Europa im Umbruch 1750–1850 [Reprint 2014 ed.] 9783486829464, 9783486561357

Die 25 Beiträge des Sammelbandes entstanden zum 70. Geburtstag des Historikers Eberhard Weis. In ihnen spiegeln sich jen

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German Pages 429 [432] Year 1995

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
EUROPA
Was ist Aufklärung? Betrachtungen zu einem ewig jungen Thema
Christ oder Bürger? Kirchenzugehörigkeit und Staatszugehörigkeit zwischen Ancien Régime und Restauration1
Stichwort „Europa" Enzyklopädien und Konversationslexika beschreiben den Kontinent (1700-1850)
Graf Rumford (1753-1814) zwischen Nordamerika, Großbritannien, Bayern und Frankreich. Einige Bemerkungen zu Biographie, Werk und Umfeld
Zwischen Ancien Régime, Revolution und Restauration. Pestalozzis politische Pädagogik in ihrer Zeit
Das griechische Königtum der Wittelsbacher im Rahmen der dynastischen Politik seiner Epoche. Familieninteresse und Staatsräson in den osmanischen Nachfolgestaaten
FRANKREICH UND ITALIEN
„Natur" und „Politik" Aufklärung und nationales Denken im italienischen Tirol 1750-1820
Die habsburgische Linie Österreich-Este 1771-1859
Von den Notabein von 1787/88 zu den Großnotabein des Bürgerkönigtums. Ein Beitrag zur Frage der Elitentransformation in Frankreich zwischen Ancien Régime und Julimonarchie
Adelbert von Chamisso et Louis de La Foye. Contribution à l'étude des relations intellectuelles franco-allemandes à l'époque napoléonienne
Der Kriegsgott selbst? Napoleon I. und seine Armee
DEUTSCHLAND
Der Dreißigjährige Krieg im deutschen Geschichtsbild vor Schiller
Konjunktur und Ende des süddeutschen „Klosterbarock". Umrisse eines wirtschafte- und geistesgeschichtlichen Forschungsproblems
Europäische Kultur im Fürstentum Anhalt- Dessau: Fürst Franz und die Wörlitzer Anlagen
Loyalitätskonflikte unter napoleonischer Herrschaft. Die Situation der Staatsdiener im Königreich Westfalen
Der Deutsche Bund als Institution und Epoche der deutschen Geschichte
Die bayerische Adelspolitik in der Verfassungsdiskussion des rheinischwestfälischen Adelskreises um den Freiherrn vom Stein
BAYERN
Prozesse zwischen Untertanen und ihren Herrschaften vor dem Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auseinandersetzungen um Fronen und Besitzwechselabgaben im Hochstift Würzburg
Die Lage des reichsstädtischen Handwerks im ausgehenden 18. Jahrhundert im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse
Die erste Säkularisationsmaßnahme der Regierung Montgelas. Die Aufhebung des Paulanerklosters in München 1799
Die Eingliederung Augsburgs in das Königreich Bayern unter König Max I. Joseph in der Sicht des Patriziats
Sieben Bilder aus der Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit. Eine Analyse bayerischer Schulgeschichtsbücher des 19. Jahrhunderts
Die Restauration der Frauenklöster unter König Ludwig I.
Bauherr - Architekt - Geldgeber. Anmerkungen zur Finanzierung des Archiv- und Bibliotheksgebäudes in München 1831-1840
Die protestantischen Abgeordneten im bayerischen Landtag 1837. Zur Genese konfessioneller Fraktionsbildung in Bayern
Mitarbeiter und Herausgeber
Recommend Papers

Europa im Umbruch 1750–1850 [Reprint 2014 ed.]
 9783486829464, 9783486561357

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Europa im Umbruch 1750-1850

Europa im Umbruch 1750-1850 Herausgegeben von Dieter Albrecht, Karl Otmar Freiherr von Aretin und Winfried Schulze

R. Oldenbourg Verlag München 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europa im Umbruch 1750 -1850 / hrsg. von Dieter Albrecht - München : Oldenbourg, 1995 ISBN 3-486-56135-9 NE: Albrecht, Dieter [Hrsg.]

© 1995 R.Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, Kirchheim ISBN 3-486-56135-9

Inhalt

Vorwort

IX

EUROPA Andreas Kraus Was ist Aufklärung? Betrachtungen zu einem ewig jungen Thema

1

Paolo Prodi Christ oder Bürger? Kirchenzugehörigkeit und Staatszugehörigkeit zwischen Ancien Régime, Revolution und Restauration

17

Ina Ulrike Paul Stichwort „Europa". Enzyklopädien und Konversationslexika beschreiben den Kontinent (1700-1850)

29

Ludwig Hammermayer Graf Rumford (1753-1814) zwischen Nordamerika, Großbritannien, Bayern und Frankreich. Einige Bemerkungen zu Biographie, Werk und Umfeld

51

Peter Stadler Zwischen Ancien Régime, Revolution und Restauration. Pestalozzis politische Pädagogik in ihrer Zeit

71

Heinz Gollwitzer Das griechische Königtum der Wittelsbacher im Rahmen der dynastischen Politik seiner Epoche. Familieninteresse und Staatsräson in den osmanischen Nachfolgestaaten

85

FRANKREICH UND ITALIEN Reinhard Stauber „Natur" und „Politik". Aufklärung und nationales Denken im italienischen Tirol 1750-1820

103

VI

Inhalt

Sylvia Krauß Die habsburgische Linie Österreich-Este 1771-1859

125

Walter Demel Von den Notabein von 1787/88 zu den Großnotabein des Bürgerkönigtums. Ein Beitrag zur Frage der Elitentransformation in Frankreich zwischen Ancien Régime und Julimonarchie

137

Roger Dufraisse Adelbert von Chamisso et Louis de La Foye: contribution à l'étude des relations intellectuelles franco-allemandes à l'époque napoléonienne

155

Hans Schmidt Der Kriegsgott selbst? Napoleon I. und seine Armee

167

DEUTSCHLAND Konrad Repgen Der Dreißigjährige Krieg im deutschen Geschichtsbild vor Schiller

187

Bernd Roeck Konjunktur und Ende des süddeutschen „Klosterbarock". Umrisse eines wirtschafts- und geistesgeschichtlichen Forschungsproblems

213

Horst Möller Europäische Kultur im Fürstentum Anhalt-Dessau: Fürst Franz und die Wörlitzer Anlagen

229

Helmut Berding Loyalitätskonflikte unter napoleonischer Herrschaft. Die Situation der Staatsdiener im Königreich Westfalen

241

Lothar Gall Der Deutsche Bund als Institution und Epoche der deutschen Geschichte

. . 257

Elisabeth Fehrenbach Die bayerische Adelspolitik in der Verfassungsdiskussion des rheinischwestfälischen Adelskreises um den Freiherm vom Stein

267

Inhalt

VII

BAYERN Maria Schimke und Manfred Hömer Prozesse zwischen Untertanen und ihren Herrschaften vor dem Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auseinandersetzungen um Fronen und Besitzwechselabgaben im Hochstift Würzburg . . 279 Margit Ksoll-Marcon Die Lage des reichsstädtischen Handwerks im ausgehenden 18. Jahrhundert im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse

305

Cornelia Jahn Die erste Säkularisationsmaßnahme der Regierung Montgelas. Die Aufhebung des Paulanerklosters in München 1799

319

Wolfgang Zorn Die Eingliederung Augsburgs in das Königreich Bayern unter König Max I. Joseph in der Sicht des Patriziats

335

Uwe Puschner Sieben Bilder aus der Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit. Eine Analyse bayerischer Schulgeschichtsbücher des 19. Jahrhunderts . . . .

353

Sabine Arndt-Baerend Die Restauration der Frauenklöster unter König Ludwig 1

371

Wilhelm Volkert Bauherr - Architekt - Geldgeber. Anmerkungen zur Finanzierung des Archiv- und Bibliotheksgebäudes in München 1831-1840

381

Wilhelm Füßl Die protestantischen Abgeordneten im bayerischen Landtag 1837. Zur Genese konfessioneller Fraktionsbildung in Bayern

405

Mitarbeiter und Herausgeber

421

Vorwort Es ist kein Zufall, daß dieser Band zum 70. Geburtstag von Eberhard Weis erscheint. Seinem Wunsch entsprechend handelt es sich nicht um eine Festschrift im eigentlichen Sinn, sondern um den Versuch seiner Schüler, Freunde und Kollegen, sich mit jener Epoche auseinanderzusetzen, die den Schwerpunkt seiner Arbeiten bildet. Es schien uns reizvoll, die Forschungsinteressen von Eberhard Weis zum zentralen Anknüpfungspunkt zu machen. So haben die Herausgeber den umgekehrten Weg eingeschlagen, der sonst bei Festschriften üblich ist. Am Anfang stand das Thema, und danach wurden diejenigen Schüler, Kollegen und Freunde aufgefordert, einen Beitrag zu leisten, von denen angenommen wurde, daß sie zu diesem Thema Neues beisteuern könnten. Der vorliegende Band wurde unter das Thema „Europa im Umbruch 1750-1850" gestellt. So wurde einerseits dem Wunsch des zu Ehrenden Rechnung getragen, andererseits erwies sich diese Lösung als praktikabler Mittelweg. Bei den vielen Ämtern, die Eberhard Weis in Deutschland, Frankreich und Italien in seinem Leben innehatte, und bei den vielen Freunden und Verehrern, die er in seinem Leben gewann, wäre eine Festschrift Weis sicher nur in mehreren Bänden möglich gewesen. Daß der vorliegende, thematisch ausgerichtete Band das Interesse derjenigen finden wird, die über die Umbruchszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert geforscht haben und forschen werden, erhoffen sich Herausgeber und Verlag gleichermaßen. Von daher erbitten die Herausgeber das Verständnis aller deijenigen, die sich an einer Festschrift im üblichen Sinn gerne beteiligt hätten und nur aufgrund des eng begrenzten Themas nicht um einen Beitrag gebeten werden konnten. Die Idee, Eberhard Weis zu seinem 70. Geburtstag auf die vorliegende Weise zu ehren, ging von einem engeren Kreis seiner Schülerinnen und Schüler aus. Winfried Schulze als sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München übernahm die technischen Vorbereitungen, wobei ihn seine Mitarbeiter Reinhard Stauber, Claudia Brosseder und Thomas Ott bei der redaktionellen Vorarbeit und der Bearbeitung der eingehenden Manuskripte unterstützten. Dieter Albrecht schloß sich als Sekretär der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften dem Herausgebergremium an. Karl Otmar von Aretin war von den Schülern von Herrn Weis dazu

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Vorwort

ausersehen, als Freund und Studienkollege allfällige Unmutsäußerungen des Geehrten über das Erscheinen eines Geburtstagsbandes zu dämpfen. In Kenntnis des ironischen Charakters des Jubilars hat er das Risiko leichten Herzens auf sich genommen. Ihm oblag es auch, die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen, wobei ihn der Geschäftsführer der Historischen Kommission, Georg Kalmer, tatkräftigst unterstützte. Ulrich Wengenroth übernahm es, die druckfähige Vorlage herzustellen, was die Drucklegung erheblich erleichterte. Ihm und Christian Kreuzer vom OldenbourgVerlag sei dafür herzlichst gedankt. Die notwendigen Geldmittel stellten der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und das Deutsche Historische Institut in Paris zur Verfügung, dessen wissenschaftlicher Beirat durch Jahre von Herrn Weis geleitet wurde. Einen weiteren Beitrag leistete das Institut für Europäische Geschichte in Mainz, dessen erster Stipendiat Herr Weis war und in dessen Reihe seine Dissertation erschien. Dem Stifterverband und den Direktoren des Pariser Instituts und des Mainzer Instituts, den Herren Paravicini und Duchhardt, dürfen die Herausgeber für dieses Entgegenkommen herzlich danken. Zu danken ist schließlich den Damen und Herren, die Beiträge geliefert, sich an die Vorgaben gehalten und mit ihren Forschungen die Geschichte dieser Epoche beleuchtet haben. Das Gelingen dieses Vorhabens ist ihr Verdienst. München, im April 1995

Die Herausgeber

Andreas Kraus Was ist Aufklärung? Betrachtungen zu einem ewig jungen Thema

Selten läßt sich das Selbstverständnis einer historischen Epoche mit so zahlreichen Zeugnissen hervorragender Zeitgenossen belegen wie jenes der Aufklärung. Trotzdem ist kaum eine Definition so umstritten wie jene des Begriffs „Aufklärung"; dabei ist man sich weitgehend darüber einig, daß vom Bewußtsein der Epoche selbst auszugehen der sicherste Weg zu einer befriedigenden Lösung ist. Dabei wäre wohl am zweckmäßigsten zuerst die französische Enzyklopädie zu befragen, die Bibel der Aufklärung. Eberhard Weis hat einen wichtigen Teilbereich analysiert, die Geschichtsauffassung der Enzyklopädisten; in „Wesen, Aufgabe und Bedeutung der Enzyklopädie" führt er dabei mit den Worten ihres Herausgebers, Denis Diderot, ein: „Das Ziel einer Enzyklopädie ist in der Tat, die über die Erde verstreuten Kenntnisse zu sammeln, ihr allgemeines System den Menschen, mit denen wir leben, klarzulegen und es an diejenigen zu überliefern, welche nach uns kommen; damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die Zukunft gewesen sei, damit unsere Enkel, wenn sie besser unterrichtet werden, gleichzeitig tugendhafter und glücklicher werden mögen, damit wir schließlich nicht sterben, ohne uns um das Menschengeschlecht Verdienste erworben zu haben."1 Ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird, läßt sich dieser Satz als allgemeine Définition dessen verstehen, was „Aufklärung" meint. D'Alembert äußert sich nicht wesentlich anders, nur unter stärkerer Konzentration der Aussage auf das von ihm intendierte universelle System aller Wissenschaften. Wissenschaftliche Bildung sei die Methode, Tugend und Glück das Ziel der Aufklärung, so um 1750, im Mutterland der Aufklärung, zwei der maßgebenden Protagonisten.

' Eberhard WEIS, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Bd. 14.) Wiesbaden 1956, 3; Zur Auffassung d'Alemberts s. ebd., 2.

2

Andreas Kraus

In Deutschland dagegen wird ausgerechnet die Definition jenes Philosophen, der gemeinhin als der Überwinder der Aufklärung gilt, der auf jeden Fall das meiste dazu beigetragen hat, der Aufklärungsbewegung gerade das zu nehmen, was ihren Elan ausmacht, nämlich das unbegrenzte Vertrauen in die menschliche Vernunft, zum weithin maßgebenden Dogma. Ob Kant das nun wollte oder nicht - seine Auffassung ist von geradezu hypnotischem Einfluß bis zur Gegenwart. Näher ins Auge fassen möchte ich aber nur einige höchst einseitige Folgerungen aus Kant, die sich gerade in den letzten Jahrzehnten häufen. Zunächst sei die Antwort Kants von 1783 auf die Frage der „Berlinischen Monatsschrift": „Was ist Aufklärung?"2, zitiert. Kant sagt hier: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere audel Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." (Was ist Aufklärung?, 452) Diese Definition von Kant von 1783 steht zwar am Ausgang der gesamten Bewegung, trotzdem handelt es sich um eine Selbstaussage der Epoche mit allem Gewicht, das einer solchen zukommt. Für Kant ist also die Unmündigkeit des Menschen der Ansatzpunkt, das Ergebnis der Aufklärung ist die Mündigkeit oder die Autonomie, die Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen. Damit ist die Aufklärung, nämlich der Ausgang aus dieser Unmündigkeit, ein Befreiungsvorgang, ist Emanzipation von jenen Hindernissen, welche der Autonomie entgegenstehen. Diese Hindernisse sind bei Kant zwar einerseits moralischer Art, insofern er feststellt, daß es den Menschen an Mut fehlt, sich ihres Verstandes zu bedienen, sie sind aber andererseits auch gesellschaftlicher Art, insofern er im Fortgang der Erörterung behauptet, daß es genüge, die notwendigen Freiheitsrechte einzuräumen, Freiheit der Meinungsäußerung in Staat und Gesellschaft, Freiheit der Religion, um der Gesellschaft jenen Raum zu lassen, der hinreicht, daß jene dann von sich aus die Aufklärung zu Ende führt. In diesem ersten Teil seiner Definition hat also Kant nur den Vorgang an sich definiert, und nicht die Aufklärung inhaltlich bestimmt. Diese inhaltliche Bestimmung erfolgt nach langen Erörterungen über Möglichkeiten und Grenzen freier

2 Norbert HINSKE (Hrsg.), Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. 2. Aufl. Darmstadt 1977. Zitiert wird nach der 1. Aufl. Darmstadt 1973,452-467. Zur Interpretation s. ebd., XLVI ff.; Horst MÖLLER, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1986, 11 ff. u. 5.; Werner SCHNEIDERS, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. München 1974, 52-62 u. ö.

Was ist Aufklämng?

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Meinungsäußerung in Staat und Gesellschaft; abschließend stellt er fest: Noch sei das Zeitalter nicht aufgeklärt, es sei erst ein Zeitalter der Aufklärung, ein Zeitalter also, in dem der Vorgang begonnen habe. Diese Formulierung wird ergänzt durch die abschließende Kennzeichnung des ganzen Jahrhunderts als das Jahrhundert Friedrichs, des preußischen Königs, das Jahrhundert der Toleranz (462). Damit ist die Aufklärung auch inhaltlich bestimmt, sie ist ein Emanzipationsvorgang, der sich auf die Religion erstreckt und zum Ziel die Beurteilung der sich darauf beziehenden Kriterien ohne Druck von außen hat. Das Ergebnis müsse dann notwendig die religiöse Toleranz sein. Nun hat allerdings Kant, was in der Regel übersehen wird, zum Schluß seiner Abhandlung noch eine Einschränkung seiner eigenen These vorgenommen: „Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausganges der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist." (463) Es sind demnach äußere Gesichtspunkte für diese enge inhaltliche Bestimmung maßgebend gewesen. Kant schließt Wissenschaft, Künste, und in einem weiteren Nebensatz auch Gesetzgebung in den gesamten Umkreis der Themen ein, welche zur inhaltlichen Bestimmung der Aufklärung unerläßlich sind. Nicht einmal die Reihenfolge der Themen ist durch innere Kriterien festgelegt, wie denn die gesamte Abhandlung durch die Fragestellung bestimmt ist, die meist zur Interpretation dieser Definition von Kant überhaupt nicht beigezogen wird. In der Berlinischen Monatsschrift, dem Organ der Mittwochsgesellschaft - oder, wie sie sich auch nannte, von Freunden der Aufklärung - hatte Johann Friedrich Zöllner, damals Prediger an der Charité und Diakon an der Marienkirche, der Verfasser eines Buches über Nationalerziehung, einen Aufsatz veröffentlicht mit der Frage: „Ist es rathsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sancieren?" In diesem Zusammenhang hatte er die Frage nach der Aufklärung gestellt3, sie stand also von Anfang an in dieser engen Verbindung zur Religion und ihrer Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft, dem Hauptthema auch der Definition von Kant. Dieser hat also nicht eine allgemeine Definition der Aufklärung beabsichtigt, sondern eine spezielle, zugeschnitten auf die vorausgehende Diskussion. Wir haben also durchaus das Recht, weiterzufragen. Weitere Kronzeugen, an welche die gleiche Frage gerichtet werden kann, die Kant beantwortet hat, gibt es in Fülle.4 Die

3

HINSKE, Aulklärung (wie Anm. 2), XL f. SCHNEIDERS, Selbstverständnis (wie Anm. 2), bietet zahlreiche Beispiele, die leicht vermehrt werden könnten. Vgl. auch Horst STUKE, Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner/Wemer 4

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Andreas Kraus

direkte Gegenposition etwa bezeichnet Moses Mendelssohn, dessen Antwort auch stets besonders gewürdigt wurde.5 Obwohl also die Stellungnahme Kants keinesfalls als unumstritten unter den Zeitgenossen gelten kann, nimmt sie bis heute eine ganze Reihe von Historikern und Philosophen ausschließlich gewissermaßen als Richtmaß für die Beurteilung der gesamten Aufklärungsbewegung. Das rührt zweifellos nicht so sehr vom Inhalt der Begriffsbestimmung bei Kant her als von ihrer Form. Sie umfaßt - aufs Ganze gesehen - ebenfalls all jene Teile, die Diderot oder Mendelssohn für wichtig hielten, allerdings bemüht sich Kant um scharfe Schwerpunktbildung, damit verschieben sich die Akzente. Vor allem ist es der Charakter der Definition, der Zeitgenossen und Nachwelt fasziniert hat. Es handelt sich um keine akademische Reihung von Distinktionen, sondern um einen sittlichen Imperativ. Aufklärung ist Selbstaufklärung, ist letzten Endes Selbsterlösung. Deshalb ist schon immer der Aspekt der „Religionssachen" als der wichtigste betrachtet worden, doch kaum geringere Beachtung fand die Charakterisierung der Aufklärung bei Kant als Emanzipationsvorgang, und ein dritter, bislang wenig in die Diskussion aufgenommener Aspekt tritt neuerdings stark in den Vordergrund, die Auffassung von „Aufklärung" bei Kant als immerwährender, nie abgeschlossener Prozeß der Vervollkommnung der Menschheit als Gattung. Daß vielfach jeweils einer dieser Aspekte absolut gesetzt, von den übrigen isoliert und als das eigentliche Wesen der „Aufklärung" angegeben wird, kann sicherlich nicht Kant angelastet werden, obgleich der kategorische Ton in der Aussage Kants durchaus zu solcher Einseitigkeit der Betrachtung verführen kann.

1.

Begonnen sei mit Werken, in denen die dogmatische Fixierung allein auf „Religionssachen" zur völligen Verzerrung der Sicht auf das Gesamtphänomen geführt hat. Das ist der Hauptvorwurf, den man gegen Charles Becker erheben kann, dessen Conze/Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972, 243-342. 5 HINSKE, Aufklärung (wie Anm. 2), 444-451. Vgl. dazu die Inteipretation von Peter PÜTZ, Die deutsche Aufklärung. Darmstadt 1979, 35. Hier wird allerdings die „Bestimmung des Menschen" durch ein peinliches Mißverstlndnis des Naturbegriffs bei Christian Wolff völlig falsch gedeutet. Pütz zitiert Wolff: „Die Beobachtung des Gesetzes der Natur ist es, so den Menschen glücklich machet. " Im Fortgang ist bei Pütz die Rede von der „Aneignung der Naturgesetze". Wolff meint aber - wie schon die antiken Philosophen - hier das „Wesen und die Natur des Menschen", so wie es formuliert wird bei Hanns-Martin BACHMANN, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, in: Christian Wolff 1679-1754. Hrsg. v. Werner Schneiders. 2. Aufl. Hamburg 1986, 161-171, hier 161. Vgl. auch Anton BISSINGER, Zur metaphysischen Begründung der Wolffschen Ethik, in: ebd., 148-161, hier 151 f . ; v g l . a u c h SCHNEIDERS, S e l b s t v e r s t i n d n i s ( w i e A n m . 2 ) , 4 3 - 5 1 .

Was ist Aufklärung?

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Buch „The Heavenly City of the 18th Century Philosophers" (deutsch: „Die himmlische Stadt der Philosophen des 18. Jahrhunderts") von 1932 außerordentliches Aufsehen erregte. Die Grundthese bei Becker, so kann man zusammenfassen, lautet, daß die Weltanschauung der Aufklärung eben keine Philosophie war, sondern ein Glaube, der im großen und ganzen dadurch entstand, daß die christliche Religion säkularisiert wurde, d. h. daß diese himmlische Stadt, das himmlische Jerusalem der Bibel oder die Civitas Dei Augustins, herabgeholt wird auf diese Welt. Während im Christentum alle Lebensäußerungen durch eine strenge Disziplin auf das jenseitige Glück hingeordnet sind, verlangen die Philosophen der Aufklärung die gleiche Disziplin, um das diesseitige Glück zu erreichen, das sie aber auch nicht anders als metaphysisch begründen können. Beckers Hauptvorwurf besteht darin, daß er sagt, diese Philosophen hätten sich nur halb befreit. Statt Gott setzen sie jetzt Gottheit oder Vorsehung, statt Schöpfer gebrauchen sie die Formel vom Urheber der Weltmechanik. Sie lehnen den Himmel ab, aber glauben an die Unsterblichkeit der Seele, und das Paradies, ohne das sie nicht auskommen können, verlegen sie auf diese Welt. Sie benutzen alle Mythen, von der antiken Sage vom Goldenen Zeitalter bis zu ägyptischen, indischen und chinesischen Vorstellungen. Sie lehnen die Autorität von Kirche und Bibel ab, doch ihr eigener naiver Glaube an die Autorität von Natur und Vernunft entbehrt ebenfalls aller wissenschaftlichen Voraussetzungen. Und der Ablehnung von Aberglauben und Wunder korrespondiert der durch nichts bewiesene Glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Rasse. Diese These Beckers wurde aufs schärfste von Peter Gay angegriffen, zu Recht, wenn man davon ausgeht, daß alle Lebensäußerungen der Epoche für ihr Bild beizuziehen gewesen wären, alle Strömungen auch, die in der großen Aufklärungsbewegung zusammenfließen. Das ist zwar kaum möglich oder doch sehr schwierig, immerhin bleibt es problematisch, an einem einzigen Komplex die gesamte Epoche zu messen. Gay macht das allerdings ebenfalls, in seinem Buch von 1967 „The Enlightenment. An Interpretation. The Rise of Modern Paganism". Er versuchte ebenfalls eine Gesamtdarstellung unter einem einzigen großen Thema. Seine These versteht sich als Gegenbeweis gegen Becker, der das Zeitalter der Vernunft als ein Zeitalter des Glaubens bezeichnet hatte. Gay versucht zu beweisen, daß zwar dieses Zeitalter in Wirklichkeit kein Zeitalter der Vernunft war, aber auch nicht ein solches des Glaubens, sondern durch und durch ungläubiger Natur. Der Unglaube also, oder paganism, wie Gay sagt, ist das eigentliche Kennzeichen der Epoche. Die von Gay angewandte Methode ist allerdings nicht verschieden von jener Beckers. Auch er läßt alles beiseite, was in sein Schema nicht paßt, oder er eliminiert einfach jene Erscheinungen, deren Umrisse sein Bild sprengen könnten.

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Andreas Kraus

In ähnlicher Problemstellung wie Becker, wenngleich mit wesentlich größerer Sympathie für die Epoche, behandelt Charles Frankel die Aufklärung in seinem Buch „The Faith of Reason. The Idea of Progress in the French Enlightenment" von 1948. Er arbeitet also wie Becker die religiöse Grundlage der Aufklärung heraus, den Willen zum diesseitigen Glück, wobei die Ewigkeit durch die Idee des Fortschritts in das Diesseits verlegt wird. Methodisch gesehen ist das Werk ebenfalls eine Aneinanderfügung von disparaten Gedankenketten, ähnlich auch wie das Buch von Lester Crocker „An Age of Crisis. Man and World in the Eighteenth Century French Thought" (1959). Während Frankel, vor allem in seinem Buch „The Case for Modern Man" (1955), feststellt, daß die Misere der Gegenwart daher rühre, daß die Menschheit die Ideale der Aufklärung verraten habe, behauptet Crocker im Gegenteil, die unheilvollsten Erscheinungen der Gegenwart hätten ihre Wurzeln im relativierenden Denken der Aufklärung. Die Zerstörung der mittelalterlichen Synthese habe, wie Crocker betont, zu keiner neuen Synthese geführt, die noch einmal die Welt zusammenhalten könne. Vor allem bedauert er, daß durch die restlose Säkularisierung der Welt in ethischen Fragen nur noch die politischen Mächte entscheiden. Wie man auch zu diesen Thesen von Crocker stehen mag, Thesen, die natürlich mit den Methoden des Historikers nicht zu beweisen sind, das Zeitalter selbst, das zu beschreiben er im Titel seines Buches vorgibt, mit seiner Vielfalt von Strömungen und Ideen, kommt bei ihm nur in einem einzigen Ausschnitt zu Wort.

II. Ohne daß sich die Autoren jeweils ausdrücklich auf Kant berufen hätten, darf man doch dessen Grundaxiom für die einseitig religionskritische Behandlung des Themas Aufklärung verantwortlich machen. Gegen eine solche Verengung der Sicht regt sich neuerdings verstärkt Kritik; zu nennen wären die Einwände bei Möller, Schneiders, auch bei Pütz; besonders nachdrücklich meldet sich die Lexikographie zu Wort. 6 In diesen kritischen Zusammenhang könnte man auch jene Richtung einordnen, die in der Aufklärung primär eine bürgerliche Emanzipationsbewegung sieht, wäre sie nicht selbst so sehr der kritischen Neuorientierung bedürftig. Bei Reinhart Kosel-

6 SCHNEIDERS, Selbstverständnis (wie Anm. 2), 1 1 - 2 5 ; MÖLLER, Vernunft (wie Anm. 2), 36 ff. S. vor allem die Untersuchung von Ulrich RICKEN, Begriffe und Konzepte für Aufklärung. Zur Problematik einer Begriffsgeschichte als vergleichende Lexikologie der Aufklärung, in: Europäische Aufkläning(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hrsg. v. Siegfried Jüttner/Jochen Schlebach. Hamburg 1992, 9 5 - 1 0 5 .

Was ist Aufklärung?

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lecks Studie „Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt" (1959) wird die Politisierung des Bürgertums, seine Emanzipation vom Absolutismus geradezu als identisch mit dem Wesen der Aufklärung betrachtet. Seine These und jene von Jürgen Habermas („Strukturwandel der Öffentlichkeit", 1962, 5. Aufl. 1971) wird bei ihren Nachbetern geradezu wie ein feststehendes Thema behandelt, mit dessen Hilfe erst die Wirklichkeit erklärt werden kann.7 Auch an dieser Auffassung von Aufklärung ist Kant nicht gänzlich schuldlos. Zwar wird dabei sein Grundanliegen gröblich verkannt; Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist ganz allein Sache des Individuums, während Politik gemeinschaftliches Handeln voraussetzt. Der damit gemeinte Emanzipationsvorgang ist ein rein moralisch-intellektueller; die politische Freiheit, die Kant in diesem Zusammenhang anspricht, erscheint im Hauptteil der Abhandlung nicht als wesentlich verbunden mit diesem Emanzipationsvorgang oder als sein Ergebnis, sondern als seine Voraussetzung.8 Kant hat dabei zweifellos jene Freiheit im Auge, die Thomasius, Leibniz oder Wolff genossen und die er selbst hatte, im „Zeitalter Friederichs", dem „Zeitalter der Aufklärung". Von politischer Freiheit kann unter Friedrich II. aber wohl kaum die Rede sein. Kant spricht in diesem Zusammenhang durchaus dem bürgerlichen Gehorsam das Wort und verweist auf die Zwangsmittel der Staatsgewalt (456 ff.). Selbst die Freiheit der Kritik, die Freiheit zu räsonnieren, sieht Kant ohne Widerspruch erheblich eingeschränkt (464). Seine heftige Anklage, es heiße „die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten" (461), richtet sich gegen jene, „die für sich oder für die Nachkommenschaft auf Aufklärung verzichten" - wieder ist nur das Individuum angesprochen und die Freiheit des Selbstdenkens gemeint. Hindernisse für die Freiheit sieht Kant freilich sehr wohl, vor allem in der Haltung der „Vormünder", und er fordert ihre Beseitigung (459 f.). Der Zusammenhang zwischen Freiheit des Selbstdenkens und politischer Bevormundung wird außerdem nicht nur negativ angesprochen, sondern auch als positive Wirkung gesehen: Der Fürst, der „selbst aufgeklärt" ist, wird zur Ursache für den sich ständig ausbreitenden „Geist der Freiheit", wobei Freiheit des Denkens notwendig auch zur Freiheit im Handeln führt (462 ff.). Damit wird die Unmündigkeit also

7 Vgl. dazu sowie zu anderen Einwänden in Beiträgen dieses Bandes Andreas KRAUS, Geschichte der Aufklärung. Aktuelles politisches Interesse oder historiographische Sachlichkeit?, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 57, 1994, 69-117, hier 81, 83, 85, 92, 103-106 u. ö.; MÖLLER, Vernunft (wie Anm. 2), 32 f., 281 if. 8 Dazu Kant: „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen." Zit. nach HINSKE, Aufklärung (wie Anm. 2), 455. Vgl. auch ebd., 454, 463.

Andreas Kraus

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nicht nur durch Selbstdenken, sondern auch durch die Vormünder aufgehoben. Noch nachdrücklicher wird der Zusammenhang zwischen Aufklärung und bürgerlicher Freiheit in Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) herausgestellt. Das Ziel der Geschichte ist für Kant die Vervollkommnung des Menschengeschlechts in ständigem Fortschreiten in Moralität und Legalität, das Werkzeug ist also Aufklärung, das Ergebnis die ideale Staatsverfassung, in welcher der Bürger vollkommene Freiheit erlangt, eingeschränkt nur durch die Gesetze, die dazu bestimmt sind, den Bürger vor Fremdbestimmung zu schützen.9 Schneiders urteilt im Hinblick auf Kants Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?" behutsam: „Die geistige Mündigkeit ist nicht ohne Tendenz zur politischen Mündigkeit"10, schränkt aber die Wirkung des befreiten Denkens auf die politische Wirklichkeit bei Kant erheblich ein. Die Identifikation von Aufklärung und Emanzipation ist aber eine so starke ideologische Verführung, daß ihr bisweilen selbst dort noch nachgegeben wird, wo das nur möglich ist durch die Umkehrung der gesamten Wirkung: Aufklärung nicht an sich bereits Emanzipation, sondern Befreiung des Bürgertums notwendige Folge der Aufklärung, damit doch wieder Aufklärung identisch mit Emanzipation." Hauptvertreter dieser Auffassung ist Koselleck. Er zieht aus Kants Forderung nach Respektierung der kritischen Vernunft durch die „Vormünder" die Folgerung: „Endlich wurde ihre Zuständigkeit offen auf den Staat ausgedehnt".12 Das ist noch nicht die Behauptung der Identität von Aufklärung und bürgerlicher Freiheit, sondern vorerst nur die Feststellung eines Programmpunkts der Aufklärung. Daß es ihr einziger sei und daß er bereits den Herrschaftsanspruch der Kritik über den Staat bedeute, wird erst in anderen Zusammenhängen offenbar. Kosellecks Hauptthese ist die Genese der Aufklärung aus dem Absolutismus in einem dialektischen Prozeß, bei dem, wie es das dialektische Grundgesetz verlangt, die Gegensätze auseinander hervorgehen und in der Synthese das Neue schaffen. Da Aufklärung aus der Unfreiheit entsteht, muß sie also Freiheit schaffen, das ist ihr Wesen. Ihr Werkzeug ist die Moral; damit ist diese die absolute Gefährdung des

9 Vgl. Carlo ANTONI, Der Kampf wider die Vernunft. Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Freiheitsgedankens. Stuttgart 1951, 312-325. 10

11

SCHNEIDERS, Selbstverständnis ( w i e A n m . 2), 6 1 .

Beispiele s. Anm. 7. Reinhart KOSELLECK, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1973. Zitiert wird nach der 2. Aufl. Freiburg/München 1969 (die 3. Aufl. ist in der Bayerischen Staatsbibliothek München nicht vorhanden). Die Feststellung Kants (Kritik der reinen Vernunft, 1781) zit. ebd., 101: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sie gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können. " 12

Was ist Aufklärung?

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absolutistischen Staates, dessen Wesen durch die Scheidung des Reichs der Moral und des Reichs der Politik bestimmt ist (Kritik und Krise, 84). Das Ergebnis ist die Okkupierung des Staates durch den privaten Bereich, den der Absolutismus notwendigerweise unberührt lassen mußte, das ist das Reich der Moral und des Gewissens, das Reich der Freiheit (81). Es ist in unserem Zusammenhang nicht möglich, das ganze System Kosellecks einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, nur Grundsätzliches kann noch angesprochen werden. Der schwerste Vorwurf betrifft die absolute Gleichsetzung von Kritik und Aufklärung, die Koselleck direkt von Kant übernimmt (101) und die er, unter Konstituierung eines Dualismus von Politik und Moral als notwendiges Ergebnis des Absolutismus, allein auf den politischen Sektor bezieht. Aufklärung wird dadurch, jedenfalls erweckt Koselleck diesen Eindruck, ausschließlich ein politisch determiniertes Phänomen; die politische Emanzipation bzw. die Übernahme des absolutistischen Staates durch die bürgerliche Kritik ist die einzige Tendenz bzw. die einzige Funktion von Aufklärung. Die logische Folgerung müßte also lauten, wo es keinen Absolutismus gibt, in der Schweiz, in England, gibt es auch keine Aufklärung. Damit ist die Methode Kosellecks angesprochen. Sie ist weder logisch noch historisch (insofern sich die These allein auf den französischen Absolutismus beschränkt), sie ist dialektisch.13 Diese Methode, mag sie auch gewisse Vorzüge haben, verführt zu gedanklichen Ungeheuerlichkeiten, sie ist imstande, aus bloßen Worten eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Wo dialektische Entgegensetzung möglich ist, nimmt Koselleck bereits nach dem dialektischen Grundgesetz der coincidentia oppositorum das gedankliche Ergebnis als Wirkliches, als Tatsache. Geheimnis und Aufklärung fallen so zusammen, allein diese dialektische Gleichsetzung, nicht die Erforschung der politischen Wirklichkeit, macht die Freimaurerei zur „spezifischen Antwort auf das System des Absolutismus", zur indirekten Gewalt im absolutistischen Staat.14 Angesichts der postulierten Trennung von Politik und Moral im Absolutismus - die auch in den meisten absolutistischen Staaten selbstverständliche Unterwerfung auch des Fürsten unter Recht und göttliches Gesetz bleibt unbeachtet - ist umgekehrt der Zusammenfall von Politik und Moral der Sieg der Aufklärung über den Staat. Dialektisch ist auch der unentwegt konstatierte Umschlag einer Qualität in die andere oder gar in ihr Gegenteil. So ist ζ. B. Kritik zunächst „Symptom der sich 13 KOSELLECK, Kritik und Krise (wie Anm. 12), 11: „Diese [ = Die Aufklärung] entwickelte sich aus dem Absolutismus heraus, zunächst als dessen innere Konsequenz, um dann als dialektischer Widerpart und Feind dem absolutistischen Staat seinen Untergang zu bereiten." 14 KOSELLECK, Kritik und Krise (wie Anm. 12), 41-89, wobei die Sonderrolle der Illuminaten (zu dieser s. ebd., 106) als für die Freimaurerei wesensgemäße behandelt wird; zit. ebd., 49 (dort weder Zahlen noch Fakten).

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verschärfenden Differenz zwischen Vernunft und Offenbarung" (89), dann „Tätigkeit, die beide Bereiche trennt" (99), oder sie produziert „ihre eigene Verblendung" (95), „scheinbar unpolitisch und überpolitisch, wird sie tatsächlich doch politisch", oder: „Die politische Kritik beruht auf dieser Scheidung und vollzieht sie zugleich" (85). Paradoxie ist nicht nur Stilmittel, sondern Erkenntnismittel.15 Erschreckend ist die generelle, bewußte Auslöschung des personalen Subjekts16; handelnd ist der Staat, die Aufklärung, „die absolutistische Politik", „das bürgerliche Denken", die „Anonymität" (5); auch „die bürgerliche Geschichtsphilosophie" vollzieht sich ohne Philosophen.17 Und nicht zuletzt: Wirklich ist, was gedacht werden kann, wirklich ist aber auch, was nicht gedacht wird.18 Das Ergebnis der Untersuchung läßt sich kurz zusammenfassen, ihre Absicht aber, da dialektisch verdeckt19, ist schwer zu ermitteln. Aus Koselleck läßt sich folgender Satz ableiten: Als Gegensatz zum Absolutismus ist politische Emanzipation identisch mit Aufklärung, die damit ebenfalls in Gegensatz zum Absolutismus steht bzw. sein Gegensatz ist. Damit ist politische Emanzipation das Wesen der Aufklärung, Aufklärung aber, da im dialektischen Prozeß notwendigerweise die Gegensätze ineinander umschlagen, okkupiert ihr Gegenteil, den absolutistischen Staat. Die nächste Konsequenz aber, da der dialektische Prozeß nie enden kann, ist der Umschlag der so erreichten nächsthöheren Stufe in ihren Gegensatz, so daß die Aufklärung sich schließlich selbst zerstört. Das ist die Konsequenz, die Horkheimer und Adorno auch ziehen. Die politische Absicht Kosellecks zielt auf diesen Schluß indessen nicht, sie läßt sich, dialektisch, nur dem Gegenteil des Geäußerten entnehmen. Die politische Struktur des absolutistischen Staates, so Koselleck in der Einleitung, und die

15 Beispiele ebd., 100: „Sich selbst überholend, überholen die Kritiker die Aufklärung selbst"; 123: „Unpolitisch zu sein ist das Politikum" der Aufklärung; 157: „Die politische Anonymität der Aufklärung erfüllt sich in der Herrschaft der Utopie. " 16 KOSELLECK, Kritik und Krise (wie Anm. 12), S: „Kein Zeugnis wird verwandt, um über den Autor persönlich eine Aussage zu machen"; jeder ist nur „stellvertretend". Besonders charakteristisch für den Verzicht „auf geistesgeschichtliche Ableitungen" der Satz ebd., 3: „Die Geschichtsphilosophien selber werden also - bis auf exemplarische Ausnahmen - ausgeklammert; dafür wird die Funktion untersucht, die das bürgerliche Denken und Trachten im Rahmen des absolutistischen Staates gehabt hat. " 17 Ebd., 2 f. : „das geschichtsphilosophische Bewußtsein wird, um seinen ursprünglichen Zusammenhang mit dem Beginn der politischen Krise aufzuhellen, aus der politischen Situation des Bürgertums innerhalb des absolutistischen Staates heraus verstanden." S. auch ebd., 6. - Vgl. auch oben, Anm. 16. 18 Besonders typisch ebd., 3: „Der Staat, wie er war, forderte eine Antwort heraus, wie sie dann gefunden wurde." - Zum Nicht-Bewußten s. ebd., 5: „Der kritische Prozeß der Aufklärung hat die Krise in gleichem Maße heraufbeschworen, wie ihr der politische Sinn dieser Krise verdeckt blieb." 19 KOSELLECK, Kritik und Krise (wie Anm. 12), 132 f.: „Die politische Entscheidung wird zum Entscheid eines moralischen Prozesses. Auch damit wurde die Krise moralisch verschärft, blieb aber als politische Krise verdeckt." S. auch Anm. 18.

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Entfaltung des Utopismus sind ein komplexer Vorgang, mit dem die politische Krise der Gegenwart anhebt (9). Von der Aufhebung dieser Krise spricht er nicht, auf sie aber kommt es ihm an. Der absolutistische Staat ist durch Kritik absorbiert (116), die Utopie, die im Versuch besteht, das Politische zu verdrängen (9), kommt ans Ziel - und schafft sich damit selbst ab, wenn es gelingt, den Staat durch Entfaltung der Moral abzuschaffen, das Ziel der Illuminaten (110). Die Genese der Utopie ist das Thema der ganzen Studie (3); daß diese vor dem Erreichen des letzten Ergebnisses endet, dieses also verdeckt bleibt, markiert damit nach dem Gesetz der Dialektik Kosellecks um so sicherer die wirkliche Absicht des Ganzen: den Staat abzuschaffen.

III.

Kritik an diesem Gedankengang, der weithin der Beziehung zur historischen Wirklichkeit, ebenso des Halts an den Quellen entbehrt, wurde in jüngster Zeit nicht nur von Historikern, sondern auch von Philologen vorgebracht, ζ. T. schonungslos, stets aber überzeugend.20 Während nun in diesem Fall die Geschichte, sofern sie sachkundig und sachlich beigezogen wird, der Ideologie im Grunde keinen Raum mehr läßt, wird es schwierig, wenn nicht unmöglich, Kant und allen, die ihm darin folgen, die Berechtigung ihres Glaubens an die Aufklärung als einen permanenten Prozeß (ohne absehbares Ende) zu widerlegen. Kant verneint bekanntlich die Frage, ob man bereits „in einem aufgeklärten Zeitalter" lebe, und bezeichnet seine Gegenwart nur als das „Zeitalter der Aufklärung", als eine Epoche, in welcher „die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung ... allmälig weniger werden" (Was ist Aufklärung?, 462). Dieser Prozeßcharakter der Aufklärung, der in eine ferne Zukunft weist, kommt noch deutlicher zum Ausdruck in seinem Aufsatz von 1784 in der Berlinischen Monatsschrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Das hier genannte Ziel der Geschichte, die Vervollkommnung des Menschengeschlechts, wird in unendliche Fernen gerückt, erreichbar nur in einem unendlichen Vorgang, in permanentem Antagonismus. Kant postuliert damit in der Tat einen unablässigen Fortgang eines solchen Prozesses. Rechtfertigt er damit auch jene, die den Prozeß der Aufklärung heute und für alle Zukunft fortgeführt sehen wollen?

20 S. die Beiträge von Martin FONTIUS (besonders scharfe Kritik an Koselleck und Habermas), Reinhard BRANDT, Karl Tilman WINKLER, Marcin CIENSKJ, Gert RÖBEL, Siegfried JÜTTNER und Hans-Otto KLEINMANN, in: Europäische Aufklärung(en), (wie Anm. 6). Inhalt und Kritik bei KRAUS, Geschichte (wie Anm. 7), 92, 98-101, 103 ff., 114.

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Kant nennt allerdings sein Zeitalter, seine Gegenwart nicht nur „ein" Zeitalter der Aufklärung, sondern auch „das Zeitalter der Aufklärung". Er hält damit fest, daß es sich dabei um eine historische Epoche handle; als solche besitzt sie notwendigerweise einen Anfang, und sie findet einst ihr Ende. Trotzdem, nicht zuletzt weil Kant selbst, nicht ohne inneren Widerspruch, Aufklärung und Fortschritt des Menschengeschlechts bis zur endgültigen Vollendung miteinander verbindet, hat er heute die am heftigsten agierende Gefolgschaft mit seiner Kennzeichnung der Aufklärung als eines immerwährenden Prozesses gefunden. Daß dabei der historische Begriff von Aufklärung geradezu vernichtet wird, wird man nicht bestreiten können; darauf einzugehen erscheint an dieser Stelle nicht nötig, es wurde oft genug gesagt.21 Interessant dürfte aber sein, zu verfolgen, was aus dem Begriff werden kann, wenn man ihm seinen historischen Charakter raubt - keine Perversion des Begriffs ist dann ausgeschlossen. Das läßt sich am eindrucksvollsten an den Reflexionen von Horkheimer und Adorno über „Die Dialektik der Aufklärung" (1947) zeigen, und zwar gerade deshalb, weil sich bei ihnen der Begriff in ständiger dialektischer Bewegung am weitesten, und am entschiedensten22, von Kant entfernt. Es geht bei dieser Untersuchung, das sei vorausgeschickt, nicht um Beckmessereien des Historikers; die Autoren wollen j a gerade keine historische Tatsachenfeststellung und beschäftigen sich nicht mit einem „bloß geistesgeschichtlichen Begriff", sondern verstehen ihn absolut real, der gegenwärtigen Wirklichkeit zugehörig (Dialektik der Aufklärung, 2 f.). Eine Auseinandersetzung in dieser Hinsicht ist also weder nötig noch sinnvoll. Unmittelbare Verknüpfung mit der Welt der Tatsachen ist nicht zwingend zu verlangen, wohl aber die Evidenz des Gedachten. Auch die philosophische Behandlung eines Themas muß der Kritik standhalten, auch einen Philosophen sollte man beim Wort nehmen dürfen. Das ist allerdings angesichts der sog. dialektischen Betrachtungsweise der - oder von - Aufklärung nicht immer leicht, muß man doch stets darauf gefaßt sein, daß der eben verwendete Begriff plötzlich „dialektisch" in sein Gegenteil umschlägt, Gegensätze stets ineinander übergehen

2 1 HINSKE, Aufklärung (wie Anm. 2), X I V spricht von „Blindheit der Autoren gegenüber allen Problemen der Begriffsgeschichte"', ebd., X I V f. sind weitere Einwände zu finden. Vgl. auch KRAUS,

Geschichte

(wie

Anm.

7),

115 ff.;

MÖLLER,

Vernunft

(wie

Anm.

2),

18;

SCHNEIDERS,

Selbstverstindnis (wie Anm. 2), 11, der allerdings auch ein Fortwirken der Aufklärung als „Hoffnung auf Vernunft" postuliert; vgl. hierzu ders., Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990 (s. dazu Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte SS, 1992, 757-759). 2 2 Theodor W . ADORNO/Max HORKHEIMER, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1971, 7 6 : Kant sei vorbereitend für „das Interesse der Industriegesellschaft" tätig gewesen, denn (ebd., 77): „Aufklärung aber ist die Philosophie, die Wahrheit mit wissenschaftlichem System gleichsetzt". Die Fortsetzung: „denn Wissenschaft ist technische Übung, von Reflexion auf ihr eigenes Ziel so weit entfernt wie andere Arbeitsarten unter dem Druck des Systems". Vgl. auch ebd., 1: Wissenschaft als „bloßes Mittel in den Diensten eines Bestehenden". Zur Wissenschaftskritik ebd., 2 , 27 f. u. ö.

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und neue Gegensätze erschaffen, neue Wirklichkeit also allein aus Worten. Paradoxic wird zur wissenschaftlichen Methode, Koselleck hat offenbar hier gelernt. Nicht einmal das steht fest, was Adorno und Horkheimer von jenem realen Phänomen, das sie Aufklärung nennen, eigentlich erwarten. Sie verbinden Aufklärung und Fortschritt ausschließlich mit der Forderung Francis Bacons nach Aneignung von Wissen mit dem Ziel der Herrschaft über die Natur und bekämpfen sie aufs heftigste (41 ff., 47 ff.), um so heftiger, als sie bis zur Stunde die lebendige Wirkung der Aufklärung konstatieren müssen, vor allem in der gegenwärtigen „Kulturindustrie".23 Sie ist also noch wirksam, wandelt sich „im Dienst der Gegenwart" „zum totalen Betrug der Massen um" (41). Gleichzeitig ist die Rede von „Selbstzerstörung der Aufklärung" (1), vor allem durch ihre „Verstrickung in blinder Herrschaft" (3,5). An gleicher Stelle nennen sie Kant, den Marquis de Sade und Nietzsche die „unerbittlichen Vollender der Aufklärung" - sie ist also zerstört, ist vollendet. Aber totgesagt lebt sie weiter, wie sie schon immer der Gegensatz ihrer selbst war. Am Anfang des Denkens, als der Mythos es fertigbrachte, „von den Menschen die Furcht zu nehmen" (7), war das „Programm der Aufklärung" „die Entzauberung der Welt" (7). Der Mythos, so liest man, „geht in die Aufklärung über" (12), „ist selbst Aufklärung" (14), Mythen „vollziehen Aufklärung" (14), ehe sie, als „deren eigenes Produkt", ihr „zum Opfer fallen" (11). Aber mit jedem ihrer Schritte „verstrickt Aufklärung ... sich tiefer in Mythologie" (14), Aufklärung schlägt „in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte" (27 f.). 24 Was also ist Aufklärung wirklich, Mythologie wie zu Homers Zeiten oder deren Gegenteil? Für die Gegenwart sollte man letzteres annehmen, doch für die Gegenwart konstatiert der kritische Philosoph längst den „Umschlag von Aufklärung in Positivismus" (IX), sie entartet für ihn zu bloßer Information, zu Reklame, zum „Massenbetrug" durch die Allgegenwart der Massenmedien (108-150). Hier öffnet sich der Zugang ins dialektische Geheimnis, es geht, wie die Kritik am falschen Glück der materiellen Güter besagt, die „selbst zu Elementen des Unglücks" werden (4 f.), um die Herrschaft des Ökonomischen, die das Wesen der Herrschaft an sich darstellt.25 Die „dialektische Verschlingung von Aufklärung und

23 ADORNO/HORKHEIMER, Dialektik (wie ANM. 22), 108-150 das Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug." 21 Vgl. auch ebd., 29; ebd., 42: „Indem der homerische Geist der Mythen sich bemächtigt,... tritt er in Widerspruch zu ihnen. " Zu diesem dialektischen Prozeß ebd. ,19: „läßt sie am Ende als genaue Gegensätze vermöge ihrer eigenen Tendenzen ineinander übergehen". 25 Ebd., 32: „Unter dem Zwang der Herrschaft hat die menschliche Arbeit seit je vom Mythos hinweggeführt, in dessen Bannkreis sie unter der Herrschaft stets wieder geriet". Vgl. ebd., 4 f.: „Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist. "

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Herrschaft" wird zwar im Hinblick auf den Faschismus apostrophiert (152), aber die Anklage wird auch ganz allgemein formuliert: Aufklärung hat versagt, sie überläßt „Sein und Bewußtsein der Menschen" der Herrschaft (40), ja sie selbst „verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen" (12), ist „totalitär" (10), „der Fortschritt schlägt in den Rückschritt um" (5). Gleichzeitig ist aber „Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt" (39), sie hat auf jeden Fall ein „zwiespältiges Verhältnis zur Herrschaft"; ihr „Doppelcharakter" als Mittel der Regierungskunst, aber auch ihre Aufgabe, den „Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebaren zur absichtlichen Lüge zu machen", wie Nietzsche sagt (42), zeigt, daß eben Dialektik ihr Wesen ist.26 Dem widerspricht aber entschieden jene Charakterisierung von Aufklärung, die nichts mehr von einem wandelbaren, in fließenden Übergängen sich darbietenden Wesen wissen will, sondern kategorisch verurteilt, und, nach dem Faschismusverständnis von Horkheimer und Adorno, die Aufklärung ein für allemal in die Unweit verstößt: „Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System" (25). Man fragt sich nach einem solchen scheinbar endgültigen Verdikt, wie dann das Verhältnis zur Aufklärung noch je positiv gestaltet werden könnte - dialektisch ist das möglich. Obgleich Aufklärung nicht an der Wiege der realen Emanzipation des Menschen (177) stand und „vor der Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung nie gefeit" war (39 f.), ist „die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar" (3). Die Aufklärung ist also noch zu retten, und sie ist sogar, unter gewissen Voraussetzungen, fähig, die Menschheit zu retten. Das Rezept ist sehr einfach, es lautet: Die „Aufklärung muß sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen. Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun. Heute aber setzt die Vergangenheit sich fort als Zerstörung der Vergangenheit" (4). Alle Kritik an Aufklärung hat also nur eine Aufgabe, sie „soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst" (5). Nur so kommt Aufklärung „zu sich selbst", vermag sie den Geist „des erbarmungslosen Fortschritts selber an seinem Ziel umzuwenden" (40 f.). Aber es geht nicht ohne „Umwälzende wahre Praxis" (40), nur die „ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen" (186). Das ist, wenn man jedes Wort ernst nimmt, die Perversion von Aufklärung. Gewalt gehörte nie in ihr Programm. Was lange Zeit nur Kampf gegen Bacon, 26 Erhellend auch der Satz ebd., 31: „So greift das Tabu auf die tabuierende Macht über, die Aufklärung auf den Geist, der sie selber ist." Weitere dialektische Bestimmungen von Aufklärung ebd., 84 f.

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Parteinahme für Rousseau gegen Kant schien, wird zur klaren Absage an den Kantschen Moralismus.27 Aufklärung wird hier nicht zuletzt auch zu einem reinen Formalprozeß degradiert, sie ist nichts als der Begriff „fortschreitenden Denkens" (43). Als solches kann Aufklärung natürlich jederzeit revitalisiert werden, trotz „rastloser Selbstzerstörung" (1), trotz der „praktischen Tendenz zur Selbstvernichtung" , die aller Rationalität von Anfang an innewohnt (6), und obwohl sie ihrem Wesen nach jederzeit in Mythologie zurückschlägt (27). Jene Aufklärung, welche dem Historiker vertraut ist - auch wenn um ihr Wesen der Streit nie zu Ende gehen wird - ist solche Art Aufklärung nicht mehr. Kant mit dieser Umkehrung seiner Wertordnung zu belasten war nicht der Sinn dieser Untersuchung. Daß jedoch die unhistorisch-doktrinäre Theorie von Aufklärung bei Kant viele Konsequenzen offenhält, ist doch festzuhalten. Die Auffassung von Aufklärung als eines immerwährenden Prozesses ist eine Versuchung für Ideologen aller Art. Vollends mit dem Werkzeug der Dialektik kann Aufklärung dabei alles werden, alles und nichts. Sicher ist, das „Prinzip Aufklärung"28 ist das Prinzip radikaler Relativität, bedeutet das Ende des historischen Begriffs Aufklärung. Diesem näherzutreten, der unglaublichen Vielfalt gerecht zu werden, in welcher sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts darbietet, bedarf es eines umfassenden historiographischen Ansatzes, den weder Historiker noch Philosophen, weder Philologen noch Pädagogen, schon gar nicht Soziologen, allein bewältigen werden. Auf keinen Fall dürfen wir die Arbeit an diesem großen Thema den Ideologen überlassen.

27 Ebd., 41 zu Rousseau; ebd., 77 zu Kant, hier der Satz: „Die Morallebren der Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das Interesse versagt. " 28 Europäische Aufklärung(en) (wie Anm. 6), XI.

Paolo Prodi Christ oder Bürger? Kirchenzugehörigkeit und Staatszugehörigkeit zwischen Ancien Régime und Restauration1

Ich halte es für notwendig, eingangs zu präzisieren, daß mein Beitrag keineswegs der Beitrag eines Spezialisten ist, da ich mich in der Hauptsache mit Problemen der frühen Neuzeit befasse; hier handelt es sich indessen um eine Arbeit, die auch von den Reflexionen und Schriften von Prof. Dr. Eberhard Weis zur Französischen Revolution und zum Napoleonischen Zeitalter angeregt wurde. Das Problem, das als offene Frage behandelt werden soll, ist jenes der Machtausübung und folglich der politischen Zugehörigkeit und des Gehorsams des einzelnen Menschen in den Auseinandersetzungen, die das europäische Christentum vom Zeitraum vor der Revolution bis zur Restauration charakterisieren. Die Distanz, die wir nun nach den anhaltenden Spannungen im Risorgimento und nach der Einigung gewonnen haben, erlaubt es uns - abgesehen von dem Kampf, der sich auf der historischen Bühne abspielt - die Kontinuität in der Entwicklung der Strukturen besser zu erfassen. Im Mittelpunkt steht stets die Beziehung zwischen dem Sakralen und der Macht, die die gesamte Geschichte des westlichen Christentums auf der Ebene der Institutionen und des Denkens durchzieht. Dieser Dualismus birgt schon weit vor der Revolution in der Trennung der Macht- und Gehorsamssphären ein revolutionäres Potential in sich. Die Widersprüchlichkeiten, die sich bei der Verteidigung der gegenteiligen Interessen zwischen dem Papsttum und den Monarchien, zwischen der Kirche und der revolutionären Gesellschaft auftun, sowie die absoluten Gegensätze auf der ideologischen Ebene können die gemeinsamen Muster der für Europa typischen modernen Ordnung nicht überdecken. Diese nicht bewiesenen Aussagen prägen die Thesen, die ich hier diskutieren möchte. Andererseits erscheint mir der Fortschritt in der Forschung der letzten Jahre

1

Übersetzt von Friederike C. Oursin.

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gemessen an einer traditionellen Historiographie, die noch zu sehr in die Realitäten der hier untersuchten Zeitspanne verwurzelt und verwickelt war, eine Erweiterung des Horizontes zu ermöglichen. Mir scheint es, als ob wir erst jetzt in der Lage wären, die Grundzüge eines sich schließenden historischen Zyklus mit einem gewissen Abstand zu erfassen, auch wenn die grundlegende Frage, die unsere Neugier erregt, weiterhin hochaktuell und brisant ist: Liegen die Wurzeln unserer liberalen demokratischen Ordnungen in einem im Grunde genommen antichristlichen Geschehen wie der Französischen Revolution, die trotz all der Kompromisse in Doktrin und Praxis auch als solche erlebt wurde, oder sind die Wurzeln dieses Geschehens selbst komplexer und zwingen uns zu einer umfassenden Neuuntersuchung der Verfassungsgeschichte des Okzidents und der Kirchengeschichte selbst? Nicht ohne Grund haben auch in den jüngsten Diskussionen des politischen Engagements der Katholiken und des Endes der Partei der Katholiken die scharfsichtigsten konservativen Denker wie Augusto del Noce die Gegenüberstellung einer modernen, säkularisierten und entchristlich ten, in der Aufklärung und der Revolution wurzelnden Moderne ins Zentrum ihrer Überlegungen gerückt, ebenso die Betonung eines in gewissem Maße nicht kompromittierten, integren Christentums, mit Akzenten, die der Verherrlichung des von den großen Klassikern der Restauration konstruierten Mythos vom Christentum sehr nahe kommen.2 Meine Ausgangshypothese - die es natürlich zu diskutieren und verifizieren gilt - ist dem diametral entgegengestellt und will die Osmose betonen, die auch in den Phasen der größten inneren Spannungen in der westlichen Gesellschaft stattgefunden hat. Ohne mich zu weit von unserem Problem zu entfernen, möchte ich drei Ausgangspunkte oder Voraussetzungen meines Gedankengangs ansprechen.3 Erstens geht es mir um die enge Beziehung, die - in der Geschichte der westlichen Zivilisation den Säkularisierungsprozeß an den vom Evangelium als Maxime proklamierten Dualismus bindet, der seine Verkörperung in den Jahrhunderten nach der Gregorianischen Reform findet. Und zwar sowohl auf der Ebene der Macht als auch auf der Ebene konkurrierender Rechtsordnungen (weltlicher und geistlicher): Nicht, daß es an theokratischen oder hoheitsrechtlichen Übergriffsversuchen gefehlt hätte, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß es keiner der konkurrierenden Mächte je gelungen ist, der europäischen Gesellschaft eine sakrale Ordnung aufzuerlegen. Was insbesondere die Gründung des modernen Staates betrifft, so hat die neueste Forschung betont,

2 Daniele MENOZZI, Intorno alle origini del mito della cristianità, in: Cristianesimo nella storia 5, 1984, 523-562. 3 Für eine Untersuchung dieser Problematik verweise ich auf: Paolo PRODL/Luigi SARTORI (Hrsg.), Cristianesimo e potere. Bologna 1986 und Paolo PRODI, Il sacramento del potere. Il giuramento politico nella storia costituzionale dell'Occidente. Bologna 1992.

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daß der Staat im Zeitalter der Konfessionalisierung zur Kirche wird, während die Kirche ihrerseits versucht, den Staat als perfekte Gesellschaft nachzuahmen, indem sie alle Souveränitätsmerkmale übernimmt. Gerade weil der Prozeß der „Entzauberung" der Politik und der Politisierung der Kirche (als Trägerin eines „Amtscharismas", um einen Begriff von Max Weber zu gebrauchen) in Bewegung gekommen war, gelingt es diesem institutionellen Dualismus, sich historisch in jenen Rechtsstreitigkeiten zu verwirklichen und zu konkretisieren, die - so die Geschichtsschreibung - freilich mehr Substanz erkennen lassen, als allgemein angenommen wird. Es handelt sich nicht nur um ein Modell der Machthandhabung, das sich säkularisiert und sich vom kirchlichen auf den politischen Bereich projiziert, sondern vielmehr um das Entstehen einer konkurrierenden Spannung zwischen zwei Polen, von denen ein jeder die hegemoniale Führung einer christlichen Gesellschaft beansprucht, die noch als einheitlich konzipiert und erlebt wird, um die Institutionalisierung eines permanenten Dualismus, in dem das Meta-Politische seinerseits politisch wird und sich als solches behauptet, um ein System also, in dem jede der beiden konkurrierenden Mächte vom Menschen eine Zugehörigkeits- und Treueerklärung einfordert. Der zweite Punkt ist, daß gerade dieses System der Konkurrenz im Okzident jenes besondere Charakteristikum eingeführt hat, das man als „revolutionäre" Fähigkeit bezeichnen könnte. Im Vergleich mit allen anderen je dagewesenen Zivilisationen ist unsere tatsächlich die einzige, die in ihrem Inneren nicht nur krasse Veränderungen an der Machtspitze kennt (Staatsstreiche oder Ersatz einer Dynastie durch eine andere usw.), sondern die Revolution als dynamische Praxis durchsetzt, die die Sakralisierung und somit die Versteinerung der Macht verhindert, indem die Machtzentren selbst kontinuierlich versetzt (nicht nur im engeren politischen Feld, sondern auch im wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereich) und die Prinzipien der Legitimität ständig in Frage gestellt werden. Eine letzte langfristig historische Erörterung zum Verständnis des hier behandelten Zeitraums soll der Geburt des modernen Verständnisses vom Individuum gelten. Ich beziehe mich auf zwei Werke von Louis Dumont über den Prozeß, der im Westen zum Übergang von einer hierarchischen oder vom Organismusgedanken geprägten Struktur zu einer auf dem Individuum und seiner Beziehung zu den Dingen beruhenden Struktur geführt hat.4 Im Hinblick auf diese Verwandlung ist die Trennung des

4 Louis DUMONT, Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens. Wien 1976 [französische Originalausg. 1966]. Aber für die Thematiken, um die es hier geht, ist besonders der Aufsatz desselben Autors wichtig: La conception moderne de l'individu. Notes sur sa genèse, en relation avec les conceptions de la politique et de l'Etat, à partir du XHIe siècle, in: Esprit 2, 1978,

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Rechts von der Theologie zu sehen. Sie bedeutet eine neue Rolle der Juristen und der staatlichen Gesetzgebung sowie die Entstehung eines Konkurrenzverhältnisses zwischen der Sphäre des Rechts und der Sphäre der Ethik bei der Regierung der Individuen.5 In diesem Rahmen scheint das Problem, das in der Mitte der hier von uns untersuchten Zeitspanne - ungefähr die fünfeinhalb Jahrhunderte von 1280 bis 1830 liegt, das Abnehmen des Prinzips einer doppelten Zugehörigkeit zu sein, das die vorausgegangenen Zeitalter charakterisiert hatte: In Anbetracht des Monopols der Kontrolle und der Gestaltung des Menschen wird eine einzige Treue gefordert und auferlegt. Der Staat geht als Sieger aus dem Streit hervor, aber nur, indem er eine wichtige Metamorphose durchmacht und sich einen großen Teil der kirchlichen Sakralität aneignet, während die Kirche selbst immer mehr in die Defensive gezwungen ist: Es geht um das Aufkommen der Ideologie vom Nationalstaat und in der Folge die Umwandlung des Christentums in eine Zivilreligion. Diese Tendenz kommt zum Ausdruck im Element der grundlegenden Kontinuität der Reformbewegung des 17. Jahrhunderts, der revolutionären Explosion, des Napoleonischen Experiments und der Restauration. Natürlich wird dieses Element der Kontinuität von den in einen Kampf verwickelten Zeitgenossen nicht erfaßt, ein Kampf, der weder Waffenstillstand noch Neutralität zugestand und mit allen bisher existenten Machtschemata brach. Die Monarchen, die sich als Schutzherren der Kirche angetragen hatten, halten das Gewicht der neuen Sakralität nicht aus, ohne den Mythos der Nation anzurufen und von ihm verschlungen zu werden - bis zur Synthese, zu der es nach der Restauration kommt. Die verschiedenen kulturellen und geistlichen Komponenten, die in Europa seit der Aufklärung gegärt hatten, geraten in krassen Gegensatz zu den neuen Machtordnungen und es kommt zu inneren Spaltungen („aufgeklärte" Christen, Jansenismus). Ich kann an dieser Stelle diese allgemeinen Behauptungen nicht weiter veranschaulichen: es handelt sich nur um Stichworte, die das Problem einer Kontinuität andeuten sollen und die Gründe, weshalb dieses von den Zeitgenossen nicht wahrgenommen werden konnte. Ich kann nur hinzufügen, daß das Element der Kontinuität um so sichtbarer wird, je mehr man sich vom Epizentrum des Bebens - also von Frankreich und seiner Revolution - entfernt. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich die Verfassung von Cadiz aus dem Jahr 1812 (2. Kapitel, Art. 12) zitieren: „La Religion de la Nación española es y será perpetuamente la católica, apostólica, romana, única verdadera. La Nación la protege per leyes sábias y iustas, y prohibe el exercicio de qualquiera otra".

5 S. insbes. das letzte Werk von Piene LECENDRE, Les enfants du texte. Etude sur la fonction parentale des Etats. Paris 1992.

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Es ist so nur logisch, daß die großen Pioniere - die über die vor ihren Augen stattfindenden verhängnisvollen Veränderungen nachsinnen, über die Revolution und die Revolutionen - diese Kontinuität auch in der Veränderung ihrer eigenen Betrachtungsweise im Verlauf der Jahre nicht erfassen können, da sie selbst - um einen geglückten Ausdruck anzuwenden - zu „idéologues" geworden sind.6 Auch bei Apologeten wie Bonald, Chateaubriand, de Maistre oder beim frühen Lamennais finden wir keine Anzeichen für den laufenden Osmose- und Konkurrenzprozeß, sondern nur die Gegenüberstellung eines ursprünglichen und reinen Christentums (oft auf dem romantischen Mythos des mittelalterlichen Christentums fußend) und einer in Folge von Luthers Reformation und der Entwicklung der modernen Ideen eingetretenen Korruption des Christentums durch den Staat.7 Nur in einem Fragment von Benjamin Constant über den Kampf zwischen der priesterlichen Macht und der politischen und militärischen Macht - nicht in der systematischen Abhandlung seiner „Principes de politique" - findet sich eine positive historische Bewertung der Spannungen zwischen den beiden Mächten für die Grundlagen der Freiheit in Europa.8 Um das gereifte Bewußtsein von der Kontinuität der Veränderungen zu erfassen, ist es meiner Meinung nach nötig, zwei sehr unterschiedliche Werke von grundlegender Bedeutung aufzugreifen, die beide kurz nach 1830 verfaßt wurden: „Delle cinque piaghe della Santa Chiesa" von Antonio Rosmini und „De la Démocratie en Amérique" von Alexis de Tocqueville. Die erste Arbeit baut ihre Argumentation auf dem Verfall der Kirche infolge der Politisierung der Kirchenhierarchie seit dem Feudalismus in Diensten der weltlichen Macht auf und gipfelt in dem Ausspruch: „Und wen mögen nun noch die konstitutionellen Priester und das gräßliche System der nationalen Kirchen verwundern?"9 Die Bischöfe - mit Ausnahme des Römischen Stuhls - haben gegenüber den katholischen Fürsten jede Autonomie verloren, „... mit Ausnahme vielleicht der Freiheit, die die Kirche in den Vereinigten Staaten

6 Georges GUSDORF, La conscience révolutionnaire: les idéologues. Paris 1978. Ich entschuldige mich natürlich für den Mangel an bibliographischen Hinweisen, aber die Literatur ist zu umfangreich, als dafi sie hier angeführt werden könnte. 7 Zur italienischen Vulgata auf der ersten Woge der Reaktion s. die Anthologie von Vittorio H. GIUNTELLA (Hrsg.), Le dolci catene. Testi della controrivoluzione cattolica in Italia. Roma 1988. 8 Im Anhang an Patrice THOMPSON, La religion de Benjamin Constant. Les pouvoirs de l'image. Pisa 1978, S79-S81: „La plupart des écrivains qui s'élèvent aujourd'hui contre la puissance spirituelle n'ont point pour but de rendre à l'homme sa liberté légitime, mais veulent servir une tyrannie aux dépens d'une autre. Quant à nous, s'il faut opter, nous aimons mieux le joug religieux que le despotisme politique, parce que sous le premier, il y a du moins conviction dans les esclaves et que les tyrans seuls sont corrompus. Mais quand l'oppression est séparée de toute idée religieuse, les esclaves sont aussi dépravés, aussi méprisables que leurs maîtres." 9 A. Rosmini SERBATI, Le cinque piaghe della Chiesa. Hrsg. ν. Emiliano Zazo. Milano 1943, Kap. III, 131.

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von Amerika oder in anderen nicht katholischen Gebieten genießt, wo der Katholizismus noch irgendwie überlebt. Ich sage irgendwie; denn alles ist daran gesetzt worden und wird noch heute daran gesetzt, um auch den Römischen Pontifex mit der Schande der universalen Fesseln zu beladen".10 Rosminis These vom allmählichen Freiheitsverlust der Kirche in den Jahrhunderten der Neuzeit infolge der Politisierung und insbesondere der Konkordatspolitik sollte erneut aufgegriffen und eingehend untersucht werden; hier muß es jedoch genügen zu sagen, daß für ihn die Französische und europäische Revolution den Abschluß eines historischen Zeitraumes darstellen, in dem - gegen die im Westen vom Christentum selbst eingeführte konstitutionelle Tradition zur Beschränkung der monarchischen Macht - der politische Kompromiß die Freiheit der Kirche geknebelt hat. Rosminis Blick ist aber nicht nostalgisch auf die Vergangenheit gewandt, sondern er blickt in eine Zukunft, in der der Kirche ihre Freiheit wiedergegeben wird: „Nur ein Blick auf die Erde und wir haben die Antwort. Die furchtbare Strafe der göttlichen Vorsehung liegt nicht mehr im Dunkeln, sie ist offensichtlich geworden. Begonnen hat sie an verschiedenen Orten Europas und des Universums. England und Irland, die Vereinigten Staaten und Belgien haben die Freiheit, Bischöfe zu wählen; um keinen Preis wird die Vorsehung darauf verzichten, der Kirche solch eine Freiheit in allen Nationen der Welt zurückzuerstatten: darauf können die Monarchen sich verlassen. Die Völker, ja die Völker sind die Rute, derer sie sich bedient".11 Die Anspielungen auf die Zukunft des Christentums in der angelsächsischen Welt und insbesondere den Vereinigten Staaten haben mich zu den Schilderungen Tocquevilles über seine Amerikareise geführt, die aus denselben Jahren stammen. Schon in der Einleitung gliedert er die Französische Revolution in jene ständige Revolution ein, die das Leben des christlichen Okzidents auf seinem Weg in die Freiheit und Gleichheit charakterisiert, wie es zuvor in keiner anderen Gesellschaft vorgekommen war: „Le livre entier qu'on va lire a été écrit sous l'impression d'une sorte de terreur religieuse produite dans l'âme de l'auteur par la vue de cette révolution irrésistible qui marche depuis tant de siècles à travers les obstacles, et qu'on voit encore aujourd'hui s'avancer au milieu des ruines qu'elles a faites".12 Seine Analyse der Beziehung von Religion und Politik in Amerika bestätigt seine Auffassung, daß das Anwachsen von Freiheit und Demokratie in der neuen Welt genau auf jener doppelten Zugehörigkeit beruht, ganz anders als in Europa, wo die Symbiose von Religion und Politik zu katastrophalen Ergebnissen im einen wie im anderen Bereich

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Ebd., 133.

Ebd., Kap. IV, 264. 12 Alexis de TOCQUEVILLE, Œuvres complètes. Bd. 1: De la démocratie en Amérique. Hrsg. ν. Jacob-Peter Mayer. Paris 1979, 4.

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geführt hat.13 Diese Überzeugung wird Tocqueville auch in den späteren Reflexionen über das Ancien Régime und die Revolution beibehalten : „... la guerre aux religions n'était qu'un incident de cette grande révolution, un trait saillant et pourtant fugitif de sa physionomie, un produit passager des idées, des passions, des faits particuliers qui l'ont précédée et préparée, et non son génie propre. ... c'était bien moins comme doctrine religieuse que comme institution politique que le christianisme avait allumé ces furieuses haines: non parce que les prêtres prétendaient régler les choses de l'autre monde, mais parce qu'ils étaient propriétaires, seigneurs, décimateurs, administrateurs dans celui-ci; non parce que l'Eglise ne pouvait prendre place dans la société nouvelle qu'on allait fonder, mais parce qu'elle occupait alors la place la plus privilégiée et la plus forte dans cette vieille société qu'ils s'agissait de réduire en poudre". 14 Es ist bekannt, daß der Weg der katholischen Kirche nach der Französischen Revolution bis zum Vatikanischen Konzil, sowohl was das Lehramt als auch was die seelsorgerische und politische Praxis betrifft, kaum jener von Rosmini und Tocqueville vorausgesagten Zukunft entsprach, mit einem Wiedererlangen der Autorität und insbesondere in der Wechselbeziehung von Souveränität und Unfehlbarkeit.15 Ohne diese umfangreichen Themen aufzugreifen, möchte ich nur die Kontinuität einer Linie betonen, die auf das Problem der Treue und Zugehörigkeit in der immer stärkeren Assimilation von Kirche und Staat als societates perfectae sieht. Paradoxerweise scheint mir die Kirche über eine Art umgekehrter Osmose die Sakralität zurückzugewinnen, die die revolutionäre und die Napoleonische Zeit auf Begriff und Praxis der Souveränität übertragen hatten. Auf dieser Grundlage gelingt es dem Katholizismus des 19. Jahrhunderts um einen sehr hohen Preis, die von den vorausgegangenen Jahrhunderten geerbten Tendenzen zur Zersplitterung zu überwinden: vom Gallikanismus, vom politischen Jansenismus und vom episkopalistischen Febronianismus. Hier möchte ich mich auf einige Hinweise beschränken und dieses Kontinuum im Verhältnis zum Problem der Treue und der Zugehörigkeit nur andeutungsweise behandeln, in drei Richtungen, ohne irgendeinen Anspruch auf

13 Ebd., 314: „En Europe, le christianisme a permis qu'on l'unit intimement aux puissances de la terre. Aujourd'hui ces puissances tombent, et il est comme enseveli sous leurs débris. C'est un vivant qu'on a voulu attacher à des morts: coupez les liens qui le retiennent, et il se relève". 14 Ebd., Bd. 2: L'ancien régime et la révolution. Paris 1953, 83-84. 15 Yves CONGAK, L'ecclésiologie de la révolution française au Concile du Vatican sous le signe de l'affirmation de l'autorité in: Revue des sciences religieuses 34,1960, 77-114. Hier sind angefahrt die maßgeblichen Sätze von Joseph de Maistre (82): „II ne peut y avoir de société humaine sans gouvernement, ni gouvernement sans souveraineté, ni souveraineté sans infallibilité ... Sans pape, point d'Eglise; sans Eglise point de christianisme; sans christianisme, point de société: de sorte que la vie des nations européennes a, comme nous l'avons dit, sa source, son unique source, dans le pouvoir pontifical".

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Vollständigkeit und rein exemplarisch, als nicht bewiesene Thesen, die es zu diskutieren gilt. 1. In den Konkordaten des Napoleonischen Zeitalters und der Restauration wird zum ersten Mal auf noch nie dagewesene Art und Weise die Stellung der katholischen Religion als Staatsreligion vollständig entwickelt. Abgesehen von den Zerwürfnissen um die Zivilkonstitution des Klerus - aber auch über diese - wird die Integration des Klerus in den Staatskörper abgeschlossen. Somit kommt seine, von Abkommen zwischen dem Papst und den einzelnen Herrschern garantierte, öffentliche und politische Funktion zur Entfaltung. Es handelt sich zweifelsohne um eine jahrhundertealte Konkordatstradition, aber sie erlangt in dieser Epoche eine vorher nie dagewesene organische Einheit. Die Wende ist natürlich das Napoleonische Konkordat aus dem Jahr 1801, wo in den einleitenden Erklärungen festgehalten wird, daß die Regierung der Republik die katholische Religion als Religion der überwiegenden Mehrheit der Bürger anerkennt („quam longe maxima pars civium Gallicanae reipublicae profitetur") und daß sich der Papst seinerseits des großen Vorteils bewußt ist, den die Religion durch die Verankerung der Konfession in Frankreich und durch das besondere Glaubensbekenntnis der Konsuln der Republik erfährt („ maximam utilitatem maximumque decus percepisse, et hoc quoque tempore praestolari, ex catholico cultu in Gallia constituto, nec non ex peculiari ejus professione, quam faciunt Reipublicae Cónsules").16 1803 wird mit dem ersten Artikel des Konkordats mit der Italienischen Republik ein weiterer Schritt nach vorn getan. Dort heißt es: „La religione Cattolica Apostolica Romana continua ad essere (esse pergit) la Religione della Repubblica Italiana"17 [Die Katholische und Apostolische Römische Religion bleibt die Religion der Italienischen Republik], Die Konkordate der Restauration werden sich nicht länger mit einem Hinweis auf jene bereichsspezifischen Abkommen juristischer Natur begnügen, die für den vorrevolutionären Zeitraum typisch waren18, sondern sie gründen mit Folgen bis fast in die Gegenwart hinein auf dieser neuen Grundlage, die - wie wir für Cadiz gesehen haben - auch die neuen Verfassungen einbezieht.19 Es sei hinzugefügt, daß mit der Planung der

16 Raccolta di concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le autorità civili. Hrsg. ν. Angelo Mercati. Bd. 1. Città del Vaticano 1954, S61-S62. 17 Ebd., 566. 18 S. beispielsweise den Sammelband: Saverio DIBELLA (Hrsg.), Chiesa e società civile nel Settecento italiano. Milano 1982. 19 Für ein Gesamttableau der Dokumentation s. Zaccaria GIACOMETTI, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche. Tübingen 1926. Zu den nachfolgenden Entwicklungen in Frankreich und den Einsprüchen (der alte „appel comme d'abus") in der Rechtsprechung des Staatsrates s. Brigitte BASDEVANT-GAUDEMET, Le jeu concordataire dans la France du XIXe siècle. Le clergé devant le Conseil d'Etat. Paris 1988.

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preußischen „Landeskirche" auf protestantischem Gebiet in denselben Jahren ein analoger Prozeß beginnt.20 2. Die zweite Forschungsrichtung, die ich unter Verweis auf vorausgegangene Studien21 andeuten möchte, betrifft den Treueid der Bischöfe gegenüber dem Herrscher und dem Staat, der schon im 18. Jahrhundert in allen katholischen Staaten verbreitet war und 1801 eine der tragenden Säulen aller Konkordatsverträge wird, nicht nur im passiven Sinn (als Verpflichtung, keine schädlichen Handlungen durchzuführen), sondern auch aktiv als Engagement und Gegenleistung für die Anerkennung der Territorialkirchen. An dieser Stelle möchte ich nur betonen, daß meiner Meinung nach die Tragweite dieser und anderer Eide mit all jenen Bewertungen beladen wird, die die Spannungen und Diskussionen um den Zivileid und den Eid des Klerus während der Revolution in Frankreich und während des jakobinischen Trienniums in Italien hervorgebracht hatten.22 3. Ein drittes Kontinuum kann mit bloßem Auge in der Metamorphose erkannt werden, die die Katechismen in diesen fünfzig Jahren durchmachten. Was die Beleuchtung der Entwicklung dieses Instruments betrifft, war die Geschichtsschreibung in den letzten Jahren besonders fruchtbar: für die Bewußtseinsbildung der Massen im vorrevolutionären 18. Jahrhundert sowohl in Frankreich als auch in Italien (vom im engen Sinne religiösen bis hin zum bürgerlichen und sozialen Bereich)23, für die republikanische und utopistische Pädagogik im revolutionären Jahrzehnt24, für die Bildung von bürgerlichem Bewußtsein und Moral im jakobinischen Triennium in Italien25. Was mir weniger erforscht zu sein scheint, ist das Verwachsen dieser Katechismen mit dem religiös-katholischen Katechismus im Napoleonischen Zeitalter und der Restauration. Eine für mich erhellende Lektüre war die Erklärung des Vierten Gebots des Dekalogs und der Gehorsamspflicht. Während die traditionellen Ausführungen des 18. Jahrhunderts noch allgemein 20 Erich FÖRSTER, Die Entstehung der Preussischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten. 2 Bde. Tübingen 1905-1907. 21 PRODI, Il sacramento (wie Anm. 3), insbes. 257-260. 22 Ebd., 471-476. Ein Beitrag mit Biographie auf dem letzten Stand: Antonella PAGLLARULO, Il dibattito sul giuramento civico nella Ferrara „giacobina": società, stato e chiesa a confronto, in: Dimensioni e problemi della ricerca storica 1, 1994, 209-234. 23 Abgesehen von dem klassischen Werk von Daniel MORNET, Les origines intellectuelles de la révolution française (1715-1787). (ND) Lyon 1989 s. Gian P. BRIZZI (Hrsg.), Il catechismo e la grammatica. Bd. I. Bologna 1985. 24 Carlo PANCERA, L'utopia pedagogica rivoluzionaria (1789-99). Roma 1985. 25 Zahlreiche Hinweise in: Una nazione da rigenerare. Catalogo delle edizioni italiane 1789-1799. Napoli 1993, mit einem schönen einleitenden Essay Ober die populäre Literatur und die Katechismen von Luciano Guerci, XXV-XXXVIII. S. auch die interessanten Texte in Umberto CORSINI, Pro e contro le idee di Francia. Roma 1990. Für eine allgemeine (theologische und seelsorgerische) Einordnung vgl. natürlich die schöne Anthologie: Vittorio E. G ROTELLA, La religione amica della democrazia. I cattolici democratici nel Triennio rivoluzionario (1796-1799). Roma 1990.

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gehalten waren und neben dem Gehorsam gegenüber den Eltern auch den Gehorsam gegenüber religiösen und politischen Autoritäten - nicht ohne einen Verweis auf das Problem der Gerechtigkeit und des Gewissens - berücksichtigen26, wird in den Katechismen des revolutionären Jahrzehnts - unter Drohung, andernfalls zum Feind der Gesellschaft erklärt zu werden - die Anhängerschaft an die Prinzipien der neuen Gesellschaft und deren Gesetze als Tugend postuliert.27 Gleichzeitig werden im Rahmen der Entwicklung der Grundschulerziehung auch in den habsburgischen Gebieten die Pflichten der Untertanen, gebunden an die Gehorsamspflicht, in einer selbständigen Abhandlung erläutert, in der die „Autoritäten" definiert werden, die ihnen direkt von Gott verliehene potestas, die spezifischen Verpflichtungen aller Kategorien von Untertanen in Friedens- sowie in Kriegszeiten, die Zahlung der Steuern usw. Deren Nichtbeachtung wird als Todsünde eingestuft.28 Die Synthese von politischen Vorschriften und religiösen Geboten resultiert in diesem Fall im Napoleonischen Katechismus aus dem Jahre 1806, der in seiner Form als „Catechismo ad uso di tutte le Chiese del Regno d'Italia" 1807 in Mailand gedruckt wird: wegen der totalen Deckungsgleichheit der Pflichten des Christen und des Bürgers/Untertanen gegenüber dem Gesalbten und dessen Vertretern - verdient die Erläuterung des Vierten Gebots eine eingehende Neulektüre.2' Interessant wäre es, die Entwicklung dieser Gebote für den christlichen Untertan im Zeitalter der Restauration zu verfolgen: eine erste Untersuchung für das Trentino hat es mir

26 In der „Dottrina cristiana elementare della diocesi di Bologna", herausgegeben während des Episkopats von Prospero Lambertini und dann auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts wiederholt neu gedruckt, heißt es beispielsweise: „II quarto precetto comanda che si onori e riverisca il Padre e la Madre, e si ubbidiscano nelle cose giuste, sovvenendoli nelle loro necessità; e sotto di questi si comprendono tutti i Superiori Ecclesiastici e Secolari." [Im Vierten Gebot heißt es, Du sollst Vater und Mutter ehren, ihnen in den rechten Dingen gehorchen und ihnen in ihren Bedürfhissen beistehen; und darunter versteht man alle geistlichen und weltlichen Autoritäten.]. 27 Wie beispielsweise im „Catechismo cattolico-democratico" des Bürgers/Pfarrers Antonio Zalivani, Venezia 1797, veröffentlicht in: CORSINI, Idee di Francia (wie Anm. 24), 245-260, oder im „Catechismo repubblicano" des Pfarrers Ricardo Bartoli (vgl. A. Gandolfi FORNACIARI, Dei catechismi repubblicani, in: L'Emilia nel periodo napoleonico [...]. Reggio Emilia 1966, 229-240); Marco CERRUTI, Luoghi dell'utopia nella scrittura del triennio in Reggio e i territori estensi dall'antico regime all'età napoleonica. Parma 1979, 613-632. 28 „Doveri de' sudditi verso il loro monarca (Appendice ovvero aggiunta al libro di lettura per le scuole delle ville ec.)", ohne Autorenangabe aus dem Deutschen übersetzt von dem Priester Giovanni Marchetti, Rovereto 1798. Es handelt sich um eine Ausgabe, die die letzte Entwicklung einer Vorschrifitenreihe darstellt: „Del patriottismo, o dell'amor della patria", die schon in den vorausgegangenen Jahrzehnten im Lombardo-Veneto und im Trentino in die Lehr- und Schulbücher der Grundschulen eingefügt und entwickelt wurde und eigentlich eine eigene Untersuchung erfordern würde. 29 Zur Verbreitung des Napoleonischen Katechismus in den Diözesen des Königreiches Italien s. Filiberto AGOSTINI, La riforma napoleonica della Chiesa nella Repubblica e nel Regno d'Italia 1802-1814. Vicenza 1990, 196-198.

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erlaubt, eine grundlegende Kontinuität von den Katechismen des Königreichs Bayern 30 über diejenigen des Napoleonischen Königreichs Italien 31 bis hin zu den unzähligen, für das neue habsburgische Reich so typischen didaktischen und katechistischen Veröffentlichungen nachzuweisen. A m Ende dieser Anmerkungen, denn um mehr handelt es sich nun einmal nicht, seien mir im Zusammenhang mit meinen Prämissen zwei kurze, keineswegs abschließende, sondern eher problemorientierte Betrachtungen erlaubt. An erster Stelle scheint es notwendig, auch das Problem der Beziehung zwischen Kirche und Revolution (und das damit verbundene Problem der EntChristianisierung) in einen breiteren Kontext einzubeziehen, als es die historisch-soziologischen Untersuchungen zu den antireligiösen Kämpfen und Manifestationen, zur Explosion der neuen Feste und der neuen Kulte der Vernunft, der Freiheit und Gleichheit annehmen lassen. 3 2 An zweiter Stelle ist es in den heute aufkommenden Diskussionen nach dem Ende der Epoche der Konkordate und der konstitutionellen Beziehungen von Kirche und Staat opportun, sich darauf zu besinnen, daß die Synthese von Nationalstaaten und Territorialkirchen genau in der hier untersuchten Epoche - insgesamt - ihren höchsten Ausdruck gefunden hat: dies kann uns vor nostalgischen Blicken in die Vergangenheit bewahren, wie sie der Vendeerschen Ideologie und den großen Interpreten der Restauration zugrundeliegen, und uns zu den Empfehlungen in Richtung einer Zukunft à la Rosmini und Tocqueville zurückführen.

30 „Elementi del buon suddito cristiano, appendice alla spiegazione catechetica del quarto precetto del Decalogo" von Francesco Tee ini, Generalvikar der Diözese, Trento 1810. Nach dem Motto: „II Regno è una famiglia: il Sovrano n'è il Padre, i Sudditi ne sono i Figli" [Das Königreich ist eine Familie: der König ist der Vater, die Untertanen sind die Kinder], das Vorwort: „Dopo la Religione e la Morale, il primo dovere dell'Uomo e il primo fonte della pubblica prosperità è il carattere di buon Suddito e di buon Cittadino. Per conseguenza dopo il Catechismo, l'Opera più necessaria per l'educazione della Gioventù e del Popolo è quella, che riduce il Cristiano ad essere un suddito fedele, ed utile Cittadino: tale Opera è «nri una parte dello stesso Catechismo e della cristiana Morale ..." [Nach der Religion und der Moral ist das Wesen eines guten Untertans und guten Bürgers die erste Pflicht des Menschen und die wichtigste Quelle des öffentlichen Wohlergehens. Folglich ist das wichtigste Werk zur Erziehung der Jugend und des Volkes nach der Katechese jenes, das den Christen dazu führt, ein treuer Untertan und dienlicher Bürger zu sein: dieses Unterfangen ist sogar ein Teil der Katechese und der Christlichen Moral selbst ... ]. Ich habe meiner Kollegin und Freundin Maria Garbari für diese Hinweise zu danken. 31 Alfabeto ed elementi d'istruzione morale e d'aritmetica ad uso della classe infima del Regno d'Italia. Rovereto 1812. Dort wird am Ende der Vorschriftenliste das politische Gebot erneut aufgegriffen (auf die anderen wird nicht näher eingegangen), indem der Mailänder Katechismus umschrieben und zusammengefaßt wird (39): „I cristiani debbono a'principi da cui sono governati, e noi in particolare a Napoleone I., Imperatore e re nostro, amore, rispetto, obbedienza, fedeltà, il servizio militare, le imposizioni ordinate per la conservazione e la difesa del trono ..." [Die Christen schulden den Fürsten, von denen sie regiert werden, und wir besonders Napoleon I., dem Kaiser und unserem König, Liebe, Respekt, Gehorsam, Treue, den Militärdienst, die zur Erhaltung und Verteidigung des Thrones auferlegten Steuern ...]. 32 Natürlich denkt man hier in erster Linie an die schönen Arbeiten von Michel VOVELLE, Religion et révolution. La déchristianisation de l'an II. Paris 1976, sowie ders., La révolution contre l'Eglise. De la raison à l'Etre Suprême. Bruxelles 1988.

Ina Ulrike Paul Stichwort „Europa" Enzyklopädien und Konversationslexika beschreiben den Kontinent (1700-1850)

Zum Jahreswechsel 1994/95 wurde im Deutschen Historischen Museum Berlin eine Ausstellung mit dem Titel „Bilder und Zeugnisse deutscher Geschichte" eröffnet. Hier herrscht von der Stirnwand des sächsischen Saales das Porträt des KurfürstenKönigs August II., „des Starken", über ein Reich barocker Intarsienmöbel, kostbarer Gläser und Meißener Porzellans. Zierlich und belehrend steht im hellen Licht einer Vitrine die von Hofbildhauer Johann Joachim Kaendler (1706-1775) entworfene Figurengruppe „Die vier Erdteile".' Die gekrönte Europa reitet auf einem Apfelschimmel, der zum Sprung über einen aufgeschlagenen Folianten und einen seitlich stehenden Globus ansetzt. Drei allegorische Frauengestalten, jede von einem eigenen Porzellansockel getragen, gruppieren sich um sie: Asia von einem knieenden Kamel herabsteigend, Africa auf einem liegenden Löwen und America auf einem Krokodil mit drohend aufgerissenem Rachen sitzend. Kleinplastiken aus Porzellan wie diese vier dienten zunächst als Raumdekoration; im Laufe des 18. Jahrhunderts kamen sie bei der wohlhabenden Oberschicht anstelle der aus Caramelzucker gefertigten Tafel- und Dessertaufsätze in Mode. Ein „ Frauenzimmerlexikon " weist eigens darauf hin, daß zur „gehörigen Anordnung" der Meißener, Berliner oder Wiener Porzellanfigürchen „aber viel Wissenschaft aus der Historie, Poesie und Fabellehre, ingleichen aus der Architectur und Perspective gehöret".2 Eben diese Kenntnisse mußten aber nicht nur den Dessertköchen adeliger Häuser eignen, sondern überhaupt weit verbreitet sein: Wieso sonst konnten zeitgenössische

1 Helmuth GRÖGER, Johann Joachim Kaendler. Dresden 1956. - Ein Ausstellungskalalog wird vorbereitet. Die bemalten Porzellanfiguren der um 1745/46 entstandenen Gruppe „Die vier Erdteile" (Inv.-Nr. KG 93/1-4) sind zwischen 18,5 und 21 cm (Europa) groß. 2 Nutzbares Frauenzimmerlexikon, worin alles, was ein Frauenzimmer zu wissen nöthig hat, zu finden ist. Teil 2. Leipzig 1773.

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Kunstliebhaber und -käufer diese Figurengruppe des berühmten Künstlers als „Die vier Erdteile" erkennen, und hielten sie nicht für die vier Elemente, die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten oder die vier Formen der Monarchie, alles ebenfalls aus der Meißener Manufaktur hervorgegangene Arbeiten? Welcher Chiffren „aus Historie, Poesie und Fabellehre" hatten sich Kaendler und seine Mitarbeiter bedient, die den gebildeten Zeitgenossen auch aus den damals zunehmend in Mode kommenden Nachschlagewerken bekannt waren? Während der Künstler den abstrakten Begriff „Europa" durch allegorische Personifikation faßbar macht, zusätzlich durch Auswahl der beigegebenen Attribute eine gedanklich-konstruktive Beziehung zwischen Dargestelltem und Gemeintem schafft und den „Europa"-Begriff auf die „Europa"-Allegorie reduziert, erklären die enzyklopädischen Nachschlagewerke denselben Begriff „Europa" aus der Gesamtheit des in ihnen zusammengefaßten und nach systematischen bzw. alphabetischen Gesichtspunkten geordneten Wissens. Enzyklopädien und Lexika komprimieren also als „Zusammenbegriff aller Wissenschaften und Künste" bzw. „Schrifften ..., die Sachen und Wissenschaften in alphabetischer Ordnung vortragen"3, das zeitgenössische Wissen, verbinden es mit aufgeklärtem Gedankengut und stellen es der bildungshungrigen oder gebildeten Öffentlichkeit zur Verfügung. Diese konnte ebenso wie der Künstler selbst auch auf spezielle Lexika zurückgreifen, wenn es um die vielfaltigen Beziehungen zwischen künstlerischer Darstellung und wissenschaftlicher Interpretation des Europa-Themas ging: Für den Erdteil Europa etwa hielt das „Poetische Lexicon" Johann Georg Hamanns als Grundausstattung folgende „Beywörter" bereit: „Das reiche, mächtige, berühmte, kleine, kalte, weise, kriegerische, herrliche, belobte, gecrönte, fruchtbare, bevölkerte, bewohnte. Christliche, gelehrte, künstelnde".4 Europa, so fährt Hamann in der Beschreibung fort, „wird als eine Königin gebildet, die ein vielfarbiges Kleid an sich träget, und sonst sehr prächtig ist. Auf dem Haupte hat sie eine kostbare Crone, und sitzet zwischen zwey Überflußhörnern. In der einen Hand hält sie das Gemähide eines Tempels, und in der andern einen Scepter. Neben ihr steht ein Pferd, und um sie herum liegen allerhand Mathematische Instrumente, wie auch Cronen und Bücher." Europa als Königin zu verbildlichen, war zwar seit der Zeit der Kreuzzüge

3 Johann Heinrich ZEDLER, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 8. Leipzig/Halle 1734, 1138 (Art. Encyclopaedia); Bd. 58. Leipzig/Halle 1748, 68-70 (Art. Wörter=Buch, Lexicon). - Sofera nicht anders vermerkt, werden grundsätzlich die EuropaArtikel zitiert. 4 Johann Georg HAMANN, Poetisches Lexicon oder Nützlicher und Brauchbarer Vorrath von allerhand Redensarten, Beywörtera und Beschreibungen. Aurich 176S, 390.

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sowohl in der Publizistik wie der Kartographie gebräuchlich5, aber nicht wesentlich häufiger als ihre Darstellung als Pallas Athene: „den Helm auf dem Haupte, mit einer Hand einen Zepter, und mit der andern ein Horn des Überflusses haltend", wie dies Gottsched in seinem „Handlexicon" beschreibt.6 Das Pferd als Attribut der Europa diente seiner Ansicht nach hauptsächlich dazu, „sie von den übrigen Welttheilen zu unterscheiden; vielleicht auch ihre kriegerische Gemüthsart anzuzeigen; oder es deutet auch schlechtweg an, daß sie eine große Menge dieser Thiere ernähret". Kaendler hat demnach in seiner Darstellung der Europa beide Anregungen, die der Königin und die der göttlichen Athene aufgegriffen: Europa erscheint als einzige innerhalb der durch den Namen „Die vier Erdteile" verbundenen Figurengruppe in antikisierenden Gewändern mit einem goldenen Harnisch, wobei ihre Bedeutung durch ihre Position hoch zu Roß hervorgehoben, durch Reichsapfel, Krone und Szepter als Herrscherin ausgewiesen, und noch von den auf dem Sockel angebrachten Attributen unterstrichen wird: hier steht ein Erdglobus, liegen ein aufgeschlagener Foliant und ein goldener Steigbügel.7 So erschloß sich dem Betrachter auf den ersten Blick, daß Europa mit königlichen Insignien ausgestattet den Globus beherrsche, und als Königin über die anderen Erdteile gesetzt sei. Europa sei „der Nähme des kleinsten aber aufgeklärtesten und gesittetsten Welttheiles", leitet Johann Christoph Adelung den entsprechenden Artikel seines grammatisch-kritischen Wörterbuchs ein8; ganz ähnlich äußern sich das „Deutsche Handwörterbuch für die Geschäftsführung" und die zweite Auflage des „Brockhaus": Europa sei „der kleinste, aber gebildetste und bevölkertste Theil der bewohnten Erde" bzw. „der kleinste, aber wichtigste Theil der Erde".' Alle drei geben

5 In seiner Kreuzzugspropaganda stellte Opicinus de Canistris (1296-vor 1352) Europa erstmals als schutzbedürftige Jungfrau dar, bedroht von dem wilden „Muselman" Nordafrika und Palästina. Seit dem späten 15. Jahrhundert wurde diese Idee in der Kartographie aufgegriffen, wobei sich der mädchenhafte Charakter der Europa-Darstellung zugunsten des hoheitlichen der Königin verschob. - Günter SCHOLZ (Hrsg.), Weltbild im Spiegel der Kartographie des 16. bis 18. Jahrhunderts. (Böblinger Museumsschriften, Bd. 12.) Böblingen 1994. 6 Johann Christoph GOTTSCHED (Hrsg.), Handlexicon oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Leipzig 1760, 652. 7 An Szepter, Reichsapfel, Helm und Pistolen ist auch die Europa der beiden, um 1750 von Friedrich Elias Meyer (1723-1785) unter Kaendlers Ägide geschaffenen Doppelplastiken „Die Erdteile Europa und Amerika" sowie „Asien und Afrika" erkennbar. - Jutta NICHT, Friedrich II. und die Meißner Porzellanmanufaktur, in: Friedrich II. und die Kunst. Ausstellung zum 200. Todestag. Teil 1. Potsdam 1986, 100-110, hier 106. 8 Johann Christoph ADELUNG, Grammatisch=kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten. 1. Theil. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausg. Leipzig 1793, 1983. 9 Deutsches Handwörterbuch für die Geschäftsführung, den Umgang und die Leetüre. Leipzig 1806, 270; [Friedrich Arnold BROCKHAUS], Conversations=Lexicon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch. Bd. 3. 2. Aufl. Amsterdam 1809, 331-337, hier 331. - In der ersten Auflage des BROCKHAUS,

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damit die Quintessenz dessen wieder, was die wichtigsten Lexika des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in manchmal umständlicher Ausführlichkeit vor den Augen ihrer Leserschaft ausbreiten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildete sich aus der schematischen Beschreibung der Kontinente unter Beifügung besonders auffälliger, kurioser oder interessanter Details der systematische Aufbau des typischen Lexikonartikels über die Kontinente heraus, der sich bis zu den modernen Ausgaben des „Brockhausα oder „Meyer" gehalten hat - selbstverständlich gerade hinsichtlich modemer technischer und naturwissenschaftlicher (Er-)Kenntnisse in wesentlich erweiterter Form. Die mythischen Ursprünge des Namens Europa für den Kontinent mit der sagenhaften Entführungsgeschichte leiten üblicherweise den Artikel Europa ein. Nachfolgend können Geographie und Klima, Fauna und Flora, die geomorphologische Gestalt Europas, Staaten, Regierungen, Völker, Sprachfamilien oder Sprachen, Sitten und Religionen abgehandelt werden; zuweilen rundet ein Überblick über nationale Stereotypen das Bild der Europäer ab. Die Europäer wiederum werden zuweilen im Vergleich mit den Bewohnern der anderen Kontinente betrachtet. Diesem vielfältigen Themenangebot entnimmt die vorliegende Darstellung vier näher zu betrachtende Aspekte, nämlich Mythologie, Etymologie, Geographie Europas und die Europäer. Mythologie. Wenden wir uns zunächst der mythischen Herkunft Europas zu. 10 Der antiken Überlieferung zufolge war Europa die Tochter des Königs von Tyros (oder Sidon); ihre Mutter war Telephassa (oder Argiope oder die Nymphe Melia). Nach anderen war sie die Tochter von Agenors Sohn Phoinix, ebenfalls König von Tyros (oder Sidon), und der Perimede. Zuweilen wird berichtet, daß eine Dienerin der Göttin Hera/Juno eine Salbe entwendet und sie Europa geschenkt habe, die deren Schönheit vollends unwiderstehlich machte. Jedenfalls verliebte sich Zeus/Jupiter in Europa, nahm die Gestalt eines weißen Stiers an (oder schickte einen Stier, der später als Lohn für seine Dienste als Sternzeichen an den Himmel versetzt wurde) und gesellte sich zu den Herden des Königs, die der Götterbote Hermes auf Jupiters Befehl hin bis zum Meeresstrand getrieben hatte; dort lustwandelte Europa mit ihren Gefährtinnen. Durch das gutmütig-sanfte Verhalten des schönen Tieres fühlte sich

Conversations=Lexicon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten. Bd. 2. Amsterdam 1809, 399 f., findet sich nur „Europa. (Mythol.)". 10 Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearb. Hrsg. v. Georg Wissowa. 11. Halbbd. Stuttgart 1907, 1287-1310 (Art. Europe); Edward TRIPP, Reclame Lexikon der antiken Mythologie. 4. Aufl. Stuttgart 198S, 189 f.; Winfried BÜHLER, Art. Europa II (mythologisch), in: Reallexikon für Antike und Christentum. Hrsg. v. Theodor Klauser. Bd. 6. Stuttgart 1966, 980-985. - Zur Darstellung des Mythos Europa in der bildenden Kunst s. Lexicon iconographicum mythologiae classicae. Bd. IV/2. Zürich 1988, 32-48.

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Europa schließlich ganz sicher und kletterte auf seinen Rücken. Im gleichen Moment erhob sich der Stier, schritt ins Wasser und trug die Prinzessin über das Meer nach Kreta. In Kreta gab sich Jupiter Europa in seiner wahren Gestalt zu erkennen; Europa wurde seine Geliebte und Mutter dreier Söhne, Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Schließlich verheiratete Jupiter Europa mit Asterius, dem König von Kreta, mit dem sie eine Tochter Krete hatte; ohne eigene Söhne, adoptierte Asterios die drei Knaben Europas. Der Vater Europas hatte unterdessen seine Söhne Kadmus, Phoinix, Cilix und Thasus mit dem ausdrücklichen Befehl ausgesandt, ihre Schwester zu finden oder nie mehr in die Heimat zurückzukehren. Da sie nirgends Nachricht von Europa erhalten konnten, siedelten auch sie sich in der Fremde an. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts spielte die Sage von der nach Kreta entführten Namensgeberin des eigenen Erdteils eine zunehmend wichtigere Rolle in Enzyklopädien und Lexika. Griechischen und römischen Quellen, auch den schon damals einsetzenden rationalistischen Deutungen wird ebenso wie späteren Überlegungen, etwa des Kirchenvaters Augustinus zur Datierung der Entführung, mehr Raum gegeben, auch werden die Erkenntnisse zeitgenössischer Gelehrter ausführlich gewürdigt und kommentiert. Der steigende Informationsgehalt und der Stil der enzyklopädischen Nachschlagewerke zeigen, daß sie im Gefolge der französischen Enzyklopädisten nicht mehr „bloß belehrend und aufklärend, sondern auch unterhaltend, überzeugend und spannend"11 gestaltet werden sollten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gibt etwa das „Leipziger Lexikon" in kurzer Form die Europa-Sage wieder und stellt zudem die Verbindung zwischen der Sage und der Namensgebung für den Erdteil her: Der Teil der Welt, in den Jupiter „Europa / Agenoris / des königs in Phönicien tochter / und Cadmi schwester" entführt habe, sei „nachgehends nach ihrem namen Europa genennet" worden.12 Doch schon mit diesem Lexikon erhalten auch „diejenigen, welche die Fabeln, soviel als sie können, zu einer historischen Wahrheit bringen"13 ihr Recht: Ein König von Kreta - Asterius oder Minos, wobei letzterer auch zuweilen als Feldherr des Asterius auftritt - habe die Phönizier bekriegt, dabei deren Königstochter Europa entführt und auf einem Schiff taurus (Stier) in seine Heimat gebracht, endlich sich dort mit ihr verehelicht; der Name des Göttervaters erfährt ebenfalls eine realisti-

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Egon FRIEDELL, Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd. 2. München 1928, 253. Das sog. „Leipziger Lexikon" [künftig] beruhte wesentlich auf den ersten drei Auflagen des „Dictionaire" von Pierre Bayle (s. Anm. 16) sowie desjenigen von Louis Moréri (s. Anm. 27) und diente seinerseits als Grundlage des „Basier Lexikons" (s. Anm. 15): Allgemeines Historisches Lexicon mit Johann Franz Buddeus' Vorrede. 1. Aufl. Leipzig 1709; das Zitat Bd. 2, 87. 12

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GOTTSCHED, H a n d l e x i c o n (wie A n m . 6), 6 5 2 .

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schere Umdeutung - Asterius selbst sei nämlich „wegen seiner tugend und gerechtigkeit Jupiter" genannt worden. Dagegen teilte den gebildeten Damen der Zeit das 1715 publizierte „Frauenzimmer =Lexicon" 14 nichts über den gleichnamigen Erdteil mit, und nur das Wichtigste über die sagenhafte phönizische Königstochter Europa, deren Schönheit den Göttervater Jupiter so für sich eingenommen habe, daß er sie in Stiergestalt aus der Mitte ihrer Gefährtinnen übers Meer nach Kreta entführte. Während sich an dieser Stelle der Vorhang über der Erzählung senkt, erwähnt Corvinus ohne weitere Erklärung noch eine Okeanide als zweite Trägerin des Namens Europa. Die ganze Europa-Sage ausbreitend, verweist der „Zedier" nicht nur auf Plinius' Historia Naturae, derzufolge noch zu seinen Lebzeiten auf Kreta ein immergrüner Ahorn als Baum Europas und Jupiters gezeigt wurde. Quellenkritisch wird angefügt, daß Europa zwar unzweifelhaft eine phönizische Prinzessin gewesen sei, „allein der Ochse, so sie entführet", könne nach anderen Quellen auch ein kretischer Seeräuber namens Taurus gewesen sein. Wieder andere meinten, ein „gantzer Troupp Leute" - der unter einer Stier-Fahne kämpfte - habe die Entführung bewerkstelligt; später sei dann die Fabel auf Jupiter umgedeutet worden. Als „allgemeinste Meynung" gibt Zedier die schon 1709 im „Leipziger Lexikon" verbreitete wieder. Das „Basler Lexicon" fügte dem bisher Erwähnten die Bemerkung hinzu, daß Asterius' General Taurus Europa beim Feldzug gegen die Phönizier aus Tyrus geraubt habe; diese sei damals schon Mutter dreier mit Jupiter gezeugter Söhne gewesen, die Asterius bei seiner Hochzeit mit Europa an Kindes Statt angenommen habe.15 Ganz anders wieder die von Johann Christoph Gottsched 1742 herausgegebene deutsche Übersetzung von Pierre Bayles „Dictionaire Historique et Critique"16, das die Vermutung birgt, Asterius sei bei Europas Ankunft auf Kreta noch ein Kind gewesen. Bei ihrer später erfolgten Heirat wäre Europa dann Mutter dreier Söhne - vermutlich von einem Geliebten/Jupiter - gewesen, die Asterius adoptiert hätte.

14 AMARANTHES [Pseud. Gottlieb Siegmund CORVINUS], Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer=Lexicon. Leipzig 1715 (ND 1980), 499. 15 Das sog. „Basler Lexikon" [künftig] wurde herausgegeben von Jacob Christoff ISELIN, Neu=Vermehrtes Historisch= und Geographisches Allgemeines Lexicon. Zweyter Theil. Neue [= 3.] Auflage Basel 1744, 247 f., hier 247. - Es war auf der Grundlage des Leipziger Lexikons (wie Anm. 12) und in Anlehnung an Moréri (s. Anm. 27) erarbeitet worden. 16 Herrn Peter Baylens, weyland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches Wörterbuch, nach der neuesten [= 5.] Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; Mit des berühmten Herrn Maturin Seyssière la Croze und verschiedenen andern Anmerkungen, sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottscheden. Zweyter Theil (C bis J). Leipzig 1742, 466 f. - Wort- und satzspiegelgleich auch: Pierre BAYLE, Dictionaire Historique et Critique. 4ème édition. Avec la vie de l'auteur, par Mr. des Maizeant. Tome 2 (C-I). Amsterdam/Leyden 1730, 434-435.

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Seit den 30er Jahren entpuppen sich einige der enzyklopädischen Nachschlagewerke auch im Hinblick auf den Europa-Mythos als „riesiges Arsenal aller subversiven Ideen"17, die an unvermuteter Stelle geäußert werden: Seit Pierre Bayle, Gottsched und Zedier wird die Fabel nämlich nicht nur quellen-, sondern auch gesellschaftskritisch kommentiert, eignet sie sich doch hervorragend, am Beispiel des Göttervaters Kritik am absoluten Herrscher und an den zeitgenössischen Moralvorstellungen des Adels zu üben: Jupiter habe die schwangere Europa „an eine reiche Parthey, nämlich an den Asterion" verheiratet, ein Vorgehen, das Bayle und sein Übersetzer Gottsched mit den Worten kommentieren: „So pflegen es die Könige oft zu halten: sie verheyrathen die Schönen, die sie so lange genossen haben, als sie gewollt, an reiche Freyer"18. Das Lexikon des Sachsen Zedier, Landsmann und Zeitgenosse Augusts des Starken - der nicht nur einmal entsprechend gehandelt haben soll - , gibt angesichts des vorgeblich den Königen überhaupt zuerkannten Ehrennamens Jupiter zu bedenken, daß von „daher zu ermessen" stünde, „mit was vor Gründen vorgegeben wird, daß Juppiter zum Andencken solcher Begebenheit den Stier mit in den Thier=Creiß am Himmel gesetzet habe". An Europa soll nämlich „Juppiter erwiesen haben, daß eine unartige Liebe auch die größten Leute zu dummen Ochsen mache, und nachdem solches auch furieuse bestien sind, durch sie alsdenn offt Land und Leute ins Verderben gesetzet werden".19 Erreichen Bayles „Encylopédie" und in deren Gefolge Gottscheds Übersetzung mit der Schilderung des Verhältnisses der asiatischen Prinzessin mit dem griechischrömischen „Vater der Götter und der Menschen" einen Höhepunkt barocker Erzählkraft - gemessen nicht nur in der Zeilenzahl der ironischen Kommentierung der Europa-Sage - , so schrumpfen im Zeichen eines neuen Rationalismus gegen die Jahrhundertwende und besonders im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sagenhaften Elemente zugunsten etymologischer Erläuterungen des Namens „Europa". Wenn die „Historie" der Europa nun überhaupt noch erzählt wird, dann mit gewandelter Moral und romantisierender Ausschmückung: Europa auf dem Rücken, eilte der weiße Stier dem Meer zu - „Plötzlich erhoben sich die Wogen, vor ihnen her zogen Liebesgötter mit brennenden Fackeln und sangen das Brautlied; Nereiden tauchten aus dem Wasser auf, Tritonen und andere Meergötter der sanften Art ebenfalls; die Liebesgöttin wurde auf einer Muschel getragen und Poseidon selbst fuhr mit Amphitrite voraus. Jubelnd kam der Zug bis Kreta, wo der Stier sich

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FRIEDELL, Kulturgeschichte (wie A n m . 11), 2 5 3 .

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GOTTSCHED, Handlexicon (wie A n m . 6), 4 6 7 .

19

ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), Bd. 8 (Art. Europa), 1295 f. - Wortgleich als § 5, „Anderweitige Deutung", in: Benjamin HEDERICH, Gründliches Lexicon mythologicum. Zweyte und verb. Aufl. Leipzig 1741, 878.

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in einen schönen Jüngling verwandelte und sich Europa nahte".20 Auch die ebenfalls an Lukian orientierte Schilderung bei „Ersch-Gruber" scheint den beliebten, in Barock und Rokoko häufig bildnerisch gestalteten Europa-Mythos in Klang und Gefühl umzusetzen: Nachdem Zeus in Gestalt des schönen weißen Stieres „mit zierlich gekrümmten Hörnern und freundlich lachenden Augen" die Gruppe der Jungfrauen um Europa erreicht hatte, erweckte er ihre Neugier, indem er „unter lieblich tönendem Gebrüll am Ufer freudig hin und her[sprang]"; Europa stieg auf seinen Rücken, er lief ins Meer und schwamm davon, von Meeres- und Liebesgöttern umspielt: „Auch die Göttin der Liebe, auf einer glänzenden Muschel sitzend, wurde von starken Tritonen getragen; sie streuete die lieblichsten Blumen über die Braut aus, und so, unter dem lauten Jubel aller Himmlischen, gelangte die Hochbeglückte an Kreta's frohlockende Gestade; statt des Stieres stand nun der erhabene Olympier in der Schönheit des Jünglings vor ihr und führte die vor Scham Erröthende zur Diktäischen Höhle".21 Den wissenschaftlichen Ansprüchen von Ersch-Grubers Enzyklopädie genügen die bisher üblichen quellenkritischen Erläuterungen allerdings nicht: Wohl hätten „die Alten ... mancherlei Deutungen" versucht, die jedoch nur bewiesen, „daß sie die Natur des Mythos gar nicht verstanden" hätten. Geleitet von der Frage nach den „Hauptsymbolen" des Europa-Mythos („das Geschlecht der Europa, der Stier, welcher sie nach Kreta führt, und das Land aus dem sie stammt, der Orient, zunächst Phönikien") kamen die Autoren zu der damals zukunftweisenden und heute in der Etymologie angewandten Erkenntnis, daß sich die Sage auf einen ursprünglich orientalischen, später in Kreta heimisch gewordenen Kult zurückführen lassen müsse, in dessen Mittelpunkt eine mit der Stiersymbolik verbundene Göttin stünde. Im Gegensatz zu den hier gebotenen Quellenzitaten und ausgefeilten Überlegungen beschränkten sich sowohl die zur Jahrhundertmitte erschienene „Realencyclopädie" Wilhelm Binders als auch die zehnte Auflage des „Brockhaus" auf eine kurze, sachliche Skizze der Fabel, wie sie außerhalb von Speziallexika auch heute üblich ist.22 Dagegen nehmen die in eigenen Artikeln folgenden Erdteilbeschreibungen der Realenzyklopädien entsprechend mehr Raum ein, die eine tour d'horizon von der europäischen Geographie über Bewässerungs-

20 Rheinisches Conversations=Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Bd. 4. 2. Aufl. Köln/Bonn 1834, 876-890, hier 877. 21 Johann Samuel ERSCH/Johann Gottfried G R U B E R (Hrsg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Erste Section. A-G. 39. Theil. Leipzig 1843, 168-170, hier 169; 40. Theil (Nachträge). Leipzig 1844, 433-443. 22 Wilhelm B I N D E R (Hrsg.), Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland. Bd. 4. Regensburg 1848, 49-52. - [Friedrich Arnold B R O C K H A U S ] , Allgemeine deutsche Real-EncyclopSdie für die gebildeten Stände. Bd. S. 10. Aufl. Leipzig 1852, 673-683, davon elf (!) Zeilen über den Mythos Europa.

