist an das von den Zuhörern gebildete Publikum gerichtet, denn als solche ist sie allgemeiner Natur

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Döblin stützt sich hier auf das Buch »A Knight's Life in the Days of Chivalry« des Oxforder Kulturhistorikers Walter Clifford Meiler (Anthony W. Riley, Jaufré Rudel und die Prinzessin von Tripoli, in: Festschrift für Friedrich Beißner, hg. von Ulrich Gaier und Werner Volke, Bebenhausen 1974, S. 353, 356). - Die Frage, ob sich Liebe und Pflicht, Liebe und Ehe ausschließen, wird auch von Kierkegaard diskutiert: Entweder/Oder, Zweiter Teil, Das ästhetische Recht der Ehe, a. a. O., S. 121 - 1 2 6 .

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und in der Verallgemeinerung geradezu bedenkenlos. Wenn Gordon aber auf Alice zielt, auf ihre Phantasien (539), auf ihr phantastisch gewordenes Wesen, zählt sie nicht zum Publikum, ist auch nicht als besonderer Fall des Allgemeinen, als Individuum genommen, sondern als die Einzelne, Einzige — als seine Frau —, und ihr ist daher die Erzählung nicht als Lehre zugedacht, vielmehr soll seine Dichtung in den Tiefen ihrer Seele, nicht bloß auf der Ebene des Intellekts, eingreifen, handeln, ändern — eben in einem künstlerischen Heilverfahren. Wenn die Dichtung solches vermag, wirkt sie kraft ihrer Ganzheit und nicht durch die Abstraktheit einer Lehre. Dabei ist es — um wenigstens noch eines der vielen Ingredienzien der Erzählung zu erwähnen — ein wesentliches Element, daß die Prinzessin von Tripoli, deren Schönheit Jaufie besingt, in Wirklichkeit ein uraltes, mumienhaftes Weib ist, vom bösen Alter in eine Hexe verwandelt, und daß sie, weil sie nicht sterben will, mit Hilfe eines Propagandabüros junge Minnesänger anlockt, die ihr zu Willen sein und sie verjüngen sollen. Diese grausliche Vampirgeschichte möchte den Gegensinn hervorrufen, vom Bedürfnis nach endlosem Leben, dieser Pervertierung des ewigen Lebens, befreien und zur Einwilligung in die Endlichkeit bringen. Auch damit zielt Gordon auf Alice: sie ist ja, gerade anders als die Prinzessin von Tripoli, jung geblieben und kann nicht alt werden. Ihr geht das Begrenzende ab, weshalb man mit Kierkegaard sagen kann, sie sei in der Verzweiflung der Unendlichkeit, nämlich im Phantastischen, denn das Phantastische führt einen Menschen dergestalt ins Unendliche hinaus, daß es ihn von ihm selber fortführt und ihn dadurch abhält, zu sich selbst zurückzukehren. 46 Daß der Mensch sich zu einem Traumwesen verflüchtigen kann, seinem Ort entschweben, sich von seinem Selbst entfernen und im Grenzenlosen sich verlieren kann, dieser Cantus firmus verlangt Abwandlung und Ergänzung durch entgegengesetzte Stimmen. Die Troubadourgeschichte hat nicht nur ihre Relationen zum Erzähler, zum Publikum, zum angesprochenen Einzelnen, sondern auch zu den andern Erzählungen, zu derjenigen vom König Lear ebenso wie zur Legende vom Knappen, der seine Braut um Urlaub bittet, für ewig und immer, weil er Maria der Gebenedeiten angetraut und ihm ein Dasein im Kloster bestimmt ist. Auf diese engen Zusammenhänge wird der Leser auch eigens aufmerksam gemacht. So sagt Gordon zu seinem Schwager James Mackenzie, dem Erzähler der Lear-Geschichte: »Wir spielen zusammen: ich bringe das

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Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, a. a. O., S. 28.

