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German Pages 192 Year 1993
Deutschland im weltpolitischen Umbruch
STUDIEN ZUR DEUTSCHLANDFRAGE
Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis BAND 11
Deutschland im weltpolitischen Umbruch
Mit Beiträgen von Günther Gillessen, Gilbert Gornig, Wilhelm Grewe, Jens Hacker, Boris Meissner, Hans-Christian Reichet, Walter Rudolf und Harald Wust
Duncker & Humblot · Berlin
Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Deutschland im weltpolitischen Umbruch I mit Beitr. von Günther Gillessen ... - Berlin: Duncker und Humblot, 1993 (Studien zur Deutschlandfrage ; Bd. II) (Veröffentlichung I Göttinger Arbeitskreis ; Nr. 441) ISBN 3-428-07712-1 NE: Gillesssen, Günther; I. GT; Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung
Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 441 Alle Rechte vorbehalten
© 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0720-6887 ISBN 3-428-07712-1
INHALT Das zusammenwachsende Deutschland und die weltpolitische Lage am Beginn der 90er Jahre Von Botschafter a. D. Prof. Dr. Wilhelm Grewe, Königswinter ......
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Das "neue Denken" Gorbatschows und der Umbruch in der sowjetischen Europa- und Deutschlandpolitik Von Prof. Dr. Boris Meissner, Köln ....................................................
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Die außenpolitische Lage der DDR und die deutsch-deutschen Beziehungen Von Prof. Dr.Jens Hacker, Regensburg ............................................
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Die Vereinigung Deutschlands und die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen Von Regierungsdirektor Dr. Dr. Hans-Christion Reiche/, Bonn
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Das vereinigte Deutschland und die europäische Einigung Von Prof. Dr. Walter Rudolf, Mainz ...................................................
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Die sicherheitspolitische Lage des vereinigten Deutschland Von Prof. Dr. Günther Gillessen, Trier ..............................................
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Die militärische Lage nach der Vereinigung Deutschlands Von General a. D. Harald Wust, Rheinbach ......................................
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Die deutsch-polnische Grenzregelung Von Prof. Dr. Gilbert Gomig, Göttingen ...........................................
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Dem vorliegenden Band liegen mit einer Ausnahme überarbeitete Referate zugrunde, die auf den Wissenschaftlichen Jahrestagungen des Göttinger Arbeitskreises im April1990 und 1991 gehalten wurden.
DAS ZUSAMMENWACHSENDE DEUTSCHLAND UND DIE WELTPOLITISCHE LAGE AM BEGINN DER 90ER JAHRE Von Wilhelm G. Grewe
Vor zehn Jahren, im April1980, habe ich hier in diesem Kreise über "das geteilte Deutschland und die weltpolitische Lage am Beginn der 80er Jahre" gesprochen. Die im Dezember 1989 an mich ergangene Einladung, eine ähnliche Beurteilung der weltpolitischen Gesamtlage zu Beginn der 90er Jahre zu geben, formulierte das Thema noch in ähnlicher Weise: "Das geteilte Deutschland in einer im Umbruch befindlichen Weltpolitik." Heute ist diese Formulierung schon wieder weitgehend überholt. Ich muß, wenn nicht über ein vereintes, so doch über ein sich vereinigendes Deutschland sprechen und über eine Weltpolitik, die sich nicht nur "im Umbruch" befindet, sondern in einer Krise, dieses Wort hier im Sinne gebraucht, in dem J. Burckhardt über die "geschichtlichen Krisen" gesprochen hat. Ich habe vor zehn Jahren in meinen Referat keinen Versuch gemacht, eine Prognose über den Ablauf der 80er Jahre zu liefern, sondern habe mich darauf beschränkt, eine Analyse der damaligen Situation vorzunehmen: der Fortschritte und Rückschläge, die sich im Laufe der voraufgegangenen Entspannungsperiode ergeben hatten, für den Westen im allgemeinen und für das geteilte Deutschland im besonderen; der Gefahren, die der sowjetische Einfall in Afghanistan in jenem Jahr heraufbeschworen hatte, der Notwendigkeiten, die sich nach meiner Auffassung daraus ergaben - für die globale Strategie des Westens gegenüber einer auf dem Höhepunkt ihres machtpolitischen Aufstiegs befindlichen Sowjetunion ebenso wie für die Politik der Bundesrepublik, die sich mit einer Entwicklung konfrontiert sah, in der die deutsche Frage völlig von der internationalen Tagesordnung verschwunden war, während sich zugleich die weltpolitischen Krisenherde in andere Teile der Welt verlagerten. Ich werde auch heute nicht mehr versuchen als damals. Ich werde mich hüten, eine Prognose für die kommenden Jahre zu geben. Das wäre gegenwärtig riskanter und aussichtloser als je zuvor. Es geht also nur um eine Bilanz der Ereignisse der letzten turbulenten Monate und um ihre Deutung wobei im Unterschied zu damals der Rückblick auf die vergangeneo zehn
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Jahre weniger interessant geworden ist, weil sich innerhalb von Monaten die gesamte weltpolitische Szenerie grundlegend verändert hat; um die Gewinnung von Ausgangsdaten für die Entwicklung der nächsten zehn Jahre, deren Richtung und Verlauf ungewisser und unübersehbarer bleibt, als je zuvor in den letzten 40 Jahren. Diese Veränderungen und die Art und Weise, wie sie sich abspielten, rechtfertigen es, von einer "geschichtlichen Krise" im Sinne Burckhardts zu sprechen, die er in einem meisterhaften Kapitel seiner "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" beschrieben hat: angefangen von den Bürgerkriegen der römischen Republik, der zum Untergang führenden Krise des römischen Imperiums, der Völkerwanderung, der Reformation und den Bauernkriegen, der französischen Revolution. In irgendeiner Form spiegeln die Ereignisse des Jahres 1989 alle spezifischen Wesenszüge des von ihm beschriebenen Phänomens der "Krise" wieder: die charakteristische Beschleunigung des geschichtlichen Prozesses; "Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phantome vorüberzugehen und damit erledigt zu sein", die "blinde Koalition aller, die etwas anderes haben wollen, wodurch es überhaupt erst möglich wird, "einen alten Zustand aus den Angeln zu heben; der "angesammelte Protest gegen das Vergangene, vermischt mit Schreckensbildern von noch größerem, unbekanntem Druck". Die typische Erscheinung, daß die um einer Sache willen beginnende Krisis den übermächtigen Fahrtwind vieler anderen Sachen mit sich hat, wobei in betreff derjenigen Kraft, welche defenitiv das Feld behaupten wird, bei allen einzelnen Teilnehmern völlige Blindheit herrscht. Die Rolle eines bestimmten Zeitgeistes; die völlige Unbelehrbarkeit einer privilegierten herrschenden Klasse - sei es eine geistliche Hierarchie, sei es die Aristrokratie des französischen ancien n!gime, sei es, könnte wir hinzusetzten, die einer kommunistischen Nomenklatura. Man könnte noch viele weitere Charakteristika anführen: die Rolle utopischer Zukunftshoffnungen, die rasche Eliminierung der anfänglichen Führungsfiguren und ihre Ersetzung durch eine zweite Generation von Anführer (La revolution devore ses enfants), das "schnelle Umschlagen von Unbändigkeil in Gehorsam und umgekehrt, die Rolle von Note, Gier, Rache, die Verlockungen einerneuen Güterverteilung. Einen besonderen Nachdruck legt Burckhardt auf das "Dasein eines sehr ausgebildeten Verkehrs und die Verbreitung einer ähnlichen Denkweise in anderen Dingen über große Strecken", wobei er besonders die Rolle der Eisenbahnen hervorhebt. Statt "Eisenbahnen" brauchen wir nur "Rundfunk und Fernsehen" einzusetzen, um zu verstehen, welche Rolle er der Verkehrs- und Kommunikationstechnik bei der Ausbreitung von Krisen zumißt Von geschichtlichen Krisen im Sinne Burckhardts zu sprechen, scheint nicht nur deswegen erlaubt und angebracht, weil man auf die meisten der von ihm beschriebenen Krisensymptome stößt, sondern insbesondere auch
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wegen der Tiefe und Tragweite der Vorgänge, mit denen wir es im letzten Jahr zu tun hatten. Der Stellenwert, den wir ihnen zumessen, gehört zu den wichtigsten Ausgangsdaten, um die wir uns bemühen müssen. Was wir gegenwärtig erleben, ist ohne Zweifel das Ende einer Epoche jener Epoche nämlich, die im Oktober 1917 mit dem Signal zur kommunistischen Weltrevolution begonnen hatte, was zwar nicht zur Weltrevolution führte, wohl aber zur Geburt eines kommunistischen Imperiums, das im Laufe einiger Jahrzehnte zu einer Weltmacht aufstieg, die zeitweilig der amerikanischen ebenbürtig erschien und die sich zugleich als Zentrum und als Kern eines expandierenden kommunistischen Weltsystems fühlte. Das Imperium ist in seinen Grundfesten erschüttert, die geistig-ideologische Grundlage und einzige Legitimitätsquelle aller kommunistischen Herrschaftsansprüche, der Marxismus-Leninismus ist weltweit als Chimäre erkannt und unglaubwürdig geworden. Der Warschauer Pakt ist nur noch ein toter Buchstabe, er existiert nur noch auf dem Papier, aber nicht mehr in der Wirklichkeit. Mit den bilateralen Beistandspakten steht es nicht viel besser. Die in den Blockstaaten stationierten sowjetischen Truppen werden Schritt um Schritt zurückgezogen, die Armeen der Vertragsstaaten können im Ernstfall nicht mehr als verlässlich gelten, die Nationale Volksarmee der DDR ist in voller Auflösung. Die Weltpolitik wird, wie immer das Sowjetreich aus dieser Existenzkrise hervorgehen wird, in Zukunft nicht mehr ein bipolares System sowjet-amerikanischer Rivalität sein; die bisherigen Formen des Ost-West-Konflikts werden der Vergangenheit angehören. Ich halte nicht viel von einigen jüngst aufgetauchten geschichtsphilosophischen Spekulationen, daß wir damit am Ende der Geschichte überhaupt angelangt seien, weil nach dem Niedergang des Marxismus-Leninismus überhaupt keine lebenskräftige Alternative zu dem allein auf der ideologischen Walstatt übrig gebliebenen westlichen demokratischen Liberalismus sichtbar sei. Diese These hat erstaunlicherweise nicht irgendein versponnener Philosoph aufgestellt, sondern ein Mann der Praxis, der stellvertretende Planungschef des State Department, Francis Fukuyama (Euopäische Rundschau, Heft 4). Sie wird damit nicht überzeugender. Die Weltgeschichte ist noch stets für Überraschungen gut gewesen. Sie wird uns auch nach dem Ende des OstWest-Gegensatzes mit neuen unerwarteten Konstellationen verblüffen - wobei es sich nicht, wie einige Pessimisten meinen, um das Aufkommen eines neuen Faschismus handeln muß. Lassen Sie mich versuchen, die Parameter der Krise noch etwas genauer zu vermessen. Es hat sich gezeigt, daß die Sowjetunion in einem viel höheren Maße, als dies ihre schärfsten Gegner und Kritiker je vermutet und gehofft hätten, ein
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Koloss auf tönernen Füßen war. Sie ist, wie es ein polnischer Beobachter ausgedrückt hat, ein mit Raketen hochgerüstetes Land vom Kaliber der dritten Welt. Sie hat den Schein einer industriellen Großmacht, was sie in Wahrheit nie gewesen ist, nur solange wahren können, wie ihre billigen Rahstoffressourcen und das verfügbare Arbeitskräftepotential nicht erschöpft waren. Diese Grenze ist erreicht und überschritten. Das ist eine der These, die ein amerikanischer Sowjetologe in einer drüben viel betrachteten und diskutierten Analyse vertritt, die jetzt von auch von unseren Medien zur Kenntnis genommen wird (und auf die ich noch zurückkommen werde). In den 30er Jahren, so die Analyse, hatten die Sowjets eine primitive, aber ihren Zweck erfüllende Imitation der Pittsburg/Detroit- und Ruhr/Lothringen-Industrie aufgebaut, die sie nach dem Kriege wieder in Gang setzten, als diese Modelle schon obsolet zu werden begannen oder jedenfalls nicht mehr der Höhe des im Westen erreichten Fortschritts entsprachen. Nach Stalins Tod haben sie die gleichen Modelle sieben- oder acht Mal multipliziert, als man im Westen schon begonnen hatte, Essen Birmingham und das Eisen- und Stahlzentrum der U.S. Steel Corporation in Gary am Michigan See auslaufen zu lassen. Zur gleichen Zeit überholten der Westen und Ostasien erst mit einer elektronischen und dann mit einer Computer-Revolution die SowjetTechnologie, so daß die Sowjetunion am Ende der 70er Jahre, als sie den Höhepunkt ihres internationalen Ansehens erreichte, bereits ein gigantischer Schrotthaufen zu werden begann. Ende 1979, im Zeitpunkt des AfghanistanAbenteuers, war die Wachstumsrate auf Null gefallen, und darüber hinaus ist sie während des folgenden Jahrzehnts nicht wieder gestiegen. Chruschtschows Reformen waren gescheitert - die ökonomische Dezentralisierung sowohl wie der Versuch, die Macht der Parteibürokratie einzudämmen. Im Laufe der 80er Jahre mehrten sich die Alarmsignale: unter Andropow der 1984 bekannt gewordene "Novosibirsk Report" der Wirtschaftssoziologin Tatjana Zaslavskaja; mit Gorbatschow ab 1985 das öffentliche Eingeständnis, daß wirtschaftliche Reformen unerläßlich seien, und daß sie "Perestrojka", neues politisches Denken erforderten. Dabei handelt es sich zunächst nur um den Versuch, das bestehende System ökonomisch effizienter zu machensei es durch Maßnahmen und Appelle zu erhöhter Produktivität, sei es durch Reorganisation der Bürokratie. Ende 1986 war schon zu erkennen, daß diese Art von Reformen scheitern mußte: die Anti-Alkohol-Kampagne am Widerstand der Massen, die Qualitätskontrollen der industriellen Produkte am Widerstand der Nomenklatura. Mehr und mehr enthüllten sich die Reformbemühungen als ein Kampf ums Überleben. Ende 1988 wurden offiziell alarmierende Zahlen über das Haushaltsdefizit und die wachsende Inflation zugegeben. Gorbatschow-Berater Jakowlew warnte öffentlich: "Wir haben wahrscheinlich nicht mehr als zwei oder drei Jahre Zeit, um zu beweisen, daß der Sozialismus Lenins funktionieren kann." Zum ersten Male erlebte die Sowjetunion Massenstreiks - im Februar 1988 aus Anlaß von Nationalitätskonflikten in Armenien; im Juli 1989 als Folge allgemeiner politischer-so-
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zialer Unzufriedenheit mit den Streiks der Bergarbeiter im Kuzbass- und Donbass-Gebiet. Im Oktober warnte Ministerpräsident Ryshkow im Fernsehen, daß das überlastete russische Eisenbahnsystem am Rande des Zusammenbruchs stehe. Industrielle Unfälle- von Tschernobyl bis zu den Unfällen an den transsibirischen Gasleitungen und Eisenbahnlinien, schreckten die Öffentlichkeit auf. Mehr und mehr drängten sich Erinnerungen an die Katastrophenjahre 1921, 1932 und 1941 auf. Alles dieses verband sich mit dem plötzlichen Aufflammen des Nationalitäten-Konflikts - zuerst in Armenien, Aserbeidschan, Georgien, dann im Baltikum, in Zentralasien und schließlich sogar andeutungsweise in der Ukraine; es griff über in den osteuropäischen Hegemonialbereich des Sowjet-Imperiums und führte dort zur Liquidierung der kommunistischen Pardeidiktaturen in Polen, Ungarn, der DDR, der CSSR und in Rumänien, ansatzweise jetzt auch in Bulgarien, wobei der rapide Verfall der Glaubwürdigkeit der marxistisch-leninistischen Ideologie und damit der Legitimitätsgrundlage des kommunistischen Herrschaftsmonopols eine wichtige Rolle spielte. In allen diesen Ländern wurden Verfassungsbestimmungen über die führende Rolle der kommunistischen Partei abgeschafft - schließlich sogar in der Sowjetunion selbst. Jenseits der Grenzen der Sowjetunion und außerhalb des ihr vorgelagerten hegemonialen Herrschaftsbereiches in Europa ist auch das kommunistische Weltsystem, dessen Aufstieg in den letzten Jahrzehnten die Weltpolitik kennzeichnete, von dem Zerfallsprozeß erfaßt worden, auch wenn sich letzte Inseln stalinistischer Herrschaftsgebilde noch hier und dort behaupteten - in China, Nordkorea, Kuba. Gewiß ist es Deng und der dogmatisch versteinerten, überalteten Führungsclique um ihn herum vor beinahe Jahresfrist noch einmal gelungen, die in offener Auflehnung, aber in mustergültiger Disziplin in den Straßen Pekings für die Demokratie demonstrierenden Massen mit Hilfe der Volksbefreiungsarmee mit brutaler Gewalt und rücksichtlosem Waffengebrauch auseinanderzutreiben und die Herrschaft der KPC vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Aber damit dürfte kaum mehr als eine Atempause gewonnen worden sein. Früher oder später wird auch Deng das Schicksal Ceaucescus ereilen, wenn ihn nicht der Tod davor bewahrt. Kuba wird ohne die Wirtschaft- und Finanzhilfe der Sowjetunion nicht lange existieren können.Die sowjetische Presse hat bereits begonnen, das Fehlen von Veränderungen unter Castro zu kritisieren und darauf hinzuweisen, daß die wirtschaftliche Kooperation mit Kuba für die sowjetische Industrie zunehmend uninteressanter geworden sei. Nordkorea und Albanien fallen nicht ins Gewicht, wenn es um weltpolitische Dimensionen geht. Die stärkste der nichtregierenden kommunistischen Parteien in Europa, die italienische, streitet darüber, ob sie
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Namen und Embleme des Kommunismus ablegen soll, die KPF befindet sich in einem ständigen Schrumpfungsprozeß. Der rasche Machtverfall der Sowjetunion beendet das bipolare Weltsystem der amerikanisch-sowjetischen Rivalität, das zwar ohnehin durch das Aufkommen neuer Mächte und Machtfaktoren auf dem Wege zu einem muttipolaren System war, sich aber im zentralen Bereich der militärischen, insbesondere nuklearen Kräfterelationen bis in die neueste Zeit behauptet hatte. Zwar blieben die beiden Supermächte einstweilen noch die Protagonisten der nuklearstrategischen Konfrontation, sowohl wie der nuklearen Rüstungskontrollpolitik, die Herren der nuklearen Waffenarsenale. Aber alles dieses hat nicht mehr die gleiche Bedeutung wie in den vergangeneo Jahren. Niemand rechnet mehr mit der Möglichkeit eines kriegerischen Zusammenstoßes der beiden Großen, für beide ist Abrüstung zu einer unausweichlichen Zwangsläufigkeit geworden, beide sind bemüht, Konflikten miteinander aus dem Wege zu gehen und Felder der Kooperation auszuweiten. In seinem jüngsten Buch über die USA und die Sowjetunion in den 80er Jahren mit dem Titel "Die Machtprobe" schreibt Otto Czempiel noch: "Die Sowjetunion, bis zum Ende des 6. Jahrzehnts eine wesentlich eurasische Macht, hat seitdem begonnen, die Vereinigten Staaten an allen vier Weltenden herauszufordern. Die traditionelle Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunismus wird zunehmend überlagert durch den Kampf um die Macht in der Welt, den die beiden Supermächte austragen." Dieses Urteil von gestern gilt nur für eine Periode, die wir bereits hinter uns haben. Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß die Sowjetunion künftig noch die Kraft zu einer solchen Politik globaler Herausforderung aufbringen könnte. Zwei Fragen wird man sich angesichts der Entwicklung in jenem Teil der Welt, den man einstmals das "kommunistische Weltlager" genannt, stellen müssen: 1.
Ist dieser Verfallsprozeß unaufhaltsam und unumkehrbar?
2.
Wohin kann er führen, wenn er sich fortsetzt oder gar - nach dem Gesetz der geschichtlichen Krisen - beschleunigt?
Die erste Frage ist notwendigerweise verknüpft mit der Frage nach den Erfolgschancen des Experiments Gorbatschows. Ich bin kein Experte, der sie aufgrund einer Sachkompetenz beantworten könnte. Ich könnte mich aus der Affaire ziehen und unter Berufung auf Helmut Schmidt sagen: seine Chancen sind 50:50. Aber das wäre doch eine zu billige Art, der Frage auszuweichen. Ich möchte stattdessen auf eine Diskussion Bezug nehmen, die in den letzten Monaten in den Vereinigten Staaten geführt worden ist und die einige neue Gesichtspunkte zutage gefördert hat. Ich habe mich im ersten Teil meines Referats auf die von einem amerikanischen Sowjetotogen gegebene Darstellung der Entwicklungsgeschichte der
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sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft seit der Oktoberrevolution bezogen. Ich habe versprochen, darauf zurückzukommen und tue es jetzt. Ich spreche von jenem Artikel, der unter dem etwas mysteriösen Titel "To the Stalin-Mausoleum" in der Zeitschrift "Daedalus" erschienen ist (Vol. 119, Nr. 1, Winter 1990). In dieser von der American Academy of Arts and Seiences herausgegebenen Zeitschrift sind auch schon früher gelegentlich Beiträge erschienen, die auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluß gehabt haben. Da der Artikel nur mit dem Pseudonym "Z." gekennzeichnet war, setzte sofort ein heftiges Rätselraten ein, wer sich dahinter verbergen könne - was besonders durch die Erinnerung stimuliert wurde, daß vor mehr als 40 Jahren in der Zeitschrift "Foreign Affairs" ein Artikel unter dem Pseudonym "X." erschienen war, der die Abwendung der Vereinigten Staaten von der Kriegskoalition mit den Sowjets, den Übergang zum "containment" und zum Marshall-Plan einleitete. Sein Verfasser hieß George Kennan, und der war damals Leiter des Planungsstabs im State Departement. Am 4. Januar widmete die New York Times die Hälfte ihrer editorial page diesem Artikel und der Kolumnist William Safrre wies auf die Parallele mit dem Kennan-Artikel hin. Alle möglichen Namen wurden als denkbare Autoren genannt: Kissinger und Brzezinski; Robert Gates, früherer Deputy Director der CIA; Dennis Ross, Leiter des Planungsstabes; Robert Zoellick, Counselor des State Departement (ein Name mit Z!). Recherchen eines Washingtoner Korrespondenten der Londoner "Financial Times" haben inzwischen ergeben, daß es sich um einen verhältnismäßig wenig bekannten Verfasser handelt, einen Professor der University of California in Berkeley namens Martin Malia, der bisher nur als Autor einer wissenschaftlich anerkannten Studie über Alexander Herzen und die Anfänge des russischen Sozialismus bekannt geworden war. Wenngleich also die Person des Autors keinen Anlaß zu politischen Spekulationen gibt, so bleibt der Inhalt des Artikels doch bemerkenswert. Er enthüllt in geradezu frappierender Weise, welch ein weit von der Realität entferntes geschöntes Bild von der Sowjetunion die herrschende amerikanische Sowjetologie in den vergangeneo Jahrzehnten gezeichnet hat. Man könnte den Artikel insofern vergleichen mit dem gleichermaßen total verzeichneten Bild vom SED-Staat, welches die deutsche DDR-Forschung über lange Jahre hinweg immer wieder verbreitet und das dazu beigetragen hat, daß fast alle DDR-Beobachter in der Bundesrepublik durch den plötzlichen Zusammenbruch des SED-Regimes völlig überrascht waren. Unser Kollege, Jens Hacker, hat das in einem Artikel der "geistigen Welt" vom 18.3.1990 in einem höchst aufschlußreichen Überblick geschildert, der den Leser in fassungsloses Erstaunen versetzt, wie sich ein solches Maß ideologisch verblendeter und daher realitätsblinder Forschung so lange als Meinungsführer hat behaupten können.