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Verhältnisse und „Klima und Producte" (letzteres meint Flora und Fauna) bis zu Bevölkerungs- sowie staatlichen Verhältnissen bieten. Etymologie. Schon Herodot gab in den „Historien" humorvoll zu, daß er wirklich nicht wisse, weshalb man der an sich eine Einheit bildenden Welt drei Namen, dazu Frauennamen, gegeben habe (Europa, Asia und Libya = Afrika), und wer dafür verantwortlich sei. Obwohl unzählige Forschergenerationen seit Herodot der Frage der Namensgebung Europas ihren wissenschaftlichen Fleiß zuwandten, ist die Herkunft des Wortes und Namens Europa nicht eindeutig geklärt. Inzwischen aufgegeben wurde die vielzitierte Hypothese, derzufolge die Worte „Asien" und „Europa" einer Sprache des Zweistromlandes entstammten: Im Akkadischen bedeutet das Wort asu soviel wie „aufgehen" und erebu „untergehen". Der erste Begriff bezöge sich also auf das „asiatische" Morgenland, der andere auf das „Land der untergehenden Sonne", das Abendland. Inzwischen gilt die vorgriechische Herkunft wegen des Stammbildungssuffixes „op" als nicht ausgeschlossen, wobei sowohl die Zugehörigkeit zum thrako-illyrischen als auch zum tyrseno-pelasgischen Bereich namhaft gemacht wurde.23 Am häufigsten wird Europa bis heute auf das griechische Adjektiv euros (weit) und das Substantiv ops (Auge, Gesicht, Erscheinung), davon abgeleitet opos (aussehend wie, blickend wie), zurückgeführt. Zeus euruopé meinte demnach „Zeus sieht weit". In der weiblichen Form bezeichnet das Wort eine Frau mit schönen Augen und mit schönem Gesicht. Neueren Forschungen zufolge wurde bei euros die antike Verwendung im Sinne von „dunkel" und „tief" nachgewiesen, wonach Europa dann „die Dunkelaussehende" bedeutete. Zu dieser Aussage fügte sich der mythologische Befund insofeme, als Europa in Verbindung mit einer Erdgöttin - der „dunkelgewandeten" oder „unterirdischen" Erdmutter Demeter-Europe - gesehen und mit dem altkretischen Stierkult in Zusammenhang gebracht werden konnte. In diesem Sinne könnte aber auch die Okeanide Europa (Tochter Poseidons/Neptuns und der Thetis) „aus dem Wasserdunkel" dem Erdteil zu seinem Namen verholfen haben. Das „Leipziger Lexikon" (1709) zitiert zur Etymologie den französischen Hebraisten Samuel Bochart (1599-1667) mit der Auffassung, daß „das wort Europa von den 2 griechischen wörtem Chur-appa, welches so viel heißt / als ein weiß gesichte / herkomme / weil nemlich die Europäer in vergleichung mit den Africanern weiß sind"24 - an dieser Stelle sei angemerkt, daß auch in der Kaendler-Gruppe der wahrhaft porzellanene Teint der Europa nur mit der Ebenholzfarbe der Africa

23 Vgl. dazu und zum Folgenden: Georg PFLIGERS DORFFER, Art. Europa I (geographisch), in: Reallexikon für Antike und Christentum (wie Anm. 10), 964-980, hier 964 f. 24 Leipziger Lexikon (wie Anm. 12), 87; wortgleich Basier Lexikon (wie Anm. 15), 247.

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kontrastiert; Asías Haut ist elfenbein-rosé, Americas weiß mit bräunlichem Schimmer.25 Ganz ähnlich die „Encyclopédie" (1756) von Diderot und d'Alembert: „L'étymologie qui est peut-être la plus vraisemblable, dérive le mot Europe du phénicien urappa, qui dans cette langue signifie visage blanc; épithete qu'on pourrait avoir donné à la fille d'Agénor soeur de Cadmus, mais du moins qui convient aux Européens, lesquels ne sont ni basanés comme les Asiatiques méridionaux, ni noirs comme les Africains". 26 Auch die 20. Auflage des 1674 erstmals erschienenen „Moréri" hebt noch einmal auf die „Weiße" der Europäer im Gegensatz zur „Schwärze" der Afrikaner ab; im Anschluß an Bochart unterstütze gerade der phönizische Ursprung des Namens nachdrücklich die These der Abstammung der Europäer von der kleinasiatischen, nach Kreta verschleppten Prinzessin, die Horaz als „schneeige Europa" gepriesen hätte: „La blancheur de cette princesse a été si vantée, que les anciens ont feint qu'une des filles des Junon avoit dérobée le petit pot de fard de cette déesse, & qu'elle l'avoit donné à Europe". 27 Neben dem europäisch-afrikanischen Gegensatzpaar stehen andere Varianten wie die schon erwähnten von Morgen- und Abendland, Osten und Westen, von Tag/Licht und Dunkelheit/Nacht, aber auch diejenigen, die eine antipodische Beziehung zwischen Europa und Asien herstellen. Europa hat hierbei nicht nur den dunklen Part: „Europa's Name (welcher die ,Weiße' bedeutet) erhielt das mit weißen Bewohnern bevölkerte Land im Westen von Asien. Nach Andern bedeutet Europa ein dunkles, unbekanntes Land, sodaß unser Welttheil im Gegensatz des cultivirten Asiens so genannt worden wäre". 28 Das „Bilder-Conversations-Lexikon" leitet das EuropaLemma mit der kurzen Feststellung ein, daß Europa „die Weiße" heiße; unter Verweis auf ein „ergötzliches", heute ganz unbekanntes und Asien nicht erwähnendes Gedicht August Bürgers wird noch - die neuesten Erkenntnisse der Geographen berücksichtigend - angemerkt, daß die Sage „vielfach auf die von Asien ausgegangene Bevölkerung des Erdtheils Europa gedeutet" worden sei.29

25 Zur sich wandelnden Wahrnehmung der Hautfarben s. Walter DEMEL, Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rassentheorien, in: Historische Zeitschrift 255, 1992, 625-666. 26 Denis DLDEROT/Jean Le Rond d'ALEMBERT, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens des lettres. Tome 6. Paris 1756, 211-212. 27 Louis MORÉRI, Le Grand Dictionnaire Historique, ou le mélange curieux de l'histoire sacrée et profane. Nouvelle édition [ = 20., Überarb. Aufl. in 10 Bdn.]. Tome quatrième. Paris 1759, 315-316. Ahnlich auch Rheinisches Conversations=Lexicon (wie Anm. 20), 877 und andere deutschsprachige Lexika des 19. Jahrhunderts. 28 29

Rheinisches Conversations=Lexicon (wie Anm. 20), 877.

Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung in 4 Bdn. Bd. 1. Leipzig 1838. 704-706, hier 704. - Der Verweis gilt dem 1777 verfaßten und Anfang des 19. Jahrhunderts wohl sehr bekannten [etwa der ersten Auflage des BROCKHAUS, Conversations=Lexicon (wie Anm. 9), 400] Gedichts „Neue

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Der „Zedier" bezieht in seine etymologischen Bemerkungen sowohl die griechische wie die semitische Wurzel des Namens Europa ein, zielt aber als einziger auf eine andere der drei großen Ursprungslegenden Europas, wenn er die mythische Abstammung der Europäer von Noahs Sohn Japhet (1. Mos 10, 2 ff.) erwähnt. Auch die alttestamentarische Variante ließe die Verbindung zu Asien zu - naheliegend durch Japhets Bruder Sem, dessen Nachkommen Asien besiedelt haben sollen; möglich wäre zudem die Identifikation Japhets mit dem Japetos der griechischen Mythologie, dessen Frau Asia und dessen Sohn Prometheus gewesen sein sollen. „Europa, dieser Name soll von eupwf, latus, und tm/s oculos, seufacies, zusammen gesetzet seyn, welcher bey einem Frauenzimmer auf ein paar grosse Augen sein Absehen haben kann, so fern aber solcher Name, den einen Theil der Welt bedeutet, auf die Ausbreitung des Japhets in demselben gehen soll. Allein andere wollen nach ihrer Weise lieber einen Phoenicischen Namen daraus gemacht wissen, der von apha, facies, chur, albus, so viel als ein Frauenzimmer mit einem weissen Gesichte bedeutet" .30 Europas Namen, deren Fest Hallotia (oder Hellotia) man auf Kreta einst gefeiert habe, hätte dem „Festland im Westen von Asien" ihren Namen gegeben, stellt die zweite Auflage des „Pierer" fest, in der nicht nur die mythische, sondern auch das geographische Europa auf die asiatisch-europäische Deutung abzielt.31 Das Rotteck-Welckersche Staatslexikon berührt die Fabel erwartungsgemäß nicht, dagegen die „Farbe" der Europäer, indem es erstmals den Begriff der „kaukasischen oder weißen Menschenrace" für die Bewohner Europas einführt.32 In allen älteren enzyklopädischen Nachschlagewerken war an dieser Stelle von „Classen" bzw. „Hauptstämmen" und den von ihnen abstammenden europäischen „Einwohnern" oder den „herrschenden (Haupt-)Völkern" die Rede gewesen; auch in den jüngeren wird die „Race" zunächst nicht aufgegriffen, sondern durch Betrachtungen „in Beziehungen auf die Nationalverschiedenheiten" die Trennung von europäischen und nichteuropäischen „Völkersippen" ersetzt. Die ausgedehnteste und vollständigste Übersicht über die Verknüpfungen von Mythos und Etymologie bietet das Mammut-

weltliche hochteutsche Reime", das den Europa-Mythos auf heitere Weise aufs Korn nimmt; Bürgers Gedichte. Hrsg. v. Arnold E. Berger. Krit. durchges. und eri. Ausg. Leipzig/Wien o. J. [1891], 125-134. 30 ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), 1292; wortgleich HEDERICH, Lexicon mythologicum (wie Anm. 19). 31 Heinrich August PIERER, Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Bd. 10. 2. Aufl. Altenburg 1842, 158-160, hier 158 f. - Noch ausführlicher zu dem Hellotis-Kult Europas auf Kreta und in Korinth: ERSCH/GRUBER, Allgemeine Encyclopädie (wie Anm. 21), 39. Theil, 168. 32 Carl v. ROTTECK/Carl WELCKER (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften. Bd. 5. 1. Aufl. Altona 1837, 291-313, hier 293.

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unternehmen der Ersch-Gruberschen Enzyklopädie in zwei Europa-Artikeln, deren wichtigste Punkte allerdings schon berührt wurden.33 Geographie. Orbis situm dicere aggregior, impeditum opus et facundiae minime capax - mit diesen Einleitungsworten seines Buches „De chorographia" aus dem Jahre 44 scheint Pomponius Mela nicht nur für die Geographen, sondern für alle Autoren zu sprechen, die jemals eine Erdteilbeschreibung Europas für enzyklopädische Nachschlagewerke zu verfassen hatten. Eine „eher weitschweifige als angenehme Aufgabe"34 schien es ihm dabei, die notwendige Aufzählung der Namen von Gewässern und Gebirgen, Völkern und Staaten elegant und verständlich verknüpft zu präsentieren - eine Aufgabe, die angesichts des in den Lemmata darüberhinaus konzentrierten geographischen Wissens nicht einfacher wird. Doch vielleicht können auch hier die Kaendlerschen Erdteil-Plastiken helfen. Offensichtlich gehörte die Vierzahl der Erdteile zu deren Entstehungsdatum um 1745 noch zum Allgemeingut des Wissens: Australien war zwar schon 1606 von Holländern entdeckt und zunächst für eine Insel („Neu-Holland") gehalten worden, etablierte sich aber erst an der Wende zum 19. Jahrhundert als fünfter Kontinent im lexikalischen Bewußtsein der Europäer35. Die Enzyklopädien, Universal- oder Reallexika des 18. Jahrhunderts kannten Australien jedoch nicht. Der „Zedier"36 unterteilte die Welt der vier Kontinente in die „Alte Welt" aus Asien, Afrika und Europa - wie sie die Antike seit Herodot kannte - und in die „Neue Welt", das 1492 entdeckte Amerika. Von fünf Erdteilen war auch bei den französischen Enzyklopädisten noch keine Rede: Nicht angesichts Australiens, sondern der unerforschten arktischen Gebiete fragt die „Encyclopédie", ob man die Welt wirklich in nur vier Teile gliedern könne: „... du moins cette division ne paroît pas exacte, parce qu'on n'y souroit renfermer les terres arctiques & les antarctiques, qui bien que moins connues que le reste, ne laissent pas d'exister & de mériter une place vide sur les globes & sur les cartes."37 Obwohl der Brite James Cook 1770 Australiens Südküste entdeckt und den Kontinent für die englische Krone in Besitz genommen hatte, benannte auch die erste Auflage der Encyclopaedia Britannica (1771) Europa als „the least of the four grand

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Vgl. Anm. 21. Kai BRODERSEN (Hrsg.), Pomponius Mela. Kreuzfahrt durch die Alte Welt. Darmstadt 1994,

33. 35 Von den eingesehenen Lexika des deutschen, französischen und englischen Sprachbereichs nur: Rheinisches Conversations=Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Hrsg. v. einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten. Bd. 4. 1. Aufl. Köln/Bonn 1824, 700-704, hier 700. - Für frühere Lexika, z. B. die ersten beiden Auflagen des BROCKHAUS, Conversations=Lexicon (wie Anm. 9), stellt sich das Problem mangels Verweises auf die anderen Erdteile nicht. 36 ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), Bd. 54 (Art. Welt-Theile), 1851 f. 37

D ID ER οτ/D'ALEMBERT, E n c y c l o p é d i e (wie A n m . 26), 2 1 1 .

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divisions of the earth"38; und sogar die elf Jahre später erschienene Auflage des „Hübner" sprach noch von Europa als einem der „4 Theile der Welt"39. Das ändert sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, wobei Europa aber weiterhin als der kleinste, wenngleich wichtigste Erdteil gilt. Und noch etwas ändert sich: Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert als Frauen personifiziert40, werden die Kontinente in der ersten Auflage des „Meyer" zu „Brüdern", deren „unbedingt gewichtigstefr]" seiner kulturhistorischen und politischen Bedeutung nach Bruder Europa ist; „in materieller, noch mehr aber in geistiger Beziehung [übe er] eine höchst einflußreiche Oberherrschaft" aus - letzteres hatte schon Kaendler plastisch zum Ausdruck gebracht.41 Dagegen taucht die Auffassung des Kontinents Europa als einer „Halbinsel Asiens" erstmals um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Lexika auf und scheint damit viel älter zu sein als das vielzitierte Wort Paul Valérys.42 Möglicherweise nur das kontinentale Anhängsel und nur der kleinere Teil der riesigen Landmasse Eurasien zu sein, irritierte das aus den Lexika ablesbare europäische Selbstbewußtsein. So ändern sich etwa zwischen der achten und der zehnten Auflage des „Brockhaus" die Terminologie und der Aufbau der Sequenz zur Geographie Europas grundlegend. Hatte es 1834 noch traditionell geheißen, daß „Europa der kleinste, aber bevölkertste und cui tivierteste Erdtheil" sei, wird der 1852 erschienene EuropaArtikel mit der Feststellung eingeleitet, daß „Europa ... zwar der äußern Lage nach nur als eine Halbinsel Asiens zu betrachten" sei, „seine eigentümlichen Naturverhältnisse aber stempel[te]n es nicht allein zu einem selbständigen Erdtheile, sondern auch zum wichtigsten Mittel- und Ausgangspunkt der Zivilisation".43 Überhaupt kann man nicht von Europa reden, ohne Asien zu thematisieren. Ein kurzer Blick auf die Erdteil-Plastiken Kaendlers läßt eines der wichtigsten Probleme erkennen: Wie nämlich verhält sich unsere Asienvorstellung, unser heutiger Begriff von „Osten" zu dem des 18. Jahrhunderts? Wäre Katharina die Große, die

38 Encyclopaedia Britannica or A Dictionnary of Aits and Sciences. 3 Bde. 1. Aufl. Edinburgh 1768-1771 (ND 1968), hier Bd. II, 518. 39 Johannes HÜBNER, Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon. [1. Aufl. Leipzig 1704.] Neue, vert), und stark verm. Aufl. 1782, hier Bd. 2, 861. 40 Sogar die Umrisse Europas ähnelten den Geographen des 17./18. Jahrhunderts zufolge „einer sitzenden Jungfrau" - so Leipziger Lexikon (wie Anm. 12), 87; Basler Lexikon (wie Anm. IS), 247; ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), 1294. 41 Joseph MEYER (Hrsg.), Das groBe Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Bd. 9. 1. Aufl. Hildburghausen/Amsterdam/Paris/Philadelphia 1847, 373-418, hier 373. 42 Z. B. BINDER, Allgemeine Realencyclopädie (wie Anm. 22), 49: „Europa, nächst Australien der kleinste der fünf Erdteile, eine halbinselartige Fortziehung des nördlichen Asiens ...". 43 [Friedrich Arnold BROCKHAUS], Allgemeines deutsches Conversations-Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes. Bd. 3. 8. Aufl. Leipzig 1834, 83S-837, hier 835; BROCKHAUS, RealEncyclopädie (wie Anm. 22), 673. - In diesem Zusammenhang müßte auch die immer stärker werdende Amerika-Rezeption berücksichtigt werden!

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„Semiramis des Nordens", heute nicht eine des „Ostens"? Von den drei „Nordischen Höfen" nicht wenigstens der russische ein östlicher? Der Begriff „Asien" ist ganz unbestimmt, er kann heute ebensogut Japan, die Osttürkei oder Nordrußland meinen. Bei Kaendler ist diese Frage noch relativ leicht zu lösen, Asia verkörpert das Morgenland, den Orient: Mit Perlenschnüren und Edelsteinen reich geschmückt, trägt sie türkische Tracht und einen Turban mit Halbmondagraffe. In der einen Hand hält Asia ein Szepter, in der anderen ein Räuchergefäß, das das orientalische Asien als Ursprungsland der drei großen Religionen ausweist und zusätzlich auf „die Wohlgerüche Arabiens" anspielt. Entsprechend auch die Nennungen und die Terminologie der Lexika, die bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht vom Osten, Westen, Süden oder Norden sprechen, sondern „gen Morgen", „Abend", „Mittag" oder „Mitternacht" deuten. Die zentrale Frage hinsichtlich der Geographie Europas ist die seiner Ausdehnung und damit seiner Grenzen, insonderheit der östlichen. Wo findet sich der Gebirgsstock, wo der Flußlauf, wo die deutliche Sprach-, Religions-, Kultur- oder Staatsgrenze - um nur einige Möglichkeiten zur Grenzbestimmung zu nennen - , die die Lexikographen des 18. Jahrhunderts mit Bestimmtheit den Satz niederschreiben ließ: „Ainsi tout ce qui est au couchant à la main gauche, est de l'Europe; & tout ce qui reste vers la main droite, est de l'Asie"?44 Der „Zedier" stellt 1734 fest, daß „der meiste Hauffen derer alten Erd=Beschreiber mit denen neuern eins" darin sei, „daß sie den Tanaïs [Don] zur Grentze zwischen Europam und Asiam setzen".45 Daß damit keineswegs eine vom Quellgebiet des Don bis zum Weißen Meer gezogene Grenzlinie gemeint ist, wird dabei nicht sofort deutlich. Betrachtet man aber den Verlauf des Don, der vom Asowschen Meer aus gesehen zunächst nach Osten, dann erst nach Norden fließt, zeigt sich, daß hier eine (vom antiken Griechenland aus gesehene) Nord-Süd- und keine Ost-West-Grenze zwischen Asien und Europa angegeben wird; letztere bildet der östlich und parallel vom Ural bis zur Karasee verlaufende Ob. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich allerdings in Gestalt des Urals die bis heute gültige Ostgrenze Europas durch. Konventionelle Grenzen bilden außerdem der Fluß Ural, das Kaspische Meer, die Manytschniederung, das Schwarze Meer, der Bosporus, das Marmarameer, die Dardanellen sowie das Ägäische Meer. Als westlichster Punkt Europas gilt Kap Roca in Portugal mit 9° 30' w. L., als östlichster der Polarural bei 66° ö. L.

44 DLDEROT/D'ALEMBERT, Encyclopédie (wie Anm. 26); MORÉRI, Dictionnaire Historique (wie Anm. 27); wörtlich übersetzt u. a. im Leipziger Lexikon (wie Anm. 12) bzw. im Basler Lexikon (wie Anm. 15) und bei ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3). 45 ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), 1294.

Stichwort „Europa"

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Das „Leipziger Lexikon" als ältestes der hier untersuchten stellt fest, daß sich Europa „vom 34 grad latitud, bis 72, und vom 9 grad longitud, bis 93 oder 94 [erstrecke] / woraus erscheinet / daß es fast gantz innerhalb der zonœ temperata und nach keinem theile in der zona torrida, wiewol nach einem kleinen stücke an und in der zona frigida lieget. Gegen mittag hat es das mittelländische meer / wodurch es von Africa abgesondert wird; gegen abend gränzet es an das atlantische meer / gegen mitternacht an das eiß=meer / und gegen morgen wird es von Asien durch den Archipelagum, die see Marmora / die meer=enge Gallipoli / das schwartze meer / die meer=enge von Caffa oder Bosporo / die see Zabaque und den fluß Don oder Tanaïs / von welchem man eine linie bis an den fluß Obi [Ob] und von dar vollends ans eyß=meer [Nordpolarmeer] ziehen muß". Diesen Absatz übernehmen wörtlich sowohl der fast drei Jahrzehnte jüngere „Zedier" als auch die dritte Auflage des „Basler Lexikons" von 1744, ohne im übrigen die 1720 vorgenommene Veränderung des Nullmeridians zu berücksichtigen.4* Letztere kann das Hübnersche Reallexikon sowohl in seiner letzten Ausgabe (1719) vor der Verlegung als auch in deijenigen von 1782 umgehen, da die Angaben zu Europa nach deutschen Meilen berechnet werden - zwischen dem westlichsten und dem östlichsten Punkt in Europa, „von Capo S. Vincente bis an den Einfluß des Flusses Oby [Ob] in Moscau" liegen nach Hübner 900 deutsche Meilen; doch auch er bleibt bei der oben zitierten Grenzbeschreibung.47 Im Gegensatz zu dieser Berechnung des „Leipziger Lexikons" fussen die von Moréri und den französischen Lexika aufgegriffenen Angaben auf den Arbeiten des französischen Hofgeographen Claude de l'Isle (1643-1720), dessen Grenzziehung zu Asien allerdings westlicher verläuft: nicht zu Europa, sondern zu Asien rechnet demnach „nicht allein die gantze Moscovitische Tartarey, sondern auch ein grosses Stück von Moscau gegen Osten", als Grenzflüsse gelten hier die Flüsse Don und Dwina (Düna) - womit die französischen Angaben 200 Meilen weniger als die deutschen umfassen; anders ausgedrückt, reicht Europa von Frankreich aus nicht bis hinter den Ural, sondern bis Moskau. Während sich Bayle und Gottsched gar nicht über die Geographie Europas äußern, und Krünitz' Enzyklopädie nicht einmal ein Stichwort Europa aufweist48, nimmt sich die

46 Leipziger Lexikon (wie Anm. 12), 87; wortgleich Basler Lexikon (wie ANM. 15), 247; ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), 1293. - Der Nullmeridian wurde 1720 auf 20° westlich von Paris festgelegt, 1884 dann auf die alte Sternwarte von Greenwich. Bei den im Folgenden zitierten alten Angaben müssen ca. 20° „abgezogen" werden. 47 HÜBNER, Conversationslexicon (wie Anm. 39), Bd. 1. 6. Aufl. Leipzig 1719, 619; ebd., 1154, wird im Lemma „Moscau, Rußland" letzteres als „eine grosse Landschaft in Europa" bezeichnet.

- HÜBNER, C o n v e r s a t i o n s l e x i c o n ( w i e A n m . 39), Bd. 2 , 8 6 2 . 48 Johann Georg KRÜNITZ, Oeconomisch-technologische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats=, Stadt=, Haus= und Landwirtschaft. Bd. 11. Berlin 1788, verzeichnet nur die Stichworte „europäischer Chinachina" mit dem Verweis auf „Enzian" und „europäischer Thee".

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„Encyclopédie" von Diderot und d'Alembert dieser Fragen umso ausführlicher an. Bevor sich der gelehrte Chevalier Louis de Jancourt (1704-1779) jedoch zu den markanten Grenzpunkten des Kontinents äußert und nun auch auf die Ob-Grenze in französischen und deutschen Längenmaßen einschwenkt, weist er die Leser auf die für einen Kontinent erstaunliche Tatsache hin, daß „Europa" weder immer das gleiche Gebiet noch den gleichen Umfang noch die gleichen Gebietsteile gehabt habe; „& pour les sous-divisions, elles dépendent d'un détail impossible, faute d'historiens qui puissent nous donner un fil capable de nous tirer de ce labyrinthe". 4 ' Und die einzige Art, auf die sich die Gelehrten von damals bis heute aus dem Labyrinth befreien können, lag und liegt in der Aufzählung der meistzitierten möglichen Grenzverläufe im Osten. Was die Untergliederung Europas selbst angeht, stehen die Leser wieder vor einer Fülle von Antworten: Das Wörterbuch von Moréri spricht von den sechs Teilen Europas, die Encyclopaedia Britannica dagegen nur von „three grand divisions, north, middle and south", wobei u. a. England und die Baltenstaaten zu Nordeuropa, Polen, Deutschland, die österreichischen Erblande, die Niederlande und Frankreich zu Mitteleuropa und, nicht weniger erstaunlich, die Schweiz zu Südeuropa gezählt werden. Die Begriffe West- und Osteuropa kommen hier ebensowenig vor wie Rußland oder die Türkei, die bei Moréri wenigstens in ihren europäischen Teilen zu Europa gezählt werden.50 Zahllos sind die Kriterien, nach denen eine innere Aufteilung des europäischen Kontinents erfolgen kann; etwa „nach der natürlichen Beschaffenheit des Bodens", wie das 1848 in Regensburg erscheinende Bindersche Lexikon meint, wonach Europa ebenfalls in drei Teile, nämlich Ost-, Südwest- und Nordeuropa zerfiele. „Ost=Europa ist das große Flachland, das aus Asien hereinzieht über den kaspischen See bis an den untern Lauf der Wolga und des Don, und sich nun weit und breit ausdehnt zwischen dem schwarzen Meere auf der einen, und dem arktischen Polar= und dem baltischen Meere auf der andern Seite", schreibt der Verfasser des Europa-Artikels; er spricht damit die sich damals anbahnende „Verlegung" Rußlands vom Norden in den Osten Europas und die heute wieder aufgegriffene Übereinstimmung Osteuropas mit dem europäischen Teil Rußlands aus.51 Es führte zu weit, die vielen anderen, ebenfalls vorgeschlagenen Teilungsmöglichkeiten für den europäischen Kontinent darzulegen. Tatsache ist, daß sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Fünfteilung (Mittel-, Ost-, Süd-, West-

49 50

DIDEROT/d*ALEMBERT, Encyclopédie (wie Anm. 26), 211.

MORÉRI, Dictionnaire Historique (wie Anm. 27), 315; Encyclopedia Britannica (wie Anm. 38), Bd. II, 518. 31 BINDER, Allgemeine Realencyclopädie (wie Anm. 22), 50.

Stichwort „Europa"

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und Nordeuropa) durchsetzen kann, wobei Rußland nicht länger zu Nord-, sondern zu Osteuropa geschlagen wird. Die zweite Brockhaus-Auflage von 1809 und die wesentlich aus BrockhausArtikeln zusammengesetzten beiden Auflagendes „Rheinischen Conversations=Lexicons" von 1824 und 1834 propagieren die „Ural-Lösung" (Fluß und Gebirge) als „natürliche" Grenze zwischen Europa und Asien. Trotzdem weisen sie die Leser noch daraufhin, daß die „Größe unseres Erdtheils ... verschieden bestimmt [werde], theils wegen der unsichern Angaben von dem Flächeninhalte der einzelnen Länder, theils wegen der verschieden gezogenen Gränze zwischen Europa und Asien".52 Das „Bilder-Conversations-Lexikon" (1838) greift sprachlich leicht modernisiert die klimatologische Beschreibung des „Leipziger Lexikons" auf, verringert aber ohne auf die Aufzählung alternativer Grenzziehungen zu verzichten - diesem gegenüber ebenfalls Europas Ausdehnung bis zu den Hügelkämmen des Ural. „Auf drei Seiten vom Meere umgeben, hängt es [Europa] nur auf der Ostseite mit Asien zusammen, wo die Grenze unbestimmt ist, weil man in Rußland, zu welchem diese Seite gehört, keine Trennung zwischen den zu Europa und zu Asien gehörenden Theilen macht", schließen die Autoren ihre Betrachtung. Hätte Rußland eine Grenze zwischen Europa und Asien, quasi eine innere Demarkationslinie zwischen europäischen und asiatischen Reichsteilen anerkennen können? Oder die Türkei, das andere Land mit solch einer imaginären Grenzlinie? Hier antworteten die enzyklopädischen Nachschlagewerke des 18. und 19. Jahrhunderts unterschiedlich. Auf die „complicirte" Frage der Ostgrenze Europas in der historischen und der neueren Geographie erwiderte Ersch-Grubers Enzyklopädie in aller Ausführlichkeit: Europa begänne im Osten da, „wo sich der asiatische Landkoloß in relativ äußerst kleinen Verhältnissen zu gliedern und zu zerspalten anfängt", wonach Rußland nur als „vermittelndes Übergangsglied" und nicht als europäisches Land gälte. Sollte es, wie einige Geographen wollten, aber doch zu Europa gehören, so hätten sich einige von ihnen „zu der politischen Grenze des europäischen Rußland bekannt".53 Politisch und nicht, wie bei beiden Ländern denkbar, religiös motiviert, ist auch der Ausschluß der Türkei - „deren Kern in Asien zu suchen" sei - , denn hier gehorchten die Menschen nicht europäischen Gesetzen.54 Die neue Wahrnehmung Rußlands in Europa seit dem 18. Jahrhundert - wo sich der „vorhin unbekannte Russe ... zu der ach-

52 BROCKHAUS, Conversations=Lexicon. 2. Aufl. (wie Anm. 9), Bd. 3, 332; Zitat: Rheinisches Conversations=Lexikon (wie Anm. 35), 701 bzw. 2. Aufl. (wie Anm. 20), 878. 53 ERSCH/GRUBER, Allgemeine Encyclopädie (wie Anm. 21), 40. Theil, 435 f. - Bei allen statistischen Angaben wird Rußland gleichwohl mit eingerechnet. 54

BROCKHAUS, R e a l - E n c y c l o p ä d i e (wie A n m . 22), 6 8 3 .

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tungswürdigsten Höhe geschwungen"55 - und der gleichzeitige Machtverfall, die „Unmacht" der Pforte, haben zwar Einfluß auf die Wahrnehmung der Europa zugehörigen Völker, lassen aber trotzdem die seit der Antike vorgegebene Ostgrenze Europas unverändert - von der leichten Westverschiebung abgesehen. Die Europäer. Einer der 425 Artikel des bayerischen „Kinder=Conversations = Lexikons" von 1849 lehrt unter dem Titel Europa seine jungen Leser, daß auch „unser Vaterland Deutschland (Bayern) ... ein kleiner Theil Europas" sei, und folgert daraus: „Wir sind also Europäer". 56 Durchblättert man die enzyklopädischen Nachschlagewerke zwischen 1700 und 1850 auf der Suche nach dem Begriff des Europäers und den ihn konstituierenden Eigenschaften, wird man bald der Tatsache gewahr, daß in den Europa-Artikeln ohnehin die europäische Identität beschrieben wird. Abgeleitet aus der gemeinsamen Hautfarbe („Weiße"), der gemeinsamen Abstammung aus „Europas Völkerwiege Kleinasien", verbindenden kulturellen und religiösen Tradition und der gemeinsamen Geschichte werden sich „die Europäer" ihrer Eigenart in Konkurrenz und Vergleich zu Asien, zu Afrika und auch Amerika bewußt - ganz so, wie es die Kaendler-Plastiken nahelegen - , aus der wiederum die Bestätigung der Überlegenheit „der Bewohner dieses Erdteils" den anderen gegenüber gezogen wird. Die allen Europäern eignenden Gemeinsamkeiten bilden in den Europa-Lemmata den Rahmen um die Themenkreise Völker und Staaten, Sprachen und Religionen, manchmal Sitten pp. Analog zur Geographie scheint es auch im Hinblick auf den Begriff des Europäers folgerichtig, ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Völker zu richten, die aus spezifischen Gründen als nicht eindeutig europäisch angesehen wurden. Die geographische Zugehörigkeit Rußlands und der Türkei sowohl zu Asien als auch zu Europa, im Falle des Osmanischen Reiches sogar zusätzlich zu Afrika, führt in den Lexika des 18. Jahrhunderts zur „geteilten" Wahrnehmung und Einbeziehung nur der europäischen Landesteile, nicht aber zu Zweifeln am grundsätzlichen Europäertum der Russen und Türken. Ihr religiöser Hintergrund führt auch bei der als „orthodox-katholisch" eingestuften Enzyklopädie von Moréri keineswegs zu ihrer Ablehnung als europäische Völker: Das Christentum in seiner orthodoxen, katholischen und protestantischen Ausprägung und die „mahomedanische" Religion gelten als die beiden europäischen Hauptreligionen. Was nun macht die Europäer aus?

55 Neues historisches Hand=Lexicon. Oder kurzgefaßte biographische und historische Nachrichten [...] besonders neuerer Zeiten, bis aufs Jahr 1784. Ulm 1785, Vorrede, 2. 56 Wilhelm WEISS, Kinder^Conversations=Lexicon in 425 Artikeln. Dillingen 1849, 84.

Stichwort „Europa"

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„Die Europäer haben durch ihre geschicklichkeit und tapfferkeit die vortrefflichsten theile der weit unter sich gebracht. Ihr witz erhellet aus ihren wercken; ihre klugheit aus ihrer Regierung; ihre stärcke und macht aus ihren armeen; ihre gute conduite aus ihrem handel und wandel; und endlich ihre pracht und herrlichkeit aus ihren Städten und gebäuen" - darin sind sich das „Leipziger" mit dem Zedlerschen und dem „Basler Lexikon" einig. Moréris „Dictionnaire", in seiner ersten Auflage wie so oft wohl Quelle der Inspiration für diese jüngeren Lexika, wählt in seiner 20. Auflage dieselben Worte. Unter der Rubrik „du pays et des peuples de l'Europe" finden sich „la Russie ou Moscovie" (also das europäische Rußland) und „la Turquie en Europe" einträchtig bei den anderen europäischen Völkern, die alle „ordinairement doux, honnêtes, civilisés, & très-propres pour les sciences & pour les arts" seien.57 Die mehr als 60 Jahre zwischen dem Erscheinen des Hübner von 1719 und der vermehrten Auflage von 1782 ändern nichts an der Einschätzung der Europäer, die aus den schon oben genannten Gründen „alle anderefn]" überträfen und daher „die besten Oerter von den übrigen Theilen der Welt unter ihre Botmäßigkeit gebracht" hätten. Der schwung- und klangvollste Panegyricus auf die Europäer stammt aus der Feder des aufgeklärten Enzyklopädisten de Jancourt: Es bedeute nur wenig, daß Europa der kleinste der vier Erdteile sei, „puisqu'elle est la plus considérable de toutes par son commerce, par sa navigation, par sa fertilité, par les lumières & l'industrie de ses peuples, par la connoissance des Arts, des Sciences, des Métiers & ce qui est le plus important, par le Christianisme, dont la morale bienfaisante, ne tend qu'au bonheur de la société." Und das von einem Aufklärer! Aber es geht weiter: „Nous devons à cette religion dans le gouvernement un certain droit politique, dans la guerre un certain droit des gens que la nature humaine ne saurait assez reconnaître, en paraissant n'avoir d'objet que la félicité d'une autre vie, elle fait encore notre bonheur dans celle-ci".58 Das durch die „nun fast zwanzigjährigen unaufhörlichen, nach und nach immer weiter um sich greifenden und fast für ganz Europa's Wohlstand immer nachtheiliger werdenden Kriege" wesentlich getrübte irdische Glück der Europäer beschreibt der „Brockhaus" in der Mitte des napoleonischen Zeitalters mit seiner Klage über den Niedergang von Handel und Handwerk, und den Schaden, den die alle anderen Erdteile überstrahlende Blüte von Wissenschaften und Künsten in solchen Zeiten nähme.59 Über die damals neue Theorie von der europäischen „Völkerwiege" Hoch- bzw. Kleinasiens berichtet das „Rheinische Conversations=Lexicon" in seinen beiden

57 Leipziger Lexikon (wie Anm. 12), 87; wortgleich Basier Lexikon (wie Anm. 15), 247; ZEDLER, Universal-Lexicon (wie Anm. 3), 1296; MORÉRI, Dictionnaire Historique (wie Anm. 27), 316. 58

DROEROT/CTALEMBERT, E n c y c l o p é d i e ( w i e A n m . 26), 2 1 2 .

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BROCKHAUS, Conversations=Lexicon. 2. Aufl. (wie Anm. 9), 335 f.

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Auflagen von 1824 und 1834. Mit Brockhaus und diesen Lexika kommen die manchmal kursorischen, oft aber sehr ausgedehnten Abschnitte über europäische Geschichte in Mode. Von der Antike über das Mittelalter bis 1814 wird im vorliegenden Falle die Geschichte der europäischen Völker als Geschichte ihrer gemeinsamen historischen und kulturellen „Leistungen" dargestellt; ein neuer Ton findet sich in der Hervorhebung der germanischen und romanischen Nationen im Gegensatz zu den „Übrigen".60 Diese Akzentuierung verstärken die „Brockhaus"-Lexika von Auflage zu Auflage durch die Relativierung der „ex oriente lux "-Vorstellung: „Wird Asien die Wiege des Menschengeschlechts genannt, so verdient dagegen Europa um so mehr als Wiege aller Cultur geehrt zu werden, als Jahrhunderte vor Christi Geburt schon europäische Nationen, die Etrusker und Griechen, eine Höhe der Bildung erreicht hatten, die man jetzt noch oft vergebens zu erreichen sucht"; künftige Generationen würden ohne Zweifel das Verhältnis von Nordamerika und Europa mit dem des modernen Europa - als neuem „Sitz der Künste und Wissenschaften" - zum antiken Griechenland vergleichen.61 Währenddessen scheint die überragende Stellung europäischer Kultur nicht unangefochten: Europa habe „bis jetzt [1834] durch die hohe Stufe seiner Cultur, seiner Intelligenz und Geistesbildung ein entschiedenes Übergewicht über die andern Erdtheile behauptet, welches später nur Amerika streitig machen könnte", notiert die achte Auflage des „Brockhaus"; dies aber sei in weiter Ferne, bisher beugten sich noch „bedeutende Ländermassen aller übrigen Erdtheile ... unter der Herrschaft des kleinen, aber durch sich selbst mächtigen Europa".62 Das Rotteck-Welckersche Staatslexikon bezeichnet die Amerikaner dagegen schon „als die jüngsten Sprößlinge und Schüler der europäischen Cultur, die ... mit rascherem Schritte ihren Meistern zur Seite" gingen. Nicht konkurrieren wolle Europa mit seinen Ablegern, sondern die aus dem asiatischen Keimling hervorgebrachten „Früchte" seiner Entwicklung „nach allen andern Erdtheile[n]" tragen, pflichtet das zwei Jahre später erschienene „Bilder-Conversations-Lexikon" bei.63 Im gleichen Sinne fährt das Staatslexikon fort, daß von dem kleinen Europa eine mächtige Bewegung ausgegangen sei, die „immer neue Völker in ihre fort und fort sich erweiternden Kreise" aufnähme, bis „endlich alle Nationen, in organischer Veränderung Leben empfangend und gebend,

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Rheinisches Conversations=Lexicon (wie Anm. 35), 702 f. sowie 2. Aufl. (wie Anm. 20), 880. [Friedrich Arnold BROCKHAUS], Conversations-Lexikon oder kurz gefaßles Handwörterbuch für gebildete Stände. Bd. 3. 3. Aufl. 1815, 518; vgl. ebd., Bd. 3. 5. Aufl. 1819, 562; ebd., Bd. 5. 9. Aufl. 1844, 135. 62 BROCKHAUS, Conversations-Lexicon. 8. Aufl. (wie Anm. 43), 837. 63 Bilder-Conversations-Lexikon (wie Anm. 29), 706: „So wie Europa im Alterthum die Keime der Bildung aus Asien erhalten, so hat es in den vier letzten Jahrhunderten die Früchte davon nach allen andern Erdtheilen getragen." 61

Stichwort „Europa"

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für gemeinsames, harmonisches Fortschreiten zum großen Ganzen der Menschheit sich vereinigen".64 Für diese Kulturmission seien die Europäer vor „den andern Bewohnern der Erde" durch höhere Tatkraft, Risikobereitschaft und Beharrlichkeit, Selbsterkenntnis und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen prädestiniert, so das „Bilder-Conversations-Lexikon"; nur ihre Abhängigkeit von Moden, „diesem eigenthümlichsten, in keinem anderen Welttheile einheimischen Erzeugnisse des europäischen Charakters", findet negative Bewertung. Der „Pierer" rundet das bisher entstandene und auch von ihm selbst reproduzierte Bild durch den Hinweis auf die militärischen Talente der Europäer ab, deren Kriegsmacht durch „Uebung, Gewöhnung und Intelligenz allen übrigen überlegen" sei.65 Schon „Rotteck-Welcker" hatte auf die für die Europäer unmögliche Tatsache hingewiesen, innerhalb der „engen Grenzen des eigenen Welttheils ihre ausschließende Befriedigung" zu finden; schon „die Natur" habe also „die europäischen Nationen auf eine lebendige Verbindung und einen activen Verkehr mit den andern Völkern" angelegt. Die geringe Bevölkerungsdichte der anderen Kontinente, die Europa umgebenden, „weltverbindenden Meere" locken und treiben den Europäer, seinen Pioniergeist, sein kulturelles Sendungsbewußtsein zu entfalten, und immer weiter über den angestammten Kontinent hinauszugreifen.66 Auf die „Bevölkerungsverhältnisse" der - abgesehen von dem zwei Kontinente übergreifenden Russischen Reich - in „fest begrenzten Staaten" lebenden Europäer rekurriert auch der „Brockhaus" von 1852; seiner Natur und Geschichte entsprechend weise Europa auf begrenztem Raum auch eine „Vielheit der Nationalitäten" auf, die aber fast ausschließlich dem „indo=germanischen" Stamm zugehörten. In dem „buntfarbigen Völkergemisch" Europas macht die zehnte Auflage des „Brockhaus" die romanischen, germanischen und slawischen Elemente, deren Dreiheit sich im Allgemeinen die Kirchliche anschlösse, als konstituierende „Hauptelemente" und „Hauptformen" des Europäertums aus. Das Christentum bilde den Grund für die „große Gleichartigkeit der Europäer" und „die höchste, auf rein sittlicher Basis ruhende Zivilisation".67 Zahlreiche weitere Kriterien könnten und müßten hier untersucht werden - die veränderte Wahrnehmung der Religionen, „starr" wie die Orthodoxie oder nun „fremd" wie der Islam - , die im selben Atemzuge aufzählenden wie vergleichendwertenden Betrachtungen über die „europäischen Regierungssysteme" zwischen

64

ROTTECK/WELCKE», Staate-Lexikon (wie Anm. 32), 291.

65

PIERER, Universal-Lexikon (wie Anm. 31), 160.

66

ROTTECK/WELCKER, Staats-Lexikon (wie Anm. 32), 292 f.

67

BROCKHAUS, Real-Encyclopädie (wie Anm. 22), 679 f.

50

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„asiatischer Despotie" und „freiheitlichen Regierungen"68, der zunehmend zugunsten des nationalen in den Hintergrund tretende Europagedanke und dessen neue politische Implikationen, um nur die wichtigsten zu nennen. Enzyklopädien und Lexika sind eine fast unerschöpfliche Quelle des zeitgenössischen Wissens und treues Abbild von dessen Veränderungen. Eben diese vielsprachige und vielberedte Welt der enzyklopädischen Nachschlagewerke Europas ließ den Aufklärer und großen Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) niederschreiben: „Eine Sammlung von Kehlen der Nationen in Spiritus würde nicht den lOOten Teil so lehrreich sein als ihre Wörterbücher".69

68 R O T T E C K / W E L C K E R , Staats-Lexikon (wie Anm. 3 2 ) , 2 9 5 , stellt die Unterschiede der europäischen Bevölkerung „nach dem Rechtszustande,... nach Freiheit oder Unfreiheit" fest, hier Symptom und Folge der unterschiedlichen Kulturstufen der romanischen, germanischen und slawischen Völker Europas. 69 Georg Christoph LICHTENBERG, Schriften und Briefe. Hrsg. v. Wolfgang Promies. Bd. 1: Sudelbücher I. München 1986, 580, Heft F, [834].

Ludwig Hammermayer Graf Rumford (1753-1814) zwischen Nordamerika, Großbritannien, Bayern und Frankreich Einige Bemerkungen zu Biographie, Werk und Umfeld1

I.

In Lebenswelt, Lebens- und Wirkungsgeschichte des Amerikaners Benjamin Thompson - besser bekannt als Reichsgraf v. Rumford und im folgenden stets so genannt - verbinden sich Nordamerika, die Britischen Inseln, Frankreich, Zentraleuropa, hier besonders Pfalz-Bayern, auf eine wohl einzigartige Weise. In seinem Werk aber verknüpfen und überschneiden sich Sozial-, Wirtschafts- und Heeresreformen, experimentelle Naturforschung und praktische Erfindungen, Stadtplanung, Volkserziehung und -aufklärung, nicht zuletzt Wissenschaftsorganisation und -förderung im Rahmen der europäischen und amerikanischen Akademie- und Sozietätsbewegung. Hinzu gesellt sich die Faszination einer sehr eigengeprägten, schwer aufschließbaren, gelegentlich fast bizarren Persönlichkeit. Zur frühen Biographie nur einige skizzenhafte Bemerkungen. Als Sohn eines Farmers wurde Rumford am 26. März 1753 zu Woburn/Massachusetts nahe Boston geboren. Der Vater starb früh, die Mutter heiratete rasch wieder. Der ehrgeizige Sohn ging eigene Wege, wurde Kaufmannslehrling, besuchte Abendkurse für Französisch und Vorlesungen über Experimentalphysik im Harvard College, wurde Apotheker, schließlich Wanderschulmeister, stets nach dem Lebensmotto: sozialer

' Text eines Referates vor der Faculty of History der Universität Oxford vom Dezember 1992. Der Vortragsduktus blieb weithin erhalten. Einige damals aus Zeitgründen gestrichene oder gekürzte Passagen wurden wieder eingefühlt. Wegen des notwendig begrenzten Raumes wurde jedoch für diesmal auf einen Anmerkungsapparat verzichtet. Er wäre wegen der angezogenen englischen, deutschen und französischen ungedruckten Quellen allzu umfangreich geraten. Ein statt dessen erstmals - gebotenes Verzeichnis der wichtigsten in- und ausländischen gedruckten Quellen und Literatur mag hierfür teilweise entschädigen.

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Aufstieg um jeden Preis, durch Lernen, Weiterbildung, Kontakte und durch die Kunst perfekter Selbstdarstellung. Er war noch nicht zwanzig, als ihm die Ehe mit einer weit älteren wohlhabenden Witwe zu Concord/New Hampshire den Aufstieg ins etablierte neuenglandstaatliche Bürgertum ermöglichte. Er wurde Major in der Bürgerwehr, stand aber während der Inkubations- und Frühphase des Unabhängigkeitskrieges scheinbar zwischen den Fronten, erregte den Argwohn der Patrioten, wurde mehrmals verhaftet, wegen Beweismangels aber freigelassen. Doch jenes Mißtrauen war berechtigt, Rumford nicht nur Loyalist im Herzen, sondern auch ein erfolgreicher geheimer Informant der Briten. Schließlich mußte er nach Boston fliehen, und als die Briten schon im Frühjahr 1776 die Stadt räumten und sich nach Nova Scotia im heutigen Kanada einschifften, da begleitete er den Überbringer der Unglücksnachrichten, den Richter William Brown, nach Großbritannien. Nicht Brown, der offizielle Abgesandte, sondern sein Begleiter im Majorsrang beeindruckte in London durch ungeschminkte Berichte über die Vorgänge in Nordamerika. Rumford gewann das Vertrauen des Kolonialsekretärs Lord George Germain, trat in dessen Dienste und war bereits 1779 Unterstaatssekretär für die Kolonien, verantwortlich sowohl für den Truppen- und Materialnachschub zum amerikanischen Kriegsschauplatz als auch für die loyalistischen Flüchtlinge in Großbritannien. Daneben widmete er sich physikalischen Versuchen mit Pulver und Kanonen, baute das Modell einer Kriegsfregatte, kam in Verbindung zur Royal Society und deren Präsidenten Sir Joseph Banks und wurde bald als Mitglied zugewählt. Nach einem relativ kurzen zweiten Aufenthalt in Nordamerika kehrte er noch kurz vor Kriegsende nach England zurück und wurde im Sommer 1783 im Rang eines Obersten pensioniert. Der damals Dreißigjährige wollte sich nunmehr auf dem Kontinent, wo ein neuer Türkenkrieg bevorzustehen schien, als „soldier of fortune" verdingen. In Straßburg traf und beeindruckte er den Prinzen Max Joseph von Pfalz-Zweibrücken, damals französischer Oberst und Kommandant des Regiments „Royal Alsace" ; er erhielt ein Empfehlungsschreiben des Prinzen an seinen Onkel, den Kurfürsten Karl Theodor von Pfalz-Bayern. Doch war München für ihn zunächst nur Zwischenstation auf dem Weg in die Kaiserstadt Wien; hier öffneten sich ihm rasch gute Kontakte, so zum britischen Gesandten Sir Robert Keith, zu dem ihm aus London bekannten berühmten Naturforscher und Arzt Jan Ingenhouß, auch zur adeligen Gesellschaft. Gleichwohl boten Wien und die Habsburger Lande offenbar wenig Möglichkeiten nach Rumfords Ehrgeiz und Geschmack, zumal der Türkenkrieg noch auf sich warten ließ. Auf langem Umweg über Triest und Oberitalien kam Rumford erneut nach München, präsentierte sich Kurfürst Karl Theodor und erhielt das Angebot, in pfalzbayerische Dienste zu treten. Als loyaler britischer Untertan und Offizier begab

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er sich nochmals kurz nach London, erbat und erhielt von König Georg III. das Plazet für München - und sogar den Ritterschlag. Als Sir Benjamin Thompson, pfalzbayerischer Oberst und Leibadjutant des Kurfürsten, begann er Mitte März 1784 eine erstaunliche Karriere in München. Bereits im folgenden Jahr wählten ihn die Akademien der Wissenschaften zu München und Mannheim als Mitglied. Zu bedenken und zu klären bliebe freilich, warum Karl Theodor so prompt und positiv auf Rumford reagierte und ihn dann in solch ungewöhnlicher Weise förderte. Das Kurfürstentum Pfalz-Bayern bestand erst seit der Jahreswende 1777/78, nachdem Karl Theodor von der Pfalz auch Kurbayem geerbt und seine Residenz nach München verlegt hatte. Nach Österreich und Preußen war Pfalz-Bayern nunmehr zwar das drittgrößte Reichstemtorium, doch ein äußerst heterogenes Länderkonglomerat, räumlich zerrissen von den Alpen bis an den Niederrhein, wirtschaftlich wie militärisch schwach, von Anbeginn an durch die in Wien und München betriebenen Tauschprojekte in seiner Existenz bedroht. Demnach sollte Kurbayern an Österreich fallen, Karl-Theodor aber aus seinen Pfälzer und niederrheinischen Landen, aus Luxemburg und den österreichischen Niederlanden ein neues Königreich erhalten. Erst Anfang 1785 war der vorläufig letzte Tauschplan geplatzt. Seit Mitte der achtziger Jahre drohte zudem das Schreckgespenst eines zentraleuropäischen wie eines „orientalischen" Doppelkrieges, der Entscheidungskampf zwischen Preußen und Österreich um die Vormacht im Reich sowie ein neuer großer Türkenkrieg unter Rußlands Führung. In dieser Lage war Karl Theodor wohl froh, einen militärisch erfahrenen und verhältnismäßig unabhängigen Mann wie Rumford an der Seite zu wissen. Zudem war er ab 1784/85 zunehmend verunsichert und mißtrauisch durch die Aufdeckung von Existenz und erfolgreicher subversiver Tätigkeit des radikal aufklärerischen Geheimbundes der Illuminaten. In Rumford, dem amerikanischen Loyalisten und britischen Offizier, erblickte er wohl einen über jeden Illuminatismusverdacht erhabenen Helfer. Doch war ihm Rumford wirklich unbedingt ergeben und unabhängig? Vom Illuminatenorden hielt er sich gewiß fern, auch wenn die gegnerische Propaganda es bald schon besser wissen wollte. Gewichtiger bleibt die Frage nach seiner britischen Agententätigkeit; denn in der Tat übermittelte Rumford in seiner frühesten Münchner Zeit aufschlußreiche Nachrichten an den Gesandten Keith nach Wien. Zwei Erklärungsmuster bieten sich an; entweder war er ein - durch königlichen Ritterschlag bestärkter - offizieller Geheimagent oder lediglich ein Informant aufgrund privater Absprache mit Keith, und dies mit Kenntnis der britischen Regierung. Wie dem auch gewesen sein mag, bereits im Frühjahr 1785 enttäuschte Rumford den Gesandten Keith, indem er jegliche Kenntnis der Tauschfrage bestritt

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und zu den britischen Diplomaten in München und auf dem Reichstag bewußt Distanz hielt. Rumford war zu klug, um Karl Theodors Vertrauen aufs Spiel zu setzen. Seit den späten achtziger Jahren benutzte ihn der Kurfürst zu vertraulichen quellenmäßig noch weithin im Dunkel liegenden - diplomatischen, militärischen und hauspolitischen Sondermissionen. Kein Geheimnis war, daß Rumford der in München traditionell starken „preußischen Partei" nahestand, gute Beziehungen zum preußischen Gesandten pflegte und 1787/88 mehmals in Berlin weilte, wo ihm Friedrich Wilhelm II. einen Orden und die Akademie der Wissenschaften ihr Mitgliedsdiplom verlieh. Nach Ausbruch des Türkenkrieges wurde er kurpfalzbayerischer Generalmajor der Kavallerie, Wirklicher Geheimer Rat und Kriegsminister. Durch Verhaftung und drakonische Bestrafung illegaler österreichischer Werber auf kurbayerischem Territorium löste er eine politische Spannung aus, die Joseph II. fast zur Staatsaffäre hochspielte. Erst als unter dem Druck der französischen Revolution die bisherigen Antipoden Österreich und Preußen zusammenfanden, bis hin zum Kriegsbündnis 1792 und zum Reichskrieg im folgenden Jahr, da bemühte sich auch Rumford mit Erfolg um bessere Beziehungen nach Wien und zu den Repräsentanten der Hofburg in München und auf dem Regensburger Reichstag. Seine spektakuläre Beförderung anno 1788 sollte weit über den militärischen Rahmen hinaus Bedeutung gewinnen, sie war Voraussetzung und Einleitung umfassender Reformen im folgenden Krisen- und Umbruchsjahrzehnt. Ihr deutscher und europäischer Rahmen aber verdüsterte sich zusehends; da war zunächst noch der Türkenkrieg und die Spannung im Reich, bald aber schon und auf Dauer die Drohung aus dem revolutionären und schließlich expansiv-hegemonialen republikanischen Frankreich, der erste Koalitionskrieg, beginnender Reichszerfall, wachsende Unsicherheit über Pfalz-Bayerns Schicksal, die spezifischen Probleme der Erbfolge nach einem Tod Karl Theodors. Inhaltlich aber griffen Rumfords Reformen, wie eingangs angedeutet, sehr weit aus, umschlossen Heerwesen, Sozial- und Wirtschaftspolitik, den zentralen Agrarbereich, Volksernährung und -gesundheit, Stadtplanung und -entwicklung, Volksbildung und -aufklärung. Offenkundig sind ihre geistig-ideellen Grundlagen, die rationalistische Aufklärung vorwaltend angelsächsischer Provenienz und utilitaristischer und eudämonistischphilanthropischer Gestalt, mit ihrem Glauben an Erziehung und Erziehbarkeit, an permanenten Fortschritt durch gezielte und geordnete Reformen. Nach Spuren revolutionär-„demokratischen" Einflusses aus Frankreich sucht man jedoch vergebens, es gab sie nicht, wohl aber flössen einige praktische Erfahrungen und manch naiver Fortschrittsoptimismus aus Nordamerika und dem Unabhängigkeitskampf mit ein. Im Grunde bot Rumford das Programm eines „well ordered Police State" (Marc

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Raeff), tiefgreifende Reformen im Rahmen des - und für den - pfalzbayerischen aufgeklärten Staatsabsolutismus. Wirkungsvoller Schutz nach außen, innere Ordnung und Ruhe, Wohlstand, Zufriedenheit und Glück der Untertanen dienten zuvörderst der Stabilisierung und Festigung der Herrschaft Karl Theodors. Vordringlich war zunächst die Heeresreform. Bereits im Sommer 1788 wurden die bis dahin organisatorisch noch getrennten bayerischen und Pfalzer Truppen vereinigt. Die neue kurpfalzbayerische Armee wurde neu gegliedert, einheitlich uniformiert, mit modernen Waffen ausgerüstet, auch besser besoldet. Doch Rumford wollte ungleich mehr, sein Leitmotiv „to make soldiers citizens and citizens soldiers" wies auf ein Milizsystem als Fernziel, erreichbar durch immer engere Verflechtung von militärischer und ziviler Gesellschaft, zu beider Nutzen. In Friedenszeiten sollte das militärische Potential soweit möglich dem öffentlichen Wohl zugutekommen. Voraussetzung war allerdings das Ende von Diskriminierung und Deklassierung des Soldatenstandes. Nicht länger durfte das Heer zum Abschiebe· und Tummelplatz für Straftäter, Vagabunden und Randexistenzen verkommen. Daß die vier Kavallerieregimenter als sogenannter „Militär-Cordon" mit Polizeifunktion über Dörfer und Marktflecken verteilt wurden, sollte die innere Sicherheit erhöhen und Bürgernähe demonstrieren. Rumfords Erlasse gegen Brutalitäten im militärischen Bereich, wie etwa beim Exerzieren, auch im Militärstrafrecht und -gerichtswesen galten der Effizienz wie dem moralischen Ansehen des Heeres. Bei allen Regimentern sollten Arbeits- und Lehrschulen für Soldatenkinder entstehen; besondere Fürsorge galt den Soldatenwitwen und -waisen. Das damals private Münchner Kadettenkorps, die sogenannte „Marianische Landesakademie", an der tüchtige Gelehrte unterrichteten, kam wieder unter landesherrliche Aufsicht und sollte insbesondere Söhne bürgerlicher Herkunft für den Offiziersstand heranbilden. All diese Reformen durften die chronisch zerrütteten Staatsfinanzen jedoch nicht oder nur geringfügig belasten. Hierfür fand Rumford nach preußischem Vorbild die Zauberformel „Beurlaubung", das heißt, die meisten Soldaten sollten nur etwa sechs Wochen im Jahr dienen und der Kriegskasse zur Last fallen, die übrige Zeit aber auf Bauernhöfen, bei Handwerksmeistern, als Freimeister oder aber in neu zu errichtenden Manufakturbetrieben arbeiten. Die für Rumford kennzeichnende Verbindung und Verschränkung seiner Heeresreform mit Sozial- und Wirtschaftsreformen und mit dem sogenannten Münchner pauperistischen Wohlfahrtsmodell ist am deutlichsten abzulesen an drei zwischen 1789 und 1792 entstandenen Einrichtungen: dem Militärischen Arbeitshaus, dem Armeninstitut und dem Gesamtkomplex „Englischer Garten". In einer von Rumford persönlich geleiteten Militäraktion wurden zum Jahresbeginn 1790 fast sämtliche Münchner Bettler festgenommen und

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registriert; die Zahlen schwanken zwischen 1800 und 3000. Gleichzeitig wurde München in eine Reihe von Armenbezirken mit je eigener Aufsicht eingeteilt. Die arbeitsfähigen Bettler sollten im Militärischen Arbeitshaus beschäftigt werden, einem großen Manufakturbetrieb, wo neben etlichen Fachkräften insbesondere beurlaubte Soldaten und frühere Bettler tätig waren und angemessen verköstigt und entlohnt wurden. Produziert wurden zunächst die von Rumford eigenhändig entworfenen neuen Armeeuniformen und Zivilkleidung, aber auch Artikel des täglichen Gebrauchs, wie Möbel, Küchenausstattungen usw., nicht zuletzt Handfeuerwaffen. Eine etwas später errichtete, dem Arbeitshaus angeschlossene Gießerei produzierte sogar Kanonen. Das Münchner Armeninsitut sorgte für die sonntägliche Verteilung der via Subskription aufgebrachten Geldspenden, für öffentliche Speisungen, auch für die Unterbringung alter und kranker Bettler. Mit fast missionarischem Eifer kümmerte sich Rumford - ein utilitaristischer und philanthropischer Ernährungsfanatiker - um ausreichende, schmackhafte und billige Kost für Arme, Alte, Kranke und für Arbeiter und nicht zuletzt für die Soldaten. Gegen heftigste Widerstände setzte er erstmals Anbau und Verwendung von Kartoffeln in größerem Stile durch. Rumford unterzog sich selbst gewagten wissenschaftlich-diätetischen Experimenten und erfand eine Reihe neuer zweckdienlicher Gerichte: zunächst und vor allem die sogenannte Rumford-Suppe, eine Mischung von Graupen, Erbsen, alten Weißbrotschnitten, Bieressig und Wasser, auch einen Rumford-Pudding sowie die bald schon beliebten Rumford-Kartoffelknödel. Die Armee war geheißen, in jeder Garnison einen Militärgarten anzulegen und Kartoffeln, Gemüse und Obst nach genauen Vorschriften anzubauen; doch nur die Residenzstädte München und Mannheim meldeten Erfolge. Aus dem Münchner Militärgarten, einem mehr denn sieben Meilen großen Sumpfgebiet nahe der Isar, entwickelte sich seit dem Sommer 1789 auch ein Volkspark, zunächst „Theodors-Park" genannt, sowie eine Reihe von Zentren sozialökonomischer Reformen. In dieser Selbstdarstellung des aufgeklärten Staatsabsolutismus war Platz für vieles. Die Armee erhielt neben dem Garten auch Gelände für Paraden und Manöver sowie ein Gestüt. Den dringenden Agrarreformen dienten eine Landwirtschafts-, eine Baum- und eine Veterinärschule, eine Schäferei, schließlich eine Schweizerei, das heißt ein Mustergut zur Erprobung neuer Agrartechniken wie Fruchtwechselwirtschaft, Kleeanbau und Stallfütterung. Für Erholung, Bildung und Unterhaltung des Volkes sorgten weite und abwechslungsreiche Spazierwege, ein großer Park und See im englischen Stil, ein Gasthaus und ein Café, ein Konzertsaal und ein Amphitheater, eine Reihe kleiner griechischer Tempel, nicht zuletzt ein Chinesischer Turm à la Kew Gardens. Gegen alle Anfeindungen durch Magistrat

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und Teile der Bürgerschaft wurde der Englische Garten fertiggestellt, im Frühjahr/ Sommer 1792 eröffnet und vom Volk angenommen und eifrig genutzt. Sein Schöpfer aber, der schon seit dem vorausgehenden Jahr auch bei der Erweiterung und Entfestigung der Haupt- und Residenzstadt buchstäblich Bahnbrechendes leistete, wurde zum Generalleutnant der Artillerie und Generalstabschef befördert und sogar - dank Karl Theodors Reichsvikariat - zum Reichsgrafen von Rumford neu nobilitiert. Er hatte damit in Pfalz-Bayern den Zenit von Ansehen und Einfluß erreicht. Gleichzeitig aber gewann er als Naturforscher europäisches Ansehen. Die Londoner Royal Society verlieh ihm 1792 ihre höchste Auszeichnung, die Copley Medaille. Rumford hatte sie stets über seine Münchner Experimente und Erfindungen unterrichtet, zu ihrem Präsidenten Sir Joseph Banks - der Zentralfigur der britischen Akademie- und Sozietätsbewegung - enge briefliche Kontakte aufrechterhalten und ihm sogar die Zuwahl in die Müchner und Mannheimer Akademien der Wissenschaften verschafft. Kein Wunder, daß Rumfords Münchner Berichte seit 1786 in der Royal Society prompt verlesen, gründlich erörtert und in den „Philosophical Transactions" veröffentlicht wurden. So wäre Rumford in Friedenszeiten zu München wohl unangreifbar und in höchsten Ehren verblieben, allen Kritikern und Neidern zum Trotz. Doch die Zeichen standen auf Sturm. Schon während des österreichisch-preußischen Koalitionskrieges gegen das revolutionäre Frankreich (1792/93), dem Pfalz-Bayern fern blieb, war Rumford ins Kreuzfeuer militärischer wie ziviler Widersacher geraten, jedoch die Antwort nicht schuldiggeblieben. Als dann aber Pfalz-Bayern dem in der zweiten Märzhälfte 1793 erklärten Reichskrieg sich höchst widerstrebend anschließen mußte, nahm Rumford sogleich Krankenurlaub und entschwand in Richtung Italien. Auch dort nutzte er die Zeit; zu Verona und Venedig verhandelte er über Lieferungen aus dem Münchner Militärischen Arbeitshaus, in Pavia debattierte er mit dem großen Alessandro Volta, in Florenz, Siena, Rom und Neapel besuchte er Gelehrte und wissenschaftliche Institutionen. Zeitweise fand er angenehme und sogar potentiell karrierefördernde englische Reisebegleitung: Lady und Lord Palmerston, Sir George Blagden, den Sekretär der Royal Society, sowie die kritische Tagebuchschreiberin Lady Holland. In dieser Zeit reifte wohl in ihm der Gedanke an einen großzügig bemessenen Besuch in Großbritannien. Ab Juli 1794 war Rumford wieder in München, ließ aber seine militärischen Ämter ruhen, konzentrierte sich auf Stadtentwicklung und -erweiterung, auf Ergänzung und Verbesserung von Arbeitshaus und Armeninstitut, auch auf den Englischen Garten, wo er im März 1795 zur Neuvermählung des Kurfürsten ein glanzvolles Volksfest inszenierte. Noch im gleichen Jahr setzte ihm die Bürgerschaft dort ein Denkmal. Doch Rumfords eigentliche Interessen galten damals seinen physikalischen

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Experimenten, nützlichen Erfindungen und der Niederschrift sogenannter Essays. Diese sollten zunächst das britische Publikum vertraut machen mit seinen Münchner Erfindungen, Versuchen und diätetischen Maßnahmen, insbesondere mit dem pauperistischen Wohlfahrtsmodell, das heißt mit Existenz, Funktion und wechselseitiger Verzahnung von Arbeitshaus, Armeninstitut und Englischem Garten. Im Herbst 1795 erhielt er vom Kurfürsten den ersehnten halbjährigen Urlaub nach Großbritannien. Doch das Land, das er nach mehr denn elf Jahren wiedersah, hatte sich stark verändert, verdüstert, radikalisiert. Hier nur einige Stichworte: Krieg gegen die französische Republik, Jakobiner-, Revolutions- und Invasionsängste, sich auftürmende sozialökonomische Schwierigkeiten und sogar Horrorvisionen, genährt durch wachsende Arbeitslosigkeit und Armut, scheinbar fatales Bevölkerungswachstum, gravierende Brennstoffknappheit, bedrohlichen Nahrungsmittelmangel nach schlimmen Mißernten. Rasche Besserung der Ernährungslage, Milderung des Pauperproblems durch Reformen und technische Innovationen im Agrar- und Manufakturwesen schienen vordringlich. Rumford kam zur rechten Zeit. Seine Freunde in der Royal Society unter Präsident Sir Joseph Banks sowie die Familie Palmerston bahnten ihm Verbindungen zu sozialreformerischen, philanthropischen und der Regierung Pitt d. J. nahestehenden Kreisen aus Adel, Großbürgertum, Kirche, Politik und Wirtschaft, insbesondere zu dem finanzkräftigen Organisator Sir Thomas Bernard, dem „Sklavenbefreier" William Wilberforce M. P., dem Lordbischof von Durham sowie dem bereits in Armenspeisungen engagierten Unternehmer Patrick Colquoun. Rumfords „Essays" wurden jetzt in London erstveröffentlicht und ein großer Erfolg. Sein Sparofen war begehrt; allein in der Metropole wurden über sechzig Exemplare aufgestellt, in Adels- und Bürgerhäusern, in Regierungsbüros, in der Royal Society, in Hospitälern und Altersheimen. Armenspeisungen nach Münchner Modell begannen im Winter 1795/96 zunächst in London, bald schon in der englischen Provinz, bis nach Liverpool, Ripon in Nord-Yorkshire und Newcastle-upon-Tyne. Im Frühjahr 1796 wurde Rumford sogar für zwei Monate als Berater des Chief Secretary Lord Pelham nach Dublin gebeten und sammelte neue Erfahrungen. Wieder in London, entwarf er eingehende Vorschläge für ein Armeninstitut und Arbeitshaus à la München, ergänzt durch eine ständige Ausstellung nützlicher Maschinen und Geräte. Doch als im November 1796 unter Sir Thomas Bernard eine Londoner „Society for Bettering the Condition and Increasing the Comfort of the Poor" entstand und Rumford zum ersten Ehrenmitglied wählte, befand sich dieser längst wieder in München. Schon im Juli war er dringend von Karl Theodor zurückgerufen worden. Der Krieg hatte eine schlimme Wendung genommen; in Oberitalien siegte Bonaparte, über die Rheingrenze drang eine Armee unter Moreau nach Süddeutschland vor.

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Von ihr wie den zurückflutenden österreichischen Bundesgenossen wurde München in der zweiten Augusthälfte bedroht. Eine Woche nach Rumfords Rückkehr flohen Kurfürst und Regierung in Richtung Sachsen. Rumford hatte zunächst Evakuierungsmaßnahmen geleitet, war dann in der Stadt verblieben und schließlich zum „Oberstfeldstatthalter" bestellt worden. In geschickten Verhandlungen mit Österreichern und Franzosen verhinderte er Okkupation und Plünderungen. Der von ihm erfundene sogenannte Gemeinschaftsherd sicherte die Verpflegung von Bevölkerung und Truppe. Nicht ohne Grund feierte man Rumford als Retter Münchens. In der Folgezeit suchte Rumford allen öffentlichen und vertraulichen Aufträgen aus dem Weg zu gehen. Daß ihm im Herbst 1797 eine hochpolitische Verhandlungsmission zu Bonaparte nach Oberitalien erspart blieb, kam ihm nicht ungelegen. Ganz andere Dinge beschäftigte ihn; denn erst wenige Monate vorher hatte eines seiner Münchner Kanonen-Experimente in der Tat bahnbrechende Ergebnisse über Entstehung und Ausbreitung von Wärme gezeitigt. Rumford hatte sie unverweilt der Royal Society und seinen Londoner Freunden mitgeteilt. Die Beschreibung dieses Versuches wurde zentraler Teil des zweiten Essaybandes, den er damals vorbereitete. Der erste Band war mittlerweile auf dem Weg zum internationalen Bestseller. Eine deutsche Übersetzung kam noch 1797 heraus, allerdings nicht in München, sondern bei Bertuch zu Weimar; im folgenden Jahr erschien in London bereits die dritte englische Auflage, fast gleichzeitig in Boston die erste amerikanische und zu Venedig die erste italienische Auflage. Im französischen Sprach- und Kulturraum fand Rumford damals in dem Genfer Naturforscher und Publizisten Auguste Pictet, Herausgeber der angesehenen „Bibliothèque Britannique", einen Bewunderer, treuen Freund und wirkungsvollen Multiplikator. Im anglo-amerikanischen Bereich erhöhte er seine Reputation noch zusätzlich, indem er sowohl der Royal Society als auch der Bostoner „American Academy of Art and Sciences" ein Kapitel von tausend Pfund Sterling bzw. fünftausend Dollar stiftete. Der Zinsertrag sollte Preisen für Forschungen zur Wärmelehre zugutekommen. Mit alledem hatte Rumford den ersehnten, endgültigen „agreeable and honourable retreat" nach Großbritannien trefflich vorbereitet. Doch noch einmal nahm ihn Karl Theodor in die Pflicht. Ende Januar 1798 wurde er Polizeiminister, verantwortlich für straffe innere Ordnung wie für neue soziale Reformen. Eben dies war Rumfords Doppelstrategie gegen die befürchteten, von französischen Emissären geschürten revolutionär-republikanischen Umtriebe. Mit geradezu hektischem Eifer stürzte sich Rumford in seine neuen Aufgaben, bekannte sich öffentlich als „Verteidiger von Amts wegen all derjenigen, welche wegen ihrer Armut oder wegen auffallender Bedrückung den Schutz der Mächtigen nicht haben", verfügte strikte Meldepflicht und Überwachung aller Fremden, ahndete jedoch auch

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die Übergriffe von Polizei und Militär. Bis ins Detail kümmerte er sich um die Versorgung der Bevölkerung mit preiswerten Lebensmitteln und scheute vor erbitterter Gegenwehr des Magistrats und der Bäcker- und der Metzgerzunft nicht zurück. Noch im Sommer leitete er sogar Reformen im Zuchthaus und Strafvollzug ein. Da seine Maßnahmen mit geltenden Gesetzen und Vorschriften nicht selten kollidierten, suchte Karl Theodor behutsam ausgleichend einzugreifen, nahm aber seinen Minister energisch in Schutz gegen hartnäckige Gerüchte und Verdächtigungen über eigensüchtiges Finanzgebaren und fehlerhafte Rechnungslegungen von Armeninstitut und Militärischem Arbeitshaus. Obwohl Rumford durch eine zivile Untersuchungskommission völlig entlastet wurde, nahm er Mitte August seinen Abschied als Polizeiminister. Damit war das Jahrzehnt Rumfordscher Reformen in München und Pfalz-Bayern beendet.

11. Bereits Ende August 1798 wurde Rumford zum hochdotierten pfalzbayerischen Gesandten in London ernannt. Er sollte einen geheimen Subsidienvertrag aushandeln, sich Großbritanniens Unterstützung der Entschädigungsforderungen Karl Theodors und seiner exilierten Pfalz-Zweibrückner Erben versichern und PfalzBayerns Beitritt zu der sich formierenden zweiten antifranzösischen Koalition vorbereiten helfen. Doch bald nach seiner Ankunft wurde ihm vom Unterstaatssekretär Canning bedeutet, daß er als britischer Staatsbürger und ehemaliger höherer Regierungsbeamter keinesfalls eine auswärtige Macht am Hofe zu St. James vertreten dürfe. Seine Mission war beendet, noch ehe sie begonnen; dennoch kehrte Rumford nicht nach München zurück, sondern meldete sich bei Karl Theodor krank und erbat - und erhielt - die Erlaubnis, die Heilquellen in Bath aufzusuchen und dann sogar auf begrenzte Dauer nach Nordamerika zu reisen. Dem einstigen Loyalisten standen die Türen zur alten Heimat jetzt weit offen. Da Rumford Großbritanniens Zukunft langfristig eher düster einschätzte, erwog er mehr denn einmal die Rückkehr nach Amerika. Präsident Washington hatte 1796 auf Übersendung des ersten Essaybandes sehr freundlich reagiert. Jene großzügige Spende für die Bostoner Akademie und der Erfolg der amerikanischen Essayedition ließen letzte Vorbehalte schmelzen; Rumford wurde hochgeehrtes Mitglied der jungen amerikanischen Akademie- und Sozietätsbewegung. Die US-Gesandten in Frankreich und Großbritannien, William Morris und Rufus King, schätzten ihn; jener besuchte ihn sogar Anfang 1798 in München, dieser empfing ihn nach jenem Londoner diplomatischen Debakel betont freundlich und empfahl ihn seiner Regie-

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rung für eine leitende militärtechnische und -organisatorische Aufgabe. Präsident John Adams, guter Kenner des Kontinents und langjähriger Vorstand der Bostoner Akademie, wollte Rumford die geplante Miltärakademie zu Westpoint und die Generalinspektion der US-Artillerie anvertrauen. Rumford lehnte schließlich ab, da sich ihm in Großbritannien ein Tätigkeitsfeld ganz in seinem Sinne auftat, eine enge und entwicklungsfähige Zusammenarbeit mit Sir Thomas Bernards sogenannter „Bettering Society", mit der Royal Society unter Sir Joseph Banks sowie mit der 1793 von Sir John Sinclair gegründeten „Board of Agriculture", einer Art zentraler Agrarsozietät mit partiellem Behördencharakter und hohen Ambitionen. In diesem breitgespannten Rahmen entwickelte Rumford bereits um die Wende 1798/99 das Projekt für eine große private Sozietät, in den „Proposals for forming by subscription, in the Metropolis of the British Empire, a public Institution for diffusing the knowledge and faciliating the general introduction of useful mechanical inventions and improvement, and for teaching, by courses of philosophical lectures and experiments, the application of science to the common purpose of Life." Dieser Sozietätsentwurf wurde von der Regierung und von einflußreichen Parlamentariern gebilligt, publiziert und an einen ausgesuchten Kreis künftiger „proprietors" versandt; binnen kurzem erklärten sich 58 Persönlichkeiten aus Aristokratie, Gentry, wohlhabendem Unternehmerbürgertum und Kirche zur Mitarbeit bereit. Am 7. März 1799 wurde die Sozietät gegründet, Anfang Juni erhielt sie die königliche Protektion und durfte sich künftig „Royal Institution" nennen. In der vornehmen Albemarle Street erwarb sie ein geräumiges Haus, das nach Rumfords Vorstellungen gestaltet wurde. Daß Gründung und Institutionalisierung so rasch und reibungslos gelangen, verwundert nicht, entsprachen sie doch nicht nur mächtigen Zeittendenzen und Gruppeninteressen, sondern auch dringenden Bedürfnissen und den Forderungen nach entschiedenen Agrarreformen, nach Modernisierung von Manufakturen, nach einer aktiven und umfassenden pauperistischen Wohlfahrtspolitik sowie nach weitgefächerter technischer Ausbildung und Information. Dabei schien sich auch Rumfords Wunsch „to make philosophy fashionable" zu erfüllen; denn die Experimentalvorträge in der Royal Institution waren oft überfüllt und galten auch in Londons feiner Gesellschaft als empfehlenswert und chic. Schon bald konnte Rumford hervorragende Gelehrte als Lehrer verpflichten, vorab die Physiker Joseph Garnett und Thomas Young sowie den genialen Autodidakten und Chemiker Humphrey Davy. Nach wie vor war der Rat des Sozietätsbegründers begehrt; im Frühjahr 1800 rief man Rumford zur Reform des schottischen Armenwesens nach Edinburgh.

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Gleichwohl genet die Royal Institution in wachsende finanzielle und programmatische Schwierigkeiten. Rumford fand sich außerstande, die in ihr dominanten agrarisch-aristokratischen Interessen mit denen von Industrie und Gewerbe zu verbinden und z. B. die Firma Boulton & Watt in Birmingham als potenten Geldgeber zu verpflichten. So blieben die innerhalb der Royal Institution geplanten Schulen für Techniker und Gewerbetreibende ebenso ein Wunschtraum wie Rumfords Lieblingsprojekt einer ständigen Ausstellung von Maschinen, Instrumenten und Geräten nach Pariser Vorbild. Damit war aber sein Konzept einer praxisbezogenen und didaktisch ausgerichteten Sozietät in wesentlichen Punkten ausgehöhlt und durch eine Verbindung von theoretischer Forschung und populärwissenschaftlichen Vorträgen ersetzt worden. Rumford verlor rasch das Interesse an der Royal Institution und suchte außerhalb Großbritanniens neue Wege und Möglichkeiten. Es war sein Glück, daß sich eben damals die europäische politische Großwetterlage deutlich aufhellte und er bereits im Herbst 1801 zum Kontinent reisen konnte. Sein Ziel war Pfalz-Bayern, dann Frankreich. Noch immer stand er de jure in kurpfalzbayerischen Diensten und erhielt eine großzügig bemessene Generalspension. Doch was sollte er in München tun? Karl Theodor war Mitte Februar 1799 verstorben. Unter seinem Nachfolger Max IV. Joseph und Minister Freiherr v. Montgelas begannen staatsabsolutistische Reformen mit dem Ziel umfassender Modernisierung durch Rationalisierung, Zentralisierung und Säkularisation. Rumfords Heeresreform lag größtenteils in Trümmern, das militärische Arbeitshaus war geschlossen, Armeninstitut und Englischer Garten bestanden in reduzierter Gestalt und Tätigkeit. Dennoch verstand es Rumford, sich den - ihm seit langem bekannten - neuen Herren Kurpfalzbayems zu empfehlen. Zwischen 1801 und 1810 hielt er sich mehrmals in München und Mannheim auf. So bestellte ihn der Kurfürst im Herbst 1802 sogar zum Generalkommissar für die Übergabe Mannheims und der rechtsrheinischen Pfalz an Baden sowie für die Rückführung wertvoller physikalischastronomischer Instrumente nach München. In München widmete sich Rumford der überständigen Akademiereform, so 1801, als er die Physikalische Klasse nach dem Muster seiner Londoner Royal Institution umgestalten wollte, dann wieder 1802, als er eine spezielle Akademie für Naturwissenschaften, Agronomie, Ökonomie und Politische Wissenschaften nach vorwiegend Pariser Modell empfahl, während die bayerische Seite am Konzept einer Gesamtakademie für Natur- und Geisteswissenschaften festhielt. Eine solche sollte im Sommer 1805 gegründet und Rumford ihr erster Präsident werden. Er war geschmeichelt, kam aus Paris, wollte aber nicht verhandeln, sondern diktieren und brachte dadurch Kurfürst, Minister, Spitzen-

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beamte und Akademiker gleichermaßen gegen sich auf, so daß die Reform nochmals vertagt und Rumford nach Paris zurückkomplimentiert wurde. Auf seine Glückwünsche bei Erhebung Bayerns zum Königreich Anfang 1806 versicherte ihn Max I. fortdauernder Gnade und Pensionszahlung. In Paris pflegte Rumford enge Beziehungen zum bayerischen Gesandten Cetto; die Begegnung mit dem im Frühjahr und Sommer 1806 am Kaiserhof weilenden Kronprinzen Ludwig schien ihn zu beeindrucken; noch Anfang 1810 übermittelte er ihm ein umfangreiches sozialpolitisches Memorandum, Resumée seiner einschlägigen Essays. Bei seinem letzten Münchenbesuch im anschließenden Herbst wurde Rumford zwar allseits freundlich aufgenommen und geehrt, doch für nennenswerte Aufgaben bedurfte man seiner längst nicht mehr. Es war der milde Abgesang auf eine lange und wechselvolle Beziehung. Daher bestimmte nicht Bayern, sondern das Frankreich des Consulat und Empire Rumfords letzten Lebensabschnitt zwischen 1801 und 1814. Frankreich beherrschte den Kontinent, Paris war Europas Machtzentrum auch auf dem Gebiet von Kunst und Kultur, Wissenschaft und Bildung. Hier wirkten zudem zwei Institutionen ganz nach Rumfords Sinn, zum einen das „Institut National des Sciences et des Arts", eine sämtliche Wissenschaftzweige umgreifende, straff gegliederte uund vorzüglich ausgestattete staatliche Zentralakademie mit dem Ersten Konsul Bonaparte als Protektor und zeitweise aktivem Mitglied, zum anderen bestand in Paris das maßstabsetzende „Conservatoire des Arts et des Métiers", eine ständige Ausstellung nützlicher Maschinen, Instrumente und Geräte. Rumford war inzwischen auch in Frankreich bekannt geworden, dank Pictets „Bibliothèque Britannique", mehr noch durch die Übersetzung und Edition seiner Essays, die 1799 in Genf begonnen, doch bald schon in Paris nachgedruckt und fortgesetzt wurde. So kam Rumford im Herbst 1801 als hochwillkommener Gast nach Paris. Im Institut National traf er die Crème der Wissenschaft: Berthollet, Cuvier, Lagrange, Laplace, Monge, sogar den Ersten Konsul Bonaparte; bald wurde er zum Mitglied zugewählt. Ab Frühjahr 1803 nahm der nunmehr Fünfzigjährige sogar in Paris ständigen Wohnsitz. Als er zweieinhalb Jahre später die Witwe - und einst engste Mitarbeiterin - des großen Chemikers Lavoisier heiratete, schien er in der Pariser Gesellschaft des jungen Empire aufgenommen. Doch es schien nur so; in Wahrheit wurde Paris fast zum späten Fiasko seines Lebens. Vielleicht nahm Rumford Höflichkeit und Bewunderung von Institutskollegen und Publikum zu wortgetreu, wahrscheinlich sagte und unternahm er manches, um sich unbeliebt zu machen; wie einst in München und London spottete man auch in Paris über seine exzentrischen Gewohnheiten, etwa wenn er sich im Winter ganz in Weiß kleidete. Im Institut National verdarb er es sich mit Laplace

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und anderen Großen und wurde schließlich als ein geduldeter, doch zunehmend lästiger ausländischer Gast behandelt; ab Herbst 1806 zog er sich von der aktiven Teilnahme zurück. Die Ehe mit der selbstbewußten und emanzipierten Madame Lavoisier erwies sich als Katastrophe und wurde 1809 geschieden. Von nun an lebte Rumford zurückgezogen in einer Villa zu Auteuil und widmete sich ganz seinen Studien, Experimenten, nützlichen Erfindungen und seinem großen Garten. Erst nach jenem ernüchternden letzten Münchenaufenthalt wurde er ein wenig selbstkritischer und kompromißfähiger. Ab Frühjahr 1811 nahm er wieder an Institutssitzungen teil, arrangierte sich sogar mit seinem Hauptwidersacher Laplace, referierte über seine Forschungen über Licht und Wärme, auch über seine neuen praktischen Erfindungen, etwa über eine Lampe, eine Kaffeemaschine, ein wesentlich verbessertes Wagenrad. Gleichwohl dachte er immer häufiger an seine Rückkehr nach Großbritannien zu günstiger Stunde; dort wurden seine Essays nach wie vor gedruckt und viel beachtet, seine Experimente in der Royal Society erörtert und publiziert. Der Rückkehr stand indessen nicht nur der Krieg entgegen, sondern auch die Meinung vieler Engländer, die Rumford für einen Verräter hielten, weil er demonstrativ in Paris geblieben und sich sogar öffentlich als „neutral" erklärt hatte. Doch noch in den letzten Monaten der napoleonischen Herrschaft, im Spätherbst 1813, tat sich eine überraschende Verbindung nach London auf, als Humphrey Davy und sein kongenialer Assistent Michael Faraday dank kaiserlicher Sondererlaubnis zu geognostischen Studien nach Zentralfrankreich und weiter nach Italien reisen durften. In Paris besuchten sie das Institut National und auch Rumford; gewiß erwog man Möglichkeiten und Hindernisse einer Rückkehr. Doch knapp vier Monate, nachdem im Frühjahr 1814 Paris von den Alliierten besetzt, der Krieg entschieden und der Weg nach Großbritannien endlich wieder offen war, starb Rumford am 21. August zu Auteuil eines plötzlichen und einsamen Todes, wie es hieß an einem „nervous fever".

III. Noch einige Bemerkungen zu Rumfords Charakter und Werk, gleich weit entfernt von naiver Heldenverehrung wie von moralisierender oder zynischer Totaldemontage. Gräfin Sally Rumford - seine Tochter aus amerikanischer erster Ehe, die zeitweise bei ihm in München, London und Paris lebte - bezeichnete ihren Vater schon um 1794 als eingebildeten Despoten, scheinheiligen Moralisten und unerträglichen Pedanten. Zwanzig Jahre später meinte der Naturforscher Cuvier in seiner

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Gedenkrede vor dem Institut National, Rumford habe zwar vielen Menschen viel Gutes getan, für sie jedoch weder Zuneigung noch Mitgefühl empfunden. Das sind harte und wohl auch emotions- und ressentimentsgeladene Urteile, doch sie enthalten manch Wahres und werden durch zahlreiche zeitgenössische Zeugnisse erhärtet. In ihnen allen erscheint Rumford als hochmütig und großspurig, selbstgefällig, kalt und berechnend, egozentrisch und exzentrisch, ein Ordnungsfanatiker, stets in Hast und Eile, völlig humorlos, kurzum, als ein Mensch, mit dem schwer auszukommen war, der sich häufig selbst im Wege stand und in späteren Jahren zunehmend hypochondrisch und einsiedlerisch wurde. Übersteigertem Selbstgefühl entsprach ein unterentwickeltes Gefühlsleben. Unbestreitbar war dennoch seine Anziehungskraft auf bestimmte adelige Damen, die er meist kaltblütig für eigene Pläne und Karriere zu nutzen verstand. Der als Wohltäter und Philanthrop Gefeierte ging in all seinem Tun mit der Distanz und Neugier des Naturwissenschaftlers und Sozialingenieurs - und stets auch ad majorem gloriam suam - zu Werke. Seine positiven Seiten sind somit eher anderswo zu suchen, insbesondere in der ungewöhnlichen Fähigkeit, Ausdauer und Folgerichtigkeit, mit der er Projekte schmiedete, betrieb und häufig auch durchsetzte, auch in einer unersättlichen Wißbegierde und Lernfreude sowie einer außerordentlichen Sprachbegabung. In seinen besten Zeiten entwickelte Rumford Anpassungsfähigkeit und diplomatisches Geschick im Umgang mit Großen und Mächtigen. Mit sicherem Blick entdeckte, gewann und förderte er fähige, gelegentlich sogar überragende junge Köpfe, wie Humphrey Davys und Thomas Young für die Londoner Royal Institution. Zuvor in München hatte er den Naturforschern und Ingenieuren Joseph und Franz Xaver Baader sowie Georg Reichenbach einen längeren England- und Schottlandaufenthalt vermittelt. Weitgehend ihren Aufstieg verdankten ihm seine engeren Münchner Mitarbeiter, insbesondere die Offiziere und späteren Generäle v. Gaza und Freiherr v. Werneck, der Publizist und Journalist Joseph Marius Babo, der Jurist und Historiker Felix Josef Lipowsky, schließlich sogar ein Münchner Weltgeistlicher und hochbegabter Zeichner und Maler, Georg Dillis, der erst in unseren Tagen neu entdeckt worden ist. Was bleibt also von Rumford? Gewiß mehr als die Londoner Royal Institution und etliche Straßennamen in der englischen Provinz, mehr auch als der Name einer amerikanischen Wissenschaftsmedaille, einer Professur für Experimentalphysik zu Harvard, eines bescheidenen Museums in Concord/New Hampshire und einer lokalen „Rumford Historical Association" zu Woburn/Massachusetts, mehr schließlich als der Englische Garten, zwei Denkmäler und ein Straßenname in München. Bedeutungsvoll in doppelter Hinsicht bleibt seine pfalzbayerische Heeresreform ab 1788, einmal wegen ihrer Verflechtung von bürgerlicher und militärischer

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Gesellschaft und der Förderung auch bürgerlichen Offiziersnachwuchses, zum anderen ob ihrer spezifischen Verbindung mit Sozial- und Wirtschaftsreformen und dem Münchner pauperistischen Wohlfahrtsmodell. Dieses war gewiß nicht das einzige in Europa und im Reich, doch in seiner Kombination von Arbeitshaus, Armeninstitut, Ernährungsreformen und praktischen Erfindungen sowie in der partiellen Anbindung an die Heeresreform bemerkenswert originell, praktikabel und im Ganzen wie auch in Details exemplarisch und übertragbar ins In- und Ausland. Die gesamten Rumfordschen Reformen können sehr wohl als wesentlicher Teil eines von Karl Theodor gebilligten „Programms pfalzbayerischer Staats- und Gesellschaft sreform" (Richard Bauer) gedeutet werden. Rumfords Münchner Kanonen-Experiment von 1797 ist als Markstein früher thermodynamischer Forschung in die Geschichte der Physik eingegangen. In der europäischen Akademie- und Sozietätsbewegung gewann Rumford einen Rang sui generis durch Gründung und Bestimmung der Londoner Royal Institution, durch seine Münchner Akademiepläne, auch durch seine Vorschläge zum Ausbau des Pariser „Conservatoire des Arts et des Métiers". Stets ging es ihm dabei um Annäherung von reiner und angewandter Naturwissenschaft, um anschauliche didaktische Vermittlung, um Ausgleich und Verknüpfung agrarischer und gewerblich-industrieller Interessen. Rumford verstand es, das allgemein Nützliche, Moralisch-Erzieherische und Staats- und Herrschaftserhaltende mit dem Unterhaltenden, Angenehmen und - in raren Sternstunden - sogar mit dem ästhetisch Schönen zu verbinden. Eben dies gelang ihm mit dem Englischen Garten zu München. Aus dem Gebiet des Rationalismus, Utilitarismus, Eudämonismus und Klassizismus entstand hier eine Art Gesamtkunstwerk des aufgeklärten Staatsabsolutismus.

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Peter Stadler Zwischen Ancien Régime, Revolution und Restauration Pestalozzis politische Pädagogik in ihrer Zeit'

l.

Von Pestalozzis politischer Pädagogik zu sprechen, beruht auf der Voraussetzung, daß dieser Erzieher - im Unterschied zu anderen - in seinen Überzeugungen und seinem Wirken stets auf den Staat, die gesellschaftlich-staatliche Gemeinschaft, aber im besonderen auch auf den kleineren und überblickbaren Staat als Bürgergemeinde - eben die Polis - ausgerichtet blieb. Schon seine allerersten Schriften legen davon Zeugnis ab. Pestalozzi lebte bekanntlich von 1746 bis 1827 - und das heißt: die Französische Revolution als das säkulare Ereignis jener Epoche und die große Herausforderung an die gesellschaftlichen Normen und Ordnungen lag ziemlich genau im Zentrum seines Lebens. Das gilt für ihn wie für Goethe und Napoleon, um die beiden anderen großen Zeitgenossen zu nennen. Die Jahrzehnte vor der Explosion von 1789 sind geprägt durch den aufgeklärten Absolutismus im europäischen Rahmen, jenen Versuchen, den von Überalterung bedrohten Hochabsolutismus von 1700 zu reformieren und dadurch neu in Gang zu bringen, ihm auch mehr Glaubwürdigkeit vor der .öffentlichen Meinung' zu verschaffen. In der Schweiz und besonders in Pestalozzis Vaterstadt Zürich (wo es keine Monarchen und folglich auch keinen eigentlichen Absolutismus gab) entsprach dieser Spätzeit ein sich

1 Leicht abgeänderte Fassung eines an einem Pestalozzi-Symposium in Peking im Oktober 1994 gehaltenen Referats. Es ging dabei um eine Konzentration eigener Forschungen - vor allem meiner „Geschichtlichen Biographie": Pestalozzi. 2 Bde. Zürich 1988-1993 - und um Hervorhebung der großen Linien und Zusammenhänge, unter Verzicht auf historische und regionale Details. In diesem Werk auch weitere Literatur- und Quellenangaben. Im folgenden wird die seit 1927 im Erscheinen begriffene und beinahe abgeschlossene kritische Gesamtausgabe (Johann Heinrich PESTALOZZI, Sämtliche Werke. Bisher erschienen: 28 Bde. Hrsg. v. Artur Buchenauer/Eduard Spranger/Hans Schlettbacher. Berlin/Leipzig/Zürich 1927 ff.) zitiert: W (und Bandzahl).

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verhärtender Aristokratismus, altmodisch und doch nicht nur .Ancien Régime'. Hinter den überholten politischen Strukturen, welche die Städte und deren Oberschichten - je nachdem adelige Patrizier oder reiche Kaufleute - privilegierten und die Bewohner des Landes von politischer Mitbestimmung ausschlossen, war nämlich ein ökonomischer Modernisierungsprozeß im Gange, welcher rapide Fortschritte der Industrialisierung und des Bankwesens einleitete. Ja, umrißweise zeichnete sich bereits die moderne Schweiz des Kapitalismus ab, mit einer prosperierenden Textilindustrie - zuerst noch manufakturiell, später auch in Fabriken betrieben - und einem effizienten Bankenwesen, das vor allem in Genf, Zürich und Basel seine Zentren aufwies. In diese Ära mit ihren Expansionskräften wuchs der junge Pestalozzi hinein, der einer alten Zürcher Familie entstammte, aber einem eher armen Zweig derselben angehörte. Der Vater war ein früh verstorbener Chirurg, der es zu nichts gebracht hatte; die Mutter aber kam aus der Landschaft und somit einer Gegend, die politisch wie wirtschaftlich benachteiligt war - dies eine Mitgift, die Pestalozzi sein Leben lang bestimmen sollte. Er kannte die soziale Unterprivilegierung also unter doppelter Belastung: 1. unter reichen Stadtbürgem nicht reich zu sein, 2. als Nachkomme einer zwar angesehenen und wohlhabenden Familie der Landschaft von den Städtern nicht als gleichwertig akzeptiert zu werden. Von solchen Voraussetzungen her begreift man die politische Dimension des Denkens bei Pestalozzi, noch lange bevor er Erzieher wurde. Vaterländischer Mahner war er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr, als er sich mit anderen Jugendlichen zu einer patriotischen Vereinigung zusammentat, mit dem Zweck, das Vaterland zu erneuern, es vor drohender Erstarrung zu retten. Er rede die vergessene Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das sich daran gewöhnt habe, Mitbürger in Sklaverei stürzen und das Heil des Staates vertilgen zu sehen, heißt es in der Erstlingsschrift „Agis" (1766).2 Ein sehr bezeichnender Grundgedanke, der im Leben des jungen und dann auch des älteren Pestalozzi immer wieder und fast leitmotivisch anklingt - von jenem eben zitierten frühen Text bis zur fast sechzig Jahre später gehaltenen Rede von 1825, einer Art von politischem Testament. In diese lange Zeitspanne voller Umwälzungen und Veränderungen auch im eigenen Land fallt Pestalozzis Entwicklung, die zunächst alles andere als zielbewußt war. Das Studium, das zum geistlichen Amt geführt hätte, brach er brüsk ab und verbaute sich damit eine bürgerliche Existenz. Stattdessen verlegte er sich auf die Landwirtschaft, was einem damals modischen Trend entsprach - Stichworte: Physiokratismus und .Retour à la nature' des vom jungen Zürich sehr bewunderten

2

w 1, 13.

Pestalozzis politische Pädagogik

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Rousseau. Möglich war diese Berufswahl aber doch nur, weil die Vermählung mit einer Tochter aus wohlhabender Familie dies und den Bau eines Landhauses letztlich erlaubte. Pestalozzis Erfolge als Landwirt waren bescheiden; er verstand davon zu wenig, überschätzte seine Fähigkeiten - auch später verfiel er immer wieder der Illusion hinsichtlich sich selber. Und doch wurde die Zeit auf dem Neuhof, seinem Gutshof bei Brugg im heutigen Kanton Aargau (damals im bernischen Untertanengebiet), zu einer wichtigen Etappe auf dem Weg zu seiner sozialpolitisch motivierten Pädagogik. Hier entdeckte Pestalozzi nämlich die Armut als ein Massenphänomen; die Tatsache, daß ein großer Teil der ländlichen Unterschichten ein Leben nahe dem Existenzminimum führen mußte. Dieses Problem beschäftigte ihn von nun an fast unablässig; die Frage, wie es dazu kam und wie diese Not gemeistert werden könne, verfolgte ihn geradezu. Die Antwort aber führte ihn mitten in die praktische Erziehung hinein. Armut war eine direkte Folge der Vernachlässigung von Kindern, die - mehr oder weniger sich selber überlassen - ohne Schule oder sonstige Ausbildung zu einer nutzlosen Überschußbevölkerung .entarten' mußten. Warum aber die Misere? Pestalozzis Antwort lautet: „Der Arme ist mehrenteils arm, weil er zur Erwerbung seiner Bedürfnisse nicht auferzogen ist; man soll hier die Quelle stopfen. " 3 Überwindung der Armut ist also eine Aufgabe richtiger Erziehung, diese aber kann nicht von unten, sondern muß von oben in die Wege geleitet werden. Hier liegt die Verantwortlichkeit der Obrigkeiten, aber nicht nur, sondern jedes einsichtigen und wohlhabenden Bürgers. Im Willen, dies zu exemplifizieren und dabei auch selber wohlhabend zu werden, hat er sich auf ein kühnes Experiment eingelassen. Da der Landwirtschaftsbetrieb nicht prosperierte, beschloß er, seinen Neuhof zur industriellen Heimarbeit zu nutzen. Das war an sich nicht originell, lag vielmehr im Zug der Zeit. Vor allem in der deutschen Schweiz erlebten die Textilmanufakturen geradezu einen Boom. Nicht nur Erwachsene, auch Kinder fanden hier Betätigungsmöglichkeiten. Daran knüpfte Pestalozzi an, wobei er aber - und hier liegt die Kühnheit seines Ansatzes - die Kinderarbeit wohl (wie andere Unternehmer auch) nach wirtschaftlichen Renditen zu nutzen gedachte, gleichzeitig aber die eingesetzten Kinder erziehen wollte, dies in Zusammenarbeit mit seiner Frau und auch mit Angestellten. Das ökonomisch Profitable sollte also mit dem volkserzieherisch Nutzbringenden verbunden werden. Längerfristig wäre dies nicht nur eine Erziehungspflicht, sondern auch ein gutes Geschäft - je wohlhabender die Bevölkerung, desto prosperierender das Staatswesen, angefangen bei der Gemeinde und in der Familie, im einzelnen Haushalt. Dieses Beispiel aber würde - so spekulierte Pesta-

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w 1, 142.

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lozzi - Schule machen und sich mit der Förderung der Regierungen innerhalb und außerhalb der Schweiz ausbreiten. Nun, diese Rechnung ging nicht auf, sie führte Pestalozzi vielmehr an den Rand des Ruins. Er war zu unerfahren, als Geschäftsmann ebenso wie als Erzieher; die Kinder leisteten wenig, manche liefen davon. Nur das Vermögen seiner Frau und ihrer Familie rettete Pestalozzi vor dem gänzlichen Bankrott. Statt den Armen zu helfen, war er selber arm geworden, ein Gegenstand des Spottes in seiner Vaterstadt. Über diesen Mißerfolg der 1770er Jahre ist er nie hinweggekommen, er verfolgte ihn wie ein Traum - denn er war innerlich überzeugt von der Notwendigkeit seiner Mission. Er anerkannte seine Niederlage zwar nicht, aber er vollzog eine Art Berufswechsel und wandte sich der Schriftstellerei zu. In diesem Bereich gelang ihm nun der erste und bleibende Erfolg seines Lebens - bleibend deshalb, weil er ebenfalls vom Grundsatz der Volkserziehung ausging. Sein Roman „Lienhard und Gertrud", zwischen 1781 und 1787 in vier Bänden erschienen, beruhte auf den Erfahrungen, die Pestalozzi in langen Jahren erlitten hatte, nämlich dem Leben des Volkes in einem Dorf, mit einer Familie als Mittelpunkt. Kein Bauernidyll, wie es verwöhnte Städter und Aristokraten damals gerne hatten, und wie sie es in hübschen Bildern dargestellt wünschten, sondern eine ziemlich brutale Realität mit mancherlei bäuerlichen Egoisten, ja man kann fast von einer dörflichen Mafia sprechen, die den wenigen Guten - darunter eben das Ehepaar Lienhard und Gertrud mit seinen Kindern - das Leben schwer macht. Rettung kommt eigentlich nur von oben - vom aristokratischen Landvogt Amer, dem wohlgesinnten Pfarrer, ja zuletzt sogar (aber erst im abschließenden vierten Band) vom aufgeklärten Fürsten. Sie alle bringen dann auch den Fortschritt, während die Bauern am liebsten an ihren alten Mißbräuchen festgehalten hätten. Das ist die eigentliche Moral der langen Geschichte: das Volk kann sich selber nicht oder nur dann helfen, wenn die Obrigkeit ihm den richtigen Weg weist, beispielsweise in der Landwirtschaft. Ja, Pestalozzi verzweifelte damals geradezu an den Zukunftsaussichten seines Landes - keineswegs als einziger Schweizer - und hoffte, an den Hof eines aufgeklärten absolutistischen Fürsten berufen zu werden, gab sich auch entsprechende Mühe, aber vergeblich. Der Roman blieb Pestalozzis literarisches Hauptwerk, er war jedoch nur ein Ausdruck der gewaltigen Produktivität, die ihn in jenen Jahren überkam und zentrale Probleme damaliger Staats- und Gesellschaftsordnung anpacken ließ. Offensichtlich wollte er seinen Mitbürgern vor Augen führen, daß er trotz seines Mißerfolgs in der Praxis noch manches zu sagen hatte, worauf sie nicht von selber kamen. Ganz direkt wandte er sich an Zürich und kritisierte in einer (aus Zensurgründen nur sehr gekürzt veröffentlichten) Schrift „Von der Freiheit meiner Vaterstadt" ihre Schwä-

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chen und erkannte den Hauptmangel geradezu seherisch in einer Qualität, die andere als ihren großen Vorzug bewertet hätten, nämlich im „Großreichtum", der überbordenden Kapitalkraft. Denn, argumentierte er: Industrie - hier im allgemeineren Sinne der wirtschaftlichen Aktivität verstanden - sei nur so lange eine Stütze der Freiheit und des Wohlstandes, als sie die Freiheit und die Landessitten des Volkes schützen könne. Wohlstand und Reichtum sind also nicht identisch: der Wohlstand ist auf alle Bürger mehr oder minder gleichmäßig verteilt und gewährleistet den „Mittelstand", jene richtige Mitte zwischen arm und reich, die Pestalozzi für die Grundlage jedes gesunden Staatswesens hält. Demgegenüber gefährdet eben die Vermögenskonzentration in den Händen der Großunternehmer, Großkaufleute und Bankiers diese Ausgeglichenheit, wie sie in Zürich früher selbstverständlich war und in kleineren Städten der Schweiz durchaus noch zu finden ist. Denn die Verflechtung von Elend und Ausbeutung ist in jedem Land und in jeder Stadt präsent. Pestalozzi untersucht sie in einem speziellen Kontext: im Umfeld des Kindsmords, der Tötung des neugeborenen Kindes durch die unverheiratete Mutter. Dieses Delikt hatte es schon immer gegeben, wirklich erfaßt und diskutiert wurde es aber erst gegen Ausgang des 18. Jahrhunderts mitsamt seinen Hintergründen - der Hilflosigkeit der zumeist in Abhängigkeit lebenden alleinstehenden Frau und ihrer gerade auch sexuellen Ausbeutung. Sehr viel helfen konnte da auch Pestalozzi nicht; er stellte fest, dem Staat fehle der Einfluß auf die häuslichen Tugenden. Immerhin wagte er eine gewichtige Aussage: „Für den Staat ist ein uneheliches Kind nur in so fern ein Schaden, als es nicht recht erzogen wird. - Für die Menschheit ist ein uneheliches Kind unzweideutigst ein Gewinnst, wenn es recht erzogen wird. " 4 Zweimal kommt hier hintereinander das Wort „erziehen" zur Anwendung, jedesmal in national- oder menschheits-pädagogischem Zusammenhang, wobei der Erziehung eine zentrale, j a ausschlaggebende Funktion in der Emporbildung des Menschen zufällt. Die Forderung nach Aufhebung der Todesstrafe (die gegen Kindsmörderinnen noch durchwegs zur Anwendung kam) ist zwingend die Folgerung aus dieser Einsicht. Eine Summe dieser kürzeren oder längeren Schriften und in gewissem Sinne auch deren Abstraktion bildet dann das philosophische Hauptwerk Pestalozzis, das nach langer Vorbereitungszeit 1797 erschienen ist unter dem Titel „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts". Er hat es selbst einmal die „Philosophie meiner Politik" benannt und darin die drei gesellschaftlichen Stufen des Naturzustandes, des gesellschaftlichen und des sittlichen Zustandes unterschieden. Doch ist damit nicht, wie man auf den ersten Blick

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w 4, 71.

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annehmen könnte, eine geschichtsphilosophische Fortschrittslehre im Stil der späteren Aufklärung gemeint, schon deshalb nicht, weil Pestalozzi die Brutalitäten des Naturzustandes durchaus auf der nächsthöheren Stufe des gesellschaftlichen Zustandes weiterwirken sieht, allenfalls in zivilisatorischer Verbrämung. Sogar der Staat wird in dieser Sicht keineswegs als Instrument der Versittlichung angesehen, im Unterschied etwa zum staatspolitischen Idealismus des deutschen Philosophen Hegel, der nach einer berühmtgewordenen Formel im Staat „die Wirklichkeit der sittlichen Idee" wahrhaben wollte (§ 257 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts"). Von solcher Staatsgläubigkeit war Pestalozzi weit entfernt; zuviel staatliche Brutalität hatte er selber und als Zeitgenosse miterleben müssen - gerade auch in der jüngsten Vergangenheit - , um dem Staat blindlings vertrauen zu können.

II. Zwischen Pestalozzis „Lienhard und Gertrud" und seinen „Nachforschungen" entbrannte die Französische Revolution, dieser immer noch größte Einschnitt in die Geschichte der europäischen Neuzeit. Daß Pestalozzi wie so viele Zeitgenossen ihren Ausbruch begrüßte, ist anzunehmen, obwohl wir wenig zeitgenössische Zeugnisse dazu haben. Auch seine Briefe um 1789 geben kaum etwas her. Dafür meldete sich das revolutionäre Paris selber, wo gegen Ende August 1792 die , Assemblée législative' (offenbar auf Antrag des Dichters Marie-Joseph Chénier) dem schweizerischen Pädagogen zusammen mit anderen prominenten Ausländern die Auswahl reichte von George Washington und dem englischen Sozialkritiker Thomas Paine bis zu Schiller und Immanuel Kant - das französische Ehrenbürgerrecht verlieh. Eine offenbar ziemlich improvisierte Entscheidung, an welcher Pestalozzi keinen Anteil hatte. So sehr sie ihn an und für sich gefreut haben dürfte - Ehrungen aus dem Ausland taten ihm stets wohl - , kam sie ihm zu jenem Zeitpunkt gewiß ungelegen. Kurz zuvor, am 10. August 1792, hatten die Aufständischen den Tuilerienpalast gestürmt und die Monarchie beseitigt; vor allem aber war die das Königtum verteidigende Schweizergarde teilweise niedergemetzelt worden, was in der Schweiz einen gewaltigen und empörten Widerhall auslöste. Pestalozzi konnte froh sein, daß die seiner Person widerfahrene Ehrung in seiner Heimat damals kaum bekannt und von der Flut der politischen Sensationsnachrichten überdeckt wurde. Die wenig später folgende und sich ausbreitende Schreckensherrschaft der Jakobiner mit ihrer,Terreur' brachte die schweizerischen Anhänger der Französischen Revolution noch mehr in Bedrängnis und setzte sie vollends der Diffamierung aus. Angesichts der Herausforderung durch diese bisher unbekannte Erscheinung einer

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revolutionären Diktatur machte sich Pestalozzi - wahrscheinlich angeregt durch den damals in Zürich weilenden Philosophen Fichte - ans Werk und schrieb die grundsätzliche Abhandlung „Ja oder Nein?", in welcher er die Revolution durchaus wörtlich als Zurückwälzung zu begreifen versucht: die von den Beschwernissen und der Willkür einer absolutistischen Staatswirtschaft bedrückten Völker erinnern sich früherer und besserer Zeiten, die sie sich wieder herbeiwünschen - freilich mit dem Resultat, daß anstelle der Unterdrückung durch das Ancien Régime nun eine revolutionäre Unterdrückung um sich greift. Die Gleichmacherei im heutigen Frankreich, die konservative Zeitgenossen so sehr beklagen, ist nichts anderes als eine Fortsetzung jener Nivellierung, die bereits der königliche Absolutismus praktizierte, als er die alten Sonder- und Gewohnheitsrechte beseitigte. Diese „Gleichmachungspolitik", die Pestalozzi in einen großen geschichtlichen Zusammenhang stellt, erstreckt sich auch auf die kriegerische Außenpolitik; damals verbluteten die leichtherzigen Franzosen „jubelnd für den großen König, der ihnen alles nahm, was sie hatten."5 Es ist also keine der eindeutigen Stellungnahmen für oder gegen die Revolution, wie sie damals so zahlreich fabriziert wurden, sondern der Versuch zu einer Analyse, und zwar einer der bedeutendsten aus zeitgenössischer Sicht. Gerade deshalb mag man bedauern, daß Pestalozzi auf die Publikation verzichtete - oder verzichten mußte. Sicherlich hätte die Zensur daran Anstoß genommen, und möglicherweise wären ihm sogar persönliche Schwierigkeiten erwachsen. Als wenig später - nämlich 1794/95 - Unruhen auf der Zürcher Landschaft entstanden, weil die ökonomisch aufstrebenden Dörfer die Bevormundung und die Ausbeutung durch die Stadt nicht mehr ertrugen, ergriff Pestalozzi - im Verein mit Lavater, dem weitaus berühmtesten Theologen der Stadt Zürich - vermittelnd und ausgleichend Stellung. Es gelang, die Regierung, die sich noch einmal durchgesetzt hatte, von Hinrichtungen abzuhalten. Ohnehin waren die Tage des Ancien Régime auch in der Schweiz gezählt. Das innerlich verteidigungsunfähige Land wurde im Frühjahr 1798 von den Franzosen gegen nur geringfügigen Widerstand erobert. Die Sieger errichteten eine Helvetische Republik nach französischem Muster und französischer Verfassung. Diesem neuen und revolutionären Staat stellte sich Pestalozzi zur Verfügung, überzeugt, diesem an die Stelle der alten Ordnung getretenen Einheitsstaat eine Chance bieten zu müssen. Die neue Regierung aber, die sich aus ihm teilweise bekannten und vertrauten Reformpolitikern einer jüngeren Generation zusammensetzte, nutzte sein publizistisches Talent und machte ihn zum Redaktor des offiziösen „Helvetischen Volksblattes". In dieser Eigenschaft mußte sich Pestalozzi freilich zum Propagandi-

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sten nicht nur des neuen Systems, sondern auch sehr unpopulärer Entscheide wie des Militärbündnisses mit Frankreich oder von kriegerischen Maßnahmen der Besatzungstruppen hergeben. Die Popularität des Organs blieb entsprechend gering, und Pestalozzi war schon nach kurzer Zeit froh, endlich eine seiner eigentlichen Bestimmung gemäße Tätigkeit zu finden. So übernahm er auf Einladung der Regierung die Leitung des Waisenhauses im innerschweizerischen Stans, wo die Franzosen kurz zuvor einen Aufstand der Bevölkerung unter blutigen Verlusten niedergekämpft hatten. Die Betreuung der vielen elternlosen Kinder fiel Pestalozzi in einem Augenblick zu, als er mit seinen rein schriftstellerischen Aktivitäten in eine Krise geraten war. Es war die entscheidende Wende in seinem Leben; jetzt, gegen Ende 1798, mit fast 53 Jahren, wurde er hauptamtlich Erzieher und blieb es fortan. Stans war die erste rein erzieherische Praxis seines Lebens, ohne Belastung durch den ökonomischen Nebenerwerb, wie er dem Neuhofprojekt zum Verhängnis gereicht hatte, dafür finanziert von der Regierung. Hier entdeckte Pestalozzi seine genuine und geniale Fähigkeit mit Kindern umzugehen, die er allen Routinepädagogen voraus hatte. Aber seine Politik sollte doch auch zur Erziehung werden, in dem Sinne, daß er dem neuen Staat lebendige Unterstützung in Gestalt der heranwachsenden Kinder, die ihm anvertraut waren, zukommen lassen wollte. Diese Erwartung erfüllte sich allerdings nur teilweise, da das Stanser Experiment nach wenigen Monaten dem wiederausgebrochenen Krieg zum Opfer fiel und das Waisenhaus für militärische Zwecke gebraucht wurde. Dennoch blieb es für Pestalozzi eine Grunderfahrung, deren Bedeutung er dann in seinem „Stanser Brief" niederlegte. Er war nun als pädagogische Kapazität anerkannt und fand sich vom Staate gefördert. Burgdorf wurde die nächste Station seines Lebens, wo er zunächst als einfacher Lehrer, dann als Leiter eines Instituts auf dem Schlosse nunmehr zum wichtigsten Pädagogen seines Landes und bald auch des deutschen Sprachbereichs aufrückte und erstmals auch seine „Methode" (in dem Buche „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt") entwickelte. Sie ist nicht ganz leicht zu definieren, und Pestalozzi hat sie einmal zu Händen eines Freundes von Beethoven in folgendem Satz zusammengefaßt: „Einsicht, Liebe und Berufskraft vollenden den Menschen. Der Zweck der Erziehung ist einzig diese Vollendung ... " ,6 Das ist eine Variante der bekannten Kurzformel „Kopf, Herz und Hand", welche diese Erziehungsprinzipien lapidar verdichtet. Wesentlich für Pestalozzi ist eben nicht, wie dann für den preussischen Erziehungspädagogen und Minister Wilhelm von Humboldt, die Herausbildung der Eliten, wie sie an Gymnasien und Universitäten geschieht, sondern die Volkserziehung der

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Albumblatt für den Hofrat Büel. Zit. nach STADLER, Pestalozzi (wie Anm. 1), Bd. 2, 148.