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Thema, du die Gegenführung.« (215) Professor Mackenzie, mit keltischen Studien beschäftigt, in den mythologischen Hintergründen bewandert, wählt König Lear zum Gegenstand seiner Erzählung, weil er vom Tierwesen des Menschen reden will. Für ihn ist nämlich Lear — entgegen der Shakespeareschen Version von einem guten, aber von der Familie mißbrauchten König, der im Altersschwachsinn alles wegschenkt — ein urwüchsiger Mann (222), selbstherrlich und brutal in seinem Recht des Stärkern, durch Tatsachen bestimmt, nicht durch Illusionen, weshalb Verstiegenheit bei ihm undenkbar ist, ein ungestümer Gewaltmensch, den es kennzeichnet, daß er als maßloser Jäger mit seinem Reiterzug achtlos Getreidefelder und Gärten zertrampelt und damit das Volk an den wildwütenden Eber Hermindran der keltischen Sage erinnert. Wenn König Lear, wie in altnordischer Dichtung bei Fürsten üblich, als Eber bezeichnet wird, so soll damit die unbändige Vitalität, die wie der Wettergott zerstörerisch und fruchtbringend zugleich ist, deutlich gemacht werden: Lear hat ja auch zahllose Nachkommen (221). Im Hamlet-Roman heißt es einmal: »Die Wahrheit des Menschen ist das Tier.« (527) Obschon diese Auffassung nicht im Zusammenhang mit der Lear-Geschichte und nicht von deren Autor geäußert wird, bildet die Erzählung Mackenzies doch die Illustration dazu. Es könnte durchaus er sein, der erklärt: »Man muß den Menschen auf das Tier reduzieren. Man muß ihn zur Wahrheit bringen, indem man ihn enthirnt« (528), und man würde sich ob solchen Worten des klugen Professors nicht stärker verwundern, als wenn Gordon Allison, der Dichter, die Meinung vertritt, der Mensch sei mit der Phantasie gestraft (153). Wie Edward sehr wohl erkennt, fängt für seinen Onkel das wahre Sein mit der Ausschaltung des Bewußtseins, mit der Preisgabe des Ichs an, denn das seiner selbst bewußte Ich ist eine Krebswucherung am Dasein; darum besteht der Heilungsprozeß darin, »daß man sich in Bäume oder Tiere zurückverwandelt: Metamorphose nach rückwärts, auf den Kopf gestellte Deszendenztheorie« (285). Man müßte die Sprache loswerden können; die Worte verhindern die Berührung mit den Dingen, man darf keine Worte zwischen sich und die Dinge kommen lassen (205f.). Schon allein damit, daß James Mackenzie es unternimmt, mit dem Wort gegen das Wort anzugehen, gerät er ins Groteske; erst recht passiert ihm das mit dem Verlauf seiner Erzählung. Wenn er Lear auf das Tierwesen zurückbringt und ihn einen Eber nennt, beabsichtigt er ein Lob, aber die Wertung verwirrt sich ihm. Der Eber wird zum Inbegriff des Wüstlings. Mackenzie will für Gordon streiten, denn er hat ein Faible für seinen kraftstrotzenden Schwager, der sich, ein ursprüngliches Wesen, 385