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Aber dieser Aspekt des Z-Artikels hätte wohl nicht so viel Beachtung in Amerika gefunden, wenn nicht der Verfasser gleichzeitig einige provozierende Thesen zu den Erfolgsaussichten Gorbatschows entwickelt, und wenn er nicht einige Empfehlungen gegeben hätte, wie sich der Westen angesichts der sehr pessimistisch beurteilten Erfolgschancen des sowjetischen Präsidenten verhalten solle. Ich kann hier nicht die Einzelheiten seiner Analyse wiedergeben, sondern nur ihre Ergebnisse. Sie sind für unser Thema relevant, weil die Entwicklung zur deutschen Einheit ohne Gorbatschow nicht denkbar gewesen wäre und der Erfolg oder Mißerfolg seiner Politik auch für das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten von größter Bedeutung bleibt. Die Bilanz von vier Jahren Perestrojka lautet, daß die halbherzigen Wirtschaftsreformen zwar die alten Wirtschaftsstrukturen erschüttert haben, ohne aber neue Strukturen an ihre Stelle zu setzen. Wie Gorbatschows Wirtschaftsberater Leonid Abalkin noch im November 1989 bei der Bekanntgabe eines revidierten Planes zur Lösung von der staatlich gelenkten Kommando-wirtschaft deutlich gemacht hat, hält Gorbatschow an dem hybriden Gebilde eines "Markt-Sozialismus" als Leitbild fest. Das ist, nach Z., die Crux seiner ganzen Reformpolitik: Es gibt keinen dritten Weg zwischen Leninismus und Marktwirtschaft, zwischen Bolschewismus und einem Rechts- und Verfassungsstaat. Perestrojka und Glasnost haben nur die Krise des Systems verschärft, statt sie zu beheben. Gorbatschow versucht, mit Formen eines "soft communism" ein System zu reformieren, das in seiner Struktur und seinem Personal auf "hard communism" programmiert ist. Aber aUe derartigen Reformbestrebungen widerstreten der Logik des Systems, das sie retten wollen, und müssen daran scheitern. Gorbatschow, der im Ausland als kühner und entschlossener Neuerer erscheint, der die Weltpolitik erschüttert und bewegt hat, erscheint im Inland mehr und mehr als bloßer Taktiker, der nur noch reagiert, der aber nicht in der Lage ist, sich zu entscheidenden Taten und grundsätzlich neuen Konzepten aufzuraffen, sei es in der Wirtschaft, sei es in der Nationalitätenpolitik, sei es in der Umgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Verhältnis von Partei und Staat. Auf die immer wieder gestellte Frage, ob der Westen Gorbatschow helfen solle (man erinnert sich der immer wieder erhobenen Forderung Genschers in dieser Richtung), antwortet unser Autor mit einem kategorischen und schockierenden "nein". Jede Hilfe, die einem Regime gewährt würde, das nur die Sowjetwirtschaft effizienter machen und das politische Leben dem äußeren Anstrich nach etwas demokratischer machen möchte, sei sinnlos und würde nur die allgemeine Agonie verlängern, so wie dies die westlichen Kredite taten, die man 1970 der polnischen Regierung unter Gierek gab. Etwas vage spricht unser Autor davoR, daß gewisse Hilfsmaßnahmen in einem parallel zur Staatswirtschaft sich entwickelnden privaten Sektor sinnvoll sein könnten. Wirklich durchgreifende Reformen hält der Verfasser offenbar nur
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als Folge neuer Krisen für denkbar, die das System von Grund auf erschüttern müßten. Ich kann mich nicht im einzelnen mit diesen Thesen auseinandersetzen. Ich beschränke mich auf zwei Feststellungen: Ich stimme der These zu, daß halbe Reformen im bisherigen Stile zu keinem Erfolg führen können. Das gilt wahrscheinlich auch für die Ende März nach Übernahme des Präsidentenamtes von Gorbatschow angekündigten Maßnahmen für einen beschleunigten Übergang zur Marktwirtschaft; sie stehen wieder unter dem vieldeutigen Motto "planungsorientierte Marktwirtschaft". Abalkin ergeht sich wiederum in düsteren Warnungen. Wenn dieser große Sprung nach vorn mißlinge, werde das Land vor die Hunde gehen. Aber es wäre dies nicht der erste große Sprung nach vorn, der mißlungen wäre. Ich stimme nicht der Folgerung zu, daß der Westen Gorbatschow jede Hilfe versagen sollte. Solange keine personelle oder sachliche Alternative zu Gorbatschow und seiner Politik sichtbar ist, liegt es, wie ich glaube, in unserem Interesse wie dem des gesamten Westens, Gorbatschow solange an der Macht zu halten wie möglich - wobei allerdings die Hilfestellung des Westens ohnehin nur eine sehr beschränkte sein kann. Welches auch immer Gorbatschows persönliches Schicksal sein mag- ob mit ihm oder unter einem Nachfolger (der freilich vorerst nirgends zu erblikken ist) - eine Umkehr des Transformationsprozeßes wird sich nach Autonomie, meist aber nach Unabhängigkeit strebenden nicht-russischen Nationalitäten, selbst mit Waffengewalt, nicht wieder aufzwingen lassen. Das mit Perestrojka und Glasnost erreichte, begrenzte Maß von Demokratisierung, geistiger Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, kann vielleicht mit polizeistaatliehen Mitteln wieder reduziert und gezügelt werden. Aber auch das wird nur in begrenztem Maße und nur vorübergehend möglich sein. Die ideologische Legetimitätsgrundlage des Systems ist zerstört und sie läßt sich nicht wiederherstellen. Die wirtschaftliche Misere ist, wenn überhaupt, nur mit einem totalen Systemwechsel und selbst dann nur auf sehr weite Sicht zu beheben. Der Zerfallsprozeß läßt sich also nicht rückgängig machen und auch kaum aufhalten. Aber das Gegenteil ist natürlich durchaus möglich. Es kann sein, daß er sich beschleunigt und in kurzer Zeit zu kritischen Zuspitzungen führt. Ich möchte hier kein Horror-Bild der vor uns liegenden Zukunft entwerfen aber im Grunde ist alles möglich: Unregierbarkeit sowohl wie Militärputsch oder Ausnahmezustand, Bürgerkrieg sowohl wie ein aus innenpolitischer Ratlosigkeit unternommener militärischer Schlag nach außen, Hungersnot sowohl wie ein verzweifelter Versuch, sich mit einem totalen politischwirtschaftlichen Systemwandel an die Wirtschaftskraft des Westens zu klammern. Alles was man dazu sagen kann, muß reine Spekulation bleiben.
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Die Ereignisse in Litauen lassen es als möglich erscheinen, daß sich das Experiment Gorbatschow an einem kritischen Wendepunkt befindet und eine fatale Entscheidung unausweichlich wird: Rückfall in die Methode gewaltsamer Repression oder Flucht nach vorn in eine neue Konzeption der Nationalitätenpolitik und einer Umgestaltung der Sowjetunion in ein mehr oder weniger konföderatives Gebilde. Gorbatschows Situation ist fast hoffnungslos kompliziert: er muß die Kritik aller Kräfte fürchten, deren nationale oder imperiale Ambitionen ihn zur Härte antreiben und jeden Einbruch in den Bestand des Imperiums verurteilen - chauvinistisch-russische Kräfte, orthhodoxe Partei-Kader, geostrategisch orientierte Militärs; er muß befürchten, daß Konzessionen in Litauen sofort separatistische Tendenzen in den anderen baltischen Staaten, in Georgien, Aserbeidschan und in den zentralasiatischen Unionsrepubliken ermutigen; daß solche Konzessionen Proteste der russischen Einwanderer im Baltikum provozieren; und daß umgekehrt Repressionen negative Wirkungen im Westen, insbesondere auch in den USA, auslösen. Mir scheint es ratsam, sich von Spekulationen möglichst fernzuhalten und stattdessen von der Arbeitshypothese auszugehen, daß die Sowjetunion trotz reduzierter Statur auf dem Felde der Weltpolitik doch eine dominierende Großmacht in Europa bleiben wird- weniger expansiv, weniger revolutionär, kooperationsbereit und -bedürftig, in ihren Methoden zu den Spielregeln der klassischen Diplomatie zurückkehrend. Von einer solchen Arbeitshypothese geht auch der Spitzenartikel im letzten Heft von "Foreign Policy" (Nr. 77, Winter 1989/90) aus, in dem John Muller, Professor an der University of Rochester, unter der Überschrift "A new Concert of Europe" die Auffassung vertritt, daß man mit einer so gewandelten Sowjetunion zu einer Friedensordnung in Europa kommen könne, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Europäischen Konzert des 19. Jahrhunderts aufweisen könnte. Sie würde sich darauf gründen, daß sich weder die Sowjetunion noch die USA aus ihrer europäischen Verantwortung zurückziehen würden, daß beide vielmehr auf der Grundlage einer konföderativen Verbindung der beiden Bündnissysteme versuchen würden, eine gewisse Kontrolle über die beiden Deutschlands auszuüben, deren Vereinigung unter diesem Dache möglich werde. Der Rüstungsabbau werde voranschreiten, aber niemals zu einer totalen Abrüstung beider Seiten führen. Interessant ist der von dem Verfasser mit erwägenswerten Gründen vorgetragene Gedanke, daß man sich von beiderseitigen faktischen Rüstungsreduzierungen mehr versprechen könne, als von ausgehandelten, vertraglich fixierten Rüstungskontrollmaßnahnen. Was bedeutet die Krise im Osten für Deutschland- d. h. für ein Deutschland, das ja selbst ein nicht unwichtiger Faktor in dieser Krise gewesen ist und bleiben wird? Denn der Zusammenbruch des SED-Regimes in der
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DDR war ja ein wichtiges Teilstück in dem Gesamtprozeß der Desintegration des Satellitenreiches- und die Vereinigung der beiden Deutschland und die Art ihrer Verankerung in den Bündnissystemen von NATO und Warschauer Pakt wird ein Testfall für die künftige Rolle der Sowjetunion in Europa sein. Wir selbst sind natürlich in der Versuchung, die positiven Seiten der Entwicklung zu sehen: unsere Befreiung aus der Rolle eine Aufmarschgebietes und eines potentiellen Kriegsschauplatzes bei einm Zusammenstoß von Ost und West; eines ständigen Krisenherdes insbesondere im Hinblick auf das isolierte West-Berlin; eines NATO-Verbündeten, von dem ein hoher Verteidigungsbeitrag in Gestalt einer Wehrpflicht-Armee von fast 500.000 Mann erwartet wird; der die Lasten der Stationierung großer ausländischer Truppenkontingente auf seinem Territorium tragen muß; und trotz alledem immer wieder kritisiert wird, nicht genug für die gemeinsame Verteidigung zu leisten. Auf allen diesen Gebieten darf man sich wohl - jedenfalls allmählich und Schritt für Schritt - Erleichterungen erhoffen. Überwiegend positive Zukunftsaussichten knüpfen sich natürlich an die Vereinigung Deutschlands: Durch die Wiedervereinigung wird der komplizierteste und gefährlichste Konfliktstoff - die Teilung Deutschlands und Berlins - aus der Welt geschafft, der in den vergangeneo 40 Jahren unsere Beziehungen zur Sowjetunion belastet hat, so daß die Hoffnung auf bessere und harmonischere Beziehungen zur östlichen Großmacht begründet erscheint, zumal wenn die Sowjetunion sich entideologisiert und allmählich vom marxistisch-leninistischen Gesellschafts- und Staatskonzept entfernt. Wenn mit der Vereinigung auch die Frage der Ostgrenzen einer Lösung zugeführt werden kann, welche die Polen zufriedenstellt, so wären auch die Reibungsflächen mit unserem direkten östlichen Nachbarn beseitigt. Weniger optimistisch klangen zunächst die Reaktionen unserer Nachbarn in Ost und West und unserer Verbündeten im Westen auf die Wiedervereinigung mit Blick auf ihre Folgen für die Zukunft. Trotz jahrzehntelang wiederbalter Schwüre, unser Verlangen nach Herstellung der deutschen Einheit zu unterstützen, zeigte sich in der Stunde der Wahrheit, daß sich dahinter Befürchtungen und Mißtrauen verbargen und man alles andere als erbaut darüber war, daß die Ernsthaftigkeit der Schwüre auf die Probe gestellt würde. Zwei Besorgnisse waren es vor allem, die unsere bisherigen Bündnispartner zu erfüllen und sie der deutschen Einheit gegenüber skeptisch zu machen schienen: Sorge vor einem übermächtigen Militärpotential eines vereinigten Deutschland und vor machtpolitischen Versuchungen, die davon auf künfftige deutsche Regierungen ausgehen könnten; zum anderen Sorge vor dem erdrückend starken Wirtschaftspotential, das sich in einem vereinigten Deutschland akkumulieren würde.
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Ob diese Besorgnisse begründet sind oder nicht, kann niemand schwarz auf weiß beweisen. Aber ebensowenig läßt sich schlüssig widerlegen, daß sie begründet sind. Indessen kommt es darauf auch gar nicht an. Die Besorgnisse, ob begründet oder nicht, sind als solche ein Faktum, das wir in unseren Kalkulationen berücksichtigen müssen. Damit komme ich auf eine Konsequenz der jüngsten Ereignisse, die mir für Deutschlands künftige politische Position als die allergravierendste erscheint. Die Bundesrepublik war ein Kind des Kalten Krieges. Souveränität, Wehrhoheit, Bündnismitgliedschaft, europäische Integration - alles dieses hätte es nicht ohne den Kalten Krieg und die westliche Furcht vor der Bedrohung aus dem Osten gegeben . Wenn diese Bedrohung wegfällt, schwinden auch die Motive für die freundlichen Gefühle für die Deutschen, und - was wichtiger ist als gefühlsmäßige Sympatien oder Antipatien; - es werden die Sicherheitsinteressen unserer Bündnispartner und sonstigen Nachbarn neu durchgerechnet und Folgerungen daraus angekündigt, die uns erschrecken könnten, wenn sie das letzte Wort bei der Bilanzierung wären. Einige schrille Töne dieser Art waren bereits zu vernehmen. Mitterand hatte sein Treffen mit Gorbatschow in Kiew im Dezember so angelegt, daß es die französisch-russische Allianz der Jahrhundertwende in Erinnerung bringen mußte. Margret Thatcher hat die britischfranzösische Entente cordiale beschworen. Polen und einige andere frühere Satelliten-Staaten haben die Aufrechterhaltung ihrer bilateralen Beistandsverträge mit der Sowjetunion unter dem Gesichtspunkt einer Rückversicherung gegen Deutschland neu überdacht. Gelassen und ohne Zeichen von Nervosität und Beunruhigung klingt dagegen alles, was aus den Vereinigten Staaten zu diesem Thema zu hören war. Von einem "renversement des Alliances" kann noch nicht die Rede sein. Aber es hat sich ein psychologisches Klima gebildet, in dem alles möglich erscheint. Der alte Erfahrungssatz "pas d'ennemi- pas d'alliance" gewinnt eine neue Bedeutung. Das Verblassen der Bedrohung wird die NATO als Organisation nicht zum Verschwinden bringen, wohl aber die NATO als Bündnis. Sie wird sich - auch wenn Organisation und Vertragstext bestehen bleiben - in ein Organ der Rüstungskontrolle und in eine Art politisches Direktoriums verwandeln - "a new Concert of Europe", wie es in "Foreign Policy" hieß. Wir werden einige Mühe haben, uns dagegen zu wehren, daß daraus eine neue diskriminierende Kontroll-Organisation für Deutschland wird. Vor sechs Jahren, im April 1984, haben wir dieses Problem in diesem Kreise schon einmal diskutiert. Unter Bezugnahme auf eine Äußerung, die ich in meinem Artikel zum 30 jährigen Jubiläum des Deutschlandvertrages in der FAZ. (22. Mai 1982) veröffentlicht hatte und in dem ich die Frage eines Friedensvertrages als "praktisch gegenstandslos" bezeichnet hatte, hat damals Wilfried Fiedler in einem gehaltvollen Referat die These vertreten, daß ein Friedensvertrag mit Deutschland rechtlich nach wie vor erforderlich sei. Vielleicht sei er unerreichbar. Von Deutschland aus gesehen sei er jedoch
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keinesfalls überflüssig. Er gewährleistet die Offenheit der deutschen Frage; er verhüte das Ausufern der Vier-Mächte-Rechte zu einem auf Dauer eingerichteten Interventions- und Hegemonieraum in Mitteleuropa; er verhüte die Aushöhlung des Rechtsbegriffes "Deutschland als Ganzes". Ohne Friedensvertrag blieben wichtige Gegenstände, die typischerweise in seinen Regelungshereich gehörten, ungeregelt: Truppenstationierung, Militärmissionen, Staatsangehörigkeit, Reparationen. Eine stabile Friedensordnung lasse sich durch partielle Ersatzregelungen nicht herstellen. Welches Gewicht diese Argumente auch damals gehabt haben mögen, sie können im Lichte der jüngsten Entwicklung nicht mehr als stichhaltig anerkannt werden. Es gibt keine deutsche Frage mehr, die offen zu halten wäre. Die Vier-Mächte-Rechte können auch ohne Friedensvertrag die Wiedervereinigung nicht überdauern. Ihre einzige Rechtfertigung bestand in der Teilung Deutschlands und der Isolierung West-Berlins. 45 Jahre nach Kriegsende kann es keine Besatzungsrechte mehr geben. Der russische und der amerikanische Außenminister, Molotow und Byrnes, haben 1946 die Maximaldauer der Besetzung Deutschlands diskutiert. Byrnes nannte 25 Jahre, Molotow 40. Das Enddatum wäre demgemäß 1971 bzw. 1986 gewesen. Jetzt schreiben wir 1990! In der Präambel des DeutschlandVertrages vom 26. Mai 1952 heißt es, daß die drei Mächte entschlossen sind, "nur die besonderen Rechte aufrechtzuerhalten, deren Beibehaltung im Hinblick auf die Besonderheiten der internationalen Lage Deutschlands im gemeinsamen Interesse der Unterzeichnerstaaten erforderlich ist". Worin bestanden diese Besonderheiten? Sie bestanden in der Teilung Deutschlands und Berlins und der exponierten Lage der Bundesrepublik am Eisernen Vorhang in einer Periode des Kalten Krieges. Die Teilung wird in Kürze überwunden sein. Der Eiserne Vorhang ist in die Höhe gegangen, der Kalte Krieg ist zu Ende. Damit verlieren auch die Vorbehaltsrechte ihre Rechtsgrundlage. Ein Deutscher, der heute noch einen Friedensvertrag verlangt, muß sich darüber im Klaren sein, daß er damit eine Büchse der Pandora öffnet. Das Deutsche Reich hat sich im Kriegszustand mit 70 Staaten befunden. Sie alle würden sich auf einer Mammut-Friedenskonferenz einfinden, um alte Rechnungen zu präsentieren, vor allem natürlich - aber keineswegs nur - Reparationsforderungen, die sich vermutlich zu astronomischen Höhen addieren würden. Für eine künftige Friedensordnung in Europa kann man sich von dem Aufrühren vergangener Verbrechen, Leiden, Schäden und Entschädigungsforderungen nichts Gutes versprechen. In einem Augenblick, in dem alle diese Fragen noch offen sind und die Zwei plus vier Konferenz und erst recht die geplante KSZE Konferenz noch vor uns liegen, kann man über die Zähmung des erwarteten deutschen Machtpotentials nicht viel sagen. Die Vorstellungen der westlichen Öffent-
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lichkeit über die Stärke des deutschen Riesen sind jedenfalls weit übertrieben - im Hinblick auf seine Bevölkerungszahl sowohl wie seinen Gebietsumfang und sein WirtschaftspotentiaL Ich brauche das Ihnen gegenüber nicht zu erläutern und beschränke mich auf einige Bemerkungen über die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf das institutionelle Gefüge der EG. Innerhalb der EG wird sich in Bezug auf die verfassungsmäßigen Einflußrechte der Mitglieder kaum etwas ändern, gleichviel, auf welchem Wege sich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vollziehen wird- ob nach Artikel23 oder nach 46 GG. Die Bundesrepublik wird die gewachsene Bevölkerungszahl kaum dazu benutzen, eine Verstärkung ihres Stimmrechtes zu verlangen. Für die institutionellen Regelungen der EG-Verträge wäre eine Vergrößerung des Mitgliedstaats Deutschland unerheblich. Bei ihnen allen Mitgliederzahl in der Kommission, im Europäischen Parlament, im Wirtschafts- und Sozialausschuß, Stimmengewichtung bei der Berechnung der qualifizierten Mehrheit im Rat; Kapitalanteile bei der Europäischen Entwicklungsbank - wird nach Gruppen von Mitgliedstaaten unterschieden, wobei zu den Kriterien zwar auch Gebietsgröße, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft gehören - aber nicht nach mathematisch nachprüfbaren Indikationen, sondern aufgrund "politischer" Entscheidungen. Deutschland gehört jetzt schon - neben Frankreich und Großbritanien - zur Gruppe der "großen" Mitgliedstaaten. Es würde auch nach dem Zuwachs der DDR zu dieser Gruppe gehören und nicht für sich allein eine Gruppe der "Übergroßen" bilden - schon gar nicht, wenn es diese selbst nicht will. Eine andere Lösung würde eine Änderung der EG-Verträge voraussetzen. Der Zuwachs der DDR würde allerdings noch deutlicher machen, daß das gegenwärtige Wahlrecht zum Europäischen Parlament nicht zum Grundsatz der Wahlgleichheit entspricht (ein Grundsatz, der nach Art. 1 des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten, des Europäischen Parlaments vom 20.9.1976 für dieses nicht gilt.) Bestrebungen, bei der nächsten Erweiterung der Recht des Europäischen Parlaments die Anzahl der Europäischen Parlamentsabgeordneten an die Zahl der Wahlberechtigten des jeweiligen Mitgliedstaats anzupassen, gibt es - vor allem in der Bundesrepublik Deutschland - schon lange; sie würden durch den "Zuwachs" verstärkt werden und an Durchschlagkraft gewinnen. Die Vorschriften über die Finanzbeiträge - bei denen andere Mitgliedstaaten Interesse hätten, Deutschland mehr aufzuerlegen - sind seit dem Eigenmittelbeschluß obsolet. Der höhere Mehrwersteuer-Anteil eines Mitgliedstaates Deutschlands mit größerer Wirtschaftskraft würde gemäß Artikel 2, Absatz 1c und d) des Eigenmittelbeschlusses vom 24.6.1988 automatisch zu höheren Einnahmen der Gemeinschaft führen.
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Deutschland hätte steigende Beiträge an die Gemeinschaft zu leisten, da diese sich nach dem Sozialprodukt richten. Tendenziell würde damit auch sein Einfluß auf EG-Prozesse steigen, vermutlich vor allem im Vorfeld von EG-Entscheidungen und zwar nicht nur auf Regierungs-, sondern vor allem auf der Verbandsebene. Denn es wäre damit zu rechnen, daß die deutschen Gewerkschaften und die Industrieverbände in den europäischen Dachverbänden an Einfluß hinzugewinnen würden. Wenn wir von der "weltpolitischen Lage" sprechen, müssen wir natürlich unseren Blick über Europa hinaus richten. Dabei werden wir wahrscheinlich feststellen, daß mit wachsender Entfernung von Europa auch die Besorgnisse und Befürchtungen abnehmen, die man sich dort im Blick auf das vereinte Deutschland macht. In dem Maße, in dem sich dieses Deutschland seiner Nachkriegshypotheken zu entledigen vermag, in dem es nicht neue BerlinKrisen zu befürchten hat, die Sicherheitslage sich entspannt, Vorbehaltsrechte früherer Besatzungsmächte schwinden, die Beziehungen zum Osten sich verbessern - in dem Maße kann es nur Ansehen, Respekt und Einfluß gewinnen. Die Dritte Welt hat sich für die deutsche Wiedervereinigung bisher hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt interessiert, ob sie das deutsche entwicklungspolitische Engagement vermindern werde. Dieses Engagement zu erhalten und zu pflegen, wird auch künftig das Hauptinteresse aller Entwicklungsländer bleiben und wird sie veranlassen, ihre Beziehungen mit einem der potentesten Geberländer zu pflegen. Formal werden sich im institutionellen Bereich, insbesondere bei den großen internationalen Organisationen, keine wesentlichen Änderungen der deutschen Position ergeben. In den ON-Organisationen würde Deutschland nicht mehr mit zwei sondern mit einer Stimme sprechen. Der deutsche Finanzbeitrag würde steigen, damit auch - allerdings unterproportional - das politische Gewicht bei Verhandlungen über die Mittelverwendung. Da die beiden deutschen Stimmen auch bisher praktisch niemals addiert werden konnten, weil in allen wichtigen Fragen stets die Zugehörigkeit zu jeweils verschiedenen Blocksystemen durchschlug, macht die Reduzierung auf eine Stimme keinen wesentlichen Unterschied. Im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank würde Deutschland vermutlich eine neue Quote bzw. eine höhere Kapitalanleihe zeichnen und damit höhere Stimmrechte erhalten. Der politische Einfluß würde dadurch jedoch nicht substanziell wachsen, da die Bundesrepublik bereits Mitglied in der "Gruppe 5" ist, welche die Politik vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank maßgeblich bestimmt. Was die weltpolitischen Krisenherde außerhalb Europas betrifft, so sehe ich gegenwärtig keinen, in den Deutschland verwickelt wäre - weder im Nahen Osten, noch in Zentralamerika, in Asien (Kambodscha) oder Afrika
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(nachdem das deutsche Engagement in Namibia ein gutes Ende gefunden hat). Das vereinte Deutschland tritt in eine weltpolitische Landschaft ein, die sich durch das Ende der sowjetisch-amerikanischen Konfrontation stark verändern wird. Alle bisherigen Kalkulationen über den strategischen Wert bestimmter Regionen - z. B. des Persieben Golfs, des Panama-Kanals usw. werden überprüft werden müßen, wobei sich in vielen Fällen zeigen wird, daß sie ihre frühere Bedeutung verloren haben. Der Wert überseeischer Stützpunkte wird neu einzuschätzen sein. Die Neigung, bestimmte Regime zu unterstützen, wird sich vermindern, wenn die betreffenden Länder nicht mehr in einer globalen Machtbalance mitzählen: Korea, Nicaragua, die Scheichtümer am Persischen Golf. Ein neuer Anwärter für eine neue militärische Rivalität ist voerst nirgends zu entdecken. Der Nord-Süd-Gegensatz wird stärker in den Vordergrund rücken, aber er wird kaum in eine militärisch-machtpolitische Dimension erwachsen. In einer solchen weltpolitischen Landschaft wird der Besitz oder nicht-Besitz von Atomwaffen eine geringere Rolle spielen, als das Bruttosozialprodukt und die Wachstumsrate, als das intellektuelle, insbesondere technischwissenschaftliche Potential eines Landes. In einer solchen Welt könnte Europa wieder ein größeres Gewicht erlangen, als in den letzten 40 Jahren; auch für Deutschland werden sich dabei neue Chancen bieten.
DAS "NEUE DENKEN" GORBATSCHOWS UND DER UMBRUCH IN DER SOWJETISCHEN EUROPAUND DEUTSCHLANDPOLITIK Von Boris Meissner I. Der Kurswechsel in der sowjetischen Außenpolitik unter Gorbatschow
und seine Begründung durch das "neue Denken"
In der Weltpolitik hat sich am Ende der achtziger Jahre ein tiefgehender Umbruch vollzogen. Er ist durch den Kurswechsel in der sowjetischen Außenpolitik bedingt worden, der eine wesentliche Voraussetzung für die freiheitlich-demokratische Revolution in Mittel- und Osteuropa und die damit verbundene Aktualisierung der "deutschen Frage" bildete. Der Kurswechsel ergab sich aus der Kenntnisnahme von den Veränderungen im Kräfteverhältnis in der Welt, die zu einer zunehmenden Vergrößerung der technologischen Lücke zu Ungunsten der Sowjetunion geführt hatte. Ausschlaggebend war für sie die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation, die auf dem XXVII. Parteikongreß der KPdSU als "Vorkrise" gekennzeichnet wurde. Diese sollte sehr bald die vollen Ausmaße einer wirtschaftlichen Krise erreichen. Der Kurswechsel wurde von Michail Gorbatschow mit seiner Reformpolitik im Zeichen von Perestrojka und Glasnost vollzogen. Ihm lag in der Außenpolitik die Erkenntnis zugrunde, daß eine Fortführung der Konfrontation mit dem Westen und das sich daraus ergebende weltpolitische Überengagement die Kräfte der Sowjetunion in zunehmendem Maße überfordern und damit die Lebensgrundlagen des Landes untergraben würde. Auf diese Wechselbeziehung zwischen der Innen- und Außenpolitik hat Gorbatschow frühzeitig hingewiesen und dabei die Priorität der Innenpolitik besonders betont. Er hat den Kurswechsel gleichzeitig damit begründet, daß die Sowjetunion die von ihr errungene Weltmachtstellung auf einem anderen Weg nicht aufrecht erhalten könnte. Entscheidend war die Einsicht, daß das Gelingen der Reformpolitik im Ionern eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem Westen, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet, und damit eine stärkere Einbeziehung der
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So\\jetunion in das bestehende Staatensystem und in die Weltwirtschaft erfordere. Dies setzte eine Öffnung nach außen durch Überwindung der bisherigen, hauptsächlich ideologisch bedingten Absonderung der So\\jetunion und eine veränderte Außen- und Sicherheitspolitik voraus, die bereit war, die nationalen Interessen anderer Mächte stärker zu berücksichtigen. Bemerkenswert ist das Bestreben Gorbatschows gewesen, seine Reformpolitik theoretisch zu unterbauen, ohne die philosophischen Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ideologie einer Revision zu unterziehen. Diese theoretische Begründung und Rechtfertigung der Perestrojka ist in dem "neuen politischen Denken", das sich im Verlauf des Umgestaltungsprozesses herausgebildet hat, zu sehen. 1 Dabei ist zwischen einem innen- und außenpolitischen Aspekt des "neuen Denkens" (nowoje myschlenije) zu unterscheiden. Es hat sich im vollen Maße nach der XIX. Allunions- Parteikonferenz der KPdSU im Juni 1988 herausgebildet. Das "neue Denken" in der Außenpolitik wies seitdem die folgenden Grundgedanken auf: 1.