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heranwachsenden Kinder. Hier sieht Pestalozzi eine Hauptaufgabe jeder Pädagogik, während ihm, der niemals eine Universität besucht hatte, die Hochschulen ziemlich gleichgültig blieben. Unpolitisch war dieses Prinzip nicht. Man kann darin durchaus einen demokratischen Ansatz sehen, welcher der Schule die Aufgabe zuwies, den künftigen Staatsbürgern - statt sie in der Unwissenheit zu belassen - einen soliden Grundstock an praktischem und nutzbringend verwertbarem Wissen zu vermitteln. Diesem Zweck sollte auch ein großes helvetisches Lehrerbildungsseminar dienen. Dazu kam es jedoch nicht. Wieder (wie in Stans) spielten die Zeitereignisse herein; die Helvetik mit ihrer Einheitsrepublik brach zusammen, Napoleon Bonaparte nahm die Reorganisation der Schweiz in die Hand und berief eine , Consulta' (als Vertretung schweizerischer Notablen) nach Paris - der übrigens auch Pestalozzi angehörte. Für ihn eine erste Begegnung mit der großen Welt, ohne daß dabei - von einigen menschlichen Kontakten abgesehen - viel herausgeschaut hätte. Die Neuordnung der Schweiz geschah in konservativem Sinne; die Kantone der Schweiz gewannen einen Großteil ihrer einzelstaatlichen Souveränität zurück. Das aber hieß, daß Pestalozzi der Berner Regierung das ihr wieder zugefallene Schloß Burgdorf preisgeben und für sein Institut eine neue Stätte suchen mußte. Er fand sie (nach einem wenig glücklichen Zwischenspiel in Münchenbuchsee) in Yverdon, einem Städtchen der französischen Schweiz, wo ihm ebenfalls das Schloß eingeräumt wurde. Hier begann die letzte und längste Etappe seines pädagogischen Wirkens, auch die bedeutungsvollste. War er in Stans noch fast allein gewesen, so hatte er bereits in Burgdorf Mitarbeiter gefunden, die sich ihm begeistert als Lehrer anschlossen und mit ihm nach Yverdon übersiedelten: Johannes Niederer vor allem, später auch Johannes von Muralt (der dann nach Rußland ging), sodann der junge Mathematiker Josef Schmid aus Österreich und weitere. Pestalozzi selber gab, von Religions- und Andachtsstunden abgesehen, kaum Unterricht, war ja auch kein Fachlehrer; er belebte das Ganze mit seinem Geist und seiner Begeisterung. Das war es offensichtlich auch, was das Institut von anderen unterschied und zum pädagogischen Wallfahrtsort machte. Es wurde - in Burgdorf wie in Yverdon - von vielen auswärtigen Besuchern aufgesucht und in zunehmenden Maße auch von ausländischen Zöglingen frequentiert. Keine Regierung finanzierte nunmehr das Institut; es sollte selbsttragend sein. Dies bedeutete, daß sich immer häufiger Söhne aus wohlhabenden und vornehmen Familien hier ausbilden ließen, obwohl Pestalozzi stets bemüht blieb, auch mittellose Jünglinge zuzulassen. Sein eigentliches Ideal war nach wie vor der Armenerziehung zugewandt, ohne daß er es ganz verwirklichen konnte. Zwar entstand in Clindy (unweit von Yverdon) ein Armeninstitut, aber es hielt sich nur kurze Zeit. Seine Bestrebungen nach einer Industriepädagogik - Kinder für die Schule wie für das um

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sich greifende Fabrikwesen auszubilden - knüpften an seine frühen Neuhofprojekte an, führten aber auch zu keinem konkreten Ergebnis. Organisatorisches nahm den Erzieher fortwährend in Anspruch und lenkte ihn auch ab, etwa die von ihm begründete und geleitete „Schweizerische Gesellschaft für Erziehung", von der er sich auch eine propagandistische Wirkung versprach. Um 1814/15 ging die Ära Napoleons zu Ende. Als die Alliierten siegreich gegen Frankreich vorrückten, wurde Pestalozzi sein vielleicht größter Auftritt zuteil. In Basel, wohin er zwecks Bewahrung Yverdons vor fremder Truppenbesetzung gereist war, wurde er vom Zaren Alexander I. zu einer Audienz empfangen; dazu kamen weitere Begegnungen mit dem König von Preußen und mit Metternich - lauter Widerspiegelungen des europaweit angewachsenen Prestiges dieses großen Pädagogen, das sich auch in der Verleihung des Wladimirordens durch den Zaren ausdrückte. Doch dabei ließ es Pestalozzi nicht bewenden. Für ihn sollte die neue politische Epoche auch der Beginn einer neuen pädagogischen Ära sein. Oder, um es mit den Worten seines Anhängers Niederer auszudrücken: „Das goldene Zeitalter wird nicht erscheinen, bis die Politik selbst Erziehungs- und nicht bloße Beherrschungskunst der Völker wird. " 7 Aus dieser Überzeugung erwuchs die Schrift „An die Unschuld, den Ernst und den Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandes" (1815), voller Hoffnungen und mit dem Wunsch, die Fürsten möchten fortan zum Besten ihrer Völker Pädagogen sein. Unter der Gewaltherrschaft Napoleons habe die „Zivilisation" vorgeherrscht, jetzt aber solle das Zeitalter der „Kultur" kommen. Die Wirkung des Buches war eher bescheiden; statt Pestalozzi wurde alsbald sein Gegner Karl Ludwig von Haller, der Präger des Begriffs „Restauration", mit seinem autoritären Patemalismus der Mann der Stunde. Enttäuscht war der Erzieher auch von der Entwicklung im eigenen Lande, das er noch immer vom „Zivilisationsschlendrian" und drohender Erstarrung gelähmt fand. Einzig auf England, das lange abseits seiner Interessen gelegen hatte, richtete er nunmehr Hoffnungen - weniger wegen dem „Glück des Handels", dieser Kraftgarantie der Insel, als vielmehr wegen der „Achtung für die Selbständigkeit des häuslichen Lebens, für die unverletzliche Heiligkeit der Wohnstube eines jeden": in solchen Qualitäten lag für ihn das Modell einer jeden gesunden Staats- und Gesellschaftsordnung.8 Mittlerweile waren Alter und Vereinsamung über den Siebzigjährigen gekommen. Wirtschaftliche Zerrüttung gefährdete das Institut. Pestalozzi, autoritätserpicht bis zum Eigensinn, weigerte sich, die Leitung zu delegieren oder gar völlig aus der

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Zit. nach STADLER, Pestalozzi (wie ANM. 1), Bd. 2, 396.

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Hand zu geben. Das war dann eben die Kehrseite seiner manchmal etwas gespielten Einfachheit und äußerlichen Vernachlässigung. Bald nach dem Ende 1815 erfolgten Tode seiner Gemahlin, die als Integrationsfigur noch das Ganze zusammengehalten hatte, begann ein wütender Streit unter den Lehrern und damit der Niedergang der Schule. Indem sich Pestalozzi bis zur Unterwürfigkeit dem viel jüngeren und energischen Josef Schmid anvertraute, überwarf er sich mit nahezu allen anderen Lehrern, vor allem mit Niederer, dem bisher treuesten seiner Anhänger. Die Folgen waren katastrophal. Der Konflikt sprach sich herum; Ansehen und Frequentierung des Instituts lieeen nach; nicht nur die Zöglinge, auch die für Pestalozzi so wichtigen Eleven - das waren Junglehrer, die in Yverdon seine Methode erlernen sollten und vor allem aus Deutschland (insbesondere Preußen) kamen - blieben mehr und mehr aus. Wären nicht Engländer hinzugekommen, die den Lehrerstreit weniger realisierten und unter sich eine ziemlich geschlossene Gemeinschaft bildeten, so hätte das Institut schon früher schließen müssen. Der greise Pestalozzi war bald nur noch ein Aushängeschild ohne lebendige Präsenz. Schmid erwies sich als unbeliebter Institutsherr. Zuletzt sprach die Regierung des Kantons Waadt ein Machtwort und wies ihn als Ausländer aus, was das Ende der Anstalt bedeutete, die im März 1825 ihre Tore Schloß. Dennoch, am Ende war der alte Mann keineswegs, gab sich vielmehr einen letzten und großartigen schriftstellerischen Aufschwung. Energisch und zielbewußt betrieb er schon seit einiger Zeit das Erscheinen der ersten Gesamtausgabe seiner Werke. 1825 widerfuhr ihm die Ehre, zum Präsidenten der Helvetischen Gesellschaft gewählt zu werden, und das bot die Gelegenheit, anläßlich der Jahresversammlung von 1826 in Langenthal die berühmte Präsidialrede zu halten, die als politisches Vermächtnis bezeichnet werden kann. Zwei Elemente, heißt es darin, begründeten Bedeutung und Eigenart der Schweiz - einerseits die demokratische Gleichheit und Einfachheit der Gebirgsgegenden, anderseits der wirtschaftliche Wohlstand der fortschrittlicheren Städte, bei denen auch die Reformation Eingang fand. Diese Grundlagen hielten sich in glücklichem Gleichgewicht, bis im 18. Jahrhundert die Industrialisierung „unnatürlichen Fabrikverdienst" und damit „ekelhafte Luxustorheit" schuf, und zwar „bis auf unsere Dörfer hinab". Ein Glück wenigstens, daß die einfacheren katholischen Regionen davon weniger berührt wurden als die reformierten. Leider seien „die alten Segenskräfte der Wohnstubenbildung " aus vielen Haushaltungen des Volkes verschwunden, und so blieben auch die „Volksschulen ... von allem, was die solide Begründung des häuslichen und bürgerlichen Wohlstandes der Individuen aller Stände erfordert, entblößt." Das ist typischer Pestalozzi: wahre Bildung muß auf die Wohnstube zurückgehen, und diese bildet die Basis jeder guten Volksschule. Ob diese Vorstellung auch in den Zeiten der Fabriken mit ihrer um

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sich greifenden Frauen- und Kinderarbeit noch Bestand haben könnte, blieb demgegenüber sicher eine berechtigte Frage. Freilich hat Pestalozzi zwar nicht kurz-, wohl aber längerfristig insofern Recht behalten, als es dem Staate im Laufe des Jahrhunderts dann doch wenigstens gelang, die industrielle Kinderarbeit zu verbieten. Sorgen um die Zukunft machte Pestalozzi sich ohnehin. Hinsichtlich der Erziehung sah er deshalb schwarz, weil „die höhere wissenschaftliche und Kunstausbildung einzelner Stände und einzelner Menschen etwas ganz verschiedenes von dem ist, was die gute Erziehung des Menschengeschlechts in allen Ständen anspricht und fordert" - einfacher formuliert: die Erziehung läuft wie schon früher Gefahr, zu einem Instrument einseitiger Eliteförderung und Klassenspaltung zu werden.® Die Langenthaler Rede des Achtzigjährigen, wo dies noch einmal festgehalten ist, war Pestalozzis letzte Stellungnahme zu den Fragekomplexen Politik und Gesellschaft. Was er sonst noch schrieb („Meine Lebensschicksale" und „Schwanengesang"), diente der persönlichen Rechtfertigung und dem Lebensrückblick. Als Pestalozzi am 17. Februar 1827 in Brugg (dem Wohnsitz seines Arztes) starb, gab es respektvolle, doch kaum überschwengliche Nachrufe. Nur ein Nekrologschreiber verglich ihn mit Luther und erkannte in ihm damit einen Reformator der Pädagogik. Erst mit der Zeit sollte sein Nachruhm wachsen.

Hl.

Anläßlich der zu seinem hundertsten Geburtstag abgehaltenen Säkularfeiern von 1846 nannte ein Festredner sein Lebenswerk „eine Weltpädagogik, anwendbar für alle Zeiten und für alle Völker". 10 Das war keine Übertreibung. Bereits im Todesjahr 1827 hatten Pestalozzis Erziehungsprinzipien Anhänger in ganz Europa und in Nordamerika gefunden, im folgenden Jahrhundert kamen große Teile der übrigen Welt hinzu. Es ist die Zeit, da in vielen Ländern der Untertan nach und nach zum Staatsbürger und ,Citoyen' wurde. Diese Eigenschaft erforderte ein bestimmtes Grundwissen und eine staatsbürgerliche Bewußtwerdung, welche die Begleiterscheinungen einer unausweichlichen Demokratisierung darstellten. Pestalozzi hat - darin (wie auch in seiner Analyse der Revolution) einem Tocqueville vergleichbar - diese Entwicklung kommen sehen und in der kurzen Zeit, da er politisch überhaupt mitreden konnte, auch aktiv gefördert. Gewiß lag sie im Zuge des Jahrhunderts und

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Langenthaler Rede: W 27, 163-214. Zit. nach STADLER, Pestalozzi (wie Anm. 1), Bd. 2, 415.

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ergab sich zwangsläufig aus der Modernisierung der Gesellschaft. Man kann sogar fragen, ob der Verlauf, der zur Alphabetisierung und zum Aufschwung des Volksschulwesens führte, ohne Pestalozzi eine wesentlich andere Richtung genommen hätte. Das mag offenbleiben angesichts der Tatsache, daß die Staaten und ihre Regierungen völlig ungeschulte Bevölkerungsmassen einfach nicht mehr gebrauchen konnten - diese Zeiten waren vorbei. Zudem läßt sich nicht verkennen, daß der große Erzieher - allem Lob der Mütter zum Trotz - die Mädchenbildung vernachlässigte oder dem Zufall überließ. Wie dem auch sei: Pestalozzi, dessen Name immer mehr den Charakter eines Symbols annahm, kommt sicherlich das Verdienst zu, ein entscheidendes Zeichen gesetzt zu haben. Er ist mit der Lehre von der „naturgemäßen Erziehung" und ihrer Umsetzung in die Praxis zu einer der großen Figuren auf dem Wege zum politisch bewußten Menschen geworden.

Heinz Gollwitzer Das griechische Königtum der Wittelsbacher im Rahmen der dynastischen Politik seiner Epoche Familieninteresse und Staatsräson in den osmanischen Nachfolgestaaten

„Europa im Umbruch" : den Faktoren des Umbruchs stehen in der Geschichte allenthalben die Konstanten gegenüber, und zu deren wichtigsten zählte in der Epoche 1750-1850 die Monarchie. Beim wissenschaftlichen Umgang mit Begriff und Realität der Monarchie im 19./20. Jahrhundert hat die Verfassungsgeschichte das Phänomen unter die staatlichen Institutionen eingereiht, während die Geschichte der inneren Politik wie diejenige der internationalen Beziehungen die Herrscherhäuser vorzugsweise der allgemeinen Staatengeschichte untergeordnet haben. Gegen dieses Verfahren wird hier an sich nichts eingewendet, doch ist nicht zu übersehen, daß die Dynastien als internationale Familiengemeinschaft mit spezifischen Interessen sowie unterschiedlichen Hausverfassungen und Traditionen in der Regel außer Betracht bleiben. Gerade aus diesem Blickwinkel soll im Folgenden das Königtum Ottos von Griechenland erörtert und mit den anderen unter dem Begriff der osmanischen Nachfolgestaaten zusammenzufassenden Monarchien verglichen werden. Im 19. Jahrhundert (und in letzten Ausläufern im 20.') darf man elementare Sachverhalte dynastischer Familienpolitik2 wie Konnubium, Vererbung, Thronfolge und 1 Zu dea im Laufe des Ersten Weltkriegs geplanten und gescheiterten Projekten von Dynastiegründungen im Bereich der Mittelmächte vgl. Karl-Heinz JANSSEN, Macht und Verblendung. Kriegszielpolitik der deutschen Bundesstaaten 1914/18. Göttingen 1963. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg übernahm das Haus Savoyen die Würden des äthiopischen Kaisertums und des albanischen Königtums. Ein Mitglied des Hauses, Prinz Aimone, Herzog von Spoleto, später Aosta, sollte 1941 als König Tomislav II. an die Spitze des kroatischen Staates treten. Zu seiner „Designation" 1941/43 vgl. Genealogisches Handbuch des Adels. Fürstliche Häuser. Bd. 12. Limburg a. d. Lahn 1984,68. Über die Ambitionen des Hauses Habsburg auf den ungarischen Thron sowie die konkurrierenden Bemühungen des habsburgischen Einzelgängers Erzherzog Albrecht unterrichtet u. a. Carlile A. MACARTNEY, October fifteenth. A History of Modern Hungary 1929/45. 2. Aufl. Edinburgh 1961. 2 Aufmerksamkeit verdient der Sonderfall der Einheirat verbunden mit der Stellung eines Prinzgemahls, durch die kleinere Häuser (Haus Coburg!) zu Erfolgsdynastien des 19. Jahrhunderts aufstei-

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(Neu-)Begründung regierender Häuser noch zu den erstrangigen Gegenständen der Innen- und Außenpolitik im europäischen Staatensystem rechnen. Wenn Napoleon I. durch seine und seiner Verwandtschaft Eheschließungen mit historischen Herrscherfamilien den Makel seiner Usurpation zu überspielen und sein Haus zu legitimieren suchte, wußte er, welche stabilisierende Potenz im dynastischen Legitimismus lag. Die tiefe Entfremdung, die in den letzten Regierungsjahren Louis Philippes zwischen Frankreich und England eingetreten ist, hat man auf den dynastischen Vorgang der „Spanischen Heiraten" zurückzuführen. Und in welchem Maße die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts mit Thronansprüchen und Thronkandidaturen, Thronrivalitäten und Thronverlusten zusammenhängt, bedarf wohl keiner Erläuterung. Das griechische Königtum der Wittelsbacher interessiert zunächst als dynastisches Experiment, das auf der Basis einer nationalrevolutionären Erhebung zustande kam, wie dies auf einer höheren Stufe geschichtlicher Bedeutung auch beim Königtum Louis Philippes in Frankreich, Leopolds I. in Belgien und Viktor Emanuels II. in Italien der Fall gewesen ist. In einem fortgeschrittenen Stadium der nationalen Emanzipation Griechenlands hatten die interessierten Großmächte das Werk der monarchischen Installation in die Hand genommen, freilich nicht ohne gänzlich auf die Billigung ihrer Beschlüsse durch die Bevölkerung zu verzichten. Nicht die einzige Gemeinschaftsaktion dieser Art! Man befand sich im Zeitalter der Restauration, und für die Großmächte verbanden sich mit der Institution der Monarchie ihre Leitvorstellungen von Konservativismus sowie internationaler Solidarität und Stabilität. Zehn Jahre nach der Ankunft König Ottos hat das griechische Volk die politische Entscheidungsfreiheit wieder voll für sich in Anspruch genommen und nach einem Militärputsch 1843 das Königtum auf den Boden der Verfassung von 1844 gestellt. Diesem Beispiel folgten später andere südosteuropäische Staaten. Wir wählen die osmanischen Nachfolgestaaten und ihre Dynastien deswegen als Bezugssystem für das Königtum Ottos, weil sie über die geographische Nachbarschaft hinaus durch die Lösung von türkischer Herrschaft in historische Schicksalsgemeinschaft geraten waren und durchweg an dem Vorgang der Begründung neuer Dynastien partizipierten. Der weltgeschichtlich folgenreiche Zerfall des Osmanischen Reiches verschaffte der von uns ins Auge gefaßten Staaten- und Dynastiengruppe ein

gen und so zu internationaler Bedeutung gelangen konnten. Zur Gesamtproblematik der Monarchie auch noch im 19. /20. Jahrhundert aufschlußreich Hermann WEBER, Die Bedeutung der Dynastien für die europäische Geschichte in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 44, 1981, 5-32 und die dort behandelte Kontroverse Webers mit Eduard Meyer und Johannes Kunisch.

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zusammenfassendes Szenar. Gemeinsames Handeln, das nur in seltenen Fällen stattfand, ließ sich daraus allerdings nicht ableiten.

Einheimische und ausländische Herrscher Bevor sich in Griechenland, Rumänien, Bulgarien und - allerdings nur ganz kurz - Albanien fremdstämmige Dynastien von unterschiedlicher Regierungsdauer etabliert hatten, waren unter osmanischer Oberhoheit in Montenegro die geistliche Herrschaft eines Vladika aus der Familie Njegosch-Petrovié, die ihre Würde 1858 säkularisierte, und zwei rivalisierende Geschlechter bäuerlichen Ursprungs in Serbien zu fürstlichem Rang aufgestiegen. Ihnen folgte noch im 20. Jahrhundert für ein gutes Jahrzehnt das Königtum des aus einer Stammeshäuptlingsfamilie hervorgegangenen Achmed Zogu in Albanien. Hinsichtlich Griechenlands3 ist vorwegzunehmen, daß die von mehreren Nationalversammlungen während des Befreiungskampfes beschlossenen Verfassungen z. T. republikanisch-repräsentativer Natur waren.4 Mit der 1830 gewährten Vollsouveränität und der Erhebung zum Königreich hat Griechenland einen erheblichen Vorsprung vor allen anderen osmanischen Nachfolgestaaten gewonnen. Wenn sich die politischen Wortführer des Landes mit der monarchischen Staatsform einverstanden erklärten, berücksichtigten sie, daß unter den herrschenden Zuständen keiner der einheimischen Rivalen, obschon es an politischen Talenten gewiß nicht gebrach (Capodistrias, Maurokordatos, Kolettis), in der Lage gewesen wäre, die inneren Verhältnisse so in den Griff zu bekommen, wie es den Erfordernissen des jungen Staatswesens entsprochen hätte. Da erwies es sich als Gebot der Vernunft, eine ausländische, über den Parteien stehende Persönlichkeit an die Staatsspitze zu stellen. Nach Lage der Dinge kam hierfür primär ein Prinz aus einer der alteuropäischen Fürstenfamilien in Betracht. Schließlich erhoffte man auf dem Umweg über 3 Zur Geschichte der wittelsbachischen Monarchie in Griechenland vgl. das vorzügliche Werk von Johann L. KLÜBER, Pragmatische Geschichte der nationalen und politischen Wiedergeburt Griechenlands bis zum Regierungsantritt des Königs Otto. Frankfurt am Main 183S. Aus der Forschung des 20. Jahrhunderts hervorzuheben: Leonard BOWER/Gordon BOLITHO, Otho I. King of Greece. London 1939; Wolf SEIDL, Bayern in Griechenland. München 196S; John A. PETROPOULOS, Politics and Statecraft in the Kingdom of Greece 1833-1843. Princeton 1968; Hans RALL, Griechenland zwischen Rufiland und dem übrigen Europa. Die „Große Idee" der Griechen 1847 und 1859, in: Saeculum 18, 1967, 164-180 und mehrere andere Aufsätze dieses Autors; Irmgard WILHARM, Die Anfänge des griechischen Nationalstaates 1833-1843. München/Wien 1973; Charles und Barbara JELAVICH, The Establishment of the Balkan National States 1804-1920. Seattle 1977. 4 Bevor es zur Errichtung der wittelsbachischen Sekundogenitur in Griechenland kam, erfolgte Ludwigs I. philhellenisches Engagement gänzlich unabhängig von der Frage der Staatsform eines befreiten Griechenlands. Vgl. Heinz GoLLwrrZER, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie. 2. Aufl. München 1987, 472.

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ein fremdstämmiges Staatsoberhaupt wohl auch Schutz und Hilfe von dessen Herkunftsland. Im Falle Griechenlands war dies keine Fehlspekulation der Einheimischen, mit deren Zufriedenheit oder Dankbarkeit nach allen geschichtlichen Erfahrungen freilich nicht zu rechnen war. Alles in allem kam der Monarchie in Griechenland wie in allen osmanischen Nachfolgestaaten ein anderer Stellenwert zu als in Alteuropa.3 Vor der Einsetzung Ottos erlebte Griechenland noch eine zwischen Monarchie und Republik einzuordnende Variante der Staatlichkeit, das der Diktatur nahekommende System des Statthalters (Kybernetes) Graf Johann A. Capodistrias.6 Nach der Ermordung des fähigen Staatsmannes erwies sich die Einrichtung einer Monarchie um so dringender. In dem 1862 definitiv aus Walachei und Moldau entstandenen Rumänien hatten die Verhältnisse schon vor dem Niedergang des einheimischen Fürstentums Alexander J. Cuzas die Blicke der Patrioten auf auswärtige Thronkandidaten gelenkt. Führende Politiker des Landes betonten, daß man sich nur von dem Mitglied eines souveränen europäischen Hauses die unerläßliche Überparteilichkeit erhoffen könne, die ein „einheimischer Regent unmöglich zu leisten imstande" sei.7 Man hoffte, daß ein ausländischer Fürst „dank seiner Blutsverwandtschaft in der Lage ist, Rumänien leichter in den großen Familienkreis der europäischen Staaten einzuführen und dem Lande dadurch mehr Halt und Stütze zu geben, damit er sowohl nach innen wie nach außen jene Achtung, jenes Gewicht, jenes Ansehen seiner Persönlichkeit in die Waagschale werfen kann, wie es für einen Souverän und erst recht für den Begründer einer Dynastie unumgänglich ist". 1866 stürzte Cuza, und der Sigmaringer Hohenzoller Karl gelangte auf den Thron des jungen Staates. In Bulgarien fand sich, als es seit dem Berliner Kongreß 1878 um die Errichtung einer Monarchie ging, kein einheimischer Kandidat, der als Thronanwärter auch nur entfernt in Frage gekommen wäre. Die Schwierigkeiten, denen der erste der beiden alteuropäischen Dynastien entstammenden Fürsten des Landes (Alexander Battenberg) unterlag und für deren Beseitigung der zweite (Ferdinand Coburg-Kohary) einen in seinen Augen hohen Preis zu entrichten hatte, waren in der hohen Politik, aber auch in dynastischen Spannungen mit dem übermächtigen Zarenhof in St. Petersburg begründet. Darauf ist später noch einzugehen.

5 6

W i l h a r m , Anfänge (wie Anm. 3), 57.

Vgl. William P. Kaldis, John Capodistrias and the Modern Greek State. Madison 1963 und Christopher M. Woodhouse, Capodistrias. London 1973. 7 Paul LINDENBERG. König Karl von Rumänien. Hin Lebensbild dargestellt unter der Mitarbeit des Königs. 2 Bde. Berlin 1923, hier Bd. 2, 88 ff.; auch für das Folgende.

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Die Einsetzung von Dynastien im 19. (und 20.) Jahrhundert war in ganz Europa mit einem Novum verbunden, das sich in Staaten und Herrscherhäusern aus vorkonstitutioneller Zeit erübrigte. Bei diesem Akt hatten - faktisch oder nur formal - die jeweils beteiligten Nationalversammlungen mitzusprechen. Dies galt auch für die beiden Gruppen von Dynastien in den osmanischen Nachfolgestaaten.8 Der Siegeszug des Konstitutionalismus und der Demokratisierung des Königtums ließ sich nirgends aufhalten. Mit bemerkenswerter Nüchternheit, ja mit Gutheißung des Modernisierungsphänomens hat der Vater Karls I. von Rumänien, Fürst Karl Anton, zu der Diskussion um eine Krönung seines Sohnes in einem Memoire Stellung genommen: „Man würde es bedauern, wenn das rumänische Königtum, ein rein demokratisches und aus der Einstimmigkeit des Nationalwillens hervorgegangenes, auf veraltete Traditionen und Usancen zurückgreifen wollte, welche ihre Berechtigung einzig und allein auf das Legitimitäts- und Erbprinzip gründen können". Es gehe in Rumänien allein um das Gebot der staatlichen Selbsterhaltung und das Rechtsfundament des rumänischen Königtums liege ausschließlich im Volk.9 Karl I. teilte diese Auffassung. So sehr nun in dieser Hinsicht ausländische und heimische Fürsten der gleichen Kategorie zuzurechnen waren, so blieb doch unter dem Gesichtspunkt internationalen Prestiges und der Einschätzung durch die Familiengemeinschaft der europäischen Dynastien noch lange Zeit eine Diskrepanz zwischen den beiden Gruppen aufrecht erhalten. Die bäuerliche Herkunft des Hauses Obrenoviö veranlaßte den Hohenzoller Karl I. zu der Bemerkung, es sei „nicht den Lenden Jupiters entsprossen"10. Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts erschien ein Konnubium zwischen den serbischen Häusern oder der Dynastie Petrovié und alteuropäischen Familien ausgeschlossen. Man empfand die Verhältnisse in Belgrad oder Cetinje noch als halborientalisch. Bis zum Ersten Weltkrieg fehlte es nicht an Witzen über die dortigen „balkanischen" Zustände. Gegen das Belgrader Hofleben ließ sich tatsächlich manches einwenden, und wenn 1903 in Serbien ein definitiver Dynastiewechsel durch Königsmord bewerkstelligt wurde, mußte über solches Geschehen erst einmal Gras wachsen." Seit den 70er Jahren bahnte sich gleichwohl unter Vorantritt des

8 Zur Diskrepanz zwischen westlichem Konstitutionalismus und Regierungsrealität in Südosteuropa vgl. Georg STADTMÜLLER, Westliche Verfassungsmodelle und politische Wirklichkeit in den balkanischen Staaten, in: Saeculum 9, 1958, 405-429. 9 ANON., AUS dem Leben Karls von Rumänien. Bd. 4. Stuttgart 1900, 395 f. 10

Karl GLADT, Kaisertraum und Königskrone. Graz 1972, 143. Immerhin hat auch in Rußland der Herrscherwechsel durch Mord bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts angedauert. Gemeint sind in diesem Zusammenhang Morde im Rahmen von Palastrevolutionen, nicht die späteren Morde durch Anarchisten und im 20. Jahrhundert durch Kommunisten. An den Höfen der fremdstämmigen Fürsten Südosteuropas hörten die Palastrevolutionen umgehend auf. 11

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Hauses Romanow ein Umschwung in der Ehepolitik der alteuropäischen Dynastien zugunsten der beiden serbischen und vor allem der montenegrinischen Fürstenfamilie an. Noch vor der Erhebung Fürst Nikolaus' von Montenegro zum König gelang die Verschwägerung mehrerer seiner Kinder mit angesehenen alten Familien in erstaunlichem Umfang. 12 Für die ausländischen Herrscher osmanischer Nachfolgestaaten bestanden von vorneherein keine Vorbehalte bei der Vermählung mit Töchtern alter Häuser. Den fremdstämmigen Fürsten hat man die zivilisatorische Mission eines Brückenschlages zwischen Okzident und Orient zugeschrieben. Voraussetzung zur Erfüllung einer solchen Sendung war allerdings die vollständige Identifikation mit den Interessen des neuen Staates, und daran hat es auch keiner der ausländischen Monarchen fehlen lassen. Unerläßlich war überdies die Integration der Dynastie in die neue Nationalität, angefangen von der Beherrschung der Landessprache bis zur Anpassung an die in den neuen Ländern dominierende Konfession, ein Prozeß, der nicht nur bei Otto von Griechenland Schwierigkeiten verursachte. Als symbolische Handlungen machten Eindruck das Tragen der Landestracht oder die Taufe des Nachwuchses auf Vornamen, die in der bisherigen Hausgeschichte kaum eine Rolle spielten, um so mehr jedoch in der Tradition der neuen Länder. Insgesamt besteht kein Zweifel, daß die fremden Herrscher die Konsolidierung der inneren Verhältnisse förderten und durch Einbeziehung ihrer Höfe in den Familienverband der alteuropäischen Dynastien das moralische und politische Gewicht der neuen Staaten aufwerteten.

Dynastische Kandidatensuche Im Falle Griechenlands hatten sich die regierenden Familien der „Schutzmächte" selbst von Thronkandidaturen ihrer Mitglieder ausgeschlossen. Generell leitende Gesichtspunkte bei der Auswahl der Kandidaten lassen sich kaum erkennen. Viel zählte die Verwandtschaft mit den führenden Höfen und das Ansehen, das die Bewerber dort genossen. Eine bereits errungene höfisch-politische Stellung (Leopold von Coburg war Schwiegersohn Georgs IV. von England!) führte ihren Inhaber

12 Vgl. Franz Genthe, Montenegro. Ein Beitrag zur Geschichte seines Fürstenhauses. Berlin 1912. Die Ehepolitik des Hauses Obrenovié führte zu Verbindungen mit Frauen ungarischer und rumänischer Herkunft und sah sich in Heiratskombinationen der polnischen Emigration des 19. Jahrhunderts einbezogen (vgl. Antoni Cetnarowicz, Fürst Miloä Obrenovié in den ersten Konzeptionen der Balkanpolitik des Hôtel Lambert, in: Österreichische Osthefte 31, 1989, 69-77). Zar Alexander II. scheint nicht abgeneigt gewesen zu sein, eine seiner Töchter mit Fürst (später König) Milan von Serbien zu verheiraten. Bei der nichtrussischen Eheschließung des Fürsten stellte er sich als Trauzeuge und Pate zur Verfügung, trat also in kirchliche Verwandtschaft mit dem Hause Obrenovii.

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leicht in die Reihe der Favoriten. Neben im Leben Bewährten findet man Heranwachsende; lange vor dem Wittelsbacher Otto tauchte im Gespräch ein Sohn Louis Philippes auf, der, als man über ihn diskutierte, zwölfjährige Herzog von Nemours. Für eine solche Wahl sprach, den Betreffenden in seiner neuen Heimat erziehen zu können. Andererseits bedeutete es ein erhebliches Risiko, ein Kind oder einen Halbwüchsigen zu benennen. Offenbar war man geneigt, schon der erlauchten Geburt und der höfischen Erziehung eine risikomindernde Wirkung zuzugestehen. Von den bei ihrer Nominierung Mündigen haben die schließlich erfolgreichen ausnahmslos kräftige Eigeninitiativen entfaltet. Klüber hat in seiner „Pragmatischen Geschichte" die meisten - nicht alle - der in stattlicher Anzahl angetretenen Bewerber um den griechischen Thron aufgeführt." Das Rennen machte - wie es schien - der hochqualifizierte Coburger Leopold, später erster König Belgiens, dem die Mächte 1830 den Thron eines griechischen Fürstentums antrugen, auf den er seit langem hingearbeitet hatte. Er nahm an, doch gründlicherer Einblick in die griechische und die europäische Situation veranlaßten ihn nach kurzer Zeit zum Verzicht.14 Nun drehte sich das Kandidatenkarussell von neuem. Eine bayerische Kandidatur hatten schon vor Jahren Karl X. von Frankreich und seine Berater angesteuert. Es ist zu vermuten, daß man im regierenden Hause Bourbon eine Kandidatur aus der Nebenlinie Orléans nicht gerne sah. Außerdem dürfte die katholische Konfession der Wittelsbacher für Karl X. ins Gewicht gefallen sein. Als Mittelsmann diente dem Bourbonenhof ein bei dem verdienten Philhellenen Ludwig I. gern gesehener Pfalzer Landsmann, Herzog Emmerich Joseph Dalberg15, erfahren in höfisch-dynastischen Transaktionen; er hatte die Ehe Napoleons I. mit der Erzherzogin Marie Luise vermittelt. Nach der französischen Revolution 1830 zog auch Louis Philippe - Talleyrand zögerte anfangs sehr - die bayerische Karte. Man hatte zunächst an Ludwigs I. Bruder, Prinz Karl, gedacht, der jedoch der Aufgabe nichts Verlockendes abzugewinnen vermochte. Damit lag die Entscheidung vollends bei dem Familienchef, der seinen noch unmündigen Zweitältesten für Griechenland bestimmte. Gewiß mehr aus Verlegenheit und Unschlüssigkeit als aus Eingenommenheit für den jugendlichen Kandidaten, den niemand kannte, gaben die Herrscherhäuser und ihre Staatsmänner ihre Einwilligung.

13

KLÜBER, Pragmatische Geschichte (wie Anm. 3), 305-309 und 479 f. Ernst Freiherr v. STOCKMAR, Denkwürdigkeiten aus den Papieren Freiherrn Christian Friedrich v. Stockmars. Braunschweig 1872, 22 und 116-135; Camille BUFFON, La jeunesse de Leopold I", roi des Beiges. Brüssel 1914; Egon C. Conte CORTI, Leopold von Belgien. München 1922, 40-43. 15 Bayerische Staatsbibliothek München [BSB], Ludwig I.-Archiv. Tagebücher 3, 75 (16. 2. 1828). 14

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Die Wahl eines fremden Staatsoberhaupts durch die Rumänen fiel, nachdem zwei hessische Kandidaten ausgefallen waren, anfänglich auf den Grafen Philipp von Flandern, Bruder des Coburgers Leopold. Anscheinend vereitelte die Mißbilligung Napoleons III. das Zustandekommen dieser Lösung. Andererseits stand der französische Kaiser hinter der Kandidatur des Prinzen Karl von Hohenzollern, Sohn einer deutsch-französischen Familie, deren Chef 1849 als einziger deutscher Fürst seine Souveränität aufgegeben hatte und sich dem preußischen Königshaus inkorporieren ließ. Bismarck hatte am Vorabend seines Krieges mit Österreich Anlaß, Napoleon III. gefallig zu sein. Im preußischen Königshaus war die Stimmung geteilt. König Wilhelm mißfiel, daß ein christlicher Fürst aus deutschem Haus sich unter die Souveränität des Sultans begebe, verweigerte jedoch seine Zustimmung nicht. Rußland hatte sich im Februar 1878 an Fürst Karl von Rumänien gewandt, um vorzufühlen, ob er in Personalunion auch Bulgarien regieren wolle. Damals hat dieser abgewinkt, später scheint er seine Meinung geändert zu haben. Schließlich hat der russische Hof - der Gedanke wird auf den späteren russischen Außenminister Giers zurückgeführt - den Neffen der Zarin, Prinz Alexander Battenberg, „empfohlen".16 Nach der unheilbaren Verfeindung des inzwischen zum Fürsten Bulgariens aufgestiegenen Battenbergers mit Zar Alexander III. bot man aus St. Petersburg eine Anzahl von Kandidaten an, die allerdings in dem selbstbewußter gewordenen Balkanstaat nicht auf Gegenliebe stießen.17 1887 gelangte auf nahezu abenteuerliche Weise der Außenseiter Prinz Ferdinand von Coburg-Kohary auf den bulgarischen Thron. Der ungarische Magnat Graf Eugen Zichy, Freund König Milans von Serbien und als einflußreicher ungarischer Politiker an einer für Österreich-Ungarn günstigen Lösung der bulgarischen Krise interessiert, hat - offenbar unter entsprechendem Einsatz von Geldmitteln - die bulgarischen mit der Kandidatensuche befaßten Regenten auf den Coburger aufmerksam gemacht. " Zunächst fand Ferdinand nur in geringfügigen Ausnahmefällen Unterstützung aus der Verwandtschaft souveräner Häuser. Fast ein Jahrzehnt dauerte es, bis ihn die Groß-

16 Vgl. Egon C. Conte CORTI, Alexander von Battenberg. Sein Kampf mit dem Zaren und Bismarck. Wien 1920. 17 Soweit der Zarenhof dynastische Bewerber um Bulgarien aus dem russischen Bereich ins Spiel brachte, konnte er außer Großfürsten und Angehörigen des heimischen Hochadels (dem Hof inkorporierte) Mitglieder der ursprünglich deutschen, bzw. französisch-deutschen Häuser Oldenburg und Leuchtenberg sowie Nachkommen georgisch-armenischer, ehemals regierender Familien (Prinz Nikolaus Dadian von Mingrelien) präsentieren. Wenn Nikolaus I. im Fall der russischen Oldenburger nicht auf Konversion zur Orthodoxie bestand, so wahrscheinlich deswegen, weil die mögliche Sukzession dieser Linie in Oldenburg an die evangelische Konfession gebunden war. Vgl. Richard TANTZEN, Das Schicksal des Hauses Oldenburg in Rufiland, in: Ol den burger Jahrbuch 58, 1959, 113-195 und Oldenburger Jahrbuch 59, 1960, 1-53. 111 CORTI, Battenberg (wie Anm. 16), 285 und Joachim v. KÖNIGSLOEW, Ferdinand von Bulgarien. München 1970, 28-39.

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mächte anerkannten - Resultat einer veränderten europäischen Konstellation, aber auch seiner Zähigkeit und Wendigkeit. Der Vorschlag, den Fürstenthron Albaniens mit dem preußischen Gardehauptmann Prinz Wilhelm zu Wied zu besetzen, ging von König Karol von Rumänien aus. Wied war ein Neffe der rumänischen Königin Carmen Sylva. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. zeigte sich von dieser Lösung keineswegs begeistert. Die Großmächte schätzten an der Kandidatur, daß das Deutsche Reich in und an Albanien am wenigsten engagiert war. Daß Wied als Protestant keiner der in Albanien vertretenen und rivalisierenden Konfessionen angehörte, hat man als weiteren Pluspunkt geschätzt.

Konnubium

In der familienhaften Ordnung der Erbmonarchien kam kein anderes von Menschenhand zu regelndes Hausereignis dem Konnubium an Wichtigkeit gleich. Welche Opfer die Hausgesetze oder Familienstatuten den Angehörigen regierender Häuser aufzuerlegen vermochten, ist bekannt. Der Wunsch der Häupter mächtiger Häuser hat diejenigen mindermächtiger Familien, darunter auch des Hauses Bayern, überdies wiederholt genötigt, sich im Sinne jener zu entscheiden, wenn es um die Verheiratung ihrer Kinder ging. Als nach dem Sturz Napoleons I. wieder Normalität in die europäischen Höfe zurückkehrte, waren es in der Regel die weiblichen Mitglieder der Häuser, allen voran die Mütter, die beim Anstehen von Vermählungen eine ganz außerordentliche, der Öffentlichkeit meist verborgen bleibende Betriebsamkeit entfalteten. Nicht nur Ebenbürtigkeits- und Konfessionsfragen wollten bei diesen familienpolitischen Haupt- und Staatsaktionen berücksichtigt werden, sondern auch europäisches Prestige und außenpolitische Interessen der bei Familienverbindungen in Betracht kommenden Staaten. Ludwig I. hielt zur Festigung der schwierigen, extrem skrupelhaften und entscheidungsschwachen, schwerblütigen Persönlichkeit Ottos eine baldige Verehelichung für geboten.19 Noch vor Ottos Volljährigkeit hat man in München von dem Regentschaftspräsidenten Graf Armansperg feindlicher Seite das Gerücht verbreitet, dieser bzw. seine präpotente Gattin gingen darauf aus, König Otto und seinen Onkel, Prinz Eduard von SachsenAltenburg, den man mit einem militärischen Kommando in Griechenland beschäftigte, mit zweien ihrer Töchter zu verheiraten. Armansperg hat diesen Unterstellungen

19 Andreas KKAUS (Hrsg.), Sígnate König Ludwigs I. Ausgew. und eingel. v. Max Spindler. Bd. 3. (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 3.) München 1991, 46 (Nr. ISS).

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entschieden und glaubhaft widersprochen20. Die Regentschaftsmajorität, jedenfalls Staatsrat Maurer und der einflußreiche Substitut Abel, befürworteten offensichtlich eine Verbindung Ottos mit einer Tochter Louis Philippes, rechneten aber nicht mit dem Widerwillen Ludwigs I. gegen jede französische Ehe in seinem Hause21. Als man 1835/36 im Schoß der Familie daran ging, Otto eine Frau auszusuchen, dachte man bemerkenswerter Weise nur an eine protestantische Prinzessin. Der Grund für diese den vorwiegenden familienpolitischen Tendenzen Ludwigs I. zuwiderlaufende Orientierung22 lag darin, daß man von einer protestantischen Prinzessin keine Einwände gegen die zuzusagende orthodoxe Taufe des erhofften Nachwuchses befürchtete. Von den zunächst ins Auge gefaßten Häusern Württemberg und Nassau erhielt man Körbe. Als dann Otto selbst auf Brautschau ging, hat ihn - nicht von ungefähr - seine Mutter begleitet. Die schließlich zur Verehelichung führende Begegnung fand in Franzensbad statt. Daß in den berühmten Bädern mehrere Prinzessinnen „zur Kur" weilten, verschaffte Bewerbern die Möglichkeit, den jungen Damen „die Cour zu machen" und unverbindlich erste Annäherung auf neutralem Terrain zu suchen. Im Hinblick auf die Rolle Rußlands als griechische „Schutzmach t" war die Verwandtschaft des Hauses Oldenburg, dem die Erwählte, Prinzessin Amalie, entstammte, mit der Zarenfamilie vermutlich nicht ohne Belang. Unter den Eigenschaften der Braut Ottos hat man ihren Stolz auf diese Verbindung hervorgehoben, und Ludwig I. registrierte mit Genugtuung, daß Zar Nikolaus I. sich über Ottos Wahl erfreut gezeigt habe23. Die Ehe Ottos, die kinderlos blieb, hat dem Wittelsbacher ohne Zweifel den menschlichen Rückhalt verschafft, dessen er bedurfte; ob die Beteiligung Amalies an den Staatsgeschäften dem König und dem Lande vorteilhaft gewesen ist, bleibe dahingestellt. Der Hohenzoller Karl heiratete als Fürst von Rumänien eine Tochter aus standesherrlichem Hause, einer Kategorie, die, regierenden Fürsten Untertan, gegenüber den souveränen Familien an Bedeutung erheblich zurücktrat.24 Die Ehe galt daher

20 Vgl. Heinz GOLLWITZER, Ein Staatsmann des Vormärz. Karl von Abel 1788-1859. Beamtenaristokratie - monarchisches Prinzip - politischer Katholizismus. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. SO.) Göttingen 1993, 143. 21

KRAUS, Sígnate (wie A n m . 19), Bd. 3 , 6 6 , 6 8 f . , 74 f. (Nr. 240, 263, 299). Vgl. GOLLWTTZER,

Ludwig I. (wie Anm. 4), 322 f. 22 Spätestens in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit wünschte Ludwig I. nur mehr katholische Ehen in seinem Hause. Auch für seinen Thronfolger hätte er eine Habsburgerin vorgezogen, doch wollte er seinem Ältesten - contre coeur - freie Hand lassen, um nicht später Vorwürfe einstecken zu mCssen. Nach der Vermählung des Kronprinzen fanden zu Ludwigs Regierungszeit nur mehr Eheschließungen seiner Kinder mit Angehörigen des Hauses Habsburg oder der nichtfranzösischen Bourbonenhöfe statt. 23

24

KRAUS, Sígnate (wie A n m . 19), Bd. 3, 122 ( N r . 398).

Vgl. Heinz GOLLWITZER, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1964.

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als „unpolitisch". In der Welt der Höfe und der Diplomatie hat man Karl diese „unpolitische", d.h. keine Interessen von Großmächten begünstigende oder verletzende Verbindung, jedoch als Beweis seiner politischen Klugheit und Überlegenheit angerechnet.25 Die Absicht des Fürsten Alexander Battenberg von Bulgarien, sich mit der Tochter Victoria des deutschen Kronprinzen Friedrich Wilhelm zu vermählen, hat nicht nur die unmittelbar beteiligten Personen und Familien in große Schwierigkeiten gestürzt, sondern auch den Leiter der deutschen Politik, Fürst Bismarck, auf das äußerste gereizt und bis zur Rücktrittsdrohung getrieben. Dieser wußte, mit welchem Haß Zar Alexander III. den Battenberger verfolgte. Weil er es unbedingt vermeiden wollte, den Zarenhof und damit Rußland unnötig gegen das Deutsche Reich aufzubringen, war er entschlossen, die vorgesehene Ehe mit allen Mitteln zu hintertreiben.26 Da nicht nur die Prinzessin Victoria ihr Lebensglück in dieser Verbindung suchte, sondern auch ihre Mutter das Vorhaben mit großer Energie betrieb und überdies Königin Victoria, Großmutter der Prinzessin, die Eheschließung mit dem ihr sympathischen und verwandten Battenberger gerne gesehen hätte - der deutsche Kronprinz verhielt sich, obschon dem Projekt nicht abgeneigt, zurückhaltender mochte es so aussehen, als ob in diesem Fall dynastische Interessen und der politische Kurs eines mächtigen Staatswesens aneinandergerieten. Ob bei einem Zustandekommen der Verbindung in Berlin ein Überhandnehmen des britischen Einflusses zu gewärtigen gewesen wäre? Faktisch spielte sich nur ein privates Drama ab, bei dem die dynastische Seite sich der Staatsräson zu beugen hatte. Fürst Ferdinand von Bulgarien heiratete nach seiner Thronbesteigung eine Tochter aus dem Hause Bourbon-Parma, also einer depossedierten Familie. Zu den konfessionellen Schwierigkeiten, die sich im Schöße seiner Familie ergaben, ist das folgende Kapitel zu vergleichen. Die Ehe, die Ferdinand nach dem Tod seiner ersten Frau mit einer Prinzessin aus deutsch-kleinfürstlichem, lutherischen Hause (ReußKöstritz) schloß, war im Kreis der Zarenfamilie Nikolaus' II. gestiftet worden.27

25 LINDENBERG, König Karl (wie Anm. 7), Bd. 1, 221 und 225 ff. Karls Neffe und Nachfolger Ferdinand I. war, als er den Thron Rumäniens bestieg, mit einer Prinzessin aus dem britischen Königshaus verheiratet. 26 Wie Anm. 16. 27 Stephane GROUEFF, Crown of Thorns. Lanham 1987, 18.

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Konfessionelle Probleme Wie die große Mehrheit der Bevölkerung haben die souveränen Häuser vorwiegend innerhalb der eigenen Konfession geheiratet. Ging man Mischehen ein, erfolgten Taufe und Kindererziehung bei den Regierenden durchweg im Bekenntnis des männlichen Teils. Wenn ein deutscher Prinz (Leuchtenberg) in das russische Kaiserhaus heiratete und sich am Sitz des Zarenhofes niederließ, bestand Nikolaus I. allerdings auf der Eingliederung der Kinder in die orthodoxe Konfession; nicht so, wenn sich eine seiner Töchter nach Deutschland verehelichte. Bei der Heirat katholischer Prinzessinnen mit einem protestantischen Thronfolger hat man sich bis tief in das 19. Jahrhundert hinein seitens der katholischen Familienhäupter mehrfach sehr liberal verhalten und sich bemüht, kirchliche Hindernisse durch Verhandlungen mit Rom zwar nicht zu beseitigen - dies erwies sich als unmöglich - , jedoch ihre Umgehung zu erleichtern.2" Innerhalb des ehemaligen Osmanischen Reiches hatte die Konfession als politischer Integrationsfaktor ein stärkeres Gewicht als die Nationalität. Die Unterwerfung durch die Türken hatte sich nicht gegen Fremdstämmige, sondern gegen Nichtangehörige des Islam geltend gemacht. Umgekehrt erwies sich bei den Befreiungskämpfen des 19. Jahrhunderts der Konfessionsnationalismus als ausschlaggebend. Die orthodoxen Nachfolgestaaten sahen es schon in diesem Zusammenhang als unerläßlich an, von einem Herrscher ihrer Konfession regiert zu werden. Wenn man so will, ein demokratisches Phänomen und gewiß nicht das einzige in dieser europäischen Region! Die orthodoxe Bevölkerung Griechenlands wünschte sich selbstverständlich einen Monarchen ihres Glaubens. Sie sah sich in dieser Hinsicht durch Zar Nikolaus I. unterstützt, dem ein konfessionsverwandtes Königshaus in Athen den dortigen Einfluß Rußlands zu gewährleisten schien.29 Der Zar wünschte anfänglich den persönlichen Übertritt Ottos zur Orthodoxie und glaubte, seitens bayerischer Diplomaten während der Verhandlungen von 1832 einschlägige Zusicherungen erhalten zu haben. Schließlich begnügte man sich in St. Petersburg mit der Forderung nach orthodoxer Taufe und Erziehung des zu erwartenden Nachwuchses. Dies hatte man im Ehevertrag Ottos 1836 ausdrücklich in Aussicht gestellt.30 Nicht nur

28 Vgl. Bernhard ZRRTEL, Die staatskirchen- und kirchenrechtliche Behandlung der gemischten Ehen im bayerischen Herrscherhause 1804-1842, in: Bayern, Staat und Kirche, Land und Reich. Forschungen zur bayerischen Geschichte vornehmlich im 19. Jahrhundert. Wilhelm Winkler zum Gedächtnis. München 1961, 110-180, hier 161 ff. und Hans RALL, Die Anfänge des konfessionspolitischen Ringens um den Wittelsbachischen Thron in Athen, in: ebd., 181-215. 29 Hans RALL, Otto von Griechenland, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 44, 1981,

367-380. 30

ZriTEL, Gemischte Ehen (wie Anm. 28), 180.

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der kirchliche Bindungen überaus ernst nehmende Katholik Otto sträubte sich gegen eine persönliche Konversion. Daß sein Vater, der wiederholt erklärte, er könne in einer Gewissensfrage Otto nicht vorgreifen, einen Übertritt nicht wünschte, steht außer Frage. Anläßlich der bei der Eheschließung Ottos bekräftigten Zusagen hat er sogar intern erklärt, daß diese nicht seinem Wunsch entsprochen hätten.31 Der Bayernkönig war eine in solchen Fragen geradezu ängstliche Persönlichkeit, und seine Auffassungen wurden während der 30er und 40er Jahre noch strenger. So blieb die Frage der definitiven Festlegung der griechischen Dynastie auf das orthodoxe Bekenntnis innen- und außenpolitisch auf der Tagesordnung. Die von Otto gewünschte Salbung nach seiner Volljährigkeitserklärung durch einen hohen griechischen Geistlichen unterblieb, da der Heilige Synod sich weigerte, diese kirchliche Handlung einem Nichtorthodoxen angedeihen zu lassen. Die 1844 von Otto beschworene Verfassung sah die Zugehörigkeit der Dynastie zur Orthodoxie ausdrücklich vor. Nachdem man die Kinderlosigkeit des Königspaares als feststehend hinnehmen mußte, stellte sich die Konfessionsfrage für die als Nachfolger in Betracht kommenden bayerischen Nachgeborenen der regierenden Familie bzw. die Angehörigen auch der herzoglichen Linie („in Bayern") sowie für ihre Frauen und Kinder neuerdings. Sie war noch nicht ausdiskutiert, als durch die Vertreibung Ottos und die Thronfolge des Hauses Holstein-Sonderburg die in Griechenland erwünschte Lösung zustande kam. Dem liberalen Katholiken Karl von Rumänien und seiner lutherischen Frau machte es offensichtlich keinerlei Schwierigkeiten, ihre einzige (früh verstorbene) Tochter nach orthodoxem Ritus taufen zu lassen und sich selber diesem anzupassen, desgleichen für Karls Neffen und Nachfolger Ferdinand I. und seine anglikanische Frau, als es um die Taufe ihrer Kinder ging. Nach Äußerungen Alexander Battenbergs, dem Bismarck riet, eine orthodoxe Millionärin zu heiraten, hätte der Fürst wohl ebenso wenig gegen den Konfessionswechsel einer von ihm zu begründenden Dynastie einzuwenden gehabt. Schwieriger ließen sich die Dinge bei dem Katholiken Ferdinand von Coburg an, der die Tochter einer der strengst katholischen souveränen Familien, Schwester der späteren Kaiserin Zita, geheiratet und bei der Eheschließung katholische Kindererziehung versprochen hatte. Kronprinz Boris wurde zwar zunächst katholisch getauft, aber der Druck Rußlands und der bulgarischen Öffentlichkeit veranlaßte Ferdinand, den Knaben 1896 der Orthodoxie zuzuführen.32 Nur um diesen Preis war die Aussöhnung Ferdinands mit dem Zarenhof und die diplomatische Anerkennung des Fürsten zu erreichen. Die (später wieder aufgehobe-

31

KRAUS, Signale (wie A n m . 19), Bd. 3, 157 ( N r . 508).

32

KÖNIGSLOEW, Ferdinand von Bulgarien (wie Anm. 18), 184-189.

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ne) Exkommunikation durch den Papst, den gestörten Familienfrieden sowie eine erhebliche Verstimmung Kaiser Franz Josephs mußte Ferdinand in Kauf nehmen. Boris' Geschwister wurden katholisch getauft und erzogen. Ein lehrreiches Kapitel aus dem unermeßlichen Gebiet der Beziehungen zwischen Religion und Politik! Probleme warf in dieser Hinsicht noch einmal 1938/39 im dynastischen Umfeld die Ehe des islamischen Königs Achmed Zogu von Albanien mit der katholischen Gräfin Geraldine Apponyi auf. 33

Dynastische Rivalitäten und Ambitionen Otto von Griechenland durfte sich - für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts eines Maximums an dynastischem Rückhalt erfreuen. Nur zu dem Zweck der Erhaltung der wittelsbachischen Sekundogenitur hat Ludwig I. den bayerischen Staatsapparat für Griechenland in Bewegung gesetzt.34 Von den Auswirkungen dynastischer Rivalitäten, die bei der Errichtung neuer Throne in den osmanischen Nachfolgestaaten durchaus nicht fehlten, blieb allerdings auch Ottos Königtum nicht verschont. Zurückzuweisen freilich sind vorweg Kombinationen, die das mit der Familie Armansperg doppelt verschwägerte Haus Cantacuzene betreffen, im Spätmittelalter ein byzantinisches Kaiserhaus, im 19. Jahrhundert jedoch nur mehr eine Fanariotenfamilie unter mehreren anderen35. Auf den französischen Gesandten in Athen, Piscatory, scheint das 1847 ausgestreute Gerücht zurückzugehen, Louis Napoléon, der spätere Napoleon III., wolle in Griechenland landen und mit Hilfe eines Volksaufstandes den Thron besteigen. Ludwig I., den man unschwer in Aufregung versetzen konnte, erließ daraufhin, falls dieser bayerisches Gebiet berühren sollte, einen Haftbefehl gegen den vermeintlichen Thronprätendenten.36

33 Michael SCHMIDT-NEKE, Entstehung und Ausbau der Königsdiktatur in Albanien (1912-1939). München 1987, 268. 34 Daß man dies in Bayern nicht völlig widerspruchslos hinnahm, beweist die Schrift des Pfälzer Oppositionellen Georg Friedrich KOLB, Über die Sendung baierischer Truppen nach Griechenland. Speyer 1832. 35 Im AnschluB an Petropoulos vermutet RALL, Otto von Griechenland (wie Anm. 29), 369 f., die Verbindung der Familien Armansperg und Cantacuzene sei mit Spekulationen auf ein Wiedererstehen der byzantinischen Kaiserwürde, realisiert durch das Geschlecht Cantacuzene, verbunden gewesen und daher als Illoyalität gegenüber dem Hause Wittelsbach anzusehen. Ebd. erscheint bei Rail das unwahrscheinliche Gerücht über die seitens Armanspergs angestrebte Verbindung einer seiner Töchter mit König Otto als erwiesene Tatsache. 36 BOWER/BOLITHO, Otho I. (wie Anm. 3), 147. Zu Ludwigs Reaktion auf dieses Gerücht vgl. GOLLWTTZER, Ludwig I. (wie Anm. 4), 491. BOWER/BOUTHO, Otho I. (wie Anm. 3), 207, berichten über eine gegen das Königtum Ottos gerichtete dynastische Intrige, die von Palmerston und Napoleon III. ausgeheckt wurde und in deren Mittelpunkt der Prinz von Carignan (Haus Savoyen) und die Herzogin von Parma standen.

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Dynastische Schwierigkeiten, verbunden mit hausinternen Spannungen setzten im Falle Ottos erst ein, als die Kinderlosigkeit des Königspaares zur Gewißheit wurde. Zusätzliche Belastung ergab sich durch die Nachricht, Königin Amalie arbeite daran, über den Kopf der Wittelsbacher hinweg, die griechische Thronfolge ihrem Bruder und damit der Dynastie ihrer Herkunft zu übertragen.37 Amalie hat ein solches Vorhaben bestritten. Daß man später in München und Bamberg, dem Sitz des seit 1862 exilierten Königspaares Otto und Amalie, keine freundlichen Gefühle für den Nachfolger Georg I. - er war übrigens auch erst 18 Jahre alt, als man ihn auf den Thron setzte - und sein Haus empfand, lag in der Natur der Sache. Ernstzunehmende Rivalen traten, seit Karl von Rumänien und Ferdinand von Bulgarien ihre Throne bestiegen hatten, dort nicht mehr hervor. Daß in Serbien nicht nur Rivalität, sondern im wörtlichen Sinne tödliche Feindschaft zwischen den beiden konkurrierenden Dynastien herrschte, ist bekannt. Während die Mehrzahl der Dynastien in den osmanischen Nachfolgestaaten sich auf das äußerste anzustrengen hatte, um sich gegen innere und äußere Bedrängnisse zu behaupten, beschäftigten sie gleichzeitig und offensichtlich kompensatorisch Fragen der Rangerhöhung, des Gebietszuwachses und einer über die Staatsgrenzen greifenden Machterweiterung. Ausgenommen das griechische Königtum, das seit seiner Begründung mit voller Souveränität ausgestattet war, verfolgten alle hier erwähnten Fürsten vorrangig das Ziel, die Souveränität des Großherrn in Konstantinopel abzuschütteln. Dies gelang ausnahmslos; ebenso haben alle Balkanfürsten die Würde des Königtums erreicht, wenn auch erst im späteren 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Hinter den realisierbaren Nahzielen winkten fragwürdige Fernziele. Angesichts der erlittenen Frustrationen ist es verständlich, wenn das griechische Königspaar eine schönere Zukunft für sich und sein Land in der „Megale Idea" suchte38: Man verstand darunter die Befreiung aller Griechen von fremder Unterdrückung und ihren Zusammenschluß in einem Staatswesen, gipfelnd in der „Rückeroberung" Konstantinopels. Es läßt sich auch vom Traum einer Wiedererrichtung des byzantinischen Kaisertums sprechen - Phantasieimperialismus von Staaten zweiten und dritten Ranges im 19./20. Jahrhundert. Als „Panhellenismus" reihte sich die „Megale Idea" in die zeitgenössischen „Pan-"Bewegungen ein; zu beachten ist in diesem Zusammenhang der Charakter des „Neo-Hellenismus" als

37 BOWER/BOLITHO, Otho I. (wie Anm. 3), 236, 238. Spannungen zwischen der Königin Amalie und dem Münchner Hof bzw. den Bayern in Griechenland traten schon bald auf. Ludwig I. informierte im Sommer 1837 seinen Außenminister, es sei „im Publikum ... der Widerwille der Königin gegen Bayern bekannt, wo nicht sogar Haß.u Ludwig wünschte, ihr Vater solle sie darauf aufmerksam machen, wie sehr sie im Uniecht sei. Sie gehöre durch ihre Heirat dem Hause Bayern

a n . V g l . KRAUS, Sígnate (wie A n m . 19), Bd. 3, 359 (Nr. 425). 38

RALL, Griechenland (wie A n m . 3).

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Heinz GoUwitzer

orthodoxer Konfessionsnationalismus. Aus der Geschichte der griechisch-türkischen Beziehungen weiß man, wie vergeblich die unter der „Megale Idea" unternommenen militärischen Anstrengungen gewesen sind. Überdies mußte der Panhellenismus damit rechnen, mit dem Panslawismus aneinander zu geraten. Mit verwandten Vorstellungen ging man auch in Serbien und Bulgarien schwanger. Karl Gladt hat seine große Monographie über das Haus Obrenovié „Kaisertraum und Königskrone" überschrieben und Hans R. Madol ließ sein Buch über den ersten Bulgarenkönig der Neuzeit unter dem Titel „Ferdinand von Bulgarien - der Traum von Byzanz" erscheinen.39 Dem durchaus realistisch denkenden König Karol I. von Rumänien schwebte immerhin ein Bund der südosteuropäischen Monarchien unter seiner politischen Hegemonie vor, und ähnliche Überlegungen hat man auch an den Höfen von Athen, später von Sofia und Belgrad kultiviert. Selbst diese bescheidenere und, wie man meinen möchte, realitätsnähere Variante einer Blockbildung ließ sich nie verwirklichen. Nicht zuletzt scheiterten solche Projekte an dem Mißtrauen der Großmächte und der gegenseitigen Eifersucht der neuen Höfe. Man ist versucht, einen Augenblick an das Wunschtraum gebliebene Bemühen zu denken, die „ reindeutschen " Staaten innerhalb einer Triaslösung der deutschen Frage bzw. des Deutschen Bundes zusammenzuführen. Das Verhältnis der osmanischen Nachfolgestaaten untereinander war mehr durch Kriege als durch Einigungsbestrebungen geprägt.

Zur Endphase des Dynastizismus Der Verfasser versteht seinen Aufsatz als kleinen Beitrag zur mehrtausendjährigen Geschichte des monarchisch-dynastischen Phänomens, von dem Restbestände noch in die Gegenwart hineinragen40, das sich jedoch spätestens seit dem Zeitalter der Weltkriege fast vollständig der weltweiten Demokratisierung untergeordnet hat. Nicht nur in dem dieser Festschrift thematisch vorgegebenen Zeitraum, sondern noch darüber hinaus war, wie erwähnt, der Einfluß von Monarchen und Höfen auf die innere wie die auswärtige Politik noch sehr erheblich, aber die dynastische Macht sah sich durchweg in das Staatsinteresse eingebunden, und wenn man versucht, zwischen staatlichem und dynastischem Interesse zu differenzieren, muß

39 Vgl. GLADT, Kaisertraum (wie Anm. 10) und Hans Roger MADOL [=Gerhard Salomon], Ferdinand von Bulgarien. Berlin 1931. 40 Vgl. Heinz GOLLWITZER, Die Funktion der Monarchie in der Demokratie, in: Bürgertum, Adel und Monarchie. Hrsg. v. Adolf M. Birke/Lothar Kettenacker. (Prinz Albert Studien, Bd. 7.) München 1989, 147-157.

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man fast ausnahmslos jenem den Vorrang zugestehen. Daß gleichwohl bis in das 20. Jahrhundert eine spezifisch dynastische, nicht staatlich strukturierte Sphäre vorhanden war, läßt sich auch in der Geschichte der osmanischen Nachfolgestaaten beobachten. Primär dynastische Gesichtspunkte obwalteten, wenn man einer vormals regierenden Linie wieder zur Souveränität verhalf (katholische Linie der Hohenzollern, Haus Wied); wenn eine durch nicht hausgesetzmäßige Eheverbindung entstandene Nebenlinie über die Souveränität wieder zur vollen Ebenbürtigkeit gelangte (Haus Battenberg); wenn sich der Glanz eines Hauses durch Errichtung von Sekundooder Tertiogenituren mehren ließ (Haus Coburg, Haus Bayern); wenn eine nicht regierende Nebenlinie zur Souveränität aufstieg (Coburg-Kohary); wenn durch Gewährung einer Zivilliste in dem neuen Staate eine Apanage eingespart und so das Hausvermögen entlastet werden konnte, dessen Wahrung und Vergrößerung gleich der Beachtung der Hausgesetze zu den Voraussetzungen dynastischer Existenz zählten. Noch im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts konnte ein sehr fähiger, gleich Karol von Rumänien realpolitisch orientierter Fürst, Ferdinand von Bulgarien, der sich selbst als „praktisch merkantile Natur" bezeichnete, seine Fürstenherrschaft als ein dynastisches Juwel im politischen Hausschatz der Coburger auffassen.4' 1887 pries er den Familienchef, Herzog Ernst II. von Coburg, daß er für ihn, „den aus der europäischen Regentengemeinschaft ausgestoßenen Coburger", als „Oberster Chef des Coburger Blutes", als „liebender Onkel" und „Doyen der Coburger Dynasten" doch noch einstehe. Der Bulgarenfürst bat ihn, das von ihm, Ferdinand, gestiftete, „die Farben des Hauses Wettin führende" Erinnerungskreuz anzunehmen und es als Beweis anzusehen „der intellektuellen Macht des vor nichts zurückschreckenden dynastischen Unternehmungsgeistes, der superioren, fast alle Weltteile umfassenden Philanthropie der Coburger. Von Lissabon bis Petersburg, von Schottland bis Adrianopel reicht das Gebiet unserer materiellen oder geistigen, teils positiven, teils negativen Machtsphären." Gewiß, das extreme Pathos eines interessanten Außenseiters! Vielleicht jedoch auch ein Dokument, das einen Augenblick den Schleier vor dynastischem Selbstbewußtsein lüftet, wie man es damals, in solcher Prägnanz jedenfalls, der Öffentlichkeit bereits vorzuenthalten pflegte. Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, zur griechischen Monarchie zurück! Ludwig I. schwelgte geradezu in der Vorstellung, durch Gründung einer wittelsbachischen Sekundogeniturden Glanz seines Hauses vermehrt zu haben. Ein riesiger Obelisk sollte in München zum Andenken an das Ereignis errichtet werden. Selbst als das Jahr 1848 die prekäre Lage vieler Höfe aufdeckte, tröstete der König sich

41

Zit. nach KOENIGSLOEW, Ferdinand von Bulgarien (wie Anm. 18), 198 f.

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gelegentlich mit der Aussicht, daß sein jüngster Sohn Adalbert den Thron eines vom Königreich Neapel abgefallenen Sizilien besteigen und somit eine Tertiogenitur des bayerischen Hauses in die Geschichte eintreten könnte42.

42

B S B Ludwig I.-Archiv. Tagebücher 3, 155 (30. 1. und 18. 2. 1848).

Reinhard Stauber „Natur" und „Politik" Aufklärung und nationales Denken im italienischen Tirol 1750-1820

i.

Die folgenden Seiten widmen sich dem Phänomen der „Aufklärung in der Provinz"1 am Beispiel der Diskussion und Formulierung des intellektuellen und kulturellen Sonderbewußtseins der italienischsprachigen Bevölkerung Tirols. Fern der Gelehrtenkultur großer Städte entfaltete sich hier im Diskurs von Aufklärern sozusagen im Westentaschenformat die für die Mitte des 18. Jahrhunderts typische Programmatik des Dreischritts von Selbstbildung, Erziehung anderer und Vermittlung gemeinnützigen Wissens. E n e Vorstellungswelt begrenzter Reichweite und das Fehlen grundlegender politischer Reformvorstellungen schlossen freilich nicht aus, daß die programmatische Arbeit durch konkrete politische Anstösse geprägt war, in unserem Fall durch die Verteidigung regionaler Sonderrechte gegen den zentralisierenden Zugriff des Aufgeklärten Absolutismus josefinischer Prägung. Was dem Mißtrauen der norddeutsch-protestantischen Eliten gegenüber der „katholischen Provinzaufklärung"2 als ganz und gar rückständig erscheinen mochte, konnte in der traditionsorientierten Lebenswelt vor Ort durchaus einen Schritt in Richtung Fortschritt und praktischer Modernisierung darstellen. So lobte etwa ein zeitgenössischer Beobachter, der Völkerkundler und josefinisch geprägte Aufklärer Joseph Rohrer, 1790 aus-

1 So der Titel des Buchs über ein kürzlich untersuchtes bayerisches Beispiel: Sieglinde GRAF, Aufklärung in der Provinz. Die sittlich-ökonomische Gesellschaft von Ötting-Burghausen 1765-1802. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 106.) Göttingen 1993; zum Folgenden v. a. die Hinleitung, 11-25. 2 Ebd., 12.

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drücklich die im Vergleich mit dem übrigen Tirol „hellere Denkart" im italienischen Landesteil.3 Die politisch-kulturelle Stellung des im folgenden behandelten Gebiets ist nicht leicht zu bestimmen. Im - nach den Staatlichkeitskriterien des 18. Jahrhunderts kaum zu fassenden - Staatsverband der Habsburgermonarchie spielte die Gefürstete Grafschaft Tirol immer noch eine Sonderrolle, wenngleich diese dem Einebnungsprozeß der zweiten Jahrhunderthälfte mehr und mehr zum Opfer fiel.4 In der frühen Neuzeit, noch vor der Übernahme Venedigs 1797, gab es zwei Gebietskomplexe der habsburgischen Erblande mit überwiegend italienischem Bevölkerungsanteil: Görz/ Gradiska und Triest sowie eben Tirol.5 Hier hatten die Landesfürsten zwischen 1400 und 1520, zuletzt vor allem in den Venezianerkriegen Maximilians I. 1508-1516, an der Südgrenze Gebiete erworben, die territorial isoliert von der Hauptmasse des Hausbesitzes lagen, zwischen dem Hochstiftsgebiet von Trient und der venezianischen Terraferma. Als besonders wichtig erwies sich die kleine Stadt Rovereto im Etschtal, schon in venezianischer Zeit (1416/17-1509) bedeutend als Festung und Verwaltungsmittelpunkt.6 Ein langwieriger Besitzabklärungsprozeß mit dem Hochstift Trient und der Versuch der lange Zeit autonomen feudalen und städtischen Gewalten dieses Gebiets, sich einer Inkorporierung in das Land zu entziehen, brachte Tirol bei dem Versuch, die eigene Landeshoheit durchzusetzen, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts beträchtliche Schwierigkeiten ein. Verweigerung der Beschickung des Landtags und Widerstand gegen Steuer- und Militäraufgebote

3 Joseph ROHRER, Uiber die Tiroler. Ein Beytrag zur Oesterreichischen Völkerkunde. Wien 1796 (ND Bozen 1985), 81-89, Zitat 81. 4 Allgemein zur Tiroler Geschichte der hier behandelten Zeit: Georg MÜHLBEROER, Absolutismus und Freiheitskämpfe (1665-1814), in: Geschichte des Landes Tirol. Hrsg. v. Josef Fontana u. a. Bd. 2. Bozen/Innsbruck/Wien 1986, 289-579; Helmut REINALTER, Aufklärung - Absolutismus Reaktion. Die Geschichte Tirols in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wien 1974, 35-103. 5 Vgl. dazu die allerdings auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentrierten Werke von Hans KRAMER, Die Italiener unter der österreichisch-ungarischen Monarchie. (Wiener Historische Studien, Bd. 2.) Wien/München 1954; Theodor VETTER, Die Italiener in der_ österreichisch-ungarischen Monarchie. Eine volkspolitische und nationalitätenrechtliche Studie. (Österreich-Archiv, Bd. 16.) München 1965; Umberto CORSINI, Die Italiener, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. 3/2: Die Völker des Reiches. Hrsg. v. Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch. Wien 1980, 839-879. 6 Zur Grenzentwicklung zwischen Tirol und Venedig neuerdings Josef RIEDMANN, Die Grenzen der tirolischen Landeshoheit gegenüber Venedig und den Bünden, in: Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-deutschen Reiches. Hrsg. v. Erwin Riedenauer. (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, Bd. 16.) München 1994, 145-160, hier 148-155. Grundlegend zur Herrschaftsgeschichte der Region bleibt Hans v. VOLTELINI, Das welsche Südtirol. (Erläuterungen zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer, Bd. 1/3.) Wien 1919, 95-310, hier 193-197 zu Rovereto. Beiträge zur Geschichte der venezianischen Herrschaft zuletzt in: Convegno II Trentino in età Veneziana, Rovereto 18-20 maggio 1989. (Atti della Accademia Roveretana degli Agiati, Ser. VI, 28 A, 1990.) Rovereto 1990.

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blieben auch nach der militärischen Unterwerfung der Stadt Rovereto 1564 an der Tagesordnung.7 Im 18. Jahrhundert allerdings wurde diese Sonderstellung des italienischen Teils von Tirol dort zunehmend als Last empfunden. In der Betrachtung der Zeitgenossen zählte es noch nicht zu „Italien", das frühestens in Verona „begann". Die Einwohner galten in Österreich als „Wälsche", in Italien aber als „Tedeschi".8 Innerhalb des Landes Tirol war die italienischsprachige Bevölkerung, so ein Ausschnitt der Beschwerden vom Ende des 18. Jahrhunderts, auf dem Landtag ungenügend vertreten und litt unter protektionistischen Handelshemmnissen für den Export der eigenen Weinproduktion.9 Dieses doppelte Autonomieproblem im Verhältnis Gesamtmonarchie - Tirol - Italienisches Tirol bildet den Hintergrund der offensiven Züge der im folgenden zu entwickelnden Argumente der Roveretaner Aufklärer, die nicht bei der abstrakten Erörterung von Nationalitätenfragen stehenblieben, sondern auf dieser Basis die Sonderstellung des eigenen Lebensbereichs innerhalb des Landes Tirol zu begründen und zu verteidigen suchten. Rovereto, eine Stadt von gut 5000 Einwohnern (1766), war im 18. Jahrhundert nach wie vor der Hauptort des unteren Etschtals (Vallagarina; Lagertal) sowie Sitz des 1754 eingerichteten Tiroler Verwaltungskreises „An Welschen Konfinen".10 Ökonomisch standen die Seidenerzeugung und der Vertrieb entsprechender Halbfertigwaren ganz im Mittelpunkt des städtischen Lebens, daneben der Warentransport auf der Etsch zwischen Bozen und Verona, monopolisiert von einer Handelsgesellschaft aus dem Vorort Sacco.11 Dieser kleine Ort wurde neben Verona zu einem der Zentren der italienischsprachigen Frühaufklärung, eine Funktion, die das nahe Trient unter dem fürstbischöflichen Regime nicht ausfüllen konnte. Die Entwicklung der italienischen Aufklärung ist von einer recht deutlichen Zäsur in den 60er Jahren des 18. Jahrhun-

7

RIEDMANN, G r e n z e n ( w i e A n m . 6 ) , 154 f . , 159 f.

8

Adam WANDRUSZKA, Österreich und Italien im 18. Jahrhundert. (Österreich-Archiv, Bd. 14.) München 1963, 6, 96-98. 9 Die neueste gründliche Darstellung dieser Fragen bietet das auf die Verhandlungen und Nachverhandlungen des Offenen Tiroler Landtags von 1790 konzentrierte Buch von Miriam J. LEVY, Governance and Grievance. Habsburg policy and Italian Tyrol in the eighteenth century. West Lafayette 1988, hier 50-63. Vgl. auch Adam WANDRUSZKA, Leopold II., die „Welschen Confinen" und die Stände Tirols, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 31, 1978, 154-160 und REIN ALTER, Aufklärung - Absolutismus (wie Anm. 4), 103-137. 10 Nicolò Cristalli de RALLO, Breve Descrizione della Pretura di Rovereto (1766). Hrsg. ν. Andrea Leonardi. Rovereto 1988. Zur Kreisorganisation Fridolin DÖRRER, Die Verwaltungskreise in Tirol und Vorarlberg (1754-1860), in: Neue Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Tirols. Festschrift für Franz Huter anläfilich der Vollendung des 70. Lebensjahres. Bd. 1. Hrsg. v. Ernest Troger/Georg Zwanowetz. (Tiroler Wirtschaftsstudien, Bd. 26.) Innsbruck/München 1969, 25-68. 11 Guido CANALI, I trasporti sull'Adige da Bronzolo a Verona e gli spedizionieri di Sacco, in: Archivio per l'Alto Adige 34, 1939, 273-402.

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derts geprägt, die den Übergang zur praktischen Umsetzung reformerischer Maßnahmen unter intensiven Kontakten zum übrigen Westeuropa mit sich brachte.'2 Vor diesem Einschnitt hatte sich die italienische Frühaufklärung („preilluminismo")'3 vor allem philologisch-historischen Interessen gewidmet, dem Sammeln von Quellen zur Geschichte des eigenen Vaterlandes, dabei immer wieder die antiken Zeugnisse der einstigen Größe Italiens in den Mittelpunkt stellend. Angestrebt wurde nach dem Vorbild des Modeneser Hofbibliothekars Ludovico Antonio Muratori (1672-1750) eine Geschichtsforschung ohne theologische Bevormundung. Daneben gehörte das Argumentieren gegen Aberglauben, Vorurteile und Hexenwahn zu den Charakteristikaderintellektuellen Diskussion Italiens im „preilluminismo". Neben Muratori spielte der Veroneser Polyhistor, Altertumsforscher, Archäologe und Dramatiker Scipione Maffei (1675-1755) eine wichtige Rolle, dessen „Verona illustrata" von 1732 in mehreren anderen europäischen Städten nachgeahmt wurde. Der Grund für den Anteil des italienischen Tirol an diesen Entwicklungen lag in der Person des Roveretaner Priesters, Geschichtsforschers und Literaten Girolamo Tartarotti (1706-1761), der nicht nur die Geschichte der Trienter Kirche von legendenhaften Überwucherungen zu reinigen versuchte, sondern vor allem gegen Aberglauben und Hexenwahn zu Felde zog.14 Es war sein Einfluß, der das kleine Rovereto zu einem kulturellen Zentrum mit Schulen, Bibliothek und Buchdruckereien machte, nachdem er selbst noch geklagt hatte, die Stadt sei voller Seidenraupen, Bücher aber gebe es keine.15 Aus Tartarottis Schülerkreis entstand Ende 1750 im Haus der Familie Saibante in Rovereto eine private Literatur- und Lesegesellschaft, die sich rasch als „Accademia" bezeichnete, sich selbst Konstitutionen gab und 1753 von Maria Theresia anerkannt und privilegiert wurde. In der italienischen Tradition phantastisch-programmatischer Akademienamen nannte sie sich „Imperial Regia Accademia degli Agiati in Rovereto"; mit der Selbstbezeichnung als „Agiati", d. h. die Langsamen, Bedächtigen, sollte der langwierige und mühevolle Erkenntnisweg

12 Herausgearbeitet von Franco VENTURI, Church and Reform in Enlightenment Italy: The Sixties of the Eighteenth Century, in: The Journal of Modem History 48, 1976, 215-232. Jede Beschäftigung mit der italienischen Aufklärung hat nun auszugehen vom monumentalen Werk von Franco VENTURI, Settecento riformatore. Bisher 5 Bände in 7 Teilen. Torino 1969-1987. In deutscher Sprache seien genannt: Alfred NOYER-WEIDNER, Die Aufklärung in Oberitalien. (Münchner Romanistische Arbeiten, Bd. 11.) München 1957; Christof DIPPER, Politischer Reformismus und begrifflicher Wandel. Eine Untersuchung des historisch-politischen Wortschatzes der Mailänder Aufklärung (1764-1796). (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 47.) Tübingen 1976. 13 Vgl. dazu NOYER-WEIDNER, Aufklärung (wie Anm. 12), 53-63. 14 Breit ausgeführt bei Franco VENTURI, Settecento riformatore. Bd. 1: Da Muratori a Beccaria. (Biblioteca di cultura storica, Bd. 103,1.) Torino 1969 , 355-385. 15 Ferrucio TRENTINI, Duecent'anni di vita dell'Accademia degli Agiati. Sintesi storica, in: Atti della Accademia Roveretana degli Agiati, Ser. V, 1, 1952, 5-27, hier 6 f.

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der Wissenschaften angedeutet werden. Das Wappen mit einer kleinen Schnecke, die eine hohe Pyramide hinaufzukriechen versucht, bringt die gleiche Intention zum Ausdruck. 1 6 Angesichts der stark einzelstaatlichen Prägung des vorrevolutionären Italien, w o dezidiert politische Einigungsvorstellungen fast völlig fehlten, waren die Interessen der „literati" an der Beschäftigung mit der antiken Geschichte Italiens und an der P f l e g e der Sprache, die Organisation der Akademien und die Verflechtung ihrer Mitglieder faktisch der einzige Rahmen für eine Art gesamtitalienischen Bewußtseins. 1 7 W i e schon früher spielte Italien auch in der europäischen Akademiebewegung des 18. Jahrhunderts eine führende Rolle, vor allem für die Entfaltung der Aufklärung im süddeutsch-katholischen Bereich und in Ostmitteleuropa. Selbst in kleinen und kleinsten Provinzstädtchen entstanden sprachlich-literarische Gesprächskreise (knapp 5 0 0 im Italien des 18. Jahrhunderts!), die sich als „Akademie" bezeichneten, freilich nie den Sprung zu wirklich wissenschaftlichen Aktivitäten oder zur landesfürstlichen Anerkennung schafften. 18 Was die Akademien in der Habsburgermonarchie angeht, so entstanden mit der „Academia Taxiana" in Innsbruck und der „Societas Eruditorum Incognitorum in terris austriacis" in Olmütz in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts zunächst zwei eher kurzlebige Gründungen. In Brüssel und Prag wurden private Vorläufergesellschaften 1772 bzw. 1790 ent-

16 Reichhaltiges Quellenmaterial zur Geschichte der Akademie von Rovereto findet sich in dem Band: Memorie dell'I. R. Accademia di Scienze, Lettere ed Arti degli Agiati in Rovereto pubblicate per commemorare il suo centocinquantesimo anno di vita. Rovereto 1901. Neuere Zusammenfassungen bieten Maria GARBARI, Libertà scientifica e potere politico in due secoli di attività dell'Accademia Roveretana degli Agiati. Rovereto 1982; Gianmario BALDI, L'Accademia Roveretana degli Agiati dal 1750-1980. Sintesi storica, in: Civis 6,1982,237-263. Vgl. auch LEVY, Governance

(wie A n m . 9), 3 1 - 4 5 . 17 Vgl. NOYER-WEIDNER, Aufklärung (wie Anm. 12), 124-136; Felix GILBERT, Italy, in: National Consciousness, History and Political Culture in Early-Modem Europe. Hrsg. v. O rest Ranum. (The Johns Hopkins Symposia in Comparative History, Bd. 5.) Baltimore/London 1975, 21-42, hier 38-42; Marco MERIGGI, Italy, in: Nationalism in the Age of the French Revolution. Hrsg. v. Otto Dann/John Dinwiddy. London/Ronceverte 1988, 199-212. 18 Allgemein: Conrad GRAU, Berühmte Wissenschaftsakademien. Von ihrem Entstehen und ihrem weltweiten Erfolg. Frankfurt am Main/Thun 1988. Umfassend und mit zahlreichen Literaturangaben zu den europäischen Akademien des 18. Jahrhunderts Ludwig HAMMERMAYER, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Erik Amburger u. a. (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, Bd. 3.) Berlin 1976, 1-84. Zu vergleichen auch: Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 231, 1980,43-74; Ludwig HAMMERMAYER, Europäische Akademiebewegung und italienische Aulklärung. Gedanken und Notizen zu Alfred Noyer-Weidners Bild der Aufklärung in Oberitalien, in: Historisches Jahrbuch 81, 1961, 247-263. Die Zahlenangaben zu Italien bei Amadeo QUONDAM, La scienza e l'Accademia, in: Università, Accademie e Società scientifiche in Italia e in Germania dal Cinquecento al Settecento. Hrsg. v. Laetitia Boehm/Ezio Raimondi. (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderno 9.) Bologna 1981, 21-67, hier 52 f.

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sprechend privilegiert. In Wien dagegen scheiterten alle Gründungspläne des 17. und 18. Jahrhundert, so daß die bis heute bestehende Roveretaner Akademie von 1750 die langlebigste gelehrte Sozietät auf dem Boden der ehemaligen habsburgischen Erblande darstellt. Die geistig-kulturelle Basisorientierung der Gründergeneration der „Agiati" war noch geprägt vom Horizont des „preilluminismo", der universalen Bildungsidee des 17. und 18. Jahrhunderts, der Trennung von Religion und Vernunft, der Leitkategorie Muratoris vom „buon gusto". Besonders bemerkenswert dabei ist die große Offenheit der Akademie und ihrer ersten Mitglieder für die deutsche Sprache und Kultur. 19 In dieser Tatsache spiegeln sich die engen dynastischen und kulturellen Beziehungen der Habsburgermonarchie zu Italien nach dem Aachener Frieden von 1748, die wichtigen Anstöße, die die österreichische Aufklärung aus Italien empfing (oft vermittelt durch zweisprachig kompetente Tiroler oder Trentiner) und nicht zuletzt die starke Stellung der Italiener in der hohen Verwaltung unter Maria Theresia. 20 So konnte die Roveretaner Akademie in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem wichtigen Zeugnis deutsch-italienischer Kultursymbiose unter den Bedingungen des aufgeklärten Kosmopolitismus und des habsburgischen Vielvölkerreichs werden. Unter der rasch anwachsenden Zahl von Mitgliedern („soci") der „Agiati" war mit etwa einem Fünftel ein hoher, von keiner anderen italienischen Akademie auch nur annähernd erreichter Anteil von Deutschsprachigen vertreten. Für die starke Ausstrahlung auf die italophile Kultur der Aufklärer am Wiener Hof spricht die Tatsache, daß viele dieser Personen 1754/55 geschlossen in die Akademie aufgenommen wurden - 31 von insgesamt 106 Neuaufnahmen in diesen beiden Jahren. Über gemeinsame Mitglieder ergaben sich intensive Verbindungen zu den Schwesterinstitutionen in Innsbruck, Olmütz und auch zur 1759 gegründeten Münchener Akademie der Wissenschaften.21 In Italien dominierten die Verbindungen nach Vene-

1 9 Wichtige neue Ergebnisse dazu durch den Aufschlufi bislang nicht genügend beachteter Briefquellen: Stefano FERRARI, L'Accademia Roveretana degli Agiati e la cultura tedesca (1750-1795), in: La cultura tedesca in Italia 1750-1850. Hrsg. ν. Alberto Destro/Paola M. Filippi. Bologna 1995, 2 1 7 - 2 7 6 . Ich danke Dr. Ferrari für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in sein Typoskript. Hinweise auf die Beziehungen der Gründergeneration der „Agiati" zur deutschen Kultur schon 1766 beim ersten Vannetti-Biographen Giambattista CHIARAMONTI, La vita del Cavaliere Giuseppe Valeriano Vanetti Roveretano, Signore di Villanuova, Fondatore della Imperiale Regia Accademia degli Agiati di Roveredo. Brescia 1766, 23 f., 33; ebenso in: L'Accademia di Rovereto dal 1750 al 1850. Rovereto 1882, 14-17. Monographisch: Bianca VECCHI, L'Accademia degli Agiati di Rovereto e i suoi rapporti con la cultura tedesca. Tesi di Laurea. Padova/Verona 1980, 7 1 - 1 0 2 , hier 115-121. 2 0

B e t o n t v o n WANDRUSZKA, Ö s t e r r e i c h ( w i e A n m . 8 ) , v . a . 3 0 - 4 6 , 5 9 - 8 3 ,

98-102.

Dies ergibt sich aus einer Analyse des chronologisch geordneten, mit kurzen biographischen Informationen versehenen Mitgliederverzeichnisses in: Memorie, (wie Anm. 16), 281 ff., ergänzt durch einen 1905 erschienenen Band von Corrigenda. Vgl. FERRARI, Accademia (wie Anm. 19), 2 1 9 - 2 2 3 ; Ludwig HAMMERMAYER, Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 175921

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109

dig und Verona (Maffei war eines der ersten Mitglieder), wogegen Kontakte zur aktiven Mailänder Aufklärergruppe um die Gebrüder Verri kaum eine Rolle spielten. Entscheidenden Anteil an dieser bikulturellen Orientierung hatten zwei der wichtigsten Gründungspersönlichkeiten der Akademie. Der Roveretaner Giuseppe Valeriano Vannetti (1719-1764), Spiritus rector der Gründung von 1750-1753 und als Ständiger Sekretär treibende Kraft in den ersten anderthalb Jahrzehnten, kannte die deutsche Kultur aus eigenem Erleben, las und sprach auch deutsch und bemühte sich, durch Übersetzungen und Besprechungen in Florentiner und Venezianer Literatuijournalen deutschsprachige Werke der Aufklärung in Italien bekanntzumachen.22 Im selben Sinn wirkte sein Freund Josef v. Sperges (1725-1791), das erste deutsche Akademiemitglied, ebenfalls zweisprachig, der das südliche Tirol aus langen Aufenthalten als habsburgischer Beamter gut kannte und in Wien bis an die Spitze der für italienische Angelegenheiten zuständigen Abteilung der Hofkanzlei aufstieg. Seine Empfehlung spielte die entscheidende Rolle bei der Aufnahme von deutschsprachigen Mitgliedern, und seiner Fürsprache war die rasche Anerkennung der Akademie durch die Kaiserin 1753 zu verdanken.23

11.

Das grundsätzliche Akzeptieren politisch-staatlicher Obrigkeit, das Fehlen konkreter Reformgedanken über die Wahrung der eigenen inneren Autonomie und der überkommenen Rechte der Heimatregion hinaus, die mehrheitliche Ablehnung fundamentaler politischer Veränderungen oder gar revolutionärer Weiterentwicklungen aufklärerischer Gedanken - all dies gehört zu den Grundprinzipien der akademischen Arbeit in Rovereto zwischen 1750 und 1800.24 Damit einher ging freilich eine große innere Pluralität der Meinungen und eine weite Varianz der politischen und weltanschaulichen Einstellungen der Mitglieder. So wurde das Forum der „Agiati" zum entscheidenden Trägergremium für die Debatte über das Sonderbewußtsein der italienischsprachigen Tiroler. Ihre begriffsgeschichtlichen Grundlinien sollen im folgenden dargestellt werden. Gleich bei der ersten Zusammenkunft am 27. 12. 1750 hob Giuseppe Valeriano Vannetti die Pflege der italienischen Sprache als eine der Hauptaufgaben der neuen Gesellschaft hervor,

1807. Bd. 1: Gründlings-und Frühgeschichte 1759-1769. Kallmünz 1959 (ND München 1983), 15 f. 22 Zeitgenössische Biographie: C H I A R A M O N T I , Vanetti Roveretano (wie Anm. 1 9 ) . 23 Irene TUMA-HOLZER/Josef J. H O L Z E R , Die „Accademia degli Agiati" von Rovereto, in: Österreich in Geschichte und Literatur 21, 1977, 353-363, hier 354-356. 24 G A R B A R I , Libertà (wie Anm. 1 6 ) , 1 0 - 1 2 .

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und zwar gerade angesichts der gegenwärtigen Trennung Roveretos „della bella Italia", zu dem es während der Römerzeit noch gehört habe, durch kriegerische Entwicklungen („per fatto di guerre").25 Zwei Jahre später stellte der Geistliche Francesco Frisinghelli (1690-1758), ein Schüler von Scipione Maffei und Kenner des griechischen und römischen Altertums, in einer Akademierede die Begriffe „dominio" und „nazione" einander gegenüber. Er stellte fest, daß die oft wechselnde politische Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet („dominio") nichts an dessen Zugehörigkeit zu einer „nazione" ändern könne, als deren Kriterien ihm das Wesen eines Volks, seine Sitten und seine Sprache galten („genio, costumi e lingua").26 Zentrale Gedanken zur Terminologie und historischen Behandlung unserer Problematik finden wir bei einer der weniger bekannten Persönlichkeiten der Akademie, deren Argumente hier wegen der günstigen Quellenlage im Mittelpunkt stehen sollen: demente Baroni di Cavalcabò (1726-1796).27 Er hatte offensichtlich nie eine Universität besucht, sondern wurde bei seinen privaten Studien von seinem älteren Bruder und vom Pionier der Roveretaner Aufklärung, Girolamo Tartarotti, angeleitet. Als einer der ersten „soci" der Akademie unterstützte er in führender Stellung die kulturellen Austauschbemühungen von Vannetti und Sperges, obwohl er selbst nicht Deutsch konnte. Seines weitgespannten Interessenfeldes wegen hebt Rohrer ihn 1790 aus dem Kreis der Roveretaner Akademiker besonders hervor.28 Tatsächlich befaßte er sich mit Fragen der Moralphilosophie, Theologie und Gesellschaftslehre, publizierte über Mathematik, Naturforschung und Theater und unterstützte Tartarottis Kampf gegen den Hexenglauben. Besonders hervorzuheben ist allerdings seine Beschäftigung mit der Geschichte in einer Phase, in der historisch-politische Themen in der Akademiearbeit noch eine untergeordnete Rolle spielten.29 Diese historischen

25 Accademia Roveretana degli Agiati, Rovereto, Archivio [AAA] M I, Nr. 2. Vgl. Memorie, (wie Anm. 16), 164 f. 26 Biblioteca Comunale Trento [BCT] Ms. 3005. Zur Person Frisinghellis vgl. Adriano RIGOTTI, Francesco Giuseppe Frisinghelli d'Isera. Prete, letterato e poeta (1690-1758), in: Studi Trentini di scienze storiche 53, 1974, 30-59 und 127-145; 131-140 eine Edition des hier besprochenen Texts „Che questo nostro Paese di Roveredo è parte della vera Italia". 27 Vgl. zu ihm Carlo ROSMINI, Memorie intorno alla vita e agli scritti di Clemente Baroni Cavalcabò. Rovereto 1798; Claudio LEONARDI, Baroni Cavalcabò, Clemente, in: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 6. 1964, 462-466; Franca BORELLA, Clemente Baroni Cavalcabò e l'illuminismo Roveretano. Tesi di Laurea. Milano 1969. 28 ROHRER, Tiroler (wie Anm. 3), 86. 29 So das Fazit aus der Aufstellung der Titel der auf den Akademiesitzungen 1750-1768 verlesenen Beiträge [Memorie, (wie Anm. 16), 164-196]. Vgl. die ausführliche Auswertung bei Maria BERTOLDI, Un capitolo di vita dell'Accademia degli Agiati di Rovereto (1750-1795). Tesi di Laurea. Padova 1973, 137-307; vieles in dieser Richtung auch schon bei Dario EMER, Accademie e Accademici nel Trentino. L'Accademia degli Agiati di Rovereto, in: Archivio Trentino 12, 1895, 129-197 und 13, 1896, 177-209. Zur Geschichtsforschung an der Akademie: Danilo VETTORI, L'Accademia roveretana degli Agiati e la ricerca storica con particolare riguardomai secoli XVIII e XIX, in: Atti della Accademia Roveretana degli Agiati, Ser. VI, 30 A, 1990, 31-50.

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Interessen verband er mit konkretem politischen Engagement zugunsten seiner Heimat: Von seiner Herkunft und seinen persönlichen Interessen her (seine Familie war in der Handelsgesellschaft von Sacco engagiert) und als Kenner der politischen Praxis in der Stadt Rovereto ging es ihm vor allem um Argumente gegen die zentralistischen Neuerungen Josefs II. im Bereich der städtischen Verwaltung oder der Zoll- und Handelspolitik. 1777 war zwischen der Grafschaft Tirol und dem Hochstift Trient ein Vertrag geschlossen worden, der u. a. ein gemeinsames Zollgebiet beider Territorien mit gleichen Außentarifen vorsah.30 Eine 1778 in Rovereto gedruckte Landkarte bildete deswegen das Hochstiftsgebiet als Teil Tirols ab. Gegen diese Darstellung erhob Baroni in einem offenen Brief vom Jahresende 1779 Protest mit der Begründung, „il Trentino" sei heute zwar „in via politica" ein Teil Tirols, nicht aber „in via geografica e naturale", denn Sprache und Geschichte dieses Raumes wiesen nach Italien. Es seien Bedingungen des politischen Zwangs, die eine gänzlich italienische Provinz („una provincia tutta italiana") an ein deutsches Staatsgebilde fesselten.31 Sehr viel ausführlicher als in dieser kurzen Ausarbeitung entwickelte Baroni seine Gedanken in einem bislang unbeachteten, konzeptartigen Manuskript, das, obschon undatiert, zeitlich und sachlich in den Umkreis des offenen Briefs gehört.32 Ziel seiner mit Plinius einsetzenden Interpretation der klassischen Gelehrten und Historiographen ist der Aufweis des „italicismo" - eine in der Epoche singuläre, den Terminus „italianità" des 19. Jahrhunderts vorwegnehmende Begriffsprägung - des „Trentino", wobei besonderes Interesse verdient, daß Baroni die von ihm verwendeten Termini auch theoretisch reflektiert. So unterscheidet er etwa in der Diskussion über die Grenze („confini"; „limiti") zwischen Deutschland und Italien die festen, stets stabilen natürlichen Grenzen zwischen den Nationen einerseits, die Variabilität und die Zufälle der herrschaftlichen Zugehörigkeit andererseits, die in einer Grenz- und Übergangsregion wie Tirol natürlich eine große Rolle gespielt hätten. Ein Wechsel der Herrschaft könne aber die Zugehörigkeit zur Nation nicht ändern; auch entsprächen die Grenzen zwischen „Trentino" und „Tirolo" nicht jenen zwischen „Germania" und „Italia". Baroni subsumiert diese Differenzierung unter dem Gegensatzpaar der Begriffe „Natur" und „Politik". „Natur" zielt dabei ab auf die großen, geographisch und ethnologisch fundierten Zuordnungen, „Politik"

30 Vgl. Hans K R A M E R , Die Zollreform an der Südgrenze Tirols 1777-1783, in: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 1 2 , 1 9 3 2 , 2 3 9 - 2 6 6 . 31 BCT Ms. 4 0 8 , fol. 5 3 - 5 5 [„Lettera", gedruckt im „Giornale Enciclopedico" Vicenza, Nr. 9 7 (Dezember 1 7 7 9 ) , 3 - 8 ] , Ediert bei Antonio Z I E G E R , Bagliori unitari ed aspirazioni nazionali ( 1 7 5 1 - 1 7 9 7 ) . Milano 1 9 3 3 , 2 5 f. Vgl. auch Umberto C O R S I N I , Il Trentino nel secolo decimonono. Bd. 1 : 1 7 9 6 - 1 8 4 8 . Rovereto 1 9 6 3 , 2 6 . 32 Biblioteca Civica Rovereto [BCR] Ms. 16.3(1) (ohne Foliierung).

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auf untergeordnete, temporäre, vom Menschen gemachte Einteilungen.33 In der Anwendung auf die ihn beschäftigende Problematik des italienischen Tirol zieht Baroni daraus den Schluß, das Tiroler Gebiet gehöre teilweise zu Deutschland, teilweise zu Italien. Nur politisch gesehen aber, nicht von den natürlichen Bedingungen her, könne der nördlichste Teil Italiens zu Tirol gerechnet werden. demente Baroni-Cavalcabò ist es auch, bei dem wir die umfassendste Beschäftigung mit der Problematik der Autonomie des italienischen Tirol und mit der rechtlichen Begründung einer besonderen Stellung innerhalb des Landes beobachten können.34 In historisierendem Rückgriff verwies er auf das traditionelle Selbstregierungsrecht der oberitalienischen Städte und auf das Interesse am Erhalt des Handels als der wirtschaftlichen Lebensbasis Roveretos. Als historisches Hauptargument für die überkommenen historischen Rechte der Stadt diente ihm die vollständige Konfirmation der Privilegien aus venezianischer Zeit durch Kaiser Maximilian I. 1509, dem sich die Stadt damals freiwillig unterworfen habe. Eine weitere Ausarbeitung Baronis stammt aus dem Vorfeld des Tiroler Landtags von 1790, der die Beschwerden des Landes über die josefinische Reformpolitik gegenüber dem neuen Kaiser Leopold II. bündelte. Sie erweist die Schwierigkeiten, in die die Vertreter des italienischen Tirol bei der Vorlage konkreter Lösungsvorschläge gerieten.35 Einerseits wurde bei Fortbestehen der Diskriminierungen eine Abspaltung von Tirol erwogen („separata Provincia"), andererseits dienten der Reichstag und die Kriterien der Reichsstandschaft Baroni als Vorbild für eine analoge Regelung gleichberechtigter Vertretung aller Landesteile am Tiroler Landtag. Hervorzuheben ist, daß diese und alle ähnlichen Vorschläge nicht gegen „Österreich" oder die Zugehörigkeit zum Herrschaftsgebiet der Habsburger zielten, sondern explizit an den Kaiser gerichtet waren, von dem man sich Hilfe gegen die traditionellen deutschsprachigen Führungsschichten Tirols erhoffte. Auch im mit Tirol in Militär-, Steuer- und Zollfragen zwar eng assoziierten, de jure aber nach wie vor unabhängigen Hochstift Trient begegnen uns gleichzeitig

33 „...: perchè le divisioni grandi e principali della terra hanno più alte e fondate origini, che l'arbitrio de' sovrani, il qual si estende solo alle divisioni subalterne, e meno importanti, ognuna delle quali può essere, secondochè portano le vicende delle umane cose, più e meno estesa" (ebd.). 34 Vgl. ROSMINI, Cavalcabò (wie Anm. 27), 96-102. 1776 erschien in Rovereto anonym, doch ohne Zweifel demente BARONI zuzuschreiben, eine Sammlung von fünf einschlägigen, um Quellenexzerpte vermehrten Aufsätzen der Brüder Baroni unter dem Titel „Idea della storia, e delle consuetudini della Valle Lagarina, ed in particolare del Roveretano". Hinweise und Verzeichnisse zu weiteren einschlägigen Arbeiten Baronis bei Savino PEDROLLI, I manoscritti del Barone G. Β. Todeschi, in: Atti della I. R. Accademia di Scienze, Lettere ed Arti degli Agiati in Rovereto, Ser. III, 16, 1910, 3-26, hier 7 f. (aus der Manuskriptsammlung seines Akademiekollegen Giambattista Todeschi) und BERTOLDI, Vita dell'Accademia (wie Anm. 29), 10-13. 35 Edition: PEDROLLI, Todeschi (wie Anm. 34), 8-14. Zum sachlichen Hintergrund vgl. die Literatur in Anm. 9.

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publizistische Bemühungen um die Verteidigung regionaler Sonderrechte gegen die Wiener Zentralisierungsversuche. In einer Phase teilweise sehr konkreter Bedrohung der Eigenstaatlichkeit des Hochstifts36 wurden die Stadt und ihre politische Elite, die den Rat und das Domkapitel besetzte, zum entscheidenden Rückhalt aller Ideen zur Bewahrung der noch verbliebenen Autonomierechte.37 Frühaufklärerische Einflüsse dürften dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben.38 In der Form eines Dialogs zwischen einem deutschen und einem italienischen Tiroler setzte sich der fürstbischöfliche Rat Ignazio Sardagna (1742-1827) mit dem „dispotismo politico" und dem „governo arbitrario'' des Josefinismus auseinander und plädierte für eine regionale Differenzierung zentraler Gesetze und Erlasse.39 Dabei hatte er besonders die in Tirol 1786 eingeführte und auch auf die Hochstifte ausgedehnte Militärkonskription im Auge.40 Seiner Ansicht nach war diese Maßnahme geeignet, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, die intensiv zu bewirtschaftenden landwirtschaftlichen Sonderkulturen und das Fuhr- und Handelswesen, der Zerstörung preiszugeben. In Rovereto trat mit dem Tod Giuseppe Valeriano Vannettis 1764 eine spürbare Zäsur in der Geschichte der „Accademia degli Agiati" ein.41 Es wurden zwar weiterhin deutsche Mitglieder aufgenommen, doch das Sekretariat seines Sohnes dementino Vannetti (1754-1795) ab 1776 war verbunden mit einem Rückgang der akademischen Aktivitäten, vor allem der interkulturellen Austauschbeziehungen. Bei der Beurteilung dieses Wandels der kulturellen Gesamtstrategie der Akademie von 36 Hans v. VOLTELINI, Ein Antrag des Bischofs von Trient auf Säkularisierung und Einverleibung seines Fürstentums in die Grafschaft Tirol vom Jahre 1781 bis 1782, in: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 16, 1936, 387-403. Zur Stellung der nur noch eine „limitierte Landeshoheit" ausübenden Hochstifte Trient und Brixen gegenüber der Grafschaft Tirol vgl. zuletzt Fridolin DÖRRER, Die „limitierte Landeshoheit" der Bischöfe von Trient und Brixen in Beziehung zur gefürsteten Grafschaft Tirol, in: Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-deutschen Reiches. Hrsg. v. Erwin Riedenauer. (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, Bd. 16.) München 1994, 135-144. 37 Marco MERIGGI, L'ascesa della città come polo dell'autonomia dall'Antico Regime al 1848, in: 1948-1988: l'autonomia trentina. Origini ed evoluzione tra storia e diritto. Atti sessione storica, Trento, Castello del Buonconsiglio 20-21 maggio 1988. Hrsg. ν. Pierangelo Schiera. Trento 1988, 39-62; Marco BELLABARBA, Tra la città e l'impero. Il principato vescovile di Trento nella prima età moderna, in: Lo spazio alpino: area di civiltà, regione cerniera. Hrsg. v. Gauro Coppola/Pierangelo Schiera. (Europa mediterranea, Quaderni 5.) Napoli 1991, 147-164. Vgl. auch die Beiträge in dem Sammelband: Cesare MOZZARELLI/Giuseppe OLMI (Hrsg.), Il Trentino nel Settecento fra Sacro Romano Impero e antichi stati italiani. (Annali dell'Istituto storico italo-germanico, Quaderno 17.) Bologna 198S. 38 Dazu Claudio DONATI, Ecclesiastici e laici nel Trentino del Settecento (1748-1763). (Studi di storia moderna e contemporanea, Bd. S.) Roma 197S, 29-S3. 39 BCT Ms. 65, fol. 102-119'. 40 Vgl. Oswald v. GSCHLŒSSER, Zur Geschichte des stehenden Heeres in Tirol bis zur bayrischen Besetzung (1805), in: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 31, 1951, 229-249. 41 V g l . FERRARI, Accademia (wie A n m . 19), 2 6 9 f f . ; BALDI, Accademia 1 7 5 0 - 1 9 8 0 (wie A n m . 16), 2 4 9 f.

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der Vermittlung zur Abgrenzung darf freilich das historische Umfeld der 80er Jahre, die Neuerungen der josefinischen Zeit und die Versuche zu ihrer Abwehr, nicht übersehen werden. Der jüngere Vannetti hatte kein Interesse an der deutschen Sprache und Kultur; er kannte sie gar nicht und Deutsch schien ihm, wie alle nicht-romanischen Sprachen, für ästhetisch-literarische Zwecke gänzlich ungeeignet. Sein Hauptinteresse galt den Schönen Künsten, der Literatur und hier vor allem der römischen Klassik. Vannetti schloß sich zunächst den Thesen seines Lehrers Baroni und dessen Unterscheidung zwischen „Natur" und „Politik" an: Wenn Rovereto auch „per patti con Casa d'Austria" politischen und juristischen Instanzen Tirols unterstehe, so sei es gleichzeitig doch immer Teil der „provincia Trentina, che forma parte d'Italia" gewesen.42 Nur der Zufall der politischen Herrschaftsbildung habe zu den dauernden Verwechslungen zwischen „Trentino" und „Tirolo" geführt, die Vannetti schärfstens bekämpft. Sehr früh machen sich bei ihm allerdings eine schärfere Wortwahl, größere Intoleranz und eine nationalisierende, in Germanisierungsvorwürfen gipfelnde Zuspitzung der Argumentation bemerkbar, gerade in den ihn besonders beschäftigenden Fragen der Sprachpflege und des muttersprachlichen Schulunterrichts.43 So vergröberte er bewußt Baronis differenzierte Diskussion der fehlenden Koinzidenz herrschaftlicher und nationaler Grenzen, indem er „il Trentino" „Italia", „il Tirolo" aber „Germania" fest zuordnete und feststellte, beide Gebiete unterschieden sich fundamental durch Geographie, Sprache, Gebräuche, einfach „di tutto".44 Zur noch stärkeren Betonung dieses Gegensatzes führte er 1780 in seine Argumentation den Begriff der Nation ein, behandelte die Gegensätze zwischen der „nazione italiana" und der „nazione tedesca" und fügte seiner Feststellung einer rein zufälligen politischen Abhängigkeit italienischer Gebiete von einem deutschen Land konkrete Vorwürfe gegen die deutsche „razza di gente" an, die es bewußt darauf anlege, Handel und Wissenschaft im italienischen Tirol zu zerstören.45 In einem Sonett, dessen Adressat ein Florentiner Schauspieler war, der in Rovereto gefragt hatte, ob er sich noch in Italien oder schon in Tirol befinde, verband Vannetti 1790 das

42 Zahlreiche instruktive Belege zum Folgenden finden sich in der Edition des Briefwechsels Vannettis mit dem Modeneser Hofbibliothekar und Literaturhistoriker Tiraboschi (1731-1794): Giuseppe CAVAZZUTI/Ferdinando PASINI (Hrsg.): Carteggio fra Girolamo Tiraboschi e d e m e n t i n o Vannetti (1776-1793). (Pro Cultura, Supplemento 4.) Modena 1912, die Zitate hier 43, Nr. 24 (31. 12. 1779). Vgl. auch Ettore ZuccHELLi, Il Ginnasio di Rovereto in duecentocinquant' anni di vita (1672-1922). (Annuario del R. Ginnasio-Liceo „Vittorio Emanuele III" di Rovereto. Nuova Serie 4 [Anno scolastico 1921-1922], Estratto.) Rovereto 1923, 40-44 (Brief Vannettis an Anton Sterzinger, 15. 8. 1778). 43

Hierzu ZUCCHELLI, Ginnasio (wie Anm. 42), 37-48.

44

CAVAZZUTI/PASINI, Carteggio (wie Anm. 42), 46, Nr. 26 (21. 4. 1780).

45

Ebd., 49, Nr. 27 (20. 5. 1780).

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berühmte Bekenntnis „Italiani noi siam, non Tirolesi" (im 19. Jahrhundert einer der wichtigsten Wahlsprüche der Trentiner Irredenta) mit einer Fülle gängiger Stereotypen über die deutsche Bevölkerung Tirols.44 Im Jahr darauf bezeichnete er die Eroberung des unteren Etschtals durch Maximilian I. am Anfang des 16. Jahrhunderts sogar als Strafe Gottes, die die italienische Bevölkerung in die Hände der „gefräßigen Deutschen" („Tedeschi lurchi") gegeben habe.47 dementino Vannetti setzte auf ein anderes kulturelles Modell als der Kosmopolitismus seines Vaters, auf eines, das seine Zukunft noch vor sich haben sollte. In der ausschließlichen Hinwendung zu den Klassikern Roms und des Humanismus, verbunden mit wütenden Angriffen auf angebliche Germanisierungsbestrebungen in seiner Heimat, suchte er die Grundierung für sein Bild von einem eigenständigen, kulturell einheitlichen Italien, in dem alle Italiener ihre „patria" wiedererkennen konnten.48 Daß er damit zum Kronzeugen der bis in die jüngste Zeit reichenden Versuche der italienischen Risorgimento-Historiographie wurde, die Akademie der Agiati als Wegbereiterin und Verteidigerin der „italianità" des Trentino zu stilisieren, kann hier nur kurz erwähnt werden.49 Vannetti s Sprache nationaler Diskriminierung blieb jedoch ebenso eine Ausnahme wie die radikal-aufklärerische, jakobinisch inspirierte Sichtweise des Roveretaners Gregorio Fontana, Mathematikprofessor in Pavia, der eine Loslösung des italienischen Tirol von der „Tedescheria" empfahl, um Anschluß an die progressiven Tendenzen in Italien zu gewinnen und aus Wien drohenden Repressalien zu entgehen50.

44 Abdruck des „Regola geografico-morale" betitelten Gedichts z. B. bei TRENTINI, Duecent'anni (wie Anm. 15), 14. Die erste Strophe lautet: „Del Tiralo al governo, o Morrochesi [Name des Schauspielers], / fur queste valli sol per accidenti / Fatte suddite un di: del rimanente / Italiani noi siam, non Tirolesi. " An Stereotypen über das deutsche Tirol werden danach aufgezählt: die Leute seien dick und ihre Sprache sei ein Geschrei, der Boden sei unfruchtbar und habe wenig Sonne, es gebe fast nur Vieh und Fuhrleute. Vgl. LEVY, Governance (wie Anm. 9), 40-43. 47 CAVAZZUTI/PASINI, Carteggio (wie Anm. 42), 324, Nr. 277 (21. 3. 1791). 48 Vgl. zum gleichgelagerten Anliegen des Mailänder Aufklärers Gianrinaldo Carli (1720-1795) DIPPER, Reformismus (wie Anm. 12), 77 f., 108; Franco VENTURI (Hrsg.), Illuministi italiani. Bd. 3: Riformatori lombardi, piemontesi e toscani. (La Letteratura Italiana. Storia e Testi, Bd. 46,3.) Milano/Napoli 1958, 419-437. 49 Statt der Fülle möglicher Literaturangaben hier nur der Hinweis auf die Ausführungen zu Quellen und Historiographie bei Irene HOLZER-TUMA, Rovereto und die „Accademia degli Agiati" im Spiegel der Geschichtsschreibung, in: Österreich in Geschichte und Literatur 25, 1981, 277-287, und auf die abwägend-relativierenden Bemerkungen von GARBARI, Libertà (wie Anm. 16), 13-17. Vgl. auch FERRARI, Accademia (wie Anm. 19), 217 f. 50 Zit. bei Marcella DEAMBROSIS, Filogiansenisti, Anticuriali e Giacobini nella seconda metà del Settecento nel Trentino, in: Rassegna storica del Risorgimento 48, 1961, 79-90, hier 86. Ähnliche Auffassungen wurden von italienischsprachigen Studenten der Universität Innsbruck vertreten, die dem Innsbmcker „Jakobinerklub" von 1793/94 angehörten (REINALTER, Aufklärung - Absolutismus (wie Anm. 4), 210-232).

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Bezeichnend ist demgegenüber die Fortführung der Selbstvergewisserungsdiskussion der regionalen Eliten des italienischen Tirol unter den veränderten Bedingungen der Aufhebung des Hochstifts Trient und des Übergangs Tirols an Bayern 1803/06. Dabei spielten terminologische Fragen eine wichtige Rolle. Der aus hochstiftischen Diensten kommende Jurist und „Agiato" Gaudenz' Antonio Gaudenti, der mit jedem der rasch wechselnden Regime Trients zusammenarbeitete, verwarf 1806 die von dem uns bereits bekannten Ignazio Sardagna vorgeschlagene Bezeichnung „Tirolo Meridionale" für das zur Diskussion stehende Gebiet und sprach bewußt vom „Tirolo Italiano", um die natürliche Zuordnung des Trentino und des südlichen Tirol zu Italien schon im Namen zum Ausdruck zu bringen.51 Enttäuschend war für ihn allerdings, daß gerade wieder die Politik gegen „Madre Natura" entschieden und Napoleon der Abtretung auch des südlichen Tirol an Bayern zugestimmt hatte. Gaudenti prophezeite, Bayern werde sich mit einem so gänzlich anders als die Stammlande gearteten Gebiet („[un paese] si difforme") nichts als Schwierigkeiten einhandeln. Sardagna seinerseits reagierte rasch, verwarf Gaudentis Bezeichnung und schlug nun den legitimistischen Begriff „Trentino" vor.52 Nicht nur darin, sondern auch im Lob für die Milde und Rücksichtnahme der fürstbischöflichen Regierung auf den Handel als Grundlage des Reichtums des Landes gab er sich als ehemaliger Untertan und Funktionär des Hochstifts zu erkennen. Sein jetzt konzipiertes „Trentino" umfaßte allerdings weit mehr als das alte weltliche Herrschaftsgebiet des Bischofs, nämlich ein Drittel von ganz Tirol und reichte nach Norden über Bozen hinaus bis an die „chiusa tedesca" (Klausen im Eisacktal). Es überrascht nicht, den argumentativen Topos des Gegensatzes von Natur und Politik auch 1810 wiederzufinden, jetzt gegenüber den Erfahrungen von 1806 sozusagen ins Positive gewendet, nachdem Napoleon den südlichen Teil Tirols samt Bozen 1810 an das Königreich Italien angeschlossen hatte. Benedetto Giovanelli (1776-1846), ein Kenner der Altertumswissenschaften und der deutschen Kultur, der später lange Jahre Bürgermeister seiner Vaterstadt Trient war, unterschied 1810 in direkter Anlehnung an Baroni zwischen „un eventuale dominio" und der „natural ed originaria ... condizione" eines Volkes; gleichwohl schrieb er seinen „nazionali Trentini" bei aller Italianität in Sprache und Bräuchen einen „deutschen" Wesenszug zu, nämlich Fleiß und Mühe bei der Bodenbearbeitung. Die lange und verworrene Entwicklung der „storia patria" des Trentino sei dafür verantwortlich zu machen,

51 BCT Ms. 522. Gedruckt erschienen in den „Novelle Politico-letterarie", Mantova, 1. 3. 1806 als „Lettera sul Tirolo Italiano". Ein Nachdruck erschien 1871 in Verona mit dem in bezeichnender Weise geänderten Titel „Lettera sul Trentino". 52 BCT Ms. 1195 („Memorie storico-economiche del Trentino, volgarmente detto Tirolo Italiano", Mai 1806).