»wie ein "Wild im Sumpf« behaglich in seine Schreiberei versenkt (214); aber unversehens wendet sich seine Geschichte gegen Gordon, indem sie die Beseitigung Lears als notwendig darstellt. In Edwards Augen ist Onkel James ein burlesker Fall: es kommt bei ihm alles anders heraus, als er denkt und will (288). Er ist kein Erzähler wie Gordon, von dem Döblin sagt: »Er ließ seine Geschichte wie eine weidende Schafherde rechts und links auseinanderlaufen, aber wenn er den Augenblick für gekommen hielt, dann bellten und sprangen seine Hunde, und er hatte alle beisammen.« (78) Während in diesem Vergleich der Hirt und die Haustiere vorkommen — ähnlich wie bei Shakespeare der seine Herde behütende Hirt das Idealbild eines Königs ist (239) —, handelt Mackenzies Erzählung von Jäger und Wild, wobei der Jagende zum Gejagten, der Gejagte zum Jäger werden kann. Döblin ist hier wie in andern Dichtungen mit dem Gegensatz von Wald und Haus, von Domestikation und Verwilderung, von Natur und Kultur beschäftigt. Mackenzies König Lear ist kein verjagter, unbehauster, um seinen Verstand gebrachter Greis, dem Sturm und dem Regen auf der Heide ausgesetzt (216), das Jammerbild des menschlichen Elends, nein, er ist ein rüstiger Mann (221), der dort ausbricht, wo er seinen Ort hätte, der das Haus verschmäht, um sich in der Wüstheit auszuleben. Der Versuch, ihn von diesem Weg abzubringen und ihn zurückzuführen, ihn wiederum zu zähmen und ans Haus zu gewöhnen, schlägt fehl. Lady Imogen Persh, die sich gegen die Verwüstung ihrer Saaten und Pflanzungen durch die königliche Jagdhorde zur Wehr setzt und Fanggruben anlegen läßt, übernimmt sich an dieser Aufgabe, wie Hermindran redivivus ihr Gefangener wird. Sie hat es eben schwerer als jene Damen, die bloß einen Falken »stare, schoen' und wilde« zähmten. James Mackenzie spricht - in verschlüsselter Weise — von seiner Schwester Alice und Gordon, er erzählt, was sich früher, vor mehr als zwanzig Jahren, zugetragen hat. Verdeutlichende Hinweise bekommt Edward von der alten Lehrerin, die an den Erzählabenden auch dabei ist: James hat schon damals, als sich die vielumworbene Alice mit Gordon abzugeben begann, ihn, weil er so derb und finster war, einen wilden Eber genannt und seine Schwester gehänselt, ob sie sich denn stark genug fühle, den wilden Eber zu zähmen (299f.); sie aber hat sich, obschon ihr alle sagten, daß sie und Gordon nicht zusammenpaßten, nicht beeinflussen lassen und erklärt, bei ihm eine Mission erfüllen zu müssen. Die Aufgabe, die sich Alice aus welchen Gründen auch immer auferlegt habe, sei allzu schwer gewesen, meint die Lehrerin, es hätte dafür einer Heiligen bedurft. 386

Die Porträts, die in den Erzählungen gezeichnet werden, profilieren gewisse Züge ihrer Modelle, enthüllen auch, was dem Betrachter entgangen ist, greifen sogar vor und geben Künftiges wieder — aber sie sind einseitig und wollen natürlich, da sie von einem Gestaltungswillen geprägt sind, gar nicht anders sein. Es sind Bilder, und als solche machen sie bewußt, daß Identifikation zugleich auch Differenz bedeutet. Zum Beispiel kann Gordon ebensogut sagen: »Ich bin der wilde Eber« (536), wie: »Ich bin kein Tier, kein König Lear, ich bin kein Eber« (475). Zum Wesen des Bildes gehört es, daß es Annäherung an die Wahrheit ermöglicht, aber gleichzeitig von der Wahrheit entfernt. Darum besteht die Arbeit des Dichters im Schaffen und im Auflösen von Bildern. Gestaltung und Überwindung des in der Gestalt Begrenzten, Festgelegten — durch diesen doppelten Prozeß vollzieht sich Erkenntnis. Das ist auch bei Gordons Frau zu bedenken. »Wir sind aus solchem Zeug, wie das zu Träumen«: dieser Satz, mit dem man Alice charakterisieren könnte, ist nicht ihre ganze Wahrheit. Phantasievoll, künstlerisch begabt, zeichnend, singend, dichtend (296), eine poetische, überirdische Natur, wie ihr Bruder findet, wird sie zwar mehr und mehr zu einem phantastischen Wesen, gerät als Traumbraut des jungen Seeoffiziers ins Unbegrenzte des Möglichen und entschwindet sich selbst: »Glenn, mein Glenn. Ich bin schon nicht mehr ich, vor Sehnsucht nach dir. Ich bin nur noch dein Schatten.« (497) Allein, in diesem Äußersten wird sie von der Gegenbewegung erfaßt. Der Wille zur Verendlichung setzt sich durch, er wird sie jenem Mann zutreiben, der sie zum Tier machen, mit ihr den »Weg zur Bestialität« (528) gehen, sie abrichten und dressieren will (533)47 und der schließlich der gesuchte Vernichter (517) ihres Lebens sein könnte. Die Wahrheit des Menschen ist das Tier: Wenn mit einem solchen Satz die von Mackenzie aufgeworfene Frage »Wer war König Lear wirklich?« (215) beantwortet werden kann, ist der Mensch ganz und gar zu einem endlichen Wesen gemacht. Es ist dann ausschließlich von sogenannten Tatsachen die Rede, von den Leistungen der Sinnesorgane, von Hunger und Durst, von der Triebbefriedigung (279), von Knochen, Fleisch, Eingeweiden, Haut und Haaren (527), von der engen Bindung an die Umwelt, einem Gebundensein, das sich beispielsweise darin zeigt,