Die Vorstellung von einer in ihren Bestandteilen eng verflochtenen, äußerst komplexen und widersprüchlichen, ganzheitlichen Welt und damit der Notwendigkeit, die globalen Probleme, von denen die Existenz der Menschheit abhängt, gemeinsam zu lösen. Das Überleben der Menschheit wurde vor allem durch die Möglichkeit eines nuklearen Infernos im Falle eines Weltkrieges und einer Umweltkatastrophe als gefährdet angesehen;
2.
Die Sicherung geregelter zwischenstaatlicher Beziehungen im Rahmen einer internationalen Rechtsordnung auf der Grundlage der freien Wahl jedes Volkes und der Beachtung der Menschenrechte;
3.
Der Vorrang des politischen und nicht des militärischen Faktors bei der Gestaltung der Außenpolitik;
4.
Die Lösung regionaler Probleme und Konflikte durch enge zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit dem Ziel einer integralen Zusammenfassung und Gewährleistung der Sicherheit der jeweiligen Region; Folgende Thesen wurden aufgrunddieser Vorstellungen vertreten:
a) Der Vorrang der allgemeinmenschlichen Werte und Interessen vor klassenbedingten Interessen; b) die Priorität des Völkerrechts in der Außenpolitik; 1 Vgl. M. Gorbatschow: Glasnost. Das neue Denken, Berlin 1989; Derselbe: Ausgewählte Reden und Aufsätze, 5 Bde., Berlin (Ost), 1987-1990; G. Arbatow: Das neue Denken, in: K. Liedke (Hrsg.), Der neue Hirt, Harnburg 1989, S. 13 ff. Zur Entwicklung des neuen außenpolitischen Denkens: Vgl. B. Meissner: "Neues Denken" und sowjetische Außenpolitik, in: "Außenpolitik", 40. Jg., 1989, S. 107 ff.
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c) der defensive Charakter der Militärdoktrin und Sicherheitspolitik; d) die Errichtung eines "gemeinsamen europäischen Hauses" als Beispiel einer regionalen Konstruktion. Die Vorstellung von der "interdependenten Welt" und die von ihr abgeleitete These vom Vorrang der allgemeinmenschlichen Interessen modifizierten die bisherige sowjetische Einstellung vom Klassenkampf und vom besonderen Charakter der "friedlichen Koexistenz". Mit der Auffassung, daß die internationalen Beziehungen nicht unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes zu sehen sind, wurde jedoch ihr Klassencharakter und damit das Eintreten für den "Sozialismus" nicht aufgegeben. Das "neue Denken" ist in der Außenpolitik früher als in der Innenpolitik festzustellen gewesen. Seine Entwicklung, die sich in einzelnen Phasen vollzogen hat, war das Ergebnis einerseits eines Denkprozesses, andererseits einer schrittweisen Machtverschiebung zu Gunsten Gorbatschows, die von einer "kollektiven Führung" zur Einmannherrschaft geführt hatte. Hinzu kam, daß Gorbatschow nach seinem Machtantritt im März 1985 bei der Gestaltung der Außenpolitik einen sehr viel größeren Spielraum hatte als in der Innenpolitik. An der Entwicklung des "neuen Denkens" in der Außenpolitik war Eduard Schewardnadse, der Außenminister Gromyko als ausgesprochenen Vertreter eines "alten Denkens" abgelöst hatte, stärker beteili~t als Alexander Jakowlew, der dieses Denken eher mittelbar beeinflußt hat. Auf einer wissenschaftlich-praktischen Konferenz im sowjetischen Außenministerium, die am 25. und 26. Juli 1988, d. h. nach der XIX. Parteikonferenz stattfand und auf der sämtliche Aspekte der sowjetischen Außenpolitik behandelt wurden, hat Schewardnadse die mit dem "neuen Denken" verbundenen Gedankengänge genauer dargestellt und auf die praktische Außenpolitik bezogen.3 Schewardnadse betonte wie Gorbatschow den Vorrang der "allgemeinmenschlichen Werte". Er schloß zugleich die "friedliche Koexistenz" als ein Mittel des internationalen Klassenkampfes im Nuklearzeitalter völlig aus. Er sagte: "Völlig zu Recht haben wir darauf verzichtet, sie (d. h. die friedliche Koexistenz) in der besonderen Form des Klassenkampfes zu betrachten. Eine Koexistenz, die sich auf solche Grundsätze gründet wie Nichtangriff, Achtung der Souveränität und nationalen Unabhängigkeit, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten usw., darf sich nicht mit dem Klassenkampf 2 Vgl. E. Schewardnadse: Die Zukunft gehört der Freiheit, Reinbek bei Harnburg 1991. 3 Vgl. Mddunarodnaja zizn', 1988, Nr. 9, S. 3 ff; 63 ff.
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identifizieren. Der Kampf der beiden gegensätzlichen Systeme stellt nicht länger die bestimmende Tendenz der modernen Epoche dar." Die entschiedene Abkehr von einer klassenkämpferisch-weltrevolutionären Sicht der sowjetischen Außenpolitik, wie sie in Verbindung mit der Unionsparteikonferenz zum Ausdruck kam, mußte jedoch Kritik bei dem dogmatisch eingestellten Teil der "kollektiven Führung" hervorrufen. Als ihr Sprecher benutzte Ligatschow den Urlaub Gorbatschows, um am 5. August 1988 in einer Rede in Gorkij das "neue Denken" erstmals öffentlich zu kritisieren. Ligatschow hielt ausdrücklich am Klassencharakter der internationalen Beziehungen und damit der sowjetischen Außenpolitik fest. Er erklärte, daß eine andere Auffassung nur "Verwirrung" bei den Verbündeten hervorrufen würde. Die Lösung allgemeinmenschlicher Probleme dürfe "keine künstliche Verlangsamung von sozialen und nationalen Befreiungskämpfen" bedeuten. Während Jakowlew das "neue Denken" öffentlich verteidigte, soll sich Gromyko intern in scharfer Form gegen die Äußerungen Schewardnadses gewandt haben. Ein Revirement in der Kreml-Führung am 1. Oktober 1988, bei dem Gorbatschow an Stelle von Gromyko das Amt des Staatsoberhaupts übernahm, bedeutete eine weitere Stärkung seiner Machtstellung. Dieser Machtzuwachs ermöglichte es ihm, in einer Grundsatzrede vor den Vereinten Nationen am 7. Dezember 19884 dem Abrüstungsprozeß durch die Bereitschaft zu einer größeren Verringerung der konventionellen Streitkräfte der Sowjetunion und die Ankündigung ihrer strukturellen Umgestaltung einen wesentlichen Impuls zu geben. Gorbatschow faßte in ihr die Grundgedanken des "neuen Denkens" zusammen. Er sagte, daß die Menschheit in ihrer Entwicklung in eine "neue Epoche" eingetreten sei, in welcher der Fortschritt von ihren "universellen Interessen" bestimmt sein werde. Diese Erkenntnis erfordere, "daß auch die Weltpolitik von der Priorität der allgemeinmenschlichen Werte bestimmt wird." Die Lösung globaler Probleme sei nur bei einer neuen "Dimension" und einer neuen "Qualität" des Zusammenwirkens der Staaten sowie der gesellschaftlichen und politischen Strömungen, "unabhängig von ideologischen und sonstigen Unterschieden", möglich. Im Sinne der von ihm geforderten Priorität des Völlkerrechts in der Außenpolitik erklärte er, "daß Gewalt und Androhung von Gewalt keine Instrumente der Außenpolitik mehr sein können und dürfen." Wenn sich Gorbatschow gegen die Drohung und Anwendung von Gewalt wendet, so ist dies nichts Neues. Dazu sind alle Staaten als Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft und erst recht der Vereinten Nationen sowieso 4
Vgl. Gorbatschow, Glasnost (Anm. 1), S. 258 ff.
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verpflichtet. Die Sowjetunion hat jedoch diese Verpflichtung weder im Falle Finnlands und der baltischen Staaten, noch in ihrer Interventionspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg eingehalten. Unter dem Gesichtspunkt des modernen Völkerrechts war auch von vornherein die These Gorbatschows von der "freien Wahl jedes Volkes" zu beurteilen, deren universeller Charakter von ihm besonders betont wurde. Die inhaltliche Deutung, die Gorbatschow diesem Prinzip gab, bedeutete nichts anderes als die Umschreibung des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Sinne des Artikels 1 der beiden Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 1966, die von der Sowjetunion ratifiziert wurden.5 Der Absatz 1 des Artikels 1lautet: "Alle Völker haben das Recht auf Seibstbestimmung. Kraft dieses Rechts steht es ihnen frei, ihren politischen Status zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen.r' Im gleichen Sinne ist der Artikel 2 des achten Prinzips in der KSZESchlußakte vom 1. August 1975 gehalten. Er lautet: "Kraft des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben alle Völker jederzeit das Recht, in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen." Dem Selbstbestimmungsrecht der Völker kommt im Sinne dieser Begriffsbestimmung nicht nur in völkerrechtlicher, sondern auch staatsrechtlicher Hinsicht normative Bedeutung zu. Dies mag auch der Grund gewesen sein, warum bereits in der späten "Breshnew-Ära" infolge der Brisanz der Nationalitätenfrage die Tendenz bestand, den Begriff des Selbstbestimmungsrechts nicht beim Namen zu nennen, sondern ihn lieber zu umschreiben. Ähnlich galt dies für Gorbatschow, der den Begriff des Selbstbestimmungsrechts anfangs nur selten gebrauchte und dafür lieber vom "Prinzip der freien Wahl" sprach. Dieses Verhalten erschien seltsam, da es die Sowjetunion gewesen ist, die ausgehend von Lenin wesentlich zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker als einem allgemein anerkannten Grundsatz des Völkerrechts,
5 Vgl. B. Meissner: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Helsinki und die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption, in: Die KSZE und die Menschenrechte, Berlin 1977, S. 115 ff. Aus der Sicht des "neuen Denkens": V. Stupisin: Svoboda vybora i pravo nacii na samoopredelenie, in: Mezdunarodnaja zizn', 1991, Nr. 2, S. 12 ff.
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dem außerdem aus ihrer Sicht die Eigenschaft einer unmittelbar geltenden Völkerrechtsnorm zukommt, beigetragen hatte. Bei der Behandlung der "freien Wahl jedes Volkes" wurde von Gorbatschow der Eindruck erweckt, daß dieses Prinzip nur unter Berücksichtigung des bestehenden territorialen Status quo zu betrachten sei. Eine solche Auslegung stand eindeutig im Widerspruch zu dem normativen Charakter des Selbstbestimmungsrechts. Eine "freie Wahl" bedeutet dem Wesen der Sache nach immer eine wirklich freie Willensentscheidung des jeweiligen Volkes. Soweit eine solche nicht vorgelegen hat oder mit Gewalt verhindert wird, stellt sie eindeutig eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker dar. In einem solchen Falle bleibt den Völkern mit dem ihnen weiterhin zustehenden Selbstbestimmungsrecht der Anspruch auf eine "freie Wahl" des von ihnen gewünschten politischen und sozioökonomischen Systems erhalten. Aufgrund dieser anfänglichen Einstellung entwickelte sich ein Widerspruch zwischen der These von der "freien Wahl" eines Volkes unter Beibehaltung des Status quo und dem Streben nach nationaler Einheit und staatlicher Unabhängigkeit, der die Geschlossenheit des Sowjetimperiums in Frage stellte. Dieser Widerspruch bestand besonders krass beim bedingungslosen Festhalten an der Teilung Deutschlands und bei der entschiedenen Ablehnung eines Ausscheidens der baltischen Republiken aus dem sowjetischen Staatsverband. Dabei war die Interessensphärenabgrenzung aufgrund des "Hitler-Stalin-Pakts", dessen Existenz längere Zeit geleugnet wurde, von sowjetischer Seite als völkerrechtlich nichtig festgestellt worden. Es bedurfte daher mehrerer großer Schritte, um die volle Übereinstimmung zwischen dem "neuen Denken" und der außenpolitischen sowie völkerrechtlichen Praxis der Sowjetunion herzustellen.
II. Die erste Etappe der West- und Osteuropapolitik Gorbatschows6 Das "neue Denken" in der Außenpolitik diente vor allem der Abschirmung der inneren Reformpolitik und zugleich einer Beeinflussung der Außenwelt zwecks Unterstützung der inneren Reformmaßnahmen. Aus dem langfristigen Charakter der Perestrojka eq~ibt sich das Bedürfnis nach einer längeren 6 Vgl. R Hamann, V. Matthies (Hrsg.): Sowjetische Außenpolitik im Wandel. Eine Zwischenbilanz der Jahre 1985-1990, Baden-Baden 1991; sowie die Beiträge zur Außenpolitik in: H. Adomeit, H.-H. Höhmann, G. Wagenlehner (Hrsg.): Die Sowjetunion unter Gorbatschow, Stuttgart u. a. 1990; B. Meissner: Die Außenpolitik der Sowjetunion - Grundlagen und Strategien, in: K. Kaiser, H.-P. Schwarz (Hrsg.): Weltpolitik. Strukturen-Akteure-Perspektiven, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 450 ff.
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Zeit der Ruhe im außenpolitischen Bereich und nicht nur nach einer kurzfristigen Atempause (peredyschka). Das "neue Denken" war in diesem Sinne dazu bestimmt, dem Kurswechsel in der bisherigen sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik eine glaubhafte theoretische Begründung zu geben. Im Grunde handelte es sich bei ihm vorwiegend um eine Rezeption westlicher Vorstellungen über die Wandlungen in der internationalen Ordnung als Folge der wissenschaftlich-technischen Revolution und der wachsenden Interdependenz in der Welt. Diesem Zweck diente neben einem geschmeidigeren Stil der sowjetischen Diplomatie auch eine größere Offenheit nach außen, die der Glasnost nach innen entsprach, und zu einer Förderung des Entspannungsprozesses beitragen sollte. Das "neue Denken" bezog sich einerseits auf die Außenpolitik und damit hauptsächlich auf die Gestaltung der auswärtigen Beziehungen der Sowjetunion auf der staatlichen Ebene, andererseits auf die eng mit ihr zusammenhängende Sicherheitspolitik. Es ist in der theoretischen Begründung der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik Gorbatschows, sowie in den Ansätzen zu einer Revision der bisherigen sowjetischen Militärdoktrin im Sinne einer defensiven Einstellung festzustellen gewesen. Im außenpolitischen Teil seiner Rede in Kiew am 23. Februar 19897 hat Gorbatschow darauf hingewiesen, daß der neuen Kreml-Führung nach dem Beginn der Perestrojka die Notwendigkeit bewußt wurde, die gesamte internationale Lage, die Stellung der Sowjetunion in der Welt und die Gesamtheit ihrer auswärtigen Beziehungen und Probleme neu zu durchdenken. Dies bildete den Ausgangspunkt zum neuen politischen Denken, "zum Verzicht auf überholte Vorstellungen und Schemata, darauf, die Welt schwarzweiß zu sehen." Auf der Grundlage dieser Lagebeurteilung sei nicht nur eine "prinzipiell neue Konzeption der globalen Sicherheit", sondern auch der Entschluß ge-faßt worden, "die Außenpolitik entscheidend zu erneuern" und sich zur Lösung der "kompliziertesten Konflikte in der Welt des Dialogs, der Verhandlungen und der Suche nach vernünftigen Kompromissen zu bedienen." Gorbatschow ist sich von vornherein bewußt gewesen, daß dies ohne eine Verbesserung der außenpolitischen Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten kaum zu erreichen sein würde. Diese Einsicht mag der Hauptgrund gewesen sein, der ihn veranlaßte, sehr früh die Bedeutung des Verhältnisses der Sowjetunion zu Westeuropa neben dem zu den Vereinigten Staaten besonders zu betonen. Er benutzte dazu den Begriff vom "gemein-
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samen europäischen Haus", der zuerst von Breshnew bei seinem Staatsbesuch in Bonn im November 1981 gebraucht worden war.8 Gorbatschow legte anfangs den Hauptnachdruck auf eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu Großbritannien und Frankreich, während er sich im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland zunächst zurück hielt. Dem KSZE-Prozeß stand er ebenso wie einer engeren Beziehung zwischen EG und RGW aufgeschlossen gegenüber. Vor allem hatte er erkannt, daß der Frage der Menschenrechte in dem Verhältnis zum Westen eine besondere Bedeutung zufallen würde. Im Verlauf der weiteren Entwicklung ist Gorbatschow unter dem Einfluß bestimmter Berater, zu denen Jakowlew gehörte, stärker bereit gewesen, die multipolaren Tendenzen in der Weltpolitik für die Sowjetunion nutzbar zu machen. In dieser Sicht bedeutete Westeuropa nur eines der neuen Machtzentren, deren Aufkommen die Sowjetunion neben dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten besonders zu berücksichtigen hatte. Diese Tendenz machte sich bereits in Verbindung mit der Wiederbelebung des Vorschlages einer Konferenz über Sicherheit in Asien in Gestalt eines gesamtasiatischen Forums im Frühjahr 1985 bemerkbar. Sie war in den Bemühungen um eine Verbesserung der Beziehungen zur Volksrepublik China und zu Japan sowie in der Festigung des guten Verhältnisses zu Indien festzustellen. Sie führte dazu, daß Gorbatschow die Sowjetunion in seiner Abrüstungserklärung vom 15. Januar 1986 ohne einen rechten Anlaß als eine der "größten asiatischen Mächte" bezeichnete. Gorbatschow trug damit der Tatsache Rechnung, daß sich der überwiegende Teil des Territoriums der Sowjetunion in Asien befindet, und daß sie als eine eurasische Macht, ähnlich wie die Vereinigten Staaten, auf zwei Flanken zu achten hat. Der Unterschied ist lediglich, daß sich ihre westliche Flanke auf dem europäischen Kontinent befindet, während die östliche Flanke am Pazifik liegt. Infolgedessen ist auch im Politischen Bericht auf dem XXVII. Parteikongress der KPdSU im Februar 1986, unabhängig vom Verhältnis zur amerikanischen Weltmacht und dem Sonderverhältnis zu den sozialistischen Staaten, von zwei Richtungen der sowjetischen Außenpolitik die Rede gewesen, der europäischen und der asiatisch-pazifischen. Wie sich die Beziehungen der Sowjetunion zu den einzelnen Staaten, die diesen Bereichen angehören, gestalten sollten, ist damals offen geblieben. 8 Vgl. M. Gorbatschow: Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der Perestrojka, Düsseldorf 1989; Ju. A. Borko, A. V. Zagorskij, S. A. Karaganov: Obscij Evropejskij Dom: cto my o nem dumaem, Moskau 1991. Zur sowjetischen Westeuropapolitik vgl. H. Adomeit: Gorbatschows Westpolitik, in: "Osteuropa", 39. Jg., 1988, S. 419 ff., 816 ff., 1091 ff.; E. Schulz: Kontinuität und Wandel in der sowjetischen Politik gegenüber Westeuropa und den USA, in: K-D. Bracher, M. Funke, H.-P. Schwarz (Hrsg.): Deutschland zwischen Krieg und Frieden, Bonn 1990, S. 166 ff.; H.-H.Wrede: Die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses, in: Die Internationale Politik, München 1990, S. 111 ff.
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Im Verhältnis zu Westeuropa haben sich die gegenseitigen Beziehungen unter Gorbatschow nicht nur auf einer bilateralen, sondern verstärkt auf einer multilateralen Ebene abgespielt. In bilateraler Hinsicht galt die Aufmerksamkeit Gorbatschows, wie bereits erwähnt, anfangs hauptsächlich Großbritannien und Frankreich, später in besonderem Maße der Bundesrepublik Deutschland. Die weitere Entwicklung der bilateralen Beziehungen zu den einzelnen westeuropäischen Staaten ist in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Gestaltung der multilateralen Beziehungen unter Gorbatschow zu sehen, die sich einerseits auf EG-Europa, andererseits auf ganz Europa bezogen. Die Übereinkunft zwischen der EG und RGW stellte einen wesentlichen Schritt auf dem Wege der Anerkennung nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch politischen Funktionen der Europäischen Gemeinschaft durch die Sowjetunion dar. Sie ist auch im Interesse Gorbatschows an dem Europäischen Parlament zum Ausdruck gekommen. Der weitere Fortgang des KSZE-Prozesses, der den gesamten europäischen Kontinent betraf, hat durch den befriedigenden Ausgang der KVAEKonferenz in Stockholm Auftrieb erhalten. Der erfolgreiche Abschluß der Wiener Folgekonferenz der KSZE, dessen Bedeutung von Gorbatschow besonders gewürdigt wurde, hat den Weg zu den neuen Verhandlungen über den Abbau der konventionellen Streitkräfte unter Verzicht auf die MBFR frei gemacht. Dem Ausgang dieser Verhandlungen kam für die Frage, ob der neue außenpolitische Kurs der Sowjetunion auch die Beseitigung anderer Ursachen für die in Europa bestehenden Spannungen ermöglichen könnte, eine zentrale Bedeutung zu. Ein weiterer Prüfstein war, wie sich das künftige Verhältnis der Sowjetunion zu Osteuropa gestalten würde. Die Verlängerung des Warschauer Paktes sicherte Gorbatschow die Gefolgschaft der osteuropäischen Bündnispartner in der Außen- und Sicherheitspolitik. Andererseits trugen die vergeblichen Bemühungen zur Umgestaltung und Aktivierung des RGW nicht zu einer Stärkung der wirtschaftlichen Grundlage des sowjetischen Bündnissystems bei. Die Solidarität auf außenpolitischem Gebiet gab Gorbatschow die Möglichkeit, den Gefolgsstaaten in ihrer inneren Entwicklung einen größeren Spielraum einzuräumen.9
9 Zur sowjetischen Osteuropapolitik vgl. B. Meissner: Die sowjetische Blockpolitik unter Gorbatschow, in: W. Althammer (Hrsg.): Südosteuropa in der Ära Gorbatschow, München 1987, S. 39 ff.; J. Hacker: Michail Gorbatschow und die engere "sozialistische Gemeinschaft", in: Beilage zur Wochenschrift "Das Parlament", 1990, Nr. 19-20, S. 30 ff.; P. Danylow: Reform und Stagnation in Osteuropa, in: Die internationale Politik, München 1990, S. 81 ff. Aus sowje-
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Im Hinblick auf die bilateralen Beziehungen sind durch die Perestrojka die zentrifugalen Kräfte im engeren Sowjetblock wesentlich verstärkt worden. Gorbatschow glaubte offenbar, daß die Perestrojka die anderen osteuropäischen Staaten veranlassen könnte, ihrerseits dem sowjetischen Vorbild auf dem neu eingeschlagenen Wege zu folgen und damit zu einer Erneuerung des "Weltsozialismus" beizutragen. Tatsächlich waren dazu nur Ungarn, das die Rolle eines Vorreiters spielte, und Polen aufgrund seiner besonderen Lage bereit, während bei den anderen Staaten die Befürchtungen vor den Folgen einer solchen tiefgehenden Reformpolitik überwogen. Dies galt hauptsächlich für Rumänien, die DDR und CSSR, während Bulgarien eine vorsichtigere Haltung einnahm. Vor allem die Demokratisierung des politischen Systems, verbunden mit der Glasnost, bedrohte die Stabilität jener osteuropäischer Staaten, die auf einer Einparteiherrschaft totalitärer Prägung beruhte. Dagegen hat die Bejahung einer Reformpolitik die Annäherung zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China erleichtert, die durch den Rückzug aus Afghanistan, die Einschränkung des sowjetischen Einflusses in Südostasien und die Truppenverminderung in der äußeren Mongolei ermöglicht wurde. In der Perestrojka bildete die XIX. Parteikonferenz der KPdSU im Juli 1988 den ersten Wendepunkt. Im außenpolitischen Bereich wirkte sie sich auf der einen Seite in einer weiteren Verbesserung der Ost-West-Beziehungen und damit nicht nur im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, sondern auch zu den westeuropäischen Ländern aus. Bei den Verhandlungen über die Rüstungsbegrenzung und Abrüstung wurden schrittweise Abkommen, die vor allem die Mittelstreckenraketen betrafen, erzielt. Auf der anderen Seite war die Sowjetunion bemüht, die von ihr angestrebte beschleunigte wirtschaftliche Integration Osteuropas mit einer stärkeren Öffnung zum Weltmarkt zu verbinden. Diese Einstellung kam erstens im Ziel eines gemeinsamen RGWMarktes, zweitens in der Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen dem RGW und der EG auf der Grundlage der gemeinsamen Erklärung vom 25. Juni 1988 zum Ausdruck. tischer Sicht: B. K. Gorbace~ Ukreplenie vsestoronnego sotrudnicestva bratskich stran socializma, Moskau 1986; Ju. S. Siraev: Sotrudnicestvo SSSR s bratskimi stranami socializma: sostojanie, problemy, perspektivy, Moskau 1987; A. Kapto: Prioritet nasich otno&enij s socialisticeskimi stranami, in: MeZ.duna~naja zizn', 1988, Nr. 10, S. 29 ff.; V. Karavaev: Vostoenaja Evropa otkryvaetsja miru, in: Mezdunarodnaja zizn', 1990, Nr. 3, S. 39 ff.
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Die Bemühungen um eine Reorganisation des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe waren nicht geeignet, eine engere Zusammenarbeit zwischen den RGW-Staaten herbeizuführen. Das Eintreten Gorbatschows für die Reform des politischen Systems und die Schaffung eines Rechtsstaates mußte wiederum die bestehenden Differenzen innerhalb der "sozialistischen Gemeinschaft" weiter verstärken.