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daß es immer wieder zu Unklarheiten über die natürliche Zugehörigkeit des Gebiets zu Italien gekommen sei.53 Aus der Sicht eines hohen Hochstiftsbeamten griff der Jurist und frühere Trentiner Hofkanzler Barbacovi (1738-1825, „Agiato" seit 1791) gleichzeitig dasselbe Grundargument auf und unterschied zwischen dem Wirken der Natur, die die Trentiner zu Italienern gemacht habe („la natura ci ha fatti italiani"), und den zufälligen politischen Verwicklungen („transazioni politiche"), die sie so lange deutscher Herrschaft unterworfen hätten.54 Die Angliederung des Trentino an Italien war für Barbacovi denn auch eine Wiedervereinigung („riunione"), also eine Wiederherstellung alter, legitimer Zustände. Neben entsprechenden Elogen auf Napoleon benannte Barbacovi aber auch eine Reihe nun zu erwartender praktischer Vorteile für das Trentino, die sich vor allem auf den Warenaustausch mit Italien bezogen. Außerdem unterzog er sich der Mühe einer ausführlichen Diskussion zu Fragen der strittigen Terminologie und zur Geschichte der österreichischen Besitzungen im „Trentino". Durch Rückgriff auf die alten lehens- und kirchenrechtlichen Verhältnisse im südlichen Tirol versuchte er zu demonstrieren, daß es nicht legitim sei, hier überhaupt von „Tirolo" zu sprechen, vielmehr handle es sich um ursprünglich trentinische, dann vom Haus Österreich eroberte und der Tiroler Regierung zugewiesene Gebiete.55 Als Endpunkt der hier nachgezeichneten Debatte seien schließlich noch die im Vorfeld der entscheidenden nationalpolitischen Erschütterungen von 1848/49 erschienenen Studien von Giuseppe Frapporti zur Geschichte des Trentino erwähnt. Hier wurde noch einmal von der „natura" der „Trentini" gesprochen, die so italienisch sei wie der Heimatboden, auf dem sie lebten - und dieser reichte für Frapporti bis zum Alpenhauptkamm.56

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Benedetto GiovANELLI, Trento città d'Italia. Trento 1810 (ND Verona 1 9 1 5 ) . Francesco V. BARBACOVI, Considerazioni... sulla futura prosperiti de' popoli del Trentino ora riuniti al Regno d'Italia. Trento 1810, die Zitate ebd., 3. 55 Ebd., 8. Zu Barbacovi: Maria R. Dl SIMONE, Legislazione e riforme nel Trentino del Settecento. Francesco Vigilio Barbacovi tra assolutismo e illuminismo. (Annali dell'Istituto storico italo-germanico, Monografìe 19.) Bologna 1992; knapper dies., La cultura giuridica nel Trentino tra Settecento e Ottocento: Francesco Vigilio Barbacovi, in: Atti del convegno: Sigismondo Moli e il Tirolo nella fase di superamento dell'Antico Regime, Rovereto 25-27 ottobre 1990. Rovereto 1993, 31-45. Erster Oberblick bei Carlo FRANCOVICH, Barbacovi, Francesco Vigilio, in: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 6. 1964, 20 f. 56 Giuseppe FRAPPORTI, Della storia e della condizione del Trentino sotto la dominazione de' Goti, de' Franco-Bajoarii, e de' Langobardi. Trento 1840, Zitate ebd., 73. Der Titel ist ungenau; das Werk, das sofort starke Kontroversen auslöste, enthält in zahlreichen Einzelteilen eine Geschichte des Trentino von der Römerzeit bis ins 15. Jahrhundert. 54

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111. Beleuchten wir anhand der eben durchmusterten Argumentation der Vertreter eines aufgeklärten, patriotischen „italicismo" des südlichen Tirol im Spätabsolutismus und in der napoleonischen Zeit nun noch zwei grundsätzliche Sachaspekte und überprüfen sie auf ihren konstanten Gehalt wie auf ihre sachliche Brechung im Wandel der Entwicklung. Begonnen sei dabei mit der grundsätzlichen Frage nach dem Problem der historischen Legitimierung der vorgetragenen Ansprüche. Gerade die von Giovanelli 1810 konstatierten Brüche und Wechselfälle in der „storia patria" der „Trentini" waren es, die den Rekurs des pränationalen Diskurses auf die Geschichte so zwingend machten: Davon konnte man sich versprechen, die „natürliche" Zugehörigkeit des Landes zu Italien („la naturale situazione de' paesi"57) aufzuweisen und ein kontinuierliches historisches Substrat gegenüber allen politischen Wechselfällen zu erarbeiten. Dieses Substrat bestand in der postulierten traditionellen Zugehörigkeit des Trentino zu Italien; in weiten historischen Rückgriffen wurde der Nachweis der Einbeziehung dieses Gebiets in von Italien ausgehende staatliche Organisationsformen versucht. Die wichtigste Rolle spielte dabei natürlich die römische Zeit, wobei die Aufklärer des „Agiati"-Kreises auf ein historisches Idealbild zurückgriffen, das einer Denkfigur Scipione Maffeis entstammte. Diesem galt die ganze Provinz „Italia" (deren Grenze nördlich von Bozen verlief) als „Rom" im weiteren Sinn, also als unmittelbar römisch.58 Die Expansion der Herrschaft Roms bis zum Alpenbogen im ersten Jahrhundert vor Christus und die Erwähnung der Stadt Trient als „municipium" in der in augusteischer Zeit organisierten Provinz „Venetia et Histria" galten den Trentiner und Roveretaner Adepten Maffeis als unbezweifelbares Zeugnis der ursprünglichen Italianität ihres Gebiets.59 Nach dem langobardischen Herzogtum des 6. bis 8. Jahrhunderts wurde die karolingische Zeit mit der Etablierung nordalpiner Herrscher als Einschnitt empfunden. Nun fand man in den traditionellen Selbstregierungsrechten der oberitalienischen Städte in der Stauferzeit einen politischen Kontrapunkt gegen herrschaftliche Einflüsse aus dem Norden. Schließlich, so der Idealtypus der Argumentation unserer Autoren, habe die im 11./12. Jahrhundert sich etablierende weltliche Herrschaft der

57

58

BARBACOVI, C o n s i d e r a z i o n i ( w i e A n m . 5 4 ) , 8 f .

Hinweis von VENTURI, Settecento (wie Anm. 14), Bd. 1, 727 f. Beispiel einer entsprechend systematisierten Darstellung: Francesco V. BARBACOVI, Memorie storiche della Città e del Territorio di Trento. 2 Bde. Trento 1821/24. 59 Der beste Kurzüberblick zur Geschichte Trients in deutscher Sprache bei Marco BELLABARBA, Trient, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5. 1992, 348-351.

„Natur" und „Politik"

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Fürstbischöfe die Stadt in den Hintergrund gedrängt und eine immer stärkere Anlehnung an Tirol und das Reich mit sich gebracht. Nur Baroni in seinen Überlegungen aus den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts und Barbacovi 1810 befaßten sich auch mit dem Problem, die Tiroler Herrschaft über italienische Gebiete zu erklären. Baroni stützte sich dabei auf den tatsächlichen Ablauf der historischen Ereignisse (Herrschaft Venedigs über das südliche Etschtal und den Gardasee im 15. Jahrhundert, Eroberung dieser Gebiete für das Haus Österreich in den Venezianerkriegen Maximilians I. 1508-1516) und versuchte, mit der Konstruktion einer „spontanea dedizione" der Stadt Rovereto gegenüber dem Kaiser 1509 eine rechtliche Kontinuität zur venezianischen Zeit herzustellen.60 Barbacovi dagegen bestritt jede Zugehörigkeit der fraglichen Gebiete zu Tirol; als Besitzungen und Lehen der Kirche von Trient seien sie stets Teil des „Trentino" gewesen, wenngleich seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts in Besitz des Hauses Österreich und angeschlossen an die Verwaltung Tirols („paesi appartenenti alla Casa d'Austria, ed annessi al governo del Tirolo").61 Interessante Aufschlüsse bietet es, nach dem geographischen Umfang wie auch nach den Bezeichnungen zu fragen, die jenen Tiroler Gebieten, in denen die italienische Bevölkerung überwog, und dem Gebiet des Hochstifts Trient in der zeitgenössischen Debatte beigelegt wurden. Nachdem eine Diskussion der politischen und sprachlichen Grenzproblematik im Etschtal hier aus Raumgründen nicht geleistet werden kann, sei lediglich auf den zweiten Punkt, die terminologischen Fragen, etwas näher eingegangen. Zunächst läßt sich für die Epoche des Spätabsolutismus und der napoleonischen Zeit eine beträchtliche, übrigens auch in den Akten nachweisbare62 terminologische Unsicherheit konstatieren. Zunächst scheinen die italienischen oder französischen Äquivalente für „Südliches Tirol", später das diesem rein geographischen Begriff bewußt entgegengesetzte „Italienische Tirol" dominiert zu haben. Baroni griff 1790 sogar zur terminologischen Hilfskonstruktion des „Tirolo Italiano austriaco", um Ansprüchen wie Realitäten gleichermaßen gerecht zu werden.63 Er war offenkundig unsicher, ob er seine Heimat, das „Roveretano", als eigenständige historische Ein-

60 BCR Ms. 16.3(1), unfol.; Idea della storia (wie Anm. 34), 60-94 („Deila spontanea dedizione fatta l'anno 1509 all'Imperatore Massimiliano I. della Città, e Pretura di Roveredo, e de' Privilegj in tal'occasione ottenuti"). Vgl. Marco BELLABARBA, Rovereto in età Veneziana. Da Borgo signorile a società cittadina, in: Convegno II Trentino in età Veneziana (wie Anm. 6), 279-302, hier 279-282. 61

62

BARBACOVI, M e m o r i e ( w i e A n m . 5 8 ) , B d . 2 , 2 5 3 .

Vgl. ζ. Β. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Oesterr. Territorien 43/170, 45/184 (bayerische Übernahme Tirols 1806); BCR Fondo Moll, Atti Politici 121 (provisorische französische Verwaltung und Übergang an Italien 1809/10). 63 PEDROLLI, Todeschi (wie Anm. 34), 8.

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heit oder als Teil des „Trentino" ansehen sollte und hatte, wie andere seiner Kollegen aus der Gründungsgeneration der „Agiati", offensichtlich keine Probleme damit, sich zur „provincia ... del Tiralo" zu zählen.64 Der stärker in kulturnationalen Kategorien denkende dementino Vannetti dagegen rechnete schon 1779 Rovereto zur „provincia Trentina" und damit zu Italien.65 Ein entscheidender Wechsel vollzog sich mit der bewußt historisch-legitimierenden Wiedereinführung der Bezeichnung „Trentino" nach der Säkularisation des Hochstifts 1802/03. Hatte Gaudenz' Antonio Gaudenti 1806 den Trentiner Ignazio Sardagna noch wegen seiner Begriffsbildung „Tiralo meridionale" angegriffen und seinen Vorschlag „Tiralo Italiano" dagegengesetzt, so litt dieser darunter, daß es 1806 nicht zur erwarteten Angliederung der italienischen Gebiete an das napoleonische Königreich Italien kam, sondern daß Tirol ungeteilt an Bayern überging. In dieser Situation reagierte Sardagna rasch und brachte gegen Gaudenti das alte „Trentino" wieder ins Spiel, jetzt aber nicht mehr begrenzt auf den alten Hochstiftsbereich, sondern über Bozen hinaus nach Norden reichend und legitimiert durch Hinweise auf die Milde („dolcezza") der bischöflichen Regierung, die stets im Interesse des Landes gehandelt habe.66 Barbacovi, ebenfalls Trentiner und ehemaliger Hofkanzler, griff diese Argumente auf und erklärte 1810, die noch weithin übliche Bezeichnung „Tiralo meridionale o italiano" sei eine falsche Konstruktion der jüngeren Vergangenheit, die eine Inkorporation in das Land Tirol vorspiegele, die es in Wirklichkeit nie gegeben habe. Richtig sei vielmehr die Benennung „Trentino" oder „paese o territorio di Trento", das mit Tirol nur durch Verträge und Pakte über die gemeinsame Verteidigung verbunden gewesen sei. 67 Durch diesen Rekurs auf die tatsächlichen staatsrechtlichen Verhältnisse im alten Reich brachten Sardagna und Barbacovi einen wichtigen Legitimitätsvorsprung des früheren Hochstifts zur Geltung. Mit dieser neue Identität stiftenden Konstruktion konnte es gelingen, Tirol aus der jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte der Gebiete zwischen Bozen und Verona allmählich zu verdrängen, und in diesem Sinn wurde „Trentino" - von

6 4 „ . . . Tiralo,... una provincia, in cui io pure sono impreso" (1756 in einer Rezension für die Florentiner „Novelle Letterarie"; BCR Ms. 16. 3 (10), unfol.). In der „Idea della storia" (wie Anm. 34) schrieb er 1776 von „nostro ... picciolo Territorio", „questo picciol angolo del Tirolo" (Vili). 1766 hatte der eiste Biograph des älteren Vannetti Rovereto quasi selbstverständlich als „Città del Tirolo" bezeichnet [CHIARAMONTI, Vanetti Roveretano (wie Anm. 19), 7]. 65

CAVAZZUTI/PASINI, C a r t e g g i o ( w i e A n m . 4 2 ) , 4 3 , N r . 2 4 ( 3 1 . 1 2 .

66

BCT Ms. 1195, fol. 3, 8 f.

1779).

6 7 BARBACOVI, Considerazioni (wie Anm. 54), 4, 7 f. Vgl. die terminologischen Überlegungen bei Mauro NEQUDUTO, Ordine politico e identità territoriale: Il „Trentino" nell'età napoleonica, in: Trento, Principi e corpi. Nuove ricerche di storia regionale. Hrsg. ν. Cesare Mozzarelli. Trento 1991, 125-197, hier 125-131.

„Natur" und „Politik"

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deutscher Seite entsprechend beargwöhnt - Schlagwort und Kampfparole der italienisch-irredentistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts in Tirol.68

IV.

Es zeigt sich, daß die Diskussion der italienischen Aufklärung in Tirol in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - ausgehend von der Roveretaner „Accademia degli Agiati" und sich ausweitend auf das Gebiet von Trient - über die den Italienern zukommende kulturelle und nationale Eigenständigkeit im habsburgischen Herrschaftsverband erst im Verlauf eines langen Entwicklungsprozesses allmählich an Sprengkraft gewann. Dabei fällt auf, daß im Rahmen der Suche nach Begründungsmöglichkeiten für die eigene Zugehörigkeit zu „Italien" die Legitimität der politischen Zuordnung zu Tirol zwar immer stärker bestritten, ein Ausscheiden aus dem Länderverband der Habsburger, die ja auch über unzweifelhaft „italienische" Gebiete verfügten (Mailand, Toskana), aber nicht postuliert wurde. Die geforderte Sonderstellung hatte ihre Wurzeln vielmehr in den Gegensätzen zu den führenden oligarchischen Schichten des südalpinen deutschsprachigen Tirol, vor allem zu den Großkaufleuten der Messestadt Bozen.69 Handhabe für eine national-historisierende Zuspitzung bot erst die Aktivierung eines neuen „Trentino"-Begriffs ab 1806/10. Auffällig ist auch, daß der Begriff der „Nation" („nazione") bei diesen Vorgängen eine relativ geringe Rolle spielt. Wir begegnen ihm als Grundsatzkategorie explizit nur bei Frisinghelli 1752 und bei dementino Vannetti 1780. In seiner Anwendung umfaßte er die bekannten Kriterien des kulturellen Nationalbewußtseins des 18. Jahrhunderts: Sprache, Wesensart und Begabung der Bevölkerung, Sitten und Gebräuche sowie der Verlauf naturgegebener Grenzen seien es, die die Nationen voneinander abhöben. Es gehört zu den unstrittigen Ergebnissen der neueren Nationalismusforschung, daß „Nation" zwar ein zentraler Begriff für die „Selbstorganisation und Selbstwahrnehmung politischer Handlungseinheiten" ist, keineswegs aber von je her existierende historische Subjekte bezeichnet, sondern oft genug konstruierte oder imaginierte

68 Vgl. z. B. Michael Mayr, Die politischen Beziehungen Deutschtirols zum italienischen Landestheile. Eine geschichtlich-staatsrechtliche Studie. Innsbruck 1901, 3-9; abgeschwächt bei Hans Kramer, Die Erforschung des Trentino durch deutsche Historiker und Publizisten (seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts), in: Tiroler Heimat 27/28, 1963/64, 91-102, hier 91 f. 69 Vgl. dazu Hans H E I S S , Die ökonomische Schattenregierung Tirols. Zur Rolle des Bozner Merkantilmagistrates vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Region/Storia e regione 1/1, 1992, 66-87.

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Gebilde.70 Nach dem grundlegenden Wandel der gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsepoche um 1800 bedurfte der Staat eines neuen Instrumentariums zur Legitimierung politischer Führung und Konstituierung einer gesamtbürgerlichen Gemeinschaft und fand es im Nationenbegriff, in der Fiktion einer Kontinuität zur prämodernen Welt und in oft genug erfundenen Traditionslinien, Mythen und Symbolen. Schon vor dem angedeuteten säkularen Wandel freilich, in der Aufklärungskultur des 18. Jahrhunderts, gab es überall in Europa, sei es in literarischer, in quellenkundlicher oder ethnographischer Art, Interesse an der Erforschung und Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit. Dies blieb zunächst Sache einer relativ kleinen Gruppe und ohne konkrete politische Folgerungen. Auf besonderes Interesse stieß die Beschäftigung mit Sprache und Geschichte vor allem dort, wo der nationale Diskurs wie in Deutschland und Italien vor der Nationalstaatsbildung einsetzte. Diese üblicherweise als „Patriotismus" bezeichnete Frühform politischer Bewußtseinsbildung kannte noch keine nationale Verengung, sondern war geprägt von relativ offenen, auch mehrfach besetzbaren Loyalitätsmustern71, was freilich wiederum nicht über die Tatsache hinwegtäuschen darf, daß es zu allen geschichtlichen Zeiten in kollektiven Empfindungen verankerte politisch-kulturelle Gemeinschaften gegeben hat, die nicht unbedingt nur auf den Begriff der „Nation" zu bringen sind72. In diesem Zusammenhang verdient ein begriffliches Gegensatzpaar unsere Aufmerksamkeit, das die hier untersuchte Gruppe aufklärerischer Literaten, Juristen und Politiker anwandte, um die Dichotomie zwischen kulturell-sprachlicher und herrschaftlicher Zuordnung auszudrücken: der Gegensatz zwischen „Natur" und „Politik", zwischen der Betrachtung „in via politica" und „in via geografica e naturale" (so die 1779 erstmals gebrauchten Termini Baronis73). Für die adäquate zeitgenössische Erfassung der Lage einer zahlenmäßig bedeutenden, kulturell selbstbewußten,

70 Aus der Überfülle von neuerer Literatur zur Nationalismusproblematik kann hier lediglich hingewiesen werden auf: Reinhart KOSELLECK, Volk, Nation, Nationalismus, Masse. Einleitung, Lexikalischer Rückblick, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck. Bd. 7. Stuttgart 1992, 142-151, 380-389 (hier 142 das Zitat); Eric J. HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main 1991; Hagen SCHULZE, Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München 1994; Eric J. HoBSBAWM/Terence RANGER (Hrsg.), The Invention of Tradition. Cambridge 1983 (ND 1993), 1-14. 71 Vgl. Günter BIRTSCH (Hrsg.), Patriotismus. (Aufklärung 4, 1989, H. 2.) Hamburg 1991, 3-5. Zum ganz anders gelagerten, rein politisch konzipierten Nationsbegriff der französischen Aufklärer: Eberhard WEIS, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte,

B d . 14.) W i e s b a d e n 1956, 2 0 3 - 2 0 5 . 72 Betont in der auf dem Schlüsselbegriff der „ethnie" beruhenden Argumentation von Anthony D. SMITH, The Ethnic Origins of Nations. Oxford/Cambridge 1986. 73 B C T MS. 4 0 8 , fol. 5 3 .

„Natur" und „Politik"

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Sprache und lokalen Dialekt als Mittel der Identitätsbildung pflegenden nationalen Minderheit in einem habsburgischen Kronland, wie es die Italiener im südlichen Tirol waren, erwies es sich als besonders wichtig, auf diese Weise terminologisch zwischen temporärer politischer Herrschaftsordnung und als unwandelbar empfundenen Naturgegebenheiten differenzieren zu können. Dies Schloß die zunehmend offensiv genutzte Möglichkeit ein, es nicht bei der ideellen Rekonstruktion eines entsprechenden Spannungsfelds zu belassen, sondern beide Prinzipien in direkten Gegensatz zu bringen, indem der „Politik" vorgeworfen wurde, der „Natur" Gewalt anzutun, und die (Wieder-)Herstellung der „naturgegebenen" Ordnung zur Aufgabe einer neuen „Politik" ausgerufen wurde.74 Offensichtlich war es der europaweit veränderte, auf Strategie und Taktik der Machtstaatlichkeit sich einengende Bedeutungskontext des Begriffes „Politik" im 18. Jahrhundert, der zu Gegenentwürfen unter ideellen Leitkategorien wie Moral, Recht75 oder in unserem Fall Natur führte und damit in dem hier geschilderten Beispiel eine Debatte in Gang setzte, die noch ohne die zukunftsträchtige Idee der Nation auskam.

74 Angedeutet bei Gaudenti 1806 (BCT Ms. 522, fol. 3': „la politica fece violenza alla natura"): die Politik habe der Natur bereits ab jenem Moment Gewalt angetan, als mit den Karolingern eine nordalpine Dynastie Herrscbaftsrechte in Oberitalien übernommen habe. 75 Vgl. dazu Volker SELLIN, Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 70), Bd. 4. Stuttgart 1978, 789-874, hier 831-844.

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Die habsburgische Linie Österreich-Este 1771-1859 Das Haus Este war ein altes italienisches Adelsgeschlecht, das seinen Namen von einer Burg bei der Stadt Este in der Provinz Padua, dem alten Ateste, herleitete. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts war die Familie, die sich der gemeinsamen Abstammung mit den Weifen rühmte, im Besitz von Ferrara, Modena und Reggio. 1452 erhob Friedrich III. auf der Rückfahrt von der Kaiserkrönung in Rom den Markgrafen Borso von Este zum Herzog der Reichslehen Modena und Reggio. Die Nachfolger Borsos brachten das Herzogtum zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte. Die bedeutendsten Künstler der Renaissance fanden am estensischen Hof Aufnahme und Förderung. Die Verbindung des italienischen Geschlechts mit dem Haus Habsburg ist ein Produkt der Familienpolitik Maria Theresias, die bemüht war, den österreichischen Machteinfluß auf der Apenninenhalbinsel dauerhaft zu verankern. Durch die Stiftung einer Sekundo- und einer Tertiogenitur gelang es ihr, das Großherzogtum Toskana und das Herzogtum Modena mit der Statthalterschaft der Lombardei in das habsburgische Familiensystem einzubinden. Darüberhinaus verheiratete sie zwei Töchter nach Parma und nach Neapel-Sizilien, aus Parma hatte sie die Braut für ihren ältesten Sohn Joseph geholt. Es kam ihrer Politik entgegen, daß in der Mitte des 18. Jahrhunderts das Haus Este im männlichen Stamm auszusterben drohte und sich ihr dadurch die Möglichkeit bot, einen ihrer Söhne durch Einheirat als Nachfolger in Modena zu piazieren. Der österreichisch-estensische Heirats- und Sukzessionsvertrag von 1753 begründete eine neue Ära habsburgischer Italienpolitik. Auch wenn der neuen Nebenlinie nur eine Überlebenszeit von drei Generationen vergönnt war, so umfaßten diese neunzig Jahre doch die Zeitspanne, in der sich die großen Umwälzungen Europas von der französischen Revolution bis zur Einigung Italiens vollzogen. Im Schicksal des Hauses Österreich-Este, das durch Herrscherwillen von oben eingesetzt und durch eine Volksbewegung von unten von der politischen Bühne gefegt wurde, spiegelt sich beispielhaft die Entwicklung von Herrschertum und

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Staatlichkeit vom aufgeklärten Absolutismus bis zu den Anfängen des modernen Einheitsstaates.1 Zur Vorgeschichte der Linie Habsburg-Este gehören die territorialen Gewinne in Oberitalien, die Österreich im Frieden von Utrecht 1713 zugesprochen wurden. Die Lombardei mit der Hauptstadt Mailand wurde österreichischer Statthalterschaft unterstellt. Zum Gouverneur ernannte Maria Theresia 1754 den Herzog von Modena, Franz III. aus dem Hause Este (1698-1780). Er war schon seit seinem Aufenthalt in Wien in den 30er Jahren und seiner Teilnahme am Türkenfeldzug Franz Stephans dem Kaiserpaar freundschaftlich verbunden und konnte sogar eine weitläufige Verwandtschaft zu ihm aufweisen; war doch die Großmutter Franz Stephans, Lieselotte von der Pfalz, zugleich auch die Großmutter seiner Gemahlin, Charlotte Aglae, Tochter Philipps II. von Orléans. Nachdem sein Sohn, der unbedeutende Ercole Rinaldo, seit 1741 mit der reichen Erbin von Massa und Carrara, Prinzessin Maria Teresa von Cybo, vermählt, nur ein einziges Kind hatte, die 1750 geborene Maria Beatrix, und weitere Nachkommen der unglücklichen Ehe nicht zu erwarten waren, plante Franz III., die Zukunft seines Geschlechts durch eine familiäre Verbindung mit dem Kaiserhaus zu sichern. Auch Wien wollte sich die glänzende Partie nicht entgehen lassen, war doch das Herzogtum Modena aufgrund seiner geographischen Lage, seines Zugangs zum Tyrrhenischen Meer über Massa und Carrara und seines Reichtums für alle in Italien konkurrierenden Mächte ein begehrtes Objekt. Franz III. setzte sich über Einwände Ercoles, der seine Tochter nach Parma verheiraten wollte, hinweg, indem er seinen Sohn kurzerhand im Stadtschloß von Sassuolo gefangennehmen ließ und seine Enkelin anläßlich einer Spazierfahrt entführte, um sie in seiner Nähe in Mailand für ihre künftige Bestimmung erziehen zu lassen. Die solchermaßen herbeigeführte habsburgisch-estensische Annäherung gipfelte im Heirats- und Sukzessionsvertrag vom 3. Januar 1753. Danach sollte der für die Ehe mit der modenesischen Erbtochter ausgewählte Erzherzog - vorgesehen war der drittälteste Kaisersohn Peter Leopold - Nachfolger Franz' III. als Statthalter der

1 An grundlegender Literatur seien erwähnt: Heinrich BENEDIKT, Kaiseradler über dem Apennin. D i e Österreicher in Italien 1700 bis 1866. Wien/München 1964; Adam WANDRUSZKA, Österreich und Italien im 18. Jahrhundert. (Österreich-Archiv, Bd. 14.) Wien 1963; Silvio FURLANL/Adam WANDRUSZKA, Österreich und Italien. Ein bilaterales Geschichtsbuch. Wien/München 1973; Alfredo OMODEO, Die Erneuerung Italiens und die Geschichte Europas 1 7 0 0 - 1 9 2 0 . Zürich 1951; J . H. A. SCHARFENBERG, Geschichte des Herzogtums Modena und des Herzogtums Ferrara bis zum Jahre I S I S . Mainz 1859; Bertrand M . BUCHMANN, Militär - Diplomatie - Politik. Österreich und Europa von 1815 bis 1835. Frankfurt am Main 1991; Brigitte HAMANN (Hrsg.), Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon. 3 . Aufl. München 1988. An Quellen stand das umfangreiche biographische Material zur Verfügung, das IKH Gundelinde Gräfin Preysing, geb. Prinzessin von Bayern über alle Mitglieder des Hauses Habsburg-Este zusammengetragen hat. (Nachlaß Gundelinde im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Abt. III. Geheimes Hausarchiv).

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Lombardei werden. Noch bevor die habsburgisch-modenesische Heirat Wirklichkeit wurde, verschob sich durch den Tod Erzherzog Karls 1761 die Reihenfolge der Versorgungsansprüche der Söhne Maria Theresias. Peter Leopold wurde anstelle Karls Großherzog von Toskana. In die Anwartschaft auf das Gouvernement der Lombardei wie auf die Hand der modenesischen Erbtochter rückte der jüngere Ferdinand nach. Erst nach dem Vertragswerk, 1754 geboren, war er zum Zeitpunkt seiner Verlobung sieben Jahre alt; ein unbeschwertes, ausgelassenes Kind, das zum Kummer seiner Mutter wenig Neigung zu ernsthafter Beschäftigung zeigte. In zahllosen Briefen bereitete die besorgte Kaiserin ihren Sohn auf die Verantwortung vor, die ihn in Italien erwartete. Um so dankbarer nahm sie zur Kenntnis, daß ihre künftige Schwiegertochter klug, gelehrig und von ernsthaftem Charakter war. Mit mütterlicher Fürsorge kümmerte sie sich um die Erziehung der jungen Braut, mit der sie 1765 einen regen Briefwechsel begann.2 Die Eheschließung des 17jährigen Ferdinand mit der 21jährigen Maria Beatrix, die am 15. Oktober 1771 in Mailand vollzogen wurde, begründete de facto die habsburgische Tertiogenitur in Italien. In nur drei Epochen, der Statthalterschaft Ferdinands und den Regierungszeiten seiner Nachfolger Franz IV. und Franz V. von Modena, vollendete sich die Geschichte dieses neuen dynastischen Zweiges. Die Etablierung Ferdinands stand auf soliden Grundlagen. Abgesehen von der sicheren Pfründe der Statthalterschaft hatte Joseph II. bereits die Genehmigung des Reichstages zu Regensburg zur Eventualinvestitur seines Bruders als Erbe des Herzogtums Modena erlangt, wonach nach dem Ableben Franz' III. und Ercole Rinaldos die Herzogswürde auf ihn und seine männlichen Nachkommen übergehen würde. Ferdinand mußte sich zu keinem Zeitpunkt um seine Versorgung kümmern, er konnte sich gänzlich seinen Interessen und Vorlieben hingeben, die den schönen Künsten gehörten, wie schon eine Episode von den Hochzeitsfeierlichkeiten überliefert. Im Rahmen der musikalischen Darbietungen, die die Mailänder Hochzeit begleiteten, brachte der 15jährige Wolfgang Amadeus Mozart im Mailänder Teatro Ducale ein frühes Singspiel „Ascanio in Alba" zur Aufführung, für das er in nur zwölf Tagen die Musik komponiert hatte. Ferdinand war von dem gleichaltrigen Mozart so begeistert, daß er ihn spontan in seinen Hofstaat aufnehmen wollte. Sein Wunsch scheiterte an den energischen Einwänden Maria Theresias, die Komponisten

2 Die Briefe Maria Theresias an ihren Sohn Ferdinand und ihre Schwiegertochter Maria Beatrix bei Alfred Ritter v. ARNETH (Hrsg.), Briefe der Kaiserin Maria Theresia an ihre Kinder und Freunde. Bd. 2, Tl. I und Bd. 3, Tl. V. Wien 1881.

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für „unnütze Leute" hielt, die „in der Welt herumschwärmen wie Bettler"3. Ferdinand beugte sich zwar dem Veto seiner Mutter, doch lagen später seine Leistungen hauptsächlich und fast ausschließlich in der Förderung von Kunst und Kultur. In finanziellen Angelegenheiten geschickt und den leichten, angenehmen Seiten des Lebens zugeneigt, lockerte er die strenge spanische Hofetikette und trug dem Mailänder Hof mehr denn je den Ruf ein, fortschrittlich, liberal und kunstsinnig zu sein. Er entfaltete eine reiche Bautätigkeit. Zunächst entstand in Mailand ein Stadtpalais für das junge erzherzogliche Paar, in das es nach wenigen Jahren aus dem feuchten und unwohnlichen Palazzo Clerici, der „Spelunke", wie Maria Theresia ihn nannte, umziehen konnte. In Monza ließ Ferdinand durch den Architekten Giuseppe Piermarini nach dem Vorbild von Schönbrunn eine prachtvolle Sommerresidenz für seine Familie erbauen mit dem ersten englischen Garten Italiens. Als 1776 das Mailänder Hoftheater niederbrannte, errichtete er im Zentrum der Stadt eine neue, leistungsfähige Opembühne, das „Teatro della Scala", das 3500 Zuschauern Platz bot.4 Maria Theresia, die jeden Schritt ihres Sohnes überwachen ließ, beobachtete mit Argwohn und Besorgnis das leichte, unbeschwerte Treiben in Mailand. Sie ließ bis zu ihrem Tod nicht nach, Ferdinand an seine staatsmännischen und religiösen Pflichten zu erinnern und ihn vor den unheilvollen Folgen eines leichtsinnigen Lebenswandels zu warnen. Doch Ferdinand war nicht der Mann, der die Zeichen der Zeit erkannt hätte, die sich zwar nicht so dramatisch wie in den Österreichischen Niederlanden, in Ungarn oder gar wie in Frankreich bemerkbar machten, aber langsam und unaufhaltsam auch in den intellektuellen Kreisen Oberitaliens in der Entstehung vaterländischer Gesellschaften an Boden gewannen. Ferdinand wurde mehr und mehr zur Zielscheibe ihrer Kritik, obwohl seine politischen Einflußmöglichkeiten während der gesamten Mailänder Zeit äußerst beschränkt waren. Schon sein Schwiegergroßvater Franz ΙΠ. hatte sich mit reinen Repräsentationsaufgaben begnügt und die Regierungsgeschäfte dem bevollmächtigten Minister des Wiener Hofes, seit 1759 Graf Carl Firmian, überlassen. Die politische Abstinenz seiner Statthalter geriet dem Land jedoch nicht zum Schaden. Die Lombardei war - nicht zuletzt dank der langen Friedensperiode - ein blühendes Gemeinwesen, das seinesgleichen in Europa suchte. Unter der klugen, behutsamen Führung Maria Theresias und ihres Staatskanzlers Kaunitz war es gelungen, die einheimische Elite politisch-ökonomischer Gelehrter

3

A r n e t h , Briefe (wie Anm. 2), Bd. 2, Tl. I, 93. Zu Ferdinand s. besonders Charlotte PANGELS, Die Kinder Maria Theresias. Leben und Schicksal in kaiserlichem Glanz. München 1980, 494 ff. 4

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und Reformer für eine weitgehend selbständige Verwaltung zu gewinnen. Der junge Mailänder Reformer Pietro Verri überzeugte nach mühsamen Anläufen den Wiener Hof davon, daß in der Lombardei wie bereits zuvor in der Toskana das System der Generalpacht, der Verpachtung aller Steuereinnahmen und Binnenzölle an private Unternehmer, abgeschafft und die Steuererhebung und -Verwaltung in staatliche Eigenregie überführt werden müßte. Diese Maßnahme zog eine Umorganisation der gesamten lombardischen Staatsverwaltung nach sich, die in Zusammenarbeit von Kaunitz und dem der Staatskanzlei unterstellten „Dipartimento d'Italia" einerseits und Firmian und den lombardischen Reformern in Mailand andererseits verwirklicht wurde. 1771 wurde das Estensische Gesetzbuch herausgebracht, die letzten Spuren des Feudalsystems wurden beseitigt und Neuerungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, in der Verwaltung, der Justiz und im Erziehungswesen eingeführt. 1778 wurde die mit hohen Kosten erbaute Bergstraße von Pistoia über Modena nach Mantua vollendet, eine bedeutende Handelsverbindung zwischen der Lombardei und der Toskana. Die Entfaltung von Handel und Gewerbe bescherte dem Land ungeahnten Wohlstand. Auf diesem Boden gediehen reges Geistesleben, Kunst und Wissenschaft. Die Universität von Pavia wurde zu neuem Leben erweckt und mit den bedeutendsten Gelehrten aus ganz Europa ausgestattet. Nach dem Tod der Kaiserin 1780 und des Ministers Firmian 1782 wurde der Spielraum Ferdinands, der 1780 von Franz III. die Statthalterschaft übernommen hatte, nicht größer. Nun riß sein Bruder, Kaiser Joseph II., im Zuge seiner Zentralisierungs- und Vereinheitlichungspolitik die Zügel an sich. Er begrenzte Ferdinands Vollmachten und ließ ihn noch strenger kontrollieren. Er beendete auch die Ära der aristokratischen Führungselite der Lombardei, indem er neu emporgedienten Karrierebeamten, die nur ihm und dem Staat verpflichtet waren, den Vorzug gab. Die 1786, nach wiederholten Reisen Josephs nach Oberitalien, begonnenen Reformen zielten auf die vollständige Gleichschaltung der Lombardei mit den übrigen habsburgischen Ländern ab. Dieser Vereinheitlichung fielen die jahrhundertealten Institutionen der Regierung und Selbstverwaltung zum Opfer, die von den theresianischen Reformen nicht beseitigt, sondern nur ausgehöhlt worden waren. Unter Joseph II. fanden der völlige Umbau der Verwaltungsbehörden und die Einführung der dreizügigen Gerichtsverfassung statt, die territoriale Neugliederung der alten staatlichen Einheiten in Provinzen und die Aufhebung von Klöstern und Bruderschaften. In der kurzen Zeit seines Kaisertums ging Leopold II. stärker als Joseph auf die Wünsche und Bedürfnisse der Lombardei ein. Noch bevor er den Thron übernahm, forderte er seinen Bruder Ferdinand auf, eine Denkschrift über alle jüngsten Veränderungen in seinem Land zu verfassen, besonders über diejenigen, die in der

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Bevölkerung auf Ablehnung gestoßen waren, und Besserungsvorschläge zu unterbreiten. Leopold lockerte den josephinischen Behördenzentralismus und bot sogar die Schaffung einer Volksvertretung an, hielt aber gleichzeitig an bewährten Reformmaßnahmen seines Vorgängers fest. Seine ausgleichenden und zukunftsweisenden Bemühungen blieben wegen seines frühen Todes und des Kriegsausbruchs mit Frankreich unvollendet. Daß die politischen Einflußmöglichkeiten Erzherzog Ferdinands nicht nur unter Maria Theresia und Joseph II., sondern auch noch unter Kaiser Leopold äußerst gering waren, lag sicher auch an dessen mangelnder Wertschätzung. Leopold, bekannt für seine oftmals bissig sarkastische Berichterstattung über die Verhältnisse in Italien, hatte sich schon längst über seinen Bruder, Statthalter der Lombardei, ein vernichtendes Urteil gebildet: „Ferdinand in Mailand ist ein sehr schwacher Mann, von wenig Verstand und geringem Talent, aber der von sich eine sehr hohe Meinung hat, ein Wirr- und Querkopf ... Falsch, wenig wahrheitsliebend, ein großer Schwätzer, hat er sich verhaßt und lächerlich gemacht. Er möchte sich immer in alles einmischen, hat ein schlechtes Benehmen, seine Frau beherrscht ihn völlig."5 Auch wenn dieser „Stato della famiglia" Leopolds sicher stark überzeichnet und von persönlichen Ressentiments überlagert ist, ein Körnchen Wahrheit enthielt er ohne Zweifel. Ferdinand war sicherlich der unbedeutendste der Söhne Maria Theresias. Daß seine überaus ehrgeizige, gebildete und ihm überlegene Gemahlin großen Einfluß auf ihn hatte, war allgemein bekannt. Aber vielen Befürchtungen zum Trotz wurde ihre Ehe glücklicher, als dies bei politisch verabredeten Heiraten zu erwarten war. Dem Wunsche Maria Theresias gemäß sorgten sie für gesicherte Kontinuität. Neun Kinder, von denen nur zwei jung starben, entstammten der Verbindung. Ihre Erziehung erfolgte nach den strengen Anweisungen der Kaiserin, die ein wachsames Auge auf das Mailänder Familienleben hatte und auch die Erzieherin der Kinder, die Aja, aussuchte und mit Instruktionen versah. Sie legte größten Wert auf eine religiöse, sittliche Prägung und auf eine der künftigen Bestimmung der jungen Erzherzöge entsprechende „deutsche Erziehung". Die beiden ältesten Töchter, 1773 und 1776 geboren, wurden früh verheiratet; die erstgeborene Maria Theresia im Alter von 16 Jahren mit dem späteren König Viktor Emanuel I. von Sardinien, die jüngere Maria Leopoldine mit 18 Jahren gegen ihren Willen mit dem greisen bayerischen Kurfürsten Karl Theodor. Von den vier Söhnen sollte der älteste, Franz, die Nachfolge seines Vaters übernehmen; der zweite, Ferdinand, machte Karriere im österreichischen Militärwesen und wurde später Zivil- und Militärgouverneur in Galizien; der dritte, Maximilian, schlug die geistli-

5

Adam WANDRUSZKA, Leopold II. 2 Bde. Wien/München 1963, hier Bd. 1, 338, 353.

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che Laufbahn ein und wurde „Hoch- und Deutschmeister des deutschen Ritterordens". Seine vielfältigen Begabungen sicherten ihm aber auch in anderen Bereichen dauerhaftes Andenken, so ζ. B. durch den Bau der „Maximilian'schen Türme" als Festungs- und Verteidigungsanlagen an strategisch wichtigen Plätzen, von denen er in Linz ein Modell auf eigene Kosten realisierte. Der kränkliche Karl Ambrosius, seit 1808 Erzbischof von Gran und Fürstprimas von Ungarn, starb in jungen Jahren an Typhus. Den höchsten Rang erreichte die jüngste Tochter des erzherzoglichen Paares, die 1787 geborene Maria Ludovica, die 1808 ihren zweimal verwitweten Cousin Franz heiratete und österreichische Kaiserin wurde. Maria Ludovica bewies reges geistiges und literarisches Interesse. Zweimal traf sie mit Goethe zusammen, der sich von ihrer Persönlichkeit und ihrem Urteil beeindruckt zeigte und sie mit der deutschen Literatur vertraut machte. Maria Ludovica war auch politisch engagiert; sie mischte sich in Staatsgeschäfte ein und machte aus ihrer Gegnerschaft zu Napoleon keinen Hehl. Die erzwungene Heirat ihrer Lieblingsstieftochter Marie Louise, die sie eigentlich mit ihrem Bruder Franz verheiraten wollte, mit dem Franzosenkaiser konnte sie nie verwinden. Ihre eigene Ehe blieb kinderlos, gleichwohl kümmerte sie sich rührend um die Erziehung ihrer Stiefkinder. Sie starb, schon früh an Tuberkulose erkrankt, mit 29 Jahren in Verona. Das vorbildliche Familienleben am Mailänder Hof legte den Grundstein für einen ungewöhnlich starken Familiensinn der habsburg-estensischen Linie. Die Mailänder Geschwister, alle wohlgeraten, tüchtig, erfolgreich und von ausgeprägtem Gemeinsinn, pflegten zeitlebens einen engen familiären Kontakt, veranstalteten regelmäßig Familientreffen und unterstützten sich gegenseitig in schwierigen Lebenssituationen. Als zu Beginn der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts in Frankreich die hergebrachte Staats- und Gesellschaftsordnung durch die große französische Revolution erschüttert wurde, fühlte sich die Mailänder Familie persönlich betroffen, war doch die unglückliche Marie Antoinette eine Schwester Erzherzog Ferdinands. Ihr Schicksal begründete bei fast allen Familienmitgliedern eine grundsätzliche Ablehnung alles Französischen. Der um sich greifenden revolutionären Bewegung und ihrem Eindringen in den norditalienischen Raum stand Ferdinand wie auch die anderen italienischen Fürsten hilflos gegenüber. Moralisch und immer mehr auch militärisch fühlten sie sich von den Auswirkungen des Aufruhrs in Frankreich bedrängt. 1792 brach der Krieg zwischen Österreich und Frankreich aus. Als die französische Republik 1794 Revolutionstruppen in die Lombardei entsandte, mußte Ferdinand gegen seinen Willen das Kommando über die italienische Armee übernehmen. Seine Versuche, eine Koalition der italienischen Staaten gegen Frankreich zustandezubringen, blieben vergebens. Auch in Wien fand er nicht die gewünschte Unterstützung. Der Kaiser lehnte alle Bitten um Truppenverstärkung ab. Als Napoleon 1796 selbst

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den Oberbefehl in Italien übernahm und die Österreicher in den zwei Schlachten von Montenotte und Millesimo schlug, sah Ferdinand den einzigen Ausweg für sich und seine Familie in der Flucht. Wenige Tage nachdem er Mailand verlassen hatte, zog Napoleon in die Hauptstadt der Lombardei ein. Wie in anderen Städten ließ er in Mailand Freiheitsbäume pflanzen und nach französischem Vorbild die Trikolore, geändert in die Farben grün-weiß-rot, hissen. 1797 wurde die neugeschaffene Cisalpinische Republik ausgerufen, die die Lombardei mit Modena, Ferrara, Reggio und Bologna vereinte. 1805 gründete Napoleon das Königreich Italien und setzte seinen Stiefsohn Eugène Beauharnais als Vizekönig ein. Während der französischen Fremdherrschaft begannen die Anhänger der italienischen Freiheitsbewegung, des Risorgimento, sich offener und ungehemmter zu artikulieren. Ihre Kritik richtete sich aber nicht nur gegen das harte napoleonische Regime, sondern vor allem gegen Erzherzog Ferdinand, der in ihren Augen das Leben eines unbekümmerten Bonvivant geführt und dabei die Erfordernisse der Zeit und die Sorgen seiner Untertanen nicht erkannt hatte und den sie nun für ihr unglückliches Schicksal verantwortlich machten. Diese Entrüstung des Volkes erreichte Ferdinand nicht mehr. Nachdem er mit fünf mindeijährigen Kindern - die beiden ältesten Töchter waren schon verheiratet - über Triest und Venedig ins Exil nach Wien gegangen war, richtete er sich bei den habsburgischen Verwandten für eine längere Verweildauer ein. Dank des Vermögens seiner Gemahlin litt die Familie keine Not. Noch vor seinem Tod, 1803, überließ der nach Venedig geflohene Herzog Ercole Rinaldo, dem im Frieden von Campo Formio als Entschädigung für Modena der Breisgau und die Ortenau am Oberrhein in Aussicht gestellt worden waren, die Verwaltung dieser Ländereien seinem Schwiegersohn Ferdinand als Ausgleich für den Verlust der Statthalterschaft. Doch gingen im Frieden von Preßburg 1805 diese Ansprüche schon wieder verloren. Die Versicherung Napoleons, sich für einen anderweitigen Ersatz zu verwenden, wurde nicht eingelöst. Erzherzog Ferdinand verstarb schon im Alter von 52 Jahren am Weihnachtsabend des Jahres 1806. Er wurde in der Kapuzinergruft beigesetzt. Bis sein ältester Sohn die Nachfolge antreten konnte, vergingen noch acht Jahre, in denen Franz sich unter die Gegner des Franzosenkaisers einreihte. Im Feldzug Österreichs 1809 gegen Napoleon stand er mit seinem Bruder Ferdinand bei der Armee in Galizien. 1810 versuchte er - unter Mißachtung der Metternichschen Politik - , die französische Herrschaft vom Balkan aus zu erschüttern. Danach verlagerte er seine Aktivitäten nach Italien. Auf dem Wiener Kongreß wurden ihm die Herzogtümer Modena, Reggio und Mirandola in vollem Eigentum und Souveränität zugesprochen. Die Lombardei wurde mit Venetien zu einem einheitlichen

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österreichischen Vizekönigreich zusammengefaßt. Noch bevor er die Herzogswürde übernahm, heiratete er 1812 die Tochter seiner ältesten Schwester, seine Nichte Maria Beatrix von Sardinien. Da deren Vater, Viktor Emanuel I., keinen Sohn hatte und auch sein Bruder kinderlos war, rechnete sich Franz Aussichten aus, sein Herzogtum Modena einst mit dem Königreich Sardinien vereinen zu können. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Die Nachfolge in Sardinien fiel 1831 an Karl Albert von der jüngeren Linie Savoyen-Carignan. Auch andere politische Projekte schlugen fehl. Franz IV. kooperierte jahrelang in nicht ganz durchschaubarer Weise mit revolutionär-liberalen Verschwörergruppen, die über internationale Verbindungen, vor allem nach Frankreich, verfügten. Welche Politik er damit verfolgte, ist nie ganz klar geworden. Einerseits hatte er ein Interesse daran, bei einem drohenden Zusammenstoß zwischen Österreichern und Franzosen in Italien Rückhalt an den national-liberalen Kräften der Carbonari zu finden, andererseits rechnete er sich mittels der immer mächtiger werdenden Untergrundbewegung Chancen aus, benachbarte Gebiete zu gewinnen, um womöglich auf diesem Wege ein italienisches Königreich zu bilden. Er sah jedoch seine Hoffnungen schwinden, als die Julirevolution in Frankreich auch für die italienischen Aufrührer, die sich der Unterstützung der Regierung Louis-Philippes sicher waren, das Signal zur Erhebung setzte. Er versuchte noch, den von seinem früheren Vertrauten Ciro Menotti geplanten Aufstand im Keim zu ersticken, doch konnte er nicht verhindern, daß am 4. Februar 1831 in Modena die Revolution ausbrach. Er mußte fliehen und konnte nur mit Hilfe österreichischer Truppen in sein Herzogtum zurückkehren, wo er an den Verschwörern grausame Rache nahm und Menotti und seine Komplizen hinrichten ließ. Nachdem alle seine Expansionspläne gescheitert waren, blieb Franz IV. auf sein Herzogtum beschränkt, dem er 1829 nach dem Tod seiner Mutter die Herzogtümer Massa und Carrara hinzufügen konnte. Sein Sohn Franz V. ergänzte später das Modenesische Herrschaftsgebiet noch durch das Herzogtum Guastalla, das er 1847 nach dem Ableben der Herzogin Marie Louise von Parma erwarb. Innenpolitisch regierte Franz IV., der ganz nach den Idealen des absolutistischen Fürstentums erzogen worden war, als absoluter Despot. Er war zwar persönlich großzügig und ernsthaft um das Wohl seiner Untertanen besorgt, unterdrückte andererseits jedoch alle liberalen und demokratischen Bewegungen mit Hilfe eines aufgeblähten Polizeiapparates. Seine erste Regierungsmaßnahme in Modena war die Ersetzung des Code Napoléon durch das ältere Estensische Gesetzbuch. Während er die Verwaltung straff und autoritär führte, unterstützte und förderte er gleichzeitig die Landwirtschaft und hatte entsprechend starken Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung. Er bemühte sich um soziale Reformen und rief die Jesuiten ins Land zurück, die er mit Bildungsaufgaben betraute. Franz IV. wird von Zeitgenossen

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beschrieben als tatkräftiger, energischer Fürst mit durchaus empfindsamem, feinfühlendem Charakter. Die oft kritisierte Härte seines Regimes, die Verfolgung von Aufrührern, die in mehreren Hinrichtungen gipfelte, wird gerne mit den „stolzen Ratschlägen" seiner charakterstarken, unnachgiebigen und streng konservativen Gemahlin begründet. Nach ihrem Tod soll er, von Gewissensbissen gequält, milder und wohltätiger geworden sein. Trotz der nahen Verwandtschaft zu seiner Frau entsprossen der glücklichen Ehe vier gesunde Kinder. Die älteste Tochter, Maria Theresia, heiratete den französischen Thronprätendenten Herzog Heinrich von Bordeaux, Graf von Chambord, den nachgeborenen Sohn des 1820 ermordeten Herzogs von Berry. Das kinderlose Paar lebte zeitlebens im Exil in Österreich und Venedig und verzichtete 1871 auf die Möglichkeit, die Bourbonen-Monarchie in Frankreich zu restituieren. Für den 1819 geborenen Erbprinzen Franz übernahm der Kaiser, der seinen modenesischen Verwandten stets sehr gewogen war, die Patenschaft. Auf Franz folgte Ferdinand, der eine militärische Karriere anstrebte und es in seinem kurzen Leben zum Feldmarschalleutnant brachte. Seine einzige Tochter, Marie Therese, sollte 1868 den bayerischen Prinzen Ludwig heiraten und 1913 die letzte bayerische Königin werden. Sie brachte in ihre Ehe nicht nur Anrechte auf das estensische Erbe ein, sondern auch auf die englische Thronfolge. Dieser Anspruch rührte von dem Stuart Karl I. her, geriet in weiblicher Erbfolge über die Bourbonen an die Könige von Sardinien, die ihn über die älteste Tochter Viktor Emanuels an die Linie ModenaEste weitergaben. Da der älteste Sohn Franz' IV. kinderlos war, fiel das Anrecht auf die Nachkommen des zweitgeborenen Ferdinand. Von dem großen estensischen Vermögen erhielt Marie Therese nur die Güter Eywanowitz in Mähren und Sarvar in Ungarn. Von der übrigen Erbschaft wurde sie ausgeschlossen, als sie sich weigerte, den alten Großherzog Ferdinand von Toskana zu heiraten. Das vierte und letzte Kind Franz' IV. war Marie Beatrix. Sie heiratete 1847 Don Juan de Bourbon et Bragança, den Sohn des spanischen Thronprätendenten aus der karlistischen Linie. Die Ehe der sittenstrengen und religiösen Marie Beatrix scheiterte nach der Geburt von zwei Söhnen. Als ihre Kinder erwachsen waren, zog sie sich in ein Karmeliterkloster in Görz zurück. Herzog Franz IV. starb 1846 in Modena, wo er in der Kirche San Vincenzo bestattet wurde.6 Sein Sohn, der letzte Herzog von Modena aus dem Hause Habsburg-Este, übernahm das Erbe in schwieriger Zeit. Er war bei seinem Regierungsantritt noch

6 Zu den Herzögen Franz IV. und Franz V. von Modena s. Margarete KITTEL, Geschichte des Herzogtums Modena 1815-1848. Diss. phíl. Wien 1940.

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gänzlich unerfahren und dem Einfluß der konservativen Machtorgane des Herzogtums ausgeliefert, gleichzeitig waren die italienischen Patrioten unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Wie schon sein Vater mußte er immer wieder österreichische Militärhilfe ins Land holen gegen aufrührerische Umtriebe, derer er kaum mehr Herr wurde. Im Februar 1848 Schloß er ein Schutzbündnis mit dem Kaiser, das er unverzüglich in Anspruch nahm, als er im März des Jahres wegen wachsender Unruhen sein Herzogtum für einige Monate verlassen mußte. Während seiner Abwesenheit wurde er des Thrones für verlustig erklärt, seine Güter beschlagnahmt und der Anschluß Modenas an das Königreich Sardinien proklamiert. Die Truppen Radetzkys verhalfen ihm im August noch einmal zur Rückkehr und zur Restituierung seiner Herrschaft. Die österreichischen Militärkontingente blieben fortan ein Dauergast in dem kleinen modenesischen Staat. Alle Versuche Franz' V., mit seinen Gegnern ein gütliches Übereinkommen zu treffen, Angebote einer Amnestie und anderer Konzessionen schlugen fehl. Im November des Revolutionsjahres 1848 entkam er nur knapp einem Attentat. In den folgenden elf Jahren bemühte sich Franz verzweifelt, durch demokratische Reformen die Lage zu entspannen. Er entwaffnete die Nationalgarde und setzte vier Ministerien ein. Er kümmerte sich persönlich um die Erziehungs- und Wohlfahrtseinrichtungen seines Herzogtums, die als vorbildlich galten. Er gab sich betont volkstümlich, war für jeden seiner Untertanen zu sprechen und lebte selbst bescheiden und anspruchslos. Trotzdem hatte er eine weniger „gute Presse" und war weniger populär als sein streng regierender Vater. Auch scheint er einen eher unangenehmen Charakter gehabt zu haben, der mit der Zeit sogar seine Ehe belastete. Er war seit 1842 mit der bayerischen Prinzessin Adelgunde, Tochter Ludwigs I., verheiratet. Die Ehe blieb nach dem frühen Tod der einzigen Tochter kinderlos. Der Krieg zwischen Österreich und Sardinien-Piemont, 1859, und die Niederlage der Österreicher in der Schlacht von Magenta, die revolutionäre Aufstände in den Herzogtümern provozierte, beendete die Herrschaft Franz' V. und des Hauses Habsburg-Este in Oberitalien. Franz verließ mit seiner Gemahlin Modena und ging, wie schon sein Großvater, ins Exil nach Wien. Seine Länder gingen im vereinten Königreich Italien auf. Franz lebte bis zu seinem Tod 1875 in Wien. Die wertvollen Estensischen Kunstsammlungen hatte er dorthin mitgenommen, die Münzen, Medaillen und Waffen, Bilder, Handschriften, antike Skulpturen, Bibliotheken und Archive umfaßten sowie die bedeutende Sammlung des Marchese Obizzi, der in der Zeit der französischen Fremdherrschaft Kunstwerke des Mittelalters und der Renaissance

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günstig erworben und sie 1803 dem Herzog von Modena vererbt hatte.7 Nach und nach gingen diese Schätze in staatlichen Besitz über. Das Archiv der Familie wurde aufgeteilt. Der Hauptteil blieb im kaiserlichen Archiv in Wien, wobei die Familienkorrespondenz auf Wunsch Franz' V. großenteils verbrannt wurde. Teile der Regierungsakten gelangten nach dem Ersten Weltkrieg zurück nach Modena, Mailand und Ferrara. Mit Franz V. erlosch das Haus Österreich-Este im männlichen Stamm. Zum Erben seiner Güter und seines Vermögens hatte er Erzherzog Franz Ferdinand bestimmt. Nach dessen Ermordung ging der Titel Österreich-Este auf den neuen Thronfolger Erzherzog Karl, den späteren Kaiser, über, der ihn 1917 auf seinen zweiten Sohn, Robert, übertrug. Die Nachkommen Franz Ferdinands verloren in den beiden Weltkriegen das reiche Privatvermögen und allen estensischen Besitz. Das Modena-Palais in Wien mit dem prachtvollen großen Park an der Beatrixgasse, das Maria Beatrix von 1812 an errichten ließ, wurde verkauft, abgebrochen und der Grund parzelliert. Nur die Witwe Franz' V. rettete die Erinnerung an das Haus Habsburg-Este ins 20. Jahrhundert hinüber. Als „Tante Modena" kehrte sie in ihren letzten Lebensjahrzehnten in die bayerische Königsfamilie zurück. Eine besonders innige Beziehung verband sie mit ihrem Bruder, Prinzregent Luitpold, an dessen Seite sie nach 1886 eine einflußreiche Rolle in den konservativ-kirchlichen Kreisen des bayerischen Hofes und als Mittlerin zum Wiener Kaiserhaus spielte. Ihr bleibendes Verdienst aber ist, die Geschichte und die Geschichten des herzoglichen Hauses Modena-Este, die sie aus eigenem Erleben und aus der mündlichen Überlieferung Älterer aus Italien mitgebracht hatte, vor dem Vergessen bewahrt zu haben, indem sie sie späteren Generationen anvertraute. So pflegten ihre wittelsbachischen Verwandten noch lange das Andenken an diese „einst so bedeutende, kunstsinnige wie reiche und mächtige Familie" Este, wenngleich es niemanden mehr gab, „der berechtigt diesen Namen trägt, der diesem Zerfall und diesem Vergessen Einhalt zu bieten vermöchte"».

7 8

Leo PLANISCIG, Die Estensischen Kunstsammlungen. Wien 1919. NachlaB Gundelinde (wie Anm. 1), Nr. 164, 14.

Walter Demel Von den Notabein von 1787/88 zu den Großnotabein des Bürgerkönigtums Ein Beitrag zur Frage der Elitentransformation in Frankreich zwischen Ancien Régime und Julimonarchie1

Der Zwist im Hause Mirabeau Brüder behandeln sich nicht immer pfleglich. Das galt auch im Hause Mirabeau. Eines Tages bemühte sich der wegen seiner Leibesfülle Mirabeau-Tonneau genannte Vicomte sogar, seinen berühmten Bruder mit Gewalt von der Rednertribüne der Nationalversammlung zu vertreiben.2 Der Konflikt der beiden Brüder war nicht zuletzt politisch bedingt. Der ältere Gabriel-Honoré war schon bei der Eröffnung der Provinzialversammlung der Provence demonstrativ zwischen den Abgeordneten des Adels und jenen des Tiers einmarschiert, hatte anschließend an der Redaktion des Adelscahiers teilgenommen, sich jedoch letzten Endes - als einer von insgesamt 27 Adeligen - vom Tiers in die Generalstände wählen lassen.3 Sein jüngerer Bruder dagegen blieb - als einziger - selbst dann noch im Saal der Adelskammer, als

1 Dieser Beitrag geht ursprünglich auf einen Münchner Habilitationsvortrag aus dem Jahre 1988 zurück, der sich seinerseits Anregungen verdankt, die der Verf. während seiner Assistentenzeit von dem Jubilar erhalten hat. Für Hinweise dankt er darüber hinaus Heinz-Gerhard Haupt (jetzt Halle), Wolfgang Mager (Bielefeld) und Eberhard Schmitt (Bamberg). 2 3

Jacques GODECHOT, La Contre-Révolution. Doctrine et action, 1789-1804. Paris 1961, 35.

Guy C h a u s s m a n d - N o g a r e t , Mirabeau. Paris 1982, 119 f., vgl. 131 ff. Auf die massive Propaganda, nur roturiers zu Vertretern des Tiers zu wählen, verweist Rolf R e i c h a r d t , Die revolutionäre Wirkung der Reform der Provinzialverwaltung in Frankreich 1787-1791, in: Vom Ancien Régime zur Französischen Revolution. Forschungen und Perspektiven. Hrsg. v. Ernst Hinrichs/Eberhard Schmitt/Rudolf Vierhaus. Göttingen 1978, 66-124, hier 101 f., um jedoch sofort das „Bündnis zwischen Drittem Stand und liberalem Adel" anzusprechen, das „für die Revolution so entscheidend sein sollte" (ebd., 103). Wenn 1614 von nur 187 Abgeordneten des Tiers sogar mindestens 31 aus dem Adel stammten (Pierre GOUBERT, L'Ancien Régime. 2 Bde. Paris 1969/73, hier Bd. 2, 66), erscheint dies dagegen viel eher als Ausdruck der „déférence".

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Ludwig X V I . , resignierend, den privilegierten Ständen den Befehl zum Zusammenschluß mit dem Tiers erteilt hatte. 4 Schlaglichtartig werden an diesem Zwist im Hause Mirabeau 5 , zwischen dem „Volkstribun" und dem „Reaktionär", die beiden Pole adeligen Verhaltens gegenüber dem Dritten Stand deutlich: Abgrenzung, Distanz aus einem Gefühl adeliger Superiorität und Exklusivität heraus oder aber Zusammenschluß, vielleicht sogar Gleichheit - jedenfalls zwischen den Wohlhabenden und Gebildeten. Ständegesellschaft oder Notabeingesellschaft - das war hier die Frage.

Der Begriff „ Notables "

Der Begriff der „Notables" erscheint als allgemeine Bezeichnung für - vornehmlich kommunale - Repräsentanten bereits im 15. Jahrhundert und wurde 1695 im Dictionnaire der Académie Française, wie folgt, definiert: „les principaux et plus considerables d'une ville, d'une Province, d'un Etat". 6 Zwei Elemente sind damit von vornherein für den Begriff charakteristisch: 1. ist er ständeübergreifend, denn seine Kriterien zielen auf Autorität und Sozialprestige, nicht auf Herkunft und Geburt 7 , und 2. ist er hierarchisch strukturiert, denn wer in einer Kleinstadt von Einfluß war, mußte es nicht auf der Ebene seiner Provinz oder gar auf der

4 Jacques de SAINT-VICTOR, La chute des aristocrates 1787-1792. La naissance de la droite. Paris 1992, 90, 92. Zur Minderheit der Adeligen, die diesen Schritt schon zuvor vollzogen hatten, gehörte auch der Herzog von Orléans. Jean EGRET, La Révolution des Notables. Mounier et les Monarchiens 1789. Paris 1950 (2. Aufl. 1989), 77 f. Nach REICHARDT, Wirkung (wie Anm. 3), 73 f., existierten doublement und vote par tête unterhalb der nationalen Ebene häufiger und z. T. schon seit längerer Zeit. 5 Nach dem Protokoll einer wahrscheinlich fiktiven Versammlung „tenue dans la plaine des Sablons, ce 15 juin 1789" hätte die Gräfin Mirabeau - zusammen mit der Gräfin Buffon und M"* Le Brun - gegen die Teilnahme ihrer Ehegatten an dieser Zusammenkunft, die u. a. eine Manifestation zugunsten der Abstimmung nach Köpfen beschloB, protestiert. Procès-verbal et protestations de l'assemblée de l'ordre le plus nombreux du royaume, o. O. u. J. [1789], 14 f., zit. 28. 6 Wolfgang MAOER, Von der Noblesse zur Notabilité. Die Konstituierung der französischen Notabein im Ancien Régime und die Krise der absoluten Monarchie, in: Europäischer Adel 1750-1950. Hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1990, 260-285, 275 f. mit Anm. 47 (zit.); Heinz-Gerhard HAUPT, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789. Frankfurt am Main 1989, 115. JeanRené SURATTEAU, Des élites de l'Ancien Régime aux notables révolutionnaires, in: Die Französische Revolution - zufälliges oder notwendiges Ereignis? Hrsg. v. Eberhard Schmitt/Rolf Reichardt. Bd. 2. (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 9/2.) München/Wien 1983, 101-119, hier 106, Anm. 6. Der entsprechende Artikel im Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1670-1820 ist noch nicht erschienen, jedoch fällt auf, daß nach Lawrence J. KILBOURNE, The Notables of the Loire under the First Empire. Diss. phil. Brandeis University, 1981/82 (Microfilm Ann Arbor o. J.), 7, die Definition des Dictionnaire noch 1813 praktisch unverändert geblieben ist. 7 Die „Krautjunker" („hobereaux") wurden damit trotz ihrer adeligen Herkunft kaum erfaßt. Heinz-Gerhard HÄUFT, Der Adel in einer entadelten Gesellschaft: Frankreich seit 1830, in: Europäischer Adel (wie Anm. 6), 286-305, hier 293.

Von den Notabein zu den GroBnotabeln

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„nationalen" Ebene sein. Allgemein könnte man sagen, daß Notabein - abgestuft nach lokaler, regionaler oder nationaler Ebene - Vermögen, oftmals Ämter und in jedem Fall das Ansehen ihrer Mitbürger besaßen, was sie zumindest potentiell zu deren Repräsentanten werden ließ. In diesem Sinne hat Jean Egret die Vorgänge von den Anfängen in der Dauphiné, wo 1788 ein Zusammenschluß der Provinzialstände erfolgte, bis hin zu den ersten Verfassungsberatungen der Nationalversammlung als die „Revolution der Notabein" charakterisiert.8 War der Ausbruch der Revolution also eine Geburtswehe der Notabeingesellschaft bzw. das Produkt einer Kette von Mißverständnissen?9 Schließlich wurde die Tiefe des sozialen Einschnitts, den die Französische Revolution mit sich brachte, in der jüngeren Forschung stark in Frage gestellt. Zum einen zeichnet diese das Bild eines Adels, dessen wirtschaftliche Basis (vor allem Grund und Boden), aber auch dessen Einfluß in Politik, Kirche und Armee spätestens ab 1815 großenteils, wenngleich nicht vollständig restauriert wurde, ab 1830 allerdings einen schrittweisen Niedergang erlebte.10 Zum andern wurde auf die im Zeichen von Aufklärung und Antiabsolutismus schon im 18. Jahrhundert ausgebildeten kulturellen und politischen Gemeinsamkeiten zumindest zwischen großen Teilen von Adel und Bürgertum verwiesen.11 Dabei blieb allerdings das Ausmaß der Allianz bzw. Amalgamierung zwischen adeligen und bürgerlichen Führungsschichten umstritten.12 War die Notabeingesellschaft vielleicht eine spezifisch französische „Zwischenstation" zwischen Stände- und Klassengesellschaft, deren adelige und bürgerliche „Untergruppen" jedoch außer dem Großgrundbesitz und der Angst vor

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EGRET, Révolution (wie Anm. 4), 12 ff. Nach Guy CHAUSSINAND-NOGARET, La Noblesse au XVIIIe siècle. De la Féodalité aux Lumières. París 1976 (2. Aufl. 1984), 183 ff., schlossen von über 130 erhaltenen Cahiers de doléance des Adelsstandes nur rund 41 % eine Abstimmung nach Köpfen grundsätzlich aus; die Mehrheit wollte sie zumindest unter bestimmten Bedingungen zugestehen. Umgekehrt fand George V. TAYLOR, Noncapitalist Wealth and the Origins of the French Revolution, in: The American Historical Review 72, 1967, 469-496, hier 492, Anm. 83, kein Cahier des Tiers, das die Abschaffung des Adels als Institution gefordert hätte. 10 Ralph GIBSON, The French nobility in the nineteenth century - particularly in the Dordogne, in: Elites in France: Origins, Reproduction and Power. Hrsg. v. Jolyon Howorth/Philip G. Ceray. London 1981, 5-45, hier7 ff.; Tilomas BECK, The French Revolution and the Nobility. A reconsideration, in: Journal of Social History 15, 1981, 219-233; HÄUFT, Adel (wie Anm. 7), bes. 292 ff. " Ζ. Β. Denis RICHET, Autour des origines idéologiques lointaines de la Révolution française: Élites et despotisme, in: Annales 24, 1969, 1-23; Guy CHAUSSINAND-NOGARET, AUX Origines de la Révolution: noblesse et bourgeoisie, in: Annales 30, 1975, 265-278; ders., Noblesse (wie Anm. 9), 38, passim. Dazu kritisch: Albert SOBOUL, Trois notes pour l'histoire de l'aristocratie (Ancien Régime - Révolution), in: Noblesse française - noblesse hongroise, XVI'-XIX' siècles. Hrsg. ν. Béla Kôpeczi/Eva H. Balázs. Budapest/Paris 1981, 77-92, hier 82 ff. Vgl. HAUPT, Adel (wie Anm. 7), 287 f. ; ders., Sozialgeschichte (wie Anm. 6), 1 12 André-Jean TUDESQ, Les Grands Notables en France (1840-1849). 2 Bde. Paris 1964, hier Bd. 1, 8 f.; GIBSON, Nobility (wie Anm. 10), 11 ff. 9

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den „classes dangereuses" wenig verband? 13 Nicht weniger diskutiert werden Entstehungszeitraum und Reifezeit der Notabeingesellschaft. Hatte diese sich bereits vor 1789 konstituiert? 14 Konnte das „Ideal einer Adlige und Bürger umfassenden, aufgeklärten Besitzergesellschaft" nicht verhindern, daß die Revolution „als Realität und Mythos" die Notabeingesellschaft - vor allem politisch - spaltete, oder triumphierten die Notabein 179S gemeinsam? 13 Institutionalisierten sie sich während des Empire 16 oder stellte erst die Julimonarchie das „Frankreich der Notabein" dar?17 Vieles hängt hier sicherlich von der Definition des Notabeinbegriffes ab. 1 8 Im folgenden soll versucht werden, anhand eines bestimmten Personenkreises einen Beitrag zur Antwort auf die Frage zu liefern, in welcher W e i s e und in welchem Ausmaß sich die französische Führungsschicht v o m Ausgang des Ancien Régime bis zur Julimonarchie gewandelt hat. Dabei betrachte ich nicht primär - w i e es zumeist geschieht - den Aufstieg „neuer", bürgerlicher Schichten, umgekehrt den Abstieg

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sondern

bzw. die Fähigkeit „oben zu bleiben" von Vertretern der

13 HAUPT, Sozialgeschichte (wie Anm. 6), 128 ff., 148 ff. Vgl. Christophe CHARLE, Histoire sociale de la France au XIXe siècle. Paris 1991, 41 ff. Daß in der Pré-Révolution die politische Trennlinie gemeinhin zwischen dem privilegierten, traditionalistischen Lehensadel einerseits und dem „demokratischen" - besser wohl: liberalen - Adel andererseits und nicht zwischen Adel und Bürgertum verlief, betont SAINT-VICTOR, La chute (wie Anm. 4), 45 ff. 14 Guy CHAUSSINAND-NOGARET, Une histoire des élites 1700-1848. Paris/La Haye 1975, bes. 22; MAGER, Noblesse (wie Anm. 6), 261, der übrigens Mirabeau dem Alteren, dem Vater der uneinigen Brüder, eine wichtige Rolle bei diesem ProzeB zuschreibt (ebd., 273 ff.). Mager betrachtet als eigentliche Notabein die Rentiers, mit denen langsam Freiberufler und hohe Staatsbeamte zu einem „Notabeln-Bürgertum" zusammengewachsen seien, welches allerdings nach 1830 nach und nach durch das Finanz- und später das Industriebürgertum auf einen nachgeordneten Rang verwiesen worden sei (ebd., 260 f.). 15

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HAUPT, Sozialgeschichte (wie A n m . 6), zit. 152; SURATTEAU, Élites ( w i e A n m . 6), 112.

Louis BERGERON/Guy CHAUSSINAND-NOGARET, Les „masses de granit". Cent mille notables du Premier Empire. Paris 1979, 64. 17 André JARDIN/André-Jean TUDESQ, La France des notables. 2 Bde. (Nouvelle histoire de la France contemporaine, Bd. 6-7.) Paris 1973, bes. Bd. 2, 220 f. 18 Vgl. Jacques SOLÉ, La Révolution en questions. Paris 1988, 77: „L'Ancien Régime finissant créa ... l'élite des notables", mit ebd., 274: „Sous le régime napoléonien, la Révolution se donna enfin l'élite de propriétaires ä laquelle elle avait toujours aspiré. " In einem Kommentar zu einem Dekret von 1809 erklärte der berühmte Jurist Berryer „le mot notable ... laisse quelque vague dans l'esprit, cependant la signification en est généralement comprise". Nach einer Aufzählung von Adeligen, Inhabern öffentlicher Ämter, freiberuflich Tätigen, Höchstbesteuerten und überhaupt allen Wahlberechtigten fügt er zusammenfassend hinzu: „ce sont enfin tous ceux qui... par leurs fonctions, leur fortune ou leurs talents se distinguent des masses et forment ce que dans le langage familier, on appelle les notabilités du pays". Adeline DAUMARD, La Bourgeoisie Parisienne de 1815 à 1848. Paris 1963, 160 f., von der dieses Zitat übernommen ist, fügt hinzu, daß diese Definition für Paris natürlich zu weit gefaßt sei, weil hier etwa ein armer Advokat kein besonderes Ansehen genossen habe. 19 Der soziale Aufstieg einer Familie, der etwa zu einer Standeserhöhung führte, läßt sich in der Regel quellenmäßig wesentlich leichter nachvollziehen als ein sozialer Abstieg. Auf ersteren konnten die Nachkommen stolz sein; sie suchten daher die Familientradition zu pflegen und fortzusetzen. Dies kam der schriftlichen Überlieferung zugute. Spätere Historiker konnten dementsprechend eher den Auf- als den Abstieg einer Familie analysieren, und sie mochten es umso lieber tun, wenn die „Aufsteiger", insbesondere aus dem Bürgertum (bei dem das Adjektiv „aufstrebend" geradezu schon

Von den Notabein zu den Großnotabeln

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alten Elite, nämlich der insgesamt 190 Mitglieder der beiden Notabelnversammlungen von 1787 bzw. 178820 sowie von 144 ihrer nächsten männlichen Blutsverwandten.21 Konkret geht es um die Frage, inwieweit diese Notabein des Ancien Régime bzw. ihre Familien den Übergang von der Ständegesellschaft des 18. zur Notabeingesellschaft des 19. Jahrhunderts auf der nationalen Ebene22 bewältigt haben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß aufgrund biologischer und rechtlicher Gegebenheiten die Zahl dieser Familien in jedem Fall abnehmen mußte.23

zum schmückenden Beiwort geworden ist), dann eines Tages zu den Führungsschichten zählten. Da deren Personalbestand sich aber nicht beliebig vermehren konnte (und kann), mußte dem sozialen Aufstieg wenigstens teilweise ein sozialer Abstieg bislang Etablierter - infolge von Verarmung, Prestigeverlust, Aberkennung von Privilegien etc. - entsprechen. Gründe, Ausmaß und Formen dieses komplementären Abstiegs zu untersuchen, ist deshalb für das Verständnis des Funktionierens gesellschaftlicher Systeme ebenso wichtig wie die Kenntnis der Umstände sozialen Aufstiegs. 20 Chen Ta MING, L'Organisation des Assemblées des Notables de 1787 et de 1788. Thèse en droit. Paris 1939; Albert GOODWIN, Calonne, the Assembly of French Notables of 1787 and the Origins of the 'Révolte Nobiliaire', in: English Historical Review 61, 1946, 202-234 und 329-377; Jean EGRET, La seconde Assemblée de Notables (6 novembre-12 décembre 1788), in: Annales historiques de la Révolution française 21, 1949, 193-228; ders., La Pré-Révolution française (1787-1788). Paris 1962 (ND Genf 1978), 1 ff.; Vivian R. GRUDER, Paths to Political Consciousness: The Assembly of Notables of 1787 and the 'Pre-Revolution' in France, in: French Historical Studies 13, 1983, 323-3SS; dies., A Mutilation in Elite Political Culture: The French Notables and the Defense of Property and Participation, 1787, in: The Journal of Modern History 56, 1984, 598-634. Nigel ASTON, The End of an Élite. The French Bishops and the Coming of the Revolution, 1786-1790. Oxford 1992, 46 ff. Abweichende Angaben hinsichtlich der Gesamtzahl der Notabein erklären sich aus der Nichtberücksichtigung von Nachbemfenen. 21 Die folgenden Berechnungen basieren auf Angaben, die ganz überwiegend folgenden Sammelwerken entnommen wurden: Susan BRADLEY (Red.), Archives biographiques françaises. London/ Paris/Munich/New York 1988; Dictionnaire de biographie française. 18Bde. in Forts. Paris 1933 ff.; Edna Hindie LEMAY, Dictionnaire des Constituants, 1789-1791. 2 Bde. Paris 1991. 22 Auf der regionalen oder lokalen Ebene mögen diese Familien weiterhin eine Rolle gespielt haben. Dies läfit sich jedoch nur teilweise und mit großem Aufwand nachweisen. In jedem Falle aber wäre damit - zumindest für die Vertreter der beiden ersten Stände - ein Bedeutungsverlust verbunden. 23 Außer durch den sozialen Abstieg können Oberschichten auch infolge eines Geburtendefizits einen Mitgliederschwund bzw. einen Rückgang ihres Anteils im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung erleiden. Tatsächlich waren die standesgemäßen Tätigkeiten des Adels teilweise wenig „reproduktionsfreundlich": Offiziere blieben oft lange unverheiratet und waren im Krieg besonderen Gefahren ausgesetzt, katholische Geistliche unterlagen den Zölibatsbestimmungen. Um die Gesamtzahl der Adeligen zu erhalten, hätten im Schnitt alle Adeligen heiraten und zwei Kinder zeugen müssen, die ihrerseits wiederum derartige Familien gegründet hätten. Aber selbst unter dieser Annahme hätten sie - mangels männlicher Nachkommen - schon nach einer Generation ein Viertel der Adelsnamen nicht mehr vererben können. So hat das „Aussterben" adeliger Familien als ein natürlicher Vorgang von nicht geringer Frequenz zu gelten. Den verschiedenen Formen der „De-Generation" des Adels durch biologischen oder wenigstens genealogischen Schwund konnte nur eine „Re-Generation" durch ständige Aufnahme neuer Mitglieder (v. a. mittels Nobilitierung und Heirat nichtadeliger Frauen) entgegenwirken. In diesem Sinne gleichen Adel und Bürgertum verschiedenen Eisenbahnwaggons (1. oder 2. Klasse), in die ständig Personen bzw. Familien ein- und aussteigen. Ein Strukturwandel wird dann erkennbar, wenn sich das Tempo dieses Prozesses oder gar die - z. B. rechtlichen - Definitionsgrundlagen ändern.

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Die soziale Struktur der Notabeinversammlungen Es war die französische Krone selbst, die - erstmals seit 1626 - in den Jahren 1787 und 1788 nacheinander zwei Notabelnversammlungen einberief, sich also an die „nationalen", später so genannten „grands notables", wandte, ja diese damit geradezu institutionalisierte. Freilich schuf diese Designation noch keine sozial gesehen homogene Gruppe.24 Immerhin sollten Calonnes Notabein zum einen einflußreich und angesehen genug sein, um die öffentliche Meinung beeinflussen zu können, und sich zum anderen wenigstens überwiegend durch Loyalität gegenüber der Krone auszeichnen.23 Ihre letztlich doch oppositionelle Haltung hatte u. a. mit den Interessen und der zunehmenden politischen Emanzipation der Notabein zu tun26, aber doch auch - so paradox es klingen mag - mit der ständischen Prägung der Notabelnversammlungen.27 Denn wenngleich bei den Ernennungen die Standesgrenzen nicht streng berücksichtigt wurden - so wurden drei Bischöfe als Pairs von Frankreich zu Vertretern des Adels berufen!28 - , so legte die Regierung doch nicht nur aus Traditionalismus Wert darauf, daß die verschiedenen politischen Machtzentren des Ancien Régime durch ihre führenden Persönlichkeiten repräsentiert waren: der Hof durch acht königliche Prinzen, die Regierung durch sämtliche sieben (bzw. neun) Minister dieser Zeit und 15 Staatsräte, der Adel durch 45 hochrangige Vertreter der noblesse de race, die Geistlichkeit durch 13 Bischöfe bzw. Erzbischöfe, die obersten Gerichtshöfe durch 44 Präsidenten und Generalprokuratoren, die Pays d'État durch 23 - meist nach Standeszugehörigkeit getrennt gewählte - Repräsentanten (zu denen noch ein Vertreter des korsischen Adels kam) sowie 24 große Städte durch insgesamt 34 ihrer Oberhäupter.29

24 GOODWIN, Calonne (wie Anm. 20), 331, betont allerdings wahrscheinlich zu Recht, daß 1787 unter den Vertretern der pays d'État und der Städte kaum einer auf nationaler Ebene eine Rolle gespielt hatte. 25

26

EGRET, P r é - R é v o l u t i o n ( w i e A n m . 20), 9 f f . , bes. 12 f.

GRUDER, Mutilation (wie Anm. 20). Selbst große Teile des Hofadels standen wegen der Verhältnisse am Hof und der zunehmenden Bürokratisierung der Verwaltung in Opposition zur Regierung Ludwigs XVI. Daniel L. WlCK, The Court Nobility and the French Revolution: The Example of the Society of Thirty, in: Eighteenth-Century Studies 13/3, 1980, 263-284. 27 Nach EGRET, Assemblée (wie Anm. 20), 208, lehnten die Notabeln von 1788 ein doublement du Tiers mit 110 : 32 Stimmen ab. 28 Es handelte sich um den Erzbischof von Paris, Le Clerc de Juigné, Duc de Saint-Cloud, den Bischof von Langres, de Luzerne, sowie den Erzbischof von Reims, Alexandre-Angélique Duc de Talleyrand-Périgord, den Onkel des damaligen Bischofs von Autun und späteren Außenministers. 29 Procès-Verbal de l'Assemblée de Notables, tenue ì Versailles, en l'année 1787. Paris 1788; dass., en l'année 1788. Paris 1789. Die Vertreter von 1787 wurden 1788 wiederberufen, sofern sie nicht - in 32 Fällen - infolge von Tod, Krankheit, Ungnade, Beförderung oder einer geänderten Entscheidung der Wahlgremien (Provinzialstände, Kommunen) ersetzt werden muflten. Dazu kamen einige weitere Neulinge. EGRET, Assemblée (wie Anm. 20), 199 f. Die kategoriale Zuordnung (z. B. bei Barentin) erfolgte nach dem Stand der Erstberufung.

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Auch unter letzteren befanden sich allerdings maximal sieben Nichtadelige. Das Bürgertum ließ sich - wenngleich überwiegend unfreiwillig - von Vertretern repräsentieren, die dem Dritten Stand gar nicht mehr angehörten.30 Unter diesen dürfte sich freilich eine ganze Reihe Neuadeliger befunden haben, wie übrigens selbst die Staatsräte und Minister sich zu mehr als einem Viertel aus sog. Anoblis rekrutierten. Sämtliche eigentlichen Adelsrepräsentanten, fast alle Bischöfe, aber auch die überwiegende Mehrheit der Parlamentsmitglieder stammten hingegen aus Familien, die den Adelstitel schon seit mindestens vier Generationen trugen. Insgesamt waren somit rund 95 % der Notabein adelig. Dieser Tatsache entsprach auch das Berufsbild. Fast ein Drittel der Notabein darunter sämtliche Adelsvertreter mit Ausnahme der erwähnten drei Bischöfe dienten ihrem König mit der Waffe. Häufig waren sie schon in jungen Jahren zu hohen militärischen Würden - mitunter zudem zu zivilen Ehrenämtern - emporgestiegen: Philippe de Noailles hatte der König schon als Fünfjährigen zum Gouverneur ernannt! Ähnlich steil waren die Karrieren der Geistlichen verlaufen; sie stellten ca. ein Achtel der Versammlungsteilnehmer. Mehr als ein Drittel der Notabein aber widmete sich - in Ausübung zumeist ererbter Ämter - der Verwaltung bzw. der Justizpflege im Rahmen der staatlichen Institutionen bzw. der Parlamente. Damit unterschieden sie sich kaum von den Mitgliedern der späteren Konstituante, wohl aber deutlich hinsichtlich des Anteils freiberuflich tätiger Juristen (Advokaten).31 Noch unter einem dritten Gesichtspunkt erweisen sich die Notabelnversammlungen als Spiegelbild des Ancien Régime. Während die Revolution, vor allem zu Zeiten des Konvents, ihre Führer großenteils unter den 30-40jährigen fand32, waren unsere Notabein deutlich älter. Die gewählten Vertreter der Provinzialstände und die ebenfalls mitunter gewählten Bürgermeister scheinen allerdings - obwohl hier zahlreiche Altersangaben fehlen - durchschnittlich nicht über 45 gewesen zu sein, bei Geistlichen und Parlamentsvertretem lag der Durchschnitt bei ca. 51 bzw. 53, bei den Ministern und Staatsräten bei 57, bei den Adelsrepräsentanten sogar bei 60 Jahren. Ob es klug war, daß die Krone bei jenen Notabein, bei deren Auswahl sie die freieste Hand hatte, das Alter bevorzugte und sogar drei Achtzigjährige berief? Tatsache ist jedenfalls, daß von den Adelsrepräsentanten nur Lafayette, deren mit Abstand jüngstes Mitglied, nach 1822 noch am Leben war.

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Die Bürgermeister der größeren französischen Städte wurden zumeist vom König ernannt. Vgl. Edna-Hindie LEMAY, La composition de l'assemblée nationale constituante: les hommes de la continuité?, in: Revue d'Histoire moderne et contemporaine 24, 1977, 341-363, hier 345 f. 32 Alison PATRICK, The Men of the First French Republic. Baltimore/London 1972, 248. 31

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Indes stellten gerade die adeligen Militärs in mancher Hinsicht typische Vertreter ihres Standes dar. Denn das soziale Umfeld der Notabein war stark durch den Militärberuf bestimmt. Nicht nur, daß mehr als Dreiviertel ihrer Verwandten ebenfalls den Offiziersrock trugen, auch unter den Verwandten der Parlamentsmitglieder stand immerhin ein Viertel, unter jenen der Minister und Staatsräte fast die Hälfte im Dienste der Armee; bei den Bischöfen waren es sogar zwei Drittel. So war die Gesellschaft des ausgehenden Ancien Régime an ihrer Spitze stark den Idealen des Schwertadels verpflichtet.33

Die Notabelnfamilien in der Revolutionszeit Das sollte sich auch bei der Wahl zu den Generalständen zeigen. Denn nicht weniger als 22 der adeligen bzw. geistlichen Repräsentanten der Notabelnversammlungen sollten 1789 zu Standesvertretern gewählt werden - und dazu noch 23 ihrer nächsten Angehörigen.34 Nicht so gut repräsentiert war dagegen die Parlamentsaristokratie. Sie stellte nur fünf ehemalige Notabein - wohl auch ein Zeichen dafür, daß sich die Masse der Landadeligen mit ihnen weniger als mit den Mitgliedern der hohen „Militäraristokratie" identifizieren konnte. Dagegen zählten nur zwei Vertreter des Tiers von 1787/88 auch zu den Abgeordneten ihres Standes in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung, deren Mehrheit doch eine Fusion der Eliten anstrebte35 - und einer von ihnen, der königliche Procureur syndic von Nantes, Giraud-Duplessis, war nur zufällig in die Notabelnversammlung gelangt, weil nämlich der Bürgermeister der Stadt gerade gestorben war. Charakteristischerweise war er aber auch der vielleicht einzige echte Revolutionär unter den ehemaligen Notabein. Während diese und ihre Verwandten nur in seltenen Ausnahmefallen im weiteren Verlauf der Revolution ein Amt bekleideten - drei Notabein wirkten zeitweise politisch im lokalen Rahmen, einige wenige ihrer Verwandten waren zumeist in der Armee tätig - , brachte es GiraudDuplessis nach Ablauf seiner Amtszeit als Abgeordneter der Konstituante zum

33 Eberhard WEIS, Der französische Adel im 18. Jahrhundert, in: Der Adel vor der Revolution. Hrsg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1971, 29-40, hier 32, spricht von einer starken Förderung des Schwertadels durch die Krone unter Ludwig XVI. und teilweise schon unter Ludwig XV. 34 Hier sind die 16 vom Adel bzw. der Geistlichkeit entsandten Vertreter der Provinzialstände mit einberechnet. 35 Dabei waren die Bürgerlichen zumindest anfänglich durchaus bereit, dem Adel einen gewissen Ehrenvorrang einzuräumen. Zu den am 4. 8. 1789 gewählten 36 Präsidenten bzw. Vizepräsidenten der 30 Büros der Konstituante zählten elf Bischöfe bzw. Erzbischöfe, sechs Herzöge, acht Grafen bzw. Vicomtes und zwei Marquis. Procès-verbal de l'assemblée nationale, imprimée par son ordre. 16 Bde. Paris-Versailles (bzw. ab Bd. 4: Paris) o. J. [1789/92], hier Bd. 1, 8 ff.

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Bürgermeister seiner Heimatstadt und zog 1795 in den Rat der Alten ein. Dagegen ist aufgrund der biographischen Nachschlagewerke über das Schicksal der sonstigen in den Notabelnversammlungen vertretenen Stadtoberhäupter sehr wenig, über das ihrer Verwandten fast gar nichts in Erfahrung zu bringen. Diese lokalen Würdenträger gelangten offenbar nie mehr zu nationaler Bedeutung - eine bemerkenswerte Tatsache, die andeutet, daß die traditionellen „patrizischen" Führungskreise in der Revolution keinen bedeutenden sozialen Aufstieg erlebten.36 Dagegen spielte in deren Vorfeld eine liberale Adelsminorität, zu der auch ein Teil unserer adeligen Notabein zählte, eine nicht unmaßgebliche Rolle. Allerdings war der mit an ihrer Spitze stehende Herzog von Orléans das einzige Mitglied der Notabein, das auch dem revolutionären Konvent angehörte, wo er - nunmehr unter dem Namen Philippe Égalité - sogar für den Tod seines königlichen Vetters stimmte, was ihn bekanntlich jedoch nicht vor der Guillotine rettete. Die Adelsvertreter unter unseren Notabein hatten dagegen inzwischen gegen das Weiterschreiten der Revolution Stellung genommen. Zwar waren nur wenige im Sommer 1789 der Mehrheit der königlichen Prinzen ins Exil gefolgt, aber die offizielle Abschaffung des Adelsstandes um die Jahresmitte 1790, mehr noch jedoch die immer radikalere Entwicklung von 1791/92", in deren Laufe die konstitutionelle Monarchie scheiterte, trieb fast die Hälfte unserer Adelsvertreter ins Ausland. Um die gleiche Zeit wählten auch mehr als drei Viertel der Bischöfe den Weg in die Emigration, da sie sich mit den kirchenpolitischen Entscheidungen der Konstituante nicht einverstanden erklären konnten. Ähnlich verhielten sich die Verwandten beider Gruppen. Aus gutem Grunde, wie sich 1793/94 herausstellen sollte. Denn während die Emigranten zum großen Teil den bewaffneten oder zumindest diplomatischen Kampf gegen die Revolution aufnahmen, blieben nur wenige der zurückgebliebenen Adels- und Klerusvertreter unbehelligt. Elf von 25, die nicht emigriert waren, fielen dem Terror zum Opfer, sieben weitere schmachteten zum Teil jahrelang im Gefängnis. Das gleiche Schicksal erlitten ihre Angehörigen, sofern es sich nicht um Kinder handelte, die in der Regel verschont blieben. Weniger betroffen, allerdings auch weniger aktiv gegenrevolutionär zeigte sich demgegenüber der Parlamentsadel. Sein Anteil an den Opfern lag deutlich niedriger,

36 Die - ganz überwiegend nichtadeligen - maires, die aus der Revolution hervorgegangen waren, blieben häufig sehr lange im Amt. Bürgermeister vor allem großer Städte spielten auch weiterhin eine Rolle auf nationaler Ebene, allerdings eher in der Abgeordneten- als in der Pairskammer. Maurice AGULHON/LOUÌS GKARD/Jean-Louis ROBERT/William SERMAN, Les maires en France du consulat à nos jours. (Publications de la Sorbonne, série France XIX°-XX° siècles, Bd. 24.) Paris 1986, hier 35 ff., 107, 137 ff. und 151. Vgl. Rudolph CHIMELLI, Seit 1789 dieselbe Familie [...]. Französische Rathäu-ser in Erbpacht, in: Süddeutsche Zeitung v. 11./I2. 3. 1989, 14. 37 Vgl. Patrice HLGONNET, Class, Ideology and the Rights of Nobles During the French Revolution. Oxford 1981, 59 ff.

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obwohl die Parlamentspräsidenten und -prokuratoren offenbar viel seltener emigrierten - ein Unterschied, der allerdings bei ihren Angehörigen, die, wie gesagt, zum Teil Offiziere waren, weniger deutlich in Erscheinung trat. War die ζ. T. dem mittelalterlichen Rittertum entstammende hohe Militäraristokratie großenteils anfänglich bereit, die Sache der Bourbonen und ihre eigenen Standesinteressen bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, so zog sich der nicht ganz so alte Amtsadel anscheinend eher ins Privatleben zurück, zumindest seine Spitzenvertreter.38 Jedenfalls war die alte Elite aus dem politischen Leben praktisch ausgeschieden.

Die Napoleonische Ära: Ansätze einer Integration der alten Notabein in die neue Elite So nimmt es nicht Wunder, daß aus der Revolution eine völlig neue Elite hervorging. Keiner unserer Notabein und von deren Verwandten lediglich der unvermeidliche Talleyrand zählten 1799 zu den neuen Konsuln, Ministem, Staatsräten, Senatoren oder Abgeordneten. Diese „Männer des Brumaire" rekrutierten sich im Kern nämlich aus Thermidorianern, ganz überwiegend jedenfalls aus Aufsteigern aus der Revolutionszeit. Und doch: rund 6 % von ihnen waren ehemalige Kleriker, mindestens 13 % entstammten Familien, die schon vor 1789 den erblichen Adel besessen hatten." Bedenkt man, daß der Bevölkerungsanteil der privilegierten Stände selbst damals keine 2 % betragen hatte, so wird einem bewußt, wie weit überproportional der Anteil ehemaliger Privilegierter an der neuen Elite selbst zu Beginn der napoleonischen Ära war. Auch diese Adeligen und Geistlichen hatten jedoch im Ancien Régime überwiegend sozusagen zur zweiten Garnitur gezählt, waren wohl nicht selten Männer vom Schlage eines Sieyès, von dem man bezweifeln mag, ob er zum revolutionären

38 Nach Donald GREER, The Incidence of the Emigration during the French Revolution. Gloucester/Mass. 1951 (ND 1966), 132, entstammten von 6567 berufsmäßig erfaßten männlichen Emigranten aus dem Adelsstand 872 (13,3 %) dem Parlamentsadel, 5695 waren aktive bzw. ehemalige Offiziere. Nun behauptet Greer (ebd., 85), die Parlamentarier seien in besonders hohem Maße emigriert, und legt dabei eine Zahl von rund 2000 Angehörigen der cours souveraines zugrunde. Das mag richtig sein, doch ist die „militärische Emigration" wohl kaum als geringer einzuschätzen, gab es in Friedenszeiten doch nur ca. 15 000 Offiziersstellen, die sich darüber hinaus nicht alle in adeligen Händen befanden. Vor allem aber scheinen die eindrucksvollen Beispiele personeller Kontinuität zwischen den Parlamenten und den höheren Gerichtshöfen des Empire, die Henri CARRÉ, La noblesse de France et l'opinion publique au XVIIIe siècle. Paris 1920 (ND Genf 1977), 570 f., aufgeführt hat, nicht repräsentativ zu sein. Vgl. Guy CHAUSSINAND-NOGARFT, Les Notables du „Grand Empire" en 1810, in: Annales 26, 1971, 1052-1073, hier 1061. 39 Werner GIESSELMANN, Die brumairianische Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Fühningsschicht zwischen Ancien Régime und Julimonarchie. (Industrielle Welt, Bd. 18.) Stuttgart 1977, 42 ff.

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Sprecher des Dritten Standes geworden wäre, wenn ihm der Weg in das Bischofsamt nicht durch die regelmäßige Bevorzugung altadeliger Kandidaten verbaut worden wäre. Nichtsdestoweniger begann die Integration der alten Notabein in die neue Elite Napoleons schon während des Konsulats.40 Daß der Revolutionsanhänger GiraudDuplessis schon 1800 zum Präfekten ernannt wurde, bedeutet dabei noch nicht viel.41 Aber die Schließung der Emigrantenlisten durch Napoleon veranlaßte die Mehrzahl der emigrierten Adeligen zur Rückkehr, so daß nun zweifellos mehr als die Hälfte unserer Notabein ab 1801 wieder in Frankreich weilte. Wichtiger noch: Wie vielen Adeligen gelang es auch Angehörigen unserer Notabeinfamilien - sei es durch Kauf, sei es auf dem Wege der Rückerstattung nichtverkaufter Emigrantengüter - , ihren ehemaligen Grundbesitz innerhalb weniger Jahre weitgehend zurückzuerlangen und damit bald wieder unter den größten Steuerzahlern zu rangieren.42 Zwar rivalisierten nun namentlich bürgerliche Güterspekulanten und dann vor allem die von Napoleon mit Dotationen überhäuften Spitzenvertreter der neuen Führungsschicht43 mit ihnen in Sachen Reichtum. Aber mußten beide Eliten nun, nach den Erfahrungen der Revolution, nicht vor allem ein gemeinsames Interesse besitzen an der prinzipiellen Erhaltung jeder Art von Eigentum? Die Integration der Emigranten in die napoleonische Gesellschaft wurde jedoch auch bewußt gefördert. Acht Bischöfe aus den Notabelnkreisen kehrten nach Abschluß des Konkordats von 1801 nach Frankreich zurück und erhielten - mit einer Ausnahme - allesamt wieder hohe kirchliche Ämter. Sieben andere weigerten sich allerdings, sich den Bestimmungen des Konkordats zu unterwerfen und blieben im Ausland. Indem Napoleon aber wenigstens einen Teil des alten Episkopats für sich gewann, andere jedoch aus den Kreisen seiner neuen Elite wählte, konnte er die kirchenpolitische Situation wesentlich entspannen.44 Gesellschaftspolitisch noch wichtiger war die Einbeziehung der alten Notabein in den 1808 neugeschaffenen kaiserlichen Adel. Nicht weniger als elf der nachweislich noch lebenden 42 Notabein wurden zu Mitgliedern der Noblesse impériale berufen,

40 Vgl. David HIGGS, Nobles in Nineteenth-Century France. The Practice of Inegalitarianism. Baltimore/London 1987, 6 ff.; Thomas D. BECK, French Legislators 1800-1834. Berkeley/Los Angeles/London 1974, 30 ff.; La France à l'époque napoléonienne, (Revue d'histoire moderne et contemporaine 17, 1970), bes. die Beiträge von Jean TULARD und Pierre DURYE. 41 Vgl. LEMAY, Dictionnaire (wie Anm. 21), Bd. 1, 404 f. 42 Louis BERGERON, L'Episode napoléonien. Bd. 1: Aspects intérieurs, 1799-1815. (Nouvelle histoire de la France contemporaine, Bd. 4.) Paris 1972, 137 ff. 43 Monika SENKOWSKA-GLUCK, Les dotations de Napoléon, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 17, 1970, 680-693. 44 Vgl. Victor BINDEL, Histoire religieuse de Napoléon. Les Évêques de Bonaparte. Paris 1940, 60 ff.

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vor allem aber auch 21 ihrer nächsten und weitere 17 ihrer entfernteren Verwandten, so daß mithin jeder vierte Notabel von 1787/88 eine familiäre Verbindung zum Adel des Empire aufwies.45 Umgekehrt freilich fielen die ehemaligen Notabein bzw. Notabeinverwandten innerhalb der rund 3300 Mitglieder umfassenden Noblesse impériale nicht ins Gewicht, doch stellten sie ja auch nur einen kleineren Teil der vorrevolutionären Oberschicht dar. Insgesamt gesehen rekrutierte sich der kaiserliche Adel zu nicht weniger als 22,5 % aus dem Adel des Ancien Régime, zu 58 % aus der Bourgeoisie und lediglich zu 19,5 % aus den „classes populaires".44 Dabei ist zu bedenken, daß aus der zuletzt genannten Schicht nicht wenige erfolgreiche Heerführer und Offiziere hervorgegangen waren - Männer, auf die der FeldherrnKaiser nicht verzichten konnte.47 Daher stellten Marschälle und Generäle, zu Beginn des Kaiserreichs fast durchweg zwischen 30 und 50 Jahre alt, auch die überwiegende Mehrheit der 39 Herzöge und Prinzen Napoleons. Trotzdem entstammten immer noch sieben dieser höchsten Adeligen des Kaiserreichs dem Altadel, vier weitere zählten zu den Nobilitierten des Ancien Régime.48 Nun war es generell das Ziel Napoleons, die glänzenden Leistungen der Gegenwart und die großen Namen der Vergangenheit zu einer neuen Führungsschicht als soziale Basis seiner Herrschaft zu verschmelzen. Besonders nachdem der Imperator selbst in das Habsburger Kaiserhaus eingeheiratet hatte, förderte er deshalb Heiraten zwischen altem und neuem Adel, umgab sich an seinem Hofe mehr und mehr mit Mitgliedern der alten Aristokratie und beschleunigte den beruflichen Aufstieg von Angehörigen dieses ehemaligen Standes. Bei unseren Notabein stieß er dabei allerdings nur sehr bedingt auf Gegenliebe. Zwar stellten sich, abgesehen von den geistlichen Würdenträgern, immerhin 15 dem Kaiser zur Verfügung. Doch hochrangige politische Funktionen - etwa als Senator, Abgeordneter oder Präfekt - übte davon nur ein Teil aus - und diese stammten zudem teilweise aus den Reihen der ehemaligen Stadtoberhäupter bzw. Delegierten des Tiers der Provinzialversammlungen. Die Repräsentanten des Militäradels ließen sich hingegen in der Regel allenfalls zu einer Mitgliedschaft im Generalrat eines

45 Die Verbindung über Schwiegersöhne ist hier noch gar nicht mit einbezogen. Obige Angaben wurden gewonnen durch einen Vergleich mit Jean TULARD, Napoléon et la noblesse d'Empire. 2. Aufl. Paris 1986. 46 Jean TULARD, Problèmes sociaux de la France impériale, in: Revue d'historie moderne et contemporaine 17, 1970, 639-663, hier 6S6. 47 Laurent Gouvion Saint-Cyr (1764-1830) stellt dafür nur ein - wenn auch extremes - Beispiel dar: 1792 Kriegsfreiwilliger, 1794 General, 1815 und 1817/19 Kriegsminister. Dictionnaire de biographie française (wie Anm. 21), fase. XC, 841. 48 Nach den biographischen Angaben bei Joseph VALYNSEELE, Les maréchaux du Premier Empire. Leur famille et leur descendance. Paris 1957; ders., Les princes et ducs du Premier Empire, non maréchaux. Leur famille et leur descendance. Paris 1959.

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Departements überreden. Keiner von ihnen diente Napoleon als Offizier. Die meisten ehemaligen Notabein aus dem alten Adel verhielten sich trotz ihrer Rückkehr nach Frankreich distanziert zu den neuen politischen Verhältnissen und scheinen sich vornehmlich um die Bewirtschaftung ihrer oft lange vernachlässigten Güter gekümmert zu haben. Ihre - ja zumeist jüngeren - Verwandten waren aus Karrieregründen allerdings vielfach nicht ganz so wählerisch.49 Von denen, die in Frankreich lebten und bereits volljährig waren, dienten dem Kaiser rund die Hälfte, zumeist als Offiziere oder in verschiedenen Zivilämtern, vereinzelt aber auch als Kammerherren, Gesandte oder Senatoren. Umgekehrt nutzten immerhin sieben von ihnen ihre jugendliche Energie zu antinapoleonischer Agitation. Auch bei den übrigen Verwandten unserer Notabein und natürlich bei diesen selbst scheint die Begeisterung für Napoleon nicht sehr tief gereicht zu haben. Immerhin bot das Kaiserreich offenkundige Ansätze einer Integration der alten Notabein in die neue, aus der Revolution hervorgegangene Elite. Napoleon wählte die Mitglieder seines Adels nämlich nach den Gesichtspunkten: Reichtum an Grundbesitz und Engagement/Loyalität gegenüber dem Empire aus. Da viele jüngere Angehörige der Notabelnfamilien - sicher repräsentativ für einen Teil des alten Adels - in beiderlei Hinsicht wenigstens für die Zukunft günstige Perspektiven boten, begann sich eine neue Notabeingesellschaft abzuzeichnen, die aus der Verschmelzung einer Mehrheit zumeist bürgerlicher Aufsteiger mit einer Minderheit Altadeliger hervorgehen sollte.

Restauration und Hundert Tage: altständische oder neue Notabelngesellschafi? Die Restauration verschob jedoch erneut die Gewichte. Denn die Charte von 1814 erklärte klipp und klar: „Der alte Adel kehrt in den Besitz seiner Titel zurück. Der neue behält die seinen."50 Auch wenn die relativ häufig genannte Schätzung von 25 000 Adelsfamilien des Ancien Régime nicht absolut zuverlässig sein sollte und eine ganze Reihe dieser Familien die Restaurationszeit nicht mehr erlebte, so besteht doch kein Zweifel, daß der alte Adel gegenüber dem neuen - Napoleon hatte ja

49 Vgl. Louis BERGERON, Die französische Gesellschaft von 1750 bis 1820. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, in: Zeitschrift für historische Forschung 2, 1977, 131-146, hier 143. 50 Charte constitutionnelle du 4 juin 1814, Art. 71: „La noblesse ancienne reprend ses titres. La nouvelle conserve les siens. " Jacques GODECHOT (Hrsg.), Les constitutions de la France depuis 1789. Paris 1979, 224.

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nicht einmal 3000 Familien effektiv neu geadelt - bei weitem in der Überzahl war51, zumal nun auch die restlichen Emigranten zurückkamen, wie sich an unseren Notabein zeigen läßt. Aber auch die Mehrheit der schon früher nach Frankreich heimgekehrten Notabein hatte offenbar keine Probleme, sich den Bourbonen anzuschließen. 16 der 29 noch lebenden Notabein (ohne Prinzen) nahm Ludwig XVIII. in seine Dienste. Dies war häufig mit einer Rangerhöhung verbunden, denn allein zehn von ihnen wurden zu Pairs ernannt. In noch größerem Umfang wurden die 139 Verwandten bedacht, von denen sich gut drei Viertel der Restauration anschlossen. Nicht weniger als 60 von ihnen erhielten im Laufe der Restaurationszeit die Pairswürde zugesprochen. Andererseits jedoch war gerade die Pairskammer von 1814 alles andere als eine reine Kammer des alten Adels: 103 Senatoren und Marschälle des Empire zählten zu ihren Mitgliedern.52 Sollte der Traum Napoleons von einer adelig-bürgerlichen Elite in der Restauration in Erfüllung gehen? Durch seine Rückkehr von Elba legte der Imperator, der sich gerade von dem alten Adel verraten fühlte, dieser Entwicklung jedoch selbst Steine in den Weg. Von zwei Ausnahmen abgesehen, die sich Napoleon als Abgeordnete zur Verfügung stellten, zeigte nämlich keiner der Notabein Anzeichen alter Treue zum zurückgekehrten Kaiser oder auch nur einer äußerlichen Anpassung an dessen erneuerte Herrschaft. Auch unter ihren Verwandten taten dies nicht einmal 10 %, wiewohl sie sechs Pairs bzw. Abgeordnete der Hundert Tage stellten. Dieser Befund dürfte charakteristisch sein für den alten Adel.53 Hingegen entdeckten nicht wenige aus der ehemaligen Führungsriege des Empire ihr Herz für den Kaiser neu. Obgleich auch sie sich 1814 überwiegend der Restauration angeschlossen hatten, kehrte die Mehrzahl der Marschälle und Minister des Empire wieder mehr oder minder reumütig zu Napoleon zurück. So kam es, daß nach der zweiten Restauration in den Kammern, in Regierung und Verwaltung umfangreiche Säuberungen stattfanden. Jene Pairs, die Napoleon in gleicher Funktion gedient hatten, verloren ihren Sitz. Doch erfolgte 1817/19 wieder eine erhebliche Stärkung des „napoleonischen " Elements in den Kammern, und trotz der erneuten Reaktion ab 1819 stellte sich vorübergehend so etwas wie ein gewisser „Gleichgewichtszustand" ein.54

51

Hioos, Nobles (wie Anm. 40), 8, 28 f. JARDIN/TUDESQ, France (wie Anm. 17), Bd. 1, 20 f. Ähnlich stark war die Kontinuität im Bereich des Verwaltungspersonals ausgeprägt. 53 Vgl. BECK, Legislators (wie Anm. 40), 39 f., 164 f. 54 Zur Abgeordnetenkammer vgl. BECK, Legislators (wie Anm. 40), bes. 86, 143; Jean BÉCARUD, La noblesse dans les chambres (1815-1848), in: Revue internationale d'histoire politique et constitutionelle 3, 1953, 189-205. 52

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So zeigt etwa die Pairskammer von 1826, zugegebenermaßen auf der Basis einer Untersuchung von nur 50 der rund 300 Pairsfamilien, ein interessantes Bild.55 Zunächst fällt der hohe Altersdurchschnitt von fast 60 Jahren ins Auge, der an die adeligen Notabein von 1787/88 erinnert. Vier Fünftel der Pairs hatten ihre Karriere bereits im Ancien Régime begonnen, und zwar - wie könnte es anders sein zumeist im Militär. Einen gewissen Wandel bemerkt man allerdings, wenn man die soziale Herkunft dieser Pairs analysiert. „Nur" noch 70 % stammten aus dem alten Adel, 4 % waren Anoblis, und da wir bei 14 % über keine präzisen Angaben verfügen, müssen wir davon ausgehen, daß der Anteil deijenigen, die aus dem gehobenen Bürgertum hervorgegangen waren, größer sein dürfte als jene 10 %, die wir mit Sicherheit ermitteln können. Daß wir es hier mit einem Resultat von Revolution und Empire zu tun haben, zeigt ein Blick auf die Ämter, die unsere nunmehrigen Pairs in diesen Epochen bekleideten: zehn von ihnen entstammten den Revolutionsarmeen, 23 hatten später Napoleon gedient - vielfach in Spitzenpositionen. Daß andererseits der Restauration - wenigstens äußerlich - eine Annäherung politischer Eliten unterschiedlicher Herkunft gelang, die Napoleon in diesem Umfang noch nicht geglückt war, beweist die Tatsache, daß den zehn Offizieren der Revolutionsarmee 13 Pairs gegenübersaßen, die aktive Gegenrevolutionäre gewesen waren. Ja, von den 50 ermittelten Pairs saßen acht schon in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung! Doch davon stammten sieben aus dem Adel und nur einer aus dem Tiers, der doch 1789 bereits rund doppelt so viele Abgeordnete gestellt hatte wie jener. So kehrte erst die Julirevolution in mancher Hinsicht an den Ausgangspunkt ihrer Vorgängerin zurück.

Die volle Ausprägung der Notabeingesellschaft in der Julimonarchie des „Bürgerkönigs " Zu diesem Zeitpunkt lebten freilich nur noch wenige unserer Notabein, und ein Teil von diesen betätigte sich nicht mehr politisch. Doch für das diesbezügliche Verhalten ihrer Verwandten sollte sich die Julirevolution in gewisser Weise als ein wichtigerer Einschnitt erweisen als alle vorhergehenden Epochen. Bis dahin hatten sich unsere alten Notabelnfamilien nämlich als eine relativ homogene politische Gruppe dargestellt: als Gegner der Revolution zumindest von 1791 an, distanziert gegenüber Napoleon, dessen Herrschaft zu kurz gedauert hatte, um die Ansätze einer Integra-

55 Berechnungen nach [Jean-Baptiste] Chevalier de COURCELLES, Etat actuel de la Pairie de France. 3 Bde. Paris 1826. Untersucht wurden von den ca. 300 Pairs-Häusern die ersten 50 des Alphabets (inkl. Bourlier).

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tion der Notabeinfamilien in seine neue Elite zu verwirklichen, schließlich als Parteigänger der Restauration. Nun aber führte die Spaltung im Königshaus auch zu einer Spaltung der Royalisten. Dem Konventsabgeordneten Philippe Égalité war niemand aus dem Kreise unserer Notabein gefolgt, aber seinem Sohn, dem Bürgerkönig Louis-Philippe, folgte rund die Hälfte von deren Verwandten, und zwar auch jene aus dem Adel. Darunter befanden sich 24 Pairs und vier Abgeordnete. Andererseits jedoch verweigerte ein Drittel den Eid auf den neuen Monarchen, demissionierte oder ging gar ins Exil, darunter 20 Pairs und ein Abgeordneter. Untersucht man die politische Vergangenheit beider Gruppen, so wird deutlich, daß von jenen, die in napoleonischer Zeit ihr Exil nicht aufgegeben hatten, kaum einer den Wechsel von 1830 mitvollzog. Diejenigen, deren Legitimitätsdenken schon früher nicht so stark war, daß es ein Leben oder gar eine Amtsausübung unter „usurpierter" Herrschaft ausgeschlossen hätte, waren viel eher bereit, einen anderen Monarchen zu akzeptieren, der noch dazu königliches Blut in den Adern trug. Da nun aber aus naheliegenden Gründen - auch die ehemaligen Würdenträger des Kaiserreichs nur in seltenen Fällen Bedenken trugen, sich dem Bürgerkönig anzuschließen, verstärkte sich der Anteil der aus der Revolution hervorgegangenen und im Kaiserreich erstmals etablierten Elite an der politischen Führungsschicht Frankreichs wieder56, ohne jedoch das Ausmaß der Jahre nach 1799 zu erreichen. Immerhin: Stammte die Mehrzahl der Marschälle der Restaurationszeit aus dem Adel des Ancien Régime - obwohl selbst sie überwiegend aus der Generalität Napoleons und nicht dem Kreis der Emigrantenoffiziere entnommen worden waren - , so befanden sich unter den zehn Maréchaux de France Louis-Philippes nur zwei Adelige - und alle mit einer Ausnahme hatten Napoleon während der Hundert Tage gedient, sechs von ihnen sogar als Pairs.57 So war der bürgerliche Anteil an der französischen Führungsschicht also wieder gewachsen. Dazu trugen auch die Wirtschaftsbürger bei, die nun erstmals zu höchsten staatlichen Ämtern gelangten: Der zweite Regierungschef Louis-Philippes war der Bankier Laffitte, der dritte der Unternehmer Périer, der vierte der ehemalige napoleonische Marschall Soult, aber der erste war mit dem Herzog de Broglie der Enkel eines unserer Notabein, und vor ihm hatte die Macht praktisch bei Lafayette, wie 1789 Kommandant der Nationalgarde, gelegen. Unter diesen Um-

56 Zur Zusammensetzung der Kammern vgl. André-Jean TUDESQ, Les Pairs de France au temps de Guizot, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 3, 1956, 262-283; BÉCARUD, Noblesse (wie Anm. 54), 193 ff.; BECK, Legislators (wie Anm. 40), bes. 110 f. 57 Nach Joseph VALYNSEELE, Les maréchaux de la Restauration et de la monarchie de Juillet. Paris 1962.