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Das Kapitel »Die Dressur« (530 ff.) hat einen Zusammenhang mit der folgenden Stelle in »November 1918«: »Wenn die Menschen schon keinen Gott im Himmel anerkennen und die Gesetze dieser Welt mißachten, dann muß man schon mit ihnen umgehen wie mit Hunden, Pferden und Elefanten, die man dressiert.« (N III 389)

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daß der Wald mit seinem Unterholz und Gestrüpp im Bund mit dem Eber Hermindran steht (224). Die Tatsächlichkeit reduziert den Menschen auf das Bestimmte und Eingeschränkte, auf das terre à terre des Ebers, und vor allem auf das endgültige Zugrundegehen: der Gott Mod kann mit dem Eber nichts anfangen, so bleibt nur seine Vernichtung (281). Weil aber Mackenzies Lear nicht stirbt, sondern bloß verendet, denkt man daran, daß Shakespeares Tragödie zwar mit einem Trauermarsch endet, doch kein Ende hat, vielmehr immer wieder aufgeführt wird, »in neuen Zungen und mit fremdem Pomp« 48 . Auch bei Döblin hat es mit dem Abschließenden, das James in der Lear-Geschichte hervorhebt, keineswegs sein Bewenden. Dem Thema des Zuendeseins antwortet die Gegenstimme. Gordon unterbricht den Erzähler einmal mit der Frage, was denn aus dem alten Gott Mod, der angesichts des herannahenden Christentums habe abdanken wollen (223 f.), geworden sei, ob er sich habe taufen lassen (226). Und am Schluß fragt die Lehrerin: »Mußte dieser Lear wirklich so enden? Gab es keine Wendung, keine Rettung für ihn?« (275) In mancherlei Variationen läßt Döblin diese Gegenstimme hervortreten, nicht erst durch Gordons schon erwähnten späten Protest dagegen, daß man ihn einem Eber gleichsetzen will (475), sondern beispielsweise schon durch die Bemerkung, die Alice ihrer TheodoraLegende vorausschickt: »Wir sind nicht beendet, wir können sprechen, was wir wollen — wir sprechen nicht unser letztes Wort. Die Seele, ein größeres, ein höheres Ich, fängt wieder an.« (382) Sie denkt dabei an die Mutterschaft, die sie unterschieden haben will von der bloßen Vermehrung der Tiere und Pflanzen; das Kind sei mehr als eine Fortsetzung, als eine Wiederholung 49 . Das kann nur dahin verstanden werden, daß der Mensch nicht einfach ein zeitliches Wesen sei, sondern an der Ewigkeit teilhabe. Davon redet auch die Kapitelüberschrift »Die Liebe höret nimmer auf« (535) 5 0 oder die folgende Stelle: »Die Erde ist treu. Sie erwartet uns. Sie nimmt die Toten an sich. Ob aber Tod ist, was Tod heißt?« (560) 5 1 48 49

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Shakespeare, Julius Cäsar, 3. Akt, 1. Szene. Die Stelle dürfte wiederum Kierkegaard zum Hintergrund haben. In der »Krankheit zum Tode« ist einmal die Rede von jener Beschränktheit, »sich selbst verloren zu haben nicht durch Verflüchtigung ins Unendliche, sondern dadurch, daß man ganz endlich und (statt ein Selbst) eine Zahl, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr in diesem ewigen Einerlei geworden ist«. (Übersetzung von H . Gottsched und Chr. Schrempf, a. a. O., S. 30) Diese Art von Wiederholung — die Repetition - darf nicht verwechselt werden mit dem, was Kierkegaard in prägnantem Sinn die Wiederholung nennt (vgl. die Schrift mit diesem Titel). Vgl. 1. Kor. 13, 8.