111. Der Neubeginn im deutsch-sowjetischen Verhältnis und die zweite Etappe in der Osteuropa-Politik Gorbatschows 10
In der ersten Etappe der "neuen Außenpolitik" ist Gorbatschow bestrebt gewesen, neben der Verbesserung der Beziehungen zum Westen die Einheit des Sowjetimperiums auf der Grundlage des Status quo zu wahren. In der zweiten Etappe war er jedoch seit dem Frühjahr 1990 bereit, dem Streben nach nationaler Selbstbestimmung bei den osteuropäischen Gefolgsstaaten der Sowjetunion und auch im deutschen Fall stärker Rechnung zu tragen. Dabei ist die enge Wechselbeziehung zwischen der sowjetischen Osteuropa- und Deutschlandpolitik besonders deutlich geworden. Das "neue Denken" ermöglichte es, den deutsch-sowjetischen Normalisierungsprozeß, der durch die Konfrontationspolitik seit dem Ende der Herrschaft Breshnews unterbrochen worden war, wieder aufzunehmen. Die Initiative ging dazu stärker von der deutschen als von der sowjetischen Seite aus. Die Besuche von Außenminister Genscher und Bundespräsident von Weizsäcker in der Sowjetunion sowie eine Reihe von Ministerbegegnun10 Vgl. W. Pfeiler: Gorbatschows Deutschlandpolitik, in: Sowjetpolitik unter Gorbatschow. Die Innen- und Außenpolitik der UdSSR 1985-1990, Berlin 1991, S. 115 ff.; B. Meissner: Das neue Denken Gorbatschows und die Wende in der sowjetischen Deutschlandpolitik, in: W. Weidenfeld (Hrsg.): Die Deutschen und die Architektur des europäischen Hauses, Köln 1990, S. 70 ff. (Schrifttumshinweise, Anm. 16); G. Wettig: Stadien der sowjetischen Deutschlandpolitik, in: "Deutschland-Archiv", 23. Jg., 1990, S. 1070 ff.; J. P. Dawydow, D. W. Trenin: Die Haltung der Sowjetunion gegenüber der deutschen Frage, in: Europa-Archiv, 45. Jg., 1990, S. 251 ff. Zum Wandel in der sowjetischen Osteuropapolitik vgl. G. Wettig: Der politische Wandel in Osteuropa und seine Auswirkungen auf die Europa-Politik, in: Außenpolitik, 41. Jg., 1990, S. 107 ff.; V. V. Kusin: Mikhail Gorbachev' Evolving Attitude to Eastern Europe, in: Radio Free Europe Research, "Background Repon vom 20.7.1989 und die Berichte im Sammelheft 1989: A Year of Upheaval, in: Repon on Eastern Europe, Vol. 1, No. 1, 5 January 1990. Aus sowjetischer Sicht: M. Gorbatschow: Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der Deutschen, Düsseldorf 1990; F. J. Novik: SSSR-FRG: problemy sosuscestvovanija i sotrudnicestva 19751986, Moskau 1987; N. V. Pavlov: Ynesnaja Politika FRG. Koncepcii i realii 80-ch godov, Moskau 1989; I. Maksimycev, D. Mencikov: Edinoe germanskoe otecestvo?, in: MeZ.dunarodnaja zizn', 1990, Nr. 6, S. 37 ff.
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gen und gegenseitigen Vereinbarungen bereiteten den Boden für eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen vor. Eine besondere Bedeutung kam dem Staatsbesuch von Bundeskanzler Kohl in der Sowjetunion im Oktober 1988 zu, der mit dem Abschluß zahlreicher Abkommen verbunden warY Ihm ging der Besuch des sowjetischen Außenministers Schewardnadse in Bann im Februar 1988 voraus, bei dem mit dem Konsultationsabkommen wieder ein politisches Abkommen unterzeichnet wurde. 12 Der Gegenbesuch Gorbatschows in der Bundesrepublik nach seiner Wahl zum "Staatspräsidenten" im Juni 198913 ließ deutlich die sowjetische Bereitschaft zu einer Fortentwicklung der beiderseitigen Beziehungen unter stärkerer Berücksichtigung der nationalen Interessen der deutschen Seite erkennen. Das bessere Verständnis der gegenseitigen Standpunkte kam in der "Gemeinsamen Erklärung" 14, die am 13. Juni 1989 in Bann unterzeichnet wurde, zum Ausdruck. In ihr haben sowohl Vorstellungen des "neuen Denkens"15, als auch Grundprinzipien der westlichen Wertegemeinschaft ihren Niederschlag gefunden. Unter den Grundsätzen eines gemeinsamen "neuen Denkens" und einer "zukunftsgestaltenden Politik über Systemgrenzen hinweg" ist neben der Friedenssicherung "das Recht aller Völker und Staaten ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zu einander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten" besonders betont worden. Als "vorrangige Aufgabe der Politik" der beiden Mächte wurde die "Überwindung der Trennung Europas" bezeichnet. Dieses Ziel soll durch die Errichtung "einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses - in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben" mit Hilfe des KSZE-Prozesses erreicht werden. Als wichtige Bauelemente eines "Europas des Friedens und der Zusammenarbeit" wurden dabei genannt: 11 Vgl. die Dokumentation: Die Begegnungen von Moskau und Bonn, Bonn 1989 und die Chronik des Besuchs von Helmut Kohl in der Sowjetunion, in: Sowjetunion heute, 1988, Nr. 11, s. 4 ff. 12 Wortlaut: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung", 21.1.1988, Nr. 8, S. 56 13 Vgl. Die Begegnungen von Moskau und Bonn (Anm. 20) und die Sondernummer von "Sonetunion heute" vom Juni 1989. 1 Wortlaut in: Die Begegnungen von Moskau und Bonn (Anm. 20), S. 121 ff. 15 Der Verfasser hat in beratender Funktion unter Bezugnahme auf das "neue Denken" dazu beigetragen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Priorität des Völkerrechts in der "Gemeinsamen Erklärung" Berücksichtigung gefunden haben.
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"Die uneingeschränkte Achtung der Integrität und Sicherheit jedes Staates" und das Recht, "das eigene politische und soziale System frei zu wählen" SOWie
"Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker"; "Die energische Fortsetzung des Prozesses der Abrüstung und Rüstungskontrolle; "Die Verwirklichung der Menschenrechte und die Förderung des Austausches von Menschen und Ideen", verbunden mit dem "Ausbau direkter Kontakte zwischen der Jugend". Neben einem "dichten Dialog" auf bilateraler und multilateraler Ebene sollte eine verstärkte Kooperation durch eine Intensivierung der Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, der Ökologie und in verschiedenen anderen Bereichen erreicht werden. Besonderer Nachdruck wurde auf die "Achtung und Pflege der geschichtlich gewachsenen Kulturen der Völker Europas", einschließlich des Schutzes der "nationalen Minderheiten", gelegt. Die in der "Gemeinsamen Erklärung" enthaltenen Grundsätze und Bauelemente einer europäischen Friedensordnung, beziehungsweise eines "gemeinsamen europäischen Hauses", waren sowohl im Hinblick auf die deutsche Frage als auch zur Weiterentwicklung der beiderseitigen Beziehungen als bedeutsam anzusehen. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in einem bilateralen Dokument, das sich "die Überwindung der Trennung Europas" zum Ziel setzt, war ein Schritt, der über die Bestimmungen des Moskauer Vertrages von 1970 weit hinaus ging. Bei einer solchen Zielsetzung war die künftige Architektur Europas, von der in der Erklärung die Rede war, ohne eine gleichzeitige Überwindung der Trennung des deutschen Volkes schwer vorstellbar. Die konzeptionellen Veränderungen, die in der "Gemeinsamen Erklärung" zum Ausdruck gekommen sind, haben zunächst noch nicht zu wesentlichen Veränderungen in der offiziellen sowjetischen Deutschlandpolitik, die an der Zweistaatlichkeil und der Sonderstellung West-Berlins festhielt, geführt. Nur die Bereitschaft, den Fortbestand einer deutschen Nation anzuerkennen, ist dadurch gewachsen. Für die Lösung der deutschen Frage sollte sich in der Praxis neben der veränderten Osteuropa-Politik Gorbatschows die Auswirkungen, welche die Perestrojka auf die innere Struktur der sowjetischen Gefolgsstaaten gehabt hat, als besonders wichtig erweisen. Aus der Einsicht, daß die einzelnen sowjetischen Gefolgsstaaten zu der Befolgung des von ihm vorgesehenen Reformkurses nicht gezwungen werden konnten, zog Gorbatschow die Anerkennung der Eigenständigkeit der ein-
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zeinen Mitglieder der "sozialistischen Gemeinschaft", und damit des sowjetischen Hegemonialverbandes, dem Bestehen auf dem Modellcharakter der Sowjetunion vor. Der Verzicht auf die Aufrechterhaltung der sowjetischen Hegemonie in ihrer bisherigen Form ist in seiner Erklärung vor dem Euroftarat am 6. Juli 1989 deutlich zum Ausdruck gekommen. Gorbatschow sagte: 6 "Jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten und alle Versuche, die Souveränität der Staaten einzuschränken, seien das Freunde oder Verbündete oder nicht, sind unzulässig." Auf dem anschließenden Gipfeltreffen der Warschauer Paktstaaten am 7. und 8. Juli 1989, das für eine Beschleunigung der VKSE-Verhandlungen eintrat, wurde das Recht jedes Paktstaates, seinen Weg zum Sozialismus selber zu bestimmen, ausdrücklich bekräftigtP Dabei wurde die Achtung "des Rechts eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung, auf freie Wahl seines sozialpolitischen Entwicklungsweges, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die vorbehaltlose Enthaltung von jeglicher Anwendung oder Androhung von Gewalt" besonders betont. Mit dieser Erklärung ist offiziell die Rückkehr zur Theorie von den "verschiedenen Wegen zum Sozialismus", die zeitweilig aus taktischen Gründen auch von Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg vertreten wurde, erfolgt. Sie ersetzte das bis dahin geltende Prinzip des proletarisch-sozialistischen Internationalismus, das als Grundlage eines besonderen "sozialistischen Völkerrechts" galt und eine Verschärfung in der "Breshnew-Doktrin" gefunden hatte. 18 Heftige Kritik an dieser Doktrin wurde in einer Denkschrift von Professor Wjatscheslaw Daschitschew vom 18. April 1989 geübt, der in seiner beratenden Funktion zur Wende in der sowjetischen Deutschlandpolitik beigetragen hat.19
Daschitschew forderte eine "radikale Neubewertung der Ziele und Aufgaben der sowjetischen Politik in Osteuropa, das sich "von einer Sicherheitszone zu einer Zone der Gefahr und Instabilität" entwickelt habe, und warnte vor den katastrophalen Folgen eines möglichen millitärischen Einsatzes. Die unterschiedliche Bewertung der bewaffneten Intervention der Sowjetunion und der vier weiteren Warschauer Paktstaaten in der Tsche16 "Pravda" vom 7.7.1989. 17 "Pravda" vom 9.7.1989.
18 Vgl. B. Meissner: Die "Breshnew-Doktrin". Das Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" und die Theorie von den "verschiedenen Wegen zum Sozialismus", Köln 1969. 19 Wortlaut: "Der Spiegel" vom 5.2.1990, S. 142 ff.
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choslowakei, die mit der "Breshnew-Doktrin" gerechtfertigt worden war, trat an ihrem 21. Jahrestag am 21. August 1989 deutlich zutage. Während Polen und Un~arn die Intervention verurteilten, versuchte die DDR sie zu rechtfertigen , während die Sowjetunion sich einer eindeutigen Stellungnahme enthielt. Daß Gorbatschow diese Kritik teilte, wurde dadurch deutlich, daß er in Osteuropa nach Polen und Ungarn eine Entwicklung zuließ, die erst in der DDR und dann in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien zu revolutionären Veränderungen, die auf die Errichtung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung gerichtet waren, führte. Neben der im "neuen Denken" zum Ausdruck kommenden Einsicht war es die Notwendigkeit, sich auf die Lösung der ungeheuer schwierigen inneren Probleme der Sowjetunion zu konzentrieren, die ihn von der Anwendung von Gewalt absehen ließ. Den endgültigen Abschied von der "Breshnew-Doktrin" bildete die Verurteilung der Intervention in der Tschechoslowakei im Jahre 1968 in einer Erklärung der Sowjetregierung vom 4. Dezember 1989, die auf der anschließenden Gipfelkonferenz von allen an der Intervention beteiligten Warschauer Paktstaaten bekräftigt wurde. Die Intervention wurde als "ungerechtfertigt" bezeichnet. Die Entscheidung zu ihr sei "im Lichte aller jetzt bekannten Tatsachen falsch gewesen." In der gemeinsamen Erklärung hieß es: "Die Geschichte hat bewiesen, daß es selbst in den schwierigsten internationalen Situationen außerordentlieh wichtig ist, politische Mittel zur Lösung jeglicher Probleme anzuwenden und die Prinzipien der Souveränität, der Unabhängigkeit und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten in den Beziehungen zwischen den Staaten strikt zu beachten, in Übereinstimmung mit der Satzung des Warschauer Vertrages."21 Durch die Abkehr von der "Breshnew-Doktrin" und den damit verbundenen Verzicht auf gewaltsame Erhaltung der sowjetischen Hegemonie haben sich Möglichkeiten ergeben, nicht nur die bestehenden Spannungen, die durch die Teilung Europas bedingt waren, zu verringern, sondern auch die eigentlichen Spannungsursachen zu beseitigen. Dazu gehörte neben der Beendigung des Ost-West-Konflikts auch die Lösung der deutschen Frage auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Es zeigte sich, daß die These vom "Wandel durch Annäherung", die 1963 von Egon Bahr aufgestellt wurde, unzulänglich gewesen ist. Der Verfasser hat bereits Ende 1963 in einem Artikel im "Allgemeinen Deutschen Sonn20 Vgl. "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 19.8.1989. 21 "Neue Zürcher Zeitung" vom 6.12.1989.
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tagsblatt" darauf hingewiesen, daß die richtige Formel, welche die anzustrebenden Veränderungen zum Ausdruck bringt, "Annäherung durch Wandel" heißen muß. 22 Damit war in erster Linie ein Wandlungsprozeß im Osten durch weitgehende Anpassung an westliche Werte und nicht eine Konvergenz der bestehenden Systeme gemeint. Letzten Endes ist es die erfolgreiche Entwicklung der westlichen Welt und die dadurch maßgeblich bestimmte Veränderung des Kräfteverhältnisses gewesen, die zur Einsicht der Reformkräfte in der Sowjetunion von der Notwendigkeit einer radikalen Wende beigetragen hat.
IV. Der Wandel in der sowjetischen Haltung in der deutschen Frage und die Bereitschaft zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands23 Durch den revolutionären Wandlungsprozeß hat die "deutsche Frage", deren Offenheit nicht nur von sowjetischer Seite bestritten wurde, eine unmittelbare aktuelle politische Bedeutung erlangt. Bundespräsident von Weizsäcker hat in seinem Gespräch mit Gorbatschow am 7. Juli 198724 die Frage der deutschen Nation angesprochen. Der sowjetische Parteichef hatte daraufhin geantwortet, daß er nicht geneigt sei, über diesen Begriff zu theoretisieren. Heute sei der politische Aspekt wichtig. Es gäbe die zwei deutschen Staaten mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. Dies sei die Realität. "Was in hundert Jahren sein wird, entscheidet die Geschichte." Bezugnehmend auf dieses Gespräch hat er in seinem Buch "Die Perestrojka und das neue Denken" hinzugefügt: 25 "Ganz gleich was Ronald Reagan und andere westliche Regierungschefs in dieser Hinsicht sagen, sie können der BRD bezüglich der sogenannten 'deutschen Frage' kein realistisches Angebot machen. Was historisch geformt wurde, sollte am besten der Geschichte überlassen bleiben. Das gilt auch für die Frage nach der deutschen Nation und nach den Formen deutscher Eigenstaatlichkeit."
22 Diese These hat der Verfasser in seinem Aufsatz "Stalins Ebbe und Flut. Das Verhältnis der Sowjetunion zur Bundesrepublik, in: "Die Politische Meinung", 1988, Nr. 190, S. 32 ff. näher begründet. 23 Vgl. F. Oldenburg: Sowjetische Europa-Politik und die Lösung der deutschen Frage, in: "Osteuropa", 41. Jg., 1991, S. 751 ff.; W. Pfeiler: Moskau und die deutsche Frage, in: Deutschland zwischen Krieg und Frieden (Anm. 8), S. 188 ff. Aus sowjetischer Sicht: S. Karaganov: Problemy evropejskoj politiki SSSR, in: Mezdunarodnaja zizn', 1990, Nr. 6, S. 83 ff; I. Maksim~cev: V dvuch sagach ot ob"edinennoj Germanii, ebenda, Nr. 9, S. 37 ff. 4 Vgl. ZSF-Sendung vom 7.7.1987; BPA-Ostinformationen vom 8.7.1987. 25 M. S. Gorbacev: Perestrojka i novoe my51enie dlja nasej strany i dlja vsego mira, Moskau 1987, S. 209; deutsch: Michail Gorbatschow. Perestroika. Die zweite russische Revolution, München 1987, S. 261.
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Von einer Bemerkung zur "d~utschen Frage" sah Gorbatschow in Bonn ab. Die DDR wurde von ihm nur am Rande als Bündnispartner erwähnt. Dafür war Daschitschew in seiner Denkschrift vom 18. April 1989, die Gorbatschow sicher bekannt war, unter Betonung der Einheit der deutschen Nation ausführlich auf die mit der "deutschen Frage" verbundene Problematik eingegangen. Er hatte sich entschieden gegen die Auffassung gewandt, daß die Teilung Deutschlands den sowjetischen Interessen am besten diene. Er war vielmehr der Ansicht, daß ohne Lösung der "deutschen Frage" die Konfrontation zwischen Ost und West, die der Sowjetunion so viel Schaden zugefügt habe, nicht überwunden werden könne. Daschitschew übte scharfe Kritik an dem in der DDR entstandenen Regime, das sich "auf Gewalt gegen die eigene Bevölkerung" stützen würde. Als besonders unsinnig bezeichnete er, ohne Honecker zu nennen, die Erklärung, "die Berliner Mauer werde noch 100 Jahre stehen." Er wies auf die Spannungen zwischen der UdSSR und DDR hin, die sich aus der negativen Haltung der SED-Führung zur Perestrojka ergeben hätten. Nur eine tiefgehende Reform könne die DDR aus dieser Sackgasse hinausführen. Sie würde zu einer "revolutionären Annäherung der beiden deutsehen Staaten führen" und damit "die deutsche Frage entschärfen", da sich hiermit "Aussichten auf die Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten ... oder auf eine Vereinigung unter den Bedingungen garantierter Sicherheit für alle Länder Europas eröffnen könnten." Die Massenflucht von DDR-Bürgern bestätigte die Analyse Daschitschews, ließ die Sowjetführung jedoch Befürchtungen für die scheinbar in Osteuropa noch bestehende Stabilität hegen. Dies veranlaßte Außenminister Schewardnadse, auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 26. September 1989 nach längerer Zeit wieder von der Gefahr des deutschen "Revanchismus" zu reden. Gorbatschow war in seiner Festrede anläßtich des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 zwar bemüht, die enge Verbindung mit der DDR und ihren "souveränen Status" zu betonen. Intern übte er jedoch im Gespräch mit Honecker und vor dem Politbüro der SED Kritik an der Reformunwilligkeil der SED-Führung. Er bemerkte anschließend: "Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte." Diese Feststellung sollte sich schneller als Gorbatschow selbst angenommen hatte, bewahrheiten. Die Massendemonstrationen, die während seines Aufenthalts begannen, sollten am 9. November 1989 in eine "friedliche Revolution" übergehen, die zum Sturz des SED-Regimes und nach der Öffnung der Berliner Mauer zum Übergang zu einem demokratischen MehrparteienSystem führte.
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Da Gorbatschow an seiner grundsätzlichen Haltung, den Volkswillen zu achten und nicht mit Waffengewalt zu unterdrücken, festhielt, sollte der revolutionäre Prozeß sehr bald auch die anderen sozialistischen Staaten, die bisher eine Perestrojka abgelehnt oder verzögert hatten, erfassen. Diese Entwicklung war überall mit der Beseitigung der kommunistischen Einparteiherrschaft verbunden. Wie Schewardnadse in einem Interview in der "Literaturnaja Gaseta" vom 10. April1991 mitteilte, stand die Gorbatschow-Führung unter einem starken Druck, diesen revolutionären Umbruch durch Anwendung militärischer Gewalt im Sinne der "Breshnew-Doktrin" zu verhindern. Er sagte: "Uns hat man ziemlich aktiv zur Anwendung von Gewalt gedrängt, das heißt, zur Wiedergeburt jener Doktrin, nach der die Machtkrise in einem Land der sozialistischen Gemeinschaft durch die bewaffnete Einmischung anderer Länder überwunden wird. Mit anderen Worten, uns hat man vorgeschlagen, nach den Szenarien von 1953, 1956 und 1968 zu handeln". Vor allem hatten die Gegner der Einheit Deutschlands vorgeschlagen, "an den Grenzen Abfang-Divisionen und Sperranlagen aufzustellen" sowie "die Panzer-Motoren in Gang zu setzen." "Ein Eingehen auf diese Vorschläge hätte die Welt an den Rand eines dritten Weltkrieges herangeführt". Schewardnadse erklärte, daß er bereits bei seinem Amtsantritt 1986 erkannt habe, daß die Lösung der für Europa zentralen deutschen Frage die Überwindung der Spaltung der deutschen Nation erfordere. Schewardnadse betonte in diesem Interview, wie bei früheren Gelegenheiten, daß der revolutionäre Wandel für die Sowjetführung nicht unerwartet gekommen sein. In jedem Fall war für sie die Schnelligkeit mit der die kommunistischen Machtpositionen nicht nur in der DDR, sondern auch im ost- und südosteuropäischen Bereich zusammenbrachen, überraschend. Gorbatschow war nunmehr vor allem bestrebt, die tiefgreifenden Veränderungen mit der Fortführung des KSZE-Prozesses zu verbinden, um dadurch zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Vorfeld der Sowjetunion zu gelangen. Dieser Zielsetzung kam der Zehn-Punkte-Plan von ·Bundeskanzler Kohl vom 28. November 1989, der eine schrittweise Verwirklichung der Einheit Deutschlands vorsah, entgegen.26 Dies galt insbesondere für die Feststellung 26 Vgl. H. Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 54 ff.; P. R. Weilemann: Der deutsche Beitrag zur Überwindung der europäischen Teilung - Die zehn Punkte von Bundeskanzler Kohl, in: "Außenpolitik", 41 Jg. 1990, S. 15 ff.
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des Bundeskanzlers, daß die Architektur des künftigen Deutschlands an die Architektur des künftigen Europas anzupassen sei, und daß es notwendig sei, neue, übergreifende Sicherheitsstrukturen zu schaffen. In der Sowjetführung, die in ihrer Mehrheit jetzt von der Existenz der deutschen Nation ausging, machten sich zwei Richtungen bemerkbar: Die eine Richtung trat für ein "freundschaftliches und nachbarschaftliebes Miteinander der beiden souveränen Staaten" ein, wobei konföderative Strukturen als möglich erachtet wurden.27 Die andere Richtung war dagegen bereit, auch einer Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen.28 Gorbatschow vertrat zunächst die erste Position, um dann zur zweiten Position umzuschwenken. Beim Treffen mit den französischen Präsidenten Mitterand in Kiew am 7. Dezember 1989 bezeichnete er die Realität zweier deutscher Staaten als stabilisierend und ihre Vereinigung als politisch zur Zeit als nicht aktuell.29 Bei dem ersten Besuch des DDR-Ministerpräsidenten Modrow in Moskau am 30. Januar 199030 hatte Gorbatschow "prinzipiell" schon keine Einwände mehr gegen eine schrittweise Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Frage der deutschen Einheit habe inzwischen an "Dynamik" gewonnen. Niemand zweifle, daß diese Frage auf der europäischen Tagesordnung stehe. Die anstehenden Fragen müßten von allen Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR "verantwortungsvoll" gelöst werden und dürften nicht "auf der Straße" entschieden werden. Er sagte: "Es gibt zwei deutsche Staaten, es gibt die Verpflichtungen der vier Mächte, es gibt den europäischen Prozeß - und auch der verläuft stürmisch -, und all' das muß in Einklang gebracht werden." Diese Wendung in der bisherigen Haltung Gorbatschows kam beim Besuch von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher am 10. Februar 199031 klar zum Ausdruck. Der Besuch erfolgte nach dem wichtigen ZK-Plenum der KPdSU vom 5. bis 7. Februar 1990. Auf diesem Plenum hatte sich Gorbatschow mit seinen weiteren Plänen zur Reform des politischen Sy27 Vgl. L. Besymenski: Muß man Angst um die DDR haben, in: "Neue Zeit", 1989, Nr. 50, S. 13 ff.; N. Portugalov: BRD -DDR Konföderative Strukturen sind möglich, in: "Sowjetunion heute", 1989, Nr. 12, S. 10 f.