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ständen von einer Machtübernahme der Großbourgeoisie zu sprechen58, erscheint einseitig. Selbst in der Kammer dominierten nicht die Wirtschaftsbürger, sondern zu zwei Dritteln die „Besitzer" (propriétaires), darunter viele adelige Großgrundbesitzer.59 Diesen bereitete der Zensus natürlich kein Problem. Vielleicht noch deutlicher lassen sich jedoch Ausmaß und Grenzen der Kontinuität an der Spitze des politischen Lebens bei einer Betrachtung der Pairskammer zeigen. 60 Von den 546 Pairs besaßen nur 43, mithin 7,9 %, einen - und sei es auch nur entfernten - Verwandten unter den alten Notabein - ein Zeichen für die Transformation der politischen Führungsschicht. Umgekehrt besaßen jedoch immerhin von 45 Adelsvertretern der Notabelnversammlungen 23, also die Hälfte, einen wenigstens entfernten Verwandten in der Ersten Kammer der Julimonarchie. Dagegen stellten die 39 Parlamentarierfamilien allerdings nur zwei, die Familien der Stadtoberhäupter offenbar keinen einzigen Pair. Es war also anscheinend besonders die hohe Militäraristokratie, die - sofern sie nicht dem Terror zum Opfer gefallen61 oder ausgestorben war - ihre Stellung im politischen Leben über alle Umbrüche der Zeit hinwegzuretten vermochte. Unter diesen Vorzeichen erscheint ein Mann wie Lafayette als Symbolfigur: Als einer der jüngsten Vertreter der traditionell-ständisch konzipierten Notabein bemüht er sich um eine konstitutionelle Monarchie auf der Grundlage einer erweiterten, erneuerten Notabeingesellschaft, bestehend aus liberalem Adel und aufgeklärtem Bildungsbürgertum. 1791/92 scheitert er, geht ins Exil, kehrt aber 1801 zurück. Zum Autokraten Napoleon, der keine von sich unabhängigen Notabein dulden will, bleibt er auf Distanz, widmet sich seinen Gütern, wirkt aber dennoch im Generalrat seines Departements und - nach zwischenzeitlichem Anschluß an die erste Restauration - sogar als Vizepräsident der Abgeordnetenkammer der Hundert Tage, jedoch in Opposition zu Napoleon. 1818-24 und seit 1827 liberaler Abgeordneter, spielt er eine wesentliche Rolle bei der Thronbesteigung Louis-Philippes und der damit verbundenen endgültigen Etablierung einer Notabeingesellschaft, die unter dem

58 Sicher überholt ist die These von Jean LHOMME, La grande bourgeoisie au pouvoir 1830-1880. Paris 1960, 16, 37 und passim, der dem Grundadel vor 1830 eine absolut dominierende Rolle zuschreibt, die dieser dann mit einem Schlag eingebüßt hätte. 59

JARDIN/TUDESQ, F r a n c e ( w i e A n m . 17), B d . 1, 1 7 2 . V g l . TUDESQ, Notables ( w i e A n m . 1 2 ) ,

Bd. 1, 96 f., wonach zu den höchsten Steuerzahlern (über 1000 Francs) - die im übrigen die Mehrheit der Gewählten stellten - nur 15,9 % „Industriels" bzw. „Négociants" zählten, neben 65,3 % „Propriétaires". 60

Lucien LABES, Les Pairs de France sous la Monarchie de Juillet. Lorient 1938.

Unter 14 080 erfaßten Terroropfera befanden sich 1158 Adelige. Donald GREER, The Incidence of the Terror during the French Revolution. Gloucester/Mass. 1935 (ND 1966), 163. Angesichts der extrem unterschiedlich eingeschätzten Zahl Adeliger (von 80 000 bis 400 000) läge der Anteil damit zwischen 0,29 und 1,44 %. 61

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Vorzeichen des Besitzes alte und neue Elite einigermaßen gleichgewichtig zu einer Einheit verbindet. Karl X. hat gesagt, es gebe zwei Männer, die ihren Prinzipien nie untreu geworden wären, der eine sei er selbst, der andere Lafayette.62 Das gilt wohl gerade auch für ihre beiderseitigen gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Jene von Lafayette aber lagen im Trend der Entwicklung. Die „Großnotabein" der Julimonarchie hatten - trotz einer gewissen personellen Kontinuität - nichts mehr mit den Notabein von 1787/88 zu tun: Diese waren in jedem Fall rechtlich Privilegierte gewesen, überwiegend aus dem alten Adel, der sich mehr oder minder kontinuierlich regenerierte. Denn im Ancien Régime stellten Zweiter und Dritter Stand doch nichts anderes dar als weitgehend festgefügte Personen- bzw. Familien,,verbände", da der Aufstieg in den erblichen Adel vielfach das Ergebnis eines generationenlangen Prozesses bildete.63 Die neue Notabelnelite aber zeichnete sich nicht nur durch ein Fehlen formaler Privilegien aus. In ihr vollzogen sich auch die Prozesse der Destrukturierung und Restrukturierung offensichtlich schneller als im Adel und Bürgertum des Ancien Régime, und seit der Julimonarchie löste sich der Adel als Stand zunehmend auf.64

62 Beide waren ehemalige Schulfreunde. Peter BUCKMAN, Lafayette. New York/London 1977, 248, 253 f., 264. Zu Lafayettes Vorstellungen vgl. Olivier BERNIER, La Fayette. Héros de Deux Mondes. Französische Übersetzung o. O. 1988, 213 f., 223 f. 63

64

CHAUSSINAND-NOGARET, N o b l e s s e ( w i e A n m . 11), 4 0 f f .

BECK, Revolution (wie Anm. 40), 226 ff., schätzt, daß die Zahl der Adeligen bis 1839 um 40 % abgenommen habe. HIGGS, Nobles (wie Anm. 40)_, 12 ff., 28 ff., 219, verweist in diesem Zusammenhang auf die Abschaffung nobilitierender Amter, die überhaupt verhältnismäßig geringe Nobilitieningstatigkeit der Regierungen - bei gleichzeitig relativer Toleranz gegenüber Adelsusurpationen - , die Verarmung adeliger Familien (Heiratshindernis, Titelverlust) bzw. deren Aussterben.

Roger Dufraisse Adelbert von Chamisso et Louis de La Foye Contribution à l'étude des relations intellectuelles franco-allemandes à l'époque napoléonienne

La matière de cette étude, bien que limitée à la période napoléonienne, sera constituée par la correspondance, presque toujours rédigée en allemand, couvrant trentequatre années (juin 1804-juin 1838), échangée entre Adelbert de Chamisso et Louis de La Foye 1 qui se sont connus à Berlin, durant l'émigration entraînée par la Révolution française. L'un d'eux, Adelbert von Chamisso (1782-1838) 2 , après avoir longtemps hésité, devait choisir l'Allemagne comme patrie et en devenir l'un des écrivains les plus célèbres de son époque, dont la renommée a résisté à l'épreuve du temps. L'autre, Louis de La Foye ( 1 7 8 1 - 1 8 4 3 ) , sans doute son meilleur ami, choisissait de rester Français. Devenu professeur de physique à l'université de Caen, en décembre 1821, il est bien oublié aujourd'hui, même des spécialistes de l'histoire des sciences ou de l'histoire de la Normandie. 3

1 Si l'on veut connaître toutes les lettres qu'ont échangées Chamisso et de La Foye, il faut consulter: Julius Eduard HITZIG (Hrsg.), Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso. (Adelbert von Chamisso, Werke, Bd. V-VI.) Leipzig 1839-1840 et Friedrich PALM (Bearb.), Adelbert von Chamisso's Werke. Bd. V-VI. 5., verm. Aufl. Berlin 1864; Ludwig GEIGER, Aus Chamissos Frühzeit. Ungedruckte Briefe nebst Studien. Berlin 1905 et, surtout, René RIEGEL, Correspondance d'Adalbert de Chamisso. Fragments inédits (Lettres de Chamisso, Louis de la Foye, Helmina de Chézy, Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, J. A. W. Neander), suivis de Das stille Julchen. Par Helmina v. Chézy. Paris 1934. 2 En français, la biographie la plus complète de Chamisso est celle de René RJEGEL, Adalbert de Chamisso. Sa vie et son œuvre. Diss. phil. Paris 1934. En allemand, les plus récentes sont celles de Werner FEUDEL, Adelbert von Chamisso. Leben und Werk. 2., Überarb. Aufl. Leipzig 1980 et 3., erw. Aufl. 1988; Peter LAHNSTEIN, Adelbert von Chamisso. Der Preuße aus Frankreich. München 1984, traduction française par Nicole CASANOVA, Adelbert von Chamisso. Le Prussien de France. Paris 1987. 3 Sur Louis de La Foye, Roger DUFRAISSE, Un ami mal connu de Chamisso: Louis de la Foye, in: Chamisso. Actes des journées franco-allemandes des 30 et 31 mai 1981, organisées par le Centre d'études argonnais, l'Académie nationale de Reims et la Société d'agriculture, commerce, sciences et arts de la Marne. Sainte-Menehould 1982, 63-90.

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Il existe une étonnante similitude entre les vies des deux amis. Ils sont nés l'un et l'autre en 17814: Chamisso au château de Boncourt en Champagne (près de Ante, aujourdh'ui département de la Marne), de La Foye en Normandie à Norolles (actuellement petite commune d'environ 180 habitants du département du Calvados). Chacun appartenait à une famille de petite noblesse et la suivit dans l'émigration. Leurs pérégrinations durant l'exil finirent par les conduire en Allemagne et s'achevèrent à Berlin. C'est à cette époque qu'ils apprirent l'allemand. Chamisso devait devenir un grand écrivain en cette langue. De La Foye, en revanche, même s'il n'hésitait pas à affirmer, le 10 mars 1810: «La langue allemande m'est devenue plus familière que le français car c'est en cette langue que j'ai appris à penser et sentir»5, ne parviendra jamais à écrire celle-ci aussi correctement que son ami, sans cesser, toutefois d'en lire des oeuvres littéraires auxquelles, surtout après 1820, s'ajouteront des ouvrages scientifiques. Autre similitude: durant leur séjour à Berlin, les deux jeunes gens servirent dans l'armée prussienne. En mars 1798, Chamisso était entré, comme Fähnrich, au régiment de Goetze, et, à la fin de 1799 ou au début de 1800, de La Foye fut incorporé comme Junker, c'est-à-dire comme élève officier, dans le régiment von Winning.6 On peut penser que la famille de chacun obtint sa radiation de la liste des émigrés au bénéfice de la loi du 3 mars 1800 promulguée par Bonaparte.7 Elles rentrèrent en effet en France en 1801 et 1802. La même raison, le besoin d'assurer leur existence matérielle, car la Révolution avait ruiné leur famille et aussi, au moins pour Chamisso, quelque nostalgie de l'Allemagne, poussa les deux jeunes gens à regagner leurs régiments respectifs à Berlin.8 La Prusse étant en paix, les officiers de son armée connaissaient alors les servitudes et les agréments de la vie de garnison. C'est dans ces conditions, qu'en décembre 1803, de La Foye fut introduit dans un petit cénacle de jeunes auteurs, le «Nordsternbund» qui réunissait Chamisso et des Allemands, Hitzig, Neumann, Varnhagen von Ense, Koreff et éditait Der Musenalmanach.9

4 De La Foye est né le 18 avril 1781 et Chamisso entre le 27 et le 30 janvier 1781. Cf. DUFRAISSE, Louis de la Foye (wie Anm. 3), 64; FEUDEL, Chamisso, 1980 (wie Anm. 2), 224. 5 Archives Nationales Paris [en abrégé: ANP] AB IV Β 1, lettre de Louis de La Foye ì Daunou, 28 mars 1811. 6 Pour de La Foye, ANP AB IV Β 1, lettre de Louis de La Foye à Daunou, 28 mars 1811. Pour Chamisso, RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 45 ff. 7 ANP AB IV Β 1, lettre à Daunou, 28 mars 1811; RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 13, 22. Ders., Chamisso (wie Anm. 2), 31; FEUDEL, Chamisso, 1980 (wie Anm. 2), 224. 8 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 13; ders., Chamisso (wie Anm. 2), S3. 9 Ebd., 69. Julius Eduard Hitzig (1780-1849) fut, avec de La Foye, l'ami le plus intime de Chamisso; après la mort de celui-ci, il entreprendra la publication de ses œuvres complètes: Adelbeit

Adelbert von Chamisso et Louis de La Foye

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C'est ainsi que commença entre Chamisso et de La Foye, une longue amitié à laquelle seule la mort du premier devait mettre fin. C'est ainsi que l'un et l'autre, allaient, à leur manière, fournir un exemple intéressant des rapports qui s'établirent entre intellectuels français et intellectuels allemands, à la faveur de l'émigration, et se poursuivirent après.10 De La Foye finit par occuper une place assez importante dans le Musenalmanach, comme critique et non comme poète car, malgré son désir très vif et tous ses efforts en ce sens, et en dépit des conseils et des encouragements que lui prodiga Chamisso, il devra renoncer à faire une carrière littéraire pour laquelle il n'était manifestement pas doué, ce qui ne l'empêchera pas, toute sa vie, de montrer un intérêt soutenu pour la production littéraire de l'Allemagne et de faire effort pour la faire connaître en France. Au mois de juin 1804, de La Foye décida de quitter Berlin pour rejoindre, à Caen, sa mère, devenue veuve et sans ressources, afin de l'aider à élever les deux enfants en bas âge qui lui restaient.11 Il choisissait de revenir définitivement dans sa patrie, alors que Chamisso hésitera longtemps avant de choisir l'Allemagne. Sur les conseils de Chamisso, il envoya de Caen, sa démission de l'armée prussienne et chargea son ami d'obtenir la liquidation de son reliquat de solde. Dans un premier temps, il lui demanda d'employer cet argent, 111 Reichsthaler et 4 Groschen, à l'achat de livres allemands qu'il lui enverrait en France, puis il se ravisa et lui fit savoir qu'il voulait utiliser ce pécule pour suivre des cours d'anatomie à Paris.12 De La Foye n'entendait pas du tout rompre avec les milieux intellectuels allemands. Il ne cessait de lire des auteurs d'outre-Rhin. Le 16 juillet 1804, il écrit

V. CHAMISSO, Werke. 4 Bde. Leipzig 1836. Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858) se fera, plus tard, un nom comme diplomate et écrivain. En 1803, il était, avec Chamisso responsable de l'édition du «Musenalmanach» que ses auteurs appelaient familièrement le «Livre Vert». Friedrich Wilhelm Neumann (1781-1834) se fera connaître plus tard comme écrivain; en 1803-1804, il était employé dans la maison d'un riche négociant juif nommé Cohen, chez qui Chamisso et ses amis étaient reçus. Johannes Ferdinand Koreff (1783-1851) était alors étudiant en médecine. Il devint un médecin et un magnétiseur très connu à Paris entre 1807 et 1815. De 1816 à 1819, il fut professeur à l'université de Berlin et conseiller du chancelier Hardenberg. Il revint ensuite à Paris où il mourut. 10 Sur l'influence de l'émigration dans le domaine intellectuel: Fernand BALDENSPERGER, Le mouvement des idées dans l'émigration française, 1789-1815. Paris 1924. Pour les relations entre écrivains français et écrivains allemands au début du XIX* siècle: Louis REYNAUD, L'influence allemande en France au XVIIIE et au XIXE siècle. Paris 1922. Jean-Marie CARRÉ, Les écrivains Français et le mirage allemand 1800-1940. Paris 1947; Claude DIGEON, La crise allemande de la pensée française (1870-1914). Paris 1959; Jean MOES/Jean-Marie VALENTIN (Hrsg.), De Lessing & Heine. Un siècle de relations littéraires et intellectuelles entre la France et l'Allemagne. Actes du Colloque tenu à Pont-i-Mousson (septembre 1984). Offerts à Pierre Grappin pour son soixantedixième anniversaire. Paris 1985. 11 ANP AB IV Bl, lettre à Daunou, 28 mars 1811; RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 13, 22. 12 HITZIG, L e b e n u n d B r i e f e ( w i e A n m . 1), B d . V , 4 1 - 4 2 , 5 2 - 5 9 ; PALM, C h a m i s s o ' s W e r k e ( w i e A n m . 1), B d . V , 4 8 - 4 9 , 5 6 - 5 9 ; RIEGEL, C o r r e s p o n d a n c e ( w i e A n m . 1), 2 9 , 3 0 , 3 7 , 4 7 , 5 6 .

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même à Chamisso que lorsqu'il se promène au bord de la mer, il emporte toujours le huitième volume des œuvres de Goethe, celui qui contient Wilhelm Meister, qu'il a entrepris de traduire en français et le MusenalmanachIl s'essaie, aussi, à rimer en allemand, le résultat est pitoyable.14 En fin de compte, il décide de se consacrer définitivement aux mathématiques et aux sciences naturelles. Chamisso l'approuve mais lui demande de ne pas se désintéresser complètement de la littérature car, s'il doit renoncer à devenir un écrivain original, deux voies lui restent ouvertes: celle de la critique et celle de la traduction.15 En réalité, Chamisso nourrit une grande ambition pour son ami. Il voudrait le voir jouer le rôle de médiateur et de conciliateur entre les deux nations. Pour cela, il lui suggère de faire connaître aux Français les chefs-d'oeuvres incontestés des lettres allemandes plutôt que de leur faire part systématiquement des jugements qu'il porte sur les nouveautés qui paraissent en Allemagne.16 On sait que, surtout après 1820, Chamisso, de son côté, devait devenir un médiateur entre la littérature française et la littérature allemande.17 Dans une lettre du 1er mars 1805, il fait savoir à son ami qu'il serait bon que les Français pussent entendre, de temps en temps, une voix raisonnable leur parler de leurs voisins allemands: «Die Leute müssten staunend erfahren, dass man sich auch von ihnen zu den espèces de sauvages qui en baragouinant habitent le Nord et l'Allemagne flüchten könne!»1* Il est convaincu qu'un ancien émigré comme de La Foye est très bien placé pour entretenir ses compatriotes de langue et de littérature allemandes, cela sans doute beaucoup mieux que bien des journalistes et critiques français et il se propose de lui envoyer de temps en temps des livres allemands.19 Chamisso a choisi le moment où de La Foye envisageait d'aller étudier à Paris pour lui faire ces suggestions car, depuis son arrivée à Caen, celui-ci ne cessait de se plaindre de l'intolérance qui régnait dans la ville ainsi que de l'indigence de la vie intellectuelle, autant d'obstacles qui s'opposaient à ce qu'il pût y faire connaître l'Allemagne, sa langue et ses écrivains. Le 28 décembre 1804, il écrivait, qu'à

13

RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 29. Voir les critiques adressées par Chamisso ì son ami et concernant deux sonnets que celui-ci lui a adressés dans RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 38-39, lettre d'octobre 1804. 15 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 49. 16 Ebd., 93-94. 17 Werner FEUDEL, Chamisso médiateur entre la littérature française et la littérature allemande, in: Chamisso (wie Anm. 3), 17-27. Ders., Chamisso als Vermittler zwischen der französischen und deutschen Literatur, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und 14

Kulturtheorie 32, 1986, 7 5 3 - 7 6 5 . 18 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 69. Les mots en italique se trouvent en français dans le texte de Chamisso. 19 Ebd., 70-71.

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Caen, les protestants étaient considérés comme des brigands: «un prêtre est allé jusqu'à me reprocher en public d'avoir pu choisir comme garnison une ville débauchée et hérétique comme Berlin!»20 Assez curieusement, mais peut-être était-ce par prudence? de La Foye, du moins dans ses lettres, n'accusera jamais le despotisme napoléonien de mettre obstacle au développement de la vie intellecteuelle en France, il s'en prendra toujours au clergé. Dans le domaine intellectuel, Caen lui semble un désert. Il y a bien une académie, mais «... sie versammelt sich, wenn ein Mitglied krepiert; er wird aufs Teufelholen gelobt, dann wird ein anderer gewählt, der neue brüllt auch eine Stunde; selten liest ein Poët seine erbärmlichen Verse mit kreischender Stimme; dann harren sie mit Sehnsucht, bis der Teufel wieder einen holt; so wird hier die Gelehrtsamkeit getrieben!»21 Lui-même a tenté d'obtenir un poste de professeur d'allemand au lycée. On lui a opposé un refus car on n'y enseigne que les langues anciennes. Il n'y a même personne avec qui il puisse s'entretenir en allemand. Un beau jour, il explose: «Die alte Hure des Generals ist eine Deutsche: ich sehe wohl, dass, wenn ich deutsch reden will, so werde ich wohl ins Bordel gehen müssen; es ist bis anjetzo meine einzige Ressource!»22 L'atmosphère n'est donc pas propice pour qu'on tente de faire connaître les chefs-d'œuvre allemands. De La Foye va jusqu'à écrire que le reste de la France, Paris compris, est logé à la même enseigne que Caen. Circonstance aggravante aux yeux de de La Foye, pour ce qui est de la littérature allemande, Paris ne jure que par Kotzebue.23 Quand Chamisso s'adresse à de La Foye, le 1er mars 1805, c'est pour lui dire que les circonstances lui semblent devenues favorables pour qu'il contribue à faire connaître en France la littérature allemande. En effet, «jetzt gibt es in Paris zwei Journale für fremde und deutsche Literatur, die alten, von schlechten und gutem gemischten Annales Littéraires de l'Europe24 und ein neues geborenes Kind, der deutschen Literatur einzig gewidmet25... In den Annales Littéraires unter vielen

20

Ebd., 52. Ebd., 88. Il s'agit de l'Académie de Caen, fondée en 1652, académie, supprimée par la Convention en 1793, rétablie en 1800, sous le nom de Lycée et qui prend, en 1802, le titre d'Académie Nationale des Sciences Arts et Belles-Lettres de Caen qui est toujours le sien. Plus tard de La Foye en deviendra membre et même trésorier. Chamisso y sera élu en 1836 (?). 22 Ebd., 31, lettre du 16 juillet 1804. 23 Ebd., 78, lettre du 17 mars 1805. 24 Chamisso veut sans doute parler des «Archives Littéraires de l'Europe». Sur cette publication, Roland MORTIER, Les «Archives Littéraires de l'Europe» (1804-1808) et le cosmopolitisme littéraire sous le Premier Empire. Bruxelles 1957. 25 Chamisso pense probablement à la «Bibliothèque Germanique», projetée par Charles de Villers et qui n'a jamais vu le jour. 21

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Verkehrtheiten finden sich gute Aufsätze des sehr schätzbaren Villers.»26 Chamisso pense que ces deux revues pourraient publier les articles et les notices de de La Foye sur l'Allemagne ainsi que ceux qu'il lui ferait parvenir. Il lui donc conseille de prendre contact avec de Villers. En ce qui concerne l'entreprise de traduction d'oeuvres allemandes, Chamisso pense qu'il faudrait obtenir l'appui d'une personnalité de poids et il conseille à de La Foye d'entrer en relations avec Ducis27 qui avait adapté, en vers français le théâtre de Shakespeare, sans savoir l'anglais, mais était l'objet d'une grande vénération et tous les gens de lettres, les jeunes auteurs en particulier, recherchaient son appui. Chamisso croyait que celui qui s'efforçait de faire connaître Shakespeare aux Français, soutiendrait de La Foye dans ses efforts pour leur faire connaître la littérature allemande. Ce dernier entra en relations épistolaires avec Ducis sans aucun résultat.28 Cet échec ne l'empêcha pas de poursuivre la traduction de Wilhelm Meister, pour laquelle Chamisso lui envoyait, afin qu'il les intercale, les traductions en vers français qu'il avait faites des poésies contenues dans cette œuvre. En 1805, la troisième coalition s'était formée contre la France. La Prusse, bien que neutre, mobilisa toutes ses forces et Chamisso dut partir en campagne avec son régiment qui participa à l'occupation du Hanovre. Découragé son ami abandonna sa traduction de Wilhelm Meister, qu'il ne devait jamais achever, tout en conservant la même curiosité pour la littérature. Le 26 septembre 1806, la Prusse lança un ultimatum à la France. Le 7 octobre, Napoléon publia un décret aux termes duquel tous les émigrés pris les armes à la main seraient fusillés.2' Le 21 novembre 1806, la garnison de Hameln, à laquelle appartenait Chamisso capitula, entre les mains des troupes hollandaises, au lieu d'être fusillé, il reçut un passseport pour la France et, à la fin de décembre, il arriva à Paris.30 En chemin, peu après le 12 septembre 1807, il passa vingt-quatre heures avec son ami à Châlons-sur-Marne. En effet, de La Foye, toujours à la recherche d'une

26 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 69. Charles de Villers (1765-1815) constitue comme Chamisso un «curieux cas de naturalisation intellectuelle d'un émigré». Capitaine d'artillerie lorrain, l'émigration finira par le fixer à Lübeck. Il entreprit de démontrer aux Français la supériorité intellectuelle et morale des Allemands. Il aida, par sa plume, ses amis hanséates à combattre le Système Continental napoléonien. Il devint professeur à l'université de Göttingen ì l'époque du royaume de Westphalie. Sur lui, Louis WITTMER, Charles de Villers 1765-1815. Un intermédiaire entre la France et l'Allemagne et un précurseur de Mme de Staël. Genève/Paris 1908. 27

RIEGEL, C o r r e s p o n d a n c e ( w i e A n m . 1), 7 0 - 7 1 .

28

Dans ses lettres à Chamisso, de La Foye revient, i plusieurs reprises, sur l'impossibilité dans laquelle il se trouva de s'entendre avec Ducis. Cf. RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 78, 88, 9 0 , 9 9 , 101. 29 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 125. La réaction de Chamisso fut: «Ich rede gar religiös und philosophisch zu allem was da droht und ausbricht: je m'en fous!» 30 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 182.

Adelbert von Chamisso et Louis de La Foye

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situation lucrative, avait trouvé une place dans l'administration des fourrages de l'armée française d'Allemagne et devait rejoindre son poste à Fulda. Il proposa donc à Chamisso de le rencontrer sur la route.31 Il ne rentrera en France qu'au début de 1810 et, pour la période s'étendant de mars 1807 à mai 1810, l'on ne connaît que six des lettres échangées entre les deux amis. Quant à Chamisso, après quelques mois passés, à Paris, à Saint-Germain-en-Laye, en Champagne, auprès de membres de sa famille, était revenu en Allemagne en octobre 1807.32 Les deux amis, coïncidence, retrouvèrent l'un et l'autre la France, au début de 1810. Chamisso avait sollicité et obtenu, du gouvernement français, un poste de professeur de langues anciennes au lycée de Napoléonville (aujourd'hui Pontivy en Bretagne). Chamisso ne reverra Berlin qu'en septembre 1812. Arrivé à Paris, il écrit au lycée de Napoléonville pour savoir ce qu'il aura à enseigner. On lui répond qu'aucun poste de professeur ne se trouve vacant et, en conséquence, qu'on n'aura pas de travail à lui donner.33 Il décide donc de rester dans la capitale. Durant son séjour à Paris il fréquente assidûment le salon d'Henriette Mendelssohn dont la sœur Dorothée avait épousé Friedrich Schlegel, où se retrouvaient tous les gens de lettres allemands séjournant à Paris34: les frères Boisserée, Zacharias Werner, le duc Franz von Anhalt-Dessau, Metternich, Wilhelm Schlegel. Il y retrouvait aussi des anciens du Nordsternbund de Berlin, Koreff, Varnhagen ... et de La Foye.35 Il fit aussi connaissance de Uhland. Se souvenant des conférences de Wilhelm Schlegel qu'il a suivies à Berlin, il se met avec ardeur en quête de chansons populaires. Il demande à de La Foye, retourné en Normandie, de bien vouloir penser à lui en recueillir car il voudrait pouvoir, à bref délai, en éditer un important recueil.34

31

RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 132. A la fin de septembre, il fut intronisé dans le troisième degré de la franc-maçonnerie à la loge de Ch&lons-sur-Marne, mais on n'a pas de preuve qu'il ait participé à une activité maçonnique après son retour en Allemagne. FEUDEL, Chamisso, 1980 (wie Anm. 2), 45, 207. 33 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 266. 34 Sur les Allemands ì Paris, voir la mise au point d'Alain Ruiz, Die deutschen Emigranten in Frankreich vom Ende des Ancien Régime bis zur Restauration, in: Deutsche Emigranten in Frankreich, französische Emigranten in Deutschland 1685-1945. Eine Ausstellung des französischen Außenministeriums in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Paris 1983, 61-63. 35 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 268-272. 34 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 142. Un des principales activités des jeunes romantiques allemands était de recueillir et de publier des chansons et des contes populaires. Cf. le recueil de Ludwig Achim ν. ARNIM/Clemens BRENTANO, Des Knaben Wunderhom. Alte deutsche Lieder. 3 Bde. Heidelberg 1806-1808. 32

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Roger Dufraisse

Il lui demande aussi de ramasser des mollusques pour Paul Ermann son ancien professeur de physique et de philosophie du collège français de Berlin.37 Son ami lui répond, le 27 mai 1810, qu'il n'a pas de mollusques pour le moment mais il ajoute qu'il est très lié avec un bon professeur de l'université de Caen, pour lequel il fait des traductions d'ouvrages seientifiques allemands, est botaniste et très compétent pour tout ce qui touche la flore marine. Cette lettre est importante à deux titres. Tout d'abord elle marque un tournant dans la correspondance entre les deux amis; les questions scientifiques vont, désormais, y tenir une place de plus en plus large au point qu'elles finiront, à partir de 1819, par éclipser, à peu près complètement, les discussions relatives aux belles-lettres; ensuite c'est un témoignage sur l'intérêt que portent des universitaires français de province aux écrits des savants allemands. Le 4 juin 1810, Chamisso se plaint à son ami: les livres allemands n'arrivent plus, ils sont retenus à la frontière, en raison de l'imprécision des règles sur la censure et sur les taxes douanières.38 En juin 1810, Chamisso va rejoindre à Chaumont-sur-Loire, August-Wilhelm Schlegel qui se trouve auprès de Mme de Staël. A partir de ce moment, les problèmes politiques, d'une façon prudente certes, vont occuper une place relativement importante dans les lettres de Chamisso. Il conseille vivement à son ami de lire de l'Allemagne de Mme de Staël quand le livre paraîtra. Hélas, le 10 octobre 1810, il lui annonce que l'ouvrage, bien qu'ayant été accepté par la censure et imprimé, vient d'être saisi et que celle-ci, expulsée du territoire français, a choisi de s'installer en Suisse.39 Auparavant, elle a recommandé à Prosper de Barante, préfet du département de la Vendée, de bien vouloir recueillir Chamisso, chez-lui à Napoléon-Vendée (aujourd'hui, la Roche-sur-Yon). Il y arrive en octobre 1810. Et là, il lit des livres de contes populaires français, Rabelais, etc. et surtout, «en pleine Vendée, parmi les ruines infinies qui sont encore l'orgueil de cette terre ravagée», des «mémoires manuscrits», sur les guerres de la période révolutionnaire. «On y découvre encore, dit-il, des mobiles purs, de grandes actions des deux côtés et de grands caractères». Et de conclure dans une lettre à de La Foye: «So ein Philister ich auch bin, finde ich doch etwas mit einem verheerten Strich Landes nicht zu teuer bezahlt und mit all dem selbst vergeudeten Blut!»40

37 38 39 40

Sur Paul Ermann, FEUDEL, Chamisso, 1980 (wie Anm. 2), 11, 110. RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 144. Ebd., 165. Ebd., 168-169. Ders., Chamisso (wie Anm. 2), 361-362.

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Au début du printemps de 1811, il va rejoindre Mme de Staël dans son exil suisse de Coppet. Sous l'influence de celle-ci, il devient un adversaire farouche du despotisme et l'impérialisme napoléonien. On le voit dans une lettre qu'il adresse de Genève à de La Foye en juin 1811 et dans laquelle il se plaint de n'avoir au cours d'un voyage à pied dans les Alpes, rencontré partout que des douaniers, des gendarmes, des colonnes mobiles et des garnisaires français qui, sans doute, faisaient la chasse aux contrebandiers, aux conscrits réfractaires et aux déserteurs et il ajoute: «in die eigentliche Schweiz bin ich nicht gedrungen: überall nur französische Zunge, französische Oberherrschaft!»41 Pendant ce temps, de La Foye s'est mis avec rage à la botanique.42 Il songe, cependant, à se reprendre son activité de traducteur d'ouvrages allemands. Il hésite entre la Geschichte des dreissigjährigen Krieges de Schiller et la Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft43 de Johann von Müller. Il écrit alors à Chamisso pour lui demander conseil. Ce dernier lui répond, de Genève, que le Dreissigjährige Krieg a déjà été traduit44, quant à la Schweizer Geschichte, elle est ou bien intraduisible ou déjà traduite.45 Chamisso recommande à son ami un vieux «livre populaire» reprit par Tieck dans le huitième et dernier volume des Straussfedern, l'histoire de l'empereur Tonelli qui est «une farce merveilleuse de comique». Il lui conseille aussi de traduire le Voyage en Laponie de von Buch.46 Précisons que cette traduction ne vit jamais le jour.47 Le 31 juillet 1811, de La Foye trouva, enfin, un poste de professeur de mathématiques au collège de Bayeux. Ce fut pour lui le début d'une carrière universitaire qui devait s'achever à la Faculté des Sciences de l'université de Caen. Il renonce pour toujours à jouer le rôle dont il avait rêvé: celui d'intermédiaire entre 41 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 185-186, lettre de Genève non datée mais de juin 1811. «Die eigentliche Schweiz» désigne la Confédération suisse dont Napoléon est le médiateur, tandis que Genève et le département du Léman sont annexés à l'Empire français. 42

43

RIEGEL, C o r r e s p o n d a n c e (wie A n m . 1), 158, 161.

Johannes ν. MÜLLER, Die Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. 5 Theile. Leipzig 1786-1808. 44 Au moment où Chamisso écrivait, il existait au moins deux traductions en français de la «dreissigjährigen Kriegs»: une d'Auguste Simon d'Araex parue à Berne en 1794, une du comte de Champfeu, d'après Barbier, Paris 1803. 45 II existait, en effet une traduction en français de l'œuvre de Johannes ν. MÜLLER, Histoire des Suisses. Traduite de l'allemand par Antoine-Gilbert Griffet de Labaume. Lausanne 1794-1797. 46 Ludwig TIECK, Leben des berühmten Kaisers Abraham Torelli (eine Autobiographie in 3 Abschnitten), in: ders., Schriften. Bd. 9. Berlin 1828. 47 Sur toutes ces affaires de traduction, RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 182-184, 187. Pour ce qui est du Voyage en Laponie, il s'agit en réalité de Leopold ν. BUCH, Reise durch Norwegen und Lappland. 2 Bde. Berlin 1810, dont la première traduction en français parut en 1811: Voyage en Norvège et Laponie, fait dans les années 1806-1807 et 1810, par M. Léopold de Buch. Traduit de l'allemand par Jean-Baptiste-Benoît Eyriès. Précédé d'une introduction de M. Alexandre de Humboldt. 2 vol. Paris 1816.

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les lettres allemandes et les lettres françaises. Il ne cessera de témoigner le plus vif intérêt pour la littérature allemande mais ce qui l'occupe désormais ce sont les relations entre savants allemands et savants français. Comme il lui semblait, qu'en Suisse, Chamisso ne savait pas comment occuper son temps, de La Foye, dans une lettre du 28 mai 1812, lui recommanda vivement, de s'adonner à la botanique, de lui cueillir des spécimens de la flore alpestre, en échange de plantes de la flore littorale qu'il se propose de lui envoyer. On ne peut dire absolument que de La Foye a été, seul, à l'origine de la vocation naturaliste de Chamisso, mais il a certainement largement contribué à orienter vers la botanique cet esprit curieux et avide de connaissances. N'oublions pas en effet que celui-ci deviendra directeur de ΓHerbarium du jardin botanique de Berlin en 1819 et qu'il acquerra une place incontestée parmi les personnalités naturalistes de son temps, si bien bien que, dès lors, on peut se demander s'il n'appartient pas davantage à la «République des Sciences» qu' à celle des Lettres.48 Il est certain qu'en 1835, Chamisso se souvenait encore du conseil de son ami et déclarait: «La chose me parut lumineuse, et je fis comme il m'était dit.»4' Dès le 23 mai 1812, il peut écrire à son ami qu'il connaît déjà quelques centaines de plantes et que s'il n'est pas encore tout à fait chez lui dans le domaine des fleurs, elles l'attirent néanmoins chaque jour davantage.50 Dans le courant de septembre 1812, Chamisso retourne à Berlin et s'inscrit tout de suite à l'université pour y suivre des cours de médecine et de botanique. Il dissèque, travaille d'autre part au Museum et parcourt, la boîte à plantes sur le dos, les environs de Berlin.51 Au moment où va s'ouvrir la campagne de Russie, de La Foye, lui apprend que le Journal de l'Empire continuait à faire des compte-rendus élogieux de certains ouvrages récents parus en Allemagne.52 Les événements politiques et militaires de 1813 et de 1814 ont certainement perturbé les échanges de lettres entre les deux amis, puisque nous n'en connaissons que quatre pour la période entre le 27 août 1812 et le 14 juillet 1814, aucune entre le 20 janvier 1813 et le printemps de 1814. Elles nous permettent de connaître les propos qu'ils ont échangés sur les immenses bouleversements politiques de l'époque. En janvier 1813, Chamisso fait part de son intention de rester à l'écart du grand

48 René-Marc PILLE, Adelbert von Chamisso vu de France 1805-1840. Genèse et réception d'une image. Paris 1993, 16 (témoignages d'Alexander von Humboldt, de Jussieu etc.). Cf. Günther SCHMID, Chamisso als Naturforscher. Eine Bibliographie. Leipzig 1942. 49 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 401. 50 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 196. 51 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 409. 52 RIEGEL, Correspondance (wie Anm. 1), 198. De La Foye évoque le compte rendu du «Zauberring» de La Motte-Fouqué, et des poésies d'Helmina de Chézy.

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mouvement patriotique qui secoue la Prusse et de continuer à étudier.53 Au premier appel du roi de Prusse créant, le 3 janvier 1813, des corps de chasseurs volontaires, il envisage d'y suivre son ami La Motte-Fouqué mais, sur les conseils de son ami Hitzig, il se ravise.54 Finalement, il va se réfugier à Kunersdorf, près de Wriezen dans l'Oberbnich, chez le comte Itzenplitz qui y possédait des plantations d'arbres américains, un jardin botanique, une bibliothèque et un herbier. C'est dans cette retraite qu'il écrit la Peter Schlemihls wundersame Geschichte, qui paraît à Nuremberg en 1814 et qui devait fonder sa réputation d'écrivain allemand.55 Devant les événements de 1814, de La Foye adopte la même attitude que son ami: l'expectative, préférant courir les forêts à la recherche de nouvelles plantes. Il déplore de ne pouvoir lire les auteurs d'Outre-Rhin, particulièrement la MotteFouqué, car les ouvrages allemands sont devenus trop chers et il confesse: «Die deutsche Sprache wird von mir jetzt beinahe fremd; seit einem Jahre hatte ich keine einzige Zeile gelesen».56 On s'attardera sur une lettre qu'il adresse à Chamisso, le 24 mars 1815.57 Dans sa version imprimée elle comporte quarante-huit lignes: sept sont consacrées à accuser réception de Peter Schlemihl, à féliciter son auteur et à lui demander des conseils en vue d'une traduction en français (toujours le souci de faire connutre les livres allemands en France), vingt-deux à de La Foye lui-même, qui n'entend plus pratiquer la botanique que pour se distraire, il donne des cours publics de physique et envisage de devenir professeur d'université dans cette discipline et demande à son ami de lui adresser les ouvrages de cette science disponibles en Allemagne; enfin douze traitent des problèmes politiques. De La Foye déplore que le «diable», c'est-àdire Napoléon, soit sorti de sa tanière de l'île d'Elbe: «Si Napoléon l'emporte je vois une terrible guerre civile. Le peuple est certes tout entier pour le Roi, mais toute l'armée est pour l'ex-empereur et c'est elle qui décidera. Dans ces temps troublés, je reste un spectateur impassible ...» Il dit de lui-même qu'il a passé un bon hiver, durant lequel il a beaucoup dansé, qu'il a bien fêté le carnaval. On comprend dès lors qu'il déplore que le diable soit sorti de son antre. Nous ne possédons malheureusement pas de lettres de Chamisso à son ami pour l'année 1815 et nous ne savons pas s'il lui a fait part des jugements qu'il portait sur eux.

53

PALM, Chamisso's Werke (wie Anm. 1), Bd. V, 379. RIECEL, Correspondance (wie Anm. 1), 204-205. 55 RIEGEL, Chamisso (wie Anm. 2), 412-415. Le titre complet de l'ouvrage de Chamisso est Adelbert v. CHAMISSO, Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. Hrsg. ν. Friedrich Baron de la Motte Fouqué. Nürnberg 1814. 54

56

RIEGEL, C o r r e s p o n d a n c e ( w i e A n m . 1), 2 0 7 - 2 0 8 .

57

Ebd., 209-210.

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Interrompue par les événements de 1815, puis du voyage de Chamisso autour du monde (juillet 1815-septembre 1818), la correspondance entre les deux amis reprendra le 30 octobre 1818 ... mais nous sortons des limites chronologique de la présente étude. La correspondance entre Chamisso et de La Foye, même si on ne l'étudié que pour la période 1803-1815, révèle quelques aspects inattendus de l'histoire des relations intellectuelles franco-allemandes. On sait que la Révolution française a détruit la République des lettres qui s'était installée en Europe à l'époque de Γ Aufklärung. On sait que la politique de Napoléon en Allemagne y a donné naissance dès 1806, et sans doute même avant, à une opposition d'abord purement antinapoléonienne qui, ensuite, s'est étendue à la France et à tout ce qui était français. Pourtant, en dépit de cela, les contacts intellectuels n'ont pas été complètement brisés. La présence de nombreux penseurs allemands à Paris en 1810, ceux qu'y rencontraient Chamisso et de La Foye, prouve le contraire. Des Français, ont appris à connaître l'Allemagne au moment de l'émigration. Certains d'entre eux ont choisi devenir allemands comme Chamisso ou Charles de Villers. Mais, à la différence de celui-ci qui deviendra farouchement anti-français, - ne sera-t-il pas, dans ce domaine, un conseiller de Mme de Staël?58 - , Chamisso se refusera à toute attitude hostile envers son ancienne patrie, France, même s'il n'aimait le régime napoléonien. Mieux même, il voudra que les deux nations apprennent à se mieux connaître au travers des œuvres de leurs écrivains respectifs. Il a rencontré pour cela l'appui constant de son ancien camarade d'émigration Louis de La Foye. Après 1815, dans la paix retrouvée, il pourront se consacrer à cet objectif dans la sérénité: Chamisso en faisant connaître les écrivains français aux Allemands, de La Foye en faisant connaître à ses compatriotes les écrits des savants allemands: physiciens et naturalistes parmi lesquels figurait en bonne place l'ami qu'il avait rencontré pour la première fois au Nordsternbund à Berlin en 1803.

38 Louis REYNAUD, Français et Allemands. Histoire de leurs relations intellectuelles et sentimentales. Paris 1930, 179.

Hans Schmidt Der Kriegsgott selbst? Napoleon I. und seine Armee

Den Kaiser macht das Heer! Im Falle Napoleons trifft dies zweifellos zu. Denn ohne die Revolution und den Krieg, die ihm seinen Aufstieg vom unbekannten Artillerieoffizier aus armem korsischen Kleinadel zum ersten Feldherrn seiner Zeit ermöglichten, ohne das Heer, das er dabei für sich gewann und zum ihm ergebenen Instrument seines Ehrgeizes machte, wäre er nie an die Spitze Frankreichs gelangt. Und als 1814 die Armee ihm die Gefolgschaft aufsagte, da war das Ende seines Kaisertums gekommen, an dem auch das Nachspiel der Hundert Tage 1815 nichts mehr zu ändern vermochte.1 Den Feldherm Napoleon haben daher auch seine Zeitgenossen in erster Linie bewundert. Er galt lange Jahre hindurch für unbesiegbar, seine Kriegführung als neu und die bisherigen Regeln über den Haufen werfend. Clausewitz, dem wir die tiefsten Einsichten in das Wesen der Kriegführung, wie sie Revolution und napoleonisches Zeitalter gebracht hatten, verdanken, rief im Hinblick auf die rasche Niederwerfung Österreichs und Preußens in den Jahren 1805 und 1806/07, sowie auf den erneuten Sieg des Korsen über Österreich im Jahre 1809 bewundernd aus: „Der Gegner der Österreicher und Preußen war, um es kurz zu sagen, der Kriegsgott selbst".2 Von „napoleonischer Kriegführung" spricht denn auch die Geschichts-

1 Die Napoleonliteratur ist immens. Zur Gesamtbeurteilung seiner Persönlichkeit verweise ich hier nur auf Roger DUFRAISSE, Napoléon. 2. Aufl. Paris 1991, deutsch unter dem Titel: Napoleon. Revolutionär und Mensch. München 1994, sowie auf Hans SCHMIDT, Napoleon I. (1799/ 1804-1814/15), in: Französische Könige und Kaiser der Neuzeit. Von Ludwig XII. bis Napoleon III. 1498-1870. Hrsg. v. Peter Claus Hartmann. München 1994, 308-366, beide mit weiterführenden Literaturangaben. Die moderne Standardbiographie schrieb Jean TuLARD, Napoléon ou le mythe du sauveur. 2. Aufl. Paris 1986, deutsch: Napoleon oder Der Mythos des Retters. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1978. Der militärgeschichtliche Aspekt kommt bei Tulard allerdings zu kurz. 2 Carl v. CLAUSEWITZ, Vom Kriege, zit. in der Ausgabe Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980 [Ullstein-Materialien], 648. Dieser Ausgabe liegt die Erstauflage von 1832-34 zugrunde.

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Hans Schmidt

Wissenschaft3, zweifellos zu Recht, denn die Jahre von 1796 bis 1815 stehen in der Kriegs- und Militärgeschichte ganz in Napoleons Zeichen. Seine Gegenspieler wurden gemessen an den Maßstäben, die er gesetzt hatte, blieben in seinem Schatten. Dies gilt selbst für so bedeutende Erscheinungen wie den noblen Erzherzog Carl, den ihm wohl am nächsten kommenden Gneisenau und den Herzog von Wellington. Besiegt werden konnte Napoleon erst, als er sich nach der russischen Katastrophe von 1812 im Jahre 1813 mit einer neu aufgestellten Rekrutenarmee schließlich einer Koalition aller führenden Mächte Europas gegenübersah, einer gewaltigen Übermacht also, deren Armeen überwiegend - so vor allem die preußische und österreichische - nach den neuesten Prinzipien geschult und organisiert waren. Lediglich die englische Armee unter Wellington war noch ganz eine Söldnerarmee im alten Stile und auch das russische Heer hatte eine militärische Modernisierung noch nicht völlig vollzogen. Diese verbündeten Armeen wurden nun überdies, sieht man auch hier wiederum von Wellington ab, nach den neuen Führungsprinzipien geleitet. Vor allem das Tandem Blücher und Gneisenau, an der Spitze der schlesischen Armee, verfuhr nach den Methoden der napoleonischen Kriegführung. Und speziell die preußischen und österreichischen Truppen kämpften nun mit der, den Verhältnissen ihrer Heere angepaßten, Taktik der Franzosen. So hatte denn auch Napoleons schließliche Niederlage den Eindruck seiner gewaltigen Überlegenheit nicht zu

3 Die maßgebliche neuere Darstellung des Feldherrn Napoleon ist David CHANDLER, The Campaigns of Napoleon. London 1966, sowie ders., A Dictionary of the Napoleonic Wars. 2. Aufl. London 1993; ders., On the Napoleonic Wars. Collected Essays. London 1994. Daneben James MARSHALL-CORNWALL, Napoleones Military Commander. London 1967. Eine glänzende Einführung in die Kriegführung im napoleonischen Zeitalter ist Gunther E. ROTHENBERG, The Art of Warfare in the Age of Napoleon. London 1977. Von ROTHENBERG stammt femer die sehr kenntnisreiche und instruktive Darstellung: Napoleons Great Adversaries. The Archduke Charles and the Austrian Army 1792-1814. London 1982. Die letzten französischen Darstellungen sind Jean DELMAS/Pierre LESOUEF, Napoléon. Chef de guerre. 3 Bde. Paris 1976 und Henry LACHOUQUE, Napoléon. 20 ans de campagnes. Paris 1964. Eine glänzende Charakteristik des Feldherrn Napoleon und eine gediegene Darstellung der französischen Armee dieser Zeit findet sich in den Beiträgen von Gilbert BODINIER, die der Revolution und dem Empire gelten, in: Histoire Militaire de la France. Hrsg. v. Jean Delmas. Bd. 2: De 1715 À 1871. Paris 1992, 195-370. Peter PARET verdanken wir den interessanten Aufsatz: Napoleon and the Revolution in War, in: Makers of Modem Strategy. From Machiavelli to the Nuclear Age. Hrsg. v. dems. Princeton 1986, 122-142 und ebenso die beiden - Napoleon betrachtenden - Essays: Napoleon as Enemy sowie Jena and Auerstedt, in: ders., Understanding War. Essays on Clausewitz and the History of Military Power. Princeton 1992, 7 5 - 8 4 bzw. 85-91 (Napoleon ist natürlich auch in den meisten übrigen Beiträgen dieses Bandes direkt oder indirekt vorhanden). In deutscher Sprache versuchte zuletzt Volkmar REGLING in seinem Beitrag: Grundzüge der Landkriegführung zur Zeit des Absolutismus und im 19. Jahrhundert, in: Deutsche Militärgeschichte 1648-1939. Hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Bd. 6: Gnindzügeder militärischen Kriegführung. München 1983, 11-426, zu einer Gesamtwürdigung des Feldherrn Napoleon und dessen Armee zu gelangen (hier zit. die Taschenbuchausgabe Herrsching 1983, 251-256). Immer noch unentbehrlich ist Wolfgang v. GROOTE/KIaus-Jürgen MÜLLER (Hrsg.), Napoleon I. und das Militärwesen seiner Zeit. Freiburg 1968.

Der Kriegsgott selbst?

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zerstören vermocht. Er und sein Heer blieben nach w i e vor das große Vorbild für die Kriegstheoretiker des 19. Jahrhunderts. Clausewitz vor allem erfaßte tief und richtig das Wesen des Nationalkriegs der Wehrpflichtarmeen, der in letzter Konsequenz zum totalen, oder w i e er sagte „absoluten" Krieg fuhren mußte. Napoleon war für ihn der Meister dieser neuen Kriegskunst. Clausewitz erschöpfte sich nun nicht in deren faktisch-historischer Beschreibung, sondern drang zu allgemeinen Einsichten vor und formulierte diese in klassisch schönem Deutsch. 4 Während aber der preußische Kriegsphilosoph, nicht zuletzt weil er keine praktischen Gebrauchsanweisungen lieferte, lange Zeit völlig unbeachtet blieb - im Grunde ist sein weltweiter Ruhm erst im 20. Jahrhundert gewachsen - wurde der andere Hauptinterpret napoleonischer Kriegführung viel bekannter und einflußreicher: Antoine Henri Jomini. 5 Denn dieser Mann, der seine militärische Laufbahn in Napoleons Heer begann und bis zum Général de Brigade aufstieg, um sie dann als General im russischen Dienst zu beenden, versuchte das Wesen der napoleonischen Kriegführung, so w i e er sie verstand, in praktisch verwertbare, erlernbare und nachvollziehbare Grundsätze zu fassen. Er schrieb also, salopp gesagt, militärische Kochbücher. 6

4 Die vollständigste Clausewitz-Bibliographie sowie ein Verzeichnis des Clausewi tznachlasses findet sich bei Werner HAHLWEG (Hrsg.), Carl v. Clausewitz. Schriften - Aufsätze - Studien Briefe. Dokumente aus dem Clausewitz-, Schamhorst- und Gneisenau-NachlaB sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen. Bd. 2/2. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 49,2.) Göttingen 1990. - Aus der zahlreichen Clausewitzliteratur sind für die moderne Forschung richtungweisend: Hans ROTHFELS, Carl von Clausewitz. Politik und Krieg. Eine ideengeschichtliche Studie. Berlin 1920 (ND 1980); Raymond ARON, Penser la guerre. Clausewitz. 2 Bde. Paris. 1976, deutsche Ubersetzung: Clausewitz, den Krieg denken. Frankfurt am Main u. a. 1980. Peter PARETT, Clausewitz and the State. Oxford 1976; ders., Understanding War (wie Anm. 3); Ernst VOLLRATH, Das Verhältnis von Staat und Militär bei Clausewitz, in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte. Hrsg. v. Johannes Kunisch. Berlin 1986, 447-462. 5 Antoine Henri JOMINI wurde durch sein erstes Werk bereits berühmt: Traité de grand tactique ou relation de la guerre de sept ans, extraits de Tempelhoff commentée et comparée aux opérations des dernières guerres, avec un receuil des maximes les plus importantes de l'art militaire, und der dazugehörige Atlas du traité de grand tactique. 3 Bde. Paris 1805-1806. Von seinen zahlreichen militärtheoretischen und militärhistorischen Schriften wurde am einfluß reichsten: Précis de l'art de guerre. 2 Bde. Paris 1837, deutsch: AbriB der Kriegskunst. Übers, v. Albert v. Boguslawski. 2. Aufl. Dresden 1901. „Für die Kritiker seiner militärischen Gedanken genügt es, diese Schrift gelesen zu haben", so Gustav DÄNKER, General Antoine Henri Jomini 1779-1869, in: Klassiker der Kriegskunst. Hrsg. v. Werner Hahlweg. Darmstadt 1960, 267-284, zit. 270. Über Jomini zuletzt John SHY, Jomini, in: PARET, Modem Strategy (wie Anm. 3), 143-185, mit wertvollen bibliographischen Angaben. 6 Jomini war selbstverständlich viel zu klug um nicht zu wissen, daß der kriegerische Erfolg kein Rechenexempel ist. „Dies ist wenigstens die Ansicht, welche Napoleon zu der seinigen machte, dessen glänzende Operationen mehr in das Gebiet der Poesie als in das der exakten Wissenschaften zu gehören scheinen. Die Ursache ist einfach: der Krieg ist ein von Leidenschaften erfülltes Drama und nicht eine mathematische Operation" - JOMINI, Abriß der Kriegskunst (wie Anm. 5), 134-135. Aber, wie Gustav DÄNIKER, General Jomini (wie Anm. 5), 270, gesagt hat: „seine Frage lautete nicht philosophisch ,was ist der Krieg' sondern praktisch, ,wie führt man Krieg?'". Und so leitete Jomini aus den Feldzügen Napoleons vor allem Regeln und Methoden des Vorgehens ab, wie z. B. das Prinzip der Operation auf der inneren Linie - der Begriff stammt von ihm - , der Versammlung

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Wie also sah das Instrument aus, dessen sich Napoleon bediente und inwieweit war es wirklich sein Heer, was hatte er an Neuem hinzugefügt, so stellt sich daher die erste Frage. Die zweite aber lautet: worin unterschied sich Napoleons Kriegführung und Strategie von der seiner Zeitgenossen? Was verlieh ihr ihr besonderes Gepräge? Die übereinstimmende Antwort der modernen Militärgeschichtsforschung zur ersten Frage lautet: sein Heer glich in Struktur, Organisation und Taktik den Revolutionsheeren fast aufs Haar. Er hat diesen so gut wie nichts hinzugefügt. Und die zweite Frage muß man fast ebenso beantworten, zumindest, wenn man auf rational erklärbare Methoden sieht. Denn alles, was der Korse praktizierte, hatten auch andere schon vor ihm so ähnlich gemacht. War er also wirklich nur ein guter General unter einer Menge anderer guter Generale, wie dies Peter Paret, wenn auch mit vorsichtiger Einschränkung, zumindest für die Schlußphase seiner Laufbahn feststellte? Im Folgenden soll versucht werden, darauf eine Antwort zu geben.7 Die militärische Revolution, deren größter Exponent Napoleon war, ist nicht über Nacht gekommen. Geistig war sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorbereitet worden durch die Schriften der aufgeklärten Militärtheoretiker Frankreichs und Deutschlands, des Marschalls Moritz von Sachsen, des Chevalier Folard, des Grafen Guibert, dessen „Essai général de tactique" damals weites Aufsehen erregte, des französisch schreibenden Wallisers Lloyd, des Generals Bourcet, des Artilleriereformers Gribeauval und des Artillerietaktikers Chevalier du Teil.8 Der junge Bonaparte hat als Artillerieleutnant in Auxonne vermutlich fast alle diese Militärtheoretiker gelesen und sich mit deren Theorien befaßt.9 Diskutiert wurde das Ungenügen der Lineartaktik, der man mangelnde Stoßkraft vorwarf. Marschall Moritz von Sachsen und besonders Folard hatten deshalb eine Taktik der Kolonnen vorgeschlagen. Weiterhin war man mit der bisher üblichen Gliederung der Armee unzufrieden. Marschall Broglie hatte bereits am Ausgang des

der Massen am entscheidenden Punkt, der Operation gegen die schwachen Punkte des Feindes mit überlegenen Streitkräften. Mit einem Wort, er schuf ein erlernbares System, das „handfeste Regeln wie Vorschriften anbot, wofür der Durchschnittssoldat immer dankbar ist", so REGLING, Grundzüge (wie Anm. 3), 319. Ahnlich Hew STRACHAN, European Armies and the Conduct of War. London 1983, 64: „Whatever Jomini's defect in his interpretation of Napoleon, his contribution to the development of the military profession was immense. He had defined the terms of strategy and the Précis presented them in a comprehensible and assimilable whole". 7 PARET, Understanding War (wie Anm. 3), 84: „At the end Napoleon remains a genius - either Bfilow's giant towering above all rules, or, as Clausewitz saw him more accurately, a man who harmoniously combines universal human qualities raised to exceptional power. But now that he faces opponents whose resources exceed his, we can almost believe that - not in his fantasies but in his actions - he has become what ten years earlier the reactionary or obtuse Prussian officer said he was: merely one among a number of competent generals. " 8 Dazu s. zuletzt Azar GAT, The Origins of Military Thought. From the Enlightenment to Clausewitz. Oxford 1989. 9 Jean COLIN, L'éducation militaire de Napoléon. Paris 1901, 164; vgl. auch ebd., 371.

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Siebenjährigen Krieges die Errichtung von Divisionen, aus allen drei Waffengattungen bestehend, die als selbständige taktische Körper operieren konnten, angeregt und erprobt. Man hoffte diese kleineren, selbständigen Truppenkörper damit auch von der MagazinVerpflegung unabhängiger machen zu können. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg hatte - wie auch bereits die zunehmende Bedeutung des Kleinkriegs am Ende des Siebenjährigen Krieges - die Wichtigkeit des Fechtens in aufgelöster Ordnung, des Tirailleurgefechts also, gelehrt.10 Die Auflösung der starren Linien wurde in diesen Schriften gefordert. De la Croix und Grandmaison schlugen die Einführung der Bataillonskolonnen als neuer Angriffsformation vor mit dem Hinweis, daß diese in durchschnittenem Gelände beweglicher als die starren Linien seien und du Teil, dessen Bruder einer der Lehrer Napoleons war, propagierte die Zusammenfassung der Artillerie in großen Batterien, die als Offensivwaffe den Durchbruch der Infanterie vorbereiten sollten: „II faudra réunir la plus grande nombre de troupes et une plus grande quantité d'artillerie sur les points où l'on veut forcer l'ennemi", „II faut multiplier l'artillerie sur les points d'attaque qui doivent décider de la victoire".11 Guibert allerdings hielt an der Linie, die die Feuerkraft der Infanterie am besten zum Tragen bringe, fest. Aber gerade Guibert, der den Zusammenhang zwischen Kriegführung und Staatsverfassung sehr scharf im Auge behielt, forderte für die neue Zeit eine „aus Bürgern bestehende Armee".12 In Deutschland hatte Berenhorst die Kriegführung des Ancien Régime heftig kritisiert.13 Aber gerade hier und besonders in Preußen hielt man an der überkommenen Taktik fest und schien nach den ersten Erfahrungen mit den Revolutionsheeren, bis zum

10 Peter PARET, The relationship between the American revolutionary War and European military thought and practice, in: ders., Understanding War (Anm. 3), 26-38, passim. 11 Général Jean-Pierre DUTEIL, L'Usage de l'artillerie nouvelle dans la guerre de campagne. Paris

1778, zit. bei COLIN, É d u c a t i o n (wie A n m . 9), 7 5 . 12 REGUNG, Grundzüge (wie Anm. 3), 148. Rudolf VIERHAUS, Lloyd und Guibert. in: Klassiker der Kriegskunst (wie Anm. 5), 187-210. Zuletzt Robert R. PALMER, Frederick the Great, Guibert, Bülow: From Dynastie to National War, in: PARET, Modern Strategy (wie Anm. 3), 91-122, bes. 102-108; vgl. auch Werner GEMBRUCH, Staat und Heer. Ausgewählte historische Studien zum Ancien Régime, zur Französischen Revolution und zu den Befreiungskriegen. Hrsg. v. Johannes Kunisch. Berlin 1990, 377-396. Zuerst erschienen in: GROOTE/MÜLLER, Napoleon I. (wie Anm. 3), 9-28. 13 Grundlegend Eberhard KESSEL, Franz Heinrich von Berenhorst. Ein anhaltinischer Theoretiker und Geschichtsschreiber der Kriegskunst am Ende des 18. Jahrhunderts, in: ders., Militärgeschichte und Kriegstheorie in neuer Zeit. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. Johannes Kunisch. Berlin 1987, 80-115. Zuletzt dazu GAT, Origins (wie Anm. 8), 150-153. Guter Überblick über die ganze Debatte bei RECLINO, Grundzüge (wie Anm. 3), 139-150. Informativ, aber einseitig in seiner Interpretation, viele durch die Kriegsereignisse zerstörte Quellen zitierend: Reinhard HÖHN, Revolution - Heer Kriegsbild. Darmstadt 1944. Werner HAHLWEG, Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg. Frankfurt am Main 1962, 90, hat am Beispiel eines Briefwechsels zwischen Scharnhorst und Yorck aus dem Jahre 1811 nachgewiesen, daß HÖHN, ebd., 699 das Yorcksche Schreiben durch eigene Zusätze erweitert hat, um es im nationalsozialistischen Sinn interpretierbar zu machen.

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Baseler Frieden, von der Überlegenheit der hergebrachten Fechtweise - der Fechtweise Friedrichs des Großen, wie man sagte - überzeugt zu sein.14 Den Durchbruch der neuen Gedanken brachte die Französische Revolution. Denn zum einen hatte sie in Frankreich zunächst die Auflösung des königlichen Heeres und den Verfall der Disziplin zur Folge, nicht zuletzt weil sich viele Soldaten gegen ihre adeligen Offiziere wandten, die zahlreich Frankreich verließen. Von den 13 500 Offizieren der Armee im Jahre 1789 befanden sich bis zum 10. August 1792 72 % nicht mehr bei der Truppe.15 Mit der Kriegserklärung von 1792 an die alten Mächte und der darauffolgenden revolutionären Kreuzzugsphase wuchs aber der Bedarf an Soldaten und Offizieren und setzte sich immer mehr die Vorstellung einer allgemeinen Wehrpflicht der Bürger durch. Nach dem berühmten Aufruf „La patrie en danger" vom 11. Juli 1792, der einen großen Freiwilligenzustrom brachte, war man - da mit steigender Zahl der Kriegsjahre und der Verluste die patriotische Begeisterung merklich abkühlte - über Dienstpflichtverordnungen schließlich am 5. September 1798 zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, der Loi Jourdan, gelangt. Theoretisch war damit jeder unverheiratete Franzose nach vollendetem 20. Lebensjahr nunmehr dienstpflichtig. Die Einberufung der Rekruten erfolgte nach Bedarf.16 Seit dem Aufruf von 1792 und der 1793 verfügten levée en masse verfügte das revolutionäre Frankreich nun über billige Soldatenmassen, etwas, von dem seine absolutistischen Gegner, die teure Soldaten anwerben lassen mußten, nur träumen konnten. Napoleon hat die Loi Jourdan dann beibehalten, wenn auch in verwässerter Form, da er eine Stellvertretung zuließ, mit Rücksicht auf das wohlhabende Bürgertum.17 Damit war den französischen Heeren vom Beginn der Revolutionskriege an ein großer zahlenmäßiger Vorsprung vor ihren Gegnern gesichert, auch wenn dies auf den Kriegsschauplätzen zunächst nicht immer in Erscheinung trat. Erst als Napoleons Gegner nach schmerzlichen Niederlagen nun auch die allgemeine Wehrpflicht einführten, wie Preußen dies allerdings erst am 3. September 1814 tat18, oder

14 Dazu immer noch grundlegend Colmar V. der GOLTZ, Von Roßbach bis Jena und Auerstedt. Berlin 1906. Die Erstauflage erschien 1882 unter dem Titel: Roßbach und Jena. 15 Gilbert BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 282. Vgl. auch ders., Die Wandlungen in den französischen Streitkräften während der Revolution, in: Die Französische Revolution und der Beginn des Zweiten Weltkrieges aus deutscher und französischer Sicht. Hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Herford/Bonn 1989, 14-16. 16 BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 244. 17 Ebd., 309; dazu auch Rainer WOHLFEIL, in: Deutsche Militärgeschichte (wie Anm. 3), Bd. 2, 47: „Die napoleonische Wehrgesetzgebung behielt das Konskriptionssystem bei, ließ aber im Gegensatz zur .levée en masse' oder zum Wehrgesetz vom 19. Fructidor VI ( = 5. September 1798) die individuelle Exemtion, die Stellvertretung zu. Damit wurde die Idee der allgemeinen und gleichen Wehrpflicht wiederum zu einer Fiktion." 18 Ebd., 128; doch hatte man schon 1813 durch Landwehr, Landsturm und freiwillige Jäger praktisch die Wehrpflicht eingeführt; ebd., 127.

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wie Österreich das Konskriptionssystem, das seit Joseph II. bestand, verbesserten19, konnten sie ihm nun selbst zahlenmäßig überlegene Heere entgegenstellen. Die revolutionäre Armee, die zunächst noch sehr stark von den Regimentern der königlichen Armee lebte, die allein ja eine gute Ausbildung besaßen, wurde nun in den kommenden Jahren bewußt mit dieser gemischt und zu einer neuen Einheit verschmolzen.20 Durch den Wegfall des Adelsprivilegs für Offiziere eröffnete sich überdies jungen Talenten die Möglichkeit zu raschem Aufstieg und erfuhr das französische Offizierkorps überhaupt eine Veijüngung und Dynamisierung. Und es setzte sich nunmehr auch eine neue Kampfesweise durch. Dabei hatte sich aber an Bewaffnung und Ausrüstung der Armee gegenüber dem königlichen Heer nichts geändert und in dieser Hinsicht unterschied sie sich auch kaum von den anderen Heeren. Gewiß, dank Gribeauval hatte man etwas leichtere und beweglichere Geschütze, die sich überdies nun auf drei Standardkaliber für die Feldgeschütze, nämlich Vier-, Acht- und Zwölfpfünder, und zwei für die Belagerungsartillerie, 16und 24-Pfünder, beschränkten. Seit 1792 gab es auch eine reitende Artillerie, bei der die Bedienungsmannschaften auf Pferden saßen - aber das konnten die Preußen schon seit Friedrich dem Großen.21 Auch Infanterie und Kavallerie waren bewaffnet wie die Heere ihrer Gegner und wie seit den Tagen Ludwigs XIV. Verbesserungen an der Waffe waren unbedeutend. Die Treffsicherheit der Gewehre, die einen glatten Lauf hatten, war gering. Aber die Revolutionäre fanden zu neuen Kampfformen, fanden auch zu einer neuen Konzeption des Krieges und wurden, nach anfänglichen Rückschlägen für ihre zu undisziplinierten und ungeschulten Soldaten, schon recht bald zu gefürchteten Gegnern. Unter tüchtigen Generalen, wie Jourdan, Pichegru, Hoche, Masséna und Moreau - um nur einige Namen zu nennen - erzielten sie beträchtliche Erfolge, mußten aber immer wieder auch Rückschläge hinnehmen, bis Napoleon Bonaparte von 1796 an sich als ihrer aller Meister erwies und schon bald den Ruf der Unbe-

19 Jürgen ZIMMERMANN, Militärverwaltung und Heeresaufbringung in Österreich bis 1806, in: Deutsche Militärgeschichte (wie Anm. 3), Bd. III/l, 119-120; v. a. aber auch ROTHENBERG, Great Adversaries (wie Anm. 3), 72, sowie Hellmuth RÖSSLER, Österreichs Kampf um Deutschlands Befreiung. Die deutsche Politik der nationalen Führer Österreichs 1805-1815. 2 Bde. 2. Aufl. Hamburg 1940, hier Bd. 1, 324-325. 20 BODINIER, Wandlungen (wie Anm. 15), 22-24. Auf die entscheidende Rolle der alten Armee, bei Widerlegung der Freiwilligenlegende, hat bereits Arthur CHUQUET, Les Guerres de la Révolution. 9 Bde. Paris 1886-1896, hier Bd. 2: Valmy. 1887, passim, hingewiesen. Zuletzt zu diesem Problem mit ganz klarer Aussage Roger DUFRAISSE, Valmy: une victoire, une légende, une énigme, in:

F r a n c i a 17, 1990, 9 5 - 1 1 8 . 21 BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 249-250. Wesentlich detaillierter ROTHENBERG, Art of Warfare (wie Anm. 3), 74-80. Sehr kundig und die Praxis im Gefecht stark berücksichtigend Herbert SCHWARZ, Gefechtsformen der Infanterie in Huropa durch 800 Jahre. München 1977,

419-420.

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siegbarkeit erhielt. Worin bestand nun die erfolgte Änderung im Wesen der Kriegführung, daneben der Taktik und vor allem in der Struktur der Heere? Die Heere des Ancien Régime waren hochgezüchtete, sorgfältig gedrillte Söldnerarmeen, die zwar auch, dank des Kantonsreglements in Preußen oder der Konskription in Österreich starke einheimische Kader hatten, bei denen aber doch ein hoher Anteil an Ausländern vorhanden war.22 Groß war die Zahl der Deserteure und die Desertionsgefahr war fast mehr gefürchtet als der Feind. Die Berufssoldaten, die in der Regel auf Lebenszeit dienten, band ja nichts außer dem Sold an ihren Kriegsherrn. Bei den Offizieren lagen die Dinge anders, besonders wenn sie fast ausschließlich Landeskinder waren wie in Preußen. Die Heeresstärken waren relativ gering, da eine Armee sehr teuer war. Gefallene Soldaten mußte man auf dem kostspieligen Werbemarkt ergänzen, weshalb man Schlachten scheute. Und diese konnte man auch durchaus vermeiden und sein Ziel durch geschickte Manöver zu erreichen versuchen, waren diese Heere doch abhängig von der Magazinversorgung. Denn mit Rücksicht auf die Desertionsgefahr wollte man die Truppe nicht auflösen und etwa zum Plündern und Fouragieren ohne Aufsicht wegschicken. Aus dem gleichen Grund konnte man auch einen geschlagenen Gegner nicht augenblicklich verfolgen, sondern mußte vielmehr zuerst seine Verbände wieder ordnen. Ging nun ein Magazin verloren, mußte das Heer zurückweichen. Dabei war der Troß dieser Heere groß und ihre Bewegungen daher langsam. Mit ihnen konnte man nicht weiträumig operieren und die Generale jener Zeit hatten auch keine entsprechenden Vorstellungen. Dazu führte man den Krieg, bei dem es ja nie um Sein oder Nichtsein der Beteiligten ging, ohne Haß, als Handwerk mit allerdings für die Beteiligten eventuell tödlichen Konsequenzen. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde daher in Europa der Krieg nach den Grundsätzen einer reinen Manöverstrategie geführt, als eine Art von Schachspiel mit lebenden Figuren, rational, berechenbar, unter größtmöglicher Schonung der Zivilbevölkerung, deren Steuerkraft man sich ja erhalten bzw. nutzbar machen wollte. Bei Schlachten und Gefechten bediente man sich der Lineartaktik. Die Soldaten fochten dabei in geschlossener Linie in langer dünner Aufstellung - drei Glieder tief standen z. B. die Preußen - da man nur so die Feuerkraft der Infanterie, als der die Schlacht entscheidenden Waffe, zur Wirkung bringen konnte. Auch war die geschlossene Formation geeignet, Desertionen zu verhindern. Den „kleinen Krieg", d. h. Streifzüge, Aufklärung etc. überließ man den leichten Truppen, die nicht hoch angesehen waren, obwohl diese Form des Krieges immer stärker an Bedeutung

22 Zu den folgenden Ausführungen über die absolutistische Armee verweise ich ein für allemal auf meinen Aufsatz: Staat und Armee im Zeitalter des „miles perpetuus", in: Staatsverfassung und Heeresverfassung (wie Anm. 4), 213-248. Dort die einschlägige Literatur.

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zugenommen hatte.23 Die Kavallerie unterteilte man in leichte und schwere. Die leichten Reiter, meist Husaren, in der Regel kleingewachsene Männer auf leichten schnellen Pferden, betrieben in erster Linie den „kleinen Krieg". Die schwere Kavallerie, Kürassiere und auch Dragoner, sollte in der Spätphase einer Schlacht durch ihren Massenangriff die Entscheidung bringen. Man stellte sie meist auf den beiden Flügeln der Schlachtordnung auf. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten schlugen sich diese Heere des Absolutismus gut und tapfer. Aber sie standen nun bald neuen Kampfformen und einer neuen Art des Krieges gegenüber, für die sie nicht geschaffen waren. Die Wehrpflichtarmeen mußten nämlich, im Gegensatz zu den Berufssoldaten der alten Heere, für den Kampf motiviert werden. Und so erfuhr der Krieg eine Reideologisierung. Aus dem Machtkampf der absoluten Fürsten, die den Krieg als ein anderes Mittel der Politik betrachteten, wurde nunmehr ein Kampf der Nationen auf Leben und Tod. Der Gegner wurde zum Feind, der auch moralisch minderwertig war und den es zu vernichten galt.24 Die Marseillaise mit ihrem furchtbaren Vers „marchons, marchons, qu'un sang impur abreuve nos sillons" kennzeichnet diesen Wandel treffend. Da die Wehrpflichtsoldaten billiger als die Söldner waren und sich rascher ersetzen ließen, konnten die Revolutionsgenerale es sich viel mehr als die Führer der alten Heere erlauben, Schlachten zu schlagen und Menschen zu verpulvern. Die Desertionsrate blieb zunächst allerdings immer noch hoch, um dann während des Konsulats abzusinken und während des Kaisertums Napoleons nur noch recht geringfügig zu sein.25 Aber diese neuen Soldaten, die in ihrem Kern fest zusammenhielten und ein gemeinsames politisches Ziel verfolgten, die den Feind haßten, verließen zwar vielleicht ihre Einheiten, sie liefen aber kaum zum Feinde über und konnten auch von diesem, falls sie gefangen wurden, nicht in seine Uniform gesteckt werden - wie dies noch Friedrich der Große und auch seine Gegner praktiziert hatten. So konnte man die Formationen leichter auflösen und sie durch Requisitionen aus dem 23 Grundlegend dazu Johannes KUNISCH, Der kleine Krieg. Wiesbaden 1972. Vor allem aber möchte ich hier auf die ungedmckte Diplomarbeit der Universität der Bundeswehr München von Martin RINK, Die Konzeption des kleinen Krieges zwischen Friedrich II. und Clausewitz. 1992, hinweisen, die das Problem souverän abhandelt. Femer SCHWARZ, Gefechtsformen (wie Anm. 21), 336, bes. aber Kapitel XII: Übergang von der rangierten Schlachtordnung zur Taktik der Kolonnen und Schützen, 348-368. 24 Clausewitz hat die neue Natur des Krieges als erster analysiert. Daß der dabei von ihm geprägte philosophische Begriff des „absoluten Krieges" nicht identisch mit dem „totalen Krieg" des 20. Jahrhunderts sei, hat Werner HAHLWEG, Clausewitz. Soldat - Politiker - Denker. Göttingen 1957, 75-76, betont. Eberhard KESSEL, Die doppelte Art des Krieges, in: ders., Militärgeschichte und Kriegstheorie (wie Anm. 13), 157-174, hier 172-174, meint, „daß seine Lehre die Möglichkeit von MiBverständnissen bietet". Die schrecklichen Folgen des „ideologisierten Krieges", der zwangsläufig zum „bellum iustum" werden muB, stellt überzeugend Franz UHLE-WETTLER, Die Gesichter des Mars. Krieg im Wandel der Zeiten. Bonn/Wien 1989, 163-165, heraus. 25 BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 244 und 315.

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Feindesland ernähren. Die Magazinabhängigkeit sank, der Troß verringerte sich, die Heere wurden beweglicher als ihre dem alten System verhafteten Gegner. Auch konnte man mit einer derartigen Armee nun den geschlagenen Feind unmittelbar verfolgen. Weiträumige Operationen waren mit ihnen möglich. Aber erst Bonaparte hat derartige Operationen konsequent betrieben. Die neue Taktik, mit der die Revolutionsheere ihre Gegner überraschten, war aus der Not geboren. Beherrschten doch vor allem die Freiwilligen die komplizierten Manöver, durch die man die langen Linien, am leichtesten in der Ebene, auf dem Schlachtfeld bewegen konnte, nicht. Sie lösten sich daher am Beginn eines Gefechtes schnell auf, eröffneten ein Schützengefecht, wobei sie Deckung suchten, wo sich welche fand, wichen vor Gegenstößen zurück, stellten sich nach Verstärkung wieder gegen den Feind und stürmten schließlich in Bataillonskolonnen auf den Gegner los. Traf der Stoß dieser geschlossenen Masse die dünne feindliche Linie, so zerbrach diese und war dann verloren. Hatte der Gegner allerdings vorgesorgt und ein zweites Treffen hinter der ersten Linie stehen, dann endete der mit Enthusiasmus geführte Stoß oft in regelloser Flucht. An Feuerkraft war die Linie der Kolonne zweifellos überlegen, brachte sie doch alle Gewehre zum Tragen, während nur die am äußeren Rand der Kolonne stehenden Soldaten auch schießen konnten. Große Verluste - die man aber hinnehmen zu können glaubte - waren daher häufig die Folge eines Kolonnenangriffs. Das Ganze, aus der Improvisation geboren, wurde zunächst auch nur als Notmaßnahme aufgefaßt. Die Linie galt auch im Frankreich der Revolution offiziell als die reguläre Kampfform, wie das Exerzierreglement vom 1. August 1791 beweist.26 Im Laufe der Entwicklung, als aus den revolutionären Haufen wieder disziplinierte Soldaten geworden waren, ging man denn auch zu einer Mischtaktik über und führte den Feuerkampf, den Tirailleure einleiteten, mit Hilfe der Linie, wobei man bei einer Halbbrigade, dann einem Regiment, jeweils ein Bataillon in Linie entwickelte und das zweite in Kolonnen zum Angriffsstoß dahinter aufstellte. Diese Taktik hat Napoleon in seiner Armee dann beibehalten, wobei aber das Reglement von 1791, das das Wort Kolonne nicht kannte, bestehen blieb.27 Das

26 SCHWARZ, Gefechtsformen (wie Anm. 21). Hier 348 grundlegende Darstellung. Weniger klar ist BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 255. Sehr überzeugend und differenziert, durchwegs Schwarz folgend, die Ausführungen bei REGUNG, Grundzüge (wie Anm. 3), 202-207. CHANDLER, Campaigns (wie Anm. 3), 344-351, erläutert kenntnisreich und mit instruktiven Schemata verdeutlicht die napoleonische Infanterietaktik, die „At first [...] varied little from those of the revolutionary forces [...]" - ebd., 344. Erst mit fallender Qualität der Truppen habe die taktische Flexilibität der ordre mince nachgelassen und man daher riesige und sehr verwundbare Divisionskolonnen - anstelle der Bataillonskolonnen - gebildet, so beispielsweise Drouet d'Erlon bei Waterloo; vgl. ebd., 346. 27 Am Beispiel des Treffens von Maida in Süditalien im Jahre 1806 erläutert dies David CHANDLER, Column versus Line: the Case of Maida 1806, in: ders., Napoleonic Wars (wie Anm

3), 130-145.

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ganze Verfahren lebte zunächst vom Enthusiasmus der Truppen, so daß noch 1793 Lazare Hoche schreiben konnte: „Point de manœuvre, point d'art, du fer, du feu et du patriotisme.u2% Aber dies war übertrieben und mit der modifizierten Kolonnentaktik ging man auch wieder zu kunstvollen Manövern über. Entgegen älteren Darstellungen hat das Tirailleurgefecht keine entscheidende Bedeutung erlangt, ja, es wurde sogar nicht einmal für besonders wirkungsvoll gehalten und war es auch nicht. Die dramatische Schilderung des Untergangs einer sich nur durch wirkungslose Salven der Linie verteidigenden preußischen Infanterie im Tirailleurfeuer der Franzosen bei Auerstedt ist Legende. In Wahrheit war das Salvenfeuer einer Linie die einzig wirklich wirksame Art eines Feuergefechts. „ Umgekehrt wie angenommen, ist das Tirailleurefeuer der Franzosen von geringer tatsächlicher Wirkung, das alte abteilungsweise Feuern aber sehr wirkungsvoll. "29 Entscheidend war vielmehr der „Kolonnenstoß mit dem Bajonett". Denn „die Schützen sind vorerst schlecht bewaffnet, schlecht ausgebildet, schlecht eingesetzt. Wie später mehrmals erwähnt, besteht der Wert des Schützenfeuers mehr in der Störung und in der Verschleierung. Das Feuer der französischen Tirailleure der Revolutionsarmee und der napoleonischen Armee ist störend durch die Menge der eingesetzten Schützen, nicht durch ihre Qualität ...". 30 Der Verschleierung diente das Feuer durch den Pulverdampf, der die Truppenbewegungen für den Feind verdeckte. Was die Kolonnentaktik in ihrer endgültigen Form wirkungsvoll machte, das war die größere Beweglichkeit der Kolonnen in durchschnittenem Gelände - die Linie brauchte eigentlich eine baumlose, hindernisfreie Ebene als Schlachtfeld - , die Möglichkeit, sie in Deckung zu halten bis zum entscheidenden Einsatz. So übernahmen denn auch alle Armeen der Gegner Napoleons diese Taktik allmählich, mit Ausnahme der Engländer, die an der herkömmlichen Lineartaktik und ebenso an der überkommenen Struktur der Söldnerarmee festhielten. Kolonnentaktik und Schützengefecht galten als die wichtigsten taktischen Neuerungen der Revolutionszeit und der napoleonischen Epoche. Sie wurden beide von Napoleon, als er seine Feldherrnlaufbahn begann, schon vorgefunden. An der Kavallerietaktik hat sich in der Revolutionszeit nichts geändert. Die Reiterei blieb in schwere und leichte Kavallerie eingeteilt und wie bisher war die schwere Kavallerie dazu bestimmt, durch eine Attacke die Entscheidung einer Schlacht herbeizu-

28 29

Zit. bei BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 253. SCHWARZ, Gefechtsformen (wie Anm. 21), 373.

30 Ebd., 373. BODINIER, in: Histoire militaire (wie Anm. 3), 257 f. Die Schwächen der Tirailleure hebt auch schon General Maxime WEYGAND, Die Geschichte der französischen Armee. Übers, V. Wilhelm Violet. Berlin o. J. [1939], 235, hervor.

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führen und dann die Verfolgung des geschlagenen Feindes zu übernehmen. Napoleon hielt sie in der Regel als masse de rupture zurück. Die leichte Kavallerie, Husaren, Lanciers und Chasseurs à cheval, sollte aufklären, verschleiern, konnte aber auch attackieren und hatte selbstverständlich ebenfalls die Aufgabe, den geschlagenen Feind durch Verfolgung zu vernichten. Die französische Kavallerie des Ancien Régime und der Revolution war notorisch schlecht. Napoleon hat sie dank großer Reiterführer wie Murat, Lasalle und Grouchy zu einem hohen Standard geführt. Eine Schwierigkeit aber konnte auch er nicht beheben, den notorischen Mangel an Pferden, was vor allem nach dem russischen Feldzug zu einem Mangel an Reiterei in seiner Armee führte.31 Die Artillerie wurde nun massiert eingesetzt. Lazare Hoche hat dies bei Kaiserslautern 1793 schon getan, Kléber und gelegentlich, nicht immer, Moreau verfuhren so.32 Napoleon, der Artillerist und Schüler des Bruders von du Teil, wandte diese neue Artillerietaktik bereits in seinem ersten Feldzug an. Aber er hat sie nicht erfunden und auch nicht als erster praktiziert. Auch die Divisionseinteilung war bereits vorhanden, als er seine militärische Laufbahn begann. Einen ihrer Nachteile, die Zersplitterung der Reiterei auf die einzelnen Divisionen, die es erschwerte oder gar unmöglich machte, diese geschlossen zum Entscheidungsstoß in einer Schlacht einzusetzen, stellte er bereits auf seinem Italienfeldzug ab. Er faßte nämlich eine starke Kavalleriereserve zusammen und beließ den Divisionen nur recht schwache berittene Aufklärungskräfte. Aber auch hier war ihm 1794 der General Dubois bei der Maas- und Sambre-Armee vorangegangen und hatte dort sogar eine eigene Kavalleriedivision gebildet33. Lazare Hoche setzte 1797 die von Dubois dort eingeleitete Entwicklung fort, nahm in jede Division ein Kavallerieregiment und bildete daraus mehrere Kavalleriedivisionen. Doch wurde der Einsatz großer Kavalleriemassen zum entscheidenden Durchbruch und zur Verfolgung erst in den Feldzügen Napoleons zu einem Standardverfahren der Franzosen.34 Eine Standarddivision der Revolutionszeit, wie sie sich seit 1793 herausgebildet hatte35, bestand aus zwei Brigaden zu vier Halbbrigaden - mit Napoleons Alleinherrschaft hießen diese dann wieder Regimenter - oder auch aus mehreren Brigaden, zwei Kavallerieregimentern, einer Kompanie Feldartillerie und einer Kompanie

31 BODINIER, in: Histoire militaire (wie Anm. 3), 248-249 und 320-321; ROTHENBERG, Art of Warfare (wie Anm. 3), 71. 32 BODINIER, in: Histoire militaire (wie Anm. 3), 257-258. 33 34

Ebd., 236.

ROTHENBERG, Art of Warfare (wie Anm. 3), 105. 35 Ebd., 109: „when Camot gave divisions the form in which they endured until the First World War".

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reitender Artillerie. Ihre Stärke schwankte zwischen 12 000 bis 15 000 Mann - tatsächlich sank ihre Stärke im Verlauf eines Feldzugs oft auf nur 5000 Mann ab.36 Eine derartige Division konnte also durchaus selbständige Gefechte mit verbundenen Waffen führen. Doch war sie allein für größere Aktionen zu schwach. Deshalb hatten schon 1796 Moreau und Jourdan beim Feldzug in Deutschland ihre Armee in drei Gruppen aufgeteilt, von denen jede aus zwei bis vier Divisionen Infanterie und einer Reservekavalleriedivision bestand. Bonaparte in Italien hatte zur selben Zeit sein Heer in zwei Gruppen geteilt. Der Ausdruck Korps erscheint erstmals im Jahre 1800.37 Endgültig institutionalisiert wurde die Korpseinteilung wobei die Größe der einzelnen Korps unterschiedlich war - im Lager von Boulogne. Das Korps wurde nunmehr die kleinste Einheit, die aus allen Waffengattungen zusammengesetzt war. Zwei bis vier Infanteriedivisionen, leichte Kavallerie in Stärke einer Brigade, auch einer Division, Artillerie - 36 bis 40 Kanonen - und Pioniere sowie Nachschubverbände machten ein solches Korps zu einer selbständigen organisatorischen Einheit.38 Anstelleder zahlreichen Feldarmeen, wie sie Carnot aufgestellt hatte, trat nun eine einzige Armee: La Grande Armée, unter einem Kommando, demjenigen Napoleons. Diese eine Armee nun war in Korps, die selbständig operieren konnten, unterteilt. Mit der Vermehrung und dem Ausbau des Korpssystems hat Napoleon, wenn man so will, tatsächlich einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Heeresorganisation geleistet. Aber auch hier knüpfte er an schon Vorhandenes an. Ausgebaut hat er die Korpseinteilung nicht zuletzt auch aus Gründen der Kommandostruktur.39 Denn die Korps hatten einen eigenen Generalstab, ebenso wie die Divisionen. Sie konnten also selbständig operieren und in der Schlacht, die bei ihrer Ausdehnung als Folge der Größe der Armeen von einem Mann gar nicht mehr zentral zu überblicken und an allen Punkten zu leiten war, eigenständig handeln im Rahmen von Napoleons Gesamtkonzept. Und schließlich, da ein Korps aus allen Waffengattungen bestand, sich im Falle eines Angriffs auch durch Übermacht aber solange halten konnte, bis die übrigen Korps ihm zu Hilfe eilten, konnte eine aus mehreren selbständigen Korps bestehende Armee auf breiter Front vorrücken, d. h. auf mehreren parallel laufenden Straßen, und so das Land, das man durchzog, besser aussaugen und der Heeresversorgung dienlich machen.

36 BODINffiR, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 255; ROTHENBERG, Art of Warfare (wie Anm. 3), 109, gibt die Divisionsstärken zwischen 8000 und 12 000 Mann an. 37

BODINŒR, in: Histoire militaire (wie A n m . 3), 2 5 5 .

38

ROTHENBERG, Art of W a r f a r e (wie A n m . 3), 128; CHANDLER, C a m p a i g n s ( w i e A n m . 3), 322-333. 39 Martin van CREFELD, Command in War. Cambridge, Mass./London 1985,72; ebd., 58-78 eine glänzende Beschreibung und Analyse von Napoleons Kommandosystem, dessen Hauptgeheimnis Divisions- und Korpseinteilung gewesen seien.

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Dieses Verfahren ermöglichte der napoleonischen Armee eine größere Marschleistung als ihren Gegnern, zumindest solange, als diese nicht das gleiche System anwandten.40 Summa summarum darf man aber doch mit Fug feststellen, daß Napoleons Armee in Taktik und Organisation sich kaum von den Heeren der Revolutionszeit unterschied. Scheinbare Neuerungen, wie das Korpssystem, waren in Wirklichkeit nichts als die konsequente Anwendung dessen, was andere schon zuvor gedacht und gemacht hatten. Auf einem Sektor der Kriegführung aber hat Napoleon Neuerungen gebracht, zumindest in dessen Organisation, dem der Logistik. Das System, daß der Krieg den Krieg ernähren müsse, übernahm er ebenfalls von den Revolutionsheeren. Vor allem in dem dichtbesiedelten Italien hatte diese Art der Versorgung gut funktioniert. Man war durch sie unabhängig von den Magazinen geworden - ohne welche Armeen alten Stils sich nicht bewegen konnten - , unabhängig auch von dem enormen Troß der Söldnerheere, der deren Marschgeschwindigkeit so drastisch reduzierte. Was an unbedingt benötigtem Troß blieb, war mehr als gering. Gerade dadurch war man in der Lage, weiträumig zu operieren, wozu in diesem konkreten Fall die österreichischen Gegner, aber generell alle Armeen des Ancien Régime nicht fähig waren, die sich nie mehr als höchstens 100 Kilometer von ihren Magazinen entfernen konnten, wollten sie nicht verhungern.41 Das Versorgungswesen nun war im Ancien Régime, aber auch noch in den ersten Jahren der Revolution, von zivilen Unternehmern mit zivilem Personal betrieben worden: Kutschern, Pferdeknechten etc. Selbst das Fuhrpersonal der Artillerie bestand aus zivilen Fahrern und Pferdeknechten. Dies änderte Napoleon. Er machte diese Fuhrleute zu Soldaten. Begründet war dies in dem Umstand, daß diese Zivilisten natürlich nicht unbedingt sehr groß daran interessiert waren, in einer Schlacht verwundet oder gar getötet zu werden, was in gefährlichen Augenblicken die Beweglichkeit der Artillerie stark reduzierte. Schon im Jahre 1800 hatte Napoleon die Trosse der Artillerie, 1803 die der Pioniere und 1807 schließlich die Versorgungs- und Munitionstrosse, 1809 dann die des Sanitätswesens zu Soldaten gemacht. Von diesem Augenblick an war der Train in der französischen Armee eine Waffengattung. 27 Bataillone zu vier Kompanien bei der Artillerie, 20 Bataillone beim restlichen Train gab es am Schluß der napoleonischen Epoche. 42 Weiterhin griff Napoleon das hergebrachte Etappensystem wieder auf, mit vorbereiteten

40

74.

Ebd., 96-102; ders., Supplying War. Logistics from Wallenstein to Patton. Cambridge 1977,

4 1 Henri de NANTEUIL, Logistische Probleme der napoleonischen Kriegführung, in: GROOTE/ MÜLLER, Napoleon I. (wie Anm. 3), 65-74, hier 66 4 2 Ebd., 68; vgl. auch BODINIER, in: Histoire militaire (wie Anm. 3), 325-326.

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Quartieren von der Heimat bis zur Armee. Große logistische Vorbereitungen für einen zu beginnenden Krieg traf er aber in der Regel nicht. Nur einmal - aufgrund der Erfahrungen des Winterfeldzugs von 1807 in Ostpreußen und Polen - , nämlich vor dem Rußlandfeldzug von 1812, hat er dies getan.43 Und gerade dieser Feldzug endete mit einem logistischen Fiasko. Wenn sich so das Heer Napoleons in Bewaffnung, Taktik und Organisation nicht wesentlich von den Heeren der Revolution unterschied, was, so lautete die zweite Frage, die wir uns am Anfang dieser Ausführungen stellten, gab dann Napoleons Strategie und Kriegführung ihr so eigenes Gepräge? Wie unterschied sie sich von ihren Vorgängern? Die Antwort muß wieder lauten: in ihren militärtechnischen Aspekten kaum. Die Schlachtentscheidung anstelle umständlicher Manöver suchten die Revolutionsgenerale so wie Napoleon. Weiträumige Operationen hatte man ebenfalls unabhängig von ihm unternommen. Man denke nur an den Feldzug von 1796 in Deutschland, an dessen Planung er ja nicht beteiligt war. Peter Paret hat wohl den richtigen Nenner gefunden, wenn er meint, daß es weniger das Was gewesen wäre, was Napoleon über seine Zeitgenossen erhob, als das Wie.4* Aber dieses Wie machte ihn zum Schöpfer einer neuen Kriegskunst, die an Intensität alles bisher Gewohnte weit übertraf und neue Maßstäbe setzte.45 Denn über seine Zeitgenossen erhob Napoleon seine eiserne Energie, die er auf seine Heere übertrug mit dem Ziel, den Gegner jeweils völlig auszuschalten.46 Stets strebte er danach, den Angriff oder besser die Initiative zu bekommen. Auch die Verteidigung führte er offensiv. Schon der junge Hauptmann Bonaparte, in seiner Schrift „Le souper de Beaucaire", hatte gemeint: »... c'est un système dans l'art militaire que celui qui reste dans ses retranchements est battu: l'expérience et la théorie sont d'accord sur ce point ... a . 4 7 Sein erster Feldzug mit seiner Phase der strategischen Verteidigung, die in den Schlachten von Loano, Castiglione und Bassano, sowie dann von Arcóle und Rivoli gipfelte, zeigte dies ebenso wie der

43

Ebd., 325. Eindrucksvolle Zahlenbeispiele bei NANTEUIL, Probleme (wie Anm. 41), 72-74.

V g l . a u c h CREFELD, S u p p l y i n g W a r ( w i e A n m . 4 0 ) , 6 4 - 7 0 . 44 PARET, Modern Strategy (wie Anm. 3), 127. Ähnlich auch Basil H. LIDDELL HART, Strategie. Wiesbaden o. J. [1955], 176; differenzierter REGUNG, Grundzüge (wie Anm. 3), 251-257, der meint, „man wird sich wohl abschließend dahingehend einigen können, daß aus der Kriegführung Napoleons weniger Methoden als vielmehr Grundsätze zu entnehmen sind" (ebd., 256). 45 Bernard DRUÈNE, Der Feldherr Napoleon - Theorie und Praxis seiner Kriegskunst, in:

GROOTE/MÜLLER N a p o l e o n I. (wie A n m . 3), 3 7 - 6 4 , h i e r 4 8 u n d 5 8 . 46 „Mon plan de Campagne est une bataille et toute ma politique c'est le succès". Agathon J. F AIN, Mémorial de 1812. 2 Bde. Paris 1827, hier Bd. 1, 324, zit. bei KESSEL, Doppelte Art (wie Anm. 24), 28. 47 NAPOLÉON I., Le souper de Beaucaire. Paris 1930, 20.

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militärisch brillante, wenn auch angesichts der Stärkeverhältnisse und der politischen Gesamtsituation letztlich sinnlose Feldzug von 1814. Von der entscheidenden Bedeutung zahlenmäßiger Überlegenheit war Napoleon durchdrungen.48 Vor jeder Schlacht strebte er danach, sich diese zu verschaffen. Getrennt gegen ihn vorrückende gegnerische Truppenkörper suchte er daher mit versammelter Kraft und also Übermacht anzufallen und einzeln zu schlagen. Dabei machte er virtuos vom Vorteil der inneren Linie Gebrauch. Wichtig war ihm dabei, eine Übermacht am entscheidenden Punkt einzusetzen, um selbst bei einem zahlenmäßig überlegenen Gegner dort stärker zu sein. Denn, war dieser gefallen, dann fiel alles. Auch diese Erkenntnis hat er schon in jungen Jahren formuliert.49 Zu erreichen suchte er dies entweder durch eine Umgehung oder durch die Konzentration seiner Hauptkräfte auf einen der Flügel des Gegners50, aber auch durch den Durchbruch der feindlichen Front an einer Nahtstelle. Die napoleonische Normalschlacht entwickelte sich nach folgendem Schema51: Einleitend beschäftigte man den Gegner entlang der eigenen Linie durch einen Teil der Streitkräfte. Die dazu eingesetzten Truppen erhielten keine Verstärkung, mußten vielmehr bis zur Erschöpfung den zahlenmäßig überlegenen Feind beschäftigen. Dann wurde ein Angriff auf eine Flanke des Gegners eingeleitet mit der Absicht, diesen zu beunruhigen und dazu zu veranlassen, seine letzten Reserven einzusetzen. Schließlich, in der dritten Phase, wurde mit allen Kräften auf der ganzen Front angegriffen, wobei die bis dahin zurückgehaltenen Reserven, vor allem Artillerie und Kavallerie, am entscheidenden Punkt massiert wurden, um den Durchbruch zu erzwingen. War dieser gelungen, wurde die Verfolgung des geschlagenen Gegners mit allen noch verfügbaren Kräften eingeleitet. Napoleon selbst hatte die verschiedenen Phasen einer Schlacht mit einem Drama verglichen: „Une bataille est une action

48 NAPOLEON I., Darstellung der Kriege Cäsar's, Turennes, Friedrichs des Großen. Mit einem Anhang: Der Angriffskrieg in weltgeschichtlichen Beispielen. Vom Kaiser in seinen letzten Lebensjahren im Exil auf St. Helena geschrieben und kritisch erläutert. Hrsg. und übers, v. Hans E. Friedrich. 2. Aufl. Darmstadt/Berlin 1942, 423: „Wenn sie eine Schlacht liefern wollen, ziehen sie alle ihre Streitkräfte zusammen, vergessen sie keine einzige; manchmal entscheidet ein Bataillon über einen Tag". Ahnlich Marie-Joseph Comte de LAS CASES, L'Évangile selon Las Cases. 2 août23 novembre 1816, in: Napoléon à Sainte-Hélène. Par les quatre évangélistes Las Cases, Montholon, Gourgaud, Bertrand. Hrsg. v. Jean Tulard. Paris 1981, 27-438, hier 107. Dazu auch Erich MARCKS, Napoleon, in: Führertum. 95 Lebensbilder von Feldherren aller Zeiten. Hrsg. v. Generalmajor [Friedrich] v. Cochenhausen. 2., durchges. Aufl. Berlin 1930, 245-264, hier 261. 49 NAPOLÉON I., Notes sur la position politique et militaire de nos armées de Piémont et d'Espagne, remise par Robespierre jeune, 1" Thermidor an II. Abgedruckt bei COLIN, Éducation (wie Anm. 9), 444: „II est des systèmes de guerre comme des sièges des places: réunir ses feux contre un seul point; la breche faite, l'équilibre est rompu; tout le reste devient inutile et la place est prise". Dafi „point" hier den Sinn von „Angelpunkt", und nicht „der stärkste Punkt" hat, macht LIDDELL HART, Strategie (wie Anm. 44), 140, einsichtig. 50

NAPOLEON I . , D a r s t e l l u n g (wie A n m . 48), 2 7 9 .

51

G u t e D a r l e g u n g bei CHANDLER, C a m p a i g n s ( w i e A n m . 3), 1 8 4 - 1 9 1 .

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dramatique, qui a son commencement, son milieu et sa fin. L'ordre de bataille que prennent les deux armées, les premiers mouvements faits pour en venir aux mains, sont l'exposition; les contre-mouvements que fait l'armée attaquer forment le nœud; ce qui oblige à de nouvelles dispositions et amène la cause d'où nait le résultat ou denoument".52 Wichtig dabei war es, für die Einleitung der einzelnen Phasen und des Schlußangriffs den richtigen Zeitpunkt zu finden, wie Napoleon überhaupt dem Faktor Zeit hohe Bedeutung beimaß.53 Es erforderte die erste Phase der Schlacht, das Binden starker feindlicher Kräfte durch zahlenmäßig schwächere eigene, eine hohe Einsatzbereitschaft und die Moral, große Verluste bei den dafür eingesetzten eigenen Truppen in Kauf zu nehmen. Diese mußten infolgedessen ihrem Gegner qualitativ überlegen sein und schließlich war es absolut notwendig, daß die eigenen Reserven sparsamer eingesetzt wurden als die des Feindes. Hohes taktisches Geschick und das Gefühl für den richtigen Gebrauch der Zeit erforderte also diese erste, schwierigste Phase der napoleonischen Schlacht. Aber auch dieses Verfahren hatten die Revolutionsgenerale schon vor Napoleon angewandt, allerdings nicht so konsequent wie dieser. „L'art de la guerre est un art simple et tout d'exécution, il n'y a rien de vague, tout y est de bon sens, rien n'y est par idéologie".54 Allein das, was Napoleon hier nicht sagt, hat Clausewitz einprägsam so ausgedrückt: „Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig."55 Napoleons strategisches Grundkonzept, das er virtuos variierte, war letztlich auch einfach. Er hielt die einzelnen Truppenkörper, ab 1805 dann die Armeekorps, in der Regel nahe beisammen in der Form eines großen Vierecks, des „bataillon carrée", und ließ sie auf parallelen Straßen vorrücken.56 Stieß nun eines der Korps auf den Gegner und biß sich an diesem fest, dann stürzte Napoleon sich entweder mit gesammelter Macht direkt auf diesen, oder er versuchte, durch eine Umgehung dem Feind in den Rücken zu kommen - das berühmte „manœuvre sur la derrière" - oder aber er bildete Masse gegenüber einem der Flügel des Gegners und zertrümmerte diesen durch die Übermacht. Solange ihm die Gegner nicht ebenfalls Massenheere von ähnlicher innerer Beschaffenheit wie das französische entgegenstellen konnten, war seine Überlegenheit garantiert.

52 Correspondance de Napoléon Io', publiée par ordre de l'Empereur Napoléon III. 32 Bde. Paris 1858-1870, hier Bd. XXXI, 187. 53 Ebd., Bd. XVIII, Nr. 14707. 54 55 56

Zit. bei BODINIER, in: Histoire Militaire (wie Anm. 3), 333. CLAUSEwrrz, Vom Kriege (wie Anm. 2), 77. Ausgezeichnete Darstellung des Bataillon carrée mit instruktiven schematischen Zeichnungen

bei CHANDLER, Campaigns (wie Anm. 3), 151-154, ferner Bernard DRUÈNE, in: GROOTE/MÜLLER,

Napoleon I. (wie Anm. 3), 37-64, hier 49.

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Diese hatte einen weiteren Grund in der Tatsache, daß er den meisten seiner militärischen Zeitgenossen einen ausgesprochen politischen Sinn voraushatte. „Seiner tiefsten Anlage nach ist Napoleon mehr Staatsmann als Soldat", hat sogar Hans Delbrück gemeint sagen zu können57, doch wohl überteibend. Denn der Staatsmann hätte den Feldzug von 1814, eine der glänzendsten rein militärischen Leistungen des Soldaten Napoleon, nicht führen dürfen. Wie dem also auch sei, fest steht, daß Napoleon in hohem Maße politisch dachte und seine militärischen Operationen politischer Zielsetzung dienlich machte. So, wenn er sofort versuchte, die Hauptarmee des Gegners zu schlagen und dessen Hauptstadt zu erobern, um dann von dort aus den Frieden diktieren zu können. David Chandler hat dieses Streben nach einer Entscheidungsschlacht, die er „strategic battle" nennt, um sie so von den anderen Schlachten, die nur begrenzten militärischen Zwecken dienten, zu unterscheiden, als einzig neuen Beitrag Napoleons zur Kriegführung bezeichnet.58 Überzeugend ist diese Terminologie aber nicht. In Mitteleuropa, mit seinem guten Straßennetz und seiner dichten Besiedelung bewährte sich dieses System, das auf raschen Kriegsausgang abzielte, glänzend. In der Weite Rußlands, mit ihren schlechten Wegen und noch schlechteren Verpflegungsmöglichkeiten aus dem Lande aber mußte es versagen. Gefährlich wurde für Napoleon in seinen letzten Jahren dann noch der Umstand, daß seine mitteleuropäischen Gegner das neue Rekrutierungssystem und den neuen Heerestyp übernahmen. Auch das von ihm angewandte Kriegssystem, das darf man doch wohl sagen, war in seinem Kern nicht neu, und dennoch dominierte Napoleon seine Gegner bis zum Schluß seiner Laufbahn, blieb er auch dann noch siegreich, falls die Übermacht nicht gar zu groß war. Dabei hatte seine Art der Kriegführung natürlich auch ihre Schwächen, ließ seine dominierende Persönlichkeit, die zudem auf strenge Einheit des Kommandos sah, kaum selbständige Führergestalten unter seinen Marschällen heranwachsen. Wie allen starken Persönlichkeiten waren auch ihm intelligente Handlanger lieber.59 Davoût, Masséna und Soult, die beiden letzteren durchaus mit Vorbehalten, sind nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Auch unterschätzte er in den Jahren 1813 bis 1815 seine Gegner und deren nationalen Elan. Was machte aber dann seine Überlegenheit aus? Nun, zweifellos die Konsequenz und Energie, mit der er vorging. „Vitesse, vitesse, activité" - so trieb er ständig

57

Hans DELBRÜCK, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Bd. IV. Berlin 1920 (ND 1962), 494. 58 CHANDLER, Campaigns (wie Anm. 3), 144-161, hier 158: „Apart from his insistence on the importance of the strategical battle as an integral part and the only possible outcome for a successful plan of campaign, Napoleon contributed little new [...]". 59 Major-general John F. C. FULLER, The Conduct of War 1789-1961. London 1961 (ND 1977), 52-58.

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seine Unterführer an. Und da er ein mitreißender Truppenführer war, der es großartig verstand, seine Soldaten für sich einzunehmen, konnte er von diesen auch Höchstleistungen verlangen. Ja selbst als sein Genius am Erlöschen war, in den Jahren 1813-1815, ist die große Anhänglichkeit der Soldaten an ihn vielfach bezeugt.60 Eine weitere wichtige Voraussetzung für seine Erfolge war sicherlich auch die Sorgfalt, mit der er seine Feldzüge organisatorisch vorbereitete, was den englischen General Marshall-Cornwall, dem wir eine der überzeugendsten neueren Analysen von Napoleons Feldherrentum verdanken, zu dem Satz veranlaßte: „Napoleon's genius on the battlefield was only equalled by his brilliance as an organizer". 61 Napoleon selbst hat bezeugt, daß er den Zufall auszugrenzen strebe, er sei „dans la volonté de ne rien hasarder".62 Auf Dauer, so meinte er, seien große Erfolge nicht Spiel des Zufalls, sondern die Folge von Kombination und Genie. Nur selten nämlich scheiterten die gefährlichsten Unternehmungen der großen Feldherren.63 Aber Napoleon, der sich mit diesem Satz als geistiger Erbe der Aufklärung, als Rationalist erweist, der auch gelegentlich vom System, von methodischer Kriegführung als der allein richtigen spricht64, wußte selbst, daß dies nicht die ganze Wahrheit war. So beispielsweise, wenn er davon sprach, daß er in sich die Kraft fühle, den Zufall meistern zu können.65 Daß seine Überlegenheit auf etwas rational nicht Erfaßbarem beruhe, hat er selbst gefühlt, als er auf St. Helena schrieb: „Achilles war der Sohn einer Göttin und eines Sterblichen: er ist das Sinnbild des Kriegsgenius; der göttliche Anteil ist alles das, was von den geistigen und sittlichen Erwägungen abhängt, vom Charakter, vom Talent, vom Interesse des Gegners, von der Stimmung und vom Geist des Soldaten, der stark und siegreich oder schwach und geschlagen ist, je nachdem, was er zu sein glaubt; der irdische Anteil sind die Waffen, Verschanzungen, die Stellungen, die Schlachtordnungen, kurz alles, was zur Berechnung der materiellen Dinge gehört."66

60 Die Popularität Napoleons bedarf eigentlich keiner Einzelnachweise. Zahlreiche Belegstellen finden sich bei Jean LUCAS-DUBRFTON, Soldats de Napoléon. Paris 1948. 61 MARSHALL-CORNWALL, Military Commander (wie Anm. 3), 83. 62 Correspondance de Napoléon Γ (wie Anm. 52), Bd. XIII. 1863, Nr. 10981. COLIN, Éducation (wie Anm. 9), 379: „Toute opération doit être fait par un système pure que le hazard ne fait rien réussir". 63 LAS CASES, L'Évangile (wie Anm. 48), 415 f.: „II n'est pas de grandes actions suivies qui soient l'œuvre du hazard et de la fortune; elles deviennent toujours de la combinaison et du genie. Rarement on voit échouer les grandes hommes dans leurs entreprises les plus périlleuses. " 64 Eindrucksvolle Belege dafür bei KESSEL, Doppelte Art (wie Anm. 24), 31. 65 Ebd., 33. 66

NAPOLEON I . , D a r s t e l l u n g (wie A n m . 4 8 ) , 2 6 1 .

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Und so läßt sich seine Überlegenheit über seine Zeitgenossen, sein Wirken, das die „napoleonische Kriegführung" als etwas Neues schuf, das selbstverständlich mit handwerklichen Mitteln und Methoden betrieben wurde, mit rationalen Begriffen allein nicht erfassen. Das Analysierbare allein würde ihn als Nachahmer, letztlich als „merely one among a number of competent generals"67 erscheinen lassen. Aber genau das war Napoleon bis zuletzt nicht. Also doch „der Kriegsgott selbst"? Wenn wir das Wort als Ausdruck dafür stehen lassen, daß in ihm geniale Fähigkeit, die sich rationalem Zugriff entzieht, vorhanden war, eine Fähigkeit, die ihn seinen militärischen Zeitgenossen und Gegenspielern weit überlegen sein ließ, dann ja. Ein göttlicher Funke glühte in ihm, er hatte, wie dies Schlieffen als entscheidendes Merkmal des Feldherrn forderte, „etwas von dem Salböl Samuels abbekommen".68

67

S. oben, Anm. 7; Paret bezieht dies allerdings nur auf die Jahre nach dem Rußlandfeldzug. Feldmarschall Alfred Graf v. ScHLffiFFEN, Gesammelte Schriften. Bd. 1. Berlin 1913, 10. Daß derartige Erklärungen egalitären Rationalisten schon deshalb nicht behagen, da sie gezwungen wären, etwas ihnen Überlegenes anzuerkennen, zeigt die Bemerkung von Jehuda L. WALLACH, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Frankfürt am Main 1967, 75. 68

Konrad Repgen Der Dreißigjährige Krieg im deutschen Geschichtsbild vor Schiller /. Der Titel dieses Beitrags könnte zu hohe Erwartungen wecken. Dem sollen einige einleitende Bemerkungen vorbeugen. Dabei ist erstens zu klären, was hier unter „Geschichtsbild" zu verstehen ist. Gemeint ist damit nicht ein in bestimmbaren Gruppen und Schichten verbreitetes Denken, die kollektive Mentalität der vielbeschworenen „öffentlichen Meinung", sondern die Gesamtheit der sechs Darstellungen, die in Deutschland als selbständige Schriften zwischen 1748 und 1786 erschienen sind und den Dreißigjährigen Krieg als ein im Ganzen zusammenhängendes und erinnerungswürdiges Ereignis unserer Geschichte zum Gegenstand hatten. Die Verbindungen und Ähnlichkeiten zwischen diesem Geschichtsbild und dem „Geschichtsbild" der öffentlichen Meinung sind, ebenso wie deren Unterschiede, nicht Gegenstand der vorliegenden Studie. Zweitens beschränkt dieser Beitrag sich auf Bücher, deren Titel eine besondere Gesamtdarstellung des Krieges ankündigt. Es wird also nicht die regelmäßige Beschreibung der Kriegsjahre und Friedensverhandlungen innerhalb der Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte des 17. Jahrhunderts behandelt.1 Ebenso bleibt die historische Darstellung einzelner Episoden unberücksichtigt, sofern sie zwar den Begriff „Dreißigjähriger Krieg" im Titel führen, tatsächlich aber ein lokalgeschichtliches Einzelereignis Nördlingens oder Stralsunds schildern2, oder wenn eine Stadt1 Deren gibt es im 18. Jahrhundert rund 40. Einzelnachweise im Realkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek [BSB] München, Signatur A 31 ,+B . Aus Raumgründen verzichte ich auch für die vor 1800 erschienene Literatur auf Angabe der Verleger/Drucker, der besitzenden Bibliothek und der Signaturen. Herangezogen habe ich Bestände in Augsburg, Bonn, Düsseldorf, Essen, Göttingen, Halle a. d. Saale, Köln, Leipzig, München und Wolfenbüttel. 2 Zu Nördlingen: Joannes MAYER, Historia Caesareae Obsidionis Et Expugnationis Liberae S. R. I. Civitatis Nordlingensis In Bello Tricennali Anno MDCXXXIV. Hrsg. v. Christian Friedrich Georg Meister. Göttingen 1744; zu Stralsund (1627-1629): Georg Philipp Anton NEUBUR, Beiträge zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Schwerin/Güstrow 1774.

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mit einer Lebensgeschichte verbunden wird. 3 Auch Biographien, w i e diejenigen von Walther Harte, Johann Christian Herchenhahn und Ähnliches 4 , herangezogen,

obgleich

in

ihnen

natürlich

viel

und

werden

Erhebliches

über

nicht das

„Geschichtsbild" des Dreißigjährigen Krieges im 18. Jahrhundert zu finden ist. Schließlich wird auch auf die Reichshofrats-Dokumentation Johann Jacob Mosers über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, und überhaupt auf die laufende Beschäftigung des Jus Publicum mit dem Westfälischen Frieden, nicht eingegangen. 5 Drittens ist dieser Beitrag auf die Zeit „vor Schiller" begrenzt, also vor 1791. Dafür sprachen mehrere Gründe. Zunächst: das Thema „Schiller und der Dreißigjährige Krieg" ist schon oft untersucht worden. 6 Eine Studie allein über die bisheri-

3 Christoph Gottlieb v. MURR, Beyträge zur Geschichte des dreyßigjährigen Krieges, insonderheit des Zustandes der Reichsstadt Nürnberg, während desselben. Nebst Urkunden [...] zur Geschichte [...] Wallensteins [...]. Nürnberg 1790. 4 Walther HARTE, Das Leben Gustav Adolphs des Großen Königs von Schweden. [...] übersetzt von George Heinrich Martini [...] Vorrede und Anmerkungen [...] von Johann Gottlob Böhme. 2 Bde. Leipzig 1760/61; Sverker OREDSSON, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg. Berlin 1994, 35, ist die pastorale Zielsetzung Hartes entgangen. Johann Christian] HERCHENHAHN, Geschichte Albrechts von Wallenstein, des Friedländers. Hin Bruchstück vom 30jährigen Kriege. 3 Bde. Altenburg 1790-1791; vgl. Georg SCHMID, Die Wallenstein-Literatur (1626-1878) I, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 17, 1879, Beilage, 65-99, hier 68, Nr. 4 [künftig: WL (und Titel-Nummer)]; weitere Titel in WL 3, 58. Den Begriff „Dreißigjähriger Krieg" im Untertitel zu verwenden, war nicht singular: vgl. den Roman [Christiane Benedicto Eugenie NAUBERT], Geschichte der Gräfin Thekla von Thum oder Scenen aus dem 30jährigen Kriege. Leipzig 1788 sowie das Lebensbild Albrecht Christian KEYSER, Das Leben des Herrn Johann Jacob Wolff von und zu Todtenwart [...]. Ein Beitrag zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs. Regensburg 1789 (Hans THIEKÔRRER, Pacis Westphalicae Bibliotheca Germanica 1648-1948, in: Pax Optima Rerum. Beiträge zur Geschichte des Westfälischen Friedens. Hrsg. v. Ernst Hövel. Münster 1948, 197-292, hier 219). 5 Johann Jacob MOSER, Beytrag zur Geschichte des dreißigjährigen Kriegs, aus dem ReichsHofraths-Protocoll, in: Abhandlung verschiedener besonderer Rechts-Materien. [Bd. IV.] 14. Stück. Ulm u. a. 1776, 225-258. Das Material für die Juristen fast lückenlos bei Jutta HARDELAND, Der Westfälische Frieden im Urteil der deutschen Wissenschaft und Publizistik (1648-1848). Diss. phil. (masch.) Bonn 1955, die auf den reichen Beständen der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek ftißt. 6 Zuletzt im Jubiläumsjahr 1959 durch Richard DIETRICH, Friedrich Schiller als Historiker und Geschichtsdenker, in: Die Welt als Geschichte 19, 1959, 226-243, und (trotz seines DDRMarxismus') Ernst ENGELBERG, Schiller als Historiker, in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben. Hrsg. v. Joachim Streisand. Berlin (Ost) 1963, 11-31. Wesentlich bleiben Golo MANN, Schiller als Geschichtsschreiber (1959), mit mehrfachen Nachdrucken, zuletzt in: Friedrich SCHILLER, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Vollständiger Nachdruck der Erstfassung aus dem .Historischen Calender für Damen fiir die Jahre 1791-1793'. Zürich 1985, 563-588; s. auch Golo MANN, Schiller als Historiker, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 4, 1960, 98-109, und Theodor SCHIEDER, Schiller als Historiker, in: Historische Zeitschrift 190, 1960, 31-54. Nützlich ist Holger REINTTZHUBER, Schillers .Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs' als schriftstellerische Leistung. Ein Beitrag zur Ästhetik der historischen Belletristik. Diss. phil. Kiel 1970. Aus der älteren Literatur bleibt wichtig: Richard FESTER, Vorstudien zur Säkularausgabe der historischen Schriften Schillers (Werke ΧΙΠ-XV), in: Euphorion 12, 1905, 78-141, mit weiteren Nachweisen; vgl. auch ders., Schiller als historischer Materialiensammler, in: Euphorion 15, 1908, 456-474, sowie ders., [Kommentar], in: Friedrich SCHILLER, Sämtliche Werke. Säkularausgabe. Abt. XV: Historische Schriften. Bd. III: Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs. Stuttgart/Berlin 1905, 447-462. Die neuere, historiographiegeschichtlich weniger ergiebige Literatur wird erschlossen durch Wolfgang VULPIUS (Bearb.), Schiller-Bibliographie 1959-

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gen Interpretationen böte genügend Stoff für einen eigenen Aufsatz. Hingegen ist die Historiographiegeschichte der besonderen Gesamtdarstellungen dieses Krieges, die im 18. Jahrhundert „vor Schiller" erschienen sind, noch nie behandelt worden. Hier betritt man Neuland. Vor allem aber spricht für den Einschnitt im Jahre 1791 eine These, die an anderer Stelle zu begründen sein wird7, hier aber bereits genannt werden soll: Schillers literarische Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg, die 1791/93 mit dem Bestseller „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" begann und seit 1800 in dem riesigen Bucherfolg der Wallenstein-Trilogie kulminierte, hat für die weitere Beschäftigung mit der Historie dieses Krieges Epoche gemacht. Sie hat das Interesse des breiten Publikums - und, in der Folge, auch wichtige Leitfragen der Forschung - für mehr als ein Jahrhundert nachhaltig geprägt. Mit Schiller beginnt in der Geschichte der Geschichtsschreibung etwas Neues - nicht für die deutsche Geschichtswissenschaft im Allgemeinen8, wohl aber für die geschichtliche Erforschung und Darstellung des Dreißigjährigen Krieges. Schiller hat einen Perspektivenwechsel begründet.