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Vgl. Schicksalsreise, AS 356; Letzte Aufzeichnungen, AS 548.

Die Lear-Geschichte und die Jaufie-Erzählung gehören zusammen, sie setzen im Leser die Doppelbewegung in Gang, die zwischen Tierwesen und Traumgestalt hin- und herläuft, beides zusammenbringt und beides verwandelt, wie auch die sogenannte Tatsache und die phantastisch gewordene Phantasie zusammengeführt werden und dabei nicht bleiben, was sie sind, sondern sich zur »Tatsachenphantasie« 52 umbilden.

Dionysos, der Maskengott Die Auffassung, der Mensch sei ein Tier, der eine ein Eber, der andere ein Maulwurf (287), wird von Gordon Allison erweitert und ins Extreme getrieben, wenn er sagt: »Man beherbergt vieles in sich, eine ganze Menagerie, und von Zeit zu Zeit klebt man auf dieses Tier, von Zeit zu Zeit auf ein anderes Tier oder eine Gestalt das Etikett >Ich< und läßt ihm den Vortritt, die Repräsentanz des Ganzen.« (474) 5 3 Damit ergibt sich ein offenbar beabsichtigter Widerspruch: Bin ich eine Menagerie, kann das Ich nicht dieses oder jenes Einzelne sein, auch nicht im Sinne der Repräsentanz. Als »Ich« müßte das Ganze bezeichnet werden, also dasjenige, welches alles zusammenbringt und zusammenhält und allem Unterkunft gibt. Demgemäß ist der Mensch nicht Bürger oder Proletarier, nein, er ist »ein ganzes Volk, mit Bürgern, Proletariern, mit Adel und mit Kammern, mit einem Repräsentantenhaus, mit einem König. Auch mit Revolutionen, mit vielen Revolutionen, entsprechend dem Alter.« Das Ich ist somit gerade nicht das in Erscheinung Tretende, nicht das Sichtbare. Was man vom Menschen sieht, ist die Maske, er selbst ist der dahinter Verborgene, die »dunkle menschliche Person, die sich nur in Masken gibt« (412). Es scheint, als sei es unmöglich, den andern wirklich zu kennen, als kenne jeder den andern nur in bestimmten Rollen (400) 5 4 . Und es ist eine Frage, ob einer sich selbst kennen könne. Gordon jedenfalls gesteht: »Ich bin noch nicht auf etwas gestoßen, was ich mein Ich nennen könnte.« (474) Er ist, wie Friedrich Becker in »November 1918«, auf der Suche nach sich selbst (41). Gleicherweise fragt sich auch

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Vgl. S. 195 (AL 19). Der Gedanke, daß der Mensch eine Menagerie sei, ist schon beim jungen Hofmannsthal (1891) anzutreffen. Vgl. Aufzeichnungen, hg. von Herbert Steiner, Frankf. a. M . 1959, S. 92. Vgl. AL 243.