28 Vgl. W. Baranowski: Kein Njet zur deutschen Frage, in: "Moskau News" (Deutsch), 1990, Nr. 1, S. 1 ff. 29 Vgl. "Neue Zürcher Zeitung" vom 9.12.1989, BPA-Ostinformationen vom 7.12.1989
30 Vgl. die Berichte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und "Süddeutschen Zeitung" vom 31.1.1990
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stems, die einen entscheidenden Machtzuwachs für ihn bedeuten sollten, durchsetzen können. Dabei ist seine Osteuropa- und Deutschlandpolitik teilweise scharf kritisiert worden?2 Bei den Gesprächen in Moskau, bei denen ausdrücklich auf die "Gemeinsame Erklärung" vom Juni 1989 Bezug genommen wurde, konnte eine Einigung über die Rahmenbedingungen für die Verwirklichung der deutschen Einheit erreicht werden. In der Mitteilung über das Treffen hieß es,33 "daß es zur Zeit zwischen der UdSSR, der BRD und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten darüber gebe, daß die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen Staatsformen, zu welchen Zeitpunkten, mit welchem Tempo und zu welchen Bedingungen sie diese Einheit realisieren werden." Es wurde zugleich betont, daß die deutsche Frage "nur im Kontext der gesamteuropäischen Entwicklung und unter Berücksichtigung der Sicherheit und des Interesses sowohl der Nachbarn als auch anderer Staaten gelöst werden kann." Die "deutsche Annäherung" dürfte den bisher erzielten "positiven Ergebnissen und den Ost-West-Beziehungen insgesamt keinen Schaden zufügen und das europäische Gleichgewicht nicht zerstören." Gorbatschow sprach von "dem neuen Charakter der Beziehungen zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Volk" und erklärte: "Ich habe schon lange gesagt, daß die Geschichte über die Lösung der deutschen Frage verfügt. Und sie hat in einem unerwarteten Tempo gearbeitet. Wir müssen sehr ausgewogen handeln, unter Berücksichtigung der wirklichen historischen Kriterien." Der Zusammenhang zwischen der Lösung der deutschen Frage und den Sicherheitsaspekten, insbesondere den Erfolgen der Ahrüstungsverhandlungen, wurde in der Mitteilung besonders unterstrichen. Von wesentlicher Bedeutung war, daß auf der KSZE-Konferenz in Ottawa am 14. Februar 1990 gemeinsame Gespräche der Bundesrepublik und der DDR mit den Vier Mächten (2 + 4) über "die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten" vereinbart wurden. 34 31 Vgl. H. Teltschik (Anm. 26, S. 137 ff. Horst Teltschik hatte als außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Dr. Kohl wesentlichen Anteil am erfolgreichen Verlauf der deutsch-sowjetischen Verhandlungen 32 Vgl. Chr. Schmidt-Häuer: Die Reformgegner machen Front gegen Gorbatschows Deutschlandpolitik, in: "Die Zeit" vom 16.2.1990; L. Mletschin: Streit um Osteuropa, in: "Neue Zeit", 1990, Nr. 8, S. 89 33 TASS (russ.) vom 10.2.1990; deutsch: BPA-Ostinformationen vom 12.2.1990 34 Vgl. das Kommunique vom 13.2.1990: "Bulletin des Informationsamtes der Bundesregierung" vom 20.2.1990, Nr. 27, S. 215 und den Bericht in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 15.2.1990
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Gorbatschow wies nach dieser Einigung in einem "Prawda"-Interview vom 21. Februar 1990 auf zwei Aspekte der "Wiedervereinigung Deutschlands" hin. Er hob erstens "das Recht der Deutschen auf Einheit" hervor und behauptete unter einseitiger Darstellung der sowjetischen Aktivitäten, daß die Sowjetunion dieses Recht niemals geleugnet habe. Als ein Zeugnis, daß die Sowjetunion die Überwindung der Teilung Deutschlands in der Zukunft nicht ausgeschlossen habe, verwies er darauf, daß die Sowjetregierung in Verbindung mit dem Moskauer Vertrag im August 1970 den "Brief zur deutschen Einheit" angenommen hatte. Er erklärte zweitens, "daß die Vereinigung Deutschlands nicht allein die Deutschen betrifft." Er wies darauf hin, daß "der Status Deutschlands in der europäischen Struktur" nur in einem Friedensvertrag in völkerrechtlicher Hinsicht abschließend festgelegt werden kann, wobei er die "Unverrückbarkeil der aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Grenzen" als das "Allerwesentlichste" bezeichnete. Die Wiedervereinigung Deutschlands dürfe das bestehende militärische Gleichgewicht zwischen den beiden Bündnissen nicht verletzen. Sie müßte im Rahmen des gesamteuropäischen Prozesses und seiner "Hauptausrichtung - der Schaffung einer prinzipiell neuen Struktur der europäischen Sicherheit, die die Blockstruktur ablösen soll - organisch verbunden und abgestimmt sein." In Verbindung mit dem im Februar 1990 in Ottawa beschlossenen Verfahren betonte Gorbatschow die Rechte und Verantwortlichkeilen der Vier Mächte in Bezug auf Deutschland. Die Aufgabe des "Zwei-plus-vier"-Mechanismus würde sein, "alle äußeren Aspekte der deutschen Wiedervereinigung umfassend und stufenweise zu erörtern, und die Frage der Einbeziehung in den gesamteuropäischen Prozeß und in die Diskussion der Grundlagen für einen künftigen Friedensvertrag mit Deutschland vorzubereiten." Aus den Ausführungen Gorbatschows ging hervor, daß er die Schaffung eines vereinigten Wirtschaftsgebiets und die künftige Staatsform als eine innere Angelegenheit des deutschen Volkes, dessen Einheit bejaht wurde, ansah. Die Sowjetführung war lediglich daran interessiert, daß der innere Wiedervereinigungsprozeß "etappenweise", d. h. schrittweise erfolgte. Die äußeren Bedingungen der Wiedervereinigung setzten nach sowjetischer Ansicht neben einer Beteiligung der Vier Mächte, die in Berlin weiterhin eine Kontrollfunktion ausübten, das Einvernehmen nicht nur der unmittelbaren Nachbarn, sondern aller an der KSZE beteiligten Staaten an der Vollendung der Einheit Deutschlands voraus. Die Sowjetführung dachte zunächst an die Ausarbeitung von "Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland", ähnlich wie sie der bekannten Stalin-Note beigefügt waren. Diese Grundlagen sollten offenbar von der in Aussicht genommenen KSZE-Gipfelkonferenz bestätigt werden. Da von so-
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wjetischer Seite auf Potsdam ausdrücklich Bezug genommen wurde, schloß dies die Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung an der endgültigen Fassung des Friedensvertrages, soweit es dazu kommen sollte, ein. Im Unterschied zu früher bestand die Sowjetführung nicht mehr ausdrücklich auf der Neutralität eines künftigen deutschen Gesamtstaates. Sie forderte dagegen eine hinreichende Gewährleistung des militär-strategischen Gleichgewichts und der Sicherheit der Sowjetunion. Darauf ist von Außenminister Schewardnadse und V alentin Falin, dem Leiter der Internationalen Abteilung der KPdSU und früheren Botschafter in Bonn, besonders hingewiesen worden. 35 Von sowjetischer Seite ist dabei die Einbeziehung des wiedervereinigten Deutschland in die NATO, auch wenn das Territorium der DDR nicht in die westliche Militärorganisation einbezogen werden sollte, anfangs entschieden abgelehnt worden. Am 5. Mai 1990 erklärte sich Außenminister Schewardnadse auf dem "Zwei-plus-vier"-Treffen in Bonn mit der raschen Verwirklichung der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands einverstanden. Bis die äußeren Aspekte der Wiedervereinigung, zu denen vor allem die Bündniszugehörigkeit Deutschlands gehörte, geregelt würden, sollten jedoch die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes fortbestehen. 36
V. Die sowjetische Zustimmung zur westlichen Bindung des vereinigten Deutschland in einem gesamteuropäischen Kontext37 Die Zustimmung der Einbeziehung des östlichen Teils des vereinigten Deutschland in das westliche Bündnissystem war für Gorbatschow und Schewardnadse schwierig, da ihre Osteuropa- und Deutschlandpolitik ver-
35 Vgl. V. Falin: Sicherheitsbalance - Kern der deutschen Frage, in: "Neues Deutschland" vom 9.2.1990 und sein Intetview im "Spiegel" vom 19.2.1990, Nr. 8, S. 168 ff. 36 Pravda vom 6.5.1990
37 Vgl. G. Wettig: Deutsche Vereinigung und europäische Sicherheit, in: "Außenpolitik", 42. Jg., 1991, S. 13 ff.; H. Timmermann: Offnung nach Westen. Schwerpunkte sowjetischer Europa-Politik, in: "Osteuropa", 41. Jg., 1991, S. 741 ff., Oldenburg (Anm. 23), S. 764 ff. - Aus sowjetischer Sicht: A. Kokoskin: Kakaja Evropa nam nuzna, in: "Mezdunarodnaja zizn'," 1990, Nr. 11, S. 13 ff.; I. Maksimycev: Novaja Germanija v novoj Evrope, ebenda, S. 40 ff.; Derselbe: Edut nasi kazaki ...., in: MeZdunarodnaja zizn'," 1991, Nr. 5, S. 58 ff.; Ju. Derjabin: PariZskij otcet vremeni dlja Evropy, in: Mddunarodnaja zizn', 1991, Nr. 1, S. 16 ff.
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stärktemDruck ausgesetzt war. Dies ist auf dem XXVIII. Parteikongreß der KPdSU Anfang Juli 1990 besonders deutlich zum Ausdruck gekommen.38 Gorbatschow übertrug Schewardnadse, und daneben Jakowlew, die Aufgabe, die Grundsätze der "neuen Außenpolitik" zu erläutern und die veränderte Osteuropa- und Deutschlandpolitik gegenüber den orthodoxen Kritikern zu verteidigen. Schewardnadse erklärte, daß die Entwicklung in der Welt nicht mehr im Zeichen des Kampfes zweier gegensätzlicher Systeme erfolge. Sie sei nicht ausschließlich der Dynamik von Konflikt- und Klasseninteressen unterworfen. Er verurteilte den Dogmatismus und "ein ideologisches Schema, das den lebendigen Gedanken zerstört" und erklärte, "aktiv für die Idee der Priorität der allgemein-menschlichen Werte gegenüber Klassen-, Gruppen- und anderen Interessen" einzutreten und sich zu bemühen, "diese Idee praktisch zu verwirklichen". Er wies die Kritik an der neuen Außenpolitik und an ihn persönlich "wegen Zugeständnissen im Bereich der Sicherheit" entschieden zurück. Man könne sich bis zu den Zähnen bewaffnen und Angst vor einem Angriff haben, aber man könne auch zuversichtlich sein, daß man nicht angegriffen wird, da die Politik die Voraussetzungen dafür garantieren kann, daß das Land keine Gegner und Feinde hat. Zu den Wandlungen in Osteuropa sagte er, daß die Führung "größere Veränderungen" erwartet habe. Er betonte, daß die sowjetische Diplomatie nichts unternehmen dürfe, um "der Liquidierung von anderen Ländern aufgezwungenen und ihnen fremden administrativen Kommandosystemen und totalitären Regimen entgegenzuwirken". Zur Deutschlandfrage fügte er hinzu: "Ich bin davon überzeugt, mit einem vereinten Deutschland wird die Sowjetunion auf breiter Grundlage und zu gegenseitigem Vorteil in Politik und Wirtschaft zusammenarbeiten. Ich sage offen, es ist nicht in unserem Interesse, die Lösung der äußeren Aspekte der deutschen Einigung im Rahmen einer Gesamtlösung künstlich hinauszuziehen". Unter den Gegnern der neuen Außenpolitik befanden sich vor allem eine Reihe hoher Militärs. Generalmajor Iwan Mikulin, Leiter der Politischen Verwaltung der Südgruppe der sowjetischen Streitkräfte und Mitglied des Verteidigungsrates der UdSSR, kritisierte das "neue Denken" in der Außenpolitik, das zum "Verlust unserer Verbündeten in Osteuropa" und zu einem "übereilten Rückzug" der 38 Zum XXVIII. Parteitag Vgl. B. Meissner: Die KPdSU zwischen Macht und Ohnmacht, in: "Osteuropa", 41. Jg., 1991, S. 15 ff. Aus sowjetischer Sicht: V. Aleksandrow: XXVIII. S"ezdReminiscencii, in: Mezdunarodnaja zizn', 1990, Nr. 9, S. 11 ff.
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sowjetischen Truppen geführt habe. Er kritisierte die "sowjetischen Diplomaten, welche die Welt durch eine rosarote Brille betrachten" würden. Er beklagte, daß der Westen seine Sicherheit ausschließlich auf Kosten der Sowjetunion ausbauen würde. In einem Interview sprach er von "übereilten Schritten", warnte vor einer "vorschnellen Konversion" der Rüstungsindustrie und unterstrich die sowjetische Ablehnung einer Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO. Kritisch äußerte sich über die neue Außenpolitik auch Admiral Gennadij Chwatow, der Befehlshaber der Pazifik-Flotte. Die Sowjetunion sei nach dem Verlust ihrer Verbündeten in West und Ost im Hinblick auf ihre militärische Sicherheit auf den Stand von 1939 zurückgeworfen. Jakowlew, der von den konservativen Militärs besonders angefeindet wurde, fühlte sich veranlaßt, seine Übereinstimmung mit Gorbatschow und Schewardnadse in der Osteuropa-Politik nachdrücklich zu betonen. Er sagte: "Wenn die Völker sich von den kommunistischen Parteien abwenden, bedeutet dies, daß die Politik dieser Parteien von den Völkern nicht als ihre angenommen wird. Es geht dabei nicht nur um Aktionen antisozialistischer Kräfte." Ligatschow als der politische Hauptkritiker Gorbatschows wiederholte seine Kritik an der Osteuropa- und Deutschland-Politik. Im Hinblick auf die Wiedervereinigung erklärte er, daß "es keine Vereinigung, sondern im besten Fall ein Anschluß ist, und daß die BRD die DDR absorbiert". Er sprach sich für eine eingehende Diskussion der deutschen Frage aus. Schewardnadse erklärte daraufhin, daß alle Beschlüsse, die die Probleme Osteuropas betreffen, auf der Ebene der obersten politischen Führung der UdSSR getroffen worden seien. Im Hinblick auf die Vereinigung Deutschlands betonte er, daß die UdSSR einen Kurs gewählt habe, um im Rahmen des "Zwei-plus-vier"Mechanismus eine Abmachung zu erzielen, die der Gewährleistung der Sicherheit der UdSSR und der Stabilität in Buropa insgesamt entsprechen würde. Entschieden wies er Ansichten zurück, daß "ein Handel zur deutschen Frage stattfindet, daß jemand die DDR Bonn geschenkt habe und so das Schicksal der DDR bestimmt hat." In der Resolution des Parteitages zum Politischen Bericht wurde die "neue Außenpolitik" mit der Begründung, daß durch sie "günstige äußere Bedingungen für die Lösung innenpolitischer Aufgaben" geschaffen worden seien, nachdrücklich gebilligt. Gleichzeitig wurde die Aufgabe, eine "zuverlässige Sicherheit" des Landes zu gewährleisten, betont. Eine wesentliche Entlastung bei der Auseinandersetzung mit den Kritikern der veränderten Osteuropa- und Deutschlandpolitik bedeutete die Verlautbarung der Staats- und Regie~;ungschefs der NATO, die am 6. Juli 1990
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auf der Londoner Gipfelkonferenz erfolgte?9 In ihr wurde den Warschauer Paktstaaten eine gemeinsame Erklärung vorgeschlagen, daß man sich nicht mehr als Gegner betrachte und zum gegenseitigen Gewaltverzicht bekenne. Gleichzeitig wurde vorgeschlagen, alle anderen Mitgliedstaaten der KSZE aufzufordern, sich dieser Verpflichtung zum Nichtangriff anzuschließen. Im Grunde bedeutete dies die Bereitschaft zu einer gesamteuropäischen Gewaltverzichtsvereinbarung, wie sie früher von der Sowjetunion, allerdings auf der Grundlage des bestehenden Status quo, vorgeschlagen worden war. Schewardnadse begrüßte die Londoner Erklärung der NATO und die in ihr enthaltene Bereitschaft zu einer Institutionalisierung des gesamteuropäischen Prozesses und der Schaffung gemeinsamer Sicherheitsstrukturen und bezeichnete sie als eine "ernsthafte und politische Aktion". Sie biete die Möglichkeit, "sich weiter bei der Festigung der Stabilität und des Vertrauens in Europa und in der Welt zu bewegen". In der Londoner Erklärung wurde festgestellt, daß mit der Vereinigung Deutschlands auch die Teilung Europas überwunden wird. Es war ferner vom geeinten Deutschland "im Atlantischen Bündnis freiheitlicher Demokratien" und nicht nur "als Teil der wachsenden politischen und wirtschaftlichen Integration der Europäischen Gemeinschaft" die Rede. Die Frage nach der Einbeziehung des östlichen Teiles Deutschlands in das atlantische Bündnis war aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden. Gorbatschow ist nach der Ausschaltung von Ligatschow und anderen Kritikern gestärkt aus dem Parteitag hervorgegangen. Er war jetzt in der Lage, zu einer Lösung dieser für die Sicherheit ganz Deutschlands entscheidenden Frage beizutragen. Er bedurfte dazu noch einer sichtbaren Gegenleistung auf der deutschen Seite, die über wirtschaftliche und finanzielle Zusagen hinaus ging. Dieser Situation trug der Vorschlag eines "Großen Vertrages" beim Arbeitsbesuch von Bundeskanzler Kohl in Begleitung von Außenminister Genscher in der Sowjetunion Rechnung.40 Mit dem Vertrag wurden der Sowjetunion bei der Ausdehnung des atlantischen Bündnisses auf ganz Deutschland gute und vorteilhafte gegenseitige Beziehungen auf vielen Gebieten und ein Ausgleich für das Aussscheiden der DDR aus dem sowjetischen Bündnis angeboten. Bei den Gesprächen in Moskau und dem privaten Aufenthalt im nordkaukasischen Heimatgau Gorbatschows wurden zwischen dem deutschen Bun39 Wortlaut: "Europa-Archiv", 45. Jg., 1990, S. 456 ff. 40 Die Idee eines "Großen Vertrages• geht auf den Verfasser zurück, der diesen Vorschlag in Verbindung mit dem Gedanken eines gesamteuropäischen Gewaltverzichtsvertrages im
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deskanzler und dem sowjetischen Präsidenten eine Einigung in dieser für die Sicherheit des wiedervereinigten Deutschland entscheidenden Frage erzielt.41 Sie ist später in den Kommentaren als "das Wunder im Kaukasus" bezeichnet worden.42 Vom Augenblick der Vereinigung an sollte Deutschland in vollem Umfange souverän sein. Ein besonderer Friedensvertrag wurde nach der Bestätigung der bestehenden Grenzen nicht mehr für erforderlich gehalten. Ein Abzug der im östlichen Teil Deutschlands stationierten sowjetischen Truppen wurde aufgrund der vereinbarten Begrenzung der deutschen Streitkräfte auf 370.000 Mann im Verlauf von vier Jahren zugesagt. Auf einer internationalen Pressekonferenz in Shelesnowodsk würdigte Gorbatschow die Ergebnisse der Verhandlungen mit Bundeskanzler Kohl. Er sagte:43 "Wir handelten im Geiste des bekannten deutschen Ausdrucks 'Realpolitik'. Bei der Realpolitik muß man die kompliziertesten Wandlungen berücksichtigen, die sich in unserer heutigen Wirklichkeit, im europäischen Raum und in der Weltpolitik vollziehen. Die bundesdeutsche Seite hat vermutlich nicht in reiner Form das erhalten, womit sie gerechnet hatte. Wir haben ebenfalls nicht das in reiner Form erhalten, worauf wir seinerzeit hofften. Wir waren allerdings Realisten und haben die Richtung der Wandlungen eingeschätzt und verglichen, indem wir stets den europäischen Kontext berücksichtigten und versuchten, alle diese Prozesse organisch zu verbinden. Wir gehen davon aus, daß wir mittels eines völkerrechtlichen Schlußdokuments zur Aufhebung der Rechte und Verantwortung der vier Mächte gelangen werden, die aus den entsprechenden völkerrechtlichen Entscheidungen über die Kriegsergebnisse resultierten. Das bedeutet, daß ein vereinigtes Deutschland vollständige Souveränität erlangt. Es ist berechtigt, über diese Souveränität zu verfügen und seine Entscheidung zu treffen. Das betrifft auch die gesellschaftliche Entwicklung und die Tatsache, an welchen Bündnissen es teilnehmen, welche Beziehungen es unterhalten, zu wem es Kontakte aufnehmen oder erneuern will. Dies sind alles Merkmale der vollständigen Souveränität, die ein Staat erhält."
Rahmen der Expertengespräche im Bundeskanzleramt gemacht hat. Vgl. Teltschik (Anm. 26),
s. 192 f.
41 Vgl. Teltschik, Ebenda, S. 316 ff.
42 Vgl. H. Klein: Es begann im Kaukasus. Der entscheidende Schritt in die Einheit Deutschlands. Berlin 1991
43 "Pravda" vom 18.7.1990, deutsche Übersetzung in: Beilage zu "Sowjetunion heute", August 1990, Nr. 8.
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Die grundsätzliche Einigung über die deutsch-sowjetischen Vertragsbeziehungen auf der bilateralen Ebene machte die Unterzeichnung des "Zweiplus-vier"-Vertrages am 19. September 1990 möglich. Er wurde als "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" bezeichnet.44 Am 13. September 1990 wurde der "Große Vertrag" in Gestalt des Vertrages "Über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland paraphiert. Am 3. Oktober 1990 erfolgte der Beitritt der DDR zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland. Bereits am 1. Oktober 1990 entschlossen sich die Vier Mächte, die volle Souveränität Deutschlands unter Aufhebung ihrer vorbehaltenen Rechte und Verantwortlichkeiten noch vor lokrafttreten des "Zwei-plus-vier"-Vertrages anzuerkennen. Bei der Behandlung der deutsch-sowjetischen Verträge im Obersten Sowjet der UdSSR war Schewardnadse erneut einer scharfen Kritik ausgesetzt. Sie entzündete sich an der Außerkraftsetzung des Beistandsfaktes der Sowjetunion mit der DDR, die erst am 3. Oktober 1990 erfolgte, 5 d. h. an dem Tage, an dem mit der vollzogenen Wiedervereinigung die DDR aufgehört hatte, als Völkerrechtssubjekt zu existieren. Schewardnadse wirft dem Parlamentsvorsitzendeo Lukjanow vor, die Vorlage des frühzeitig übermittelten Entwurfs bewußt verzögert zu haben.46 Als letzter Punkt der Tagesordnung mußte dieses Thema aufgrund der inzwischen stattgefundenen Machtverschiebungen Emotionen hervorrufen. Schewardnadse schreibt: "Ein Sturm brach los. Alles verlief nach einem Szenarium, verfaßt von wer weiß wem, aber die straffe, stählerne, die politarmeehafte Regie war doch allzu durchsichtig. Hinter den Rücken der Männer mit den breiten Schulterstücken waren andere Gestalten zu erraten." Am 9. November 1990 unterzeichnete Gorbatschow bei seinem zweiten Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland, zusammen mit Bundeskanzler Kohl, den Vertrag "Über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland.47 Gleichzeitig wurde der Vertrag "Über umfassende Zusammenarbeit auf dem 44 Deutscher Text in: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14.9.1990, Nr. 109, S. 1153 ff.; russischer Text: Vedomosti SSSR 1991, Nr. 16, Pos. 452. Vgl. D. Blumenwitz: Der Vertrag über die abschließende Regelung in bezugauf Deutschland, in: "Neue Juristische Wochenschrift", 43. Jg., 1990, S. 3041 ff.; G. Gomig: Die vertragliche Regelung der mit der deutschen Vereinigung verbundenen Probleme, in: "Außenpolitik", 42. Jg., 1991, s. 3 ff. 45 "Pravda" vom 4.10.1990. 46 Vgl. E. Schewardnadse: Eine Verschwörung der Verlierer, in: Revolution in Moskau, Reinbeck bei Harnburg 1991, S. 24. 47 Deutscher Text: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" vom 15.11.1990, Nr. 133, S. 1379 ff.; russischer Text: Vedomosti SSSR 1991, Nr. 48, Pos. 1355
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Gebiet der Wirtschaft, der Industrie und Technik" zwischen den beiden Staaten abgeschlossen.48 Der "Große Vertrag" weist eine Präambel und 22 Artikel auf. In der Präambel wird der Wunsch "mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen" und durch Verständigung und Versöhnung unter "Überwindung der Trennung Europas" ein "neues, durch gemeinsame Werte vereintes Europa" auf der Grundlage einer "dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung" aufzubauen, betont. Unter Bekräftigung des Bekenntnisses zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen und den Bestimmungen der Schlußakte der KSZE und der ihr nachfolgenden Dokumente wird auf die Bedeutung der Menschenrechte "als Teil des gesamteuropäischen Erbes" nachdrücklich hingewiesen. Unter Bezugnahme auf "die guten Traditionen ihrer jahrhundertelangen Geschichte" wird der Wunsch der beiden Vertragspartner, die "Zusammenarbeit auf allen Gebieten weiter zu entwickeln und zu vertiefen", besonders unterstrichen. Im Artikel 1 werden unter Einbeziehung der Grundgedanken des "neuen Denkens" die Prinzipien aufgezählt, auf denen die beiderseitige Zusammenarbeit beruhen soll. Dabei wird neben den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker der Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts besonders hervorgehoben. Der Artikel 2 enthält die Verpflichtung, die "territoriale Integrität aller Staaten in Europa in den heutigen Grenzen und ihre Unverletzlichkeit uneingeschränkt zu achten". Sie wird in Artikel 3 durch die Verpflichtung zum Nichtangriff und allgemeinen Gewaltverzicht sowie zur friedlichen Streitschlichtung ergänzt. In den Artikeln 4 bis 7 wird auf die Rüstungsbegrenzung und Abrüstung mit dem Ziel, "ein stabiles Gleichgewicht auf niedrigem Niveau" herzustellen, den Ausbau der KSZE durch Schaffung ständiger Einrichtungen und Organe sowie auf die einfachen und qualifizierten Konsultationen eingegangen. Die ArtikelS bis 14 sehen eine verstärkte Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, industriellem und wissenschaftlich-technischem Gebiet sowie auf dem Gebiet des Umweltschutzes und des Verkehrs vor. Die Artikel14 bis 17 betreffen die Ausweitung der menschlichen und gesellschaftlichen Kontakte, den Ausbau der kulturellen Beziehungen unter Einschluß des Bildungswesens, der humanitären Zusammenarbeit, des Schutzes von Kulturgütern und der Gewährleistung der Gräberfürsorge.