II. Dieser durch Schiller eingeleitete Wandel läßt sich, ähnlich wie andere geschichtliche Zäsuren, nicht auf Jahr und Tag datieren. Bisherige Projekte, mit alten Fragestellungen und Vorgehensweisen, liefen noch eine Zeitlang weiter und haben Verleger gefunden. Daher gibt es auch „nach Schiller" weiterhin die Darstellung des Dreißigjährigen Krieges im Rahmen der traditionellen Reichsgeschichte.9 Zu nennen wären etwa Christoph Gottlob Heinrich (1748-1810), Ordinarius für Geschichte und

1963. Berlin (Ost)/Weimar 1967, 141-143, Nr. 1422-1441; Peter WERSIO (Bearb.), Schiller-Bibliographie 1964-1974. Berlin (Ost)/Weimar 1977, 140-143, Nr. 1642-1688; Roland BÄRWINKEL U. a. (Bearb.), Schiller-Bibliographie 1975-1985, Berlin (Ost)/Weimar 1989, 149-156, Nr. 908-956; Ingrid HANISCH-BODE, Schiller-Bibliographie 1983-1986, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 31, 1987, 457 f., Nr. 230-235; dies., Schiller-Bibliographie 1987-1990, in: ebd. 35, 1991, 405 f., Nr. 169-174. Herrn Prof. Norbert Oellers danke ich für freundliche Hilfe. 7 Im Zusammenhang einer größeren historiographiegeschichtlichen Abhandlung über den Dreißigjährigen Krieg. 8 SCHIEDER, Schiller (wie Anm. 6), 31 : „Der erste Eindruck ist: Auf die deutsche Historiographie in der Zeit, als diese sich im 19. Jahrhundert zur Geschichtswissenschaft entwickelte, hat er [Schiller als Historiker] keinen sichtbaren Einfluß ausgeübt". 9 Zur Reichsgeschichte grundlegend: Notker HAMMERSTEIN, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1972; ders., Reichs-Historie, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Hans Erich Bödeker/Georg G. Iggers/Jonathan B. Knudsen/Peter H. Reill. Göttingen 1986, 82-104; vgl. auch Michael STOLLEIS, Geschichte des öffent-lichen Rechts in Deutschland. Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800. München 1988, passim, insbes. 299-305.

Konrad Repgen

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Schillers Gegner in Jena 10 , sowie der Frankfurter Patrizier Renatus Karl Freiherr v. Senkenberg ( 1 7 5 1 - 1 8 0 0 ) , der zeitweise in hessen-darmstädtischen Diensten stand und mit der Universität Gießen verbunden war 11 . Sie bieten ausführliche, genaue und durch regelmäßige Allegationen intersubjektiv überprüfbare Information über den Kriegsverlauf und die Friedensschlüsse. Diese werden jedoch nicht unter den eigenen Titel „Dreißigjähriger Krieg" gestellt, sondern innerhalb der Gesamtdarstellung der Deutschen

Geschichte,

die nach den Regierungsjahren der Kaiser

gegliedert war, dargeboten. Schiller hingegen beschrieb allein die „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", und zwar für ein literarisch interessiertes Käufer- und Leserpublikum. Es hatte kein genuin geschichtswissenschaftliches Interesse am Dreißigjährigen Krieg, wollte aber gern Belletristik von Schiller lesen. Bezeichnend für diese Erwartungshaltung ist eine in der kurfürstlichen Residenzstadt Bonn 1791 erschienene Subskriptions-Annonce der „Geschichte" Schillers: „Dieses Werkchen [!] bedarf wohl keiner weiteren Empfehlung, man darf nur diese so äußerst merkwürdige Geschichte, und das von einem Schiller bearbeitet, vorstellen, so ist e s

10 Christoph Gottlob HEINRICH, Teutsche Reichsgeschichte. 9 Bde. Leipzig 1787-1805, hier Bd. VI, 1795, 321-868. Eine Kennzeichnung des Dreißigjährigen Krieges durch die Gliederung oder durch typographische Hervorhebung gibt es nicht. Die Kolumnentitel nennen die jeweiligen Kaiser (Matthias, Ferdinand II. und Ferdinand III.). Die Regierung Ferdinands III. nach 1648/50 steht in Bd. VII, 1797, 1-52. Für Heinrich vgl. Deutsches biographisches Archiv [DBA] 502, 11-17, sowie Franz Xaver v. WEGELE, Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus. München/Leipzig 1885, 917. Heinrichs Werk gibt sich als deutsche Bearbeitung der Bde. 14 bis 22 der „General history of the world" von John GRAY und William GUTHRIE, London 1764-1767, aus, die als Auszug aus der umfassenderen „Universal history from the earliest account of time to the present", London 1736-1765, herausgekommen war; vgl. dazu Eduard FUETER, Geschichte der neueren Historiographie. 3. Aufl. Zürich/Schwäbisch Hall 1985 (zuerst München/Berlin 1936), 322 f. 11 Renatus Karl Freiherr v. SENKENBERG hatte 1790 in Halle a. d. Saale Bd. 21 der „Neueren Teutschen Reichsgeschichte" von Franz Dominikus HÄBERLIN (1720-1787, seit 1747 Professor der Geschichte in Göttingen) herausgebracht, der bis 1600 führte. Er setzte diese Darstellung mit fünf von 1791 bis 1795 jährlich erschienenen Bänden fort. Senkenbergs Darstellung enthielt zwei Titelblätter, eines als Fortsetzung Häberlins mit der Bandnummer 22 bis 26, das andere mit dem Titel „Versuch einer Geschichte des Teutschen Reiches im siebenzehnten Jahrhundert" und mit eigener Bandzählung von I bis V. Bd. VI (= HÄBERLIN, Reichsgeschichte, Bd. 27) auf die Jahre 1635 bis 1641 erschien 1798 bei einem neuen Verleger in Frankfurt am Main. Die Vorrede berichtet, dafi das Käuferinteresse an „vielteiligen" wissenschaftlichen Werken ohne aktuelle Bezüge gesunken sei, so daß der frühere Verleger die Weiterführung des Projekts aufgegeben habe. Der neue Verleger gab Bd. VI ein drittes Titelblatt bei, „Geschichte des teutschen Reiches vom Prager Frieden an bis auf unsere Zeiten", und zählte innerhalb dieser Reihe neu mit Bd. 1. Vgl. Friedrich Wilhelm STRIEDER, Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte. Bd. XIV. Cassel 1804, 262). Zu diesem Zeitpunkt war Bd. VII (für 1642-1650) schon geschrieben, aber noch nicht erschienen. Er kam posthum 1804 bei einem dritten Verleger in Frankfurt am Main heraus (= HÄBERLIN, Reichsgeschichte, Bd. 28 bzw. SENKENBERG, Geschichte vom Prager Frieden an, Bd. 2). Dieser Band enthielt einen Anhang, der mit dem Titel „Darstellung des Osnabrück= und Münsterischen oder sogenanten Westfälischen Friedens, nach der Ordnung der Artikel", auch separat verkauft wurde. Dies ist ein Kommentar der Westfälischen Verträge. Für Senkenberg vgl. DBA 1177, 29-157, besonders die Autobiographie, bei STRIEDER, Gelehrte und Schriftsteller (wie oben), 225-272.

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schon genug empfohlen". 12 Die Adressaten Heinrichs und Senkenbergs hingegen gehörten zur Gelehrtenwelt. Sie waren verfassungsrechtlich interessiert und meinten, daß ohne Rekurs auf die deutsche Geschichte das Jus Publicum des Reichs unerklärlich bleibe. Schiller sollte von Gebildeten gelesen, Heinrich und Senkenberg wollten von Juristen benutzt werden.

III. An die gleichen öffentlich-rechtlich interessierten Adressaten in Universitäten, Gerichten und Kanzleien hatten sich das ganze 18. Jahrhundert über die Darstellungen der Reichsgeschichte gewendet, die „pragmatische Geschichtserzählung" boten, also über eventa, causae und Consilia berichten wollten.13 In dieser Absicht war, soweit die Darstellung bis zur Gegenwart geführt werden konnte, stets auch der Dreißigjährige Krieg mitbehandelt worden. Ein sehr ausführliches Beispiel dafür bietet der gelehrte Jenenser Geschichtsprofessor Burkhard Gotthelf Struve (16711734)14, knapper, aber ebenfalls durchaus „wissenschaftlich", schreibt der zuerst in Halle a. d. Saale, später in Wittenberg lehrende Jakob Karl Spener (1684-1730) 15 . Im gleichen Stil hat Nikolaus Hieronymus Gundling (1671-1729), der in den ersten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu den Zelebritäten der damals in Deutschland führenden Universität Halle16 gehörte, in einer juristischen Vorlesung über eines der Kernstücke des geschriebenen Teils der Reichsverfassung, über das Instrumentum Pacis Osnabrugensis, der Vertragsanalyse eine Kurze Geschichte des Dreißigjährigen Krieges vorausgeschickt.17 Sie verrät die Klaue des Löwen18, diente 12 Max BRAUBACH, Die erste Bonner Hochschule. Maxische und kurfürstliche Universität 1774/77 bis 1798. Bonn 1966, 63, Anm. 130 (Anzeige des Buchhändlers Franz Xaver Geull im Bonner Intelligenzblatt 1791, Nr. 2). 1791 sind 7000 Exemplare des ersten Teils (Buch 1 und 2) verkauft worden: vgl. Theodor KÜKELHAUS, Einleitung zu: Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, in: Friedrich Schillers Werke. Hrsg. v. Ludwig Bellermann. Bd. VII. Leipzig/Wien 1896, 5. 13 Formulierung Gundlings bei HAMMERSTEIN, Jus und Historie (wie Anm. 9), 251. Die früheren geschichtstheoretischen Überlegungen wie Reiner Reineccius (1583, ND 1660) und Bartholomäus Keckermann (1610) wurden von den Reichshistorikern des 18. Jahrhunderts nicht berücksichtigt: ebd., 251, Anm. 182. 14 Burkhard Gotthelf STRUVE, Syntagma Historiae Germanicae A Prima Gentis Origine Ad Annvm Vsqve MDCCXVI [...]. Jena 1716, 1510-1689. 15 Jakob Karl SPENER, Historiae Germaniae Vniversalis Et Pragmaticae Libri VI Posteriores [...]. Halle a. d. Saale 1717, 602-717. 16

17

HAMMERSTEIN, J u s u n d H i s t o r i e ( w i e A n m . 9), 2 0 5 f.

Nicolaus Hieronymus GUNDLING, Gründlicher Discovrs über den Westphälischen Frieden. Frankfurt am Main/Leipzig 1736, 6-37, und ders., Vollständiger Discours Über den Westphälischen Frieden, [...]. Frankfurt am Main 1737, 7-66. 18 Vgl. etwa GUNDLING, Vollständiger Discours (wie Anm. 17), 19, über die Zeit nach 1555: „Die Catholicken spannten zwar die Saiten hoch, aber wir Protestanten hielten den Pacem Religionis

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aber nur der allgemein orientierenden Hinführung zum Staatsrecht von 1648 und beanspruchte nicht den Rang einer selbständigen Abhandlung. Dieser Anspruch gebührt noch weniger einem 1741 erschienenen Werk, obwohl es wahrscheinlich 19 zum ersten Male im 18. Jahrhundert20 in einem deutschen Buchtitel den Begriff „Dreißigjähriger Krieg" verwendet 21 . Der Verfasser, Johann Ehrenfried Zschackwitz ( 1 6 6 9 - 1 7 4 4 ) 2 2 , war zwar Ordinarius in der philosophischen und juristischen Fakultät Halle a. d. Saale, aber kein bedeutender Kopf, sondern ein umtriebiger Vielschreiber. Er schickte seinem juristischen Kommentar, wohl nach dem Vorbild Gundlings, 3 0 Seiten historischer Einleitung voraus, die mehr von den Überzeugungen als für die Überzeugungskraft des Autors sprechen. 23 Zschackwitz hat vermutlich wenig Verbreitung gefunden. S o ist es kaum auf sein Vorbild zurückzuführen, daß der Terminus „Dreißigjähriger Krieg" bald buchtitelfähig wurde. Es waren vielmehr äußere Anlässe, das zeitliche Zusammentreffen des großen europäischen Friedenskongresses in Aachen mit der ersten Säkularfeier des Westfälischen Friedens im Jahre 1748 24 , welche die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen fast notwendig auch auf das Jahr 1648 und die dreißig vorhergehenden Kriegsjahre lenkten. Davon zeugen drei Buchtitel.

auch nicht". " Angesichts der auch für diese Zeit unzulänglichen bibliographischen Hilfsmittel ist diese Einschränkung nötig. 20 Zur Terminologie des 17. Jahrhunderts vgl. Konrad REPGEN, Die Entstehung und Verwendung des Terminus „Dreißigjähriger Krieg" von 1620 bis 1695, in: Krieg und Politik 1618-1648. Europäische Probleme und Perspektiven. Hrsg. v. dems. München 1988, 35-79. 21 Johann Ehrenfried ZSCHACKWITZ, Geschichtsmäßige Erläuterung des Westphälischen Friedens, Worinnen der wahre Ursprung des 30jährigen Krieges gewiesen, zugleich besagter Friede, [...]. Halle a. d. Saale/Leipzig 1741. 22 Vgl. DBA 1419, 19-37. 23 Vgl. etwa ZSCHACKWITZ, Erläuterung (wie Anm. 21), 4 f.: der Böhmische Majestätsbrief 1609 sei insgeheim von Jesuiten erfunden worden; denn sie versuchten auf solchen Umwegen ihr Hauptziel, die Stärkung der monarchischen Souveränität, zu erreichen: „wenn ein Fürst sich in einem Lande souverain machen und selbiges um seine Freiheit bringen wolle, daB er solchem nur grosse Freyheiten in geist- und weltl. Dingen geben, nachher aber selbige unter allerley Praetext bald hier, bald da zu kränken suchen solle." Lehne sich das Land dann auf, „so habe der Fürst die allerbeste Gelegenheit, ein solches Land als ein rebellisches zu tractiren, mithin selbigem die ehmals ertheilte Gnade nicht nur zu nehmen, sondern [sich] zu einem völligen souverainen Herrn davon zu machen". 24 Eine zusammenfassende Darstellung der Friedensfeiem 1648 wie der Jubiläumsfeiern 1748, 1848 (?), 1898 und 1948 fehlt. Für 1748 verweise ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vor allem auf Hans GALEN (Hrsg.), Der Westfälische Frieden. Die Friedensfreude auf Münzen und Medaillen. Vollständiger beschreibender Katalog. Bearb. v. Gerd Dethlefs und Karl Ordelheide. Greven 1987, 228-251 (Belege für Augsburg, Dinkelsbühl, Hamburg, Isny, Kaufbeuren, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Nürnberg, Schwäbisch Hall und Schweidnitz), auf die Universitätsveranstaltungen in Wittenberg sowie auf die Veranstaltungen am Rande des Aachener Friedenskongresses.

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IV. Der erste, ein Nöthiger und kurtzgefaßter Unterricht, wendete sich an die evangelischen Schulkinder von Augsburg. Dort feierte man seit 1650 alljährlich am 8. August ein besonderes Friedensfest zur Erinnerung daran, daß der Westfälische Friede die am 8. August 1629 aufgehobene konfessionelle Parität der schwäbischen Reichsstadt wiederhergestellt hatte.25 Es blieb im Jubiläumsjahr 1748 nicht bei dem obligatorischen Kupferstich mit erläuterndem Gedicht26, sondern es wurde zusätzlich ein kleines Schulbuch publiziert, dessen ausführlicher Titel in der Manier des Barock auch die Informationen enthielt, die man heute im Waschzettel findet.27 Dieses Buch vermittelt in Form von 91 katechismusartigen Fragen28 präzise Schulkenntnis über den Westfälischen Frieden im Allgemeinen und seine besondere Bedeutung für Augsburg und knüpft daran seelsorgliche Ermahnungen. Die Fragen 7 bis 35 gelten der Vorgeschichte des Friedens, dem „landverderblichen" Dreißigjährigen Krieg. Dessen Entstehung wird allgemein auf die „Verbitterung, welche schon lange vorher in denen Gemüthern von beyderseitigen Religions=Verwandten " entstanden gewesen sei, zurückgeführt; „nächste Gelegenheit" aber „war wohl die merckwürdige Unruhe und Revolte oder Aufstand in Böhmen".29 Die Schuld an diesem Aufstand wird indirekt der katholisch-habsburgischen Seite zugeschoben. Weil „ohnerachtet" des Majestätsbriefs von 1609 „an manchen Orten" protestantische Kirchen niedergerissen worden seien, „geriethen darüber die Gemüther in äusserste Verbitterung". Die Frage nach dem positiven Recht oder Unrecht der königlichen Behörden im Winter 1617/18 bei ihren Maßnahmen in Braunau und

25 Horst JESSE, Friedensgemälde 1650-1789. Zum Hohen Friedensfest am 8. August in Ausburg. Pfaffenhofen 1981. 26 Faksimile: JESSE, Friedensgemälde (wie Anm. 25), 278 f. Ein Vergleich dieses Gedichts mit der berühmten Ode Justus Mosers auf den 25. Oktober 1748 (Justus MÖSER, Gesellschaft und Staat. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hrsg. und eingel. v. Karl Brandi. München 1921, 2-5) gehörte in die Geschichte der öffentlichen Meinung. 27 [Samuel URLSPERGER], Nöthiger und kurtzgefaßter Unterricht Theils von der Historie und Innhalt Des Auf einen dreyBigjährigen Krieg endlich in dem Jahre 1648. erfolgten und durch Gottes Gnade bereits hundert Jahre daurenden Westphälischen Friedens / Besonders auch Jn Ansehung der hieran Theil nehmenden des H. R. R. Freyen Stadt Augspurg, Und der darinnen, Krafft solchen Friedens und dessen Executions—Recesses / auf immer vestgestellten Regiments—Paritaet : Theils von Christschuldiger Begehung Eines auf den 8ten August. 1748. als auf das ohnehin wegen dieses Friedens jährlich gewohnliche Evangelische Friedens=Fest Obrigkeitlich verordneten Jubel = Angedenckens Zum Besten anderer / sonderlich der Lateinischen und Deutschen Schulen unsers Evangelischen Augspurgs / abgefasset. Augspurg o. J. [1748] (Stadtbibliothek Augsburg, Aug 2163-2-). Zu Urlsperger (1685-1772), der das Vorwort als „Senior und Pastor" von St. Anna unterzeichnet hat, vgl. DBA 1298, 124-179. 28 Zur Katechismusgeschichte vgl. Hans Jürgen FRAAS, Art. Katechismus, in: Theologische Realenzyklopädie [TRE]· Bd. XVII. Berlin/New York 1988, 710-722, hier 717 ff. 29

URLSPERGER, U n t e r r i c h t (wie A n m . 27), 2 f.

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Klostergrab oder nach der reichsrechtlichen Kompetenz des Kaisers zur Gesetzesinterpretation beim Restitutionsedikt von 1629, dessen Konsequenzen für das augsburgische Religionsrecht eingehend entwickelt werden, bleibt unerörtert. Diese in Augsburg 1748 angewandte Methode der Vermittlung von Schulwissen im geschichtlichen Unterricht war nicht neu. Wichtigstes Vorbild waren Johann Hübners Kurtze Fragen aus der Politischen Historia vom Ende des 17. Jahrhunderts30, welche die Weltgeschichte in der herkömmlichen Weise als Abfolge der Vier Monarchien schilderten. Sie waren auch um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch in Gebrauch31; und Senkenberg hat sie bis zu seinem Tode, ohne Scheu vor diesem inzwischen altmodisch gewordenen Periodisierungsschema, als nützliches Nachschlagemittel benutzt32. Auch das zweite Buch aus dem Jubiläumsjahr 1748 war für konkrete Unterrichtszwecke verfaßt und hat höchstens regionale Verbreitung gefunden.33 Es enthält den Text, mit dem der ordentliche Professor der Universalgeschichte, Johann Heinrich Schrodt (1694-1770) 34 , im Wintersemester 1748/49 seine Vorlesung an dem 1745 gegründeten Collegium Carolinum, der Technischen Hochschule Braunschweig, beginnen wollte. Diese Vorlesungseröffnung war anscheinend gleichzeitig als Veranstaltung zur Säkularfeier des Westfälischen Friedens gedacht, die am 5. November stattfinden sollte. Die Ansprache ist in den Semesterferien, jedenfalls vor dem Abschluß des Aachener Friedens (18. Oktober 1748), niedergeschrieben worden. Schrodt hatte im Sommersemester eine Allgemein-Vorlesung (historia universalis) über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden gehalten und wollte

30 Johann HÜBNER, Kurtze Fragen aus der Politischen Historia, den Lehrenden und Lernenden zur Erleichterung aufgesetzet. Leipzig 1697. Dort 1055-1144 eine genaue Darstellung des Dreißigjährigen Krieges in Frage und Antwort. 31 Im Antiquariatskatalog 497 der Firma Keip wird unter Nr. 820 eine Neuauflage aus dem Jahre 1749 angeboten. 32 Von seinem achten Lebensjahr an seien Hübners historische Fragen neben Geliert sein Lieblingsbuch gewesen. Das „nun ganz aus der Mode" gekommene Schulbuch habe „würklich Reiz für Kinder, für die es geschrieben. Ohne dieses Buch würde ich nie die Geschichte so lieb gewonnen haben, als ich sie durch solches von Kind auf gewann; noch jetzo ist es, zur Dankbarkeit, wenn schon nach den vier Monarchien eingerichtet, mein erstes Buch, über das ich laufe, so oft ich etwas aus der Geschichte nachschlagen will"; STRIEDER, Gelehrte und Schriftsteller (wie Anm. 11), 233. 33 Johann Heinrich SCHRODT, Historiam Belli Tricennalis Et Pacis Westphalicae Singvlarem, Qvantvm Nempe Ad Solas Terras Brvnsvicenses Ac Lvnabvrgenses Pertinet, Ex Actis Pvblicis, Litteris, Codicibvs, Aliisqve Probatis Docvmentis In Hvivs Anni Saecvlarem Memoriam Recensere, Et Insvper Recitationes Svas Pvblicas Históricas In Illvstri Collegio Carolino Instante Semestri Brvmali 1748. Et 1749. Habendas Pvblica Hac Commentatione Indicare Volvit. Braunschweig o. J. [1748] (Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, LB 1624). Dieser Titel ist der Aufmerksamkeit von HARDELAND, Westfälischer Frieden (wie Anm. 5) entgangen. Ich danke für den Hinweis Frau Dr. Antje Oschmann. 34 Freundliche Auskunft des Universitätsarchivs der Carolo-Wilhelmina: Geburt in Gandersheim, Theologiestudium in Helmstedt, 1726 Konrektor des Gymnasiums Katharineum, 1733 bis 1770 Rektor des Gymnasiums Martineum in Braunschweig, 1645 ordentlicher Professor.

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dieses Thema im Wintersemester mit einer Spezialvorlesung (historia singularis) über die Ereignisse von 1618 bis 1648 mit Bezug auf das Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel fortsetzen. Schrodts Vortrag bietet drei verschiedene Dinge: Erstens eine nüchterne politische Geschichte des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel im Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden, zweitens ein panegyrisches Lob dieses Friedens35, das auch den regierenden Herzog und seine neugegründete Hochschule einbezieht, und drittens eine Werbung für die historische Allgemein-Vorlesung des bevorstehenden Wintersemesters, die vom Ende des antiken Rom bis zur Gegenwart führen und zwar einem Kompendium folgen solle, aber anschauliche, aus den Quellen geschöpfte Passagen enthalten werde.36 Fundierte Quellenkenntnis zeichnet auch seine Darstellung der Geschichte des Herzogtums aus, das während des Krieges durch Erbgang von der mittleren Wolfenbütteler Linie an das mittlere Haus Braunschweig kam.37 Der Verfasser steht natürlich ganz auf Seiten der Braunschweig-Wolfenbütteler Politik sowohl unter Friedrich Ulrich (1591-1634, seit 1613 Herzog)38 wie unter Herzog August d. J. (1579-1666, Herzog seit 1635)39. Daß beide eigentlich friedlich und sicher nicht grundsätzlich antikaiserlich orientiert gewesen seien, entspricht den Tatsachen. Schrodts Urteil in den konfessionellen Streitfragen ist lutherisch und wenig polemisch, eher moderat. Zum böhmischen Aufstand zitiert er sowohl die zeitgenössische calvinistische wie die katholische Literatur40, und er findet das Fernbleiben des Braunschweiger Herzogs vom Heilbronner Unionstag 1620 wohlbegründet, „quod

35 SCHRODT, Historia (wie Anm. 33), 44: „pax illa Westphalica ..., cui omnis futura et sacra et civilis per Germaniam tranquillitas inniteretur, columna aeteraum perstatura. " 36 Ebd., Sehlußsatz (47): „ Adeste igitur, iuvenes honoratissimi, animis, quibus consuestis et sitis persuasi, vos, etiamsi duetum compendii nostri Essichiani sequemur, recitationes tarnen meas eammque illustrationes non ex arescentibus sub manu compendionim, siue puteis siue cistemis, sed ex primis, quoad eum fieri poterit, fontibus mecum hausturos." Das erwähnte Kompendium ist vermutlich Johann Georg ESSICH, Kurtze Einleitung zu der allgemeinen weltlichen Historie, mit einer Zeit-Rechnung und Erd-Beschreibung. Anjetzo zum fünftenmal herausgegeben [...] von Vitus Friedrich Weihenmajer. Stuttgart 1746. Die erste Auflage stammt aus dem Jahre 1707, die letzte in München vorhandene von 1773. Essich bietet Universalhistorie nach der traditionellen Periodisiening der Vier-Monarchien-Lehre. Den Dreißigjährigen Krieg gliedert er in sechs Abschnitte: 1619-25, 1625-30, 1630-35, 1635-38, 1638-43 (Beginn des schwedisch-dänischen Krieges 1643/45) und 1643-1648. 37 Vgl. die übersichtliche Stammtafel in Bruno GEBHARDT, Handbuch der Deutschen Geschichte. Hrsg. V. Herbert Grundmann. Bd. 2. 9., neu bearb. Aufl. Stuttgart 1970, 585. 38 DBA 350, 88. 39 DBA 39, 354-363. 40 Andreas ab HABERNFELD, Bellvm Bohemicvm Recensente [...]. Ab Anno MDCXVII. Leiden 1645; Aubertus MIRAEUS, De Bello Bohémico Ferdinandi II. Caesaris Avspiciis Feliciter Gesto Commentarivs, [...]. 2. Aufl. Köln 1622.

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bellum Bohemicum non de religione, quod iactabatur, sed de regno gereretur"41. Für die allgemeine Geschichte des Krieges stützt er sich neben dem Theatrum Europaeum42 meist auf die „Schaubühne der Welt=Geschichte" des ehemals ernestinischsächsischen Geheimrats Hiob Ludolff (1624-1704).43 Bemerkenswert ist Schrodts Zurückhaltung gegenüber der pro-schwedischen Tradition: Bogislav Philipp v. Chemnitz (1605-1678) wird nie zitiert und Samuel v. Pufendorf (1632-1694) nur relativ selten, obgleich dessen überragende Reputation als Jurist ihn für die meisten Historiker des 18. Jahrhunderts zu einer Autorität ersten Ranges auch für die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges gemacht hatte.44

V. Der dritte Buchtitel aus dem Jahre 1748 ist ebenfalls eine Gelegenheitsschrift. Im Unterschied zu Urlspergers Lokal- und Schrodts Regionalgeschichte bietet sie allgemein-deutsche Geschichte, ist mit 178 Seiten Text erheblich umfangreicher, wenn auch kein Wälzer, und hat 1750 und 1760 noch im Text unveränderte weitere Auflagen erlebt.45 Der Autor dieser anonym erschienenen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und Westphälischen Friedens mit dem Untertitel „Zum Behuf der gegenwärtigen Staats-Begebenheiten", der 1750, nach dem Abschluß der Aachener Friedensverträge von 1748, entfiel, war vielleicht46 Christian Gottlieb Buder (1693-

41

SCHRODT, Historia (wie A n m . 33), 4 .

42

Dazu Hermann BLNGEL, Das Theatrum Europaeum, ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1909. 43 Hiob LUDOLFF, Allgemeine Schau=Bühne der Welt / Oder: Beschreibung der vornehmsten Welt=Geschichte [...]. 2 Bde. Frankfurt am Main 1699/1701. Vgl. WEGELE, Historiographie (wie A n m . 10), 4 9 8 f. u n d D B A 7 8 6 , 5 7 - 7 3 . 44 SCHRODT, Historia (wie Anm. 33) zitiert Pufendorf sechsmal, 36-42. Zu Chemnitz und Pufendorf vgl. Leopold v. RANKE, Uber Chemnitz und Pufendorf, mit einigen Bemerkungen zur Schlacht von Fehrbellin, in: ders., Zwölf Bücher Preußischer Geschichte. Bd. III—IV. (Sämtliche Werke, Bd. 27-28.) Leipzig 1874, hier Bd. 28, 594-604; Frieda GALLATI, „Der Königlich Schwedische in Teutsch-land geführte Krieg" des Bogislav Philipp von Chemniz und seine Quellen. Frauenfeld 1902; Notker HAMMERSTEIN, Samuel Pufendorf, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht. Hrsg. v. Michael Stolleis. 2., erw. Aufl. Frankfurt am Main 1987, 172-196; Detlev DÖRING, Pufendorf-Studien. Berlin 1992, 143-150. 45 Erstauflage: Frankfurt am Main/Leipzig 1748; 2. Aufl. : Frankfurt am Main 1750; „Neue [= 3.] Auflage": Gotha 1760. Nach der dritten Ausgabe zitiere ich im folgenden. 44 Die Kataloge schreiben das Buch z. T. Buder zu (so die Herzog August Bibliothek [HAB] Wolfenbüttel), z. T. nicht (so BSB München); Michael HOLTZMANN/HannsBOHATTA, Deutsches Anony-

m e n - L e x i k o n 1 5 0 0 - 1 8 5 0 . Bd. II. W e i m a r 1903, 195, N r . 6 5 4 4 : „ B u d e r " , mit Bezug auf MURR, B e y -

träge (wie Anm. 3). Die Wallenstein-Bibliographie verfährt unterschiedlich: WL 122 verzeichnet die Ausgaben von 1748 und 1750 unter „Buder"; Georg SCHMID, Erste Ergänzung, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 21, 1883, Beilage, 1-48, hier 12, Nr. 853, die Ausgabe von 1760 (ohne Hinweis auf Buder) unter „Die Geschichte ...". Ich zitiere es hinfort, im Unterschied zum Procedere bei REPGEN, „Dreißigjähriger Krieg" (wie Anm. 20), 370, als „ANO-

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1763), Schüler und Nachfolger Struves in Jena.47 Gegen dessen Autorschaft gibt es allerdings Bedenken. Der erste Grund ist ein argumentum e silentio, also allein kaum tragfáhig: Die anonyme „Geschichte" fehlt in der Bibliothek Buder, welche in die Universitätsbibliothek Jena gelangt ist.48 Wichtiger dürfte sein, daß der Anonymus Einiges nicht oder kaum zitiert, das Buder als Universitätsbibliothekar leicht zugänglich war und daher auch in Struve-Buders Bibliographie von 174049 steht. So fehlt - trotz der deutlich pro-schwedischen Grundhaltung des Verfassers - jede Allegation von Chemnitz50; es fehlt ebenso die Benutzung des wichtigsten damals vorliegenden Titels51 über Herzog Bernhard v. Weimar (1604-1639) 52 ; und es wird nur ein einziges Mal - übrigens an einer ganz unspezifischen Stelle - die Aktenedition zur Geschichte des Westfälischen Friedens53 von Johann Gottfried v. Meiern (16921745)54 allegiert. Die dauerhafte Bedeutung dieser „Pionierleistung" einer „aktenmäßig fundierten Reichsgeschichte"55 für die Rekonstruktion der Friedensverhandlungen war den zeitgenössischen Universitätsgelehrten sofort bewußt.56 Daß Buder solche naheliegenden Zitierungen unterlassen hätte, ist eigentlich schwer vorstellbar. Andererseits wird konsequent und öfter, als es im Vergleich zu den anderen Allegationen unbedingt nötig wäre, Struve zitiert57, Buders Lehrer, was doch für seine

NYMUS". 47

Für Buder vgl. DBA 158, 198-298. Ernst CONSENTIUS, Zur Quellenfrage von Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges", in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen 106, 1901, 241-257, hier 242. 49 Vgl. Bibliotheca Histórica Selecta In Svas Classes Distribvta, Cvivs Primas Lineas Duxit D. Bvrc[hardvs] Gotthelfivs STRWrvs, Emendavit Et Copiose Locvpletavit Christianvs Gottlieb BVDER. Jena 1740 (HAB Wolfenbüttel, Ga 318), 954-964. Die achte Auflage von 1756 liegt in einem Nachdruck (Aalen 1970) vor. 50 Ebd., 960; fiir Chemnitz vgl. oben Anm. 44. Bei STRUVE, Syntagma (wie Anm. 14) wird neben Pufendorf auch Chemnitz regelmäßig zitiert. 51 Ernestus Salomon CYPRIANUS, Adversaria Histórica Qvibvs Bernhardvs Magni Dvcis Saxoniae Vinariensis Vita Et Germanici Svecorvm Belli Fvnestissima Periodvs Illvstrantvr. Ex Tabvlario Gothano. Gotha 1729; vgl. STRUVE/BUDER, Bibliotheca (wie Anm. 49), 961. 52 Vgl. DBA 90, 36; 1161, 180-196. 53 Acta Pacis Westphalicae Publica. Hrsg. v. Johann Gottfried v. MEIERN. 6 Bde. Hannover 1734-1736 (ND Osnabrück 1969). ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46), 43, Anm. 85 verweist für die Abweisung des schwedischen Ersuchens um Teilnahme an den kaiserlich-dänischen Friedensver-handlungen 1629 u. a. auf „Meiern Acta Pac. Westph. Tom. I". Gemeint ist wohl ebd., Bd. I, 88-116 (Schwedisches Kriegsmanifest gegen Dänemark 1644), hier 94. Im Zusammenhang des West-fälischen Friedens zitiert der ANONYMUS Meiern nicht. 54 DBA 820, 279-308. 55 Michael BEHNEN, Art. Meieni, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 16. Berlin 1990, 651 f. 56 Vgl. Erhard REVSCH, De Vsv Et Praestantia Actoram Pacis Westphalicae Dissertatio οάτοσχΐδιαστική. Helmstedt 1736. 57 Burcard Gotthelff STRUVE, Ausführliche Historie Der Religions-Beschwerden [...]. Bd. I. Leipzig 1722; vgl. ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46), Anm. 9, 31, 61, 66,68, 76, 82, 87, 106, 111, 150, 154, 171, 190, 194, 199 und 201. 48

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Verfasserschaft sprechen mag. Wer also wirklich der Autor gewesen ist, wird sich schwerlich entscheiden lassen. Der Anonymus hat sein Werk in sieben „Bücher" eingeteilt, die, wie in der Reichshistorie üblich, aus vielen kleinen, paragraphenweise gezählten Abschnitten mit eigenen Zwischenüberschriften bestehen.58 Seine Schrift ist aber kein Lehrbuch. Sie sucht einen Mittelweg zwischen gelehrter Abhandlung und literarischem Essay, zielt auf Leser, die nicht handbuchartige Wissensvermittlung suchen, jedoch mit Anmerkungen umzugehen gewohnt sind. Es wird daher keineswegs jede Aussage durch einen Beleg abgesichert, wie es am Anfang des 18. Jahrhunderts bei Struve59 und Spener60 und am Ende desselben bei Heinrich61 und Senkenberg62 üblich war, doch erklärt der Autor an vielen Stellen, worauf sein Text fußt, auch wenn ein durchgängiges System bei den Allegationen nicht zu erkennen ist und sich in den Fußnoten selbst natürlich auch Zitatfehler finden63. Obgleich die Adressaten nicht ausdrücklich benannt werden, ist demnach der Kreis, für den der Anonymus schrieb, einigermaßen sicher bestimmbar: Er richtete sich an Gebildete, denen die Vokabel „Dreißigjähriger Krieg" ein gängiger Begriff der geschichtlichen Erinnerung war, und für welche dieser Name von vornherein den schlimmsten Krieg bedeutete, den Deutschland jemals erlitten hatte.64 Als diese „Unruhe" den höchsten Grad erreicht habe, sei durch den Westfälischen Frieden „Ruhe" eingetreten. Kann etwas „vergnügters erdacht werden, als der hergestellte Friede nach einem sehr schweren Kriege? Jetzt begehen wir das Jubiläum, ein Andencken des gleich vor hundert Jahren wieder beruhigten Vaterlandes. Alle Teutsche haben Ursach, Antheil an der Freude zu nehmen; und gegenwärtige Blätter können Stoff genug zu Betrachtungen geben". Anläßlich des Säkulaijahres zur Betrachtung anzuregen, durch „Erzehlung geschehener Begebenheiten" nachdenklich zu machen, ist also der Zweck dieses Buches.

58 Beispiel: Buch 3, § 16: Schlacht bey Lutter; § 17: Zustand im Reich; § 18: Proiecte des Kaysers; § 19: Character des General Wallensteins; § 20: Seine Thaten; § 21: Wallenstein wird Admiral; § 22: Begebenheit mit Stralsund; § 23: Lübecker Friede mit Dännemarck; § 24: Edict wegen Restitution der geistlichen Güter; § 25: Dessen Folgen. 59 Wie Anm. 14. 60 Wie Anm. 15. 61 Wie Anm. 10. 62 Wie Anm. 11. 63 ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46), 44 beschreibt den Inhalt des Restitutionsedikts („das denen Protestanten das Messer gleichsam an die Kehle" gesetzt habe) mit einer als wörtliches Zitat gekennzeichneten Passage in indirekter Rede und allegiert vier Titel, von denen keiner diesen Wortlaut enthält. 64 „Niemals wird man einen Krieg finden, der Teutschland auf eine ähnliche Art solte mitgenommen, solte verändert haben" (Vorwort, auch zum Folgenden).

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Wie die Vorrede ankündigt, hat der Autor die „Ausarbeitung und Einrichtung" dieser Geschichte nach der „Natur der Sache" besorgt. Mit dieser kryptischen Formel sind offenbar die beiden geschichtlichen Grundaussagen seiner Darstellung gemeint. Sie lauten: Der Dreißigjährige Krieg war vor allem ein Religionskrieg65, hatte aber noch eine zweite „Hauptursach": die „Furcht vor Spanien und Oesterreich" 66 . Mit diesen beiden Thesen greift er zwei Argumentationsmodelle zeitgenössischer Kriegslegitimationen auf, die in der politischen und gegenwarts-chronistischen Publizistik eine bedeutende Rolle gespielt und dann Eingang in die spätere Geschichtsschreibung gefunden hatten. Dahinter steht die lutherische Form eines protestantischen und reichsständischen Selbstverständnisses, das nicht schon 1618, wohl aber nach der schwedischen Intervention 1630 einen Kern des kaiserfeindlichen Lagers bildete. Dieses protestantische und antispanische Programm vertritt der Anonymus nicht mit polemischer Schärfe. Er argumentiert zur Erklärung von Motiven und Zielen weniger mit Begriffen als mit Erzählung von Begebenheiten, deren politische Implikation gewissermaßen zwischen den Zeilen liegt. So wird gegen die religionsrechtliche Interpretation der böhmischen Rebellen, die den Prager Fenstersturz von 1618 rechtfertigen sollte, angemerkt, daß der Majestätsbrief von 1609 nur den Ständen, nicht aber den Untertanen ein Kirchenbaurecht eingeräumt gehabt habe67; und hinsichtlich der Wahl des pfälzischen Kurfürsten zum König von Böhmen werden nicht die pro und contra vorgetragenen staatsrechtlichen Begründungen referiert, sondern es wird psychologisch argumentiert: „Eigene Ehrbegierde, das Antreiben der aus Königs=Blut entsprossenen Gemahlin, das Zureden der Geistlichen und der Räthe, die gestellete Nativität entschieden allen Zweifel". 68 Die habsburgischen Kaiser des Dreißigjährigen Krieges werden von dem Anonymus als sympathische Herrscher beschrieben, mit Kritik jedoch an Matthias und Ferdinand II., weil sie sich vom „spanischen Interesse" hätten leiten lassen.69 Die ausführlichsten Personenbeschreibungen gelten hingegen Wallenstein und Gustav Adolf. Der Generalissimus verdiene wegen seiner militärischen Fähigkeiten als Organisator und Feldherr „unter den größten Helden seiner Zeit einen besonderen 63 „Man stritte nicht sowohl um die Region, als die Religion" (ebd.). Zur Problematik des Religionskriegsbegriffs vgl. Konrad REPGEN, Was ist ein Religionskrieg? in: ders., Von der Reformation bis zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte. Hrsg. v. Klaus Gotto/Hans Günter Hockerts. Paderborn u. a. 1988, 84-97. 66 ANONYMUS, Geschichte (wie ANM. 46), 4. Zur Sache vgl. Franz BOSBACH, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988, 87-106. 67 ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46), 15 (mit Zitat aus dem böhmischen Majestätsbrief von 1609 in Fußnote 36). 68 Ebd., 21. 69 Vgl. ebd., 12, 19 f.

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Rang". Sein Charakter jedoch weist negative Seiten auf: Rachgier, Verstellung, Ehrgeiz und Machtstreben. „Als er sähe, daß nun nichts mehr, als gecrönte Häupter über ihm waren, hatte er die Verwegenheit, nach der Böhmischen Crone zu trachten".70 Sein Verrat am Kaiser ist eindeutig, und folglich wird sein Tod einerseits als „Hinrichtung" bezeichnet, als „das erbärmliche Ende eines gantz ausserordentlichen Mannes"71, obgleich andererseits auch Zweifel an einzelnen Aussagen der offiziellen Rechtfertigungsschrift72 des Wiener Verfahrens gegen Wallenstein vom Herbst 1634 formuliert werden.73 Hingegen ist Gustav Adolf wenn nicht der Held, so doch der Höhepunkt dieser Kriegsgeschichte, die den fünf Jahren 1630 bis 1635 besonders breiten Raum gewährt.74 Der König wird in lauter lichten Farben geschildert; selbst seine Schwächen werden entschuldigt; denn „alles, was er that, das hatte ein gutes Geschicke".73 Die schwedische Intervention beschreibt der Anonymus in Übereinstimmung mit dem schwedischen Manifest vom Juli 163076 nicht konfessions-, sondern machtpolitisch, als Präventivkrieg gegen den Kaiser, der nach 1626 auf die „Monarchie über Teutschland" gezielt und nun, 1629, wie Pufendorf zutreffend ausgeführt habe, die „Nordischen Reiche bezwingen" wollte, „die ihm als eine Grund=Mauer dienen sollten, die Herrschaft über Europam zu befestigen".77 Das habe der Schwedenkönig verhindert und außerdem, solange er lebte, den Franzosen den Weg nach Deutschland versperrt. Die pro-schwedische Option des Anonymus ist nicht allein von seiner Hochschätzung für den König bestimmt, sondern auch von Schwedens Eintreten für die protestantische Seite beim Westfälischen Frieden, der „die Religion auf einen festen und gewissen Fuß" gesetzt und damit eine 130jährige Periode „größter und blutig-

70 ANONYMUS, Geschichte (wie ANM. 46), 39 f. Ebd., 71 (zum Herbst 1631): Wallenstein „fienge an, seine heimlichen und weitaussehenden Desseins zu entwerfen. Mit einem Worte, er wolte König in Böheim werden". 71 Ebd., 108 f. 72 Ausführlicher und Gründtlicher Bericht. Wien 1634. Dazu vgl. Christoph KAMPMANN, Reichsrebellion und kaiserliche Acht. Politische Strafjustiz im Dreißigjährigen Krieg und das Verfahren gegen Wallenstein 1634. Münster 1992, 190-192. 73

ANONYMUS, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 4 6 ) , 110 f.

74

Ungefähr 42 % des Werkes (75 Seiten). Die Gliederung der Gesamtdarstellung ist ungewöhnlich: Buch 1: Vorgeschichte [1517-1618]; Buch 2: Böhmischer Aufstand [1618-1621]; Buch 3: „Geschichte des dreyßigjährigen Krieges in Teutschland" [1621/22-1629]; Buch 4: Schwedische Intervention [1630-1632]; Buch 5: Fortgang des Dreißigjährigen Krieges [1633-1637]; Buch 6: „Begebenheiten" des Dreißigjährigen Krieges bis 1648; Buch 7: Geschichte des Westfälischen Friedens. 75

ANONYMUS, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 4 6 ) , 4 8 .

76

Text einer der deutschen Versionen zuletzt in: Sigmund GOETZE, Die Politik des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna gegenüber Kaiser und Reich. Kiel 1971, 349-365. 77

ANONYMUS, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 46), 3 8 , 4 5 .

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201

ster Religionskriege" beendet habe.78 Er verteidigt Schweden auch gegen den Vorwurf, es hätte bei größerer Hartnäckigkeit 1648 noch mehr erreichen können, als „grosse Ehre" und „ansehnliche Provintzen" zu gewinnen; denn die europäische Lage sei wegen Spaniens Münsterischem Frieden mit den Generalstaaten (30. Januar 1648) und der inneren Schwierigkeiten Mazarins (Fronde) labil gewesen, die deutschen Reichsstände seien kriegsmüde und die deutschen Soldaten der schwedischen Armeen „des Wesens überdrüssig" gewesen. Daher habe die Königin Christina „in Ruhe seyn und nicht länger zusehen" wollen, „daß ihr Staat von dem wanckelbaren Glück und anderer Leute Discretion dependirte".79 Eine solch vorsichtige Einschätzung der tatsächlichen Machtchancen Schwedens im Jahre 1648 entspricht im Grunde dem heutigen Urteil der Forschung.80

VI. Die Auflagen dieser anonymen „Geschichte" aus den Jahren 1750 und 176081 sind vermutlich, unter Benutzung eines Stehsatzes, neu gedruckt worden.82 Wenn diese Beobachtung richtig ist, dürfte der Verleger schon 1748 geahnt haben, daß sein Produkt sich über das Jubiläumsjahr hinaus verkaufen lasse. Hingegen beruft sich ein vierbändiges Werk von 1758 bis 1760, das gleichfalls den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden im Titel nennt, erneut auf die Tagespolitik, auf den Siebenjährigen Krieg. 83 Der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbene Autor war der französische Jesuit Guillaume-Hyacinthe Bougeant (1690-1743), der sich auf vielerlei Gebieten literarisch betätigt hat.84 1727 brachte er eine Darstellung der Kriege, die dem West-

78

Ebd., l f.

79

Ebd., 178.

8 0 Vgl. Wilhelm KOHL, Einleitung, in: Acta Pacis Westphalicae. Serie II. Abt. C: Die schwedischen Korrespondenzen. Bd. 4,1: 1647-1648. Münster 1994, XXIV-XLVII. 81

Vgl. oben, Anm. 46.

Dies ergibt sich aus dem textgleichen neuen Satz des ersten Abschnitts der Vorrede, aber auch aus gelegentlichen Unterschieden im Satz (nicht im Text) der Anmerkungen: vgl. etwa 89, 103, I I S , 143, 154 in den Ausgaben des ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46) von 1748 und 1760; vgl. auch CONSENTIUS, Quellenfrage (wie Anm. 48), 242. 82

8 3 „Gantz Europa ist in einer ungewöhnlichen Bewegung; alles redet von dem Kriege, der jetzo geführet wird, und jederman wünschet, daß er durch einen Frieden geendiget werde, der den Westphälischen Frieden an Gerechtigkeit und Sicherheit übertreffe"; Bougeant-Rambach (s. Anm. 89), Bd. I, Vorrede, 3 f. 8 4 Archives biographiques françaises [ABF] 134, 391-410; vgl. AUGUSTIN und Aloys de BACKER/ Carlos SOMMERVOGEL, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Bibliographie. Nouvelle édition. Vol. I. Paris 1890, 1873-1886.

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fálischen Frieden vorausgegangen waren, heraus. Sie umfaßt die Zeit von 1517 bis 1644.85 Posthum erschien dann 1744 die schon 1727 angekündigte Geschichte des Westfälischen Friedenskongresses; 1751 und 1767 gab es Neuauflagen.86 Der deutsche Übersetzer dieser französischen Darstellung, auf die auch heute noch Bezug genommen wird87, war der lutherische Pfarrer und Schulmann Friedrich Eberhard Rambach (1708-1775), ein sehr fruchtbarer Publizist, der vom Hallenser Pietismus geprägt war.88 Er hat Bougeants Buch an vielen Stellen kommentiert und eine Reihe von Quellenbeilagen hinzugefügt, die der französischen Ausgabe fehlen. Deshalb darf man die deutsche Version in gewissem Sinne als Neubearbeitung verstehen und als „Bougeant-Rambach" zitieren.89 Für Bougeant stand nicht der Krieg, sondern der Friedenskongreß im Mittelpunkt des Interesses. Dem entspricht seine Verteilung des Erzählstoffes; die Beschreibung der Friedensverhandlungsjahre 1644 bis 1648 ist doppelt so lang wie die Geschichte des vorhergehenden Krieges, der nicht um seiner selbst willen dargestellt wird, sondern als Vorgeschichte der Friedensschlüsse. Bei diesen stehen nicht, wie bei den deutschen Autoren, die Verträge des Kaisers und des Reichs mit Schweden und mit Frankreich vom Oktober 1648 im Vordergrund. Mindestens in gleichem Maße interessieren den französischen Autor, der nach der politischen Geschichte seines eigenen Landes fragt, Spanien und die Generalstaaten, die schon am 30. Januar 1648 ihren Separatfrieden von Münster schlossen. Bougeants Kongreßgeschichte ist daher erheblich „europäischer" ausgerichtet als alle deutschen Beiträge zur Geschichte des Westfälischen Friedens im 18. Jahrhundert. Diese Gewichtung hat Rambach nicht verändert. Er erreicht jedoch einen stärkeren Bezug auf den Horizont des deutschen Lesers durch eine laufende Kommentierung, durch ausführliche Vorreden sowie durch einige Beilagen. Der Zweck dieser Beilagen mag, zum Teil jedenfalls, nur gewesen sein, verfügbaren Platz auszufüllen; denn ein Teil von ihnen hängt mit dem übrigen Werk nur

85 Guillaume-Hyacinthe BOUGEANT SJ, Histoire Des Guerres Et Des Négociation Qui Précédèrent Le Traité De Westphalie [...]. Paris 1727 (4°). Zugleich erschien eine zweibändige Ausgabe in 12°. 86 Guillaume-Hyacinthe BOUGEANT SJ, Histoire Du Traité De Westphalie [...]. 2 Bde. Paris 1744 (in 4°). Zugleich erschien eine sechsbändige Ausgabe in 12°. Diese wurde 1751 erneut aufgelegt. Sie enthält Quellenbeilagen, darunter das IPM und IPO in französischer Übersetzung. 1767 erschien das Gesamtwerk, Kriegs- und Kongreßgeschichte, dreibändig in 4°, außerdem die Kongreßgeschichte, sechsbändig, in 12°. 87 Fritz DICKMANN, Der Westfälische Frieden. Hrsg. v. Konrad Repgen. 6. Aufl. Münster 1992, 207, 522 f. 88 Vgl. DBA 996, 205-282. 89 Wilhelm Hyacinth BOUGEANT, Historie des dreyßigjährigen Krieges und des darauf erfolgten Westphälischen Friedens [...]. Mit Anmerkungen und einer Vorrede begleitet von Friedrich Eberhard Rambach. 4 Bde. Halle 1758-1760.

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locker zusammen. 9 0 D i e Vorreden zu I, III und IV nützt Rambach zu unterschiedlich breit geratenen Erörterungen aus: in III und IV bietet er biographische Skizzen über einen Teil der Personen, die in der Darstellung auftreten, in I eine Übersicht über die wichtigsten Autoren, an die Bougeant sich mit dem 1727 erschienenen Teil angeschlossen hatte. Diese quellenkundliche Erörterung ist wenig gründlich geraten. Vor allem wird zwar erwähnt (I, Vorrede, 48), aber in der wissenschaftlichen Bedeutung ganz ungenügend herausgestrichen, daß Bougeant die Papiere des französischen Diplomaten Claude de Mesmes, Comte d'Avaux (1596-1650) 9 1 hatte benutzen können. Dieser war seit 1634, zunächst in Dänemark, Schweden und Polen, dann in Hamburg und Den Haag und schließlich beim Westfälischen Friedenskongreß eine der für die französische Außenpolitik zentralen Figuren, jedoch kein Mann Mazarins, der ihn schließlich 1648 in Ungnade abberufen ließ. D i e kluge Benutzung dieser d'Avaux-Materialien gaben dem Buch Bougeants einen bis in unsere Tage andauernden wissenschaftlichen Rang. Es ist schwer zu sagen, ob der Verleger und/oder der Übersetzer sich der Bedeutung Bougeants als Quelle klar gewesen sind/ist. Rambach hat seine Hauptaufgabe nicht im Hilfswissenschaftlichen gesehen, sondern in den kommentierenden Fußnoten, die typographisch von den Anmerkungen Bougeants abgehoben sind. Ihre Funktion ist konfessionelle Apologetik und Polemik, und zwar mit dicken Strichen.

90 So wird die Vorrede zu Bd. I, 6-47 unterbrochen durch die Schrift des Jean François Sarrasin (1604-1654) über Wallensteins Verschwörung gegen den Kaiser. Der Name des Verfassers ergibt sich aus WL Sl. Die Schrift war erschienen Köln 1655, 1656 und 1664 (Catalogue générale des livres imprimés de la Bibliothèque Nationale. Bd. CLXIII. Paris 1943, 247). Bd. II, 643-716 fügt eine „Abhandlung von den Ursachen, dadurch Frankreich bewogen worden, sich in den dreyßigjährigen Krieg zu mischen" an; der Vorbericht meint, sie stamme vielleicht vom Comte Henri Auguste Loménie de Brienne (1595-1666), seit 1643 französischer Staatssekretär des Auswärtigen (für ihn vgl. ABF 670, 416-423). Die „Abhandlung" ist vielleicht identisch mit einer von ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46), 147, Anm. 181 zitierten Flugschrift „Motifs de la France pour la guerre de l'Alemagne", die ich noch nicht nachweisen kann. Bd. III, 419-466 enthält die bereits 1720 und 1735 - vgl. THIEKOTTER, Bibliotheca (wie Anm. 4), 222, Nr. 272 - nachgedruckten lateinischen „Epistolae arcanae" des mömpelgardischen Kanzlers Christoph FORSTNER, die zuerst 1656, 1670 und 1671 erschienen waren; ebd., 467-523, die deutsche Ubersetzung. Rambach kannte gemäß Bd. III, 419, Anm. * zu diesem Zeitpunkt den tatsächlichen Verfasser noch nicht; in Bd. IV, 611-656 (Fortsetzung des Briefe-Nachdrucks) war er ihm bekannt. Bd. IV besteht hauptsächlich aus Beilagen: 163521 die Vertragstexte, lateinisch und deutsch. Die deutsche Übersetzung, die gemäß der Vorrede zu Bd. III, 60, vor dem Druck durch einen „vornehmen Rechtsgelehrten" durchgesehen werde, folgt tatsächlich den vom Mainzer Reichserzkanzler autorisierten Ausgaben 1648/49 durch Philipp Jakob Fischer, Frankfurt am Main (Druck: Nikolaus Heyll, Mainz). Außerdem Bd. IV, 523-584: Nürnberger Friedens-Exekutions-Hauptrezeß, 1650 VI 26; Bd. IV, 585-593: Breve „Zelo domus dei" (de dato 1648 XI 26, Druck: 1651 I 3) sowie Proteste Chigis (1648 X 14 und X 26). In Bd. IV, 37-62 an die „Vorrede" angehängt: „Chronologisches Verzeichniß der im dreyßigjährigen Kriege vorgefallenen wichtigen Begebenheiten". Dies ist ein Nachdruck des Ende Oktober/Anfang November 1648 als Beilage zur „Hamburger Mittwochszeitung" ausgelieferten „Auszug aller namhaften Bataglien [...]", ein ziemlich fehlerhaft zusammengeflickter Geschichtskalender; dazu REPGEN, „Dreißigjähriger Krieg" (wie Anm. 20), 75. 91 ABF 735, 28-40.

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Der Leser soll auf Schritt und Tritt vor der Verführung durch den ruhig argumentierenden französischen Jesuiten gewarnt und bewahrt werden. Das gilt nicht allein für den konfessionsrechtlichen Streit im Reich, sondern wird auch auf die außenpolitischen Begebenheiten zwischen Spanien, den Generalstaaten und Frankreich übertragen. Der ständig erhobene Zeigefinger des polternden Magisters kontrastiert scharf mit den filigranartigen und zweckrationalen Deduktionen, die Bougeant in seinen Akten vorgefunden und daher ziemlich selbstverständlich in seine Geschichte übernommen hatte. Ob die eifernde Kommentierung Rambachs eine politische Vorbedingung dafür war, daß mitten im Krieg, den Frankreich an der Seite Österreichs gegen den Hohenzollernstaat führte, im preußischen Halle eine solch umfangreiche Darstellung der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens aus der katholischen Feder eines französischen Jesuiten erscheinen durfte, sei wenigstens als Frage vermerkt.92

VII.

Nach 1760 ist zwei Jahrzehnte hindurch keine neue Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland erschienen.93 Der nächste Titel gehört in das Jahr 1782. Es war wieder eine Gelegenheitsschrift. Ein Hallenser Privatdozent, Johann Christoph Krause (1749-1799)*, der gleichzeitig in einem anderen Verlag ein ausführlicheres Lehrbuch der Reichsgeschichte „vorzüglich zum Behuf zukünftiger Rechtsgelehrten" herausbrachte95, brauchte für eine Vorlesung über den Dreißigjährigen Krieg einen kleinen Leitfaden, um seine Hörer „zum Studium dieses höchst merkwürdigen Theiles der Geschichte fähiger und williger" zu machen. Da eine solche Schrift auf dem Markt fehlte, schrieb er sie selbst.96 Dieser vorlesungsbegleitende Grundriß im Sedez-Format umfaßt nur 132 Seiten und ist auf die

92 Rambach zieht in BOUGEANT, Historie (wie Anm. 89), Bd. I, 107 f., Anm. * einen ziemlich schiefen Vergleich zwischen Tillys Sieg in der Schlacht von Höchst (20. Juni 1622) und Friedrichs des GroBen Sieg bei Roßbach (S. November 1757) - mit dem Fazit, daß die Preußen die besseren gewesen seien. 93 Johann Gottlob Böhme hat seiner kommentierten Neuausgabe von [Leonhard PAPPUS], Epitome Rervm Germanicarvm. Leipzig 1760, die Ausgabe zugrundegelegt, die allein die Jahre 1617 bis 1643 umfaßt. Offenbar kannte er nicht die Ausgabe von 1655, die bis 1648 führt. Daher ist Böhmes historiographiegeschichtlich interessante Edition hier nicht zu berücksichtigen. Bibliographische Nachweise bei Ludwig ARNDTS (Hrsg.), Des Leonhard Pappus Epitome Rerum Germanicarum Ab Anno MDCXVII Ad Annum MDXLVIII Gestaram. Bd. I. Wien 1856, XXVIII-XXXVII. 94 DBA 704, 245-269. 95 Halle: Johann Jakob Curts Witwe. 96 Johann Christoph KRAUSE, Lehrbuch der Geschichte des dreyßigjährigen teutschen Krieges und Westphälischen Friedens. Halle a. d. Saale 1782. Vorwort: 24. Juli 1782.

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Erläuterung durch das gesprochene Wort hin angelegt. Er stellt mit seiner klugen Gliederung, der Vielseitigkeit seiner Aspekte und der Klarheit seiner Aussagen dem wissenschaftlichen Profil und dem didaktischen Geschick dieses Dozenten des beste Zeugnis aus. Für einen geschichtswissenschaftlich wirklich interessierten Studenten muß es ein Vergnügen gewesen sein, mit diesem Leitfaden in der Hand Krauses Kolleg zu besuchen. Krauses Büchlein will nicht nur Kenntnis vermitteln, sondern formal gesicherte Erkenntnis. Es beginnt daher mit einem nützlichen Überblick über Hilfsmittel, Quellen und Literatur97, und bietet danach unter der Hauptüberschrift „Geschichte selbst" in vier großen Kapiteln, die in sich vielfach und systematisch gegliedert sind, 1. eine problem- und strukturgeschichtlich orientierte Übersicht über die Lage Europas und Deutschlands im Jahre 1618; 2. eine ereignisgeschichtlich orientierte Darstellung des Kriegsgeschehens mit der auch heute noch üblichen Periodisierung in vier Zeitabschnitte98: 1618-1625 (Böhmisch-Pfälzischer Krieg), 1625-1630 (Dänisch-Niedersächsischer Krieg), 1630-1635 (Schwedisch-Protestantischer Krieg gegen Kaiser und Liga) und 1635-1648 (Schwedisch-Französischer Krieg); 3. eine rechtsgeschichtlich orientierte Beschreibung des Inhalts der Friedensverträge und 4. eine historisch-zusammenfassende Übersicht über die Folgen und Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens. Die Werturteile Krauses sind von lutherisch-reichsständischer, aber nicht aufdringlicher Apologetik geprägt. Gegen Papst, Nuntien, Jesuiten und Wien oder Spanien richtet sich daher stets ein Grundverdacht, der als solcher nicht reflektionsbedürftig ist. Der Faktenreichtum seiner Argumentation und seine Distanz zu rhetorischem Pathos tauchen diese Grundhaltung jedoch in ein gedämpftes Licht; dieser akademische Lehrer will nicht überreden, sondern überzeugen. Er berücksichtigt auch nicht allein die große Politik, sondern ebenso das Leiden des Volkes in einem Krieg, der „nicht nur alle Unarten älterer Kriege an sich" gehabt habe, „wo weder Menschlichkeit des Krieges noch Disciplin und Feldpolizey das Elend desselben mildem", sondern noch „durch ganz eigenthümliche Besonderheiten" geprägt worden sei: „Selbst der große Gustav Adolph begnügte sich nicht blos mit Wünschen nach Walzen, sondern ließ auch einpacken und wegschaffen, so gut als der Papst und nachher die Franzosen. Freventlich, um zu verwüsten, wurden die Länder ver-

97 Dabei werden Rambachs Anmerkungen einfach als „schlecht" charakterisiert; KRAUSE, Lehrbuch (wie Anm. 96), 10. 98 Allerdings 1625 statt (wie üblich) 1623 für das Ende des Böhmisch-Pfälzischen Krieges; vgl. Konrad REPGEN, Art. Dreißigjähriger Krieg, in: TRE Bd. IX. 1981, 169-188.

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wüstet, die Einwohner gemißhandelt und Tribulirquartiere, Schwedentränke etc. erfunden. Daraufkam Hungersnoth, und ihr folgten Hungerkrankheiten und Pesten, welche durch die Armeen unaustilgbar wurden".99 In um so helleres Licht können die dauerhaften Regelungen des Westfälischen Friedens für Europa wie für Deutschland getaucht werden. Sein Fazit hat daher etwas Versöhnliches an sich; der letzte Satz lautet: „Im Durchschnitt genommen war Teutschland um ein Menschenalter zurückgekommen; es hat sich aber durch Fleiß seiner Einwohner, durch stille Wirksamkeit einiger Regenten und Patrioten bey seiner allgemeinen und besonderen Verfassung so erholt, daß es mit den blühendsten Staaten wetteifern kann. Welch ein Lobspruch für teutsche Menschen und teutsche Einrichtungen!"100

VIII. Ein Jahr nach Krauses Lehrbuch begann ein jüngerer und nicht unbegabter Nürnberger Literat, der anscheinend von der Schriftstellerei lebte, im Verlag Johann Gottfried Stiebner eine Geschichte der Teutschen für die Jugend101 zu publizieren. Sie brachte es schließlich auf acht Kleinoktavbändchen. Der anonyme Verfasser hieß Michael Truckenbrot (1756-1793) und ist angeblich früh im Trunk verkommen.102 Das Bändchen 7 seiner Jugendbuch-Reihe erschien 1786 und behandelte den Dreißigjährigen Krieg. Es ist auch separat gedruckt worden, umfaßt in dieser Ausgabe 238 Seiten und trägt den etwas abweichenden Untertitel Ein Lesebuch flir den deutschen Bürger1W, was aber nicht viel bedeutet. Denn man darf dem Ersatz der Adressatenvokabel „Jugend" durch „Bürger" wenig begriffliche Absicht unterstellen. Titel werden vom Verleger gemacht. Wenn ein Geschäftsmann mit der gleichen Ware den „Bürger" wie die „Jugend" anspricht, hält er hinsichtlich dieses Produkts die beiden Vokabeln gewiß für Synonyma. Truckenbrots Lesebuch will mehr sein als ein Schulbuch und mehr als Belletristik. Es tritt mit wissenschaftlichem Anspruch auf, weist in regelmäßigen Fußnoten nach, worauf der Autor sich jeweils stützt und mutet dem Leser gelegentlich auch ein Zitat in lateinischer oder französischer Sprache zu. Insgesamt benutzt Truckenbrot relativ

99

KRAUSE, Lehrbuch (wie Anm. 96), 128 f. Ebd., 132. 101 Johann Georg MEUSEL, Lexikon der vom Jahr 17S0 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. XIV. Leipzig 1815 (ND Hildesheim 1968), 160-162, führt, offenbar irrtümlich, als Titel an: Geschichte der Teutschen für „Kinder". 102 DBA 1286, 450-458. 103 [Michael TRUCKENBROT], Geschichte des dreißigjährigen Kriegs und westphälischen Friedens. Ein Lesebuch für den deutschen Bürger. Nürnberg 1786. 100

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wenig Literatur; die 30 von ihm allegierten Titel machen nur knapp ein Drittel dessen aus, was der Anonymus 1748 wenn nicht verarbeitet, so doch zitiert hatte. Seine Hauptquelle ist Band I, also die Kriegsgeschichte, von Bougeant-Rambach. Das hat für ihn zwei Vorteile. Erstens bietet ihm diese ausführliche Ereignisgeschichte kontinuierlich eine bequeme Vorlage, der seine knapper gefaßte Erzählung folgen kann. Zweitens gibt diese Vorlage ihm laufend Gelegenheit, entweder mit Rambach oder ohne Bezug auf diesen gegen Bougeant und gegen andere katholische Autoren104 zu polemisieren, wenn dessen oder deren Darstellung oder Urteil der dezidiert lutherisch-reichsständischen Perspektive Truckenbrots in die Quere kommt. Denn konfessionell bezieht er ständig und deutlich Stellung, während die politischhistorische Aktualität zurücktritt.105 Diese konfessionelle Position wird in der Einleitung zunächst kaschiert: Er suche einen Mittelweg; denn weder die katholische Auffassung, wonach der Dreißigjährige Krieg „nichts weniger als ein Religionskrieg" gewesen sei, noch die gegenteilige Meinung, wonach „die Unterdrückung der Protestanten die einzige Ursache des Krieges" gebildet habe, seien haltbar. Beide Thesen gründeten auf Übertreibungen. Tatsächlich aber mißt Truckenbrot der katholischen Seite die größere Schuld zu. Sei es auch nicht aktenmäßig erweisbar, daß Ferdinand II. „sich zum Souverän in Deutschland habe machen wollen", so beweise sein Charakter und seine Tätigkeit als erbländischer Landesherr doch, daß „die Ausrottung des Protestantismus und die allgemeine Wiedereinführung der alten Religion sein erster und eifrigster Wunsch" gewesen seien. Die Übertragung der pfälzischen Kur an Bayern (1623) und das Restitutionsedikt (1629) bewiesen daher „ziemlich klar, daß es ihm, bei fortdauerndem Siege, nicht an Willen gefehlt haben würde, sich der unumschränkten Herr-

104 Es sind zwei Gegenwarts-Chronisten und ein Schulbuchautor: Eberhard WASSENBERG (1610-nach 1667: vgl. DBA 1334,95-98), CommentarionimDeBello [...] LiberSingvlaris. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1639, den er 49, Anm. *, als „schülerhaften Affen der deklamatorischen Grimassen des Florus" bezeichnet; Adolph BRACHEL, Historia nostri temporis rerum Bello et Pace [...] gestanim. Köln 1650 (dazu vgl. Wilhelm ROOS, Die Historia nostri temporis des Adolphus Brachelius. Ein Beitrag zur Kritik der Quellen des dreissigjährigen Krieges [= Würzburger Programm 1898/99], Würzburg 1899), und Christoph Orr SJ, Historia nova seculi nostri XVIIi ferreo-aurei [...]. Innsbruck 1682. Dieses Schulbuch setzte Orazio TURSELLINI SJ (dazu vgl. Uwe NEDDERMEYER, Das katholische Geschichtslehrbuch des 17. Jahrhunderts: Orazio Torsellinis .Epitome Historiarum', in: Historisches Jahrbuch 108, 1988, 469-483) für die Jahre 1576 bis 1657 fort. Otts Darstellung des Restitutionsedikts (109-116) ist für TRUCKENBROT, Geschichte (wie Anm. 103), 111, Anm. **, das „Muster einer unverschämten Apologie". 105 TRUCKENBROT, Geschichte (wie Anm. 103), 3, reklamiert zwar für sein Thema sowohl deutsche wie europäische Aktualität: „Eine kurzgefaßte und populäre Geschichte des langwierigen und blutigen Kriegs, der im vorigen Jahrhundert unser deutsches Vaterland in die traurigste Lage versezte, kan überhaupt keinem deutschen Bürger, der nicht vorsäzlich in der Geschichte unseres Vaterlandes unwissend bleiben will, uninteressant erscheinen; und wird auch vielleicht bei gegenwärtiger bedenklichen Krisis in Europa für manchen Liebhaber der historischen Lektur unterhaltend und lehrreich sein". Aus beiden Gesichtspunkten werden im Text jedoch keine ausdrücklichen Folgerungen gezogen.

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schaft über ganz Deutschland zu bemächtigen". Gustav Adolf hingegen habe auch aus konfessionspolitischen Gründen, nicht allein aus Machtinteresse, in Deutschland interveniert. „Daß endlich von beiden Theilen Exzesse und Grausamkeiten genug verübt worden" seien, stellt Truckenbrot nicht in Abrede, doch bleibe es wahr, „daß die katholische Miliz, aufgehezt von ihrer Mord und Rache schnaubenden Geistlichkeit,... weit mehr Unmenschlichkeiten als ihre Gegner begangen" habe. Die konfessionelle Apologetik liefert also den Raster der Werturteile dieser pragmatischen Geschichtserzählung, die das Geschehen bis zur Schlacht von Nördlingen (1634) einigermaßen gleichmäßig ausführlich darstellt. Mit dem Prager Frieden von 1635, den „die Katholiken und insbesondere das unselige Jesuitengezücht" auf „die schamloseste Weise" gepriesen hätten, verändert Truckenbrot jedoch seinen Duktus. Die letzten dreizehn Jahre des Krieges werden ganz knapp beschrieben (29 von 224 Seiten) - eigentlich nur ein etwas ausführlicherer Ausblick mit einer abschließenden kurzen Skizze des Inhalts der Friedensverträge. Zu diesem Procedere paßt die eigenwillige Periodisierung dieses Lesebuchs, das den gesamten Zeitraum von 1630 bis 1648 unter die Überschrift des „Schwedischdeutschen Krieges" stellt.

IX. Vor der Zusammenfassung der Ergebnisse ist, um Mißverständnisse zu vermeiden, noch einmal an unsere Selektionskriterien zu erinnern. Sowohl Schmidt wie Galletti, die gleichzeitig mit Schiller Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges publiziert haben, mußten daher unberücksichtigt bleiben. Michael Ignaz Schmidt (17361794)106 war zunächst Schulorganisator in Würzburg gewesen und wurde später Leiter des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Zwischen 1789 und 1791 erschien aus der Feder dieses bedeutenden katholischen Aufklärers eine Darstellung des Dreißigjährigen Krieges und Westfälischen Friedens, und zwar innerhalb einer elfbändigen Geschichte der Deutschen.1™ Dieses Werk ist von Schiller zum Teil

106 Arnold BERNEY, Michael Ignatz Schmidt. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Historiographie im Zeitalter der Aufklärung, in: Historisches Jahrbuch 44, 1924, 211-239; vgl. DBA 1120, 227-353. 107 Die Titelei dieses gleichzeitig in Ulm, Wien und Frankenthal erschienenen Werks ist etwas verwirrend. Die beste Übersicht gewährt das Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1910. Bd. 127, 383 f: Geschichte der Deutschen [von den Anfängen bis 1657]. Theil I-XI; darin (VI-XI): Neuere Geschichte der Deutschen (beginnend mit dem Schmalkaldischen Krieg), deren Bände 4 bis 6 ( = Theil IX, X und XI) die Zeit von 1612 bis 1657 umfassen. Sie erschienen 1789 bis 1791.

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noch benutzt worden.108 Es war quellenmäßig hervorragend fundiert und konzeptionell erheblich moderner109 als die von uns herangezogenen Schriften. Wenngleich Schmidts ruhiges, katholisches Urteil die antikatholischen Ressentiments Schillers störte, bleibt seine Synthese ein Werk von hohem Rang in der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft. Historiographiegeschichtlich weniger bedeutend, aber doch besser als ihr Ruf110, war auch die große, heute längst vergessene dreibändige Geschichte des dreißigjährigen Krieges und des Westphälischen Friedens, die 1791-1792 der Gothaer Gymnasialprofessor Johann Georg Galletti (1750-1828)111 bei Johann Jakob Gebauer in Halle a. d. Saale publizierte. Sie erschien im Rahmen der deutschen Bearbeitung der vielbändigen Universal History.112 Galletti brachte dort von 1787 bis 1795 nicht weniger als neun stattliche Quartbände einer deutschen Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart heraus.113 Die Bände V bis VII firmierten zugleich als Band I, II und III der Geschichte über die Jahre 1618 bis 1648. Das Geschehen wird hier ganz breit, auf 940 Quart-Seiten, und unter respektabler Berücksichtigung der im Druck damals vorliegenden Quellen und der Literatur beschrieben. Man fragt sich daher, wann dieser ebenso gelehrte wie eifrige Schulmann all das eigentlich gelesen und geschrieben hat. Sogar einige Fußnotenhinweise auf Schillers soeben erschienenen ersten Teil der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges wußte Galletti, der das Vorwort zu Band I „im Mai 1791" verfaßte, noch einzufügen.114 Er war insofern durchaus auf dem „neuesten Stand", was man nicht ohne Einschränkung von jedem unserer sechs Autoren behaupten könnte.

***

108

V g l . FESTER, K o m m e n t a r , in: SCHILLER, Säkularausgabe ( w i e A n m . 6 ) , A b t . X V , B d . III,

448. 109

Vgl. Heinrich Ritter v. SRBK, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart. Bd. I. 3., unveränd. Aufl. München/Salzburg 1964, 131 f. 110 August Friedrich GFÖRER, Geschichte Gustav Adolphs. Stuttgart 1837, XIII, ironisiert den „dummdreisten Ton, in welchem der kleine Schulftichse von Gotha [Galletti] die katholische Partei hofmeistert"; WEGELE, Geschichte (wie Anm. 10), 942, apostrophiert Galletti nur als „Vielschreiber" und erwähnt dessen deutsche Geschichte gar nicht. 111 DBA 367, 129-148. 112 Vgl. oben, Anm. 10. 113 Sie zählten als Teil S3 bis 61 der „Allgemeinen Welthistorie". 114 GALLETTI, Geschichte. Bd. I., 2, Anm. 2 (mit Bezug auf SCHILLER, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, 127); weitere Nachweisungen bei FESTER, Vorstudien (wie Anm. 6), 119 f., Anm. 3.

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Unser Gang durch einen kleinen Sektor der Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert ist damit zu Ende. Das Ergebnis sei in fünf Thesen und einem Nachwort zusammengefaßt: 1. Vier unserer sechs Werke waren ausdrücklich Gelegenheitsschriften. Auch die beiden anderen reklamierten für ihr Thema politische Aktualität. Eine spezielle Schrift über den Dreißigjährigen Krieg gehörte in unserem Zeitraum offensichtlich nicht zum „normalen" Alltag des Historikers. Es bedurfte dazu einer besonderen Rechtfertigung. 2. Ob - angesichts der übrigen zeitgenössischen Historiographie - sechs Titel in vier Jahrzehnten „viel" oder „wenig" darstellen, ist schwer zu entscheiden. Wichtiger ist wohl die Beobachtung, daß seit den letzten Gegenwarts-Chronisten in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts bis zum Jahre 1748 kein einziger Buchtitel in Deutschland den gesamten Dreißigjährigen Krieg als ein lohnendes Thema gesondert behandelt hatte.115 Unsere Bücher stellten also etwas Neues dar. Auslösende Bedeutung dafür kam offenkundig der Säkularfeier von 1748 zu. 3. Auch wenn sich nachweisen ließe, daß der Anonymus von 1748/1750/1760 mit Buder zu identifizieren wäre, so würde dies nichts an der Tatsache ändern, daß „vor Schiller" keineswegs die besten Historiker, über die Deutschland damals verfügte, Autoren einer Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges geworden sind. Keines unserer Werke wurde in Osnabrück oder Göttingen, in München oder Wien geschrieben. Unsere sechs Bücher wurden vielmehr von Männern dritten und vierten Ranges verfaßt, die von der bisherigen Geschichte der Geschichtswissenschaft mit Fug und Recht wenig oder gar nicht beachtet worden sind. 4. Die Autoren resp. Verleger unserer sechs Schriften gehören nach Augsburg, Braunschweig, Jena (?)116, Gotha, Halle a. d. Saale und Nürnberg. Sie repräsentieren die reichsständische Libertät des lutherischen Deutschland und deren Gegensatz zum katholisch-reichsständischen117 wie zum katholisch-kaiserlichen Deutschland, und sie beziehen von dort die Maßstäbe ihres Urteils, das unterschiedlich scharf formuliert wird. Unsere Autoren stehen aber auch distanziert zum calvinistischen Deutschland, dessen Bedeutung für die Entstehung und den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges relativ wenig thematisiert wird.

115

Ausgenommen ZSCHACKWITZ, Erläuterung (wie Anm. 21). Wenn Christian Gottlieb Buder das Werk des ANONYMUS, Geschichte (wie Anm. 46), verfaßt hat. Er wäre natürlich besser denn als „Mann dritten oder vierten Ranges" einzustufen. 117 „Zum Gebrauche öffentlicher Vorlesungen" entwarf Hofrat KRENNER auf drei Druckseiten eine „Kurze aber wesentliche Übersicht des dreißigjährigen teuischen Krieges von 1618bis 1648. in zehen Sätzen". Ingolstadt 1783. 116

Der Dreißigjährige Krieg

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5. Unsere sechs Autoren identifizieren sich ohne Einschränkung mit dem Westfälischen Frieden als Rechts- und Friedensordnung des Reichs, wobei das Thema der Machtordnung Deutschlands keine oder nur wenig Beachtung findet. Dies gilt selbst für Krause, in dessen Argumentation so etwas wie Reichspatriotismus anklingt, jedenfalls Bedauern darüber, daß Deutschland im Dreißigjährigen Krieg (auch) Kriegstheater ausländischer Mächte geworden sei. Im übrigen aber sind alle am Staats- und Staatskirchenrecht interessiert, wie es der damaligen Reichshistorie entsprach. Die Welt des Dreißigjährigen Krieges hatte für die Autoren, die zwischen 1748 und 1786 Bücher darüber verfaßt haben, vornehmlich in konfessioneller Hinsicht Aktualität, nicht aber in reichspatriotischer und schon gar nicht in nationalpolitischer.

Ein Nachwort Angesichts heutiger Schlagworte wie „Bewältigung", „Aufarbeitung" der Vergangenheit und Ähnliches tritt scharf zutage, wie himmelweit die deutsche Hochaufklärung von unserem gegenwärtigen Zeitalter entfernt war. Das hat sich inzwischen zweimal gründlich geändert, zuerst um 1800 und danach in den letzten Jahrzehnten. Der Wandel „nach Schiller", der in der Mitte des Lebenswerkes des Jubilars dieser Festschrift steht, ist jedoch nicht mehr Gegenstand unseres kleinen Beitrags, der sich mit dem bescheideneren Ziel begnügt, etwas Klärung über das deutsche Geschichtsbild des Dreißigjährigen Krieges vor Schiller zu erreichen.118

118 Erst während des Umbruchs stoße ich auf einen Titel aus dem Jahre 1736, der eigentlich in dieser Studie hätte behandelt werden müssen, was nun an anderer Stelle erfolgen soll: Christian Johann FEUSTEL, Eine kurtze [!] Erzehlung der vornehmsten Ursachen Des Dreyßig-Jährigen Krieges ... bis auf den Westphälischen Frieden ... Frankfurt/Leipzig 1736 (16, 874 und 29 Seiten). Dies beweist, wie unerläBlich die in Anm. 19 formulierte Vorbehaltsklausel war.

Bernd Roeck Konjunktur und Ende des süddeutschen „Klosterbarock" Umrisse eines wirtschafte- und geistesgeschichtlichen Forschungsproblems

Im Folgenden ist von einer spektakulären künstlerischen Entwicklung zu handeln, die bedeutende wirtschafts-, sozial- und geistesgeschichtliche Implikationen aufweist, aber keineswegs in ihrem Gewicht auch nur annähernd adäquatem Maß die Aufmerksamkeit der historischen Forschung gefunden hat: von der Blüte und dem Ende der spektakulären Großbauunternehmungen, welche Konvente und Äbte im Süden des Reiches und in den habsburgischen Erblanden in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert durchführen. Der Begriff „Klosterbarock" dient hierbei als praktikables Kürzel für ein komplexes Phänomen, ohne daß beabsichtigt ist, hier in eine Diskussion über den Barock- oder den Rokokobegriff einzutreten.1 Weiterhin ist daran zu erinnern, daß die Baukonjunktur, die sich im monastischen Kulturbereich im angesprochenen - und gleich näher zu präzisierenden - Zeitrahmen beobachten läßt, nicht auf diesen beschränkt bleibt, wenngleich sie hier auf besonders auffällige Weise bemerkbar wird. Neben Sakralbauten anderer Art - von Wallfahrts- bis zu Dorfkirchen - wachsen in derselben Region - aber auch jenseits ihrer Grenzen - zahlreiche Schlösser und Residenzen empor, ihrerseits schon immer Gegenstand kunsthistorischer Analysen und zweifellos wichtige Faktoren im Gesamt-

1 Grandlegend: Bernhard RUPPRECHT, Die bayerische Rokokokirche. (Münchener Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte, Bd. 5.) Kallmünz 19S9. Hermann BAUER, Rocaille. Zur Herkunft und zum Wesen eines Ornament-Motivs. Berlin 1962. Fiske KLMBALL, The Creation of the Rococo. New York 1964. Hans SEDLMAYR/Hermann BAUER, Rococo, in: Encyclopedia of World Art. Bd. 12. 1966, 230 ff. Zur Begriffsgeschichte nach wie vor Hans TINTELNOT, Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe, in: Die Kunstformen des Barockzeitalters. Hrsg. v. Rudolf Stamm. Bern 1956, 13-91. Uberblicke vermitteln: Norbert LIEB, Barockkirchen zwischen Donau und Alpen. München 1953; Henry-Russell HITCHCOCK, Rococo Architecture in Southern Germany. London 1968; Hugo SCHNELL, Der bayerische Barock. München 1936; Karsten HARRIES, The Bavarian Rococo Church. Between Faith and Aestheticism. New Haven/London 1983.

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bild der Baukonjunktur des „Barock". Oft von denselben Künstlern und Handwerkern realisiert, die einige Meilen weiter für einen Abt oder einen Dorfpfarrer arbeiten, stehen sie als Bautypen und auch hinsichtlich ihrer Ausstattung oft in einer unübersehbaren Wechselbeziehung zur sakralen Architektur. Darauf aber kann hier nur hingewiesen werden, sind wir doch weit davon entfernt, ein gesichertes Bild vom Verlauf und den Dimensionen der barocken Baukonjunktur zu haben. Auch wären weitere geistes- und sozialgeschichtliche Horizonte zu öffnen, wollte man diese und andere Bereiche der „Civilbaukunst" hier in die Betrachtung miteinbeziehen.

1. Quellen und Literatur Die immer noch grundlegende Studie zu Finanzierungsformen und zu bauwirtschaftlichen Fragen der Barockbaukunst erschien 1937.2 Eine neuere Arbeit beinhaltet wichtiges Material, ist aber aufgrund einer einseitig verengten Fragestellung als nicht unproblematisch anzusehen.3 Daneben sind Monographien zu einzelnen Bauwerken, Klosterkomplexen oder Kirchenbauten, die sich dezidiert mit ökonomischen Implikationen auseinandersetzen, zu nennen4, und natürlich liefert manche kunstgeschichtliche Studie en passant wichtiges Material.5 Welche enorme Forschungslücke hier aber insgesamt klafft, läßt ein Blick in wirtschaftshistorische Handbücher beliebiger Autoren erkennen. Ein Kapitel „Bauwesen" sucht man hier

2 Matthäus PEST, Die Finanzierung des süddeutschen Kirchen- und Klosterbaues in der Barockzeit. Bauwirtschaftliche und finanzielle Probleme des kirchlichen Barocks im deutschen Süden von ca. 1650 bis ca. 1780. München 1937. 3 Hartmut ZÜCKERT, Die sozialen Grundlagen der Barockkultur in S&ddeutschland. (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte. Bd. 33.) Stuttgart 1988. 4 Peter SCHERER, Reichsstift und Gotteshaus Weingarten im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der südwestdeutschen Grundherrschaft. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 57.) Stuttgart 1969. Dietmar STUTZER/AIOÍS FINK, Die irdische und die himmlische Wies. Rosenheim 1982. Franz K. WEBER, Wirt-schaftsquellen und Wirtschaftsaufbau des Reichsstiftes Ottobeuren im beginnenden 18. Jahrhundert. (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Bd. 57-58.) Brünn 1939-1940. Beda F. MENZEL, Abt Othmar Daniel Zinke. 1700-1738. Ein Prälat des böhmi-schen Barocks. (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des BenediktinerOrdens, Bd. 89.) Ottobeu-ren 1978. s Hier wären insbesondere einige der quellengesättigten Arbeiten von Norbert LIEB zu nennen: Ottobeuren und die Barockarchitektur Ostschwabens. Memmingen 1933; Münchener Barockbaumeister. Leben und Schaffen in Stadt und Land. München 1941; Die Vorarlberger Barockbaumeister. 3., völlig neubearb. und erw. Aufl. München/Zürich 1976; Johann Michael Fischer. Regensburg 1982. Vgl. auch Hans-Martin GUBLER, Der Vorarlberger Barockbaumeister Peter Thumb. Sigma-ringen 1972; ders., Johann Caspar Bagnato und das Bauwesen des Deutschen Ordens in der Bailei Elsaß-Burgund im 18. Jahrhundert. Ein Barockarchitekt im Spannungsfeld von Auftraggeber, Bauor-ganisation und künstlerischem Anspruch. Sigmaringen 1985 (mit vorzüglicher Bibliographie).

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selbst für das baufreudige Barockzeitalter vergeblich. Dabei steht natürlich außer Frage, daß wir es hier mit einem wirtschaftlichen Schlüsselsektor zu tun haben, in dem enorme Geldsummen umgesetzt wurden und in dem Abertausende Arbeit und Brot fanden. Freilich macht es die Rechnungsführung nicht immer leicht, die absoluten Summen, die ein Bau verschlang, zu ermitteln6 und diese in Beziehung zu den Gesamtbudgets zu setzen. Überraschend reich scheint die Überlieferung an Tagebüchern oder Chroniken von Äbten und Konventualen zu sein, obwohl wir von einer vollständigen Erfassung dieser wichtigen Quellengruppe noch weit entfernt sind.7 Wohl über allen anderen Texten dieser Art ist ein einzigartiges Selbstzeugnis anzusiedeln, eine Hauptquelle nicht nur zur Geschichte des „Klosterbarock", sondern zum europäischen 18. Jahrhundert überhaupt: nämlich die 14 Foliobände umfassenden Aufzeichnungen des Ottobeurer Abtes Rupert II. Neß (1670-1740). 8 Neß räsonniert darin über Politik, Ökonomie, Religion und Kunst; der Text wurde bisher nicht im Zusammenhang analysiert, die kunsthistorisch relevanten Kernaussagen finden sich in der Literatur verstreut.'

2. Kostenstrukturen, Konjunkturverlauf Einige Zahlen mögen wenigstens einen groben Eindruck davon vermitteln, um welche ökonomischen Dimensionen es geht. Welche Geldsummen insgesamt in barocke Klosterbauten investiert wurden, läßt sich beim derzeitigen Forschungsstand nicht einmal annähernd sagen. Das Kloster Weingarten etwa verbaute zwischen 1715 und 1722 nicht weniger als 227 000 fl., Einsiedeln in der Schweiz wandte 530 000 fl. auf, die Kosten für die Klosteranlage von Melk werden auf 900 000 fl., jene für Klosterneuburg (bis 1748) auf 700 000 fl. geschätzt. Die Ottobeurer Klosteranlage und der monumentale Kirchenbau Johann Michael Fischers kosteten

6 Vgl. eine Abrechnung des schwäbischen Zisterzienserinnenklosters Oberschönenfeld, dem Franz Beer aus Vorarlberg 1718 bis 1723 eine neue Kirche errichtet hatte; zu den 39 432 fl. Baukosten wird vermerkt: „Zu disem ist kein Holz: keine Fuhren, auch die Bretter undt Lathen von hiesiger Segmill ... kein Speis, noch tranckh den Bau Herrn und Bollier, die Arbeith von unsern Ehalten, noch andern mitgerechnet, auch nur des Zieglers Tag lohn, zu brennen, nit anders, sondern nur, was mit gelt hat missen bezalt werden ..." (Archiv des Bistums Augsburg, Oberschönenfeld, 1.1.3.). 7 Vgl. ζ. B. das Diarium des Abtes Joscio Hamberger (Klosterarchiv Niederaltaich); jenes des Didacus Ströbele von Schussenried (Hauptstaatsarchiv Stuttgart [HStAS] Β SOS, Bü 6) oder das des Abtes Coelestin Gugger von St. Gallen (Stiftsarchiv St. Gallen, Tomi 277-280). 8 Bd. 1-13: Ottobeuren, Stiftsarchiv (Archiv. Mon. Ottenb. L Chron. 34-46); Bd. 14: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [BayHStA] KL 20. ' Umfangreiche Passagen zitiert LIEB, Ottobeuren (wie Anm. 5). PEST, Finanzierung (wie Anm.

2) u n d WEBER, W i r t s c h a f t s q u e l l e n ( w i e A n m . 4).

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Bernd Roeck

zusammen weit über 1 000 000 fl. (die Kirche allein 576 000 fl.). 10 Abt Othmar Daniel Zinke gab für diverse Baumaßnahmen zwischen 1708 und 1738 950 000 fl. aus", und die Baukosten für die „uff der Grossen Welt berümbden Walfahrts Kirchen auf der Wiß" (Dominikus Zimmermann12) sollen nach modernen Schätzungen, wobei die Eigenleistungen der Klosterökonomie mitveranschlagt wurden, bei etwa 180 000 fl. gelegen haben.13 Eine Pfarrkirche wie jene von Garmisch war demgegenüber schon für 12 000 fl. zu haben, während die von Oberhaching gar nur 2500 fl. kostete.14 Diese Beispiele ließen sich unschwer um weitere Zahlen ergänzen, und am Anfang einer Wirtschaftsgeschichte des Barock hätte vor allem eine umfassende Datensammlung zu stehen. Die methodischen Schwierigkeiten, die sich dem Versuch einer Rekonstruktion von Konjunkturverläufen entgegenstellen, liegen gleichwohl auf der Hand. Die Verteilung der Kosten auf Haushaltsjahre ist zu berücksichtigen, vor allem aber ihre Struktur. Eine zentrale Frage wird sein: Welche Anteile daran beanspruchen jeweils Material-, Transport- und Arbeitskosten?15 Aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive ermöglichen es differenziert aufgeschlüsselte Arbeitskosten, die „beschäftigungspolitische" Wirkung der Baumaßnahmen abzuschätzen, ein besonders wichtiger Punkt, auf den noch einzugehen ist; stets zu berücksichtigen ist natürlich, in welchem Maße Fron-, Scharwerksleistungen oder auch freiwillige Arbeit - etwa als „gutes Werk"16 - erbracht wurden. Und auch Material - Ziegel, Steine oder Bauholz - kam häufig direkt aus Klosterbesitz, so daß kein Kapitalaufwand dafür erforderlich war.17 Solche spezifischen Bedingungen hatten wichtige Auswirkungen auf Kostenstrukturen. Baukosten auf „Arbeitseinheiten" umzurech-

10

Diese und weitere Vergleichswelte bei PEST, Finanzierung (wie Anm. 2), 102 f. Vgl. MENZEL, Abt Zinke (wie Anm. 4), 196. 12 Nach HERMANN und Anna BAUER, Johann Baptist und Dominikus Zimmermann. Entstehung und Vollendung des bayerischen Rokoko. Regensburg 1985, 21. 13 Nach STUTZER/FINK, Die Wies (wie Anm. 4), 81. 14 Vgl. PEST, Finanzierung (wie Anm. 2), 102. 15 Insbesondere der Prozentsatz letzterer ist aus einer ganzen Reihe von Gründen interessant. Ein hoher Arbeitskostenanteil kann eine - für das 18. Jahrhundert als sicher anzunehmende - zunehmende Wertschätzung im modernen Verständnis künstlerischer Arbeit signalisieren, also ein wichtiges Indiz sein für die Genese modernen Künstlertums. Grundsätzlich zu dieser Fragestellung Michael BAXANDALL, Die Wirklichkeit der Bilder. Frankfurt am Main 1987. Im Falle Obeischönenfelds (vgl. Anm. 6) und der Wieskirche lagen die Lohnkostenanteile bei etwa 60 %; vgl. STUTZER/FINK, Die Wies (wie Anm. 4), 83. Die „Künstler" im modernen Sinne - Maler, Stukkateure und Bildhauer erhielten sehr viel höhere Löhne als einfache Maurer; vgl. PEST, Finanzierung (wie Anm. 2), 62-77. 16 Vgl. ζ. B. Hugo SCHNELL, Der bayerische Barock. Die religiösen und volklichen Kräfte, sein Siegeszug durch das Reich. München 1935, 120. 17 Vgl. Anm. 6; oft reichten die Ressourcen freilich nicht annähernd hin: vgl. STUTZ ER/FINK, Die Wies (wie Anm. 4), 62 ff., 79 ff.; PEST, Finanzierung (wie Anm. 2), 80 f.; weiteres Beispiel BayHStA KL 16, fol. 15: Materialkosten stehen unter den Kosten für den Bau eines Flügels des Klosterneubaus von Fultenbach an der Spitze. 11

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nen, wie Richard Goldthwaite dies in seiner Analyse des Palastbaus der Florentiner Frührenaissance unternommen hatte, dürfte aufgrund der Differenziertheit der Verhältnisse nicht möglich sein", wohl aber, sie in Weizenpreisäquivalenten auszudrücken. Die Graphik auf der folgenden Seite soll nur ganz grob einige Tendenzen andeuten; sie basiert wesentlich auf der schlichten Summation von Baudaten.19 Diese Tendenzen können folgendermaßen zusammengefaßt werden: Recht bald nach dem Dreißigjährigen Krieg, seit den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts, wird wieder zu bauen begonnen. Mit wenigen Ausnahmen (ζ. B. Irsee, St. Florian bei Linz oder Fürstenzell) gilt, daß Klosterneubauten den Kirchenneubauten vorausgehen. „Schwung" gewinnt die Konjunktur im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts; unverkennbar ist der Rückgang der Bauaktivitäten während des spanischen Erbfolgekrieges. Nach dem Krieg und der Zeit um 1740 wird der Bau der Klosteranlagen weitgehend abgeschlossen (Beispiel: Ottobeuren), die großen Kirchenbauten ziehen sich noch weit über die Jahrhundertmitte hin. Es verwundert nicht, daß die Ausstattungsarbeiten ihren Höhepunkt allenthalben erst zwischen 1750 und 1760 erreichen. Danach gehen die Bau- und Ausstattungsarbeiten dramatisch zurück.

3. Finanzierungsformen Ein wirtschafts- wie geistesgeschichtlich relevantes Faktum ist evident: Der barocke Kloster- und Kirchenbau ist Nachkriegskunst. Auch das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges hat - nach Quantität wie Qualität lange unterschätzte20 - Architekturleistungen hervorgebracht, aber unsere Kurve zeigt doch deutlich, daß die Konjunktur erst im Abstand von einigen Jahrzehnten zum Krieg spektakuläre Dimensionen gewinnt; der Blick auf einige der erhaltenen frühen Ensembles wie Gars am Inn, Niederschönenfeld (bei Rain am Lech), Kempten (St. Mang), Obermarchtal oder Weyarn zeigt es nicht weniger. Welche mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung dieses theatrum sacrum namhaft gemacht werden können, kann hier nicht diskutiert werden.21 Selbstverständlich gab es praktische Notwendigkeiten, da wäh18 Richard A. GOLDTHWAITE, The Building of Renaissance Florence. An Economic and Social History. Baltimore/London 1980. 19 Die Werte betreffen Bayern mit Franken, und zwar Neubauten von Klostergebäuden und Kirchen, Wallfahrtskirchen, Pfarrkirchen, schließlich Um- und Ausbau- sowie Ausstattungsarbeiten. 20 Vgl. Georg SKALECKI, Deutsche Architektur zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Der EinfluB Italiens auf das deutsche Bauschaffen. Regensburg 1989. 21 Die Frage, welche psychischen Folgen der Krieg gezeitigt hat und wie die möglicherweise durch ihn ausgelöste „Traumatisierung" (Arthur E. Imhof) bewältigt wurde, ist so gut wie unerforscht geblieben. Inteipretationen der Barockarchitektur als Ausdruck der Freude über das Ende einer Kriegszeit haben thesenartigen Charakter; vgl. Ludwig A. VErr/Ludwig LENHART, Kirche und Volks-

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Bernd Roeck

Klosterkirchenbauten in Bayern und Franken I I Klosterbauten in Bayern und Franken - • - Ausstattungsarbeiten - D - Preise der Getreideschranne Zürich

1600

1650

1700

frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Freiburg 19S6, 38.

1750

1800

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rend des Dreißigjährigen Krieges manches zerstört, manche eigentlich dringende Bauaufgabe hatte vernachlässigt werden müssen. Aber fest steht: Wenn gebaut werden mußte, wenn man wieder bauen wollte - ab den 60er, 70er Jahren des 17. Jahrhunderts - konnte man allmählich wieder. Gesamtwirtschaftlich relevant war vor allem die demographische Erholung.22 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt es allerdings zu einer Stagnation der Getreidepreise, ohne daß die Baukonjunktur deshalb nachgelassen hätte.23 Wie immer die Zusammenhänge zwischen Bauund Agrarkonjunkturen gewesen sein mögen - wir wissen darüber so gut wie nichts24, - eine lineare, einfache Korrelation ist nicht zu vermuten. Vielfach lassen die Quellen zwar erkennen, als wie wichtig Agrareinkünfte für die Realisierung von Bauunternehmungen eingeschätzt wurden und wie günstig sich Preisanstiege von Getreide und anderen „Früchten" für die grundbesitzenden Klöster auswirkten.25 Doch zeigt selbst ein kursorischer Blick auf Einzelfälle, daß es niemals nur eine Geldquelle war, aus welcher die Großbauten finanziert wurden. Und das ist angesichts der divergierenden Strukturen der Klosterökonomien auch nicht anders zu erwarten. Während der Reichtum Weingartens u. a. aus Brot-, Hafer- und Weinverkauf resultierte, scheinen im Fall des benachbarten Ottobeuren die Einnahmen aus der Veräußerung von Getreide einen wichtigen Posten dargestellt zu haben.26 So wird der Wert des in einem Jahr (1704/05) an Gülten und Zehnten eingenommenen Getreides auf etwa 41 000 fl. geschätzt.27 Das war etwa das Doppelte der Ein-

22 Vgl. Eckart SCHREMMER, Die Wirtschaft Bayerns. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. München 1970, 212. 23 Zwar gilt die Zeit zwischen der Mitte des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts als Epoche stagnierender Agrarpreise - vgl. Wilhelm ABEL, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. Hamburg/Berlin 1966, 152 f., 172 und 182. Wenn das als genereller Trend zutrifft, bleiben die für einzelne Jahre zu registrierenden Ausschläge der Agrarpreiskurve nach oben doch für die Ökonomien von Großgrundbesitzern (wie den Klöstern) höchst relevante Fakten. 24 Am Fall Nürnbergs beobachtete Rainer Gömmel, daß die Wellen der Baukonjunktur den Agrarpreiszyklen parallel liefen: Rainer GÖMMEL, Vorindustrielle Bauwirtschaft in der Reichsstadt Nürnberg und ihrem Umland (16.-18. Jahrhundert). (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 30.) Stuttgart 1985, 196. 25 Vgl. etwa Diarium Joscio Hamberger (Klosterarchiv Niederaltaich), fol. 12; Diarium Neß, L Chron. 43, fol. 1000; BayHStA KL 25 (Elchingen), fol. 35; auch Gerhard TADDEY, Barockbau im Kleinterritorium. Planung, Durchführung, Finanzierung, in: Barock in Baden-Württemberg. Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution (Ausstellungskatalog). Bd. 2: Aufsätze. Karlsruhe 1981, 145-155. 26 Weingarten: SCHERER, Reichsstift (wie Anm. 4), 44 ff. Ottobeuren: WEBER, Wirtschaftsquellen (wie Anm. 4), 14 ff. Zur wirtschaftlichen Struktur bayerischer Klöster grundlegend Dietmar STUTZER, Klöster als Arbeitgeber um 1800. Die bayerischen Klöster als Unternehmenseinheiten und ihre Sozialsysteme zur Zeit der Säkularisation 1803. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 28.) Göttingen 1986. 27 WEBER, Wirtschaftsquellen (wie Anm. 4), 193.

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nahmen, welche die Großkellerei, die Ungelder, Zinsen, Marktgefálle etc. verbuchte, erzielte. Ottobeuren konnte nach Ausweis der Großkellereirechnungen28 bereits zwischen 1652 und 1670 seine Kreditkosten von nahezu 4800 fl. auf 2200 fl. drücken. 1735 war Schuldenfreiheit erreicht, und das alles vollzog sich parallel zu einer der größten Bauuntemehmungen des mitteleuropäischen Barock! Abt Rupert Neß gelang es trotz des Niedrigstands der Getreidepreise, sein ehrgeiziges Bauvorhaben ohne neue Kapitalaufnahmen zu verwirklichen.29 „Es braucht alles grosse Kosten", seufzte er 1721, „sonderbahr aber dise 3 stuckh - gelt, gedult und verstände Super omnia ante benedictionem DEI!"30 Der Typus der Baufinanzierung ohne Fremdmittelaufnahmen scheint auch in Weingarten vorgeherrscht zu haben, während die landständischen Klöster Bayerns oft Kredite für Bauzwecke aufnahmen, allerdings oft nicht auf dem Kapitalmarkt, sondern zu Sonderkonditionen. Zum Neubau des (in der Säkularisation völlig zerstörten) Klosters Fultenbach erhielten die dortigen Benediktiner einmal vom Stift Ellwangen einen Kredit in Höhe von 2000 fl., der mit nur 3 % zu verzinsen war oder auch Geldgeschenke, so von Ottobeuren und Neresheim.31 Die Wieskirche hätte ohne eine Kreditbürgschaft der Augustiner-Chorherren von Dießen kaum gebaut werden können.32 Grundsätzlich gilt, daß es niemals nur eine Geldquelle war, aus der die Mittel für die Baumaßnahmen kamen. Mitgiften von Novizen und Novizinnen, Spenden (oder auch Kreditleistungen) der Gläubigen, Legate, die Erträge der Grundherrschaft und anderes fügten sich zum finanziellen Fundament der Bauwerke zusammen.33 Vermutlich würden vergleichende Untersuchungen zeigen können, daß selbst spektakuläre Baumaßnahmen keineswegs allzu häufig den Ruin von Klosterwirtschaften herbeiführten, wie überhaupt einmal hinterfragt werden müßte, welchen Stellenwert Baukosten im Gesamtrahmen frühneuzeitlicher Haushalte eigentlich besaßen. Er war wohl meist weit geringer, als überkommene Prachtbauwerke

28

Vgl. Stiftsarchiv Ottobeuren L Chron. 45, fol. 439. Besonders signifikant ebd., L Chron. 45, fol. 968 f.; vgl. auch L Chron. 37, fol. 983. 30 Ebd., L Chron. 38, fol. 692. 31 BayHStA KL 16 (Fultenbach), fol. 110 f.; ebd., fol. 12 ff. (Geschenke anderer Benediktinerkonvente). 32 Vgl. STUTZER/FINK, Die Wies (wie Anm. 4), 83 ff. 33 Armgard v. REDEN-DOHNA weist auf eine weitere mögliche Voraussetzung des Baubooms hin, wenn sie bemerkt, die Reichsprälaten hätten ihre Bürgschaftsleistungen bzw. Kreditgewährungen gegenüber dem Kaiser nach der Mitte des 17. Jahrhunderts erheblich reduziert oder an einträgliche Bedingungen geknüpft und so ihre finanziellen Spielräume verbreitert. Vgl. dies., Reichsstandschaft und Klosterherrschaft. Die schwäbischen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock. (Institut für Europäische Geschichte Mainz, Vortrage, Bd. 78.) Wiesbaden 1982, 36 f. 29

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vermuten lassen.34 Das hängt nicht zuletzt mit den vergleichsweise sehr geringen Arbeitskosten zusammen.33

4. Zur sozialen Relevanz der Baumaßnahmen Ein von der jüngsten Publikation zum Thema in den Mittelpunkt der Analyse gestellter Aspekt ist die Frage, in welchem Umfang Barockbauten besondere Belastungen für die Untertanen mit sich gebracht und Widerstand evoziert hätten.36 Betrachtet man die barocke Baukonjunktur im Zusammenhang, läßt sich die These, diese Kultur habe sich vor allem auf den Rücken ächzender und murrender Bauern entfaltet, kaum aufrechterhalten. Viele Klöster verzichteten ganz oder weitgehend auf Frondienste, weil sie diese für zu ineffektiv hielten. Sie zogen den Einsatz von Taglöhnern vor; ein Ottobeurer Konventsbeschluß nahm die Ablösung von Frondiensten durch Geldleistungen in Aussicht, weil man „bishero erfahren, dz die underthonen wenig darbey arbeiten, und doch an ihrer aignen Arbeit gehindert" würden.37 Daneben wird auf die hohen Verpflegungskosten hingewiesen.38 Nicht übersehen werden darf, daß sich die Kirchen- und Klosterbauunternehmungen in einer noch immer tiefreligiösen Umwelt vollziehen. Für das Gotteshaus zu arbeiten, konnte als gutes Werk gelten.39 Daneben ist der Effekt der Arbeitsbeschaffung, den der barocke Kloster- und Kirchenbau zeitigte, gar nicht hoch genug einzuschätzen.40 Er war schon den Zeitgenossen deutlich bewußt - auch beim Bau 34 Detailuntersuchungen sind selten. Der Bau des Augsburger Rathauses (1615-1620), eines Monumentalbaues von europäischem Format, belastete den städtischen Haushalt mit etwa 4 % jährlich (vgl. Bernd ROECK, Elias Holl. Architekt einer europäischen Stadt. Regensburg 1985, 206). Einige Zahlen zur relativen Bedeutung der Kosten von Hofhaltungen (einschließlich der Bauten) gibt Volker BAUER, Die höfische Gesellschaft von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur im europäischen Kontext, Bd. 12.) Tübingen 1993, 89 ff. Zu Klosterhaushalten reiches Zahlenmaterial bei STUTZER, Klöster (wie Anm. 26). 35 Zahlen bei PEST, Finanzierung (wie Anm. 2), 64 ff. 36 ZÜCKERT, Soziale Grundlagen (wie Anm. 3). 37 BayHStA KL 69 (Ottobeuren), fol. 2; vgl. auch fol. 9. 38 In Seeon beschwerten sich die Scharwerksbauem 1803 massiv über den Verlust ihrer Scharwerkspflichten, weil sie so der Naturaleinnahmen während der Scharwerkseinsätze verlustig gingen. Vgl. STUTZER, Klöster (wie Anm. 26), 264. 39 Vgl. Anm. 16. 40 Neß meint, viele müßten Not und Mangel leiden, hätten sie nicht durch die BaumaBnahmen des Gotteshauses Arbeit - die jetzige „populose Welt" wolle ernährt werden, und neben anderem sei, wie die Leute zu beschäftigen seien, eine „ratio motiva" des Bauens (Chron. L 41, fol. 679). Vgl. auch Bernd ROECK, Wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen der Augsburger Baukunst zur Zeit des Elias Holl, in: Architecture 14, 1984, 119-138. Die Bauten der Medici, die urbanistischen Maßnahmen Sixtus' V. oder der Farnese-Palast von Caprarola sind berühmte Fälle, in deren Zusammenhang von Arbeitsbeschaffung gesprochen wurde.

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der Wallfahrtskirche Steinhausen und bei der Errichtung der Wieskirche wußte man darum; noch Abt Gerbert von St. Blasien meint, das Bauwesen sei eben die „Zufluchtsstätte vieler arbeit- und brodloser Menschen".41 Damit ist zugleich die Frage nach dem gesamtwirtschaftlichen Effekt von „Luxusausgaben" angesprochen, bekanntlich ein großes Thema schon der Wirtschaftstheorie des 18. Jahrhunderts. Joseph v. Sonnenfels bringt eine Argumentationslinie in dieser Debatte auf den Punkt, wenn er meint, der Reiche müsse überflüssig verzehren, damit der Arme „in Stand gesetzt werde, die Notdurft zu bestreiten". 42 Prosaischer noch drückt sich Lothar Franz v. Schönborn, der Bauherr Schloß Weißensteins bei Pommersfelden, aus, wenn er schreibt: „Wie könnten sie, Künstler und andere Handwerksleute, die doch Gott auf dieser Welt haben will, bestehen, wenn er nicht zugleich Narren werden ließ, die sie ernähren thäten." 43

5. Das Ende der Baukonjunktur: Gründe und Folgen Seit etwa 1750 muß sich eine zunehmend breitere Kluft zwischen dem anhaltenden Bevölkerungswachstum einerseits und der abnehmenden Bautätigkeit der Klöster (und anderer Auftraggeber?) andererseits geöffnet haben. Man kann sich die ökonomischen und sozialen Konsequenzen dieser Entwicklung insbesondere für die ländliche Bevölkerung ausmalen, wenn man bedenkt, daß bereits am Ende des 17. Jahrhunderts über die Hälfte der 85 847 eingehöfteten Anwesen Bayerns auf Nebenerwerb angewiesen waren.44 Die Baustellen in Süddeutschland boten den Einheimischen Arbeit und Brot, ja selbst aus Westtirol zogen Tausende von Landwe-

41 Elisabeth BINDER-ETTER, Steinhausen. (Schnell und Steiner, Große Kirchenführer, Bd. 88.) München/Zürich 1981, 11 f. St. Blasien: Georg Peter KARN, St. Blasien. Sakralbaukunst und kirchliche Aufklärung, in: Barock in Baden-Württemberg (wie Anm. 25), 157-166, hier 158. Vgl. auch Erich FRANZ, Pierre Michel d'Ixnard 1723-1795. Leben und Werk. Weißenhom 1985, 82. Vgl. femer Ildefons STEGMANN, Anselm Desing, Abt von Ensdorf 1699-1772. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Bayern. (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Bd. 4.) München 1929, 71 f. 42 Vgl. Joseph v. SONNENFELS, Von der Teuerung in den großen Städten und dem Mittel derselben abzuhelfen (1770), 75. Zit. nach Roman SANDGRUBER, Massenproduktion und Ausdehnung des Marktes. Am Beispiel des Textilienmarktes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Hrsg. v. Herbert Matis. Berlin 1981, 211-233, hier 225. Vgl. auch UlrichChristian PALLACH, Materielle Kultur und Mentalitäten im 18. Jahrhundert. Wirtschaftliche Entwicklung und politisch-sozialer Funktionswandel des Luxus in Frankreich und im Alten Reich am Ende des Ancien Régime. (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 14.) München 1987, 138 ff. 43 Nach Hugo HANTSCH/Andreas SCHERF (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Barocks in Franken unter dem Einfluß des Hauses Schönborn. Bd. 1/2. Bearb. v. Max H. v. Freeden. Würzburg 1955, XXXVII sowie 474 (Quelle 581). 44

V g l . SCHREMMER, W i r t s c h a f t (wie A n m . 22), 353.

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bern dorthin, in die Schweiz und in andere Gebiete des Reiches, um Beschäftigung zu finden.45 Mit dem Abflauen der Baukonjunktur war die Masse der ungelernten Taglöhner und Kleinbauern, die bisher auf diesen Baustellen gearbeitet hatten, gezwungen, sich anderswo zu verdingen. Vielfach muß das in Manufakturen der Fall gewesen sein, deren erster Aufschwung gerade um die Jahrhundertmitte zu registrieren ist.44 Viele gerieten ins Elend; vom Schicksal der Stukkateure und Maler, Architekten und Bildschnitzer wäre Trauriges zu berichten.47 Das berühmte bayerische Mandat vom 4. Oktober 1770, das den Kirchen des Kurfürstentums u. a. „edle Simplizität" als Stilprinzip verordnete, die Anbringung aller „lächerlichen" Zieraten untersagend, gehört in den Zusammenhang der Tendenzen, aufgeklärten Prinzipien in der staatlichen Politik zur Geltung zu verhelfen. Was die monastische Welt anbelangt, zeigt sich die Krise schon lange zuvor, und man kann keineswegs sagen, daß sie im Kern aus der Konfrontation einer religiösen, mönchischen Welt mit dem Staat der Aufklärung resultierte. Schon gar nicht war das Ende des Klosterbarock Resultat wirtschaftlicher Probleme, ganz im Gegenteil: Der Umbruch der Verhältnisse gewinnt vor allem durch das Faktum scharfe Konturen, daß die ökonomische Entwicklung gerade ab der Mitte des 18. Jahrhunderts der Realisierung exorbitanter Baupläne günstig gewesen wäre. Die Getreidepreise zogen an48, Arbeitskräfte standen in Fülle zur Verfügung. Die Gründe lagen in der Eskalation einer immanenten Spannung, die zwischen mönchischen Idealen und architektonischer Pracht bestand und zusehends als unerträglich empfunden wurde; und es war die geistige Umorientierung der „Welt" des 18. Jahrhunderts, die katalysierend für diese Eskalation wirkte. 1740 schrieben die Mönche von Klosterneuburg an ihren Propst, der Neubau ihres Klosters sei eine Verschwendung des Stiftsvermögens - mit der Errichtung eines weltlichen Schlosses werde ein geistiges Gebäude zerstört.49 Und das Diarium des Rupert Neß ist nicht nur ein Dokument tiefer Religiosität. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird das Tagebuch zugleich als Zeugnis schlechten Gewissens interpretieren. Ganz deutlich wird Neß' 45 Michael MITTERAUER, Lebensformen und Lebensverhältnisse ländlicher Unterschichten, in: Von der Glückseligkeit (wie Anm. 42), 315-338, hier 331 f. 46 Ebd., 327. Es wiFd allerdings erst für die 80er und 90er Jahre des 18. Jahrhunderts ein Aufschwung der Textilproduktion (vorwiegend außerhalb zentralisierter Betriebe) konstatiert. Zum Manufakturwesen in Bayern, einem im 18. Jahrhundert keineswegs übermäßig bedeutenden Wirtschaftsbereich: Gerhard SLAWINGER, Die Manufaktur in Kurbayern. Die Anfänge der großgewerblichen Entwicklung in der Ubergangsepoche vom Merkantilismus zum Liberalismus 1740-1833. Stuttgart 1966. 47 Ein prominentes Beispiel, das sicher generalisierbar ist, bietet die Familie Johann Baptist Zimmermanns; vgl. BAUER/BAUER, Johann Baptist (wie Anm. 12), 22. 48 Vgl. ZÜCKERT, Soziale Grundlagen (wie Anm. 3), 244. 49 Zit. nach Germain BAZIN, Paläste des Glaubens. Die Geschichte der Klöster vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 2. München 1980, 108.