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Edward, wie er an sein wirkliches Ich herankomme (206). Andere freilich glauben das Fragen und Suchen nicht nötig zu haben: Sie wissen, wer sie sind, sie wissen auch, wer dieser und jener ist. Es entgeht ihnen, daß sie eine Rolle für das Ich halten, eine Maske für das Gesicht. Jeder Mensch kann im Laufe der Zeit etwas Maskenhaftes bekommen; die Löwenfassade des Leprakranken und die vom Fett entstellte Gestalt Allisons sind Beispiele dafür. Aber auch das seit der Mädchenzeit gleichgebliebene straffe, feine Gesicht von Alice ist eine Maske. Darauf macht die Frage aufmerksam: »Aber war das ihr Gesicht?« (44) Sowenig Gordons Selbst in der veränderten Erscheinung zu finden ist, sowenig hat Alice in der unveränderten Erscheinung ihr Ich. Aber die Gegensätzlichkeit läßt erraten, daß das hinter der Maske verborgene Selbst der beiden Personen verschieden akzentuiert ist. Bei Gordon hat man auf das Unveränderte zu achten: seine Stimme, so sehr er auch anders geworden, tönt unverändert, nicht verquollen aus ihm (44). Umgekehrt muß man angesichts des zeitlos jugendlichen Aussehens seiner Frau nach der dahinter versteckten Wirksamkeit der Zeitgewalt fragen. Alice ist nicht mehr diejenige, die zu sein sie den Anschein erweckt. Schon seinerzeit, als Gordon um die noch sehr junge Alice warb, erkannte er das Maskenwesen ihres Gesichtes; er rühmt sich dessen noch im letzten Streit mit ihr: »Du bist froh, daß ich dich hinter deiner Maske hervorgeholt habe. Ich habe dich befreit.« (416) Hold (13) und graziös (470) 5 5 , eine schwebende, fast überirdische Erscheinung (158 f.), hat sie etwas von einer Heiligen oder einem Engel; was Gordon hinter dieser Engelsmaske hervorgeholt hat, ist die »kleine Bestie«. Die Rechtfertigung dafür sieht er in der Wahrheit: »Man soll sich nichts vormachen. Die Lüge ist das Schlimmste von allem. Besser das Vieh, das man ist, als der Engel, der man nicht ist.« (416) Allerdings spricht Gordon im Affekt und entstellt die Dinge. In der Notwendigkeit, eine Korrektur anzubringen, gerät er ins Einseitige und redet so, als ob für ihn der Mensch nichts anderes wäre als ein Tier. Er ist für die Wahrheit und verstrickt sich in die Lüge.

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Sie erinnert an eine Figur in der Novelle »Der Heilige« von Conrad Ferdinand Meyer, an die Tochter des Kanzlers Thomas Becket mit dem doppelsinnigen Namen Grace, die von König Heinrich verführt wird. Dieser König wird übrigens einmal mit einem borstigen Eber verglichen. (Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch, Band 13, Bern 1962, S. 72) - Der Hinweis auf Meyer soll andeuten, daß Döblin, indem er das Phänomen der Ambivalenz dichterisch darstellt - z.B. die Mischung von Heiligkeit und Verruchtheit - , die wesentlichen Themen aufgreift und weiterführt.

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Fragt man, auf welchem Weg denn Gordon hinter das Maskenwesen der jungen Alice gekommen sei, zeigt sich, daß ihm an ihr zweierlei auffiel: die Furcht vor sich selbst und der Hang zu Übertreibungen. Die etwas zu nachdrücklich betonte Dezenz sollte alles Unschickliche abweisen, aber gerade dies, daß Alice es nötig hatte, hier die Grenze derart deutlich zu markieren, hat ihre heimliche Furcht und damit die sie bedrohende Gefahr verraten. Das als unanständig und unsittlich Geltende, das Verpönte zieht sie an und stößt sie zugleich ab; Abscheu und Begierde streiten in ihr. Sie habe sich ihrer Natur geschämt, sagt Gordon, sie gehöre nämlich zu jenem Zwischengeschlecht (470) — er drückt sich mythologisch aus —, das dadurch entstand, daß gefallene Engel56 von den schönen Töchtern der Menschen zu Weibern nahmen, »welche sie wollten« 57 . Sie schämt sich also, die Wesensart dieses ruchlosen und gewalttätigen Geschlechts zu haben, und sehnt sich nach Frommsein und Reinheit. In solchen Zusammenhängen kommt es ihr vor, an Gordon Allison eine Mission erfüllen zu müssen (442), an ihm, der so völlig anders ist als die andern Bewerber, der aus der Unterschicht kommt - nicht aus dem kultivierten Bürgertum, nicht wie sie selbst aus einem reichen Haus (431) — und in seiner urwüchsigen, ungeschlachten Art zum Vergleich mit einem Eber herausfordert. Ihr Wille, Gordon zu retten, ist auf eigentümliche Weise mit der eigenen Rettungsbedürftigkeit und daher mit ihrem Schamgefühl verflochten. In die Hintergründe dieses Schamgefühls bekommt man erst sehr spät Einblick. Der junge Griechischlehrer, der Alice Privatstunde gab, hat es zu Zärtlichkeiten kommen lassen und sich an seiner Schülerin vergriffen, Ereignisse, von denen niemand erfahren hat, von denen selbst Alice kaum mehr weiß, so gründlich hat sie das Längstvergangene in sich versteckt. Aber die Maske gibt ihr nicht die gesuchte Geborgenheit, denn sie bewirkt ein Doppeltes: sie verheimlicht und verrät zugleich, sie scheidet das Ungeschiedene in das Davor und Dahinter, ist jedoch nicht nur das Trennende, sondern verbindet die Gegensätze, so daß das Sichtbare auf das Unsichtbare hinweist, die Scham auf die Schamlosigkeit. Dieses Zwiefältige führte bei Alice zu einem ins Unerträgliche gesteigerten Zwiespalt. Sie konnte von ihm, der ihr Geliebter geworden, nicht lassen, und gleichzeitig ekelte sie diese Hörigkeit. Wäre der Lehrer nicht aus dem Haus gekommen, sie hätte sich umgebracht (465). Denn 56 57