48 Deutscher Text: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes tler Bundesregierung" vom 15.11.1990, Nr. 133, S. 1382 ff.; russischer Text: Vedomosti SSSR 1991, Nr. 43, Pos. 1182
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Im Artikel 15 wird sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität mit der Wahrung ihrer Sprache, Kultur und Tradition die Entfaltung ihrer nationalen, sprachlichen und kulturellen Identität zugesichert. In den Artikeln 19 und 20 wird auf die Intensivierung der Rechtshilfe und der Zusammenarbeit in internationalen Organisationen eingegangen. Im Artikel21 wird betont, daß der Vertrag die Rechte und Verpflichtungen der beiden Seiten aus Übereinkünften mit anderen Staaten nicht berührt und gegen niemanden gerichtet sei. Beide Seiten würden ihre Zusammenarbeit "als einen Bestandteil und ein dynamisches Element der Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses" betrachten. Der abschließende Artikel 22 sieht eine Vertragsdauervon zwanzig Jahren vor, die sich stillschweigend "um jeweils weitere fünf Jahre" verlängert, soweit keine schriftliche Kündigung unter Einhaltung einer Frist von einem Jahr erfolgt. In seiner Ansprache anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages am 9. November 1990 in Bonn erklärte Gorbatschow:49 "Ich bin davon überzeugt: Wir haben die einzig richtige Wahl getroffen. Wir haben eine langfristig angelegte, reiflich überlegte Entscheidung getroffen, die den lebenswichtigen Interessen und den ureigensten Traditionen entspricht. Ebenso bin ich sehr sicher, daß der 'große' - wie manche ihn bereits getauft haben- sowjetisch-deutsche Vertrag keine Episode, sondern eine Konstante der neuen Friedensordnung sein wird, die durch gemeinsame Anstrengungen aller Teilnehmer des KSZE-Prozesses gestaltet wird." Bereits vor den beiden umfassenden Verträgen waren am 12. Oktober 1990 der Vertrag "Über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland"50 und das Abkommen "Über einige überleitende Maßnahmen"51 von Außenminister Genscher und dem sowjetischen Botschafter in Bonn, W. P. Terechow, unterzeichnet worden. Im "Truppenvertrag" verpflichtet sich die sowjetische Seite, aufgrund des bis Ende 1994 befristeten Aufenthalts der sowjetischen Soldaten im östlichen Teil des vereinigten Deutschland "die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland" zu achten und sich "jeder Einmischung in deutsche innere Angelegenheiten" zu enthalten. Eine Verstärkung der Truppen in ihrem Aufenthaltsgebiet wurde ausgeschlossen. 49 Beilage zu "Sowjetunion heute", Dezember 1990, Nr. 12, S.II. 50 Deutscher Text: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" vom 17.10.1990, Nr. 123, S. 1281 ff.; russischer Text: Vedomosti SSSR 1991, Nr. 23, Pos. 6TI. 51 Deutscher Text: Ebenda, S. 1284 ff.; russischer Text: Vedomosti SSSR 1991, Nr. 24, Pos. 700.
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Der "Überleitungsvertrag" regelte die Frage der Kosten während des befristeten Aufenthalts der sowjetischen Truppen, bei ihrem Rücktransport und ihrer sozialen Eingliederung sowie einige weitere finanzielle Fragen, die praktisch eine bedeutende deutsche Wirtschaftshilfe52 an die Sowjetunion bedeuteten. Die Lösung der Deutschlandfrage ermöglichte es, Gorbatschow in seiner Europapolitik einen großen Schritt weiter zu gehen. Am 19. November 1990 kam es zum Abschluß des Vertrages "Über die konventionellen Streitkräfte in Europa" zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Paktes53. An den KSZE-Vertrag schloß sich die Unterzeichnung der als "Charta von Paris für das neue Europa" bezeichneten Erklärung des Treffens der Staats- und Regierungschefs der KSZE an.54 Gorbatschow sprach aus diesem Anlaß auf der Plenarsitzung der KSZEGipfelkonferenz von einer historischen Wende in der So~etunion, die zu dem Umbruch in der Außenpolitik geführt habe. Er sagte:55 "In diesem Kontext war die Vereinigung Deutschlands das größte Ereignis von europäischer und kultureller Bedeutung. Damit wurde der Schlußstrich unter die vierzigjährige Teilung einer großen Nation und Europas in zwei Lager gezogen. Die Versöhnung der Völker der Sowjetunion und des vereinigten Deutschland, die im Vertrag fixiert wurde, ist ein langfristiger Faktor der Zusammenarbeit und des Vertrauens im europäischen Aufbau." Einer besonders heftigen Kritik ist Schewardnadse bei der Behandlung des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in Europa im Obersten Sowjet der UdSSR am 15. Oktober 1990 ausgesetzt worden.56 Es geschah am gleichen Tage, an dem die Verleihung des Friedensnobelpreises an Gorbatschow bekannt gegeben wurde. Schewardnadse bemerkt: "Just in jenen Stunden, da er die Gratulationen entgegennahm, stand sein Außenminister auf dem Podium des Obersten Sowjets und wehrte Attacken der Gruppe
52 Insgesamt hat die Bundesrepublik Deutschland finanzielle Verpflichtungen in Höhe von 15 Mrd. DM für die Deckung der Aufenthalts- und Abzugskosten übernommen. Außerdem ist im "Überleitungsvertrag" das Transferrubelsaldo zu Gunsten der Sowjetunion in H öhe von 6 Mrd. DM geregelt und bei den Schulden eine langfristige Lösung vereinbart worden. 53 Deutscher Text: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" vom 28.11.1990, Nr. 138, S. 1425 ff.; Vgl. L. Rühl: Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa und die neue Konstellation der europäischen Sicherheit, in: "Europa-Archiv", 46. Jg., 1991, S. 81 ff.; J. Holik: Die politische Bedeutung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte, in: Europa-Archiv, Ebenda, S. 111 ff. 54 Deutscher Text: "Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" vom 24.11.1990, Nr. 137, S. 1409 ff.
55 Beilage zu "Sowjetunion heute", Dezember 1990, S. VII.
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Vgl. Schewardnadse (Anm. 46), S. 25.
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'Sojus' ab, die ihm eben jene Politik zur Last legte, mit denen das NobelKomitee seine Preisverleihung begründet hatte." Die fehlende Unterstützung durch Gorbatschow und der zunehmende "Rechtsruck" veranlaßte Schewardnadse am 20. Dezember 1990 mit der Warnung vor einer bevorstehenden Diktatur zurückzutreten.57 Die Ratifizierung der deutsch-sowjetischen Verträge durch den Obersten Sowjet der UdSSR konnte trotzder weiter fortbestehenden Kritik zum Abschluß gebracht werden. Es war J. Kwizinskij, der Stellvertretende Außenminister der UdSSR, der vorher als Gesandter an der sowjetischen Botschaft in Bonn tätig war, der den Bericht über die Verträge vor dem Unionsparlament erstattete.58 Er hob dabei die Bedeutung der Nichtangriffsverpflichtung in Artikel 3 des Vertrages "Über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" besonders hervor und bezeichnete ihn als einen Modellfall für die Analyse großer Vertragswerke in West- und Osteuropa. Er wies außerdem auf den Briefwechsel zwischen den Außenministerien "bei der Unterzeichnung des großen Vertrages" hin, in denen die zwischen der UdSSR und der DDR abgeschlossenen Verträge als rechtlich gültig anerkannt wurden. Der Vertrag "Über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" und der umfassende Vertrag über die wirtschaftliche Kooperation zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland wurden am 4. März 1991, zusammen mit dem "Zwei-plus-vier-Vertrag", vom Obersten Sowjet der UdSSR ratifiziert.59 Vom Unionsparlament wurde die Ratiftzierung der deutsch-sowjetischen Verträge als ein "Akt von historischer Bedeutung, der eine neue Epoche eines stabilen Friedens und einer großangelegten Zusammenarbeit zwischen dem sowjetischen und deutschen Volk eröffnet" bewertet.60 Am 2. April1991 wurde ergänzend der Vertrag über die Bedingungen des zeitweiligen Aufenthalts und den planmäßigen Abzug der sowjetischen Truppen vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland" und das Abkommen "Über vorübergehende Maßnahmen in der Übergangsperiode", in der die finanziellen und sonstigen Leistungen der deutschen Seite festgelegt wurden, ratifiziert.61 Die Ratiftkation der deutsch-sowjetischen Verträge durch den Deutschen Bundestag erfolgte am 25. April 1991. 57 Vgl. B. Meissner: Gorbatschow am Scheideweg (II), in: "Osteuropa•, 41. Jg., 1991, S. 676. 58 "Radio Moskau• vom 4.3.1991. 59 Vedomosti SSSR 1991, Nr. 11, Pos. 284-286.
60 TASS vom 4.3.1991. 61 Vedomosti SSSR 1991, Nr. 15, Pos. 423, 424.
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Die Bedeutung des in Kraft getretenen deutsch-sowjetischen Vertragswerkes ist darin zu sehen, daß es das Einverständnis der Sowjetunion zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und damit die Überwindung der Teilung Europas ermöglicht hat. Dadurch ist nicht nur ein neues Kapitel zwischen den beiden Staaten, sondern auch zwischen dem deutschen Volk und den Völkern der Sowjetunion aufgeschlagen worden. Auf diese Weise ist ein festes Fundament geschaffen worden, das die Fortführung und weitere Verbesserung dieser Beziehungen unabhängig von der beginnenden Umformung der Sowjetunion ermöglichte.62
62 Vgl. B. Meissner: Die Umformung der Sowjetunion, in: "Außenpolitik", 43. Jg., 1992,
s. 54 ff.
DIE AUSSENPOLITISCHE LAGE DER DDR UND DIE DEUTSCH-DEUTSCHEN BEZIEHUNGEN Von Jens Hacker I. Vorbemerkung
Die dramatischen Ereignisse und Veränderungen in der DDR, die das Ausmaß einer friedlichen Revolution angenommen haben, trafen die Öffentlichkeit in West und Ost gleichermaßen unvorbereitet. Das gilt weitgehend auch für die unter unterschiedlichen Bedingungen vollzogenen Umwälzungen in den anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes. Daß das Jahr 1989 "das Wunderjahr der europäischen Nachkriegszeit" 1 wurde, ist nur von wenigen westlichen Analytikern vorausgesehen worden. Immerhin hat Zbigniew Brzezinski im Frühjahr 1988 "die historisch bedeutsame Frage" gestellt, "ob das Jahr 1988 wohl den Beginn eines neuen Völkerfrühlings in Europa gebracht hat, wie dies einst 1848 geschah. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man feststellt, daß es heute in Osteuropa fünf Länder gibt, die allesamt reif sind für einen revolutionären Ausbruch. Es ist nicht übertrieben, wenn man meint, daß das in mehr als einem Land zur selben Zeit eintreten könnte. Man kann das nicht mit Sicherheit voraussagen - schließlich könnte das überhaupt nicht eintreten -, aber die objektiven und subjektiven Voraussetzungen sind zweifellos vorhanden." 2 Angesichts des bis Anfang 1990 nicht voraussehbaren Umdenkprozesses Michail Gorbatschows in der "deutschen Frage" war es nicht erstaunlich, daß Brzezinskis Prognose über die Zukunft Deutschlands nicht eingetroffen ist. Da die UdSSR bereits den ideologischen und ökonomischen Wettbewerb verloren habe, sei sie möglicherweise versucht, die deutsche Karte auszuspielen. Sollte, folgerte Brzezinski weiter, der Kreml dies tun, "um in Deutschland Neutralismus auszulösen und auszunutzen, und damit umfang1 So George Schöpflin: Das Ende des Kommunismus, in: Europa-Archiv, Jg. 45/1990, S. 5160 ~1). Zbigniew Bn:ezinski: Östlich von Deutschland, westlich von Rußland, in: Europäische Rundschau, Jg. 16/1988, H. 4, S. 3-12 (8); zit. auch bei Arnulf Baring: Die Sowjetunion und der Wandel in Osteuropa. Aus politischen Zeitschriften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. April 1989.
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reiche wirtschaftliche Hilfe als auch politischen Nutzen im Westen zu gewinnen, dann würde sie dies in einer Konstellation tun, in der ihre Macht über Osteuropa automatisch verringert wäre. Angesichts der Schwäche der kommunistischen Regime in Osteuropa könnte die wirtschaftliche und politische Schwäche in der Sowjetunion selber, und das Entstehen eines quasi neutralen Deutschlands auf der Grundlage eines großen Schachzugs gleichzeitig die Voraussetzungen für eine noch schnellere Auflösung des Sowjetimperiums schaffen, und gleichzeitig in der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn den Wunsch nach einem ebensolchen Neutralitätsstatus auslösen. Ohne direkte Kontrolle über Ostdeutschland würde die Herrschaft über die in Gärung befindliche Region noch schwieriger sein. Das bedeutet eine erhebliche Beschränkung der sowjetischen Fähigkeit, die deutsche Frage wesentlich zu nutzen."3 Spätestens mit dem Moskauer Verzicht auf die berüchtigte "BreshnewDoktrin", der klaren Distanzierung von dem militärischen Übergriff auf die Tschechoslowakei im August 1968 und dem Hinweis, daß das Prinzip der Selbstbestimmung auch im Rahmen der engeren "sozialistischen Gemeinschaft'' gilt, waren den Revolutions- und Evolutions-Prozessen und damit der weiteren Erosion im Warschauer-Pakt-Bereich keine Grenzen gesetzt. Doch bleibt festzuhalten, daß dieser Kurs "ursprünglich keineswegs zum außenpolitischen und ideologischen Rüstzeug des Generalsekretärs gehört hatte. Zeugten Gorbatschows Äußerungen lange vom Willen, den von seinen Vorgängern geerbten osteuropäischen Vorhof möglichst intakt zu halten, so scheint er nunangesichtsder gewaltigen internen Schwierigkeiten im eigenen Land eingesehen zu haben, daß er dem Selbständigkeitsstreben vor den sowjetischen Westgrenzen nicht wehren und bestenfalls ein neues, gelockertes sicherheitspolitisches Arrangement an die Stelle bisher geforderter Vasallentreue setzen kann.'A Gorbatschows "Umdenken" in der "Block"-Politik begann sich zwar im Verlauf des Jahres 1987 abzuzeichnen, erhielt aber erst später klarere Konturen und veranlaßte die Führungen einiger "Bruderländer", über "eigene Wege" nachzudenken und innere Reformen einzuleiten oder zu forcieren. In jenen Ländern - wie der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien -, deren Führungen sich zu dieser Einsicht unfähig erwiesen, haben die Völker entscheidend zu den personellen Wechseln an der Staatsspitze beigetragen. Es ist daher verständlich, daß westliche Analytiker bis in das Jahr 3 z. Brzezinski, ebenda, S. 10. 4 So der Kommentar "Eingeständnis in Moskau", in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 284 vom 7. Dezember 1989. Vgl. zu M. Gorbatschows Deutschland-Politik bis Ende 1987 Jens Hacker: Die strategischen Ziele und operativen Instrumente der sowjetischen Deutschland-Politik, in: Ludwig Mailinger (Hrsg.): Die deutsche Frage im Spannungsfeld von Sicherheits- und Außenpolitik in Europa. Hanns-Seidel-Stiftung, München 1988, S. 73-100.
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1989 vorsichtig argumentiert und immer wieder die Frage nach den Grenzen der innen- und außen~olitischen Spielräume der Allianzpartner Moskaus in Europa gestellt haben. Aufgund der umfangreichen und vielfältigen Problematik meines Themas können im folgenden nicht alle Aspekte der Außenpolitik der DDR und der deutsch-deutschen Beziehungen bis zum Frühjahr 1991 behandelt werden. Die friedliche Revolution in der DDR und die Möglichkeit, über die innere Situation und das Verhalten der Bevölkerung im "ersten Arbeiter- und Bauernstaatauf deutschem Boden" offen zu schreiben, haben bereits zu wesentlich neuen Erkenntnissen geführt. In den siebzigerund achtziger Jahren hat ein einflußreicher Teil der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung die Ansicht vertreten, die Ansätze zu einer größeren Offenheit nach außen "erweckten teilweise den Eindruck, daß sich unter Honecker der Übergang von einer totalitären zu einer freieren autoritären Form der EiDparteiherrschaft vollzogen habe".6 Boris Meissner betont zutreffend, dieser Eindruck habe getrogen: "Die totale Kontrolle von oben, die ein entscheidendes Strukturelement eines autokratisch-totalitären Herrschaftssystems bildet, wurde unter Honecker nicht abgebaut, sondern verstärkt. Die flächendeckende Ausdehnung der Kontrolle durch den Staatssicherheitsdienst erreichte sogar in den letzten Jahren der Existenz der DDR eine bisher unbekannte Perfektion."7 Der folgende Überblick über die außen- und deutschlandpolitischen Aktivitäten Ost-Berlins in der Übergangsphase vom Herbst 1989 bis zum 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, erhebt gleichfalls nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Unberücksichtigt bleibt die in beiden Staaten Deutschlands vor dem 3. Oktober 1990 intensiv und kontrovers geführte Diskussion um die künftige gesamtdeutsche Verfassung. Da die Regierungen der beiden Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands in dem am 31. August 1990 unterzeichneten Einigungsvertrag empfehlen, "sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere ... mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staats5 Vgl. zu den Wandlungen des "Biock"-Verständnisses M. Gorbatschows Jens Hacker: Block-Politik der UdSSR, in: Rolf Schlüter (Hrsg.): Wirtschaftsreformen im Ostblock in den 80er Jahren. Paderborn u. a. 1988, S. 226-244; ders.: Michail Gorbatschow und die engere "sozialistische Gemeinschaft", in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 19-20 vom 4. Mai 1990, S. 30-39 mit den Nachweisen in Anm. 60. 6 So Boris Meissner: Die politischen Parteien und Vereinigungen in der DDR - Ein zusammenfassender Rückblick, in: Beiträge zur Konfliktforschung, Jg. 20/1990, H. 4, S. 81-94 (86) mit Hinweisen auf Studien von Peter Christian Ludz. 7 B. Meissner, ebenda.
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Zielbestimmungen in das Grundgesetz sowie mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung"8, wird diese Diskussion in Politik und Wissenschaft auch in Zukunft weitergehen.
II. Die Voraussetzungen für die sich abzeichnende Vereinigung Deutschlands Eine Prüfung der Voraussetzungen für die sich abzeichnende staatliche Vereinigung Deutschlands muß zwischen der Entwicklung bis zum 9. November 1989, den deutschland- und außenpolitischen Positionen der Übergangsregierung unter Ministerpräsident Hans Modrow und der aufgrund der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 legitimierten Regierung unter Ministerpräsident Lotbar de Maiziere, Michail Gorbatschows Einlenken in der "deutschen Frage" und dem "Zwei-plus-vier-Prozeß" differenzieren. Dabei sind die Banner Deutschland-Vorstellungen und -Vorschläge in die Betrachtung einzubeziehen.
1. Die Entwicklung bis zum 9. November 1989
Der eruptive Aufbruch in der DDR hat vor allem jene westlichen Beobachter überrascht, die bisher gemeint hatten, ein guter Teil der Bevölkerung habe sich mit dem Staat arrangiert und wisse die materiellen Vorteile der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" - im Vergleich mit den "Bruderländern" - ebenso zu schätzen wie den vom SED-Regime widerwillig tolerierten Rückzug in die Privatsphäre, in die "Nische". Kritische Analytiker, die die diktatorische Herrschaftspraxis bis zum 9. November 1989 nicht aus den Augen verloren und aus der Resignation der DDR-Bevölkerung nicht auf deren Akzeptanz des "Systems" geschlossen hatten, wurden der "Realitätsferne" und des "totalitären Antikommunismus"9 bezichtigt. Weit verbreitet war auch die Vorstellung, daß die in den vergangeneo Jahren verstärkte 8 Vgl. dazu die verdienstvolle Dokumentation "Einigungsvertrag und Wahlvertrag". Mit einer Einführung von Klaus Stern und Bruno &hmidt-Bieibtreu. München 1990. Vgl. zum Verlauf der Verfassungs-Diskussion in Deutschland Jens Hacker: Deutsche Identität und deutsche Verfassung. Welche Verfassung wird einem deutschen Staat nach der Vereinigung von Bundesrepublik Deutschland und DDR am besten gerecht? Mainz 1991, S. 43-76. 9 Günter Gaus: Wo Deutschland liegt- Eine Ortsbestimmung. München. 2. Auf!. 1987, S. 8. Vgl. dazu auch Volker Zastrow: Die "Legende von der Nischengesellschaft" im Sozialismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Juli 1990; Jens Hacker: Vom Stalinismus zum nationalen Selbstvertrauen?, in: Die Welt vom 17. März 1990.
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innerdeutsche Kommunikation mit der Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen mehrfach in die Bundesrepublik Deutschland zu reisen, ein Ventil gebildet hätte, aufgestaute Unzufriedenheit mit den Zuständen im eigenen Land abzubauen oder zumindest zu verdrängen. Schließlich glaubte man, das weitgehende Sichabfinden des Westens mit dem territorialen und politischen Status quo in Europa und damit auch der Teilung Deutschlands habe seine Wirkung drüben nicht verfehlt. Nicht nur ein Staats-, sondern sogar ein wachsendes eigenständiges Nationalbewußtsein wurde der DDR-Bevölkerung unterstellt. Für die Bevölkerung in der DDR bildete zu keinem Zeitpunkt der frühere "große Bruder", die Sowjetunion, sondern immer die Bundesrepublik Deutschland Fixpunkt, Maßstab und Gegenmodell zum eigenen System, das sich nie der von oben behaupteten Legitimation und breiten Zustimmung der Betroffenen erfreut hat. Nach dem ausdrücklichen Verzicht auf die im Westen als "Breshnew-Doktrin" bezeichnete sowjetische Interventions-Doktrin durch Michail Gorbatschow und einen Beschluß des Politischen Beratenden Ausschusses, des höchsten Organs des Warschauer Paktes, vom 8. Juli 1989 in Bukarest10 sowie der Rede des Kreml-Chefs anläßlich der Jubiläums-Feierlichkeiten in Ost-Berlin am 6. Oktober 1989 konnten die Menschen in der DDR davon ausgehen, daß die dort stationierten rund 380.000 sowjetischen Soldaten dem inzwischen gestürzten Staats- und Parteichef Erich Honecker nicht helfen würden, ihr selbstbewußtes Aufbegehren im Keim zu ersticken. Obwohl die sowjetische Führung bis zum Sommer 1989 in zahlreichen Dokumenten ihren Willen bekundet hatte, die überkommene Vorstellung von der "Ordnungsmacht" UdSSR strikt abzulehnen und das Prinzip der Selbstbestimmung auch im Warschauer-Pakt-Bereich zuzulassen, war siebestrebt, den Status quo in Deutschland möglichst unangetastet zu lassen. Als Bundeskanzler Kohl vom 24.-25. Oktober 1988 zu Besprechungen in Moskau weilte, hatte Gorbatschow noch betont: "Über die sogenannte 'deutsche Frage' habe ich in letzter Zeit mehrmals gesprochen. Die derzeitige Situation ist ein Ergebnis der Geschichte. Die Versuche, diese umzustoßen oder eine unrealistische Politik voranzutreiben, sind ein unberechenbares und sogar gefährliches Unterfangen." 11 Mit seiner nochmaligen scharfen Absage, über die "deutsche Frage" auch nur zu diskutieren, verdeutlichte Gorbatschow unmißverständlich, daß er das zuvor von ihm postulierte Prinzip der "Freiheit der Wahl" auf die deutsche Situation nicht anzuwenden gewillt war. Als der Kreml-Chef die Bundesre10 Vgl. zur Entwicklung und Aufgabe der "Breshnew-Doktrin" im einzelnen J. Hacker, a.a.O. (Anm. 5). 11 Text in: Europa-Archiv, Jg. 43/1988, S. D 617.
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publik Deutschland besuchte, war er immerhin bereit, in der mit Bundeskanzler Kohl unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung vom 13. Juni 1989 festzustellen, das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, müsse sichergestellt werden: "Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muß gewährleistet werden."12 Gorbatschows Bekenntnis zum Primat des Völkerrechts und zum Recht der Völker auf Selbstbestimmung deutete eine Abkehr von der bisherigen starren Position der UdSSR in der "deutschen Frage" an, auch wenn er in seiner Ansprache am 12. Juni 1989 in Bonn nicht dem in beiden Staaten Deutschlands lebenden Volk, sondern nur "dem Volk der Bundesrepublik Deutschlands Wohlergehen und Gedeihen" 13 wünschte. Obgleich sich die SED-Führung seit Herbst 1987 mit Protesten und einem verstärkten Widerstand konfrontiert sah und es ihr nicht mehr gelang, mit repressiven Maßnahmen die oppositionellen Kräfte in die Schranken zu weisen, konnte man Mitte Juni 1989 noch nicht ahnen, daß sich innerhalb kurzer Zeit die innere Situation der DDR zuspitzen würde. Jetzt rächte sich die Tatsache, daß Honecker und seine Mitstreiter der "Glasnost- und Perestrojka"-Politik Gorbatschows in den Jahren zuvor immer nur Erfolg gewünscht hatten, ohne deutsche Varianten des "neuen Denkens" zu entwikkeln oder gar zu praktizieren. Die DDR-Führung lehnte eine Reformpolitik nach sowjetischem Vorbild in dem Bewußtsein ab, "daß die Existenz des SED-Staates aufgrund der fehlenden nationalen Identität allein durch eine orthodoxe Form des Marxismus-Leninismus gewährleistet werden konnte. Trotz einer scheinbaren Stabilität mußte der SED-Staat an den zunehmenden inneren Widersprüchen, die durch den Starrsinn der überalterten SEDFührung gefördert wurden, scheitern. Der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde in immer stärkerem Maße breiten Schichten der Bevölkerung, insbesondere der Jugend, bewußt. Die dadurch bewirkte Frustration äußerte sich in zunehmenden Protestaktionen. Sie ließ die Auswanderung, die durch die Aufhebung des Eisernen Vorhangs im August 1989 ermöglicht wurde, zu einer Massenflucht anschwellen, die das SED-Regime in seinen Grundfesten erschütterte.''14 12 Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 61 vom 15. Juni 1989 und Europa-Archiv, Jg. 44(1989, S. D 382 f. 13 Text ebenda, S. D 381 f. 14 So B: Meissner, a.a.O. (Anm. 6), S. 86. Vgl. zum Umbruch in der DDR Konrad Löw (Hrsg.): Beharrung und Wandel. Die DDR und die Reformen des Michail Gorbatschow. Band 28 der Schriften der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Berlin 1990; Charles Schüddekopf (Hrsg.): "Wir sind das Volk!" Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Reinbek b. Harnburg 1990; Hannes Bahrmann/Christoph Links: Wir sind das Volk: Die DDR im Aufbruch- Eine Chronik. Berlin/Weimar/Wuppertal1990; Jan Wielgohs/Marianne Schutz:
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Angesichts der Reformpolitik Gorbatschows, der weitreichenden innenpolitischen Veränderungen in Ungarn und Polen und der Unfähigkeit der SED-Führung, auf diese Entwicklungen angemessen zu reagieren, entschlossen sich Tausende von Bürgern der DDR, über die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin und die deutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest ihr Land zu verlassen. Als die ungarische Regierung ohne Abstimmung mit der DDR-Führung am 10. September 1989 allen Fluchtwilligen aus der DDR die Ausreise in den Westen erlaubte und einen Tag später für die DDR-Flüchtlinge die Grenze nach Österreich öffnete15, wußte OstBerlin, daß es nicht mehr lange mit der Solidarität Prags und Warschaus rechnen konnte. Die oppositionellen Kräfte in der DDR kannten die prekäre Lage der Führung, die mit großem propagandistischem Aufwand die 40jährige Wiederkehr der Ausrufung der DDR am 7. Oktober 1989 vorbereitete. So stimmte Bonecker mit Blick auf die Jubiläums-Feierlichkeiten der Ausreise der Flüchtlinge aus Warschau und Prag am 1. Oktober zu. Die Nachrichtenagentur der DDR, ADN, meinte dazu, die Flüchtlinge hätten "durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selber aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen." 16 Daß die SED-Führung nicht mehr in der Lage war, .das Ausmaß der Krise, vor allem den Umfang der Massenbewegung und des Protestes gegen das "System" und Regime zu erkennen, offenbarte Honecker mit seiner Rede anläßlich der Festveranstaltung am 6. Oktober, als er die DDR als einen "Vorposten des Friedens und des Sozialismus in Europa" bezeichnete. 40 Jahre DDR- so Honecker- "das waren 40 Jahre heroische Arbeit, 40 Jahre erfolgreicher Kampf für den Aufstieg unserer sozialistischen Republik, für das Wohl des Volkes"P Hingegen bewies Gorbatschow in seiner Grußansprache in Ost-Berlin, Reformbewegung und Volksbewegung. Politische und soziale Aspekte im Umbruch der DDRGesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 16-17 vom 13. April 1990, S. 15-24. Vgl. speziell zur Rolle der evangelischen Kirche im Demokratisierungsprozeß der DDR Erbart Neubert: Eine protestantische Revolution, in: Deutschland-Archiv, Jg. 23/1990, S. 704-713; Reinhard Henkys: Die Kirchen im Umbruch der DDR, ebenda, S. 177-180. Sehr instruktiv zum Umbruch in der DDR Horst Lange und Uwe Matthes: Ein Jahr danach - Auf der Suche nach Fragen und Antworten zur Wende in der DDR, ebenda, S. 1744-1750; Thomas Falkner: Die letzten Tage der SED- Gedanken eines Beteili.8en, ebenda, S. 1750-1762. 5 Vgl. dazu die Übersicht bei Ilse Spittmann und Giseta Helwig (Hrsg.): Chronik der Ereignisse in der DDR. 4. erw. Aufl. Köln 1990. Die Übersicht beginnt mit dem 3. August 1989 und schließt mit dem 4. Juni 1990. Vgl. S. 4: Die Ost-Berliner Nachrichtenagentur ADN wirft Budapest die Verletzung völkerrechtlicher Verträge sowie eine "direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten" der DDR vor. 16 Nachweis, ebenda, S. 7. 17 Text in: Neues Deutschland vom 9. Oktober 1989; Auszüge in: Deutschland-Archiv, Jg. 22/1989, s. 1431-1433 (1432).