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Bewußtsein, welche Spannung zwischen mönchischen Idealen und prunkendem Baumäzenatentum bestand, in einem Briefwechsel mit dem Neresheimer Amtsbruder.50 Wenn Neß sich dabei verteidigt, er wolle das Gotteshaus allein zur Ehre der Heiligsten Dreifaltigkeit bauen51, dann führt er das stets zentrale Argument an: Das Barockkloster und seine Kirche sind da um der Ehre Gottes willen, und es wird als Himmlisches Jerusalem, als Abbild einer höheren Wirklichkeit interpretiert, als überzeugungsmächtiges Symbol des klösterlichen Idealstaates.52 Der Grat, auf dem die Bauprälaten in einer Zeit wandelten, deren Intellektuelle dem Mönchtum immer ablehnender gegenüberstanden, war schmal. Auch wenn man das Barockkloster religiös begründete, seine Baugestalt als Projektion metaphysischer Zusammenhänge begriff, war es doch unbestreitbar nicht weniger Monument des Auftraggebers. Das wurde auch ganz unverblümt ausgesprochen; so feierte der Festprediger bei der Einweihung der Diessener Stiftskirche den dynamischen Bauabt Herkulan Karg, dessen „unsterblichen Ruhm" das Bauwerk verkünden werde.53 Nicht weniger waren viele gigantomane Barockkirchen Belege atemberaubender Karrieren. So mancher Bauherr hatte es vom Bürgerssohn zum Reichsfürsten gebracht: Erheischte da nicht ein gewonnener sozialer Status das angemessene Ambiente?54 Und durfte man hinter dem Amtsbruder nebenan zurückstehen? Unübersehbar ist schließlich die Nähe der Architektursprache vieler Klosteranlagen zur Staatsarchitektur des Absolutismus.55 Im Klosterschloß fanden der „Klosterstaat", die Klosterherrschaft Zentrum und Ausdruck und dies war gewiß nicht der nebensächlichste Sinn dieser Großbauten in einer Welt, die ihre eigenen Kriterien für das Verhältnis zwischen Sein und Schein hatte, in der es - etwa im Zeremoniell - auf die geringste Kleinigkeit ankam. Der prächtige Klosterbau, ob er nun Mitte eines reichsunmittelbaren Territoriums war oder nicht, wurde so zum Argument im subtilen Ringen um soziale und politische

50

Vgl. LEB, Ottobeuren (wie Anm. 5), 6. Ein Leitmotiv auch der Tagebücher. Vgl. etwaChron. L 44; Chron. L 35, fol. 968 f., 1010 f.; Chron. L 37, fol. 898, 892 und 986; Chron. L 38, fol. 691 und passim. 52 Vgl. Christa SQUARR, Die süddeutsche Rokokokirche in der Anschauung ihrer Zeit. Diss. phil. (masch.) Salzburg 1972. RUPPRECHT, Bayerische Rokokokirche (wie Anm. 1), 20 f. 51

53

SCHNELL, B a r o c k ( w i e A n m . 16), 121.

54

Vgl. auch Edgar KRAUSEN, Die Herkunft der bayerischen Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27, 1964, 259-285, hier 270, 285; REDEN-DOHNA, R e i c h s s t a n d s c h a f t ( w i e A n m . 33). 55 Vgl. Romuald BAUERREI, Kirchengeschichte Bayerns. Bd. 7. St. Ottilien 1977, 298. Hermann und Anna BAUER, Klöster in Bayern. Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Klöster in Oberbayern, Niederbayem und der Oberpfalz. München 1985, 22 f. Gerda MAIER-KREN, Die bayerischen Barockprälaten und ihre Kirchen. (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 3.) Regensburg 1969, 123-324, hier 171, 174.

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Positionen in der ständischen Gesellschaft.56 Daneben sind disziplinierende, sozial stabilisierend wirkende Effekte der Großbauten nicht zu übersehen: Während ihrer Erbauung gaben sie Unzähligen Arbeit und Brot; die fertigen Architekturen teilten die Größe und Bedeutung ihrer Erbauer mit57 und verkündeten die Herrlichkeit der Religion, deren Diener diese waren. Kaum nachvollziehbar ist, welch überwältigenden Eindruck die in Weiß, Gold und leuchtendem Freskenschmuck strahlenden Raumkunstwerke auf zeitgenössische Betrachter machten, auf Bauern und Bürger, die aus einer meist engen, kleinräumigen, bilderarmen Umwelt kamen, aus staubigem, mühevollem Alltag, der oft von Mangel und Not geprägt war.58 Religiöse, politische und soziale Motive sind kaum entflechtbar bei der Errichtung der Barockklöster miteinander verknüpft, und auch die Frage nach den Wirkungen dieser Großbauten erfordert eine mehrdimensionale Interpretation. Dazu kommt ein weiteres. Viel spricht dafür, daß das kulturelle Mäzenatentum der Klöster in dem Maße Sublimationsfunktion gewann, in welchem das monastische Ideal von außen in Frage gestellt wurde. Das Barockkloster gehört einer Spätzeit an: Seine gebaute geometrische Regelhaftigkeit, Abbild eines spirituellen Systems, erhebt sich gegen die Unordnung der Wirklichkeit. Die triumphale Gebärde mag sich so gegen drohenden Bedeutungsverlust gewandt haben, wie die Behauptung von Universalität - in der Rokokokirche begegnet die letzte bedeutende Gestaltung eines umfassenden Begriffs von Kirche59 - die irreversible Glaubensspaltung kaschierte. Gegen den Zeitgeist wächst noch in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts der mächtige Wilblinger Kirchenbau empor, die Fassade Neresheims wird erst 1792 abgeschlossen. Wenn die Utopie aus dem Unvermögen entsteht, Realität zu beeinflussen und auf die Gesellschaft zu wirken60, dann waren die späten Barockklöster Paradoxien, nämlich verwirklichte Utopien. Den Widerspruch zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen rationalistischem „Zeitgeist" und Mönchtum hat vielleicht am deutlichsten Anselm Desing, Abt des Benediktinerklosters Ensdorf, artikuliert. „Wir lehren zwar die Tugend, aber wir geben ihr keinen Bestand", schrieb er 1757 an seinen Ettaler Amtsbruder. „Zu zehnt

56 Man möchte die folgende Bemerkung Rupert NeB' in direkte Beziehung setzen zu seinem monumentalen Bauunternehmen: „Wan künftig sich sollten puncto Superioritatis et Regalium einige differentien ereignen, soll man sich weder von der Excommunication, weder von der Absolution, noch von dem Iurament abschröckhen lassen, die Jura zu manuteniren. " (L Chron. 34, fol. 367). 57 Vgl. die Inschrift im Ottobeurer Bibliothekssaal: „Hoc Musis Palatium, Religioni Munimentum, sui Monumentum posuit R[upertus] A[bbas] M[onasterii] 0[ttenburani]". 58 Vgl. Bernd ROECK, Wahmehmungsgeschichtliche Aspekte des Hexenwahns. Ein Versuch, in: Historisches Jahrbuch 112, 1992, 72-103. 59 RUPPRECHT, Bayerische Rokokokirche (wie Anm. 1), 62. 60 Vgl. Wolf LEPENIES, Melancholie und Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1981, 201,

auch 190-192.

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trichtern wir das innerliche Leben ein, aber man lebt größtenteils dahin in Zeremonien, äußerlichen Verdemütigungen und Formen, die auf den Augenschein berechnet sind"61, und er kritisiert in diesem Zusammenhang auch den Prunk des Kirchenbarock, just zu der Zeit, als sich die Kurve der Baukonjunktur steil nach unten zog. Nur wenige gab es, welche die Widersprüche zwischen Zeitgeist, Mönchtum und kulturellem Engagement zu integrieren vermochten; einer davon und vielleicht der bedeutendste war Abt Martin II. Gerbert von St. Blasien, Bauherr des letzten großen Klosterbaues der Epoche, der freilich bereits in jener edlen Simplizität gehalten war, den das bayerische Mandat von 1770 gefordert hatte. Die Peripetie der Geistesgeschichte des Klosterbarock verdichtet sich im Bau der Anlage von Weingarten (1715-1724). Was hier an Gebäuden erhalten blieb imponierend genug - ist nur Fragment eines weit umfassenderen Entwurfs. Nach allem, was wir wissen, waren es keineswegs wirtschaftliche Gründe, die dazu führten, daß man es beim Torso des architektonischen Traumes beließ.62 Das heißt: Auch die Utopie des idealen Klosterstaats wurde als nicht mehr zeitgemäß empfunden, taugte nicht mehr als Kontrastbild - wohl deshalb, weil die geistigen Richtungen, für die es stand, selbst in Konvente und Abtspaläste Eingang gefunden hatten. Das kulturelle Engagement der Mönche vollzieht sich zusehends in der unspektakulären Form der Wissenschaftspflege, und es ist bezeichnend, wie sich - in Konvergenz zum Untergang des Barockklosters - Bibliotheken von Repräsentationsräumen zu Orten wissenschaftlicher Tätigkeit transformieren.63 Auch die „Verwissenschaftlichung" mancher Klöster war bekanntlich ein spannungsreicher Prozeß, der als Indiz für die Krise des Mönchtums ebenso gedeutet werden kann, wie als Ausdruck von deren Überwindung.64 Die klosterintemen Debatten darum verweisen auf denselben Konflikt, der das Ende des Klosterbarock inaugurierte.

61 Vgl. STEGMANN, Desing (wie Anm. 41), 270. Zu Rechtfertigungsversuchen eines kirchlichen Grofibaus, zu denen Martin Gerbert von St. Blasien sich schon 1768 genötigt sah: FRANZ, D'Ixnard (wie Anm. 41), 82. 62 Nach SCHERER, Reichsstift (wie Anm. 4), 72. 63 Vgl. Alois SCHMID, Die Rolle der bayerischen Klosterbibliotheken im wissenschaflichen Leben des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Wolfenbütteler Forschungen 2, 1977, 143-186, hier 169. 64 Instruktiv der Fall des Fürstabtes von St. Emmeram in Regensburg, Johann Baptist Kraus. Vgl. Egon Johannes GREIPL, Abt und Fürst. Leben und Leistung des Reichsprälaten Johann Baptist Kraus von St. Emmeram zu Regensburg, 1700-1762. Regensburg 1980. Den Typus des wissenschaftlich orientierten Abtes repräsentieren Anselm Desing von Ensdorf - vgl. STEGMANN, Desing (wie Anm. 41) - oder Martin Gerbert von St. Blasien. Vgl. auch Richard van DÜLMEN, Propst Franziskus Töpsl (1711-1796) und das Augustiner-Chorherrenstift Polling. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Aufklärung in Bayern. Diss. phil. Kallmünz 1967.

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6. Ein bedeutendes Forschungsfeld Daß es sich hier um einen langfristigen, vielschichtigen Vorgang handelte, dies sollte durch diese Skizze dargetan werden. Die Ökonomie war wohl wichtig, aber keineswegs entscheidend; geistesgeschichtlichen Faktoren kommt große Relevanz zu. Dem Individuellen ist, schon angesichts der komplexen Physiognomie der Germania sacra, sein Stellenwert zu konzedieren. So scheuen einige Konvente oder Äbte vor allzu radikalem Umgang mit überkommener, mittelalterlicher Bausubstanz zurück, und zwar gerade solche, bei denen die Pflege der Geschichte unter dem Einfluß Mabillons und der Mauriner in Blüte stand - etwa in St. Emmeram zu Regensburg oder auch in Benediktbeuren.65 In unserem Thema überschneiden sich zentrale Probleme der mitteleuropäischen Geschichte des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts: Es geht um den Stellenwert von Religion und Mönchtum in der Gesellschaft; um die Beziehungen zwischen Kirche und Welt; um ein nahezu unerforschtes Feld frühneuzeitlicher Wirtschaftszusammenhänge; um Voraussetzungen und Konsequenzen kulturellen Wandels. Und es geht um die Frage, unter welchen Bedingungen bestimmte Kunstwerke - teilweise von Weltrang - entstehen konnten. Ist nicht das alte, bruchfällige Heilige Römische Reich allein schon deshalb zu preisen, weil es die Umstände bot, unter denen sich ein Architekturwunder wie die Abteikirche von Neresheim entfalten konnte?

65 Vgl. Christine LIEBOLD, Das Rokoko in ursprünglich mittelalterlichen Kirchen des bayerischen Gebietes - ein von maurinischem Denken geprägter Stil. (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 98.) München 1981. BAUER/BAUER, Johann Baptist (wie Anm. 12), 96.

Horst Möller Europäische Kultur im Fürstentum AnhaltDessau: Fürst Franz und die Wörlitzer Anlagen /. „Gärtner, Maler, Dichter, Philosophen: geht nach Wörlitz", mit diesen Worten beendete der österreichische Feldmarschall, Diplomat und Schriftsteller Charles Joseph Fürst de Ligne sein berühmtes Werk über die Gartenkunst. Näherte sich der Reisende am Ende des 18. Jahrhunderts Wörlitz, so durchwanderte er - von Raststätten gesäumt, die oft klassizistischen Villen ähnelten - nicht nur einen Park, nicht bloße Natur. Vielmehr nahm ihn ein vielgestaltiges Gartenreich gefangen, das bei Mosigkau südwestlich von Dessau begann und östlich von Wörlitz in den Schönitzer und Rehsener Forsten endete. Die nördliche, natürliche Grenze bildete die Elbe, die südliche die sich auf der ganzen Breite hinziehende Dübener Heide. Dieses zwischen 1762 und 1825 unter der Ägide des Fürsten Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740-1817) vor allem von Johann Leopold Ludwig Schoch, Gottfried Schoch und Johann Christian Neumark geschaffene Gartenreich bildet eine wahre Enzyklopädie der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die ihresgleichen sucht. Den Gebildeten des 18. und 19. Jahrhunderts waren die Symbole und Allegorien zwar zugänglicher als heutigen Betrachtern, doch auch ihnen erschloß sich der Zauber dieses Gartenreichs erst bei längerem Verweilen. Gestaltete Natur, handelte es sich bei den Dessauer und Wörlitzer Anlagen doch gänzlich um eine künstlerische Schöpfung. Das Giebelrelief des von Franz' Freund und Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff geschaffenen Pantheon stellt dar, wie Minerva den Streit zwischen Sirenen und Musen schlichtet, es symbolisiert also die Eintracht der Natur mit der Kunst. In dem grundlegenden Dualismus von Natur und Kultur, der durch den suggestiven Schlachtruf von Jean-Jacques Rousseau „Zurück zur Natur" so mächtig zum Ausbruch kam, suchten die Gestalter von Wörlitz die Harmonie, so sehr sie Jünger Rousseaus blieben, wie allein schon die dem Vorbild des Parks von Ermenonville

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nordöstlich von Paris nachgebildete Rousseau-Insel zeigt. Der Gedenkstein trägt die Inschrift: „Dem Andenken J.J. Rousseau's, Bürger zu Genf, der die Witzlinge zum gesunden Verstände, die Wollüstigen zum wahren Genüsse, die irrende Kunst zur Einfalt der Natur, die Zweifler zum Trost der Offenbarung mit männlicher Beredsamkeit zurückwies. Er starb den 2. Juli 1778." Die Gegenposition vertrat der berühmteste französische Aufklärer dieser Jahrzehnte, Voltaire, der seinem Widerpart Rousseau mit der ihm eigenen bissigen Ironie dankte, als dieser ihm seinen Traktat über den „Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes" (1755) übersandt hatte: „II prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage. Cependant, comme il y a plus de soixante ans que j'en ai perdu l'habitude, j e sens malheureusement qu'il m'est impossible de la reprendre, et j e laisse cette allure naturelle à ceux qui en sont plus dignes que vous et moi."

II. Von Voltaire aber ist in Wörlitz nicht die Rede, um so mehr von der europäischen Kultur und den Postulaten, die er verkörperte und denen auch Fürst Franz und sein Dessauer Kulturkreis anhingen. Er sah sich selbst als Schöpfer einer aufgeklärten Kultur, eines modernen Staatswesens und einer im Sinne aufgeklärter Sozialphilosophie reformierten Gesellschaft: Hierin stand er in der Tat dem idealistischen Utopisten Rousseau näher als dem realistischen Zyniker Voltaire. Die Inschrift der vom Hofbildhauer Hunold geschaffenen Büste verrät das Selbstverständnis und die zeitgenössische Einschätzung des Fürsten, der gegen Ende seiner neunundfünfzigjährigen Regierungszeit von seinen Untertanen vertraulich der „alte Franz" oder „Vater Franz" genannt wurde: „Gott erbauete er Kirchen, der Armut Hütten, den Künsten und Wissenschaften würdige Tempel. Alles Schönen Freund und Kenner. Alles Guten Förderer. Seines Volkes Vater. Seines Landes zweiter Schöpfer. Dieses Gartens Gründer. " Ein hoher Anspruch, eine ungemeine Hochschätzung fürwahr. Mag diese Inschrift auch eine Idealisierung enthalten, war dieser Herrscher des kleinen Fürstentums Anhalt-Dessau doch einer der großen Regenten des 18. Jahrhunderts, der mit ausschließlich friedlichen Mitteln einen Musterstaat schuf; Mäzen und Kunstkenner von höchstem Rang, ging es ihm doch um mehr als um bloß ästhetische Ideale. Vielmehr strebte er eine umfassende „Landesverschönerung" an, wie es der in Wörlitz 1831 gestorbene Dichter Friedrich von Matthisson ausgedrückt hat.

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Maxime dieser „Landesverschönerung" war im Sinne der Aufklärung das Ideal des Nützlichen ebenso wie das des Schönen. Und selbstverständlich wollte Franz von Anhalt-Dessau nicht allein ein Gartenreich schaffen, sondern auch seine Residenz Dessau gestalten. Hier wie an anderen Orten seines Fürstentums - Oranienbaum (1683-1696) und Mosigkau (1752-1757) waren schon vorher entstanden und hatten in gewisser Weise die Bautradition begründet - wurde er zu einem der bedeutendsten Bauherrn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der in Erdmannsdorf^ dem Schüler Johann Joachim Winckelmanns, einen genialen Architekten fand.

III. Vor der Darstellung der kulturhistorischen Bedeutung und ihrer europäischen Dimension sind einige Bemerkungen zum Fürstentum Anhalt-Dessau notwendig: Als der noch mindeijährige Prinz Franz 1758 die Regierung übernahm, hatte er etwa 30-35 000 Untertanen, die auf ca. 700 qkm wohnten. Er war also einer der zahlreichen Duodezfürsten des bis 1806 bestehenden „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation", seine Residenzstadt zählte etwa 6000 Seelen. Die soziale Situation war zeitweilig außerordentlich ernst. Naturkatastrophen wie die 1770 das Land heimsuchende Überschwemmung, die die erste Wörlitzer Anlage monatelang überflutete, die oft auch die kleinen Nachbarstaaten belastenden Kriegswirren, insbesondere der Siebenjährige Krieg 1756-1763, bei denen nicht die geringste Rücksicht auf die Bevölkerung genommen wurde, Hungersnöte, Seuchen - dies alles war damals an der Tagesordnung. Der Fürst ging beherzt ans Werk, schuf Armenanstalten und verbesserte das Gesundheitswesen. Den Schulen, die er selbst als Augiasstall charakterisierte, galt sein besonderes Augenmerk. Er holte Johann Bernhard Basedow, einen der führenden aufgeklärten Reformpädagogen nach Dessau. Er gründete hier 1774 sein berühmtes „Philanthropin" und zählte bald zu den markantesten Persönlichkeiten des Dessauer Aufklärerzirkels. Der auf die Realien gerichtete pädagogische Impetus, der das Gute mit dem Nützlichen zu verbinden trachtete, wurde zu einem der Grundzüge nicht allein der Schulreform, sondern der gesamten aufgeklärten Reformpolitik im Fürstentum Anhalt-Dessau. Es war auch kein Zufall, daß der überkonfessionelle Religionsunterricht zu Basedows Maximen zählte und die aufgeklärte Toleranzpolitik in Dessau eine Heimstatt fand. So war beispielsweise die rechtliche, die soziale Lage und das Bildungsniveau der dort lebenden Juden besser als anderswo. Die Tatsache, daß im

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Wörlitzer Park eine Synagoge gebaut wurde, legt davon ebenso Zeugnis ab wie der hohe Anteil der jüdischen Minderheit: jeder sechste Dessauer Einwohner war zur Zeit des Fürsten Franz Jude. Der berühmteste jüdische Aufklärer, Moses Mendelssohn, der später mit Lessing und Friedrich Nicolai befreundet war und zu den führenden Gelehrten Berlins zählte, stammte ebenso wie David Friedländer aus Dessau. Daß Franz, ein Anhänger der Physiokraten, auch die Wirtschaftspolitik reformierte und im übrigen durch seine umfassende Bautätigkeit ständig Arbeitsplätze schuf, muß ebenfalls erwähnt werden. Insgesamt galt Fürst Franz völlig zurecht als einer der im Hinblick auf seine praktische Reformtätigkeit musterhaften Fürsten des Jahrhunderts. Wenngleich sein Land klein war, steht er doch in dieser Hinsicht den großen Monarchen des Jahrhunderts, König Friedrich II. von Preußen und Kaiserin Maria Theresia nicht nach, letztere übertraf er bei weitem im Hinblick auf seine Kunstsinnigkeit. Im Vergleich zu Friedrich blieb er allerdings dadurch zurück, daß er nicht selbst literarische, philosophische, musikalische und historische Werke schuf: in dieser universalen Kreativität jedoch stand Friedrich der Große auch unter allen anderen Monarchen des Jahrhunderts einzig da. Als Bauherr und Initiator einer derart grandiosen Gartengestaltung war er dem Preußenkönig ebenbürtig oder gar überlegen. Da sein Staat, anders als die Großmächte, keine Kriege führte, konnte Franz sich auf den Landesausbau konzentrieren, erhebliche finanzielle Mittel sparen und dem Ideal der „Friedensfürsten" nahekommen, das die großen Friedenstraktate des 18. Jahrhunderts vom Abbé de St. Pierre bis zu Immanuel Kant propagierten. Franz verkörperte den aufgeklärten, reformerischen Regenten der deutschen Kleinstaaten, zu denen ganz in seiner Nachbarschaft auch Carl August von Weimar gehörte, dessen Ruhm als Mäzenat eines augusteischen Zeitalters an seinem Musenhof und der Tafelrunde seiner Mutter Anna Amalie mit den Namen Goethe, Schiller, Herder und Wieland verbunden ist. Stolz auf seine Leistungen als Bauherr gönnte sich der Fürst die kleine Eitelkeit und verglich sich mit dem Weimarischen Minister Goethe: „Als Dichter kam er mir nie, als Staatsmann nur auf Augenblicke nahe ... In den Grundsätzen und Ansichten der schönen Baukunst und ihren Werken waren wir nicht immer einig ... Nur, was die gotische Baukunst und die schöne Gartenkunst anlangt, da mußte er mir den Preis zugestehen und vor mir die Segel streichen. Er hatte ja England nie gesehen!" Wie die Herrscher mittelgroßer Territorien, etwa Karl Theodor von Pfalz-Bayern, Karl Eugen von Württemberg, Karl Friedrich von Baden oder der Braunschweiger Herzog Karl I., standen die beiden mitteldeutschen Fürsten in der zweiten Hälfte des

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18. Jahrhunderts für das später sogenannte „dritte Deutschland", das für die kulturelle Entwicklung kaum geringer zu schätzen ist als die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen, deren Dualismus zwischen 1740 und 1866 immer wieder die politische Entwicklung prägte. Nicht zuletzt im Hinblick auf Vielfalt und Reichtum der deutschen Kulturgeschichte sollte man das Wort von Theodor Heuss nicht aus dem Gedächtnis verlieren, der einmal gesagt hat: Der Föderalismus ist keine deutsche Unart, sondern eine deutsche Eigenheit.

IV.

Dieser Reichtum in Gehalt und Gestalt der großartigen Schöpfung der Wörlitzer Anlagen erweist sich bei näherem Zusehen nicht allein als nationales Kunstwerk, sondern als ein durch und durch europäisches. In ihm verbindet sich das kulturelle Erbe der Antike mit der wiederholten Begegnung Italiens, die für das deutsche Formgefühl immer wieder so nachhaltige Wirkungen gewann. Die ständigen Renaissancen in der europäischen Kunstgeschichte werden ebenso sichtbar wie die geistesgeschichtlichen Epochen von der Aufklärung über den Sturm und Drang zur Klassik und Romantik, die rationalistischen Tendenzen in der Philosophie des 18. Jahrhunderts ebenso wie die irrationalen. Schließlich formt das stil- und atmosphärebildende Englanderlebnis des Fürsten, Erdmannsdorfs sowie der Gartenarchitekten die Harmonie der Teile zu einem Gesamtkunstwerk von grandiosen Ausmaßen. Nach seinem ersten Englandaufenthalt im Jahre 1763 erklärte der Fürst: „Erst in England habe ich mit Messer und Gabel umgehen gelernt. " Und dem Hinweis auf die Erziehung folgte ein ebenso dezidiertes Urteil über die Moral: „England macht besser, Paris verdirbt." Man muß hinter dem Witz auch die kulturhistorische Bedeutung dieses Satzes sehen: Bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts besaßen die französische Kultur, die Sprache und der esprit français überhaupt geradezu normativen Rang an den deutschen Höfen ebenso wie beim Theater. Erst die Entdeckung Shakespeares durch Wieland und vor allem Lessing verdrängten literarisch die französische Klassik der Racine, Corneille und Molière. Lessings Shakespeare-Übersetzung, seine „Hamburgische Dramaturgie" bezeichnen ebenso wie Goethes „Götz von Berlichingen" die Wende. Den Gegenpol verkörperte Friedrich der Große und seine Schrift „De la littérature allemande", in der diese Tendenzen scharf attackiert wurden. Da gebe es einen gewissen Goethe, der die ebenso albernen wie wirren Stücke eines gewissen Shakespeare nachahme.

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Und natürlich war auch Shakespeare vom baulichen Klassizismus des 18. Jahrhunderts weit entfernt, doch beschränkte sich die Wörlitzer Gesamtanlage darauf keineswegs. Mit guten Gründen hat man den Stil von Wörlitz als „Stil der Reiseerlebnisse" charakterisiert, doch führt eine solche Einschätzung leicht in die Irre, handelt es sich doch ganz und gar nicht um einen mehr oder weniger zufälligen Reiseimpressionismus, sondern um eine in landschaftliche und bauliche Gestaltung gegossene enzyklopädische Systematik, die man dem Kunstwerk allerdings nur durch seine zuweilen durchbrechende aufgeklärte Lehrhaftigkeit anmerkt, war Lehren und Belehren den Aufklärern doch eine Lust. Wie erklärt sich die europäische Dimension des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs? Der aufgeklärte Zeitgeist war zutiefst europäischer Geist; kaum ein europäisches Land, in dem es vom Ende des 17. bis zum Ende des 18., zuweilen auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht aufgeklärte Strömungen gegeben hätte, die trotz nationaler Ausprägungen immer auf gemeinsamen Prinzipien beruhten. Die Aufklärung transzendierte Staaten, Stände, Konfessionen, sie war im Kern kosmopolitisch, Reise und Brief gehörten zu ihren Kommunikationsmitteln, die wie Literatur und Zeitschriften grenzüberschreitend sein wollten und es auch waren. Insofern gab es hier keine Provinz, sondern eine weltbürgerliche Gelehrtenrepublik, wobei der Begriff „Gelehrter" im 18. Jahrhundert nicht auf die Professoren beschränkt, sondern umfassend war. Und konsequent wohnte dem Begriff „Amateur" kein abwertender Nebensinn inne. Die Amateure galten tatsächlich als die wahren Liebhaber von Kunst und Literatur. In diesem Sinne war Erdmannsdorff kein ausgebildeter Architekt, sondern ein Amateur. Zum aufgeklärten Kosmopolitismus, der alles Interessante wissen und aufnehmen wollte, gleich ob es sich in Rom, Paris, St. Petersburg oder auf einem englischen Landschloß abspielte, kam die klassische Kavalierstour, die ein Gentleman nicht nur in England zu vollbringen hatte: „Reisen bildet" - dieses noch heute gängige Sprichwort war im 18. Jahrhundert schiere Selbstverständlichkeit, so beschwerlich das Reisen damals auch sein mochte. Reisebeschreibungen bildeten eine der charakteristischsten und erfolgreichsten literarischen Gattungen des Jahrhunderts, handelte es sich nun um Laurence Sternes berühmten, die geistes- und literaturgeschichtliche Epoche der Empfindsamkeit (ca. 1740-1780) charakterisierenden Text „ A sentimental journey through France and Italy" (1768) oder die aufgeklärt-nüchterne, materialreiche, zwölfbändige Reisebeschreibung des Berliner Verlegers und Schriftstellers Friedrich Nicolai. Und Goethes berühmte „Italienische Reise", die ja nicht nur dazu diente, zeitweilig Frau von Stein zu entfliehen, stellt einen dritten Typus dieser so vielfaltigen literarischen Gattung dar. „Das Reisen dient in jüngeren Jahren der

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Erziehung, in reiferen der Erfahrung" , bemerkte Herder - auch er 1769 Verfasser eines Reisejournals. Solche Motive und gattungsspezifischen Intentionen bewegten den Fürsten Franz und seinen Freund Erdmannsdorff, als sie nach England und nach Italien reisten. All ihre Erfahrungen, von den empfindsamen Stimmungen bis zur geradezu platten, ganz zweckgebundenen Absicht, sich belehren zu lassen und das Gelernte unmittelbar nach der Rückkehr nach Dessau zu verwerten, kehrten in den Dessau-Wörlitzer Anlagen und Bauten wieder: das kleinstädtisch-provinzielle Landleben wurde von individuell erfahrenem abendländischen Geist durchdrungen. Studienreisen führten Fürst Franz von Anhalt-Dessau nach Italien, der Schweiz, Frankreich, Holland und vier Mal nach England, wohin ihn Erdmannsdorff und verschiedene andere Künstler begleiteten. Während des Siebenjährigen Krieges, als der Fürst nicht mitreisen konnte, sandte er Erdmannsdorff nach Rom zu Johann Joachim Winckelmann, dem aus Stendal stammenden, wohl bedeutendsten deutschen Archäologen und Kunstschriftsteller des 18. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk „Geschichte der Kunst des Altertums" (1764) blieb die bis zum Klassizismus einflußreichste und einfühlsamste Darstellung der griechischen Kunst, obwohl sein Verfasser Griechenland nie gesehen, sondern immer nur mit der Seele gesucht hatte. Zwar hat Erdmannsdorff, der als Architekt zu einem der wichtigsten Schüler Winckelmanns wurde, ihn auf dieser Reise nicht erreicht, blieb er doch - durch Venedig und die Dichterin Maria Maddalena Morelli-Fernandes fasziniert - in Oberitalien stecken. Doch bei späteren Reisen, bei denen der Fürst selbst mit von der Partie war, erreichten sie ihr Ziel: So lernten sie auf ihrer Italienreise im Herbst des Jahres 1765 zunächst in Augsburg den klassischen Rathausbau der Renaissance und des Frühbarock nördlich der Alpen kennen, denjenigen, den Elias Holl 1615 bis 1620 in Augsburg eingeführt hatte. Holl selbst war seinerseits durch Andrea Palladio beeinflußt worden. Auf diese Weise lernte Erdmannsdorff, der die Rezeption Palladlos bereits in England gesehen hatte, eine weitere, frühere Variante des Palladianismus kennen, bevor er mit seinem Fürsten in Vicenza die Werke des italienischen Baumeisters der Spätrenaissance des 16. Jahrhunderts in ihrer Ursprünglichkeit bewundern konnte. Nicht allein die Bauten Palladlos haben Erdmannsdorff beeinflußt, sondern auch dessen Antikenrezeption. Seine Lehrbücher waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Ihnen entnahmen die zeitgenössischen Baumeister die Regeln und die Maße römischer Baukunst, die auf das Werk des römischen Baumeisters Vitruv „De architecture" (33-14 ν. Chr.) zurückgingen, der nicht allein diese einzige erhaltene Architekturtheorie der Antike verfaßt, sondern zu Zeiten Cäsars und Augustus' zahlreiche öffentliche Bauten geschaffen hatte.

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Diese durch Palladio und Winckelmann vermittelte Rezeption der Antike prägte die Bauformen von Erdmannsdorfs Schöpfungen, insbesondere den Klassizismus des Wörlitzer Schlosses, der erwähnten Raststätten und vieler Häuser in Dessau. Er führte den Klassizismus in Deutschland ein. Von hier gingen Wirkungen auf spätere klassizistische Bauten aus, insbesondere Karl Friedrich Schinkels, der übrigens ebenfalls Italien (1803/04; 1824) und England (1826) bereiste und darüber eine Reisebeschreibung verfaßte. Bedenkt man, daß Schinkels Wendung zum Klassizismus erst seit 1816 erfolgte, wird der frühe Zeitpunkt dieses Stileinflusses in Wörlitz deutlich. Ganzheitliche Auffassung der Architektur und die karge Schönheit des Klassizismus verbanden sich mit der Funktionalität des jeweiligen Bauwerks, die mit dem aufgeklärten Utilitarismus korrespondierte. Dieser palladianische Stil trat im 17. und 18. Jahrhundert über Holland, Frankreich und insbesondere England seinen Siegeszug durch Europa an. Die dreiteilige Wandöffnung mit Rundbogen über der säulentragenden Mitte und waagerechtem Sturz über den Seiten hat Erdmannsdorf^ der alles andere als ein bloßer Nachahmer war, noch strenger modifiziert. Er nimmt deshalb in der durch Palladio inspirierten Geschichte des europäischen Klassizismus, zu dessen Verehrern auch Goethe gehörte, einen eigenständigen Rang ein. In der Berücksichtigung aufgeklärten Zweckdenkens und strenger Funktionalität enthüllte sich eine weitere, dieses Mal gesellschaftliche Komponente der Bauten des Fürsten Franz und seines Architekten: Nicht allein aus stilistischen und künstlerischen Überlegungen verzichtete man auf die großen, noch für Renaissance und Barock charakteristischen monumentalen Schloßbauten. Der Anblick des 1769 bis 1774 erbauten Wörlitzer Schlosses erinnert eher an die Villa eines englischen Fabrikanten als an ein Fürstenschloß, es symbolisiert die Verbürgerlichung des Hoflebens, der Fürst war auch hier der erste Diener seines Staates, der nicht von ihm, sondern für ihn lebte. Insofern war es kein Zufall, daß zu den Wörlitzer Anlagen Nutzgärten gehörten und sie überdies der Bevölkerung zugänglich waren, also nicht nur oder in erster Linie der Erbauung des Hofes dienten. So wenig das Wörlitzer Schloß, von den Dorfbewohnern bezeichnenderweise das „Neue Haus" genannt, noch eine ständische Gliederung erkennen ließ, so wenig gehörte das Gartenreich bloß dem Hofadel. Zwar stand Wörlitz hierin nicht allein, doch insgesamt handelte es sich um eine neuartige Verbürgerlichung der Gärten. So öffnete Kaiser Joseph II. in den 1780er Jahren den Wiener Augarten, der bis dahin ausschließlich den Vergnügungen des Hofes vorbehalten war, der Bevölkerung: Die Inschrift über dem Eingang lautete denn auch: „Der Menschheit gewidmet von ihrem Schätzer"! Und ganz ähnlich verfuhr der bayerische Kurfürst Karl Theodor, als er 1789 - dem Jahr des Ausbruchs der Französischen Revolution - mit der

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Anlage des Englischen Gartens in seiner Residenzstadt München als Volkspark begann und ihn 1792 mit der Eröffnung promenierenden Bürgern zugänglich machte, ihn also buchstäblich verbürgerlichte. Fürst Franz war ihnen vorangegangen, die seit 1769 gestalteten Wörlitzer Anlagen gehörten dem Fürsten und den Bürgern. Und ebensowenig zufällig war es, daß Fürst Franz, Erdmannsdorf und ihre Reisebegleitung, nachdem Winckelmann ihnen in Rom die Augen für die antike Baukunst geöffnet hatte und sie über Frankreich 1766 erneut nach England, Schottland und Irland reisten, nicht nur den Spuren des Palladianismus folgten. Sie kümmerten sich vielmehr gründlich um die Webereien und andere Einrichtungen der vorindustriellen Ökonomie, einschließlich der Landwirtschaft. Zu dem umfassend verstandenen Landesausbau gehörten nicht nur die „schönen", sondern auch alle „nützlichen" Künste. Die eiserne Brücke im Wörlitzer Park stand für die Möglichkeiten der damaligen modernen Technik.

V.

Waren die Dessauer in Rom mit der deutschen Künstlerkolonie zusammengetroffen, zu denen damals ein Maler vom Range Philipp Hackerts gehörte, so später in Paris mit Rousseau und in London mit Reinhold und Georg Forster, die gerade ihre Weltumseglung hinter sich hatten und dem Fürsten Franz 1775 bei einem weiteren Englandaufenthalt ihre Südseesammlung schenkten: Sie fand Aufnahme in einem der beiden Pavillons des Parks, während der andere für die Bibliothek bestimmt war. Laurence Sterne, Autor der schon erwähnten „Sentimental Journey" und vor allem des „Tristram Shandy" hatte den Fürsten Franz und Erdmannsdorff bei einer ihrer Englandreisen begleitet und sie auch in Rom getroffen. Die „Empfindsamkeit" mochte ihnen vor allem durch ihn, einen ihrer bedeutendsten Autoren, vermittelt worden sein. Ohne jeden Zweifel waren die Dessauer Teil der europäischen Gelehrtenrepublik in dem weiten Sinn des Jahrhunderts, der Fürst selbst war in gewissem Maße verbürgerlicht. In all diesen Kontakten wird der europäische Geist, der in den Einzelschöpfungen faßbar wird, personifiziert. Zweifellos waren die Dessauer Teil der europäischen Gelehrten- und Künstlerrepublik des 18. Jahrhunderts. Fürst Franz war in diesem Sinn aber nicht nur Künstler, sondern „erster Bürger seines Staates" - ein Mann der Übergangszeit, der auf die späteren Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorauswies. Zu den eindrucksvollsten Erlebnissen gehörten die persönliche Anschauung des „Englischen Gartens", der zunehmend über die strenge Regelhaftigkeit der klassi-

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sehen französischen Gartengestaltung dominierte und für den eigentlichen Landschaftsgarten, vor allem aber das Wörlitzer Gartenreich wegweisend wurde. Insbesondere der Landschaftsgarten von Stourhead in Wiltshire hinterließ, neben anderen großzügigen Parkanlagen englischer Landsitze, den nachhaltigsten Eindruck, der sich in die Wörlitzer Schöpfung umsetzte. Brachten die Dessauer im Baustil den Palladianismus nach Deutschland, so führten sie in dem in topographischer Hinsicht dafür besonders geeigneten Landstrich südlich der Elbe die englische Gartenkunst ein und zugleich auf einen solchen Höhepunkt, daß später englische Besucher dorthin wallfahrteten und sich in ihrer Heimat wähnten. Viele Stilelemente der Reiseeindrücke finden sich wieder, so die Villa Hamilton, die der Residenz des englischen Gesandten in Rom nachgebildet war, in der die Dessauer logiert hatten. Auch in der Innendekoration und im Möbelstil folgten sie dem englischen Vorbild eines Robert Adam. Die in Dessau gefertigten Möbel, die noch heute den Speisesaal des Wörlitzer Schlosses zieren, modifizierten die zeitgenössische englische Möbelkunst. Das berühmte „Gotische Haus" war dem neugotischen Haus des englischen Schriftstellers und Kunstsammlers Horace Walpole, Earl of Oxford, in Strawberry Hill nachgebildet, an dessen Einweihung Fürst Franz und Erdmannsdorf^ vermutlich teilgenommen hatten. Neben der Entwicklung eines eigenständigen deutschen Klassizismus, der praktischen Gestaltung und symbolischen bzw. allegorischen Überhöhung des englischen Gartens, liegt hier die dritte kunstgeschichtlich wegweisende Tat der Dessauer, indem sie am Beginn der Gotikrezeption standen, die auch in Herder und Goethe, insbesondere seiner Schrift über das Straßburger Münster, zeitgenössische Protagonisten fand. Verlief diese Wiederentdeckung der Gotik über die neue Sicht des Mittelalters, die in der Romantik auf ihren Höhepunkt gelangte, so die der Dessauer wiederum über England und die englische Frühromantik. Vor allem aber wurde sie in Dessau gemäß dem praktischen Zug der dortigen Aufklärer sofort in die Realität umgesetzt: Dessau steht so am Beginn der deutschen Neugotik, die noch ein Jahrhundert lang immer wieder Renaissancen erlebte und erst viel später mit den Kölner Dombauplänen der Gebrüder Boisserée ein kunsthistorisches und geistesgeschichtliches Signal setzte. Die Dessau-Wörlitzer Anlagen, die in vielfacher Hinsicht Epoche gemacht haben, sind synchron wie diachron Schnittpunkt der europäischen Kulturgeschichte und eine ihrer bedeutendsten Schöpfungen. Sie verbinden darüber hinaus Stil- und geistesgeschichtliche Epochen miteinander und stellen eine enzyklopädische Bestandsaufnahme ihrer Zeit dar. So finden sich im Wörlitzer Park zahlreiche Allegorien, die der antiken Mythologie entnommen sind. Ein das menschliche Leben symbolisierendes Labyrinth stellt

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den ewig irrenden Menschen dar, entläßt ihn schließlich aber doch ins Elysium nicht ohne wiederholte aufgeklärt-belehrende Mahnungen wie dieser: „Wähle Wanderer Deinen Weg mit Vernunft". Solche Sinnsprüche waren auch notwendig, denn an entscheidender Weggabelung steht sinnlich-lockend eine Venus-Statue. Die „Bethöhle des Eremiten" fehlt ebensowenig wie die „Zelle des Mystagogen" : Wollte man alle Kleinode des Parks aufzählen, alle anspielungsreichen Perspektiven enthüllen, die heute teilweise zugewachsen sind, so benötigte man einen ganzen Katalog. Doch muß ein Exemplum erwähnt werden: Die seit Piatons „Höhlengleichnis" in der Aufklärung zu neuer Signifikanz gelangte dualistische Metaphorik von Licht und Finsternis, Gefühl und Vernunft, Irrationalität und Rationalität, die den Weg zur Erkenntnis symbolisiert, wird im Wörlitzer Gartenreich vielfaltig gestaltet. Hier findet sich auch die freimaurerische Symbolik, die vielleicht am besten den Geist von Wörlitz trifft: in ihrer idealischen Humanität ebenso wie in dem langsamen Eindringen in die Geheimnisse des Parks, das eine stufenweise Erkenntnis der europäischen Kultur im allgemeinen und des Wissens um den Menschen im besonderen darstellt. Das Werk des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau, seines Architekten Erdmannsdorff und ihrer zahlreichen Mitstreiter gehört der Geschichte an, aber ein außerordentlich eindrucksvoller Teil, die Wörlitzer Anlagen, bestehen fort, sind Gegenwart. Die heutigen Generationen tragen die Verantwortung dafür, daß diese großartige und bezaubernde Schöpfung der europäischen Kultur des 18. Jahrhunderts Zukunft behält. Der Sinnspruch im „Warnungsaltar", der vor fast zweihundert Jahren, im Jahre 1800, geschaffen wurde, gilt auch heute: „Wanderer achte Natur und Kunst und schone ihre Werke"!

Literaturhinweise Speziell über Wörlitz unterrichten: August RODE, Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz. Dessau 1788. Charles-Joseph de LIGNE, Coup d'oeil sur Beloeil et sur une grande partie des Jardins d'Europe. Dresden 1795. Carl August BOETTIGER, Reise nach Wörlitz 1797. Aus der Handschrift ed. und eri. von Erhard Hirsch. Wörlitz 1985. Friedrich v. MATTHISSON, Erinnerungen. Teil 1-5. Wien 1815. Adolph HARTMANN, Der Wörlitzer Park und seine Kunstschätze. Berlin 1913. Erhard HIRSCH, Dessau-Wörlitz. Zierde und Inbegriff des XVIII. Jahrhunderts. München 1985. Michael STÜRMER, Scherben des Glücks. Klassizismus und Revolution. Berlin 1987. Franz von Anhalt-Dessau. Fürst der Aufklärung: 1740-1817. Belehren und nützlich seyn. Hrsg. v. den Staatlichen Schlössern und Gärten Wörlitz, Oranienbaum, Luisium. Wörlitz 1990. Wörlitz - ein Garten der Aufklärung. Hrsg. v. Gerd Biegel. Braunschweig 1992. Das Gartenreich an Elbe und Mulde. Eine Ausstellung der Staatlichen Schlösser und Gärten SachsenAnhalt: Wörlitz, Oranienbaum, Luisium. Murnau 1994.

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Allgemein zur Gartenkunst mit weiterer Literatur: Adrian V. BUTTLAR, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989. Insgesamt zur Politik und Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Willi ANDREAS, Carl August von Weimar. Ein Leben mit Goethe 1757-1783. Stuttgart 1953. Carl JusTI, Winckelmann und seine Zeitgenossen. 3 Bde. Hrsg. v. Waither Rehm. 5. Aufl. Köln 1956. Eberhard WEIS, Durchbruch des Bürgertums 1776-1847. (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 4.) Berlin 1978. Ders., Der aufgeklärte Absolutismus in den mittleren und kleinen deutschen Staaten, in: ders., Deutschland und Frankreich um 1800. Hrsg. v. Walter Demel/Bernd Roeck. München 1990, 28-45. Horst MÖLLER, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1993. Ders., Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763-1815. 3., durchges. Aufl. Berlin 1994.

Helmut Berding

Loyalitätskonflikte unter napoleonischer Herrschaft Die Situation der Staatsdiener im Königreich Westfalen

V o m Umbruch der politischen Verhältnisse, der sich an der W e n d e v o m 18. zum 19. Jahrhundert in Deutschland vollzog, war keine Personengruppe so unmittelbar betroffen w i e die der Staatsdiener. Säkularisation und Mediatisierung, der Untergang des Alten Reiches s o w i e die Machteinbußen Österreichs und Preußens bedeuteten für v i e l e Beamte den Verlust ihrer Posten und trotz aller Proteste oft auch der Pensionsansprüche und Versorgungsrechte. Neben den materiellen Einbußen z o g der politische Wandel o f t genug auch Loyalitätskonflikte nach sich. N i r g e n d w o wirkten sich die umstürzenden Ereignisse stärker aus als im Königreich Westfalen, w o ein doppelter Kontinuitätsbruch die Situation kennzeichnete.' Zum einen fielen im S o m m e r 1807 alteingesessene Dynastien w i e die Weifen und historisch g e w a c h s e n e Herrschaftsgebilde w i e Hannover, Braunschweig-Wolfenbüttel und Hessen-Kassel der napoleonischen Staatsschöpfung zum Opfer. Gut sechs Jahre später, im Herbst

1 Zum Königreich Westfalen vgl. Rudolf GoECKE/Theodor ILGEN, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft im Herzen Deutschlands, 1807-1813. Düsseldorf 1888; Arthur KLEINSCHMIDT, Geschichte des Königreichs Westfalen. Gotha 1893 (ND Kassel 1970); Friedrich THIMME, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französischwestfälischen Herrschaft 1806-1813. 2 Bde. Hannover/Leipzig 1893; Johannes WEIDMANN, Neubau eines Staates. Staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung des Königreichs Westphalen. Leipzig 1936; Willy KOHL, Verwaltung der östlichen Departements des Königreichs Westphalens 1807-1814. Berlin 1937; Marc-André FABRE, Jérôme Bonaparte, roi de Westphalie. Paris 1952; Heinz HEITZER, Insurrectionen zwischen Weser und Elbe. Volksbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft im Königreich Westfalen (1806-1813). Berlin 1959; Helmut BERDING, Napoleonische Herrschaftsund Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807-1813. Göttingen 1973; Herbert OBENAUS, Die Reichsstände des Königreichs Westfalen, in: Francia 9, 1981, 299-329; Helmut BERDING, Das Königreich Westfalen als Modellstaat, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 54, 1985, 181-193; Klaus ROB (Bearb.), Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807/1813. München 1992; Helmut BERDING, Napoleonische Herrschaft zwischen Okkupation und Staatsneubildung. Die Regentschaft in Kassel, in: Staat, Gesellschaft, Wirtschaft. Festschrift für Hellmut Seier. Hrsg. v. Winfried Speitkamp. Marburg 1994, 7-22. Zum napoleonischen Herrschaftssystem in Europa vgl. zuletzt Stuart J. WOOLF, Napoleon's Integration of Europe. London 1991.

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Helmut Bertling

1813, brach das westfälische Staatsgebilde auseinander, und die vertriebenen Fürstenhäuser nahmen ihre Länder wieder in Besitz. Zum anderen markierte die Gründung des Königreichs Westfalen auch politisch-ideologisch einen tiefen Einschnitt. Einerseits unterwarf der französische Eroberer das westfälische Filialkönigtum seinen Interessen und plünderte es finanziell aus. Andererseits konstruierte Napoleon das Satellitenkönigtum als Musterstaat, der die übrigen Rheinbundstaaten von der Überlegenheit und Übertragbarkeit der französischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsgrundsätze überzeugen sollte. Für die Staatsdienerschaft warfen die Kontinuitätsbrüche und der radikale politisch-ideologische Umbruch erhebliche Loyalitätskonflikte auf. Darum geht es in den folgenden Überlegungen. Sie befassen sich zunächst mit der Rekrutierung der westfälischen Staatsdiener, dann mit ihren Konflikten im Dienste des Modell- und Satellitenstaates und schließlich mit der Reintegration nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft.

/. Napoleon stattete den im Tilsiter Frieden geschaffenen westfälischen Staat nicht nur mit einer von ihm selber entworfenen Verfassung aus. Er bestimmte auch die Männer, die den Modellstaat aufbauen und den Staatsapparat in Betrieb setzen sollten. Mit dieser Aufgabe betraute er einige der fähigsten Köpfe Frankreichs. Dazu zählten der Finanzexperte Jean Claude Beugnot, ehemaliger Sekretär Voltaires und Präfekt in Rouen; der Rechtsgelehrte Joseph-Jérôme Siméon, Mitverfasser des Code civil, und der Verwaltungsfachmann Jean-Baptiste Moïse Jollivet, der die von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebiete „auf französischem Fuß" organisiert hatte. Am 1. September 1807 übernahm die von Napoleon eingesetzte und in seinen Diensten stehende Regentschaft in Kassel die provisorischen Regierungsgeschäfte und begann damit, nach vorgefertigten Plänen auf einer Tabula rasa das Staatsgebäude zu errichten. Sie gliederte das westfälische Königreich nach französischem Vorbild in Departements, Distrikte, Kantone und Mairien. Wie diese Gebietsteilung erfolgte auch der Aufbau des Regierungs- und Verwaltungssystems nach rein rationalen Gesichtspunkten. An die Stelle der verwirrenden Vielfalt administrativer Einrichtungen trat ein völlig neues Institutionengefüge, das die gleichförmige administrativ-rechtliche Entwicklung im Musterstaat gewährleisten sollte.2 Mit der Einrichtung neuer Behörden stellte sich die Frage der Ämterbesetzung. Auf der unteren Ebene der Kommunen, Kantone und Distrikte blieb die Zusammen-

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Β ERDING, Regentschaft (wie Anm. 1).

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Setzung des Beamtenpersonals unverändert. Die alten Amtsträger, die unter der Regentschaft vorläufig im Dienst geblieben waren, rückten in die umstrukturierten Behörden ein und setzten ihre Tätigkeit fort. Wie in der allgemeinen Verwaltung fand auch bei den unteren Forst-, Domänen-, Finanz- und Rechtsbehörden nur selten ein Austausch der Staatsdienerschaft statt. Hierfür fehlten die Voraussetzungen und auch die Notwendigkeit. Neue geeignete Kräfte standen nicht zur Verfügung, und die meisten bisherigen Amtsinhaber, die ausschließlich vom Staatsdienst lebten, waren gar nicht in der Lage und verspürten zudem wenig Bereitschaft, ihre Stellung aufzugeben. Eine Ausnahme bildeten lediglich die wenigen Adeligen, die dem neuen Regime aus politischen Gründen nicht dienen wollten und es sich zudem finanziell leisten konnten, auf die Besoldung zu verzichten. Sie quittierten den Dienst und zogen sich auf ihre Güter zurück. Im Unterschied zu den zivilen taten sich die militärischen Staatsdiener schwerer, in das napoleonische Lager überzuwechseln. Aus der kurhessischen Armee traten nur 323 von 661 Offizieren in den westfälischen Dienst.3 Anders als die umstrukturierten unteren konnten die neugeschaffenen oberen Behörden nicht auf alte Personalbestände zurückgreifen. Fragt man, woher die Minister, Staatsräte, Präfekten und die anderen höheren Staatsdiener kamen, lassen sich drei Rekrutierungsfelder ausmachen: erstens das französische Kaiserreich, zweitens die deutsche „Gelehrtenrepublik" und drittens die Vorläuferstaaten des westfälischen Königreichs. 1. Nach Schätzungen des Militärhistorikers Friedrich August Carl v. Specht waren „die höheren und wichtigsten Stellen im Staatsapparat... zu etwa 25 Prozent mit Franzosen besetzt."4 Diese lassen sich nach Herkunft, Position und Ethos in drei Gruppen einteilen. Wegen ihrer prägenden Wirkung sind zunächst die Reformbürokraten zu nennen. Unter ihnen nahmen die Mitglieder der Regentschaft eine herausragende Stellung ein. Sie waren nach der Besitzergreifung des Landes durch König Jérôme im Dezember 1807 unmittelbar von der kaiserlichen Regentschaft in die provisorische westfälische Regierung übergewechselt. Der westfälische König drängte sie, endgültig in Kassel zu bleiben. Demgegenüber wollte der Kaiser diese hochbefähigten Verwaltungsbeamten, Finanzfachleute und Juristen nach Frankreich zurückholen. Napoleon ließ verlauten: „Es sei für französische Staatsräte eine ehrenvolle und beiden Ländern nützliche Arbeit, im westfälischen Königreich die Staatsmaschine in Gang zu setzen, nicht aber, sich an einen anderen Souverän zu binden, und sei

3 Vgl. Friedrich August Carl SPECHT, Das Königreich Westphalen und seine Armee im Jahre 1813 sowie die Auflösung desselben durch den kaiserlich russischen General Graf A. Czernicheff. Cassel 1848; THIMME, Innere Zustände (wie Anm. 1), Bd. 2, 141 ff. 4 SPECHT, Königreich Westphalen (wie Anm. 3), 19.

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es der eigene Bruder. " 5 Den dadurch heraufbeschworenen Loyalitätskonflikt entschied nur Siméon zugunsten des Modellstaates. Diesem aufgeklärten Staatsmann, der den Ideen von 1789 anhing, schien es eine lohnende Aufgabe zu sein, im napoleonischen Deutschland an der Errichtung einer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung mitzuwirken. Aus einer solchen Überzeugung heraus übernahm er das Justizministerium, betrieb mit großem Eifer den Aufbau eines neuen Verwaltungs- und Rechtssystems und blieb bis 1813 in Kassel. Beugnot teilte zwar das Reformethos seines Regentschaftskollegen, schätzte aber die Aussichten, im westfälischen Satellitenstaat etwas bewirken zu können, nüchterner ein. Die immensen finanziellen Belastungen, die Napoleon dem Land aufgebürdet hatte, mußten nach seiner Überzeugung die Modellstaatspläne zum Scheitern verurteilen. Unter solchen Voraussetzungen endgültig die Leitung des ihm zunächst übertragenen Finanzministeriums zu übernehmen, sah er als einen Akt des politischen Selbstmordes an. Daher kehrte er dem westfälischen Königreich den Rücken. Aus ähnlichen Gründen nahm Jollivet den Abschied.6 Gewiß schwächte dieser Rückzug von Spitzenkräften die Position der französischen Reformbürokraten. Doch behielten sie, vor allem durch die relativ starke Präsenz von Reformern aus dem zweiten Glied, in den westfälischen Zentralbehörden einen nicht unerheblichen Einfluß und leisteten einen wichtigen Beitrag zum Ausbau des Modellstaates. Neben den französischen Reformbürokraten nahmen sodann die Gefolgsleute Jérômes einen bedeutenden Platz ein. Als typischer Vertreter dieser Gruppe kann Pierre Alexandre Le Camus gelten. Diesen Kreolen aus Martinique hatte Jérôme Bonaparte als französischer Marineoffizier auf seinen Kreuzfahrten in Amerika kennengelernt und an sich gebunden. Als engster Vertrauter des Königs rückte er vom Privatsekretär zum Kammerherrn auf, wurde als Graf Fürstenstein in den Adelsstand erhoben und schließlich zum leitenden Minister ernannt. Wie Le Camus verdankten andere Günstlinge ihre Stellung am Kasseler Hof und in der Regierung weniger ihren reformerischen Ideen oder administrativen Fähigkeiten als vielmehr dem Vertrauensverhältnis zum König. Nur ihm gegenüber fühlten sie sich zur Loyalität verpflichtet. Dies unterschied sie von den Reformbürokraten, aber auch von den Franzosen, die mit der Okkupationsmacht in die eroberten Gebiete gekommen waren. Die meisten Angehörigen der Gruppe der aus Frankreich rekrutierten Staatsdiener hatten im Besatzungsregime als Intendanten, Gouverneure oder in einer anderen Position hauptsächlich Überwachungs- und Kontrollfunktionen ausgeübt. Sie waren zunächst von der Regentschaft, dann von der westfälischen Regierung

5 6

Zit. nach BERDING, Herrschaftspolitik (wie Anm. 1), 29. Ebd.

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übernommen worden. Finanzverwaltung und Polizei gehörten zu den von ihnen bevorzugten Betätigungsfeldern. Bei der Gründung der Gendarmerie griff Jérôme auf Empfehlung Napoleons fast ausschließlich auf diese ehemaligen Besatzer zurück.7 Wie hier spielten sie vorübergehend auch in der Hohen Polizei eine zentrale Rolle. Demgegenüber blieb der Anteil der Franzosen im militärischen Bereich gering. „Nach dem Almanach royal befanden sich in der westfälischen Armee unter ca. 1000 Offizieren und Employés nur 82 Franzosen".' Hinzu kamen die in der Festung Magdeburg stationierten französischen Truppen. Divisionsgeneral Jean Baptiste Eblé, der Festungsgouverneur, gehörte als Kriegsminister der westfälischen Regierung an, weigerte sich aber, dem König den Eid zu leisten.® Darin zeigt sich das gebrochene Verhältnis der französischen Offiziere zum westfälischen Staat. Für sie und viele sonstige ehemalige Angehörige der Besatzungsarmee besaß die Loyalität gegenüber dem Kaiser absoluten Vorrang. Umgekehrt dominierte bei den Gefolgsleuten Jérômes die Treuepflicht gegenüber dem König. Nur die Reformbürokraten hingen einem idealistischen Ethos an und verstanden sich in erster Linie als Diener des Modellstaates. 2. Neben dem französischen Kaiserreich stellte die deutsche „Gelehrtenrepublik" ein weiteres Rekrutierungsfeld dar. Dem Königreich Westfalen mußte aus mehreren Gründen daran gelegen sein, Angehörige der Bildungselite in Dienst zu nehmen. Ein Grund lag in den Legitimationsdefiziten, die dem napoleonischen Vasallenstaat gleichsam in die Wiege gelegt worden waren. Dem von Napoleon geschaffenen, von einem König aus dem Hause Bonaparte regierten und von Franzosen nach französischem Vorbild organisierten Staat haftete der Geruch der Fremdherrschaft an. In der Bevölkerung kamen Befürchtungen auf, daß Franzosen alle Führungspositionen übernehmen könnten und Französisch zur Geschäftssprache erhoben würde. Die im Juli 1807 nach Paris entsandte westfälische Deputiertenversammlung brachte diese Sorgen zum Ausdruck und trug an Napoleon den Wunsch heran, sämtliche Stellen mit „Nationalen", das heißt mit Einheimischen oder zumindest mit Deutschen zu besetzen sowie in allen Regierungsgeschäften die deutsche Sprache beizubehalten.10

7

THIMME, Innere Zustände (wie Anm. 1), Bd. 2, 167. ' Ebd., 142.

9

10

KLEINSCHMIDT, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 1), 118.

„Die Deputirtenversammlung beschließt: 1) daß die deutsche Sprache in allen Verhandlungen beibehalten werde, 2) daß alle und jede Stelle mit Nationalen besetzt werden möchte, und 3) die resp. Erhaltung und Ertheilung von Pensionen für geistliche, Militair- und Civil-, auch städtische Diener, desgleich für Wittwen und Waisen zu empfehlen sei", nach Georg Friedrich Carl ROBERT, Urkundliche Beiträge zur Staatengeschichte Deutschlands in der napoleonischen Zeit. Bd. I: Protokolle über die Verhandlungen der Deputirten des Königreichs Westphalen, zu Paris, in den Monaten August und September des Jahres 1807. Kiel 1852, 9. Eine ähnliche Auffassung wie die westfälischen Deputierten vertrat auch Beugnot. Vgl. dazu den Rapport des commissaires du roi pour l'organisation

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Napoleon war bestrebt, den von der Deputiertenversammlung zum Ausdruck gebrachten patriotischen Gefühlen soweit wie möglich Rechnung zu tragen und einen möglichst angesehenen Vertreter der deutschen Bildungselite zum leitenden westfälischen Minister zu berufen. Es gelang ihm, für diesen Posten Johannes v. Müller zu gewinnen.11 Der Schweizer Historiker genoß im deutschen Bildungsbürgertum hohes Ansehen. Er stand nicht nur mit den großen Geistern seiner Zeit in enger Verbindung, sondern hatte auch den Fürstenhäusern in Kassel, Mainz, Wien und Berlin gedient. Johannes v. Müller teilte lange Zeit die an diesen Höfen vorherrschende kulturnationale und antirevolutionäre Bewußtseinshaltung, und er lehnte aus dieser Einstellung heraus die Universalmonarchie Napoleons ab. Eine Audienz, die ihm der siegreiche Feldherr nach der Schlacht von Austerlitz gewährt hatte, führte einen völligen Gesinnungswandel herbei. Johannes v. Müller stellte nach der Begegnung den ehemals als Emporkömmling und Usurpator verachteten Napoleon mit Alexander dem Großen, Caesar und Karl dem Großen auf eine Stufe. Damit erntete er teils lebhafte Zustimmung, teils schärfste Kritik. An Napoleon schieden sich die Geister. Wieweit in der Welt der Gebildeten die Politisierung, Ideologisierung und Polarisierung schon vorangeschritten waren, zeigt der Brief, in dem Friedrich Gentz am 27. Februar 1807 den Bruch mit Johannes v. Müller vollzog: „Als Streiter für eine geheiligte Sache spreche ich über Ihre frevelhafte Apostasie ein unerbittliches Verdammungs-Urtheil aus; als Mensch, als Ihr ehemaliger Freund empfinde ich nichts als Mitleid für Sie ... Die Ordnung und Gesetze werden zurückkehren; die Räuber und der Usurpator werden fallen; Deutschland wird wieder frei und glücklich und geehrt, unter weisen Regenten emporblühen! "12 Nach diesem Verdammungsurteil sah sich der Schweizer Historiker gezwungen, Berlin zu verlassen. Auf dem Wege nach Tübingen, wo er eine Professur zu übernehmen gedachte, erreichte ihn das Angebot des französischen Kaisers, in Kassel das Amt des leitenden Ministers zu übernehmen. Johannes v. Müller blieb nicht der einzige namhafte Angehörige der deutschen Bildungselite, der in westfälische Dienste trat. Viele andere wie etwa Christian Wil-

du royaume de Westphalie, abgedruckt in Charles SCHMIDT, Le grand-duché de Berg (1806-1813). Étude sur la domination française en Allemagne sous Napoléon Ier. Paris 1905, 484-486. 11 Vgl. Karl ScHIB, Johannes von Müller 1752-1809. Stuttgart 1967; Christoph J. JAMME/Otto PÖGGELER (Hrsg.), Johannes von Müller - Geschichtsschreiber der Goethezeit. Schaffhausen 1986 (darin Helmut BERDING, Das Königreich Westfalen und Johannes von Müller, 189-211); Matthias PAPE, Johannes von Müller. Seine geistige und politische Umwelt in Wien und Berlin 1793-1806. Bern/Stuttgart 1989. 12 Zit. nach Hans-Bernd SPIES (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15. (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 2.) Darmstadt 1981, 20.

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heim Dohm ließen sich gewinnen und trugen dazu bei, dem napoleonischen Modellstaat im aufgeklärten Publikum Ansehen zu verschaffen. Dohm, der durch seine epochemachende Schrift von 1781 „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" weit über Deutschland hinaus in der Gelehrtenwelt Ansehen erworben hatte, verließ Preußen, das nach der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon zu einer Macht dritten Grades degradiert und fast um die Hälfte verkleinert worden war und für viele seiner Staatsdiener keine Verwendung mehr hatte. Die westfälische Regierung nahm ihn nicht nur aus Prestigegründen auf, sondern auch deshalb, weil sie ohne den Rückgriff auf erfahrene Verwaltungsleute überhaupt nicht funktionsfähig gewesen wäre.13 3. Das Gros der westfälischen Staatsdiener kam allerdings nicht von außerhalb, sondern aus den Vorläuferstaaten. Dieses dritte Rekrutierungsfeld stellte zunächst einmal drei Minister. Das Innenministerium übernahm der Braunschweiger Gustav Anton v. Wolffradt. Er übertrug die Anhänglichkeit an den weifischen Herzog ungeschmälert auf den König aus dem Hause Bonaparte. Mit dem Finanzministerium wurde der Preuße Ludwig Friedrich Viktor Hans v. Bülow betraut. Auch er wechselte problemlos von preußischen in westfälische Dienste. Seine Nachfolge trat Karl August Malchus an. Hildesheim, Halberstadt und Kassel waren die Stationen seiner steilen Karriere. Wie die Regierung rekrutierte sich auch der Staatsrat in hohem Maße aus der regionalen Amtselite. Seine Funktion als Disziplinargericht zur Verfolgung von Dienstvergehen verlieh ihm, aus der Sicht der Staatsdienerschaft, besondere Bedeutung. Noch stärker als auf der zentralen kam die regionale Elite auf der mittleren Ebene zum Zuge. Aus ihr rekrutierten sich sämtliche Präfekten und Unterpräfekten. Bei der Ämtervergabe hielt sich die westfälische Regierung an die von Napoleon in seiner Regierungsanweisung an Jérôme aufgestellten Grundsätze. „Die deutschen Völker erwarten mit Ungeduld, daß die nichtadeligen Individuen, welche Talent haben, ein gleiches Recht auf ihre Berücksichtigung und auf die Ämter erhalten".14 Mit dieser Einschätzung sollte der französische Kaiser Recht behalten. „Tatsächlich kamen selbst ultrakonservative Kreise nicht umhin anzuerkennen, daß die Ämtervergabe nach Qualifikation und nicht nach Privilegien für das Land Vorteile brachte".15 Neben organisatorischer Tüchtigkeit zählten liberaler Geist 13 Rudolf VIERHAUS, Christian Wilhelm Dohm - Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufldä-rung, in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung. Soziales Gefüge. Geistige Bewegung. Göttingen 1987, 143-156. 14 Brief Napoleons an Jérôme vom 15. November 1807, in: Correspondance de Napoléon I". 32 Bde. Paris 1858-1870, hier Bd. 16. 1864, Nr. 13, 361. Vgl. Rainer WOHLFEIL, Napoleonische Modell-staaten, in: Napoleon I. und die Staatenwelt seiner Zeit. Hrsg. v. Wolfgang v. Groote. Freiburg 1969, 33-57; BERDING, Modellstaat (wie Anm. 1). 15 Vgl. Dorothea PUHLE, Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im Königreich Westphalen. Braunschweig 1989, 72.

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und reformerische Aufgeschlossenheit zu den maßgeblichen Einstellungs- und Beförderungskriterien. Diese Rekrutierungspraxis drängte die konservativen Kräfte zurück, mobilisierte brachliegendes Reformpotential und bot den aufgeklärten Staatsdienern gute Aufstiegsmöglichkeiten. Amtsträger, die früher wegen ihrer reformerischen Einstellung in Schwierigkeiten geraten waren, gelangten nun in einflußreiche Positionen. Für diese Tatsache liefert Friedrich Ludwig v. Berlepsch ein recht eindrucksvolles Beispiel. „Dem 1749 geborenen, begabten Edelmann schien eine Staatskarriere vorherbestimmt. Während seines Studiums in Göttingen Schloß er sich den der Aufklärungsideologie anhängenden Studenten an ... Zwar erlangte er nach Abschluß seines Studiums alsbald eine Stelle als Hofrichter und Landrat in hannoverschen Diensten, doch brach seine Karriere 1795 jäh ab. Berlepsch neigte zu französischen Ideen. Er vertrat die Ansicht, daß es zu einer Aussöhnung zwischen Preußen und Frankreich kommen müsse ... Damit geriet er in Gegensatz zur hannoverschen Politik. Seine Äußerungen brachten ihm die sofortige Dienstentlassung ein". Einen Prozeß vor dem Reichskammergericht gewann er zwar, „doch vermochte auch dieses Urteil seine Wiedereinstellung nicht zu erzwingen," obwohl eine Flut von Streitschriften seine Sache unterstützte. Erst mit der Errichtung des Königreichs Westfalen fand er den Weg zurück in den Staatsdienst. Berlepsch rückte als Präfekt und Mitglied des Staatsrates bis in die höchsten Ränge der Ämterhierarchie auf. 16

II. Das Kalkül Napoleons, das Königreich Westfalen als Modellstaat zu errichten, die deutschen Verbündeten von der Überlegenheit der französischen Einrichtungen zu überzeugen und im Lande selbst durch eine liberale Regierung das Vertrauen der Bevölkerung zu erwerben, schien aufzugehen. Bereits wenige Monate nach Aufnahme ihrer Tätigkeit hatte die westfälische Regierung die wichtigsten Reformgesetze verabschiedet und damit die Verfassung in Kraft gesetzt. In Kassel herrschte zumindest in den ersten Monaten des Jahres 1808 so etwas wie Aufbruchstimmung. Der in den Staatsrat ernannte Finanzexperte Karl August Malchus brachte sie am 14. Juli 1808 in einer Rede vor dem Westfälischen Reichstag zum Ausdruck: „In einem Staate wie der unsrige, auf Sieg gegründet, gibt es keine Vergangenheit! Es ist eine Schöpfung, in welcher, wie bei der Schöpfung des Weltalls alles, was vorhanden ist, nur als Urstoff in die Hand des Schöpfers und aus ihr vollendet in

16

Vgl. Hans HATTENHAUER, Geschichte des Beamtentums. Köln 1980, 178.

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das Dasein übergeht."17 Nicht alle teilten diesen Enthusiasmus, aber über das rationalistische und emanzipatorische Programm bestand innerhalb der westfälischen Reformbürokratie ein ideologischer Konsens. Es ging darum, einen Staat nach den Prinzipien von Rationalität und Effektivität zu gestalten und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zu verwirklichen. Gegen Ende des Jahres 1808 geriet der Reformprozeß immer mehr ins Stocken. Die negativen Aspekte der napoleonischen Herrschaftspolitik wie die politische Abhängigkeit und starke Präsenz der Franzosen, die wirtschaftliche Unterdrückung und finanzielle Ausplünderung sowie die militärischen Anforderungen wirkten sich immer stärker aus. Ernüchterung kehrte ein. Damit traten auch die von der Aufbruchstimmung verdeckten politischen Differenzen hervor. Sie betrafen zum einen die Reformen. Einige drängten auf rasche und radikale Maßnahmen, andere zogen es vor, behutsam und flexibel vorzugehen. Über das Tempo und Ausmaß der Veränderungen gingen nicht nur in der Regierung die Meinungen auseinander. Schwerer noch fielen die Divergenzen zwischen den Zentral- und Departementalbehörden einerseits sowie den Distrikts- und Lokalbehörden andererseits ins Gewicht. Die Reformbereitschaft oder, anders formuliert, die Loyalität gegenüber dem Modellstaat nahm von oben nach unten ab. Von daher fiel es selbst im bürokratischen System mit seiner strengen hierarchischen Ordnung nicht leicht, Erneuerungen wie der rechtlichen Gleichstellung der Juden oder anderen unpopulären Gesetzen auf dem platten Lande Geltung zu verschaffen. Neben diesen unterschiedlichen Einstellungen zum Reformprogramm hinterließen zum anderen die vielfältigen Interessengegensätze zwischen dem französischen Kaiserreich und dem westfälischen Königreich ihre Spuren. So entzündete sich am Streit um die Dotationsgüter ein regelrechter Kleinkrieg, den auf unterer Ebene kaiserliche und königliche Domäneneinnehmer gegeneinander führten. Als im Jahre 1809 Kriegszüge und Volkserhebungen das Königreich erschütterten, verstärkten sich die Spannungen. Nach dem Aufstand des westfälischen Obersten Wilhelm Kaspar Ferdinand v. Dörnberg bezichtigten einige Franzosen in der Umgebung des Königs das westfälische Offizierskorps der Komplizenschaft. Besonders der Generaldirektor der Hohen Polizei, Legras de Bercagny, und der Kommandant der Gendarmerie, Jean François Marie Bongars, säten Mißtrauen, drängten den König, sich nur noch mit Franzosen zu umgeben und trieben einen Keil zwischen französische und deutsche Staatsdiener. Die Spannungen reichten bis in die Regierung hinein, wo sich eine französische und eine deutsche Partei bildeten, die eine mit dem General

17 Rede vor dem Westfälischen Reichstag am 14. Juli 1808. Zit. nach BERDING, Herrschaftspolitik (wie Anm. 1), 20.

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Philippe François Maurice d'Albignac und die andere mit dem Finanzminister Graf Biilow an der Spitze. In dem Konflikt, der im April 1811 zum Sturz Bülows führte, vermischten sich nationale Animositäten mit persönlichen Intrigen um Machtpositionen und Einfluß am Hof. Darin erblickte der Gesandte Napoleons in Kassel, Karl Friedrich Reinhard, den Anfang einer unheilvollen Entwicklung. Als „deutscher Aufklärer im Dienste Frankreichs"18 hatte er gehofft, daß das westfälische Königreich eines Tages zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Frankreich und Deutschland werden könnte. Statt dessen verstärkten sich die nationalen Gegensätze. Reinhard schrieb in seinem Bericht an den französischen Außenminister die Schuld ausschließlich einigen ehrgeizigen Franzosen zu. Dabei übersah er, wie weit die antifranzösische Stimmung verbreitet und in wie hohem Maße sie auf Napoleon selber zurückzuführen war. Trotz dieser Fehleinschätzung gewährt der Bericht Reinhards einen guten Einblick in die Spannungen und Konflikte, die den deutschen Beamten in Kassel schwer zu schaffen machten. Als Quelle von Mißmut und Unzufriedenheit nannte er sehr treffend „die Rechte der herrschenden Dynastie, die Einführung französischer Gesetze, die Konkurrenz der französischen Sprache, die Verwendung von Franzosen bei Hof und Staat sowie die Abhängigkeit von Frankreich". Man mag bezweifeln, ob die französische Vorherrschaft mit allen ihren reformpolitischen und anderen Begleiterscheinungen tatsächlich „von mehr als neun Zehnteln der Bevölkerung Westfalens als geheiligte Grundsätze des Rechts und der Praxis angesehen" wurden. Diese Einschätzung läßt sich nur schwer vereinbaren mit der Beschreibung, die Reinhard von den überheblichen Verhaltensweisen besonders der Franzosen aus dem Gefolge Jérômes gab: „Daß die Franzosen behaupten, sie seien mehr als die Deutschen der Person des Königs ergeben und die Deutschen mehr als die Franzosen dem Staat selbst... Daß [sie] den Sitten fremd bleiben, die Gewohnheiten ablehnen, die sie umgeben; daß Herr Bercagny behauptet, ein guter Verwaltungsfachmann müsse des Deutschen unkundig sein, um sich nicht bei Fragen rein lokaler Bedeutung zu verzetteln; daß man im Palast des Herrschers die Landessprache verbietet, die einzige, in der 1 950 000 von zwei Millionen Untertanen ihn anrufen oder preisen können; daß man jede Anstellung eines Deutschen wie einen Diebstahl an einem Franzosen betrachtet... all das war", wie Reinhard schrieb, einerseits „der

18 Jean DELINIÈRE, Karl Friedrich Reinhard. Ein deutscher Aufklärer im Dienste Frankreichs (1761-1837). Stuttgart 1989.

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Fehler einiger Individuen", aber andererseits auch das fast unvermeidbare Ergebnis der allgemeinen Lage der Dinge." Die deutschen Staatsdiener im Königreich Westfalen mußten sich nicht nur gegen ihre französischen Kollegen verteidigen. Schwere Anschuldigungen kamen auch von außen, aus Wien, Berlin und Petersburg. Von hier aus griffen die konservativen, landes- und deutschpatriotischen Feinde Napoleons die verächtlich „Franzosendiener" genannten Amtsträger an. Dabei schwang der Vorwurf des Verrates mit, den im bereits erwähnten Brief schon Friedrich Gentz gegen Johannes v. Müller erhoben hatte. Anfangs war es der Wechsel in das Lager Napoleons, an dem sich die Kritik entzündete. Dann richteten sich die Vorwürfe gegen den Eintritt in den westfälischen Staatsdienst. Später warf man den westfälischen Staatsbeamten ihre Loyalität dem eigenen Staate gegenüber vor. So klagte im Krisenjahr 1809 der Freiherr vom Stein die westfälischen Staatsdiener an, nicht mit dem Freiherm v. Dörnberg und anderen Aufständischen gemeinsame Sache gemacht, sondern sich loyal verhalten zu haben. „Am gemeinsten", schrieb er nach dem Scheitern der Erhebungsversuche im nördlichen Deutschland, „denken die öffentlichen Beamten, bei ihnen ist der MietlingsGeist der herrschende, sie wird man strenge sichten und die beibehaltenen unter genaue Aufsicht nehmen müssen".20 Anschuldigungen und Drohungen dieser Art waren keine Seltenheit. Zu Beginn der Freiheitskriege nahmen sie an Zahl und Schärfe zu, denn sie erfüllten eine propagandistische Funktion. Die Armeeführer der alliierten Streitkräfte, die in Flugblättern die Einwohner Nord- und Mitteldeutschlands zur Erhebung gegen Napoleon aufforderten, versprachen sich vom Zusammenbruch der staatlichen Ordnung Vorteile und setzten daher die westfälischen Staatsbeamten unter Druck. „Präfekten, und Ihr übrigen öffentlichen Staatsbeamten! werdet Ihr die tugendhaften Anstrengungen Eurer ihr Heiligstes reclamirenden Mitbürger unterstützen; oder werdet Ihr zu Handlangern einer ihren Geist aufgebenden Tyrannei herabsinken? Rechnet in dem letztern Falle nicht auf meinen Schutz gegen die gerechte Rache des Volkes. Ich selbst stelle Euch mit Euren Genossen einst vor das Gericht der von Euch schwer beleidigten Nation".21 Wie ernst diese öffentliche Ermahnung des russischen Feldherrn Ludwig-Adolph Peter Graf v. SaynWittgenstein-Berleburg gemeint war, sollte sich nach dem Zerfall des Königreichs Westfalen im Herbst 1813 erweisen.

" E b d . , 308. 20 21

Vom Stein an Gentz, 29. Juli 1809. Zit. nach SPIES, Erhebung (wie Anm. 12), 153.

Aufruf Ludwig Adolph Peter Graf von Sayn-Wittgenstein-Berleburgs vom 16. März 1813. Zit. nach ebd., 254.

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111. Am 26. Oktober 1813, eine Woche nach der „Völkerschlacht" bei Leipzig, floh Jérôme aus Kassel. Mit ihm verließen die am Hof, in der Regierung und Verwaltung beschäftigten Franzosen das Land. Der König selber fand nach dem Ende der „Hundert Tage" Unterschlupf bei seinem Schwiegervater, dem König von Württemberg. Nach unstetem Leben in Österreich, Rom und Florenz konnte er erst Jahrzehnte später unter Louis-Philippe nach Frankreich zurückkehren. Der weitere Weg seiner Gefolgsleute und auch der übrigen aus Frankreich stammenden westfälischen Staatsdiener verliert sich im Dunkeln. Sie bildeten weder von ihrer Herkunft noch von ihrem späteren Schicksal her eine eigenständige Gruppe. Nur über die wenigen, die aus der Anonymität heraustraten, läßt sich etwas aussagen. Beispielsweise weiß man, daß Le Camus, der von 1808 bis 1813 als leitender Minister das höchste politische Amt in Kassel bekleidet hatte, sich vergeblich um die Anerkennung des in westfälischer Zeit erworbenen Grafentitels bemühte. Erst sein Sohn durfte ihn mit Erlaubnis des preußischen Königs wieder führen.22 Besser als dem Günstling aus der Gefolgschaft Jérômes erging es dem ehemaligen Mitregenten und Justizminister Siméon. Dieses Haupt der westfälischen Reformbürokraten machte im Frankreich der Restauration eine glänzende Karriere. Als Mitglied der Pairs-Kammer und der Académie des sciences morales et politiques wurden ihm alle erdenklichen Ehren zuteil.23 Ohne Probleme verlief die Übernahme der westfälischen Staatsdiener in Preußen. Der Hohenzollemstaat hatte im Frieden von Tilsit seine linkselbischen Gebiete abgetreten und die hier tätigen Amtsträger von allen Treuepflichten entbunden. Daher warf im Jahre 1807 der Wechsel vom preußischen in den westfälischen Staatsdienst keine Loyalitätskonflikte auf. Auch 1813/14 bereitete der Übergang vom westfälischen in den preußischen Dienst keine Schwierigkeiten, zumal der preußische Reformstaat viele der westfälischen Einrichtungen bestehen ließ. Zudem verband die Reformer über die Staatsgrenzen hinweg ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Ernennung des ehemals westfälischen Finanzministers Bülow zum preußischen Finanzminister im Jahre 1813 ist ein schlagender Beweis. Die Konfliktlinien verliefen nicht entlang der Elbe, sondern innerhalb Preußens zwischen Reformern und ihren Gegnern. Diese konservativen Kräfte und die deutschpatriotischen Freiheitskämpfer warfen den ehemals westfälischen Staatsdienern Illoyalität

22 Vgl. den biographischen Artikel von Jean TULARD, Pierre-Alexandre Le Camus, comte de Furstenstein, in: Dictionnaire Napoléon. Hrsg. v. dems. Paris 1987, 1044. 23 Vgl. Jean TULARD, Joseph-Jérôme comte Siméon, in: ebd., 1576 f.

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vor. So wurde der Freiherr vom Stein als Leiter des Zentralverwaltungsdepartements nicht müde, auf die Unzuverlässigkeit der in französische Dienste getretenen westfälischen Beamten hinzuweisen, ohne allerdings im Preußen der Hardenbergschen Reformzeit Gehör zu finden.24 Nicht so reibungslos wie in Preußen vollzog sich der Wechsel in Hannover, Braunschweig und Kurhessen. Hier hatte die napoleonische Herrschaft tiefe Wunden gerissen. Der französische Kaiser hatte, gestützt allein auf Eroberungsrecht, die Herrscherhäuser enteignet, die Staaten aufgelöst und die alte Ordnung völlig umgekrempelt. Dennoch waren die hannoverschen, braunschweigischen und hessischen Staatsdiener nahezu geschlossen in die französisch-westfälische Verwaltung eingetreten. Gerade hierin lag das Problem. Einerseits bestand das Bedürfnis, die Staatsdiener für ihre Untreue zu bestrafen. Andererseits konnte keiner der restituierten Staaten auf erfahrene und tüchtige Verwaltungsfachleute verzichten. Daher verfügten die Monarchen, als sie von ihren Ländern wieder Besitz ergriffen, über einen nur geringen Handlungsspielraum, den sie unterschiedlich nutzten. Als einziger Staat führte Hannover Bestrafungen größeren Ausmaßes durch. Carl Haase hat sie mit der Entnazifizierung nach 1945 verglichen.25 Eine solche historische Analogie greift entschieden zu weit. Begriffe und Tatbestände wie „politische Säuberung" oder „Kollaboration" gab es damals noch nicht. Wohl aber wiesen die Vorgänge in Hannover manche moderne, in die Zukunft weisende Züge auf. Die ersten Weichen für das Geschehen hatte schon sehr frühzeitig der politische Schriftsteller und ehemalige hannoversche Hofrat August Wilhelm Rehberg gestellt. Als Anhänger der altständischen Ordnung verachtete er den bürokratischen Absolutismus, blieb aber als Direktor der indirekten Steuern im westfälischen Staatsdienst. In einem vertraulichen Schreiben vom 30. September 1808 an den hannoverschen Minister in London, Ernst Graf zu Münster, beklagte er nicht nur „das ekelhafte Gemisch französischer Grundsätze und Preußischer Geschäftsformen, womit alle öffentliche Bediente gequält werden".26 Er berichtete auch sehr ausführlich über das Verhalten einzelner Staatsdiener. Daran knüpften gegen Ende der napoleonischen 24 „... Glauben Sie mir, alle, die so dem Feind gedient haben, und alle ohne Unterschied, können gebraucht aber nicht vertraut weiden. Sechs Jahre, verlebt in diesen schmutzigen Verhältnissen, beflecken den Charakter, trüben und verdunkeln den Verstand ... ". Vom Stein an Vincke, 16. Januar 1814, in: Karl Freiherr vom und zum STEIN, Briefe und amtliche Schriften. Hrsg. v. Erich Bötzenhart. Neu bearb. v. Walther Hubatsch. Bd. 4. Stuttgart 1963, 463. 25 „Also 1813 und 1945 jeweils eine völlig andere Ausgangslage! Aber trotzdem war das Ergebnis in beiden Epochen sehr ähnlich: Nachdem die erste grofie Welle der NS-Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher mit zahlreichen Todesurteilen und langen Haftstrafen vorüber war, hatten nahezu alle in eine dieser fünf Kategorien eingestuften Personen bald wieder geachtete Stellungen inne, in der Bundesrepublik - und ähnlich sogar in der DDR"; Carl HAASE, Politische Säuberungen in Niedersachen 1813-1815. Hildesheim 1983, 266. 26 Zit. nach ebd., 35.

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Herrschaft die Minister Claus v. der Decken und Friedrich Franz Dietrich v. Bremer an. Sie schickten am 23. April 1813 aus Hamburg an den Grafen Münster in London ein Kollegialschreiben mit einer 40 Namen umfassenden Liste. Das Verzeichnis teilte die politisch belasteten Personen in acht Kategorien ein: erstens Offiziere, die ohne Zwang in die Dienste der Franzosen getreten waren; zweitens Staatsdiener, die sich so stark mit der westfälischen Regierung eingelassen hatten, daß sie jeder Aufnahme in den hannoverschen Staatsdienst „ganz unwürdig" waren; drittens westfälische Gesandte; viertens Adelige im westfälischen Hofdienste; fünftens Mitarbeiter der französischen oder westfälischen Geheimpolizei; sechstens Männer, die dem westfälischen Regime besonders ergeben und daher im Lande verhaßt waren; siebtens westfälische Staatsräte; achtens die Generalpächter ganzer Domänen.27 Auf dieser Grundlage beriet das Staatsministerium in London und legte im Oktober 1813 die Richtlinien für die Bestrafungen fest. Sie sahen vor, nur die höheren Chargen zur Rechenschaft zu ziehen. „Diejenigen, welche geflissentlich beim Feinde Dienst gesucht haben ... scheinen uns auf Milde oder Wiederherstellung keinen Anspruch machen zu können ... Vielleicht scheint es nothwendig, gegen solche mit fiscalischen Verfahren und Confiscation der Güter einzutreten".28 Der Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 schuf eine neue Situation. Nach Artikel 16 durfte niemand wegen seines Verhaltens, seiner politischen Meinung oder seiner Neigung zu irgendeiner der streitenden Parteien verfolgt oder in seinem Eigentum beschädigt werden. Diese Bestimmung, aber auch die inzwischen eingetretene allgemeine politische Abkühlung und nicht zuletzt der Bedarf an erfahrenen Staatsdienern brachen in Hannover den Strafmaßnahmen die Spitze. Die 1813/14 verhafteten Personen wie August Wilhelm Karl Graf v. Hardenberg oder Carl Christian Schenk v. Winterstedt kamen, soweit sie überhaupt noch einsaßen, endgültig frei. Auch die noch nicht abgeschlossenen förmlichen Strafverfahren wurden eingestellt. Die meisten der Beschuldigten kehrten in den Landesdienst zurück. 1821 ließ auch der Hof sie wieder zu. In Braunschweig waren die Hürden nicht so hoch wie in Hannover. Von drei Ausnahmen abgesehen nahm das Herzogtum alle altbraunschweigischen Staatsdiener wieder auf. An der Spitze der Gemaßregelten stand Wolffradt. Die Vorwürfe richteten sich weniger gegen den Eintritt des ehemaligen Staatsministers in die westfälische Regierung, war er doch 1806 bei der Eroberung Braunschweigs durch die Franzosen auf Wunsch des sterbenden Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand im Amt

27 28

Abgedruckt ebd., 54-60. Zit. nach ebd., 62.

Loyalitätskonflikte unter napoleonischer Herrschaft

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geblieben. Anstoß erregte vielmehr sein Verhalten im Jahre 1809. Zu dieser Zeit war der braunschweigische Herzog Friedrich Wilhelm mit einem Freikorps in das Königreich Westfalen eingedrungen. Innenminister Wolffradt verurteilte den Streifzug und hielt dem westfälischen Staat die Treue. Dafür mußte er 1815 büßen, als er von Paris aus in seine Heimatstadt Wolffenbüttel zurückkehrte. Friedrich Wilhelm verweigerte ihm den Aufenthalt. Wolffradt starb auf Rügen. Neben ihm fielen zwei weitere höhere Staatsdiener in Ungnade, darunter der durch seine richterliche und literarische Tätigkeit hochangesehene Jurist Karl Friedrich v. Strombeck, der im benachbarten Fürstentum Lippe ein Staatsamt erhielt.29 Ähnlich wie Braunschweig stellte Hessen die westfälischen Staatsdiener wieder ein. Da jedoch mit dem napoleonischen Königreich das gesamte Verwaltungsgebäude zusammengebrochen und auf seinen Trümmern die alte institutionelle Ordnung neuerrichtet worden war, mußten die Amtsträger in ihre früheren Funktionen zurückkehren. Dies bedeutete oft eine erhebliche Herabstufung und finanzielle Einbuße. Hiermit mußten sich die Staatsdiener angesichts der Verbitterung des Kurfürsten über ihre vermeintliche Untreue und der feindseligen Stimmung in der Bevölkerung zunächst abfinden. Gegen Gefahren, die ihnen von dieser Seite drohten, entwickelten die hessischen Staatsdiener eine beachtliche Solidarität. Sie setzten sich gegen Denunziationen zur Wehr, blockten Diskussionen über persönliche Verantwortung ab und verhinderten auf diese Weise, daß in Hessen eine systematische politische Überprüfung stattfand. Dieser Erfolg stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Standesbewußtsein der Staatsdienerschaft.30 Diese Entwicklung, so läßt sich abschließend feststellen, beschränkte sich nicht auf Kurhessen. Auch in anderen Staaten des Deutschen Bundes wuchs ein selbstbewußtes Berufsbeamtentum heran. Hegel nannte es bekanntlich den allgemeinen Stand und brachte damit das Selbstverständnis der Staatsdiener auf den Begriff. Die deutsche Nationalgeschichtsschreibung führte die Herausbildung dieses Standesbewußtseins vor allem auf die lange Tradition des preußischen Absolutismus zurück. Seit einiger Zeit wird nicht zuletzt dank der Arbeiten von Bernd Wunder31 stärker auf die bayerische Dienstpragmatik des Jahres 1805 und die sich daran anschließen-

29

Vgl. PUHLE, Herzogtum (wie Anm. 15), 363 ff. Vgl. Winfried SPEITKAMP, Restauration als Transformation. Untersuchungen zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1813-1830. Darmstadt/Marburg 1986, S3 ff. 31 Bernd WUNDER, Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Benifsbeamtentums in Bayern und Württemberg (1780-1825). München 1978; ders., Geschichte der Bürokratie in Deutschland. Frankfort am Main 1986; ders., Rolle und Struktur staatlicher Bürokratie in Frankreich und Deutschland, in: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution. Hrsg. v. Helmut Berding/Htienne François/Hans-Peter Ullmann. Frankfurt am Main 1989,139-176; s. dazu ferner Eckhard TREICHEL, Der Primat der Bürokratie. Bürokratischer Staat und bürokratische Elite im Herzogtum Nassau 1806-1866. Stuttgart 1991. 30

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den beamtenrechtlichen Errungenschaften der süddeutschen Reformstaaten abgehoben. Eine nicht zu unterschätzende Rolle haben aber auch die territorialen Umwälzungen der napoleonischen Zeit gespielt. Im raschen Wechsel der Dynastien machten die öffentlichen Amtsträger immer häufiger und eindringlicher die Erfahrung, nicht eigentlich Fürsten-, sondern Staatsdiener zu sein. Und mit jedem Herrschaftswechsel wuchs die Einsicht in ihre Unentbehrlichkeit. Tatsächlich war der Reformstaat auch auf die Diener der vorrevolutionären Staaten, der Restaurationsstaat auch auf die des Reformstaates angewiesen. Anders gewendet: Die Fürsten und die Regime gingen, die Staatsdienerschaft blieb. Gerade aus dieser Kontinuität heraus erklärt sich paradoxerweise der Wandel. Die Staatsdiener verarbeiteten die Erfahrungen, begriffen und nutzten ihre Unentbehrlichkeit und stiegen von einer abhängigen Gruppe der Fürstendiener zum privilegierten und selbstbewußten Stand der Staatsdiener auf. Den Loyalitätskonflikten, denen sie sich unter der napoleonischen Herrschaft ausgesetzt sahen, verdankten die Staatsdiener einen mächtigen, vielleicht den entscheidenden Schub beim Aufstieg in das moderne Berufsbeamtentum.

Lothar Gall Der Deutsche Bund als Institution und Epoche der deutschen Geschichte Schon das Urteil der Zeitgenossen über den Deutschen Bund von 1815 scheint fast einhellig, und die Historiker sind ihm weitgehend gefolgt: „Ein bleicher und schwächlicher Kümmerling und Kränkling und Krüppel", so Ernst Moritz Arndt 18161, „ein höchst unförmliches, fast in allen seinen Theilen unzusammenhängendes, auf nichts mit einiger Festigkeit ruhendes Gebäude", so Wilhelm v. Humboldt im gleichen Jahr.2 „Eine Zeit des Truges und der Lüge, des Trotzes der Machthaber und der Schlaffheit ihrer Beamten", so zog ein Menschenalter später Georg Gottfried Gervinus Bilanz, eine „Zeit der politischen Verfolgungen und Verschwörungen, der Hoffnungen und der Täuschungen".3 Das war noch harmlos im Vergleich zu dem, was dann ein jüngerer Zeit- und Zunftgenosse, die Anschauungen wie kein anderer prägend, einige Jahre später zu Papier brachte. Den Bundestag nannte er „eine Leiche, ein Gaukelspiel", den „Indifferenzpunkt der deutschen Politik", „schwerfällig und unbrauchbar", ein einziges „Trauerspiel". „Bei dem Namen des Deutschen Bundes", habe „niemals ein deutsches Herz höher geschlagen"4: „Wer die Geschichte des Deutschen Bundes näher kennt", dieses Urteil stand bei Heinrich v. Treitschke schon lange vor 1866 und vor der Reichsgründung fest5, „muß tief beschämt gestehen: Tausende, viele Tausende niederträchtiger Denunziantenseelen

1

Zum neuen Jahr 1816, in: Der Wächter. Bd. 3. H. 1 und 2. Köln 1816, 48. Ueber die Behandlung der Angelegenheiten des Deutschen Bundes durch Preußen. Denkschrift v. 30. September 1816, in: Wilhelm v. HUMBOLDT, Eine Auswahl aus seinen politischen Schriften. Hrsg. v. Siegfried Kaehler. Berlin 1922, 116. 3 Geschichte des 19. Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen. Bd. 1. Leipzig 1855, VI. 4 Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. ND Leipzig 1927. Bd. 5, 671 bzw. Bd. 1, 691. 5 Treitschkes „Deutsche Geschichte" ist bekanntlich aus der auf den Verleger Samuel Hirzel zurückgehenden Anregung hervorgegangen, eine Geschichte des Deutschen Bundes von 1815 bis 1848 zu schreiben. 2

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und noch weit mehr untertänige Leisetreter hat dies edle Volk erzeugt während zweier Menschenalter".6 Das blieb, bei manchen Modifikationen im einzelnen, der Grundtenor über viele Jahrzehnte7, und auch die heutige Geschichtsschreibung kommt mehrheitlich zu keinem günstigeren Urteil.® Das historische Bild des Deutschen Bundes werde davon bestimmt, so Theodor Schieder, „daß er zum Vollstrecker der Restaurationsideen geworden ist und seine Energie hauptsächlich in der Unterdrückung der liberalen und nationaldeutschen Bewegung entfaltet hat".' Und Thomas Nipperdey : „Er wurde nicht zu einer Institution, die irgend etwas hätte weiterentwickeln können oder wollen. Das war die größte Enttäuschungserfahrung der Nation." Der Bund sei daher „außerhalb des Establishments ganz und gar diskreditiert" gewesen. 10 Spätestens nach 1819, resümierte auch Heinrich Lutz, der die Dinge stärker vom Standpunkt Wiens zu sehen bestrebt war, sei der Bund „in eine chronische Lähmung und Unreformierbarkeit geraten".11 Die deutschen Staaten hätten nach 1815, faßte Dieter Langewiesche wenig später die heute weithin vorherrschende Einschätzung zusammen, „eine Art Selbstverpflichtung zur politischen Erstarrung übernommen, deren Erfüllung der Deutsche Bund unter Führung Österreichs und Preußens wirksam überwachte". Er habe sich „damit alle Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit dem national- und verfassungspolitisch engagierten Teil des Bürgertums"

6 Die Freiheit (1861), in: Aufsätze, Reden und Briefe. Hrsg. v. Karl Martin Schiller. Bd. 2. Meersburg 1929, 9-42, hier 24. 7 „Am Maaße der Anforderungen eines realen Staatswesens gemessen", heißt es etwa in Heinrich v. SYBELS vielgelesener Darstellung Ober „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.", „besaß die mit so großer Anstrengung zu Stande gebrachte deutsche Bundesacte ziemlich vollständig alle Mängel, durch welche eine Verfassung unbrauchbar werden kann", Bd. 1. München/ Leipzig 1889, 48. Und Erich MARCKS meinte ein halbes Jahrhundert später über den Bund: „Er versagte den Deutschen den deutschen Staat, die politische Nation, Einheit, äußere Kraft und innere Freiheit. Er war ein Bund nur der Fürsten, gestaltet ausschließlich von oben her; er war kein Reich, kein Bundesstaat, nur ein Staatenbund im wörtlichsten Wortsinn"; Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807 bis 1871/78. Bd. 1. Stuttgart/Berlin 1936, 98 f. 8 Überblicke über die Forschung zum Deutschen Bund bei Hellmut SEIER, Der Deutsche Bund als Forschungsproblem 1815-1960, in: Deutscher Bund und Deutsche Frage 1815-1866. Hrsg. v. Helmut Rumpier. München/Wien 1990, 31-59 und Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815-1871. München 1993; s. auchders., Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815-1856. Göttingen/Zürich 1991. Als knappe Gesamtdarstellung auch Peter BURG, Der Wiener Kongreß. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem. 3. Aufl. München 1993; s. auch ders., Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Stuttgart 1989. 9 Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich (1815-1871), in: Bruno Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte. Bd. 3. 9., neu bearb. Aufl. Stuttgart 1970, 99-213, hier 100. 10 Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1993, 355 f. 11 Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866. (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 2.) Berlin 1985, 53.

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abgeschnitten und sei „allen oppositionellen Strömungen zum verhaßten Symbol der konservativen Entwicklungsblockade" geworden.12 Freilich auch, so kann man hinzufügen, zum Symbol der Verweigerung gegenüber den Wünschen aller deijenigen, die sich, sei es aus ganz materiellen, sei es, wie viele Vertreter der politischen Romantik, aus ideellen Motiven, an der politischen, der gesellschaftlichen und nicht zuletzt der kirchlich-religiösen Ordnung des Alten Reiches orientierten, oft mit idealisierenden Rückgriffen auf dessen fernere Vergangenheit wie etwa der Freiherr vom Stein oder, aus ganz anderem Blickwinkel, Novalis. Aus welcher Richtung also man den Deutschen Bund schon damals ins Auge faßte oder ihn rückblickend betrachtet, aus der des Alten Reiches oder der neuen Nationalstaatsidee, vom Standpunkt liberaler, konstitutionell-rechtsstaatlicher Überlegungen oder aus der Perspektive der in fast allen deutschen Territorien in dem Jahrzehnt davor eingeleiteten gesellschaftlichen Reformen oder auch ganz schlicht von handfesten wirtschaftlichen Kalkulationen und Zukunftserwartungen her - stets erschien die Schöpfung des Wiener Kongresses als ein Gebilde ohne Perspektive, als Kind nackter Machtinteressen der unmittelbar beteiligten Staaten, vor allem der Habsburger Monarchie und ihres leitenden Staatsmannes Metternich. „Daß die Verfassung des Deutschen Bundes, wie sie besteht, nicht fortbestehen könne", meinte etwa der liberale Publizist Johann Weitzel 1819, „ist in Deutschland ein Gedanke, ein Gefühl; und ein Wunsch ist es auch, daß sie nicht fortbestehen möge" - nie werde ihr zentrales Organ, die Bundesversammlung, in der jetzigen Form „das Vertrauen und die Teilnahme des deutschen Volkes gewinnen".13 Und der Historiker Heinrich Luden gab dem Urteil vieler Zeitgenossen Ausdruck, wenn er den Bund ironisch ein „Denkmal der Staatsweisheit unserer Zeit" nannte.14 Die Verteidiger, die der Bund damals und später gefunden hat, haben diese Einschätzung noch verstärkt: Fast stets waren es, von Ausnahmen abgesehen15, Politiker und Historiker stark konservativer Tendenz, die sich, angefangen von Friedrich Gentz bis zu Henry Kissinger, vor allem an den machtpolitischen Interessen der beteiligten Großmächte und an dem darauf gegründeten europäischen

12 Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 13.) München 1985, 61. 13 Hat Deutschland eine Revolution zu fürchten? Wiesbaden 1819, 49 bzw. 53. 14 Zit. nach Karl G. FABER, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Restauration und Revolution. Von 1815 bis 1851. (Brandt-Meyer-Just: Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 3/1, 2. Teil.) Wiesbaden 1979, 23. 15 Hier ist unter den Zeitgenossen etwa Franz GRILLPARZER ZU nennen, der meinte: „Der deutsche Bund war nicht schlecht von Haus/ Gab auch Schutz in jeder Fährlichkeit/ Nur setzt' er etwas Altmodisches voraus:/ Die Treue und die Ehrlichkeit"; Sämtliche Werke. Hrsg. v. Heinrich Laube/Josef Weilen. Bd. 1. Stuttgart 1872, 220.

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System orientierten.16 Neben dem Argument, daß Politik eben die Kunst des Möglichen sei und der Bund, unter Abweisung letztlich utopischer Pläne von rechts wie von links, aus einem pragmatischen Interessenausgleich der beteiligten Staaten und Mächte hervorgegangen sei, wurde hier als übergreifender Gedanke stets ins Feld geführt, der Bund habe sich von allem Anfang an als ein friedenserhaltender, ja, friedenssichernder Faktor ersten Ranges bewährt und Mitteleuropa schließlich eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte beschert. Über viele Jahrzehnte lautete die Antwort von liberaler, von nationaler und allgemein von linker Seite darauf: Ja, aber um welchen Preis? Eben um den Preis der zunehmenden Verhärtung, der Erstarrung der bestehenden Ordnung und damit der Stauung aller Kräfte und Energien, die auf eine Anpassung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an die sich wandelnden Verhältnisse hinwirkten. Allein die Fähigkeit zu erfolgreicher Friedenswahrung, so lange die vorherrschende Meinung, könne ein politisches System noch nicht legitimieren. Hier scheint sich nun in letzter Zeit unter dem Eindruck einer ganz neuen Qualität von Krieg und damit auch von möglichem Bürgerkrieg, wie sie sich in unserer Gegenwart abzeichnet, zumindest eine nicht unerhebliche Akzentverschiebung anzukündigen. Niemand geringerer als Hans-Ulrich Wehler, also ein dezidierter Vertreter der modernen Gesellschaftsgeschichte und der konsequenten Bewertung aller Geschichte aus dieser Perspektive, hat soeben auch von hier aus eine Neubewertung des Deutschen Bundes vorgenommen. Der Bund sei, heißt es im zweiten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte", vor allem aus dem „Bedürfnis nach einer dauerhaften Befriedung Mitteleuropas" hervorgegangen: „Dieser vordringlichen Aufgabe der Friedenswahrung in Mitteleuropa ist der Bund in der Tat ein halbes Jahrhundert gerecht geworden. Das ist nicht nur", fahrt Wehler fort, „in vergleichender historischer Perspektive eine respektheischende Leistung, sondern auch - zumal wenn man das alte Reich und den Rheinbund mit einbezieht - ein starkes historisches Argument für die Sachangemessenheit einer föderativen Koexistenz deutscher Staaten."17 Angesichts von Revolution und Bürgerkrieg 1830 und 1848 bzw. 1866, die nicht zuletzt in der inneren Ordnung des Bundes ihre Ursache hatten, wird man sich

16 In dieses Bild paßt, daB der eigentliche Zerstörer des Bundes, Bismarck, ihn in seinen späteren Jahren in einem sehr viel milderen und günstigeren Licht sah als in seiner Sturm- und Drangzeit und mit dem Zweibund in gewisser Weise an ihn anzuknüpfen suchte. Vgl. dazu Lothar GALL, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Berlin 1980, 592 ff. 17 Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformara bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" 1815-1845/49. München 1987, 326; im übrigen ist der EinfluB der aktuellen Situation bei der Abfassung des Buches und der an diese Situation geknüpften Überlegungen nicht zu übersehen. Das gilt etwa auch für die Studie von Ludwig BENTFELD, Der Deutsche Bund als nationales Band 1815-1866. Göttingen 1985.

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sicher fragen können, ob das „historische Argument" wirklich so stark ist und hier nicht Wünsche und Hoffnungen der Gegenwart das Urteil allzusehr bestimmen. Immerhin aber stellt sich auch demjenigen, der in dieser Hinsicht skeptischer bleibt und Anfechtung und schließliches Scheitern des Bundes wesentlich in seiner Struktur und vor allem in seiner Entwicklung begründet sieht, von hier ausgehend die Frage, ob seine lange Zeit sicher unterschätzte Leistung der aktiven Friedenswahrung auch im Innern unlösbar verknüpft war mit seinem unbestreitbar repressiven Charakter in allgemeinpolitischer, verfassungspolitischer und nicht zuletzt gesellschaftspolitischer Hinsicht. Anders gewendet: War das eine ohne das andere nicht zu haben? Ergab sich die Struktur des Bundes, wie man das ja dann auch vom deutschen Kaiserreich nach 1871 gemeint hat, nicht nur aus seiner Entstehungssituation, sondern aus seinen außen- und ordnungspolitischen Funktionen in Europa insgesamt und speziell in Mitteleuropa? War er von daher über oberflächliche und kosmetische Veränderungen hinaus gar nicht reformfähig, oder steckten in ihm doch weitergehende Entwicklungsmöglichkeiten, die dem Gang der Dinge bis 1848 und dann bis 1866 eine ganz andere Richtung hätten geben können? Auch im Hinblick auf die Reformfähigkeit des Bundes sind die Historiker rückblickend eher skeptisch gewesen - Heinrich Lutz etwa sprach von seiner „Unreformierbarkeit" nach 1819" - , und sie können sich dabei auf eine Fülle von zeitgenössischen Zeugnissen aus praktisch allen Phasen der Geschichte des Deutschen Bundes stützen. Neben diesen negativen Stimmen steht freilich eine ganze Reihe von solchen, die zwar den Bund in seiner bestehenden Form kritisieren, ihm aber nicht jede Reformfähigkeit absprechen, im Gegenteil bei ihren eigenen Reformbestrebungen von ihm und von seinen Institutionen ausgehen. Zu ihnen zählte zu Beginn der dreißiger Jahre, in der Aufbruchsphase im Anschluß an die französische Julirevolution, etwa Carl Theodor Welcker, einer der führenden politischen Köpfe des süddeutschen Liberalismus in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht. 1831 präsentierte er im badischen Landtag eine sogenannte Motion unter dem Titel „Die Vervollkommnung der organischen Entwicklung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationaleinheit und deutscher staatsbürgerlicher Freiheit".19 In ihr wurde die Regierung aufgefordert, auf die Einführung einer gewählten Volksvertretung neben dem Bundestag in Frankfurt hinzuwirken und damit zugleich die schrittweise Umgestaltung des bisherigen Staatenbundes in einen nationalen Bundesstaat einzuleiten. Das Echo, das dieser Vorstoß in der Öffentlichkeit fand - die badische Regierung bestritt der Volksvertretung allerdings sogleich

18 19

Vgl. Anm. 10. Karlsruhe 1831.

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das Recht zu solchen „außenpolitischen" Initiativen, da die Außenpolitik Sache der Krone und der Regierung sei - , war außerordentlich. Viele Politiker und Publizisten aus dem Lager der „Bewegungspartei" traten der Forderung bei. Sie blieb auch in den folgenden Jahren im Gespräch und wurde etwa durch Wilhelm Schulz, einen bekannten politischen Schriftsteller der Zeit und nachmaligen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, oder durch Friedrich v. Gagem, den Bruder Heinrich v. Gageras und späteren General der Bundestruppen in der Anfangsphase der Revolution von 1848, nochmals eingehend begründet und systematisch ergänzt.20 Ihre Tendenz entsprach ganz dem sich seit den dreißiger Jahren immer deutlicher ausprägenden strategischen Konzept der Liberalen, auf dem Wege über Reformen und in enger Kooperation mit den reformbereiten Kräften in Regierung und Bürokratie der einzelnen Staaten voranzukommen. Ein solches Parlament auf Bundesebene sollte einerseits - und das machte die Forderung bei allen Gruppen der politischen Linken populär - ein zentrales Forum sein, auf dem alle Forderungen der Nation zur Sprache kommen könnten, andererseits aber auch ein Ort der Kooperation zwischen den bisherigen Vertretern der Staatsmacht und den Repräsentanten der Gesellschaft, des gemeinsamen Suchens nach Wegen in die Zukunft. In diesem Sinne hat Friedrich Daniel Bassermann, der Verleger und Mitbegründer der „Deutschen Zeitung", am Vorabend der Revolution von 1848, am 12. Februar des Revolutionsjahres, in der badischen Kammer erneut die Forderung erhoben, „durch Vertretung der deutschen Ständekammern am Bundestag ein sicheres Mittel zur Erzielung gemeinsamer Gesetzgebung und einheitlicher National-Einrichtungen" zu schaffen.21 Von da ist sie über die Mannheimer Erklärung vom 27. Februar 1848 an die Spitze der sogenannten Märzforderungen gelangt, also in den Katalog jener Punkte, die die gemeinsame Basis aller an der Revolution beteiligten Kräfte bildeten. Zugleich aber war die Forderung nach einer gemeinsamen Volksvertretung auf der Ebene des Bundes auch, so nachdrücklich sie nun unter dem Eindruck der krisenhaften Zuspitzung der Situation in Mitteleuropa erhoben wurde, unmittelbarer Ausdruck der sogenannten Vereinbarungspolitik mit den Vertretern der bestehenden Ordnung, an der die liberale Mitte in den folgenden Wochen und Monaten immer festhielt, praktisch bis zu der Reise der Kaiserdelegation zu Friedrich Wilhelm IV. im April 1849: Nur zögernd und schrittweise rückte der Kreis um die „Deutsche Zeitung"

20 Wilhelm SCHULZ, Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation. Stuttgart 1832; Friedrich V. GAGERN, Vom Bundesstaat. 1834. Vgl. dazu auch Ernst R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 2. Stuttgart 1960, 42. 21 Verhandlungen der Stände-Versammlung des GroBherzogtums Baden im Jahre 1847-48. Prot, der zweiten Kammer. 6. Beilagenheft, 311 ff.

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von der Auffassung ab, der Weg, der mit der Konstituierung des Vorparlaments beschritten worden war - Einberufung einer Versammlung von Vertretern der einzelnen Landtage mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundestages, also praktisch die Erfüllung der Bassermann'sehen Forderung - sei nach wie vor der Königsweg zum Erfolg. Als nach dem Scheitern und der Auflösung der Nationalversammlung und der Niederschlagung des Aufstandes zugunsten der Reichsverfassung die einzelnen politischen Gruppen darangingen, die Gründe des Mißerfolges zu analysieren, da erlangte innerhalb der liberalen Mittelpartei die Gruppe deijenigen schon bald die Mehrheit, die von einem Mangel an realpolitischem Verhalten sprachen und damit praktisch wieder der Vereinbarungspolitik das Wort redeten. Hieraus sind dann seit den späten fünfziger Jahren die liberalen Bundesreformpläne erwachsen, neben demjenigen des sächsischen Ministers Graf Beust vor allem deqenige des späteren badischen Außenministers Franz v. Roggenbach. Formuliert unmittelbar nach dem österreichisch-französisch-italienischen Krieg von 1859, basierte er auf der Überlegung, daß, wie es wörtlich hieß, „jeder praktische Versuch" einer Bundesreform „überhaupt nicht von dem Streben ausgehen darf, die möglichst beste Schöpfung für Wahrung des gemeinsamen deutschen Nationalinteresses zu begründen, sondern diejenige, welche neben besserer Wahrung desselben, zugleich den Partikularinteressen der meisten am entsprechendsten ist".22 Alle drei Initiativen, die Welcker'sche von 1831, die Bassermann'sehe am Vorabend der Revolution von 1848 und Roggenbachs Plan unmittelbar nach dem italienischen Krieg, verbindet die Bereitschaft, bei jeweils klaren eigenen politischen Zielen und Zukunftsvorstellungen unterschiedliche Interessenlagen und darauf gegründete unterschiedliche Systemvorstellungen zunächst einmal insoweit zu akzeptieren, daß man ihnen in den eigenen Plänen gezielt Rechnung trug. Wieweit man bei der Einschätzung dieser Interessenlagen und Systemvorstellungen realistisch war, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin bleibt festzuhalten, daß man das System des Deutschen Bundes für weitläufig und flexibel genug hielt, einen lebensfähigen und zukunftsträchtigen Ausgleich zwischen höchst unterschiedlichen Interessen und höchst unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen herbeizuführen oder doch jedenfalls zu ermöglichen. Von hier aus erscheinen jene Reformüberlegungen und Reformpläne generell wie in den konkreten Einzelheiten im Zusammenhang der Frage nach der historischen Einschätzung, nach den

22 Ende September 1859; GroBherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854-1871. Briefwechsel, Denkschriften, Tagebücher. Bearb. v. Hermann Oncken. Bd. 1. Berlin 1927, 120.

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Möglichkeiten und Grenzen des Deutschen Bundes, auch heute noch, also auch aus heutiger Perspektive, von großem Interesse. Das gilt vor allem für die Überlegungen Franz v. Roggenbachs, da dieser am stärksten gesamtpolitisch argumentierte und dabei besonders nachdrücklich die gesamtstaatlichen und außenpolitischen Interessen der einzelnen Staaten und Staatengruppen des Bundes berücksichtigte. Der Bund war zu diesem Zeitpunkt, Ausgang der fünfziger Jahre, endgültig zu einem bipolaren, vom Dualismus zweier Großmächte beherrschten System geworden. Ihn zu überwinden und „durch den auf den Bund geübten Einfluß ... die feindselige Richtung, welche die preußische Politik seit Friedrich II. eingeschlagen, zu modifizieren", sei, so Roggenbach, das ursprüngliche Ziel seiner Führungsmacht, der Habsburger Monarchie, gewesen.23 Das sei nicht gelungen, es sei gescheitert vor allem an der „Tatsache, daß Preußen von dem Bunde eigentlich nie das erwartete, was die neue Institution nach Sinn und Wort meinte, sondern daß es ihn zu einem transitorischen Mittel für Pläne, die über den Bund hinauslagen, verfälschte, abwechselnd gebrauchte, dann wieder lähmte, je nach seiner oft ganz willkürlichen Auffassung der augenblicklichen Dienlichkeit zu diesem Zwecke".24 Das aber habe zur Folge gehabt, daß das deutsche Volk „inmitten der Rivalität der beiden ersten Bundesmächte ohne alle Vertretung seiner wichtigsten Interessen blieb, daß die Institution, welche dafür geschaffen und bestimmt war, die Stelle des ohnmächtigen deutschen Reiches zu ersetzen, noch weit kraftloser als dieses, selbst nur eitler Schein und das Spielwerk kurzsichtiger Einzelinteressen" war.25 Man müsse also nach neuen Formen der Kooperation zwischen den beiden deutschen Großmächten, aber auch zwischen ihnen und den übrigen deutschen Staaten suchen. Von dieser Basis aus entwickelte Roggenbach in Fortschreibung der Überlegungen Heinrich v. Gagerns, des Hauptes der „Vereinbarungspartei" der Jahre 1848/49, sein Konzept eines engeren und eines weiteren Bundes in Mitteleuropa, sprich eines von Preußen geführten konstitutionell-parlamentarischen Bundesstaates und eines Staatenbundes zwischen diesem und der Habsburger Monarchie. In diesem auf „ewig" zu schließenden Bund sollte Wien „seitens der Gesamtheit... seiner Bundesgenossen" vor allem die „Garantie des Territorialbestandes der österreichischen Gesamtmonarchie" geboten werden, „wie der Friede von Villafranca sie konstituiert hat", ferner „die Unterstützung im Falle innerer Unruhen" und allgemein die Zusicherung „bundesfreundlicher Gesinnung und bundesmäßigen Verhaltens, wie

23 24 25

Ebd., 117. Ebd., 119. Ebd., 120.