UM 405. 1. Mos. 6, 2. - Auf den Anfang dieses sechsten Kapitels spielt Döblin auch im Essay »Prometheus und das Primitive« an, vgl. PG 353.

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»schamlos ist nicht nur das Entblößen des Leibes; jedes Wort, jede Bewegung verrät uns. Und so drückt uns die Scham in den Erdboden hinein; keine Rettung gibt es vor der Scham als den Tod.« 5 8 Auch auf einem anderen, dem entgegengesetzten Weg kann versucht werden, die verlorene Ganzheit wiederherzustellen, nicht dadurch, daß der Sehnsucht die Verwandlung in die Engelsgestalt möglich dünkt, sondern durch die Preisgabe des Schamgefühls, die Bejahung der Tierheit. Von diesem Weg redet der Bankier Raymond, wenn er zu Alice sagt: »Wie reizvoll ist schon die Verführung, die eines unerfahrenen, sogenannt unschuldigen, jungfräulichen Menschen: dieser Mensch wehrt sich gegen das Tier, gegen die Tierheit. Er hüllt sich in Gefühle, Illusionen, die scheinen ihm mehr, wahrer als die Tierheit. Er wirft wie ein Tintenfisch auf der Flucht schwarze Wolken um sich. Er rettet sich in die Lüge. Er >denktSein und Zeit« § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, läßt sich nicht halten.« (Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 24) Karl Herbert Blessing, a. a. O., S. 176 u. S. 195. AL 126. Vgl. Kokoschkas Äußerungen, a. a. O., S. 35. Vgl. Einleitung, S. 4 f.

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dem Leser das Gelesene als Objekt. Das merkt man schon daran, daß man über eine Döblinsche Dichtung keine Übersicht zu gewinnen vermag und davon keine Zusammenfassung geben kann; Fülle und Komplexität der Figuren, Themen, Bezüge vereiteln jedes derartige Vorhaben, jedenfalls ist das Resultat solcher Versuche unweigerlich Verfälschung und klägliche Dürftigkeit. Man verhält sich zu diesen Werken unangemessen, wenn man ihnen mit Ordnen, Klassifizieren, Beurteilen beikommen will. Was offenbar immer noch verbreitetes Wissenschaftsideal ist: die Dinge beherrschbar zu machen, sie mittels bestimmter Verfahrensweisen in den Griff zu bekommen — wie man sich ausdrückt 9 —, wäre Döblins Geschichten und Romanen gegenüber eine sinnwidrige Einstellung. Wenn ein Dichter davon überzeugt ist, man könne »das Dasein nicht in zwei Stücke schneiden und von Subjekt (>IchWeltobjektiv