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daß er die "Zeichen der Zeit" besser erkannt und keine Skrupel hatte, der SED-Führung zu empfehlen, "in Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften Antwort auf die Fragen zu fmden, die durch die Entwicklung der Republik auf die Tagesordnung gestellt worden sind und die ihre Bürger bewegen ..." Wichtig war auch sein Hinweis, "vor allen Dingen sollten unsere westlichen Partner davon ausgehen, daß die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden werden". Die Sowjetunion wolle sich "natürlich ihrer Verantwortung für die Lösung der europäischen Probleme nicht entziehen. Gemeint ist die Verantwortung, die auf internationalen Abkommen aufbaut und von der Rolle bestimmt wird, die die Siegerstaalen des Zweiten Weltkrieges spielen." Großen Wert legte Gorbatschow auf die Feststellung, "die Versuche der Unifizierung und Standardisierung in den Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, einerseits der Nachahmung, andererseits der Aufzwingung von irgendwelchen verbindlichen Mustern", gehörten "der Vergangenheit an. Die Palette der schöpferischen Möglichkeiten wächst, die Idee des Sozialismus an sich bekommt einen unvergleichlich reicheren Inhalt ... Anders ausgedrückt ist die Mannigfaltigkeit nicht nur kein Hindernis, sondern im Gegenteil ein weiteres gewichtiges Argument für die Entwicklung der Zusammenarbeit ... Gleichberechtigung, Eigenständigkeit, Solidarität - das bestimmt heute den Inhalt dieser Beziehungen."18 Nachdem es der SED-Führung noch gelungen war, Demonstrationen von Tausenden DDR-Bewohnern für Reformen am 7. Oktober gewaltsam aufzulösen, verlangten bei einer friedlichen Demonstration in Leipzig zwei Tage später 70.000 Reformen, und arn 11. Oktober erklärte das SED-Politbüro, es wolle die Ursachen für die Massenflucht auch bei sich selbst suchen; außerdem kündigte es Neuerungen an und rief die DDR-Bewohner zur Diskussion auf. Am 13. Oktober gab die Generalstaatsanwaltschaft der DDR die Freilassung fast aller festgenommenen Demonstranten bekannt, und Ost-Berlin stimmte zugleich der Ausreise neuer DDR-Flüchtlinge aus Warschau zu. Einen Tag später veröffentlichte nach anderen Zeitungen erstmals auch das Parteiorgan der SED, das "Neue Deutschland", kritische Leserbriefe.19 Trotz der großen Protest-Demonstrationen in der DDR und der Massenflucht von Bürgern in die Bundesrepublik schien die sowjetische Führung zu erwarten, daß Egon Krenz, der arn 18. Oktober zum Nachfolger Honeckers als SED-Chef gewählt worden war und am 24. Oktober auch die Ämter des Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR übernommen hatte20, die Situation meistern werde. So sagte Gor18 Text in: Neues Deutschland, ebenda; Auszüge in: Deutschland-Archiv, ebenda, S. 1434 f. 19 Vgl. dazu ausführlicher die Angaben in: Chronik ..., a.a.O. (Anm. 15).
20 Vgl. dazu im einzelnen die Nachweise, ebenda, S. 8-14.
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batschow gegenüber Krenz bei dessen Besuch am 1. November, als "starke marxistisch-leninistische Partei" sei die SED in der Lage, mit der "Unterstützung des Volkes" den "Prozeß der Erneuerung kühn zu führen". Alle Fragen, die die DDR beträfen, würden "nirgendwo anders als in der Hauptstadt der DDR" entschieden. Krenz nannte die "Politik des neuen Denkens und der Perestrojka" eine Quelle ständiger Anregungen für die Beschleunigung des gesellschaftlichen Fortschritts". Zum Thema Wiedervereinigung sagte Krenz auf einer anschließenden Pressekonferenz, diese Frage stehe "nicht auf der Tagesordnung".21
2. Deutschland- und außenpolitische Positionen der Regiernng Modrow
Die Hoffnungen der sowjetischen Führung waren jedoch trügerisch. Nach den Massendemonstrationen in Ost-Berlin und überall in der DDR trat am 7. November der Ministerrat, die Regierung der DDR, geschlossen zurück, und zwei Tage später öffnete die DDR die Grenzübergänge zur Bundesrepublik Deutschland und nach West-Berlin. Am 13. November wählte die Volkskammer der DDR Hans Modrow als Nachfolger Willi Stophs zum Vorsitzenden des Ministerrates; gleichzeitig wurde er mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt, die die DDR-Volkskammer fünf Tage später, am 18. November, bestätigte. Zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für Wirtschaft wurde Frau Prof. Dr. Christa Luft (SED) und zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für Kirchenfragen Lotbar de Maiziere (CDU) gewählt. Minister für Auswärtige Angelegenheiten blieb Oskar Fischer (SED); Minister für nationale Verteidigung wurde Theodor Hoffmann (SED).22 In seiner Regierungserklärung vom 17. November bezeichnete Ministerpräsident Modrow die Stabilität der DDR als "eine Bedingung für Stabilität in Mitteleuropa, ja in Europa, und deshalb ist es im wohlverstandenen Interesse zumindest aller Nachbarn der DDR, den Wandel in unserem Staat nicht nur wohlwollend zu betrachten, sondern auch politisch und wirtschaftlich zu fördern". 23 In seiner Rede verwandte Modrow erstmals den Terminus "Vertragsgemeinschaft": "Wir sind dafür, die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen, die weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge 21 Nachweis, ebenda, S. 16 f. 22 Vgl. die Nachweise, ebenda, S. 19-26 (S. 24 f.: Zusammensetzung des neuen Ministerratsi. 3 Text der Regierungserklärung in: Neues Deutschland vom 18./19. November 1989 und Deutschland-Archiv, Jg. 23/1990, S. 122-135 (123 f., 135). Nachdrücklich betonte Modrow, die DDR stehe "zu ihren Verpflichtungen im Warschauer Vertrag".
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und Abkommen zwischen beiden Staaten hinausgeht. Dafür ist die Regierung gesprächsbereit Am Schluß seiner Rede fügte er hinzu, "indem sich beide deutsche Staaten uneingeschränkt respektieren, können sie zugleich ein wertvolles Beispiel kooperativer Koexistenz schaffen. Die Regierung der DDR ist bereit, die Zusammenarbeit mit der BRD umfassend auszubauen und auf eine neue Stufe zu heben. Dies gilt für alle Fragen: Sicherung des Friedens, Abrüstung, für Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Umweltschutz, Verkehr, Post- und Fernmeldewesen, für die Kultur, den Tourismus und den umfangreichen humanitären Bereich." Die neue nichtlegitimierte DDR-Regierung ging also davon aus, die vertraglichen Beziehungen zwischen beiden Staaten in Deutschland auf der Grundlage der fortbestehenden Teilung des Landes zu verstärken. Nachdem sich Bundeskanzler Kohl und SED-Generalsekretär Krenz am 11. November in einem Telefongespräch für eine Intensivierung der Zusammenarbeit auf vielen Gebieten ausgesprochen und sich grundsätzlich auf eine baldige persönliche Begegnung in der DDR geeinigt hatten24, gab Bundeskanzler Kohl am 16. November eine Erklärung der Bundesregierung zur Lage in der DDR vor dem Bundestag ab25, und am 20. November traf Rudolf Seiters, Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, in Ost-Berlin mit Egon Krenz, SED-Generalsekretär und Vorsitzender des DDR-Staatsrates, und Ministerpräsident Hans Modrow zu einem Gespräch zusammen. Themen des Meinungsaustausches, an dem auch DDR-Außenminister Fischer und der Staatssekretär im DDR-Außenwirtschaftsministerium Alexander Schalck-Golodkowski teilnahmen, waren u. a. der Reiseund Besucherverkehr, die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die Zusammenarbeit im Umweltschutz, die Erweiterung der Post- und Fernmelde-Beziehungen und Verkehrsfragen. i\uf "entsprechenden Ebenen" sollen Verhandlungen aufgenommen bzw. fortgeführt werden, um so schnell wie möglich konkrete Ergebnisse zu erreichen. Seiters erklärte anschließend, es habe sich um ein erstes Sondierungsgespräch gehandelt. 26 Auch wenn sich nach Ansicht der DDR-Führung der Ausbau der deutsch-deutschen Beziehungen auf der Basis der fortbestehenden staatlichen Teilung des Landes vollziehen sollte, wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland immer intensiver die Frage diskutiert, ob die angestrebte Kooperation nicht möglicherweise zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands führen könnte. Während auf den Massendemonstrationen in der DDR vor allem eine demokratische Erneuerung und weitreichende gesellschaftliche Veränderungen gefordert worden waren, 24 Vgl. dazu die Nachweise in: Chronik ..., a. a. 0. (Anm. 15), S. 21. 25 Text der Erklärung der Bundesregierung in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 129 vom 17. November 1989, S. 1101-1108. 26 Vgl. dazu ausführlicher die "Chronik ...", a.a.O. (Anm. 15), S. 26.
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demonstrierten am 27. November in Leipzig rund 200.000 Menschen; auf Transparenten und in Sprechchören wurde auch die Wiedervereinigung Deutschlands verlangt. 27
3. Bundeskanzler Kohls "Zehn-Punkte-Programm" vom 28. November und das deutsch-deutsche Treffen in Dresden vom 19./20. Dezember 1989 Daher war es richtig, daß Bundeskanzler Kohl angesichts des Ausmaßes der internationalen Diskussion über "Deutschland" am 28. November sein "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" vor dem Bundestag unterbreitet und Modrows Gedanken einer "Vertragsgemeinschaft" aufgegriffen hat. In Punkt 5 seines Programms erklärte Kohl die Bereitschaft der Bundesregierung, "noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt, eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber eine demokratisch-legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus."28 Kohl fügte hinzu: "Stufenweise können neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden ... Staatliche Organisation in Deutschland hieß in unserer Geschichte fast immer auch Konföderation und Föderation. Wir können doch auf diese historischen Erfahrungen zurückgreifen." Wichtig war auch die weitere Feststellung des Bundeskanzlers: "Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen sie wollen, dessen bin ich sicher." Er vergaß nicht, auf die von Staatsund Parteichef Gorbatschow und ihm am 13. Juli 1989 unterzeichnete Ge27 Vgl. dazu die Nachweise ebenda, S. 26, 30 und die Literatur-Hinweise oben in Anm. 14.
Text des Zehn-Punkte-Programms zur Oberwindung der Teilung Deutschlands und Europas vom 28. November 1989, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 134 vom 29. November 1989, S. 1141-1148 und Deutschland-Archiv, Jg. 23/ 1990, S. 149-152; T ext auch in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. November 1989 und Auszüge in: Europa-Archiv, Jg. 44/1989, S. D 7~-734. Vgl. dazu Kar! Feldmeyer: Kohl nutzt die Stunde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. November 1989; Hans-R Karutz: Ost-Berlin irritiert: Vom Kanzler überrascht, in: Die Welt vom 30. November 1989; Bemt Conrad: Bonn sieht Verständnis für Überlegungen Kohls, ebenda; Chronik ..., ebenda, S. 30 f. Festzuhalten gilt, daß in der Debatte des Bundestages der SPD-Abgeordnete Karsten Voigt zutreffend darauf hinwies, zwischen den Ausführungen Hans-Jochen Vogels und Kohls "Zehn-Punkte-Programm" seien "konzeptionelle Differenzen nicht zu erkennen": "Deshalb stimmen wir Ihnen in allen zehn Punkten zu." Vgl. dazu mit Nachweisen Jens Hacker: Deutschlandpolitik: Positionen im Rahmen einer europäischen Lösung, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.): Demokratische Streitkultur. Theoretische Grundpositionen und Handlungsalternativen in Politikfeldem. Opladen 1990, S. 232-249 (246 f.). ~
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meinsame Erklärung hinzuweisen, die von den Bauelementen eines "gemeinsamen europäischen Hauses" spricht. Ost-Berlin zeigte sich vom Zehn-Punkte-Plan Bundeskanzler Kohls nicht nur überrascht, sondern auch irritiert. Wolfgang Meyer, Regierungssprecher und Leiter des Presseamtes (SED), kommentierte ihn so: "Solche Erklärungen gehen nicht nur an den Realitäten vorbei, sondern können sehr leicht zu Irritationen führen, da sie sowohl die im Grundlagenvertrag als auch in der Schlußakte von Helsinki festgeschriebene Souveränität und Unabhängigkeit der beiden deutschen Staaten außer acht lassen." Hingegen bezeichnete der Vorsitzende der DDR-CDU und Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für Kirchenfragen, de Maiziere, Kohls Zehn-Punkte-Programm als interessantes Konzept, das auch wesentliche Elemente eigener Vorstellungen enthalte.Z9 Die SED und jene Medien, die ihr zu diesem Zeitpunkt noch gewogen waren, verbreiteten mit Freude und Genugtuung jene Kommentare aus der Bundesrepublik und dem Ausland, die den Kohl-Plan kritisch betrachtet oder sogar strikt verworfen hatten. Erinnert sei daran, daß sich vor allem der französische Staatspräsident Francois Mitterrand von dem Vorstoß des Bundeskanzlers in der "deutschen Frage" überrascht zeigte, was zu einer Verstimmung zwischen ihm und Kohl geführt hatte.30 Daß auch die UdSSR Kohls Zehn-Punkte-Plan ablehnte, war nicht erstaunlich. So erörterte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 4.5. Dezember mit Außenminister Eduard Schewardnadse und Partei- und Staatschef Gorbatschow internationale Fragen, Abrüstung, vornehmlich aber Stand und Aussichten der innerdeutschen Beziehungen. Schewardnadse warnte, auch im Zusammenhang mit den "Zehn Punkten" Bundeskanzler Kohls, vor Bestimmungen, die "hart an ein direktes Diktat grenzen". Gorbatschow äußerte die Absicht, der DDR gegenüber "Solidarität und Unterstützung an den Tag zu legen".31 Trotzdem wurden im Kreml bereits Überlegungen angestellt, "wie sich aus einem allfälligen Gesamtdeutschland der beste bilaterale Nutzen ziehen ließe. Vor allem in Außenwirtschaftskreisen mehren sich die Stimmen derer, die in einem Deutschland vom Rhein bis zur Oder einen lukrativen und bei Zugeständnissen in der Wiedervereinigungsfrage auch anbindbaren Partner sehen. Der Kremlführung ihrerseits ist klar, daß sie den nationalen Einheitsprozeß nicht weiter blockieren könne, wenn 1990 freie Wahlen oder ein entsprechendes Plebiszit in der DDR den Wiedervereinigungswillen der Bevölkerung eindrucksvoll signalisiere. Manche 29 Vgl. dazu die Nachweise in: Chronik ... , ebenda, S. 30 f. 30 Vgl. dazu "Mitterrand enttäuscht über fehlende Absprache", in: Süddeutsche Zeitung vom 2.f3. Dezember 1989. 31 Zit. in: Europa-Archiv, Jg. 45/1990 S. Z 5.
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interpretieren Gorbatschows immer wiederkehrende Hinweise auf die 'Entscheidung der Geschichte', daß dann eben die Geschichte gesprochen habe."32 Die "Neue Zürcher Zeitung" fügte in ihrem Kommentar über den Genscher-Besuch in Moskau hinzu: "Dabei steht allerdings fest, daß eine solche historische Liquidierung der DDR einzig auf dem Willen ihrer eigenen Bevölkerung beruhen darf. Nur damit und mit dem von Gorbatschows 'neuem Denken' propagierten uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht der Völker ließe sich eine Preisgabe des ostdeutschen Satelliten den innersowjetischen Betonköpfen gegenüber rechtfertigen. Daher könnte jeder Druck vom Westen her, wie etwa der Kohl-Plan, als Argument herhalten, ein Votum für die Wiedervereinigung zwischen Eibe und Oder sei manipuliert. Bonns Außenminister Genscher hat dieses Risiko in Moskau mit viel Fingerspitzengefühl behandelt, indem er, wie es Gorbatschow zuletzt mit seiner MalteserWarnung vor 'künstlichem Anheizen' nahegelegt hat, die Meinungsbildung erneut allein in das Ermessen der Bevölkerung in der DDR und- wie immer sie ausfalle - unter den übergeordneten Gesichtspunkten der Stabilität gestellt hat." Trotz der Ablehnung des Zehn-Punkte-Programms Bundeskanzler Kohls begann sich nun auch im Kreml allmählich die Einsicht durchzusetzen, daß er den sich anbahnenden Vereinigungsprozeß der beiden Staaten in Deutschland nicht aufhalten und dem deutschen Volk die Selbstbestimmung nicht verwehren könne. Wie schwierig für Gorbatschow dieser Umdenkprozeß war, hatte er noch am 3. Dezember bei seinem Treffen von Malta mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush bezeugt. Wiederum hatte er gesagt, der KSZE-Prozeß habe die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges festgeschrieben; die beiden deutschen Staaten seien eine "Realität", über die die Geschichte "entschieden" habe.33 Am 6. Dezember erörterte anläßlich eines Arbeitsbesuches in Kiew der französische Staatspräsident, Mitterrand, mit Partei- und Staatschef Gorbatschow auf der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz die Entwicklung der Lage in beiden Teilen Europas. Auf eine Frage zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten antwortete der Kreml-Chef, die neue Etappe von Veränderungen in Europa entwickle sich auf Grundlage der "Errungenschaften und Realitäten, die nach dem Kriege entstanden sind und die von den Helsinki-Vereinbarungen gefestigt wurden". Dazu gehörten auch 32 So der Kommentar "Ablehnung des Kohl-Plans durch Schewardnadse", in Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 285 vom 8. Dezember 1989; Bonn im Sog der Wiedervereinigungsdynamik, ebenda, Fernausgabe Nr. 284 vom 7. Dezember 1989. 33 Diese Ausführungen machte M. Gorbatschow im Rahmen seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit dem amerikanischen Präsidenten G. Bush. Text (Auszüge), in: Europa-Archiv. Jg. 45/1990, S. D 39-49 (48).
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die beiden souveränen deutschen Staaten. Die vor sich gehenden Veränderungen sollten diese Realität nicht ändern. Die Geschichte solle darüber befinden, wie die Zukunft dieses Kontinents aussehen soll. Heute sei dieses Problem nicht aktuell. Mitterrand sagte zu dieser Frage, es könne nur demokratische und nur friedliche Veränderungen geben. Keines der europäischen Länder könne handeln, ohne die historische Situation zu berücksichtigen.34 Mit Recht betonte die "Neue Zürcher Zeitung", Gorbatschows "Standardantwort, der er bis vor kurzem auf die Frage nach dem Abbruch der Berliner Mauer und einer möglichen Wiedervereinigung immer geben konnte- die Geschichte müsse entscheiden-, ist überholt. Und die Berufung beider Präsidenten auf die Helsinki-Akte von 1975, welche die Unverletzlichkeit der Grenzen bestätigt - gemeint war diesmal nicht nur die deutschpolnische, sondern auch die innerdeutsche Grenze -, als Sperrklausel gegen eine Wiedervereinigung war nur halb korrekt. Denn die Helsinki-Akte schließt eine friedliche Einigung über Grenzfragen keineswegs aus." 35 Daß Ministerpräsident Modrow das Ausmaß der politischen und wirtschaftliehen Krise der DDR nicht zu erkennen bereit war, verdeutlichte er in seinem Referat auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED am 8. Dezember 1989: "Die sozialistischen Partner erwarten von uns, und damit sind alle Kräfte gemeint, die eine erneuerte sozialistische Gesellschaft zu tragen bereit sind, eine Stabilisierung dieses Staates in voller Souveränität, also keinen Ausverkauf an die BRD. Unsere Verbündeten sagen ebenso wie meine Regierung, daß eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu einem Staat nicht auf der Tagesordnung steht. Und von Wiedervereinigung sollte man richtigerweise überhaupt nicht reden, weil das Wort wieder ein Anachronismus ist und berechtigte Bedenken, ja Ängste, vor großdeutschem Chauvinismus weckt."36 Immerhin bemerkte er, wenn Bundeskanzler Kohl den Gedanken einer "Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten" aufgegriffen "und mit dem Hinweis auf konföderative Schritte ausgebaut hat, so ist dies, meine ich, ein maßvoller Ansatz für bevorstehende Erörterungen, wobei die DDR vor allem an dem interessiert ist, was man für 1990 und das folgende Jahr kon34 Zit. in: Europa-Archiv, ebenda, S. Z 5 f. 35 "Deutschland als Hauptthema in Kiew. Gemeinsamkeiten zwischen Gorbatschow und Mitterrand", in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 286 vom 9. Dezember 1989: "Der französische Präsident war nuancierter als Gorbatschow, der sichtlich um den Fortbestand der DDR als regierungsfähiger unabhängiger Staat bangt. Aber Mitterrand sah keinen Grund, seine Irritation über den als unzeitgemäß betrachteten Vorstoß von Kohl zu verbergen ... Das neue Lob der Militärblöcke, die nun als unentbehrliche politische Stabilisatoren gesehen werden, obwohl Gorbatschow sie vor kurzem noch auflösen wollte und Frankreich keine Neigung zeigt, sich wieder in die Militärorganisation der NATO zu integrieren, zeigte das gedankliche Vakuum in der Frage der zukünftigen europäischen Neuordnung auf." 36 Text des Referates von Hans Modrow in: Neues Deutschland vom 9./10. Dezember 1989; Auszug in: Deutschland-Archiv, Jg. 23/1990, S. 293-296 (294).
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kret einleiten könnte". Eine Vereinigung von DDR und BRD sei "keine Frage der aktuellen Politik, und niemand, dem eine gesunde und friedliche Entwicklung am Herzen liegt, sollte sie künstlich beschleunigen oder gar zur Wahlkampfmunition machen. Davor warne ich mit Eindringlichkeit." Das Protokoll vermerkt hier "Beifall".37 Die innere Entwicklung der DDR und die Erkenntnis, daß die ökonomische Misere nur mit beachtlicher Hilfe der Bundesrepublik behoben werden kann, sowie die Einsicht, daß weder die sowjetische Führung noch andere "Bruderländer" oder der krisengeschüttelte Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wirksame Unterstützung zu geben vermögen, dürften entscheidend dazu beigetragen haben, daß Ministerpräsident Modrow bei seinem Arbeitstreffen mit Bundekanzler Kohl am 19. und 20. Dezember 1989 in Dresden in zentralen Punkten den Vorstellungen der Bundesregierung gefolgt ist. In der Gemeinsamen Mitteilung ist von dem Einvernehmen die Rede, ausgehend vom Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972, die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten "umfassender auszubauen, die Beziehungen auf eine neue Stufe zu heben und sie enger und langfristiger zu gestalten ... Über die bestehenden Verträge hinaus soll eine Vertragsgemeinschaft entwickelt werden mit Institutionen zur Behandlung der gemeinsamen Probleme des gesellschaftlichen Lebens."38 Von der DDR-Regierung war in diesem Zeitpunkt ein Einschwenken auf die Position der Bundesregierung, mit der geplanten "Vertragsgemeinschaft" langfristig die Überwindung der staatlichen Teilung Deutschlands anzustreben, noch nicht zu erwarten. Immerhin brachten Kohl und Modrow in ihrer Gemeinsamen Mitteilung von Dresden die Hoffnung zum Ausdruck, "daß die Teilung Europas überwunden und gemäß den Zielsetzungen der Schlußakte von Helsinki und der anderen KSZE-Dokumente eine europäische Friedensordnung gestaltet werden kann, die getragen wird von der uneingeschränkten Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts der Völker sowie der Menschenrechte. Die europäischen Völker sollten in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechtes in souveräner, demokratischer Entscheidung und bei freier Wahl des Entwicklungsweges das gemeinsame europäische Haus errichten."
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Text, ebenda, S. 295. 38 Text der Gemeinsamen Mitteilung in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 148 vom 20. Dezember 1989 und Deutschland-Archiv, ebenda, S. 317-321 (318). Vgl. dazu auch "Das erste Treffen zwischen Kohl und Modrow", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Dezember 1989; Kohl in Dresden, ebenda; Dresden war ein guter Anrang, ebenda, Ausgabe vom 21. Dezember 1989.
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4. M. Gorbatschows Einlenken in der "deutschen Frage"
Die politischen Führungen in Moskau und Ost-Berlin mußten um die Jahreswende 1989/1990 immer mehr einsehen, daß sie den sich anbahnenden Prozeß der staatlichen Vereinigung Deutschlands nicht aufzuhalten vermögen. Als Kanzleramts-Minister Seiters in der Deutschland-Debatte im Bundestag vom 18. Januar 1990 einen Zwischenbericht über die laufenden Gespräche und Verhandlungen mit der DDR gab, betonte er, nach Ansicht der Bundesregierung werde als angestrebter Inhalt eine "Vertragsgemeinschaft" mit der DDR die Verankerung des Ziels der Einheit Deutschlands in einem solchen erst nach freien Wahlen in der DDR abzuschließenden Abkommen genannt. Unmißverständlich führte er aus, daß die Vertragsgemeinschaft nicht die Festschreibung des heutigen Zustands der Teilung sein könne, sondern eine Durchgangsstation auf dem Weg vom geregelten Nebeneinander über ein wirkliches Miteinander bis zur Einheit bilde.39 Zutreffend wiesen westliche Kommentatoren darauf hin, der Wunsch nach Festschreibung dieser Perspektive schon in diesem Vertrag gehe über den ursprünglichen Vorschlag Modrows hinaus und sei auch den Ausführungen Kohls in Dresden noch nicht zu entnehmen gewesen.40 Inzwischen war die innere Situation der DDR für die Übergangsregierung unter Ministerpräsident Modrow immer prekärer geworden. So hatte sich Bundeskanzler Kohl am 10. Januar veranlaßt gesehen, darauf hinzuweisen, er habe in seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989 den Weg aufgezeigt, wie das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen könne: "Der Prozeß der Demokratisierung mit dem Ziel freier Wahlen in der DDR muß jetzt ohne durchsichtige Manöver und ohne Behinderungen fortgeführt werden. Dies erfordert, daß das neue Wahlrecht auch die Zustimmung der Opposition findet. Diese Zustimmung ist un-verzichtbar ... Ich sage aber auch deutlich - wie schon in Dresden -, daß eine Vertragsgemeinschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen in der DDR die Zustimmung aller politischen Kräfte dort, das heißt auch der Opposition, finden muß."41 Nachdem Ministerpräsident Modrow bei seinem Arbeitstreffen mit Bundeskanzler Kohl am 19./20. Dezember 1989 in Dresden in zentralen Punkten den Vorstellungen Banns gefolgt war, die Bundesregierung immer wieder erklärt hatte, mit der angestrebten "Ver39 Text der Rede des Kanzleramts-Ministers Seiters in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 11 vom 19. Januar 1990, S. 77-80 (80). 40 Vgl. dazu beispielsweise "Höhere deutschlandpolitische Ambitionen Bonns", in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 15 vom 20. Januar 1990. 41 Text der Erklärung Bundeskanzler Kohls in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 4 vom 11. Januar 1990, S. 25-27 (26). Vgl. dazu die Kommentare "Kohl will am Treffen mit Modrow festhalten - Oppositionsgruppen sollen beteiligt werden", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Januar 1990; Kohls Bedingungen, ebenda.
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tragsgemeinschaft" wolle sie die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erreichen, und sich die innere Entwicklung der DDR mit dem weiteren Erstarken der Oppositionsgruppen und den personellen und sachlichen Veränderungen weiter zugespitzt hatte, blieb der sowjetischen Führung gar nichts anderes übrig, als sich flexibler und realistischer zur "deutschen Frage" zu äußern. Offensichtlich hat der Kreml Ende Januar 1990 der DDRFührung signalisiert, daß er die Fortexistenz zweier Staaten in Deutschland nur noch für eine Frage der Zeit halte.42 Am 29. Januar verkündete Ministerpräsident Modrow vor der Volkskammer in Ost-Berlin die deutschlandpolitische Wende nicht nur der DDR, sondern auch Moskaus. Modrow "zeichnete das Bild eines in Auflösung begriffenen Staats- und Wirtschaftssystems und schlug folgende Notmaßnahmen vor: Vorziehen der Volkskammer-Wahlen vom 6. Mai auf den 18. März, Bildung einer 'Regierung der nationalen Verantwortung' mit acht Ministern ohne Geschäftsbereich aus den Reihen der Opposition, die bis zu den Wahlen amtiert. Die Volkskammer stimmte zu."43 Ministerpräsident Modrow führte aus, es bestehe der Konsens darin, "daß vorgeschlagen wird, die Wahlen zu den Volksvertretungen sämtlicher Städte und Gemeinden wie vorgesehen am 6. Mai abzuhalten ... Wenn wir eine stabile DDR gestalten und dafür sorgen, dienen wir einem übergeordneten nationalen Interesse, schaffen wir Voraussetzungen für eine Vertragsgemeinschaft und eine weitergehende Annäherung beider deutscher Staaten, erweisen wir uns aber zugleich der europäischen Verantwortung würdig."44 Einen Tag später, am 30. Januar, gab Gorbatschow den grundlegenden Positionswechsel des Kreml in der "deutschen Frage" bekannt, bevor er Ministerpräsident Modrow zu Besprechungen empfing. Er sagte, "daß die Vereinigung der Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen wurde. Wir haben immer gesagt ..., daß die Geschichte den Gang der Dinge beeinflußt. So wird es auch in Zukunft sein, wenn sich die deutsche Frage praktisch stellt ... Auf keinen Fall darf man die Interessen der Deutschen schmälern, denn ich bin für einen realistischen Prozeß. Wenn wir sagen, die Geschichte wird die Dinge entscheiden, und ich habe das viele Male getan, dann wird das auch so sein, und ich glaube, daß sie bereits ihre Korrekturen einbringt."45
42 Vgl. zum Wandel der deutschlandpolitischen Positionen der UdSSR im einzelnen unten Abschnitt II 4. 43 So der redaktionelle Vorspann: Von der Zweistaatlichkeil zur deutschen Einheit. Die deutschlandpolitische Wende in Ost-Berlin und Moskau, in: Deutschland-Archiv, Jg. 23/ 1990, S.466. 44 Text in: Deutschland-Archiv, ebenda, S. 466-468.
45 Text, ebenda, S. 468; Manfred Rowold: Gorbatschow: Niemand zweifelt an Vereinigung der Deutschen, in: Die Welt vom 31. Januar 1990; Gorbatschow hat "prinzipiell" nichts gegen
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Nach dem weitreichenden Einlenken Michail Gorbatschows in der "deutschen Frage" am 30. Januar konnten Bonn und Ost-Berlin davon ausgehen, daß sich die gemeinsame Vorstellung, zunächst eine "Vertragsgemeinschaft" zwischen beiden Staaten mit dem Ziel zu schaffen, über "konföderative Strukturen" zu einem Bundesstaat Deutschland zu gelangen, als überholt erwies. Festzuhalten gilt dennoch, daß Ministerpräsident Modrow mit dem nach der Rückkehr von seinem Moskau-Besuch am 1. Februar vorgetragenen Deutschland-Plan in Ost-Berlin bemüht war, den Anschluß an die so rasche Entwicklung nicht zu verpassen. So setzte er sich jetzt für die "Bildung einer Konföderation von DDR und BRD mit gemeinsamen Organen und Institutionen, wie z. B. parlamentarischer Ausschuß, Länderkammer, gemeinsame Exekutivorgane für bestimmte Bereiche", "Übertragung von Souveränitätsrechten beider Staaten an Machtorgane der Konföderation" und die "Bildung eines einheitlichen deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen in beiden Teilen der Konföderation, Zusammentreten eines einheitlichen Parlaments, das eine einheitliche Verfassung und eine einheitliche Regierung mit Sitz in Berlin beschließt"46, ein. In völliger Abkehr von der früheren Position der UdSSR und DDR, nach der sich die Vier-Mächte-Rechte nur noch auf den Status West-Berlins bezögen47, nannte Modrow als eine notwendige Voraussetzung für diese Entwicklung die "Wahrung der Interessen und Rechte der vier Mächte sowie der Interessen aller Völker Europas an Frieden, Souveränität und sicheren Grenzen. Die vier Mächte sollten ihre Absicht erklären, nach Bildung eines einheitlichen deutschen Staates alle aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsperiode entstandenen Fragen abschließend zu re-
eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Januar 1990; Hans-Peter Riese: Die Geschichte hat sich ans Werk gemacht. Der Wandel der sowjetischen Position zur Deutschen Frage, in: Europa-Archiv, Jg. 45/1990, S. 117-126; Jens Hacker: Lange wurde in Moskau die Existenz einer Deutschen Frage geleugnet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Mai 1990. 46 Text des Modrow-Plans in: Neues Deutschland vom 2. Februar 1990, Europa-Archiv, ebenda, S. D 119 f. und Deutschland-Archiv, ebenda, S. 471 f. Vgl. dazu Monika Zimmerman: Vorschläge Modrows für ein "einig Vaterland", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Februar 1990; Sprung auf den Zug, ebenda; Vorbehalte gegenüber Modrows Plan in Bonn, ebenda, Ausgabe vom 3. Februar 1990; Bundesregierung und Parteien von Modrows Vorstoß überrascht, ebenda; Westliche Diplomaten beim DDR-Außenminister, in: Neue Zürcher Zeitun!, Fernausgabe Nr. 28 vom 4./5. Februar 1990. 7 Vgl. zur Berlin-Politik der UdSSR und DDR bis zum Sommer 1989 Jens Hacker: Die Position der DDR in der Berlin-Frage nach dem Stadt-Jubiläum, in: Politik und Kultur, Jg. 15/1988, H.6, S. 3-21; ders.: Die Berlin-Politik der UdSSR unter Gorbatschow, in: Außenpolitik, Jg. 40/1989, S. 243-260; Hans Heinrich Mahnke: Berlin in den innerdeutschen Beziehungen, in: Maria Haendcke-Hoppe/Erika Lieser-Triebnigg (Hrsg.): 40 Jahre innerdeutsche Beziehungen. Jahrbuch 1989 der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Berlin 1990, S. 99-117; Hans v. Mangold!: Zur Rechtslage Berlins, in: Recht in Ost und West, Jg. 34/1990, S. 1-12; Peter Jochen Winters: Die Deutschlandpolitik des Berliner Senats, in: Deutschland-Archiv, Jg. 22/1989, s. 1226-1230.
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geln einschließlich der Anwesenheit ausländischer Truppen auf deutschem Boden und der Zugehörigkeit zu Militärbündnissen." Als letzte Voraussetzung für diese Entwicklung bezeichnete Modrow die "militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation". Das Interesse der Bundesregierung am Deutschland-Plan Modrows wurde dadurch beeinträchtigt, daß er einer nichtlegitimierten Übergangsregierung vorstand, die - wie bereits festgestellt - nach den vorgezogenen Volkskammer-Wahlen am 18. März durch eine neue Regierung ersetzt worden ist. Obgleich der Kreml den von Modrow am 1. Februar in Ost-Berlin vorgetragenen Deutschland-Plan, der, um es noch einmal zu wiederholen, auf dem Wege zur "Bildung eines einheitlichen deutschen Staates" die "militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Wege zur Föderation" vorsah, positiv beschied, wußte er, daß die Übergangsregierung der DDR in der "deutschen Frage" nicht mehr viel ausrichten konnte. Wenige Tage später, am 10. Februar, konnte daher Bundeskanzler Kohl, der mit Bundesaußenminister Genscher nach Moskau gereist war, verkünden, Gorbatschow habe den Weg zur Einheit Deutschlands frei gemacht und festgestellt, "daß die Deutschen selbst die Frage der Einheit der deutschen Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden".48 In seiner Erklärung vor der Presse in Moskau am 10. Februar sagte Bundeskanzler Kohl, Generalsekretär Gorbatschow und er "stimmen darin überein, daß es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will. Generalsekretär Gorbatschow hat mir unmißverständlich zugesagt, daß die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird, und daß es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen." Außerdem betonte der Bundeskanzler: "Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns ebenfalls einig, daß die deutsche Frage nur auf der Grundlage der Realitäten zu lösen ist: das heißt, sie muß eingebettet sein in die gesamteuropäische Architektur und in den Gesamtprozeß der West-OstBeziehungen. Wir müssen die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und unserer Freunde und Partner in Europa und in der Welt berücksichtigen. Es liegt jetzt an uns Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR, daß wir diesen gemeinsamen Weg mit Augenmaß und Entschlossenheit gehen."49 Nachdem am 5. Februar in Ost-Berlin eine "Regierung der nationalen Verantwortung" gebildet worden war und die DDR-Volkskammer acht Mit48 Text der offiziellen Mitteilung in: Deutschland-Archiv, Jg. 23/1990, S. 473 f. 49 Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 24 vom 13. Februar 1990, S. 189; Deutschland-Archiv, ebenda, S. 474.
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glieder oppositioneller Parteien und Vereinigungen als Minister ohne Ressort in den Ministerrat gewählt und dem Staatsrat empfohlen hatte, die Wahlen zur Volkskammer für den 18. März auszuschreiben50, erklärte sich die Bundesregierung am 7. Februar bereit, "mit der DDR unverzüglich in Verhandlungen über eine Währungsunion mit Wirtschaftsreform einzutreten".51 Am 12. und 13. Februar weilte Ministerpräsident Modrow mit 17 Ministern zu Regierungsgesprächen in Bann, die allerdings ohne konkrete Ergebnisse über die Verwirklichung der geplanten Währungsunion geblieben sind. Vor allem in der Frage des Zeitpunktes einer Währungsunion kam es zu keiner Festlegung. Man beschloß, eine gemeinsame Kommission zu bilden, die ihre Gespräche über die Wirtschafts- und Währungsunion "unverzüglich" aufnehmen soll.52 Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" meinte dazu: "Die Einsetzung einer Kommission, die mit Gelassenheit über die Einzelheiten einer Wirtschafts- und Währungsunion brüten soll, vermittelt den Eindruck, als habe man in Ost-Berlin noch viel Zeit. Freilich ist Modrow gebunden an die politischen Vorgaben der Neulinge vom Runden Tisch, die jeden Abschluß in Bann untersagt, aber ihren Illusionen freien Lauf gelassen haben. Dabei war auch der Runde Tisch zu der in Bann vorgetragenen Erkenntnis gekommen, daß sich die DDR 'in einer schwierigen Lage (befindet), die durch rasche Destabilisierung gekennzeichnet ist' ... Die Bundesregierung, der die Konkursmasse demnächst unweigerlich zufallen wird, kann nicht mehr tun, als ihre guten Dienste anzubieten und den Grimm herunterzuschlucken."53 Ministerpräsident Modrow berichtete am 20. Februar 1990 vor der Volkskammer über seine Beratungen mit der Bundesregierung in Bann. Nochmals bedauerte er, daß sich die Bundesregierung nicht habe entschließen können, einen Solidarbeitrag in Höhe von 15 Milliarden D-Mark der DDR zuzusagen. Seiner Regierung sei es nicht um Bargeld, sondern um die Lieferung von Konsumgütern und Material, Maschinen und anderen in dem entsprechenden Umfang gegangen. Diese solidarische Hilfe für die DDR solle nach unserer Auffassung eine Einheit bilden mit Währungsunion, Wirtschaftsunion und sozialer Absicherung, solle also das Zusammenführen der beiden Staaten unterstützen. Nachdrücklich sagte Modrow, die DDR habe "in die Vereinigung nicht wenig einzubringen, große geistige und kulturelle Werte, große materielle Werte, die in Jahrzehnten vom Volk erarbeitet worden sind ..." Trotz der Meinungsverschiedenheiten mit der Bundes50 Vgl. dazu ausführlicher die "Chronik ...", a.a.O. (Anm. 15), S. 62 f. 51 Vgl. ebenda, S. 63. 52 Vgl. ebenda, S. 65; Kohl und Modrow kommen auf dem Weg zur Währungsunion nicht weiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Februar 1990. 53 So der Kommentar "Der Katastrophe entgegen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Februar 1990. Zuvor hatte der "Runde Tisch" ein Positionspapier für die Verhandlungen der DDR-Regierung in Bonn erarbeitet. Vgl. zur Entstehung und Entwicklung des "Runden Tisches" im einzelnen Uwe Thaysen: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk?
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regierung halte er das Treffen in Bonn für eine "Ausgangsbasis für weitere sachbezogene Zusammenarbeit auf vielen Gebieten: Es hat Weichen gestellt für den Weg zum Deutschland einig Vaterland."54 Nachdem der DDR-Staatsrat am 8. Februar die Wahl zur Volkskammer ausgeschrieben hatte, verabschiedete sie am 20. Februar die für die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März erforderlichen Verfassungsänderungen, das Wahlgesetz, die Wahlordnung sowie das Parteien- und Vereinigungsgesetz.55 In den Wochen zwischen dem 10. Februar, als Bundeskanzler Kohl verkünden konnte, Gorbatschow habe den Weg zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands frei gemacht, und der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR am 18. März sollte sich immer deutlicher zeigen, daß sich der Kreml genötigt sah, die DDR als einen der wichtigsten politischen Verbündeten im Warschauer Pakt-Bereich allmählich abzuschreiben. Dazu trugen auch und gerade die Art des Wahlkampfes in der DDR und die massive Unterstützung bundesdeutscher Parteien bei. Erinnert sei daran, daß der Kreml-Chef noch am 7. Oktober 1989 bei seinem Treffen mit Honecker in Ost-Berlin die DDR als einen "strategischen Verbündeten und Partner" für die UdSSR bezeichnet hatte.56 Die Formel, die DDR sei ein "strategischer Verbündeter der UdSSR", verwandten führende sowjetische Politiker noch bis Anfang Februar 1990. So berief sich der sowjetische Außenminister Schewardnadse in seiner Rede vor dem Politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments am 19. Dezember 1989 auf die Ausführungen Gorbatschows auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU vom 9. Dezember 1989. Gorbatschow hatte dort erklärt: "Wir unterstreichen mit aller Entschiedenheit, daß wir die DDR nicht zu Schaden kommen lassen. Sie ist unser strategischer Bündnispartner und ein Mitglied des Warschauer Vertrags. Es ist notwendig, von den nach dem Krieg entstandenen Realitäten auszugehen - der Existenz zweier souveräner deutscher Staaten, die Mitglieder der UNO sind. Bei einer Abweichung hiervon droht eine Destabilisierung in Europa."57 Schewardnadse betonte in Brüssel, es sei charakteristisch, daß die europäischen Verbündeten der UdSSR "ihre Bündnisverpflichtungen gegenüber dem Warschauer Vertrag bestätigt haben. Unserer Ansicht nach ist dies eine Der Weg der DDR in die Demokratie. Opladen 1990. Im Anhang werden auch die "Mitflieder" und "Berater" am Zentralen Runden Tisch der DDR genannt (S. 203-209). 5 So die DDR-Nachrichtenagentur ADN vom 20. Februar 1990. Vgl. dazu auch die Dokumentation "DDR-Ministerpräsident Modrow in Bonn", in: Deutschland-Archiv, Jg. 23/1990, s. 474-480. 55 Vgl. dazu die "Chronik ...", a.a.O. (Anm. 15), S. 64-68.
56 Den Text verbreitete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS am 7. Oktober 1989; zit. in: BPA/Ostinforrnationen vom 9. Oktober 1989, S. 10. 57 So TASS; zit. bei BPA/Ostinforrnation vom 20. Dezember 1989, S. 11.
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wichtige Voraussetzung für die Bewahrung der Stabilität unter den heutigen Bedingungen. Es versteht sich, daß die Zeit Korrekturen am System der gegenseitigen Beziehungen innerhalb unserer Allianz erfordert. Die Modernisierung ihrer Struktur wird allein unseren gemeinsamen Interessen Nutzen bringen. Unserer Ansicht nach muß sich ihr Charakter selbst ändern, wobei die politischen Züge vor dem militärischen Inhalt die Oberhand gewinnen."58 Und Julij Kwizinski, Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland, meinte in einem Interview in der Zeitung der Deutschen Kommunistischen Partei "Unsere Zeit" vom 2. Februar 1990, die DDR "ist unser Verbündeter, ist unser strategischer Verbündeter, ist unser Freund. Sie können wir, sie dürfen wir nicht im Stich lassen. Die deutsche Zweistaatlichkeil hat sich herausgebildet im Lauf von Jahrzehnten, sie ist mit das tragende Element der jetzigen Situation in Europa. Und da würde ich sagen, daß man doch von dieser Interessenlage ausgehen muß. Die sehr stark vertretene These in der hiesigen Presse über das Selbstbestimmungsrecht hat natürlich ihre Daseinsberechtigung. Es gibt kein Prinzip des Völkerrechts, das allein für sich, sozusagen selbstherrlich, im luftleeren Raum steht. Jedes Prinzip ist in das System von anderen Prinzipien eingebettet." Kwizinski fügte hinzu, man müsse auch noch berücksichtigen, "daß es bestimmte Viermächterechte gibt aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Es gibt auch Dokumente, die bei der Aufnahme der DDR und der Bundesrepublik in die UNO hinterlegt wurden mit Einverständnis der beiden deutschen Staaten." Immerhin erkannte Kwizinski das Recht der DDR auf freie Wahl ihres Weges an, "aber diese Wahl soll erstens unverfälscht sein. Und zweitens soll sie sich im Rahmen der Gegebenheiten vollziehen, und die sind, wie ich sie beschrieben habe.'.s9 Auch zahlreiche andere Stellungnahmen prominenter sowjetischer Politiker dokumentierten das Dilemma der Moskauer Deutschland-Politik, seit Gorbatschow endgültig mit seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung vom 7. Dezember 1988 das Prinzip der freien Wahl für alle Völker anerkannt hat.60 So erklärte Außenminister Schewardnadse am 19. Dezember 1989 in Brüssel, selbstverständlich habe jeder deutsche Staat das Recht auf Selbstbestimmung: "Aber es kann nur im Kontext mit anderen Normen und Prinzipien des Völkerrechts angewendet werden, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Lage der beiden deutschen Staaten und ihrer Verantwor-
58 Zit. ebenda, S. 9.
59 Text in: Beilage zur Zeitschrift "Sowjetunion heute", Nr. 2, Februar 1990, S. 5. 60 Vgl. dazu J. Hacker: Michail Gorbatschow ..., a.a.O. (Anm. 5), S. 33-36.
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tung vor den Völkern ganz Europas und der Welt dafür, daß von deutschem Boden niemals wieder Gefahr eines Krieges ausgeht."61 Noch am 18. Januar 1990 bemerkte Außenminister Schewardnadse in einem Beitrag in der "lswestija", es bestehe "wohl kaum Zweifel daran, daß eine künstliche Beschleunigung des 'zwischendeutschen' Prozesses, seine Lostrennung von den Realitäten in Europa zu ernsten Mißhelligkeiten führen könne, die allen zum Schaden gereichen werden ... Zugleich aber werden die Stimmen jener immer lauter, die das Problem durch die Einverleibung der DDR, durch ihre mechanische Eingliederung in westliche Strukturen lösen möchten ... Nimmt man an, daß sich der militärpolitische Status der beiden deutschen Staaten mit der Zeit verändern wird, so ist das nur unter Berücksichtigung der Interessen der gesamtdeutschen Stabilität möglich. Das gleiche läßt sich auch hinsichtlich der Herabsetzung der Präsenz ausländischer Truppen auf dem Territorium der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sagen ..."62 Daher ist es auch verständlich- um es noch einmal zu wiederholen-, daß die sowjetische Führung die von Ministerpräsident Modrow am 1. Februar vorgetragene "Konzeption für 'Deutschland - einig Vaterland"' beifällig aufgenommen hat. In den Moskauer Kommentaren wurde nachdrücklich "die Wahrung der Interessen der vier Siegermächte, des Rechts aller Völker Europas auf Frieden, Souveränität und sichere Grenzen" betont. Die Sowjetunion wolle sich "natürlich ihrer Verantwortung für die Lösung der europäischen Probleme nicht entziehen. Gemeint ist die Verantwortung, die auf internationalen Abkommen autbaut und von der Rolle bestimmt wird, die die Siegerstaaten des Zweiten Weltkrieges spielen."63 Spätestens mit dem 10. Februar 1990 stand für Staats- und Parteichef Gorbatschow fest, daß die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands unumstößlich ist. Als er am 6. März DDR-Ministerpräsident Modrow mit einer Regierungsdelegation zu Gesprächen in Moskau empfing, erklärte Gorbatschow, wenn sich der Prozeß der deutschen Vereinigung in den europäischen Prozeß einordne und dadurch schließlich ein neues Europa mit neuen Beziehungen entstehe, werde das auf allen Seiten Verständnis finden. DDR-Regierungssprecher Meyer sagte in Moskau, zwischen Modrow und Gorbatschow habe Einigkeit darüber bestanden, daß die deutsche Einigung in Etappen erreicht werden müsse.64 61 Text, a.a.O. (Anm. 57). 62 Wiedergegeben in: Beilage zur Zeitschrift "Sowjetunion heute", Nr. 2, Februar 1990, S.III. 63 Vgl. beispielsweise "Radio Moskau"; zit. in: BPA/Ostinformationen vom 2. Februar 1990; Westliche Diplomaten beim DDR-Außenminister - Unterschiedliches Echo auf den Modrow-Plan, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 28 vom 4./ 5. Februar 1990. 64 Zit. in: Chronik ..., a.a.O. (Anm. 15), S. 72 f.
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Jens Hacker
Prüft man die sowjetischen Stellungnahmen zur "deutschen Frage" in den Tagen vor der Wahl zur Volkskammer am 18. März, dann fällt auf, daß sie sich davor hüteten, den Eindruck einer Einmischung hervorzurufen. Kennzeichnend war beispielsweise das Interview, das Gorbatschow am 6. März den Korrespondenten der ARD und des DDR-Fernsehens gegeben und in dem er ausgeführt hat: "Ich sehe, wie viele Besucher aus der Bundesrepublik kommen und wie sie sich in die Angelegenheiten der DDR einmischen. Als ob die DDR bereits kein souveräner Staat mehr wäre, als ob die DDR kein unabhängiger und allseits anerkannter Staat mehr wäre. Doch das sollten die Deutschen untereinander ausmachen."65 Auch in seiner Rede, die Gorbatschow nach seiner Wahl zum ersten Präsidenten der UdSSR am 15. März gehalten hat, äußerte er sich zur "deutschen Frage". In all unseren sechs Bündnisländern hätten Veränderungen von historischer Bedeutung stattgefunden: "Einen besonderen Platz nimmt die deutsche Frage ein ... Ihr Kern besteht darin, daß die Wahrnehmung des eigenen natürlichen Rechts auf die Einheit durch die Deutschen für immer die Gefahr bannen sollte, daß vom Territorium Deutschlands ein Krieg ausgeht. Daraus ergibt sich alles andere - sowohl die Rechte der vier Mächte als auch die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Verbindung zum gesamteuropäischen Prozeß, die Unannehmbarkeit der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands und die Notwen