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solches dem von jeher unter den Gliedern eines Reiches bestehenden Verhältnis und dem Charakter der Unlöslichkeit des 1815 eingegangenen Bundes entspricht."26 Das bisherige Bundesverhältnis sollte also einerseits gelöst, andererseits neu geknüpft werden, und dies in einer Form, die - unter Reduzierung des darin jeweils steckenden Konfliktpotentials - sowohl den Interessen der beiden deutschen Großmächte als auch den Selbständigkeitswünschen der Mittel- und Kleinstaaten wie dem Einheitswillen der Nation Rechnung trug - auf der Ebene des Bundesstaates sollte ein aus allgemeinen Wahlen hervorgehender „Nationalrat" gebildet, hier also zugleich die zentrale Reformforderung Welckers, Bassermanns und vieler anderer erfüllt werden. Dieser Plan ist bekanntlich ebensowenig zum Zuge gekommen, ja, von Wien auch nur diskutiert worden, wie viele andere in jenen Jahren. Die Antwort der Hofburg war ein eigener Bundesreformplan, der im August 1863 einem eigens nach Frankfurt einberufenen Fürstentag vorgelegt wurde.27 Der Kaiserstaat bekundete darin seine unbedingte Entschlossenheit, am Bund in seiner bisherigen Form und an der eigenen Vormachtstellung in ihm festzuhalten. Seine Vertreter formulierten zwar die Bereitschaft, Änderungswünschen entgegenzukommen, aber die Vorschläge in dieser Richtung - Schaffung eines fünfköpfigen Bundesdirektoriums, vorsichtige Erweiterung der Kompetenzen des Bundes, Berufung einer Versammlung aus Delegierten der einzelstaatlichen Landtage - hielten sich in sehr engen Grenzen. Das machte es Bismarck und der preußischen Politik auch propagandistisch leicht, das Ganze mit dem Argument abzulehnen, der Plan sei nicht nur mit den Interessen Preußens unvereinbar, sondern auch mit denen der deutschen Nation, der nicht einmal ein frei gewähltes Parlament - das Preußen jetzt seinerseits forderte - zugestanden werde. Der Ausgang hat Roggenbach und die kleindeutsche Nationalbewegung wie auf der anderen Seite auch die Reformgegner im Lager des Kaiserstaats in ihrer Überzeugung bestärkt, daß ein Ausbau, eine innere Reform des Deutschen Bundes in seiner bestehenden Form unmöglich sei, man ihn also entweder von Grund auf, unter säuberlicher Abgrenzung der Interessensphären der beiden deutschen Grundmächte, umbauen oder aber an ihm, so wie er war, unbedingt festhalten müsse. Letzteres war, angesichts der wachsenden Stärke der Kräfte, die auf Veränderung drängten, ganz zukunftslos. Und so wäre es wohl auch ohne Bismarck und seine entschlossene Konfliktstrategie nur eine Frage der Zeit gewesen, wann der Druck

26

Ebd., 128 f. Vgl. dazu Heinrich Ritter v. SRBK, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Römischen Reich bis Königgrätz. Bd. 4. München 1942, 1 ff. und HUBER, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 20), Bd. 3, 421 ff. 27

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immer stärker divergierender Kräfte das Gehäuse des Deutschen Bundes auseinandergesprengt hätte. Repression oder Revolution lautete schließlich die Alternative, die, so wie die Kräfte verteilt waren, ernsthaft keine war. Daß es jedenfalls eine Revolution zugunsten Preußens sein würde, war dabei nicht ausgemacht und ist erst auf dem Schlachtfeld von Königgrätz entschieden worden. Schon früh aber hatte sich abgezeichnet, daß der Bund die divergierenden Interessen zweier Großmächte nur um den Preis des Verzichts auf fast jede Form positiver, nicht bloß repressiver Aktivität überwölben konnte. Daran war letztlich über Jahrzehnte jeder Versuch der reformerischen Weiterentwicklung, ja auch nur des inneren Ausbaus des Bundes gescheitert. Anders gewendet: Der Bund ermöglichte über Jahrzehnte die Koexistenz einer großen Zahl politisch und gesellschaftlich sehr unterschiedlich strukturierter Staaten in Mitteleuropa, darunter zweier Großmächte, und trug auf diese Weise nicht unerheblich zur Bewahrung des Friedens in Europa über einen vergleichsweise langen Zeitraum bei. Der Preis dafür aber war das unbedingte Festhalten am Status quo nicht nur in außenpolitischer und territorialer Hinsicht, sondern über weite Strecken auch bezüglich der inneren, der politischen wie der gesellschaftlichen Ordnung, und die Frontstellung gegenüber allen Kräften der Veränderung, des Wandels, und zwar auch gegenüber den reformerischen. Jedenfalls war das neben der der Kritiker fast durchgängig auch die Meinung der Hauptträger des Bundes, und der Beweis ist nie erbracht worden, daß ein anderer Weg gangbar gewesen wäre. Im nachhinein ist das schon gar nicht möglich, und man sollte sich hier sicher vor Spekulationen hüten, die von politischem Wunschdenken genährt werden. Wohl aber bieten innere Struktur und politische Praxis, Leistungen und Grenzen des Deutschen Bundes bis heute, ja, vielleicht gerade heute reichen Stoff zum Nachdenken über die Bedingungen und die Möglichkeiten des Zusammenlebens unterschiedlich strukturierter, aber durch die Gemeinsamkeiten ihrer Geschichte, ihrer Sprache und ihrer Kultur verbundener Staaten. Ein Modell ist der Deutsche Bund dafür nach seiner ganzen Entwicklung und seinem schließlichen Schicksal sicher nicht. Aber ein historisches Beispiel, aus dem sich immer noch vieles lemen läßt - nicht zuletzt, was die nüchterne Skepsis gegenüber mancherlei Plänen und Konstruktionen angeht, die ihre Bindung an augenblickliche Interessenkonstellationen Realpolitik nennen und Kurzsichtigkeit und historische Kurzatmigkeit als heilsamen Pragmatismus feiern.

Elisabeth Fehrenbach Die bayerische Adelspolitik in der Verfassungsdiskussion des rheinischwestfälischen Adelskreises um den Freiherrn vom Stein

In einem Brief an den Oberpräsidenten der preußischen Rheinprovinz Solms-Laubach nannte der Freiherr vom Stein die kurz zuvor, am 26. Mai 1818 publizierte bayerische Verfassungsurkunde „eine wichtige Erscheinung " 1 . Ausführlicher begründete er seine auffällige Vorliebe für die in vieler Hinsicht der französischen Charte nachgebildete Verfassung des ihm sonst eher suspekten ehemaligen Rheinbundstaates in einem Brief, der nicht von ungefähr an Christian Schlosser adressiert war. Schlosser war der Redakteur der großen Adelsdenkschrift „die Verfassungsverhältnisse der Lande Jülich, Kleve, Berg und Mark betreffend"2, die im Kontext der preußischen Verfassungsversprechen am 26. Februar 1818 im Namen der landsässigen Ritterschaft der vier Länder dem preußischen Staatskanzler Hardenberg anläßlich seiner Reise an den Rhein auf Schloß Engers überreicht worden war. Stein blieb zwar im Hintergrund dieser Initiative, die vor der Öffentlichkeit von Graf Nesselrode-Reichenstein (Berg), Graf Spee und Freiherr v. Mirbach (Jülich), Freiherr v. Wylich (Kleve) sowie den Freiherren v. Romberg und v. Hövel (Mark) vertreten wurde. Aber wir wissen aus dem Briefwechsel Steins, daß er die treibende und führende Kraft der um ihn sich sammelnden ständischen Adelsbewegung gewesen ist.3

1 Stein an Solms-Laubach, 1. Juni 1818. Karl Freiherr vom und zum STEIN, Briefe und amtliche Schriften. Bearb. v. Erich Botzenhart. Neu hrsg. v. Walther Hubatsch. 10 Bde. Stuttgart 1957-74, hier Bd. S. Stuttgart 1964, 786. Im folgenden zitiert: STEIN, Briefe. 2 Text der Denkschrift ebd., 857-868. 3 Vgl. hierzu die einschlägige Darstellung von Reinhold K. WEITZ, Der niederrheinische und westfälische Adel im ersten preußischen Verfassungskampf 1815-1823/24. Die verfassungs- und

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„Die Erscheinung der bayrischen Konstitution", schrieb Stein am 19. Juni 1818 an Schlosser, „halte ich für einen entscheidenden Fortschritt des Repräsentativsystems, der Preußen noch fester an seine gegebenen Zusagen bindet und zur Erfüllung der von ihm erregten Hoffnungen nötigt." Es folgt ein Lob, das allerdings hauptsächlich die ständischen Relikte der bayerischen Verfassung und insbesondere die Bestimmungen über die Repräsentation des Adels als beispielgebend hervorhob: „Die Konstitution hat in der Zusammensetzung der Kammern die verschiedenen Abteilungen der Stände berücksichtigt. Es erscheint und handelt ein Bauernstand, ein Bürgerstand, ein Adel, eine Geistlichkeit. Die Stellung, welche die Konstitution dem Adel in der Kammer der Reichsräte und in der der Abgeordneten anweist, halte ich für vorzüglich zweckmäßig. In der ersten wirkt er erhaltend und sichert die Stetigkeit der Verfassung; indem er in der zweiten erscheint, so vereinigt er sich innig mit den übrigen Ständen und nimmt teil an den Verhandlungen, die der Natur der Sache nach immer vorzüglich wichtig sind [·..]. Stände der Adel isoliert in der Kammer der Reichsräte, so würden ihm jene Vorteile entgehen und mit ihnen Achtung und Einfluß, und wir sahen auf dem nassauischen Landtag, wie ein schlaues Ministerium diese Entfernung benutzte, um den Einfluß des Adels ganz zu vernichten. " 4 In der Literatur ist dieser Brief wenig beachtet worden; und wenn er - in Bruchstücken - zitiert wird, so gilt er als Beleg für die Zustimmung Steins zum liberalen Zweikammersystem und/oder für seine Rezeption der Ideen Montesquieus, Rehbergs und Mosers.5 Die Steinforschung neigt ohnehin dazu, die Führungsrolle des ins Westfälische übergesiedelten Schloßherm zu Cappenberg im Kreis seiner Nachbarn und Freunde mehr der geistigen Autorität und der erfahrenen Kompetenz des ehemaligen Ministers zuzuschreiben als der inhaltlichen Übereinstimmung mit den altständischen Restaurationsplänen einer Adelsgruppe, aus der später die reaktionären Anführer der „ritterbürtigen Autonomen" hervorgehen sollten.6 Daran hat auch das ketzerische Buch Gembruchs nichts ändern können, das ins leicht widerlegbare Gegenextrem verfiel, indem es die Ansichten Steins mit den Plänen des Steinkreises identifizierte, ohne die teilweise erheblichen Meinungsunterschiede innerhalb der

gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Adelskreises um den Freiherrn vom Stein. Diss. phil. Bonn 1970. 4

5

STEIN, Briefe, Bd. 5, 8 0 0 f.

Vgl. z. B. WEITZ, Adel (wie Anm. 3), 164. Grundlegend: Erich BOTZENHART, Adelsideal und Adelsreform beim Freiherrn vom Stein, in: Westfälisches Adelsblatt 5, 1928, 210-241. 6 Vgl. zuletzt hierzu: Heinz REIF, Adelsemeuerung und Adelsieform in Deutschland 1815-1874, in: Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848. Hrsg. v. Elisabeth Fehrenbach. München 1994, 204-230, bes. 215-218.

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Gruppe zu beachten.7 Besonders an der seit 1814/15 hochaktuellen „Adelsfrage" schieden sich die Geister. Bezeichnenderweise ist die Denkschrift über die Reform des Adels, die im Auftrag Steins ebenfalls von Schlosser ausgearbeitet wurde, im Gegensatz zur großen Verfassungspetition, als deren Ergänzung sie gedacht war, nie veröffentlicht worden.8 Die bayerische Lösung des Problems war vielleicht auch deshalb willkommen, weil sie einen Ausweg aus der festgefahrenen Diskussion zu eröffnen schien. Wie die folgenden Ausführungen zu zeigen versuchen, gelang es allerdings unter den Bedingungen der preußischen Verhältnisse nicht, das Spannungsfeld zwischen Adelsreform und Adelsrestauration in eine zukunftsweisende Richtung zu verlassen. In der kontroversen Diskussion, die fast ein Jahr lang der Engers-Denkschrift vorausging, blieben viele Streitfragen offen.9 Das Hauptziel, dem schließlich alle Beteiligten zustimmten, war die Wiederherstellung der alten landständischen und wie die Petenten vorgaben - „gesetzmäßig" immer noch gültigen Verfassung der vier Herzogtümer, allerdings mit „zeitgemäßen" Modifikationen, d. h. unter „Verzicht" auf adelige Steuerprivilegien und Ämtermonopole sowie das Recht der Ritterschaft, außer wenigen privilegierten Städten der einzige Landstand zu sein. Der neuständischen Konzeption entsprechend sollten künftig auch das gewerbetreibende städtische Bürgertum und der Bauernstand, „die landbauende Klasse", durch eigene Deputierte auf dem Provinziallandtag vertreten werden.10 Damit allerdings war die Grenze der Konzessionen erreicht: Das ausschließliche Vertretungsrecht des ritterbürtigen Adels wurde zwar geopfert, aber das Vorrecht der erblichen Landstandschaft sollte ihm erhalten bleiben. Und damit begannen die Schwierigkeiten. An der Frage der Adelszugehörigkeit entzündete sich eine grundsätzliche Kontroverse über die am Rhein, zumal auf dem linken Rheinufer, als besonders notwendig empfundene Adelsreform. Der junge, im Jülichschen begüterte Freiherr v. Mirbach zu Harff auf der einen und Stein auf der anderen Seite vertraten die gegensätzlichen

7 Werner GEMBRUCH, Freiherr vom Stein im Zeitalter der Restauration. Wiesbaden 1960. Zurückweisung der Thesen Gembmchs bei WErrz, Adel (wie Anm. 3), passim. Vgl. auch die ablehnenden Kommentare der Herausgeber der Steinausgabe. STEIN, Briefe, Bd. 5, 608. Die Engers-Denkschrift wurde bezeichnenderweise nur in die Anlagen des Bandes aufgenommen. Ebd., 857-868. 8 Vgl. WErrz, Adel (wie Anm. 3), 156. 9 Zur Engers-Denkschrift vgl. auch: Karl-Georg FABER, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik. Wiesbaden 1966, 294-301; Christof DIPPER, Der rheinische Adel zwischen Revolution und Restauration, in: Adel im Wandel. Hrsg. v. Helmuth Feigl/Willibald Rosner. Wien 1991, 91-112, hier 103 f. 10 Vgl. bes. § 19 und § 20 Ober die „allgemeine Vertretung des Bürgerstandes als des gewerbetreibenden, des Bauernstandes als eines bedeutenden Gliedes der landbauenden Interessen". STEIN, Briefe, Bd. 5, 865 f.

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und kaum zu vereinbarenden Positionen. Nach der kraß an der Vergangenheit orientierten Überzeugung Mirbachs setzte die „erbliche Repräsentationswürde" eine Standeserneuerung voraus, die nach den harten Erschütterungen der Franzosenzeit aus dem Adel wieder eine korporative Vereinigung von gesinnungsmäßig vorbildlichen Edelleuten aus alten ehrenhaften Familien machen sollte. Deshalb war und blieb für ihn die Ritterschaftsqualifikation abhängig von Stammbäumen und Ahnenprobe und nicht von Geld und Fürstengunst.11 Mirbach lehnte es strikt ab, ein Adelsprädikat anzuerkennen, das zur „Finanzspekulation" geworden sei und mit dem man „sehr zweideutiges Verdienst" belohnt habe.12 Sein Plan zur Gründung eines „Adelsbundes"13 (den er zwanzig Jahre später mit dem Autonomiestatut von 1836/37 verwirklichen sollte) schloß die neuadeligen Gutsbesitzer, vom güterlosen Briefadel ganz zu schweigen, von der Teilnahme aus. Vermutlich dachte Mirbach dabei auch an den napoleonischen Neuadel. Aber das Verhalten des Adels unter der französischen Herrschaft war ein zu heikles Thema, um es direkt anzuschneiden. Außer Mirbach hatten alle Stimmführer der Adelsdenkschrift in französischen Diensten gestanden: Nesselrode war großherzoglich-bergischer Innenminister, Spee, Romberg und Hövel waren Präfekten im Großherzogtum Berg bzw. im Königreich Westfalen und Wylich war Maire im Roer-Departement gewesen.14 Im Gegensatz zu Mirbach kritisierte Stein mit Schärfe das Festhalten an Stammbäumen und das Eintreten für eine „kastenmäßige" Abschließung, die erst recht den Untergang des zahlenmäßig bereits sehr geschwächten rheinischen Adels herbeiführen werde. Der Adel, schrieb er an Mirbach, müsse „jedem durch Verdienste erreichbar sein"; er müsse „durch Aufnahme neuer Mitglieder an Zahl, Wohlhabenheit, Bildung und geistigem Leben gewinnen". Mit der Erinnerung an Gneisenau, Scharnhorst und Grolman beschwor Stein die großen Namen des nobilitierten preußischen Militäradels, während er dem Tugendbund Mirbachs, den er am Rande eines Briefes einmal schroff als „Seifenblase" bezeichnete, mit dem Hinweis auf die altadeligen Gefolgsleute am Hof Jérôme Bonapartes entgegentrat: „Edle Gesinnun-

11 Zu Mirbach vgl. WERTZ, Adel (wie Anm. 3), 102-105. Aufschiußreich ist der Brief Steins an Mirbach vom 19. Mai 1817, STEIN, Briefe, Bd. 5, 628-630. Stellenweise trägt die von Christian Schlosser ausgearbeitete Denkschrift über die Adelsreform sehr deutlich die Handschrift Mirbachs, so wenn der Tugend- und Gesinnungsadel hart abgesetzt wird vom französischen „System der Meistbesteuerten"; ebd., 874. 12 Zit. nach WEITZ, Adel (wie Anm. 3), 104. 13 Vgl. hierüber Gneisenau an Stein, 12. Juni 1818, STEIN, Briefe, Bd. 5, 793-796. 14 In der Publizistik gegen die Engers-Denkschrift wurde dies sehr kritisch vermerkt. Vgl. die anonym erschienene Schrift von Johann Paul BREWER, Urkundliche Widerlegung der von dem ehemaligen Adel der Lande Jülich, Kleve, Berg und Mark dem Fürsten Staatskanzler überreichte Denkschrift. Von einem Rheinpreußen. Rhenanien 1819, 5. Hierzu auch FABER, Rheinlande (wie Anm. 9), 299.

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gen", meinte er nüchtern, „werden den Mitgliedern des Vereins durch Stammbäume nicht gesichert."15 Die Adelsdenkschrift vertagte die Suche nach einem Kompromiß. Sie umschrieb lediglich das unumstrittene dingliche Kriterium für die Zugehörigkeit zur erblichen Standschaft: „größerer und erblich untrennbarer Grundbesitz". Im übrigen überließ sie es der Zukunft, eine Bestimmung zu finden, die „den landständischen Adel von einem zu weiten Offenstehen ganz ebensosehr als von einer zu engen Abgeschlossenheit fernehält, ihn in sich selbst stark macht und gegen das Oberhaupt des Landes sowie gegen die übrigen Stände desselben ihm eine wohltätige Stellung vermittelt".16 Die Vorarbeiten Schlossers zu einem „Adelsstatut" kamen den rheinischen Wünschen in dem Maße entgegen, wie sie sich - mit vielen Reminiszenzen an Moser und das englische Vorbild - von der preußischen Realität entfernten. Die von Stein angeregte, aber auch mit Mirbach abgesprochene Denkschrift Schlossers über die Adelsreform17 konzedierte eine „zweckmäßig und zeitgemäß modifizierte Ahnenprobe" (gedacht war an vier bis acht anstelle von sechzehn adeligen Ahnen) und schrieb dem Landesherrn nur noch das Recht zu, durch Nobilitierung auf der Grundlage eines „erblich bedeutenden" und eventuell staatlich dotierten Grundbesitzes die sogenannte Adelsfähigkeit zu verleihen. Die Aufnahme in den „eigentlichen Adel" sollte bei außerordentlichen Verdiensten möglich sein, über die allerdings nicht der Souverän, sondern die Adelskorporation als oberste Instanz zu entscheiden hatte. In diese Phase der Diskussion fällt der Brief Steins an Schlosser über die Repräsentation des Adels in Bayern. Die adelsrechtlichen Bestimmungen der neuen bayerischen Verfassung und des ergänzenden Adelsedikts zeigten auf ihre Weise, wo „die richtige Grenze zwischen Korporation und Kaste"18 zu liegen schien, die im Streit über das Nobilitierungsrecht des Regenten und im Gerangel um eine mehr oder weniger reduzierte Ahnenprobe eher verwischt als klar erkennbar geworden war. So jedenfalls sah es wohl Stein, der sich in der Folgezeit - auch gegen die Pläne Hardenbergs und der Berliner Verfassungskommission - noch mehrmals auf das bayerische Vorbild berief. Was im einzelnen war seiner Meinung nach so „vorzüglich zweckmäßig" geregelt?

15 Stein an Mirbach, 19. Mai 1817, vgl. Anm. 11; die Randbemerkung „Seifenblase" notierte Stein zum Brief Gneisenaus (vgl. Anm. 13). Vgl. WEITZ, Adel (wie Anm. 3), 163. 16

STEIN, B r i e f e , B d . 5 , 8 6 7 .

17

Denkschrift Christian Schlossers, ebd., 868-876. Zur Entstehung der Denkschrift vgl. WEITZ, Adel (wie Anm. 3), 158 f. 18

STEIN, B r i e f e , B d . 5 , 8 7 1 .

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Zunächst einmal hielt es Stein für bedauerlich, daß die im bayerischen Adelsedikt festgelegte Art der Adelsverleihung den Dienst- und Briefadel erheblich zu vermehren drohte. Mit dem in der Rheinbundzeit neugeschaffenen Personaladel konnte der Regent auch unbegüterte Staatsbeamte und Militärs für ihre Verdienste nobilitieren. Doch blieb es für Stein entscheidend, daß der „eigentliche Adel", der grundbesitzende Adel als politischer Stand, davon unabhängig blieb.19 Nachdrücklich begrüßte Stein die Zweiteilung des ständischen Adels in erbliche und gewählte Repräsentanten. Er selbst hatte schon mehrmals vorgeschlagen, neben den Virilstimmen für die großen Grundherren auch von Wahlen abhängige Kuriatstimmen für „die übrigen adligen Familien" einzuführen.20 Die bayerische Verfassung grenzte den Kreis der „übrigen" ein. Sie wurden zwar in die zweite Kammer versetzt, aber dort war eine bestimmte Anzahl von Mandaten für adelige Grundbesitzer mit gutsherrlicher Gerichtsbarkeit reserviert.21 „In der bayrischen Verfassung", schrieb Stein 1819 an Humboldt, den neuernannten Minister für ständische Angelegenheiten, „fand ich es höchst weise, den Adel oder, was wohl dort praktisch dasselbe ist, den Besitzer mit Gerichtsbarkeit versehener Güter besonders wählen zu lassen und seinen Deputierten eine Stelle in der Deputiertenkammer anzuweisen. Der ganze Adel erhält auf diese Weise seine Korporationsverfassung, wodurch wieder die alten Rechte und die alten Ansprüche mehr geschont werden, welche, wenn man sich beschränkt, einzelne Familien in das Oberhaus zu setzen, mehr gekränkt werden, und er erlangt durch die Stelle, so er in der Deputiertenkammer einnimmt, einen mildernden und die verschiedenen Bürgerklassen sich annähernden Einfluß ... u . 22 Wichtig also war: Durch das besondere Stimmrecht konnte der Adel wieder als politische Korporation hervortreten. Und zugleich ließ sich der Verlust von Virilstimmen damit rechtfertigen, daß in der Wahlkammer wie im Oberhaus der Adel dazu berufen war, eine ausgleichende Mittlerstellung im Sinne Montesquieus einzunehmen.

19 Stein an Christian Schlosser, 19. Juni 1818, ebd., 801. Zum bayerischen Adelsrecht vgl. Walter DEMEL, Adelsstruktur und Adelspolitik in der ersten Phase des Königreichs Bayern, in: Reformen im rheinbündischen Deutschland. Hrsg. v. Eberhard Weis. München 1984, 213-228. 20 Vgl. z. B. Steins Denkschrift „Über die Errichtung von Provinzialständen und ihre Geschäftsordnung", 27. März 1818, STEIN, Briefe, Bd. 5, 746-751. Zum Plädoyer Steins für ein Oberhaus nach englischem Muster anläBlich der badischen Verfassungsarbeiten vgl. BOTZENHART, Adelsideal (wie Anm. 5), 235 f. 21 Zur bayerischen Verfassung vgl. Eberhard WEIS, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825), in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. v. Max Spindler. Bd. IV/1. München 1974, 79-84. Die bayerische Kammer der Abgeordneten bestand zu 1/8 aus adeligen Gutsbesitzern mit gutsherrlicher Gerichtsbarkeit, zu 1/8 aus kirchlichen Würdenträgern (in der Regel ebenfalls aus dem Adel), zu 1/4 aus Vertretern der Städte und Märkte sowie zur Hälfte aus Vertretern der „übrigen Landeigentümer" (ebd., 80). 22 Stein an Humboldt, 24. August 1819, STEIN, Briefe, Bd. 6, 129.

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Allerdings gelang es nicht ganz, diese politisch verstandene Führungsrolle des Adels von der traditionellen Privilegierung abzulösen. Es fällt auf, daß der späte Stein - ganz anders als einst in der Nassauer Denkschrift - nichts mehr gegen das anachronistische Kriterium der Patrimonialgerichtsbarkeit einzuwenden hatte.23 Mirbach und seine Gesinnungsfreunde konnten im Kampf gegen das rheinische, d. h. französische Recht und seine „undeutschen Einrichtungen"24 mit der Unterstützung Steins rechnen.25 Dies galt auch und nicht zuletzt für die schon früh einsetzenden Bemühungen Mirbachs um eine Wiederzulassung von autonomen Familienverträgen und Fideikommissen. Stein intervenierte bei Humboldt, als im Frühjahr 1819 Mirbachs Gesuch um die Errichtung eines Majorats von der preußischen Regierung abgelehnt wurde.26 Nach französisch-napoleonischem Erbrecht, auf das sich Stein berief, waren Fideikommisse zwar prinzipiell verboten, aber nicht im Ausnahmefall staatlicher Genehmigung.27 Auch in diesem Zusammenhang gab die bayerische Verfassung ein lehrreiches Beispiel. Bei der Zusammensetzung des Oberhauses machte sie es zur Bedingung, daß die vom König ernannten erblichen Reichsräte dem reichen Majoratsadel der Fideikommißbesitzer angehören mußten. Mit dem neuen Majoratsrecht hatte Montgelas 1811 nach dem Muster der napoleonischen Adelspolitik ein Instrument geschaffen, mit dem die großen Grundbesitzer vom zahlreichen wenig oder gar nicht begüterten Adel abgesetzt und zugleich der Rechtsstellung der hochprivilegierten Standesherren angeglichen werden konnten.28 Fast alle vom König berufenen Reichsräte kamen aus dem alt- oder neubayerischen Uradel. Doch war es in rechtlicher Hinsicht durchaus möglich, auch Großgrundbesitzer bürgerlicher Herkunft im Falle ihrer Nobilitierung und nach der Stiftung eines Majorats mit der erblichen

23 Bekanntlich hat Stein 1817 mit Berufung auf die Bundesakte bei der nassauischen Regierung für sich selbst die Rückgabe der Patrimonialgerichtsbarkeit verlangt. Stein an die nassauische Regierung, 14. Dezember 1817, STEIN, Briefe, Bd. 5, 677-679. In seinen „Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn Staatsministers v. Humboldt über ständische Verfassung" vom Februar 1819 äußerte er sich zurückhaltend über die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit: „Eine solche Maßregel würde das in vieler Hinsicht wohltätige Band zwischen Gutsherrn und seinen Angehörigen zerreißen ... Inwiefern Rechtspflege durch Patrimonial- und Dorfgerichte beizubehalten, will ich Rechtsgelehrten zu entscheiden überlassen." STEIN, Briefe, Bd. 6, 33. 24 So die Formulierung der Engers-Denkschrift. Die Fortdauer des französischen Rechts auf dem linken Rheinufer, heißt es dort weiter, „würde allzubald den Rhein als Grenze zwischen deutscher und fremder Sitte verewigen". STEIN, Briefe, Bd. S, 863. 25 Stein hat allerdings versucht, Mirbachs harte Linie abzumildern. Vgl. Stein an Mirbach, 11. September 1818, STEIN, Briefe, Bd. 5, 817 f. 26 Stein an Humboldt, 17. Mai 1819, STEIN, Briefe, Bd. 6, 87. 27 Napoleon umging auf diese Weise die Bestimmungen seines eigenen Gesetzbuches. Der Code Napoléon verbot Fideikommisse. 28 Vgl. DEMEL, Adelsstruktur (wie Anm. 19), 221. Zur Zusammensetzung der Reichsräte vgl. Hubert OSTADAHL, Die Kammer der Reichsräte in Bayern von 1819 bis 1848. München 1968.

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Reichsratswürde auszuzeichnen. Auf ähnliche Weise sollte 1824 der ominöse § 7 des preußischen Provinzialständegesetzes bestimmen, daß es dem König vorbehalten bleibe, die Besitzer bedeutender Familienkommißgüter mit erblichen Virilstimmen auszuzeichnen und damit in den Ersten Stand aufzunehmen, dem als „geborene Mitglieder" die mediatisierten, ehemals reichsständischen Fürsten und Grafen angehörten.29 Bis dahin verging jedoch einige Zeit, die mit vergeblichen Versuchen des Steinkreises ausgefüllt war, auf die Berliner Verfassungsberatungen Einfluß zu nehmen. Sogar die Kronprinzenkommission, auf die man große Hoffnungen setzte, hielt an den Plänen Hardenbergs fest, die auf eine Beseitigung geburtsständischer Vorrechte in der Provinzialverfassung hinausliefen. Zum Entsetzen Steins und seiner Freunde beschloß die Kommission, außer den Mediatisierten alle anderen Landtagsdeputierten wählen zu lassen und ohne Rücksicht auf die geburtsständische Herkunft adelige wie bürgerliche Rittergutsbesitzer „in eine Klasse zu setzen".30 Auf den Notabeinkonferenzen, die 1822 in Berlin stattfanden, konnten diese Beschlüsse nicht mehr rückgängig gemacht werden. Bei der Anhörung der rheinischen Notabein, zu denen Mirbach, Spee und Wylich gehörten, wurde nur am Rande der Wunsch nach Virilstimmen geäußert und der Vorschlag gemacht, die Standschaft an ein Fideikommiß zu binden.3' Hövel, der als der engste Vertrauensmann Steins nach Berlin reiste, erhielt zuvor eine Instruktion, in der erneut die Beibehaltung von Korporationsrechten „so wie es in Bayern geschehen ist" angeraten wurde.32 Am schärfsten protestierte Stein in seiner großen, vom Kronprinzen angeforderten Denkschrift gegen die Verletzung des „historischen Prinzips": Der Adel verliere „seine Korporationsrechte, seine erbliche Familien-Provinzialstandschaft" ; er werde mit der Masse der größeren Grundbesitzer zusammengeworfen und erhalte nur Wahlfahigkeit. Dem folgten die oft zitierten, nach einem Vermächtnis klingenden Ermahnungen: „So wird der Grundbegriff des Adels zerstört, der großen fideikommissarischen Grundbesitz, Geschlechtsalter und sittliche Würde in sich schließt, und seine Ehre vernichtet, dies Band der Geschlechtsreihen, das die Achtung für die Vergangenheit an die Hoffnungen für die Zukunft knüpft. An ihre Stelle treten materieller Reichtum, Ackerfläche und Kornsäcke, die höchsten Güter des gemeinen

29 Ausführlich hierzu: Herbert O B E N A U S , Anlange des Parlamentarismus in Preußen bis Düsseldorf 1 9 8 4 , 1 5 1 - 1 8 0 . 30 Ebd., 159. 31 WE1TZ, Adel (wie Anm. 3), 218. 32 Stein an Hövel, 8. Oktober 1822, S T E I N , Briefe, Bd. 6, 547-549, das Zitat 548.

1848.

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irdischen Menschen."33 Das war Mirbach aus dem Herzen gesprochen. Aber die Fortsetzung ging über das ursprüngliche Konzept des Steinkreises hinaus. Wie schon Reinhold Weitz in seiner einschlägigen Darstellung über den Steinkreis hervorgehoben hat, stand hinter den resümierenden Anschauungen der Denkschrift für den Kronprinzen „das praktische Vorbild des bayerischen Adelsedikts von 1818"34. Stein befürwortete die Erleichterung der Bildung von Majoraten zum Schutz des Erbadels und empfahl „Virilstimmen, so man den großen adligen Geschlechtern der Provinz beilegt". Mit konservativer Vorliebe für das stabile Grundeigentum im Gegensatz zum mobilen Geldreichtum fügte er hinzu: „hiedurch sichert man den wohltätigen, das Bestehende erhaltenden, das Bewegte besänftigenden Einfluß des großen Eigentums. " Zugleich plädierte Stein für die Öffnung des anderen Teils des ständischen Adels, der Kuriatstimmen erhalten sollte. Von einer wie auch immer reduzierten Ahnenprobe war keine Rede mehr35; „ein durch Stammbaum spröd abgeschlossener Verein" wurde verworfen. Und auch ein Veto der Adelskorporation gegen die Aufnahme neuer Mitglieder war nicht mehr vorgesehen. Vielmehr wurde es allein dem König überlassen, Verdienste mit der Adelsverleihung zu belohnen, allerdings nur, wenn zugleich ein bedeutender Grundbesitz nachgewiesen werden konnte. Der Begriff „Verdienst" wurde präzisiert und pragmatisch mit der Bewährung in „angesehenen Militär- und Zivilstellen" gleichgesetzt. Ämterwürde und Grundbesitz - das waren die beiden wichtigsten Kriterien der napoleonischen Notabeingesellschaft. Stillschweigend setzte Stein Dotierungen durch den Monarchen im Falle nicht ausreichenden Grundbesitzes voraus, wofür es gleichfalls viele Beispiele gab. Optimistisch glaubte er deshalb feststellen zu können: „So wird der Adel allen erreichbar und das Ziel des Strebens aller politischen Talente."36 Als in Berlin schließlich doch restaurationspolitische Maßnahmen zur Protektion des Geburtsadels beschlossen wurden, widersprach dies keineswegs in jeder Hinsicht dem Konzept Steins.37 Gewiß: Vieles lag nicht auf seiner Linie. Die Ritterschaft

33 Bemerkungen über die allgemeinen Grundsätze des Entwurfs zu einer provinzialständischen Verfassung für Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, 1 . / 3 . November 1 8 2 2 , S T E I N , Briefe, Bd. 6 , 5 5 6 - 5 7 0 , das Zitat 5 6 5 . 34 WErrz, Adel (wie Anm. 3 ) , 2 1 7 . Vgl. zu dieser Denkschrift auch O B E N A U S , Anfänge (wie Anm. 2 9 ) , 1 5 9 . 33 Auch die Instruktion für Hövel (s. Anm. 32) hatte noch vier adelige Ahnen für die Standschaft zur Voraussetzung gemacht. 36 S T E I N , Briefe, Bd. 6 , 5 5 6 - 5 7 0 , die Zitate 5 6 5 f. Zur Bildung von Majoraten vgl. ebd., 5 6 8 . 37 Versuche, die Vorstellungen Steins mit Etikettierungen zu versehen wie „liberal", „konservativ" oder „reaktionär" haben in der Regel nicht weitergeführt. Zu oft liegen diese Vorstellungen zwischen den Fronten. Doch gerade in der Auseinandersetzung mit GEMBRUCH, Freiherr vom Stein (wie Anm. 7) ist es üblich geworden, die „ständisch-liberale" Konzeption (so Weitz) wieder stärker zu akzentuie-

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blieb eine Vertretung adeliger wie bürgerlicher Grundbesitzer; die Standschaft war weiterhin nur an ein dingliches Kriterium, den Besitz eines Rittergutes, gebunden. Und auch die adelsfreundliche Definition des Rittergutes lag im Interesse einer Adelsschicht, von deren Daseinsberechtigung Stein am wenigsten überzeugt war. Danach gehörte jeder dem Ritterstand an, der ein ehemals landtagsfähiges Gut besaß und mindestens 75 Taler Grundsteuer, eine sehr niedrig angesetzte Summe, bezahlte. So wurde vor allem der kleine Landadel begünstigt, der noch im Besitz seiner alten Güter war." Stein hingegen hatte bezeichnenderweise Schwierigkeiten, die Landtagsfähigkeit des von ihm neuerworbenen Gutes Cappenberg nachzuweisen.39 Doch in einem anderen wichtigen Punkt sah sich Stein durchaus bestätigt. Der König erklärte sich bereit, den Besitzern eines bedeutenden Fideikommißgutes Virilstimmen zu erteilen. Stein äußerte sich sehr zufrieden über „diese konstitutionelle Auszeichnung"40, die seiner Ansicht nach geeignet war, dem vermögenden Guts- und Geschlechtsadel „bei den zukünftigen Reichsständen eine würdigere Stellung" zu sichern und der Ritterschaft des Provinziallandtages „mehr Stärke" beizulegen.41 Seine eigenen westfälischen Besitzungen Cappenberg und Scheda wurden vom König zur Standesherrschaft erhoben, nachdem ein Fideikommiß gestiftet worden war. Stein vergaß dabei nicht, um eine Ermäßigung der Stempelgebühren nachzusuchen, die von 6000 auf 1000 Taler herabgesetzt wurden.42 Die selbstbewußten Großgrundbesitzer des Steinkreises stimmten mit ihrem Mentor überein. Romberg trat wie Stein dafür ein, den § 7 des Provinzialständegesetzes zu nutzen und auf diese Weise das alte Adelsprinzip wieder geltend zu machen.43 Mirbach, der sofort für die eigenen Familiengüter die Errichtung eines Fideikommisses vorzubereiten begann, sah sich bereits am Ziel seiner langjährigen Bestrebungen. Er erwartete, daß „mit der Zeit eine bedeutende Adelskorporation, mit politischen Vorrechten begabt, erscheint, welche demnach wirklich von impo-

ren. Auch REIF, Adelsemeuerung (wie Anm. 6) spricht von einem „frühliberalen" Denker, der sein Adelskonzept zwar im engen Austausch mit den ilieinischen und westfälischen Autonomen entwickelte, ohne jedoch deren Ziele zu teilen. Damit wird jedoch m. E. nur die halbe Wahrheit getroffen. 38

39

V g l . OBENAUS, A n f ä n g e ( w i e A n m . 2 9 ) , 166 f.

Vgl. z. B. Stein an Spiegel, 25. August 1823, STEIN, Briefe, Bd. 6, 636 f. So die Formulierung im Brief an Itzenplitz, 18. Juni 1825, STEIN, Briefe, Bd. 6, 866. 41 Stein an Adolf v. Arnim-Boitzenburg, 3. Januar 1827. Stein forderte Arnim dazu auf, ebenfalls ein Fideikommiß zu errichten. STEIN, Briefe, Bd. 7, 131 f. Vgl. OBENAUS, Anfänge (wie Anm. 29), 450 f. 42 Ebd. Vgl. auch Stein an Ludwig v. Vincke, 6. Mai 1825, STEIN, Briefe, Bd. 6, 846-848. 43 WEITZ, Adel (wie Anm. 3), 228. Eine Sonderstellung nahm der münsterländische Adel ein, der über den Grafen August Ferdinand v. Merveldt Verbindungen zu Romberg und zum Steinkreis aufgenommen hatte. Er verhielt sich „eher passiv abwartend, zum Teil resignativ". Vgl. Heinz REIF, Westfälischer Adel 1770-1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. Göttingen 1979,186-199, das Zitat 187. 40

Die bayerische Adelspolitik

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santerem Ansehen sein wird, als wenn sie unbedingt aus den Mitgliedern vieler verarmter Geschlechter zusammengesetzt wäre"44. Offenbar war auch Mirbach jetzt bereit, vom kompromißlosen Stammbaumdenken abzugehen. Nicht von ungefähr vertrat nur Hövel eine Gegenposition. Weniger vermögend als die durchweg sehr wohlhabenden Landbesitzer des Steinkreises45, schlug er sich auf die Seite der Verlierer des Umbruchsprozesses. Ganz im Gegensatz zu Mirbach befürchtete Hövel die Spaltung und damit den „Untergang" des alten Adelsstandes, der durch die Stiftung von Majoraten nicht zu retten sei. Die reiche Bodenaristokratie, so prognostizierte er düster, werde mit den Mediatisierten verschmelzen, und der übrige Adel werde sich dort, wo bereits wie in der Mark und im Bergischen der Reichtum des wirtschaftlich erstarkenden Bürgertums überwiege, dem „kapitalkräftigen Mittelstand" annähern und Geldheiraten schließen müssen.46 Wie es der erste rheinische Landtag von 1826 bewies, waren allerdings weder die Mediatisierten noch die Vertreter des Bürgerstandes mit der Bevorrechtung des Majoratsadels einverstanden. Die Standesherren protestierten mit Erfolg gegen die Aufnahme von altlandsässigen Adeligen in die Fürstenkurie. Sie sahen darin einen Verstoß gegen das Ebenbürtigkeitsprinzip und andere Prärogativen, die im Artikel 14 der Deutschen Bundesakte dem ehemals „regierenden" Adel garantiert waren.47 Im preußischen Ständewesen fehlten die Voraussetzungen für die Bildung eines Oberhauses, in dem - mit einer gewissen nivellierenden Tendenz - die angesehensten Familienhäupter aus verschiedenen Adelsgruppen einen Ehrenplatz einnehmen konnten. Die gleichwohl vom König geforderte Errichtung von Majoraten und Fideikommissen lief schließlich auf die Restauration des privilegierten Erbrechts hinaus - bis hin zur Anerkennung der sogenannten „Autonomie", der Entscheidungsfreiheit des adeligen Stammherrn in Erb- und Ehesachen. Anläßlich des Autonomiestatuts von 1836 hofften die „Ritterbürtigen" erneut, Virilstimmen im Ersten Stand des Landtags erhalten zu können.4"

44

WEITZ, Adel (wie Anm. 3), 228 f. Zu den Vermögensverhältnissen ebd., 49: Nach den Gmndsteuerbeträgen zahlte Hövel 650 Taler, Mirbach 2300 Taler, Nesselrode 30S0 Taler, Romberg 2010 Taler, Spee 3200 Taler, Stein (für seine westfälischen Besitzungen) 2000 Taler, Wylich 1450 Taler. 46 Ebd., 229 f. 47 Gustav CROON, Der Rheinische Provinziallandtag bis zum Jahre 1874. Düsseldorf 1918, 109 f. Zur Sonderstellung der Standesherren: Heinz GOLLWTTZER, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918.2., durchges. und erg. Aufl. Göttingen 1964. Zum Uberleben des Privilegienadels: Elisabeth FEHRENBACH, Der Adel in Frankreich und Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution. Hrsg. v. HelmutBerding/EtienneFrançois/Hans-PeterUllmann. Frankfurt am Main 1989, 177-215. 45

48

OBENAUS, Anfänge (wie Anm. 29), 453.

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Elisabeth Fehrenbach

Erst recht stießen diese Ambitionen auf die Opposition der bürgerlichen Landtagsabgeordneten. Seit der in der Öffentlichkeit vielbeachteten Publikation der Adelsdenkschrift vom Februar 1818 war die Adelsfrage zur Verfassungsfrage geworden, waren die politisch-ständischen Bestrebungen der Ritterschaft aus bürgerlicher Sicht nur mit dem Ziel verknüpft, die traditionellen Adelsprivilegien wiederherzustellen. „Nicht durch Trennung, nur durch Vereinigung der Kräfte kann das rheinische Volk frei und glücklich werden ...", schrieb einer der Kritiker der Denkschrift, der Düsseldorfer Physikprofessor Johann Paul Brewer: „Die Gleichheit aller vor dem Gesetz - dieses ist der Grundsatz, welcher allen Ständeversammlungen Kraft und Leben einhauchen muß."49 Auch Brewer ging in diesem Zusammenhang auf das Exempel der von ihm begrüßten bayerischen Verfassung ein. Freilich kritisierte er, was Stein lobte; denn seiner Meinung nach räumte die Verfassung dem Adel noch zu viele Rechte ein. „Die Gleichheit Aller vor dem Gesetz ist als Grundsatz aufgestellt", kommentierte er befriedigt, jedoch fügte er enttäuscht hinzu: „aber wo sind in den einzelnen Bestimmungen die Spuren dieses Grundsatzes zu finden? - Ist da Gleichheit vor dem Gesetz, wo der eximierte Gerichtsstand, die Patrimonialgerichtsbarkeit, das Recht der Erstgeburt bestehen ...?" 50 Brewer erhob keine Einzelstimme. Seine adelsfeindliche Kritik stand am Beginn einer Auseinandersetzung, die im Verlauf des Vormärz an Schärfe zunahm. Zugleich machte sie auf Schwächen und Widersprüche der bayerischen Adelspolitik aufmerksam, die Stein aus seiner Perspektive übersah und wohl auch übersehen wollte.

49 BREWER, Widerlegung (wie Anm. 14), 96 f. Zum publizistischen Echo auf die Engers-Denkschrift vgl. FABER, Rheinlande (wie Anm. 9), 294-300. Zu Brewer ebd., 299 f. 50

BREWER, W i d e r l e g u n g ( w i e A n m . 14), 86 f.

Maria Schimke und Manfred Hörner Prozesse zwischen Untertanen und ihren Herrschaften vor dem Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Auseinandersetzungen um Fronen und Besitzwechselabgaben im Hochstift Würzburg

Franken blieb nach den bisherigen Erkenntnissen vom Bauernkrieg an bis zum Ende des Alten Reichs von größeren Bauernrevolten verschont. 1 Es mangelte freilich nicht an gerichtlich ausgetragenen Streitigkeiten, die häufig bis an die Reichsgerichte gelangten. 2 S o ermittelte Johann Nikolaus Becker, der sich Mitte der 1790er Jahre längere Zeit als Praktikant in Wetzlar aufhielt, für die Zeit von 1772 bis 1796 insgesamt 4 5 6 Reichskammergerichtsprozesse „der Unterthanen gegen ihre Fürsten" und teilte ergänzend mit: „Bey weitem die meisten sind aus Schwaben, Franken und

1 Die freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Aufzählungen frühneuzeitlicher Bauernrevolten von Peter BIERBRAUER, Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Hrsg. v. Peter Blickle. München 1980, 1-68, hier 62-68; von Winfried SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit. (Neuzeit im Aufbau, Bd. 6.) Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, 49-59, und von Werner TROSSBACH, Bauembewegungen in deutschen Kleinterritorien zwischen 1648 und 1789, in: Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Hrsg. v. Winfried Schulze. (Geschichte und Gesellschaft, Bd. 27.) Stuttgart 1983, 233-261, hier 255-260, umfassen keinen einzigen Vorfall aus dem Fränkischen Reichskreis; vgl. Peter BLICKLE, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 1.) München 1988, 34. Lediglich die 1568 beginnenden, nach längerer Unterbrechung 1692 fortgesetzten und erst 1846 vor dem königlich bayerischen Oberappellationsgericht beendeten Auseinandersetzungen der Gemeinde Burgsinn mit der freiherrlichen Familie Thüngen um Waldungen und Fischwässer, Fronen und Steuern, die sich in wenigstens dreißig Reichskammergerichtsprozessen niederschlugen, sprengen aufgrund ihrer Dauer den üblichen Rahmen kurzzeitiger lokaler Konflikte; vgl. Hans LAMMER, Das Lehen Burgsinn. Darstellung der Rechte der Freiherren von Thüngen zu Burgsinn und des Streites um dieselben gegen die Gemeinde Burgsinn. München

1886. 2 Vgl. Werner TROSSBACH, Bauern 1648-1806. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 19.) München 1993, 47.

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Maria Schimke und Manfred Höraer

v o m Rhein". 3 D i e vorliegende Untersuchung behandelt einschlägige Prozesse am Reichskammergericht, ihren Anlaß und Verlauf, die Argumentation der Parteien und die Position der beteiligten Gerichte. Sie stützt sich auf Prozesse 4 aus dem Hochstift Würzburg, aus den eingeschlossenen und benachbarten Ritterherrschaften sowie den angrenzenden Teilen des Fürststifts Fulda über Auseinandersetzungen von Untertanen 5 mit ihren Grund- und Gerichtsherrschaften 6 um Fronen und Besitzwechselabgaben 7 . Gegenstand und Verlauf der einzelnen Streitfälle werden zunächst zusammenfassend dargestellt. Abschließend wird auf Gemeinsamkeiten im Ablauf und Ergebnis der Prozesse und auf Tendenzen in der Argumentation der Parteien und der Urteilssprechung eingegangen.

3 Vgl. Johann Nikolaus BECKER, Fragmente aus dem Tagebuche eines reisenden Neu-Franken. Nach der Erstausgabe von 1798 neu hrsg. v. Wolfgang Griep. (Kleine Bibliothek der Aufklärung, Bd. 1.) Bremen 198S, 34. Die Zahlen Beckers berücksichtigen nicht nur Prozesse „der Unterthanen gegen ihre Fürsten", sondern schließen insbesondere auch die gegen reichsstädtische Obrigkeiten geführten Verfahren ein. Außerdem scheinen die von Beamten gegen ihre Dienstentlassung erhobenen Klagen darin enthalten zu sein. Ob zudem Streitigkeiten zwischen Bauern und ihren Gerichts- und Grundherren einbezogen sind, muß offenbleiben. 4 Die behandelten Prozesse entstammen dem Bestand Reichskammergericht des Bayerischen Hauptstaatsarchivs [fortan zitiert: RKG]. Einzelne Schriftstücke werden unter Angabe der bereits von der ReichskammergerichtsregistraturzugeteiltenQuadrangeln [QJangeführt; vgl. Heinrich WICKJENHORN, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches. Diss. jur. Münster 1966, 7 f. 5 Einblicke in die „Innenwelt" der prozessierenden Gemeinden, in ihre Sozialstruktur und Organisation sowie in die gemeindliche Meinungsbildung in Wechselwirkung mit dem Prozeß verlauf bleiben weitgehend verwehrt; vgl. die „konfliktsoziologische" Darstellung von Bauernbewegungen des Wetterau-Vogelsberg-Gebiets bei: Werner TROSSBACH, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806. (Sozialgeschichtliche Bibliothek.) Weingarten 1987. Gleiches gilt für die jeweilige herrschaftliche Partei. 6 Ausgeschlossen bleiben Prozesse gegen die Landesherrschaft, wie die wegen strittiger Jagdfronen gegen das Obeijagdamt zu Würzburg gerichteten Klagen der Bürgerschaft zu Iphofen 1768 (vgl. RKG 7160) und Gerolzhofen 1773 (vgl. RKG 764) oder die Klage der Gemeinde Berkach gegen die Regierung zu Würzburg wegen Umwandlung der Straßenbaufronen in Chausséegeldzahlungen 1784 (vgl. RKG 4025). Nicht berücksichtigt werden Auseinandersetzungen der Gemeinde Sonderhofen mit dem Ritterstift St. Burkard zu Würzburg 1766 (vgl. RKG 903) und der Gemeinde Willanzheim mit dem domkapitlischen Bauamt zu Würzburg 179S (vgl. RKG 653) um die von den Patronatsherrschaften beanspruchten Fronen beim Pfarrhofbau. Nicht eingegangen wird ferner auf die Klagen der Judenschaften zu Westheim 1800 (vgl. RKG 15581) und Kissingen 1802 (vgl. RKG 1950) gegen ihren Schutzherm Lothar Franz Michael Freiherm v. Erthal, die neben verschiedenen anderen Streitpunkten die Forderung von Handlohn nicht allein im Verkaufs-, sondern auch im Erbfall betrafen. 7 Unberücksichtigt bleiben Zehntstreitigkeiten wie zwischen dem Dominikanerinnenkoster St. Marx zu Würzburg und der Gemeinde Ulsenheim 1749 (vgl. RKG 669) oder der Kartause Tückelhausen und der Gemeinde Gailshofen 1752 (vgl. RKG 2744), Weidestreitigkeiten wie zwischen der Hofkammer zu Würzburg und der Gemeinde Retzbach 1753 (vgl. RKG 656) oder der Gemeinde Seeshof und der Propstei Thulba 1768 (vgl. RKG 2679), schließlich auch die Auseinandersetzung zwischen dem Revierförster Franz Georg Bausewein zu Güntersleben und dem Jesuitenkolleg zu Würzburg um die Zulässigkeit der Verpachtung eines diesem vogtbaren Hofs zu Hilpertshausen 1752 (vgl. RKG 668).

Prozesse vor dem Reichskammergericht

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Das Besitzrecht der fränkischen Bauern bestand in der Regel im Erbzinslehen, das sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts durchgesetzt hatte.8 Der Lehenherr war häufig zugleich der Vogteiherr®, er übte die Niedergerichtsbarkeit über seine Lehenleute aus. Der Bauer besaß das Recht, das Erbzinslehen nach dem in Franken üblichen Realteilungsrecht zu vererben und mit Konsens des Lehenherrn auch zu verkaufen. Die Erbzinsgüter waren mit regelmäßigen Abgaben und Diensten sowie mit dem Handlohn belastet, die als Reallasten auf dem Gut hafteten. Die Abgaben bestanden in Zins und Gült, in der Regel Naturallieferungen an Feldfrüchten. Die Frondienste wurden, je nach Bedarf des Lehenherrn und nach Größe des Lehens, als Hand- oder Fuhrfronen abgeleistet. Sie waren meist „gemessen", also nach Quantität und Qualität festgelegt; auch bei „ ungemessenen " Fronen wurde zumindest die Art der Arbeit bestimmt. Die Fronleistungen waren in manchen Fällen auch in Geldzahlungen umgewandelt worden.10 Der Handlohn als unregelmäßige Abgabe mußte bei Besitzwechsel auf dem Gut durch den neuen Lehennehmer bezahlt werden. Er betrug zwischen 5 % und 10 % des Gutswertes, ohne Anrechnung des fahrenden Besitzes, des Viehs und des Saatgutes. Vereinzelt existierte in Franken, unter anderem im Hochstift Würzburg, als Personallast der Bauern bei Besitzwechseln das Besthaupt als Natural- oder das Hauptrecht als Geldabgabe1', die ihren Ursprung in ansonsten erloschenen mittelalterlichen Leibeigenschaftsverhältnissen oder in schutzherrlichen Übereinkommen zwischen Lehenherm und Bauern hatten.12 Im Untersuchungszeitraum glichen sich diese Abgaben in ihrer Höhe zunehmend an, auch das Besthaupt wurde vermehrt in Geld bezahlt. Abgaben und Dienste waren in den Lehen- bzw. den Kaufbriefen festgelegt, sie konnten auch seitens des Lehenherrn durch das örtliche Herkommen, die Observanz, nachgewiesen werden. Die Höhe und der Umfang der bäuerlichen Lasten variierte infolge der individuellen historischen Entwicklung der einzelnen Grundherrschaften oder Lehengüter, selbst innerhalb einer Grundherrschaft konnten verschieden hohe Leistungsverpflichtungen bestehen, die sich aus unterschiedlichen Besitzgeschichten entwickelt hatten.

8 Vgl. Hildegard WEISS, Das Agrarwesen vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. v. Max Spindler. Bd. ΠΙ/1. 2. Aufl. München 1979,

4 5 6 - 4 7 6 , h i e r 4 6 0 f. 9 Die Vogteiherrschaft als Form der Niedergerichtsbarkeit war in Franken ein AusfluB der Lehensherrschaft, sie galt für die räumliche Ausdehnung des Lehens; vgl. Johann Jodok BECK, Tractatus de Jure Emphyteutico. Von Erb-Zinnß-Recht. Nürnberg 1727, 100 ff. 10 Vgl. WEISS, Agrarwesen (wie Anm. 8), 464 f. Fronen wurden in der agrarreformerischen Publizistik der Zeit allgemein als Hindernis für den landwirtschaftlichen Fortschritt kritisiert, vgl.

TROSSBACH, B a u e r n ( w i e A n m . 2 ) , 4 8 f. 11 Vgl. Joseph Maria ScHNEIDT, Specimen quartum Juris Franconici seu potius Germanici sistens materiam de mortuario, vulgo: Von dem Sterbfall, Hauptrecht und Besthaupt. Würzburg 1769, zur Observanz im Hochstift Würzburg ebd., 50-52. 12

V g l . WEISS, A g r a r w e s e n ( w i e A n m . 8), 4 6 9 f.

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María Schimke und Manfred Horner

Ende Juni 1753 wandte sich Johann Heinrich Honnemann als der von Vinzenz v. Buseck, Kapitular zu Fulda und Propst zu Thulba13, eingesetzte Amtsvogt, wenig später auch die Gemeinde zu Thulba an die fürstliche Regierung zu Fulda, nachdem jener anläßlich der Erhöhung eines Mühlwehrs, das fortan auch der Wiesenbewässerung dienen sollte, Stein-, Schutt- und Holzfuhren verlangt, diese die beanspruchten Fuhrfronen verweigert hatte. Beide Seiten ersuchten darum, durch Auslegung eines Ende April 1658 ergangenen Dekrets des Stiftskapitels zu Fulda14 den Umfang der gemeindlichen Fronschuldigkeit festzustellen. Die Regierung verpflichtete die Gemeinde zu Thulba, wie andere gleichgestellte propsteiliche Gemeinden registermäßige außerordentliche Fronen zu leisten. Die Gemeinden zu Thulba, Frankenbrunn und Reith15 beriefen sich ans Reichskammergericht: Der Gegenseite stünden ausschließlich gemessene Felddienste sowie Baufronen hinsichtlich Kloster und Amtshaus zu; das stiftskapitlische Dekret sehe weitergehende Verpflichtungen allein dann vor, wenn in Notzeiten unaufschiebbare Baumaßnahmen anfielen; die geforderten Fuhrfronen ließen sich auf diese Weise nicht begründen; vorhandene Beweismittel, wonach Arbeiten außerhalb von Kloster und Amtshaus stets durch Tagelöhner verrichtet worden seien, habe die Regierung nicht angefordert; eine Ladung zur Urteilsverkündung sei nicht ergangen. Die Regierung bestritt dagegen die Zuständigkeit des Reichskammergerichts: Die drei Gemeinden seien zur Einbringung ihrer ordentlichen Klage nach Fulda zu verweisen. Weil die Propstei den drei Gemeinden vier Ochsen abpfänden ließ, die gemeinsame Beratschlagung untersagte, wegen Zuwiderhandlung ein Strafgeld von 100 Reichstalern verhängte, schließlich Wagen und Spannvieh wegnehmen, damit die bisher vergeblich verlangten Fuhrfronen verrichten ließ und zudem den angefallenen Tagelohn in Rechnung stellte, erging zugleich ein Mandat auf Abstellung dieser Attentate. Anfang März 1758 kam der Prozeß zum Stillstand. Mitte September 1770 ersuchten die drei Gemeinden um ein Mandatum arctius, weil die Gegenseite Bauholzfuhren in erheblichem Umfang verlangt, das gelieferte Holz aber teilweise zur Herstellung von Wiesenumzäunungen, Spalieren im Lustgarten, Wagenspeichen oder Kutschbäumen verwendet habe.

13

Vgl. RKG 580. RKG 580, Q 18. 15 Die 1753 bzw. 1772 ausgestellten Prozeßvollmachten (RKG 580, Q 25; RKG 13096, Q 3; RKG 13097, Q 4) weisen die Namen von 98 bzw. 73 Einwohnern Thulbas, jeweils 47 Einwohnern Frankenbrunns und 23 bzw. 25 Einwohnern Reiths auf. 14

Prozesse vor dem Reichskammergericht

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Mitte Mai 1769" sowie Anfang Oktober 1769'7 wandte sich die Gemeinde zu Thulba erneut an die Regierung, weil Propst Benedikt v. Zievel sie zum einen durch Strafandrohungen zwingen wollte, Glas aus Lohr abzuholen, während sie unter Berufung auf das in Wetzlar anhängige Verfahren auf ihre Observanz und Exemtion verwies, zum andern wegen ihrer Weigerung, unentgeltlich Eisen aus Kothen herbeizuschaffen, eine Geldstrafe von zehn Reichstalem über sie verhängt hatte. Der Propst betonte seinerseits, daß sich der erste Prozeß allein auf den damals strittigen Wehrbau beziehe, wogegen Glas- und Eisenfuhren zu den Baufronen gehörten. Anfang Juni 1770 entschied die Regierung, daß die Gemeinde zu Thulba die verlangten Glas- und Eisenfuhrfronen zu verrichten habe. Die drei Gemeinden wandten sich gegen beide Urteile ans Reichskammergericht, wo die Auslegung des stiftskapitlischen Rezesses von 1658 anhängig sei und wohin diese Angelegenheit hätte verwiesen werden müssen: Im Rahmen ihrer Fronschuldigkeit hätten sie stets nur Kalk-, Sand- und Steinfuhren zum Propsteibau geleistet, Glas- und Eisenfuhren seien immer bezahlt worden. In ihren Berichten gab die Regierung an: der Propstei stünden von den Gemeinden die gleichen Fronen zu wie den anderen fuldischen Propsteien von deren Vogteiuntertanen; Propsteiuntertanen aus Schönderling, Singenrain und Schondra hätten Glas- und Eisenfuhren stets ohne Widerspruch verrichtet; eine damit verbundene Entlohnung schließe eine Verpflichtung zur Fronleistung nicht aus; häufig sei die Lieferung auch durch die Glasermeister oder Kaufleute erfolgt, bei denen die Ware gekauft worden sei, so daß sich Fuhrfronen erübrigt hätten. Ende Oktober 1772 einigten sich beide Seiten, ihre Streitigkeiten unter Aufhebung aller andernorts anhängigen Prozesse und unter Verzicht auf weitere Rechtsmittel vor einer dazu niedergesetzten landesherrlichen Kommission auszutragen.18

Mitte Januar 1737 entschied die Juristenfakultät zu Altdorf auf die Weigerung der Gemeinde zu Unteraltertheim hin, die Felder des gräflich castellischen Hofguts zu Steinbach weiterhin durch Frondienste zu bestellen, den Anspruch der dortigen Gemeinde auf Zuziehung der Nachbargemeinde zu diesen Fronen in possessorio anzuerkennen, dieser aber den Nachweis ihrer Befreiung davon in petitorio vorzubehalten. Da die gemeindlichen Unterlagen bei der kriegsbedingten Verheerung des Ortes 1673 verbrannt waren, ersuchte die Gemeinde zu Unteraltertheim wiederholt

14

Vgl. RKG 13096. Vgl. RKG 13097. 18 Diese Verhandlungen schlossen auch die Streitigkeiten der Propstei Thulba mit den Gemeinden zu Seeshof und Untererthal über die dortige Schafhaltung ein. 17

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Maria Schimke und Manfred Horner

darum, ihr Einsicht in die einschlägigen Dokumente im gräflichen Archiv zu Remlingen zu gewähren. Der Remlinger Amtsverwalter Johann Martin Knauer gab diesem Begehren unter Berufung auf entsprechende Befehle nicht statt. Ende Mai 1756 erbat die Gemeinde" ein Mandat auf Vorlage der gewünschten Dokumente20, insbesondere des unter Graf Heinrich zu Castell angelegten Lagerbuchs von 1573. Nach erfolgter Einsichtnahme ersuchte sie Graf Christian Adolf Friedrich Gottlieb zu Castell-Remlingen, ihr künftig die Mitbefronung des Hofguts zu Steinbach oder aber die Zahlung der Frongelder zu erlassen: an die Stelle der von den Gemeinden zu Ober- und Unteraltertheim ursprünglich schuldigen ungemessenen Fronen seien schon laut Lagerbuch von 1573 Geldzahlungen getreten; nach Kauf des Dorfes Steinbach aus dem Besitz der Familie Hund v. Wenkheim habe die Gemeinde zu Unteraltertheim auf landesherrliches Ersuchen freiwillige Fronen zur Bewirtschaftung des miterworbenen Hofguts geleistet, da die dortige Gemeinde damals nicht zahlreich genug gewesen sei, um die erforderlichen Arbeiten allein zu verrichten; schließlich sei ihr die dauernde Mitbefronung des Hofguts auferlegt worden. Der Graf bestand auf der Beibehaltung der gültigen Observanz, er bot der Gemeinde lediglich an, gegen eine erhöhte Frongeldzahlung auf die Naturalfron zu verzichten. Ende Juni 1758 beantragte die Gemeinde zu Unteraltertheim ein Pönalmandat21: Die freiwillige Fronleistung verpflichte sie zu nichts, zumal die Gemeinde zu Steinbach die nötigen Fronen nunmehr allein erbringen könne; in Oberaltertheim bestünden die im Lagerbuch festgehaltenen Verhältnisse fort. Dieses Gesuch wurde auf Bericht und Gegenbericht hin Ende August 1761 abgeschlagen. Mitte September 1761 wurde die auf nachfolgend erbetene Ladung erkannt. Mitte 1762 ließ Graf August Franz Friedrich zu Castell-Remlingen seine Absicht mitteilen, die Angelegenheit gütlich beizulegen.

Die Gemeinde Bergrheinfeld erhob 1750 Klage vor der fürstbischöflichen Regierung zu Würzburg gegen die im gleichen Jahr erlassene Resolution des Juliusspitals zu Würzburg als ihrem Vogtei- und Lehenherm, welche nach Auffassung der Gemeinde neue und nicht herkömmliche, die Untertanen erheblich stärker belastende Bestim-

19 Die Prozeßvollmachten von 1756 (RKG 1579 Lit. A, vom 11. Oktober 1756) und 1762 (RKG 1339, Q 3) wurden von 84 bzw. 78 Gemeindeleuten unterzeichnet. 20 Vgl. RKG 1579. 21 Vgl. RKG 1339.

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mungen über Modus und Quantum der Besthaupterhebung enthielt.22 Im einzelnen werde darin statt der bisher im ganzen Ort auch von den anderen Lehenherren23 geübten Praxis, den Schätzwert vom besten Stück Vieh im Stall des Verstorbenen zu fordern, unter anderem die Schätzung des Gutswertes als Grundlage der Besthauptberechnung in Höhe von 5% des ermittelten Wertes festgesetzt und die Regelung getroffen, daß bei dem Besitz mehrerer Güter nicht nur, wie bisher, dasjenige, worin der Verstorbene gelebt habe, sondern alle seine liegenden Güter zur Schätzung herangezogen werden sollten.24 Die Gemeinde bat um Schutz in der alten Observanz, um den Ruin der Untertanen zu verhüten. Das Juliusspital wandte gegen diese Klage ein, daß in dem Ganerbenort Bergrheinfeld, in den sich das Juliusspital seit 1664 eingekauft habe, stets eine Besthauptzahlung in Höhe von 5 bis 20 Reichstalern üblich gewesen sei, und zwar gestaffelt nach dem Vermögen des Verstorbenen. Diese Praxis hätten die Untertanen selbst „aus Abgang nöthiger Urkunden" im Urbar bestätigt, woraus auch hervorgehe, daß es sich bei dem Besthaupt um eine Real- und nicht um eine Personallast handele, welch letztere nur das Wohnhaus des verstorbenen Hausvaters betreffe. Das Juliusspital müsse demnach in der Ausübung seiner wohlerwiesenen und hergebrachten Rechte geschützt werden. Das von der Gemeinde Bergrheinfeld beantragte Zeugenverhör wurde von der Regierung zu Würzburg nicht durchgeführt, nachdem das Juliusspital eingewendet hatte, daß die ganze Gemeinde gar nicht klageberechtigt sei, weil in ihr auch fremde Lehennehmer angesessen seien.25 Die Gemeinde Bergrheinfeld führte danach das Zeugenverhör vor einem Notar durch.26 Ihre Beschwerden wegen Besthaupterhebung durch das Juliusspital während des schwebenden Verfahrens wurden abgeschlagen.27 Am 11. Juli 1758 sprach die Regierung zu Würzburg das Urteil, daß die Klage der gesamten Gemeinde abzuweisen sei, daß es aber den Lehenbesitzern freistehe, vor der würzburgischen Regierung einzeln zu klagen. Dieses Urteil wurde dahingehend begründet, daß die Gemeinde als solche an ihrem Gemeinschaftsvermögen keinen Schaden leide, aus den gemeinsamen Einkünften nichts zu bezahlen sei und nur die einzelnen Lehenbesitzer von der Besthauptforderung betroffen seien. Ein Urteil könne demzufolge nicht auf die Gemeindeklage, sondern nur in Einzelfällen ergehen, so wie sich auch die Gemeinde in ihrer Klage stets nur auf die Zahlungen

22 Vgl. Friedrich MERZBACHER, Das Juliusspital in Würzburg. Bd. 2: Rechts- und Vermögensgeschichte. Würzburg 1979, 144. 23 Die Gemeinde nannte das Domkapitel Würzburg, den Deutschen Orden, das Stift Haug und das Kloster Bildhausen; RKG 697, Q 10. 24 Nach RKG 697, Q 16, 27. 25 RKG 697, Q 27, fol. 182. 26 Ebd., fol. 235 ff. 27 Ebd., fol. 133.

María Schimke und Manfred Hörner

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einzelner Lehenbesitzer berufen habe. Es sei nicht Sache der Gemeinde, sich einer an die Lehenbesitzer ergangenen Resolution anzunehmen. Die Gemeinde legte 1759 Appellation an das Reichskammergericht ein und brachte gegen das Urteil vor, daß das Juliusspital während des vorinstanzlichen Verfahrens ebenfalls die gesamte Gemeinde als Prozeßgegner betrachtet habe und daß die Resolution von 1750, die Anlaß für die Klage gewesen war, an die ganze Gemeinde gerichtet gewesen sei. Der Fall liege im Interesse der Gesamtgemeinde, den einzelnen Gemeindemitgliedern fehlten die Mittel, um gerichtlich gegen die reiche Stiftung vorzugehen.28 Das Juliusspital entgegnete, daß in Bergrheinfeld gemäß dem Ganerbenrecht das Besthaupt stets auf dem gesamten Vermögen gehaftet habe.29 Das Juliusspital habe seine Rechte 1664 gekauft, daher besäßen die Untertanen oft Lehen, welche von verschiedenen früheren Lehenherren stammten. Von allen Lehenanteilen werde proportional das Besthaupt erhoben, zur Verhütung von Irrtümern und Unterschleif sei das strittige Regulativ erlassen worden, welches demnach keine Neuerung enthalte, sondern sich an der alten Observanz orientiere. Die Gemeinde als solche besitze kein mit dem Sterbfall behaftetes Lehen und sei demnach nicht klageberechtigt, sie sei vom Juliusspital auch nie als Klägerin anerkannt worden. Die Gemeinde wandte ein, daß die Eigenschaft eines Ganerbenortes nicht bedeute, daß Besthaupt von allen Gütern des Verstorbenen erhoben werde, vielmehr das Besthaupt als Personallast ausdrücklich vom Handlohn als Reallast unterschieden sei, was auch aus den vorgelegten Urbarsextrakten hervorgehe. Die vom Beklagten vorgelegten Rechnungsauszüge bewiesen außerdem, daß als Besthaupt jeweils der Betrag erhoben worden sei, der etwa dem Wert der verschiedenen Gattungen Vieh, im Höchstfall dem eines Pferdes oder Ochsen entspreche. Bei den übrigen Lehenherren im Ort sei es ebenfalls üblich, das Besthaupt nur von dem Lehenanteil, auf welchem der Verstorbene gelebt habe, zu erheben.30

Ende November 1742 befahl das fürstbischöflich würzburgische Oberamt Homburg am Main auf Klage von Abt und Konvent des Benediktinerklosters Neustadt am Main31 die Entrichtung des von dessen lehenbaren Häusern und Feldgütern zu Marktheidenfeld ausständigen Handlohns. Schultheiß, Bürgermeister, Rat und

28

RKG 697, Q 10.

29

RKG 697, Q 23.

30

RKG 697, Q 25.

31

Vgl. RKG 817.

Prozesse vor dem Reichskammergericht

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Gemeinde wandten sich neben den betroffenen Bürgern32 an die fürstbischöfliche Regierung zu Würzburg, die Mitte Juni 1745 allerdings nur die Appellation der einzelnen Leheninhaber zuließ. Diese gestanden dem Kloster lediglich von den Feldgütern am Hinterberg den Handlohn zu: Das von der Gegenseite geltend gemachte fürstbischöfliche Kanzleiurteil von Mitte 1626 sei wohl unter Ausnutzung der damals zwischen dem Hochstift Würzburg und der Grafschaft Wertheim anhängigen Auseinandersetzungen zustande gekommen; zumindest habe das Kloster davon fast hundert Jahre keinen Gebrauch gemacht und auf den Handlohn verzichtet, obgleich Marktheidenfeld zwischenzeitlich vollständig an das Hochstift gelangt sei; die oberamtlichen Bescheide von Ende 1714 bis Ende 1734 seien womöglich ohne vorherige Anhörung der Lehenbesitzer ergangen. Mitte Oktober 1747 sprach die Regierung dem Kloster den Handlohn lediglich von den Lehengütern zu, über die schon im Juli 1626, Dezember 1714 und Dezember 1718 nachweislich entschieden worden sei, während den Inhabern aller anderen Lehengüter vorbehalten blieb, deren Befreiung vom Handlohn zu beweisen. Auf die Ende März 1751 folgende Aufforderung zur Beweisführung darüber, welche Lehen von diesen Urteilen betroffen seien, legte das Kloster Lehen- und Zinsbuchauszüge vor. Seinen Wunsch nach Herausgabe der in gegnerischem Besitz befindlichen Kaufbriefe schlug die Regierung Mitte Dezember 1753 ab. Ende Mai 1755 wurde dann den Lehenleuten auferlegt, den ihnen vorbehaltenen Exemtionsbeweis zu erbringen. Mitte Juli 1758 entschied die Regierung schließlich, daß diesem Urteil nicht Genüge getan sei und daß die bei dessen Verkündung Mitte Oktober 1755 durch das Oberamt persönlich anwesenden Lehenleute Handlohn zu entrichten hätten. Die Lehenleute appellierten ans Reichskammergericht: die Gegenseite habe ihre behauptete Handlohngerechtigkeit nicht hinreichend erwiesen; daher hätte den Leheninhabern angesichts der rund hundert Jahre genossenen Handlohnfreiheit nicht ihrerseits die Beweispflicht aufgebürdet werden dürfen. Das Kloster bezeichnete diese Gravamina als irrelevant. Die Appellation wurde mit Urteil vom 12. Februar 1763 abgewiesen. Am 20. Mai 1763 folgte ein Paritorialurteil. Die Regierung zu Würzburg wurde am 26. Oktober 1764 beauftragt, die Lehenleute zur Entrichtung des Handlohns von allen Lehengütern anzuhalten, nachfolgend aber vom Kloster der Parteilichkeit beschuldigt, weil sie die Lehenleute nicht zur Mitwirkung am Liquidationsverfahren zwang: Der Lehenherrschaft seien nämlich eingetretene Veränderungsfälle vom Jahre 1726 an nicht mehr angezeigt worden; sie allein sei daher nicht in der Lage, alle Leheninhaber und die Höhe des jeweils ausständigen Handlohns 32 ProzeBvollmachten aus den Jahren 1742 und 17S2 enthalten die Namen von 132 bzw. 189 Personen (Beilagen zu Nr. 3 und Nr. 52 des Vorakts, RKG 817, Q 25). Unter den betroffenen Einwohnern fanden sich neben Bauern auch Handwerker, femer Fischer und Schiffer.

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Mans Schimke und Manfred Homer

ausfindig zu machen. Vom 7. Februar 1766 bis zum 17. Juli 1767 ergingen vier Paritorialurteile, während die Anträge des Klosters auf Übertragung der Exekution auf den Kurfürsten Emmerich Joseph von Mainz sowie auf Erteilung eines Mandatum arctius abgewiesen wurden. Die erstinstanzlich nicht belangten und gehörten Lehenbesitzer kündigten schließlich ein Restitutionsgesuch an. Offenbar kam es 1768 zu einem Vergleich.33 Hans Adam Röthlein34 überließ seinem Schwiegersohn Caspar Weis 1748 Teile seiner demselben Kloster hauptrechtpflichtigen Lehen zu Retzbach als Heimsteuer. Nach seinem Tod 1752 verlangte die Lehenherrschaft von der Witwe Barbara Röthlein vergeblich das Hauptrecht35 von allen hinterlassenen Lehenstücken. Das fürstbischöflich würzburgische Oberamt zu Karlstadt erlegte ihr Mitte April 1758 auf, das Hauptrecht von den lehenbaren Gütern zu entrichten, und entschied Mitte Juni 1758, daß dazu auch die als Heiratsgut abgetretenen Güter gehörten. Die Witwe wandte sich an die fürstbischöfliche Regierung zu Würzburg: Die fraglichen Güter seien beim Tod ihres Ehemannes nicht mehr in dessen Besitz gewesen; von Heimsteuergütern werde jedoch üblicherweise kein Hauptrecht gegeben. Mitte April 1760 erging ein Urteil, wonach sich das Hauptrecht nicht auf die Heimsteuergüter erstrecke.36 Abt und Konvent des Klosters Neustadt machten vor dem Reichskammergericht geltend, daß das Hauptrecht an den Gütern hafte, die Heimsteuer bei Erbteilungen berücksichtigt werde und das Urteil die Ungleichbehandlung der verheirateten und der noch im elterlichen Haushalt lebenden Kinder zur Folge habe: es könne ihren Rechten nicht abträglich sein, daß ein Konventuale den Schwiegersohn gegen Zahlung des - mittlerweile zurückerstatteten - Einschreibgeldes als Lehenmann eingetragen habe. Die Witwe betont, daß das Kloster die behauptete Observanz als dem gemeinen Recht zuwiderlaufend hätte beweisen müssen. Die Gemeinde Osthausen37 beantragte am 21. Juli 1766 ein Mandat38 gegen ihren Vogteiherrn Friedrich Carl Freiherrn Zobel v. Giebelstadt zu Darstadt und Messelhausen zur Abwehr von nicht herkömmlichen Frondiensten und zur Rückgabe von

33 Aus dem Jahr 1768 existiert ein „Neustadter Handlohn-Vergleichs-Protokoll"; vgl. Leonhard SCHERO, 1683-1983. Fischer und Schiffer in Marktheidenfeld. (Veröffentlichung des Historischen Vereins Marktheidenfeld und Umgebung e. V., Nr. 7.) Marktheidenfeld 1983, 34. 34 Vgl. RKG 9093. 35 Als Hauptrecht wurde ein Zwanzigstel des gesamten liegenden und beweglichen Vermögens abzüglich der Schulden verlangt. 36 Schneidt, Sterbfall (wie Anm. 11), 51, äußerte sich später dahin, daB auch die Legitima der Kinder und die Heimsteuer dem Hauptrecht unterlägen. 37 Die Vollmacht der Gemeinde (RKG 9908, Q 1) wurde von Bürgermeister Georg Herr und sieben weiteren Gemeindebauern unterzeichnet. 38 RKG 9908, Q 3.

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abgepfändetem Vieh. Nach Darstellung der Gemeinde habe sich der Freiherr nicht an ihre bisher üblich gewesenen Fronverpflichtungen gehalten, welche in Fronen für 30 Morgen Ackerland zu Goßmannsdorf - seit langem umgewandelt in eine Getreideabgabe - und in einer Sand- und Weinfuhre jährlich nach Messelhausen bestünden. Plötzlich habe der Beklagte Naturalfronen von 1018 Arbeitsstunden über die bisher übliche Belastung hinaus verlangt, der Protest der Gemeinde habe eine Geldstrafe zur Folge gehabt, und der herrschaftliche Verwalter zu Darstadt habe Beweise für die angebliche Fronfreiheit gefordert. Eine Befragung des Schultheißen und der Gemeinde vor dem Verwalteramt zu Darstadt habe deren einhellige Erklärung gebracht, daß weder sie noch ihre Voreltern je mit ungemessenen Fronen belastet gewesen und auch in den Dorf- und Feldbüchern keine derartigen Verpflichtungen vermerkt seien. Trotz der Proteste sei die Exekution der Strafgelder durchgeführt und zugleich festgestellt worden, daß die Gemeinde Osthausen künftig zu ungemessenen Fronen verpflichtet sei. Dagegen wendete der Beklagte in seinem Bericht39 ein, daß die Bauern der Gemeinde Osthausen schon immer ungemessen fronpflichtig gewesen und lediglich in den letzten Jahren geschont worden seien. Ein Teil ihrer Verpflichtungen sei wegen zu weiter Entfernung in eine Geldabgabe umgewandelt worden, und einige Fronverpflichtungen seien nach einem Regulativ von 1717 abwechselnd mit den Darstädter Bauern zu leisten. Als Beweise führte der Beklage auch die Aussage der klagenden Bauern selbst an, welchen er in seiner Kanzlei alle seine Fronrechte bekräftigenden Dokumente vorgelegt habe, worauf diese ihre unrechtmäßige Verweigerung der Frondienste eingestanden hätten. Die Bauern entgegneten, daß die angeführten ungemessenen Fronen nur aus Gefälligkeit geleistet worden seien und daß das Zeugenverhör, auf welches sich der Freiherr v. Zobel berufe, unter Drohungen und Einschüchterungen zustande gekommen sei, so daß sich nur drei Bauern getraut hätten, weiterhin auf der Verpflichtung zu gemessenen Fronen zu bestehen. Das Verhörsprotokoll sei zum Nachteil der Bauern nicht vollständig und enthalte auch Aussagen unglaubwürdiger Zeugen.40 Darauf erging am 17. März 1767 ein Mandat, das Zobel gebot, keine unherkömmlichen Fronen zu verlangen, das abgepfändete Vieh zurückzugeben, keine eigenmächtigen Exekutionen mehr durchzuführen und stattdessen den Rechtsweg zu beschreiten. Ferner habe er Dokumente wie Fronvertrag und Kaufbriefe als Beweismittel herauszugeben.41 Zobel betonte, daß Hauptmann, Räte und Ausschuß des 39 RKG 9908, Q 13. Dieser Bericht wurde 1766 auf die erste Eingabe der Gemeinde hin verfaßt, aber erst am 6. Juli 1767 vor dem RKG vorgelegt. 40 RKG 9908, Q 14, Beilagen Q 17, 18. 41 RKG 9908, Q 24.

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María Schimke und Manfred Horner

Ritterkantons Odenwald anders als in den übrigen fränkischen Ritterorten nicht als erste Instanz tätig würden42, daß ihm deshalb erlaubt sei, zur Durchsetzung seiner hergebrachten Rechte zu Zwangsmaßnahmen zu greifen43. Die ganze Angelegenheit gehe auf die Renitenz eines einzigen Bauern zurück, vorher seien nie Fronverweigerungen vorgekommen. Nach weiteren detaillierten Stellungnahmen der Parteien zu der Klage erging am 16. Februar 1776 das Urteil des Reichskammergerichts, daß das ergangene Mandat aufgehoben werde und die Kläger die Gerichtskosten zu tragen hätten. Am 20. Juli 1767 brachten auch Johann Eduard Körner, fürstbischöflich würzburgischer Hofkriegsrat und Hofkammerrat, Heinrich Joseph Englert, Hofkammerrat, und Johann Joseph Wunderack, Hofsattler, als Hofbesitzer zu Darstadt die Bitte um ein Mandat gegen Zobel ein44, weil ihre durch Bestandsbauern bewirtschafteten Darstädter Höfe mit übermäßiger Fron belastet würden. Unter seinem Vater hätten die Darstädter Bauern nur „Bittfuhren" leisten müssen, welche sie in ihren eigenen Feldarbeiten nicht wesentlich behindert hätten, wogegen seit 1761 die Bauern zu ungewöhnlicher Zeit von ihrer Feldarbeit geholt würden, um Fronfuhren zu erledigen, wodurch bereits fünf Bauern zugrunde gerichtet worden seien. Der Anlaß des Streites sei die Forderung des Freiherrn gewesen, zusätzlich zu den im laufenden Jahr bereits geleisteten „etlich und zwanzig" Fronfuhren „alle im Hoff liegende Besserung auf die herrschaftlichen Felder zu führen", was wenigstens acht Tage gedauert und die Bebauung ihrer eigenen Felder verhindert hätte. Auf ihren Befehl hätten sich die Bestandsbauem diesen Forderungen widersetzt, worauf erst die Kläger, dann ihre Bauern vor den Verwalter zitiert, beschimpft und bedroht45, die Bauern 24 Stunden in den Turm gesperrt worden seien. Die Bestandsbauern seien weiterhin mit Veijagung aus dem Ort bedroht, mit insgesamt 23 fl. Geldstrafe belegt und durch Wegnahme von Möbelstücken ausgepfändet worden.46 Überdies würden die Bauern des Ortes vom herrschaftlichen Jäger wegen der Jagdfronen47 regelmäßig schikaniert. Diese Bedrückungen durch den Freiherrn v. Zobel seien kein Einzelfall,

42 Deshalb wurden auch die beiden Klagen gegen Zobel unmittelbar am Reichskammergericht erhoben. 43 Diese Ansicht stützte sich auf Artikel XV § 8 der Wahlkapitulation von Kaiser Franz I., die eine derartige Befugnis auch der Ritterschaft einräumte; vgl. Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede. Frankfurt am Main 1747, Tl. IV, Zugabe, 20. 44 RKG 7800, Q 3. 45 RKG 7800, Q 12. 46 RKG 7800, Q 3, 10, 12. 47 Jagdfronen waren Ausfluß der Vogteiherrschaft; vgl. Johann Jodok BECK, Tractatus de Jurisdictione Vogtejica immediata. Von der ohnmittelbahren Vogteylichen Obrigkeit, Wie Solche heuntiges Tages in Francken, Schwaben, und andern ungeschlossenen Reichs-Landen, von denen ImmediatVogtey-Herren über ihre Vogteyliche Unterthanen exercirt zu werden pflegt. Nürnberg 1738, 421.

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wie die von den Osthausener Bauern im vorigen Jahr eingebrachte Klage und das gegen den Freiherm erwirkte Mandat zeige. Zobel berief sich in seinem Bericht48 auf seine in dem Prozeß gegen die Bauern von Osthausen gemachten Aussagen, weil die Fronverpflichtungen in den beiden Orten gleich seien. In den Kaufbriefen der drei Kläger sei die Fronverpflichtung gemäß den Lagerbüchern festgelegt, die Rechnungen für Fronhafer belegten, daß die Bestandsbauern der Kläger ihre herkömmliche Fronpflicht auch abgeleistet hätten. Die von den Klägern behauptete übermäßige Fronbelastung sei übertrieben: In den vergangenen 26 Monaten seien insgesamt 73 Frontage geleistet worden. Die Weigerung der Bauern, die Besserungsfronfuhren durchzuführen, sei ohne vorherige Beschwerde erfolgt, so daß ihnen die Arbeitskosten berechnet und zur Wahrung der herrschaftlichen Autorität auch exekutiert worden seien. Die Jagdfronen seien allgemein üblich und beträfen alle zur Durchführung der Jagd nötigen Arbeiten. Die Forderung der Kläger, die Lagerbücher im Original vorzulegen, sei eine „übermäßige und widerrechtliche Zumuthung", welche die Rechte der Stände „eines Jeden Bauern Critic" aussetzen würden. Es sei deshalb „eine offenbahre Curiosität..., auf das Herkommen der herrschaftlichen Frohnd-Gerechtsamen inspiciendo documenta inquiriren zu wollen, welches sie per propriam confessionem et actus supra recensitos novissimos schon vest gestellet haben." Zobel berief sich auch auf das Zeugenverhör, welches anläßlich des Prozesses gegen die Osthausener Bauern vorgenommen worden war und worin die Darstädter Bauern ebenfalls ungemessene Fronverpflichtungen zugegeben hätten. Keine Herrschaft sei im übrigen verpflichtet, den Ursprung ihrer Herrschaftsrechte zu beweisen. Die Kläger antworteten hierauf, daß in ihren Kaufbriefen und in den von Zobel vorgelegten Beweisstücken ungemessene Fronen nicht erwähnt würden. Es werde in diesem Prozeß nicht um „leydentlich ordentlich und hergebrachten Frohnen" gestritten: „Man disputiret dem Frhrn. von Zobel nicht, wozu er proposita iustitia befugt seyn kann. Ein anderes aber sind ungemessene und über dies höchst übertriebene Frohnen."49 Das Reichskammergericht erkannte auf diese Äußerungen von beiden Seiten hin nicht auf das von den Klägern beantragte Mandat, sondern auf eine Citatio, welche am 12. März 1768 erging. Gleichzeitig wurden die Kläger zur Weiterleistung der herkömmlichen Fronen und Zobel zur Einhaltung der Observanz, Unterlassung von Strafmaßnahmen und Vorlage der von den Klägern verlangten Dokumente wie

48 49

RKG 7800, Q 13. RKG 7800, Q 20.

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Lagerbücher und Urbarien verpflichtet.50 Zobel erwiderte in seiner Exzeptionsschrift51 auf die Ausführungen der Kläger, daß gerade die nicht spezifizierte Erwähnung der Fronen in den Kaufbriefen die ungemessene Fron bedeute, da ansonsten die zu leistenden Dienste genau bezeichnet werden müßten. Die jahrelange widerspruchslose Fronleistung der Kläger spreche für die Observanz und damit für seine Rechte.

Freiherr Philipp Christoph Dietrich v. Thüngen kam am 23. Juni 1777 vor dem Reichskammergericht um ein Mandat gegen seine Untertanen zu Zeitlofs und Trübenbronn ein, insbesondere gegen Burkhard Keßler. Seine dortigen Untertanen, neun Freibauern, wollten sich der Burg- und Baufron entziehen, „aus dem albernen Principio, weil sie eine gemessene Fron hätten".52 Die ex iure territorio fließenden Burg- und Baufronen seien seit mehr als 150 Jahren in festem Besitz der Herrschaft. Er habe bereits 1775 vor dem Reichskammergericht ein Mandat, eine provisorische Sentenz und ein Exekutionsurteil gegen die Untertanen zur Erbringung der schuldigen Fronleistungen erwirkt, das am 10. Januar 1777 gegen die drei Bauern Burkhard Keßler, Conrad Leipold und Georg Weiprecht vollstreckt worden sei53, welche es allein „auf diese Extremität ankommen lassen" hätten und denen deshalb die Kosten in Höhe von 141 Reichstalern auferlegt worden seien. Keßler, der „Keckmüthigste" von allen, habe die anderen Bauern aufgehetzt und Weiprecht und die Witwe Leipolds dazu gebracht, ihm ihre Erbbriefe auszuhändigen, mit welchen er vor den markgräflichen Lehenhof zu Ansbach gegangen sei und dort in seinem und - ohne Vollmacht - in ihrem Namen eine Klage gegen ihn, Thüngen, angebracht habe. In dieser Klage gebe Keßler den Streitgegenstand des Verfahrens vor dem Reichskammergericht fälschlich mit „übermäßigen Fronen" an, berufe sich auf das Urteil des Ritterkantons Rhön-Werra von 1736 und behaupte, daß die in Wirklichkeit vom Reichskammergericht verhängte Exekution von Thüngen angeordnet worden sei. Durch diese falsche Darstellung habe Keßler ein lehenherrliches Dekret gegen ihn vom 5. April 1777 erwirkt. Er erkenne dieses Forum nach der fränkischen Ritterordnung nicht an und habe sich in seinem Remonstrationsschreiben an den Lehenhof auf den anhängigen Reichskammergerichtsprozeß berufen.

50

RKG 7800, Q 2, 19. RKG 7800, Q 51. 52 RKG 2254, Q 3. 53 Die Exekution wurde auf den Ritterkanton Rhön-Werra ausgesprochen, vor welchem die Untertanen 1736 gegen ungemessene Fronen geklagt und recht bekommen hatten (vgl. RKG 2254, Q 5). 51

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Das Reichskammergericht erließ am 14. Juli 1777 ein Mandat gegen die Untertanen, insbesondere gegen Keßler, sich nicht an den Lehenhof zu wenden und das Verfahren vor dem Gericht, vor dem es begonnen worden sei, zu beenden.54 Dem Mandat folgte im September 1777 eine Paritionsanzeige55, dem Antrag des klägerischen Anwalts auf ein verschärftes Mandat und eine Strafe wurde vom Reichskammergericht nicht stattgegeben.

Das Zisterzienserkloster Bildhausen56 hatte Anfang Dezember 1734 und Mitte Februar 1735 beim fürstbischöflich würzburgischen Oberamt zu Neustadt an der Saale Urteile erwirkt, wonach seine Lehenuntertanen zu Strahlungen auch von den bei Tauschabsprachen und Erbteilungen ausgezahlten Geldern den Handlohn zu entrichten hätten. Unter Berufung darauf kam das Kloster Mitte März 1773 wegen neuerlicher Handlohnverweigerung beim Amtsverweser Philipp Ignaz Kaufmann zu Neustadt ein, der den Schultheiß zu Strahlungen anwies, für die Erlegung der ausstehenden Gelder zu sorgen. Auf die Provokation von Schultheiß, Vorsteher und Gemeinde57 hin verpflichtete die fürstbischöfliche Regierung zu Würzburg das Kloster Ende August 1775, im einzelnen nachzuweisen, wer die durch die Urteile vom Winter 1734/35 betroffenen Güter augenblicklich innehabe. Abt Edmund, Prior und Konvent des Klosters wandten sich dagegen ans Reichskammergericht: Das Urteil vom Februar 1735 habe allen ihnen mit Zins und Handlohn verhafteten Güter zu Strahlungen gegolten, die Zahlung sei seither auch bei Tausch- und Erbschaftsfällen geleistet worden, der ihnen auferlegte Nachweis sei daher überflüssig. Die Lehenleute verwiesen ihrerseits auf verschiedene im Verlauf der tumultuarischen Verhandlungen vom Winter 1734/35 vorgefallene Verfahrensfehler sowie auf das Fehlen der betreffenden Originalprotokolle in der Neustädter Amtsregistratur, weshalb die damaligen Bescheide nichtig seien.

Nikolaus Alexander Hammer wandte sich in seiner Eigenschaft als Verwalter des fürstbischöflich würzburgischen Amtes Aub 1769 um Rechtshilfe an das freiherrlich huttische Amt Frankenberg, um den Besitzer eines dem Amt Aub zinsbaren Lehen-

54

RKG 2254, Q 2. RKG 2254, Q 6. 56 Vgl. RKG 2422. 57 Der Vorakt (RKG 2422, Q 19) enthält eine Liste (Beilage zu Nr. 17) mit den Namen der 49 Lehenleute, die sich am Prozeß beteiligten. 55

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hofes, Georg Fischer, zur Zahlung des Kaufhandlohns anzuhalten.58 Dieser Hof lag im Ort Geckenheim, der den Freiherren v. Hutten gerichtsuntertänig war und in welchem das Amt Aub mehrere Zinslehen besaß. Alle diese Lehen hatten ursprünglich dem Kloster Kitzingen gehört, ihre Abgaben waren aber wegen zu großer Entfernung nach Kitzingen 1686 dem Amt Aub zugewiesen worden. 1761 habe Fischer seinen Hof gekauft, die Zahlung des fälligen Kaufhandlohns in Höhe von 5 % des Kaufpreises sei nachsichtigerweise auf den nächsten Gültzahlungstermin verschoben worden. Der Beklagte habe sich aber geweigert, den Handlohn zu bezahlen. Das Amt Frankenberg befragte 1769 die Geckenheimer Lehenleute über die Handlohnpflichtigkeit gegenüber dem Amt Aub.59 Fischer erklärte, daß er 1761 den Hof um 5350 fl. mit der ausdrücklichen Erklärung des Vorbesitzers gekauft habe, daß der Hof handlohnfrei sei. Auch in seinem Kaufbrief sei von Handlohn nicht die Rede. Das Amt Aub habe den Handlohn erst mehrere Jahre nach dem erfolgten Kauf gefordert.60 Niemand im Ort könne sich erinnern, daß von seinem Hof jemals Handlohn bezahlt worden sei, im Gegenteil sei es amtsbekannt, daß von keinem zu geistlichen Stiftern und Pfarreien lehenbaren Gut zu Geckenheim Handlohn gegeben werde. Auch bei der erst kürzlich vorgenommenen Messung61 sei keine Handlohnpflichtigkeit des Hofes gemeldet worden. Die übrigen Lehenleute schlossen sich dieser Aussage an. Die huttische Amtsverwaltung forderte darauf das Amt Aub auf, seine Handlohnansprüche zu beweisen. Dieser Aufforderung kam der Verwalter Hammer nicht nach, sie wurde deshalb 1773 mit einer Fristsetzung wiederholt, worauf der Kläger als Beweismittel Rechnungen vorlegte. Am 17. März 1774 entschied schließlich der Freiherr v. Hutten persönlich auf die Übersendung der Akten an die Juristenfakultät der Universität Altdorf. Deren Gutachten, das vom Amt Frankenberg am 11. April 1776 als Urteil übernommen wurde62, betrachtete die Handlohnberechtigung des Amtes Aub als nicht erwiesen, weil dieses mit seinen Rechnungen nur zwei solcher Fälle für 1592 und 1690 habe nachweisen können, zur Wahrung seiner Ansprüche aber bei jedem Veränderungsfall Handlohn hätte fordern müssen. Die vom Verwalter abgegebene Begründung, daß ihm viele Veränderungsfälle gar nicht bekannt geworden seien, verdiene keinen Glauben, weil ja jährliche Gültablieferungen stattgefunden hätten.

58

RKG 2395, Q 23. RKG 2395, Q 41. 60 Nach BECK, De Jure Emphyteutico (wie Anm. 9), 229, galt das Handlohnrecht erst dann als verjährt, wenn der Lehenherr die Zinszahlungen eines neuen Lehenmannes 30 Jahre lang ohne Handlohnfordemng entgegengenommen hatte. 61 Vermutlich Schätzung. 62 RKG 2395, Q 9. 59

Prozesse vor dem Reichskammergericht

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Hammer legte 1777 vor dem Reichskammergericht Appellation ein. Der Verwalter des Amtes Aub führte gegen das erstinstanzliche Urteil aus, daß die von ihm vorgelegten Rechnungen durch die in ihnen enthaltene Rubrik „Handlohn" bereits die Existenz des Handlohnrechts bewiesen, daß die Darstellung der mitbeklagten Lehenleute über handlohnfreie Übernahme ihrer Höfe falsch sei, weil diese schon aufgrund der widerspruchslos gezahlten Zinsen ihre Handlohnpflicht hätten kennen müssen, die eine Folge der Zinspflichtigkeit sei. Fischers Behauptung, daß in seinem Kaufbrief kein Handlohn verzeichnet stehe, sei rechtlich unerheblich, weil der Kaufbrief zwischen Käufer und Verkäufer abgeschlossen und der Lehenherrschaft nicht vorgelegt worden sei. Schließlich sei bei allen vorher stattgefundenen Güterabtretungen unter Eltern und Kindern wegen Vererbung kein Handlohn fällig gewesen. Die Appellaten wandten ein, daß das Reichskammergericht nicht das zuständige Gericht sei, der Amtsverwalter von Aub hätte sich gemäß dem Reichsabschied von 1654 in nächster Instanz an den Freiherm v. Hutten als Gerichtsherrn wenden müssen. Die Argumentation des Klägers zum streitigen Handlohn wurde zurückgewiesen: Lediglich zwei Besitzvorgänger Fischers hätten zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus Unkenntnis und ohne urkundliche Verpflichtung Handlohn bezahlt, was nach über hundert Jahren die Gutsnachfolger rechtlich nicht binden könne. Ebenso widersprächen sich ein von den Beklagten vorgelegter Kaufbrief, worin kein Handlohn verzeichnet sei, und die Zinsbücher des Amtes Aub, die für denselben Verkauf Handlohnzahlung vermerkten. Die Behauptung des Verwalters Hammer, daß die Erbzinszahlung, insbesondere die Zahlung einer Henne, die Handlohnpflichtigkeit impliziere, zeige, daß der Kläger keine Besitzrechte nachweisen könne, sondern einen petitorischen Beweis nach längst überholten Sprichwörtern63 anzustreben gezwungen sei. Erblehen, Zinslehen und Erbzinslehen entrichteten aber nach fränkischem und deutschem Recht überhaupt keinen Handlohn. Schließlich habe das Amt Aub regelmäßig die jährlichen Zinszahlungen entgegengenommen, ohne Handlohnforderungen zu erwähnen.

Christoph Veit Philipp Freiherr Fuchs v. Bimbach und Dornheim64, fürstbischöflich würzburgischer Geheimer Rat und Oberamtmann zu Lauda, wies seine Untertanen

63 Die Unmafigeblichkeit solcher Sprichwörter für den Beweis der Handlohnschuldigkeit führte auch Heinrich Arnold LANGE, Anmerkungen und Berichtigungen zu weyl. Herrn Job. Jodoci Beck rechtlichen Abhandlung von Nachsteuer und Handlohn (de Gabella et Laudemio) nebst einem Anhang vom HandroBhandlohn. Bayreuth 1781, 328 f., an. 64 Vgl. RKG 2492.

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zu Bimbach und Brünnau im Herbst 1773 an, künftig wieder ungemessene Fronen zu leisten. Die Untertanen wandten sich nach erfolglosen Protesten wegen herkommenswidriger Beschwerung an Hauptmann, Räte und Ausschuß des Ritterkantons Steigerwald: Die beiden Gemeinden und Christoph Ernst Graf Fuchs v. Bimbach hätten 1706 einen ewigen Vergleich über die Umwandlung der Fronen in ein Frongeld geschlossen; dieses richte sich nach der Größe der Güter, sei daher eine Real- und keine Personallast; die abgelösten Fronen könnten somit nicht ungemessen gewesen sein. Fuchs brachte vor: Der Graf habe nicht in Bimbach gewohnt und seine dortigen Güter weitgehend verpachtet; deshalb habe er seinen Untertanen 1704 bis auf Widerruf erlaubt, fortan statt ungemessener Fuhr- und Handfronen eine Frongeldzahlung zu leisten; in den Jahren 1706 bis 1773 sei eine entsprechende Abgabe entrichtet worden; seine Niederlassung in Bimbach mache nun wieder Fronen erforderlich; die Gemeinden hätten bereits widerspruchslos Steinfuhren unternommen; nur einige unruhige Untertanen stünden hinter der Klage65. Unter Berufung auf einen alten Rechnungsextrakt äußerten die Bauern schließlich den Verdacht, daß ursprünglich keine Fron, sondern vertragliche Lohnarbeit geleistet worden sei. Der Ritterkanton verfügte zunächst die Abstellung von Neuerungen und die Herausgabe von Strafgeldern. Anfang Februar 1777 wurden die Untertanen auf ein Votum der Juristenfakultät zu Erfurt hin im Besitz der Freiheit von ungemessenen Fronen bestätigt, solange Fuchs nicht beweise, daß solche früher geleistet und lediglich widerruflich in eine Geldzahlung umgewandelt worden seien. Der Freiherr wandte sich an das Reichskammergericht. Er hielt den Besitz der ungemessenen Fronen nach Vorlage von Lehenbuch-, Fronregister- und Amtsrechnungsauszügen für erwiesen: Die Bauern müßten ihrerseits belegen, daß die Umwandlung dauerhaft erfolgt sei.

1771 reichten die sechs Kinder des Theophilus Heinrich Röder, gräflich castellrüdenhausischer Schultheiß zu Rödelsee, eine Klagschrift vor Hauptmann, Räten und Ausschuß des Ritterkantons Steigerwald ein66 mit der Beschwerde, daß Ernst Ludwig Sebastian Freiherr ν. Crailsheim zu Rügland, Ritterhauptmann des Kantons Altmühl, als einziger der Lehenherren67, von welchen sie Lehenstücke in Fröhstockheim und

65 Die ProzeBvolImacht wurde von 19 Brünnauer und 14 Bimbacher Gemeindeleuten unterschrieben (RKG 2492, Q 18). Damit dürfte in Brünnau mehr, in Bimbach weniger als die Hälfte der Gemeindemitglieder hinter der Klage gestanden haben. 66 Nach dem Vorakt, RKG 1906, Q 19. 67 Es handelte sich bei den weiteren Lehenherren um das Hochstift Würzburg, den Grafen v. Castell-Rüdenhausen, das Kloster Ebrach und die Gotteshäuser Mainbernheim, Rödelsee und Fröhstockheim.

Prozesse vor dem Reichskammergericht

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Rödelsee besäßen, wegen der Teilung der väterlichen Güter unter den Kindern einen Erbhandlohn verlangt und sein Verwalter sie deshalb mit Wegnahme des auf den Feldern stehenden Heus und Grummets bedroht habe. Crailsheim antwortete trotz mehrmaliger Aufforderungen erst 1773 auf die Klage: Seine Forderung richte sich nicht auf Erb-, sondern auf den in Franken durchgängig hergebrachten Bestehhandlohn, deshalb sei den röderischen Kindern auch jeweils das ihnen zustehende Sechstel des Erbes handlohnfrei gelassen worden, nur von demjenigen Teil der Erbmasse, welche einige Kinder über ihren Anteil hinaus von ihren Geschwistern erkauft oder ertauscht hätten, sei Bestehhandlohn gefordert worden, der durch Observanz, Amtsrechnungen und die Anerkennung durch Abschlagszahlung zweier Kinder selbst als sein Besitz erwiesen sei. Der Beweis der Exemtion von dieser Handlohnpflichtigkeit müsse von den Klägern geführt werden. Die Kläger antworteten dem Freiherrn, daß die Beweislast auf seiner Seite liege und im Zweifel die Annahme für die Freiheit vom Handlohn streite. Die behauptete Observanz existiere nicht, wie Verwalter umliegender Ämter bestätigten, es sei in der Gegend lediglich Kauf- und Tauschhandlohn üblich. Die Termini Erb- und Bestehhandlohn seien rechtlich nicht unterschieden, würden auch in den vorgelegten Rechnungen, deren Beweiskraft bestritten wurde, abwechselnd gebraucht, der Terminus „Bestehhandlohn" sei ansonsten sowohl in der Gegend als auch in der Rechtsliteratur unbekannt. Die angeführten Abschlagszahlungen zweier Kinder seien ohne Wissen des Vaters und auf „ungestümes Drängen" des crailsheimischen Verwalters auf Lehengebühren geschehen, und bedeuteten keine Anerkennung einer Handlohnschuldigkeit. Crailsheim bestritt zum einen die Beweislast für den Handlohn, weil es sich um eine aus dem Obereigentum fließende Abgabe handle, und zum andern die Beweiskraft der vorgelegten Atteste, weil den attestierenden Verwaltern die genauen Umstände nicht bekannt gewesen seien und in jedem Amt eine eigene Observanz herrsche. Da unter den Geschwistern nicht die übliche Erbteilung, sondern Tausch und Kauf von Erbstücken erfolgt sei, handle es sich um Kauf- und Tauschhandlohn, nicht um Erbhandlohn. 1775 erfolgte ein Gutachten der Juristenfakultät der Universität Erfurt, das Crailsheim die Beweislast für seine Forderungen auferlegte, worauf dieser seine Originalrechnungen zur Einsicht gab. 1779 wurde vom Ritterkanton Steigerwald nach einem weiteren Gutachten der Juristenfakultät Erlangen das Urteil gesprochen, das die durch Crailsheim erhobenen Forderungen als nicht erwiesen bezeichnete, weil zwar eine Kauf- und Tauschaktion unter Geschwistern, jedoch kein Besitzerwechsel im strengen Sinn stattgefunden habe. Jeder Erbe sei Mitbesitzer des ganzen

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Erbes und eine Erbteilung deshalb nicht willkürlich, sondern notwendig.68 Die Handlohnberechtigung müsse in einem solchen, vom gemeinen Recht abweichenden Fall nicht analog, sondern für den betreffenden Ort speziell nachgewiesen werden. Crailsheim betonte bei seiner im September 1780 eingelegten Appellation an das Reichskammergericht, daß die Klage der röderischen Kinder erst längere Zeit nach Leistung der Abschlagszahlung „und durch unruhige Köpfe angeheizet" erfolgt sei. Das Urteil der Vorinstanz beruhe auf falschen Voraussetzungen und auf diesen Fall nicht anwendbaren Rechtsgrundsätzen.6' Da die fragliche Güterteilung bei Lebzeiten des Vaters erfolgt sei, handle es sich nicht um einen gewöhnlichen Erbfall, sondern um die handlohnpflichtige Investitur neuer Vasallen durch ihn als Lehenherm, dazu hätte ein Besitzerwechsel durch Verkäufe der Geschwister untereinander stattgefunden. Die Präsumption streite für den Oberherrn. Die röderischen Kinder wandten ein, daß Crailsheim das im erstinstanzlichen Verfahren durch die Juristenfakultät Erfurt gesprochene Vorurteil anerkannt und entgegen seiner vorherigen Weigerung die Originalrechnungen vorgelegt habe. Da er auch von diesem Vorurteil hätte appellieren können, weil aus der Beweisauflage automatisch das Endurteil folge, wenn der Beweis nicht vollständig erbracht sei, habe er damit auch die Abweichung seiner Forderung vom gemeinen Recht zugegeben.70 Die Erben beriefen sich auf die rechtliche Qualität ihrer Güter als Erbzinslehen, welche ihrer Natur nach in der Familie verblieben und nur bei völligem Fremdverkauf als alieniert und damit als handlohnpflichtig zu gelten hätten. Die Existenz eines Handlohns im Erbfall sei vom Appellanten nicht bewiesen worden.7'

Anfang Juni 1779 ersuchte das Vikareiamt das Propsteiamt des Stiftes Haug zu Würzburg72 unter Berufung auf Mitte März 1757 gegen Sebastian Kraus und Anfang März 1758 gegen Mathes Göbel ergangene Urteile, etliche Käufer von zum Knorrenhof in Rittershausen gehörigen Grundstücken zur Handlohnzahlung anzuhalten. Mit Kontumazialurteil von Ende April 1784 erkannte das Propsteiamt dem Vikareiamt den Handlohn bei Verkaufsfällen zu. Als dieses Mitte Dezember 1789 um

68

Diese Rechtsauffassung wurde nicht allgemein vertreten; vgl. BECK, De Jure Emphyteutico (wie Anm. 9), 279 ff. 69 Nach RKG 1906, Q 12. 70 RKG 1906, Q 20. 71 RKG 1906, Q 32. 72 Vgl. RKG 664.

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Urteilsvollstreckung einkam, betrieben die betroffenen Teilhaber73 des Knorrenhofs den zwischenzeitlich ruhenden Appellationsprozeß vor der fürstbischöflichen Regierung zu Würzburg weiter: Der erste Lehenbucheintrag über Handlohnzahlungen im Jahre 1590 lasse vermuten, daß diese ohne jede rechtliche Grundlage erfolgt seien. Das Vikareiamt bezeichnete hingegen die gegnerische Appellation als desert. Anfang Mai 1794 erlegte die Regierung diesem den Nachweis auf, daß es im Besitz des Handlohns von allen oder einzelnen Bestandteilen des Knorrenhofs sei, wer diese derzeit innehabe und welcher Betrag davon zu erstatten sei. Das Vikareiamt appellierte ans Reichskammergericht: Die Einrede der Desertion sei gänzlich übergangen worden, obwohl die Gegenseite nicht habe beweisen können, daß ihre Appellation frist- und formgerecht eingelegt worden sei; die verlangten Beweise seien teils längst erbracht, teils unnötig; die Handlohnpflichtigkeit folge zwangsläufig aus dem emphyteutischen Charakter des Knorrenhofs. Die Teilhaber betonten ihrerseits unter Hinweis auf zwei von gegnerischer Seite erst jetzt vorgelegte Urkunden, wonach diese den Hof Anfang März 1411 von der Familie Zobel v. Giebelstadt erworben und der damalige Stiftspropst Ende März 1411 auf seine Lehenhoheit darüber verzichtet hatte, daß der Knorrenhof seinem Ursprung nach ein Ritter- und Lehengut sei, was jeden Anspruch auf Handlohn ausschließe.

Georg Friedrich Hahn74 erwarb von Johann Georg Rückert um 1000 fl. ein Viertel des der Johanniterkommende Würzburg lehen- und gültbaren Bischofshofs zu Gollhofen und entrichtete im November 1793 abschlagsweise die Hälfte des geforderten Handlohns. Im März 1794 ersuchte Valentin v. Todt als Amtmann der Kommende erstmals das Vogteiamt zu Gollhofen, Hahn zur Zahlung der ausständigen 25 fl. anzuhalten. Auf weitere Amtshilfebegehren und die Einvernahme der Leheninhaber hin erlegte das Vogteiamt der Kommende im September 1795 auf, die Handlohnbarkeit des Gutes zu beweisen. Amtmann und Konsulent der Kommende appellierten an die limpurg-sontheim-michelbachische Regierungskanzlei zu Obersontheim75, die im Oktober 1796 angesichts der unterlassenen Einreichung der Vorakten den Vogteiamtsbescheid bestätigte, die Ansprüche des Malteserordens als unbegründet bezeichnete, später zudem zur Begleichung der dem Appellaten un-

73

Im Verlauf des Prozesses traten bis zu sechs Anteilseigner auf. Vgl. RKG 7147. 75 Der aus der Teilung der Besitzungen der Schenken v. Limpurg hervorgegangene Landesteil Limpurg-Sontheim-Michelbach befand sich im Besitz der Grafen ν. Löwenstein-Wertheim; vgl. Gerd WUNDER, Die Schenken von Limpurg und ihr Land. (Forschungen aus Württembergisch Franken, Bd. 20.) Sigmaringen 1982, 54. 74

Mana Schimke und Manfred Horner

300

rechtmäßig abverlangten 25 fl. und der entstandenen Prozeßkosten Gülten der Kommende einziehen ließ. Der Johanniterorden wandte sich ans Reichskammergericht: Die Kommende sei durch das Vogteiamt nicht ordnungsgemäß gehört worden; eine Submission sei nie erfolgt; obwohl sie sich nur in der Possessoriensache eingelassen habe, sei ihr der Beweis in einem für das Petitorienverfahren angemessenen Umfang auferlegt worden; die Regierungskanzlei habe entschieden, noch bevor sie die Herausgabe der Vorakten erwirken und ihre Beschwerden gegen das tumultuarische erstinstanzliche Verfahren habe vorbringen können. Hahn und Georg Christoph Fischer als Mitinhaber des Hofes bestritten, daß die Gegenseite ihre angebliche Handlohngerechtigkeit erwiesen habe. Mitte 1801 kam ein Vergleich zwischen dem Komtur Franz Heinrich Truchseß v. Rheinfelden und seinen beiden Lehenleuten zustande.76

In keinem der behandelten Prozesse war das ganze Spektrum bäuerlicher Abgaben und Leistungen streitig. Nur gelegentlich wurde jegliche Handlohnzahlung verweigert, häufiger war jedoch die Frage strittig, von welchen Gütern und bei welchen Besitzveränderungen Abgaben anfielen. Die grundsätzliche Verpflichtung zu Frondiensten oder zu einer ersatzweisen Frongeldzahlung wurde nie angezweifelt, umstritten waren allein Art und Umfang der Verpflichtungen. Für die gegnerischen Parteien konnte sich der Streitgegenstand allerdings höchst unterschiedlich darstellen. Während der Freiherr v. Zobel davon sprach, statt der von der Gegenseite ohnehin zugestandenen zwei Fuhrfronen jährlich deren vier oder fünf zu verlangen, vermuteten seine Osthausener Untertanen dahinter die Absicht, „daß freye Leuthe in leibeigene Unterthanen, in Schlaven verwandelet und diese durch ungemessene Diensten an den Bettel-Stab gebracht, somit zu Verlaßung Hauß und Hof gedrungen werden sollten"77. Die Beweisführung gestaltete sich für beide Seiten durchweg schwierig. Die Untertanen ließen regelmäßig Zeugen befragen, die häufig selbst betroffen waren und daher von der Gegenseite als verdächtig abgelehnt wurden. An schriftlichen Dokumenten standen ihnen vielfach nur ihre Erb- und Kaufbriefe zur Verfügung, die sie dahingehend auslegten, daß alle ihnen abverlangten Leistungen, die dort nicht ausdrücklich erwähnt würden, nicht erbracht werden müßten. Vereinzelt wurde die Existenz einer in gegnerischem Besitz befindlichen Urkunde unterstellt, die alle

76 77

RKG 7147, Q 43. RKG 9908, Q 3.

Prozesse vor dem Reichskammergericht

301

bäuerlichen Freiheiten und Gerechtigkeiten beweise.78 Die von herrschaftlicher Seite vorgelegten Lehen- und Zinsbücher, Fronregister und Rechnungen erkannten die Untertanen als untaugliche Privatskripturen häufig nicht an.7' Sie gaben in der Regel lediglich über den tatsächlichen Besitz bestimmter Abgaben und Leistungen Auskunft, nicht aber über deren rechtmäßigen Erwerb. Zweifel daran mochten mitunter berechtigt sein: So hielt der Vikareiamtsverwalter des Stiftes Haug für das Jahr 1590 im Lehenbuch fest, daß er von einigen Leheninhabern den Handlohn „erwischt" habe, und fügte den Wunsch hinzu: „Gott gebe, daß dieses bald wiederum geschehe"; anläßlich der Renovation des Lehenbuchs 1706 wurde daraus der Anspruch auf den Handlohn abgeleitet.80 Je unübersichtlicher sich die Beweislage gestaltete, desto größeres Gewicht kam der Entscheidung darüber zu, wem die Beweislast auferlegt wurde. Die bäuerliche Seite stützte sich, zumal bei Fronstreitigkeiten, auf die sich erst allmählich gegen die hergebrachte Praesumptio contra rústicos durchsetzende Rechtsvermutung zugunsten der natürlichen Freiheit von Abgaben und Diensten81: „Die praesumptio pro libertate ist generalissima und releviret ab onere probandi"82. Die Urteile der Regierung in Würzburg galten denn auch fast ausnahmslos der Frage der Beweislast, die zumeist im Sinne der Untertanen entschieden wurde.83 Die Juristenfakultäten, auf deren Stellungnahmen die ritterschaftlichen Urteile gründeten, äußerten sich in den behandelten Fällen durchgängig zugunsten der Bauern. Der neuen Auffassung konnte

78 So beriefen sich die Marktheidenfelder auf einen über den Handlohn getroffenen Vergleich von 1SS3, die Bimbacher und BrSnnauer auf einen Vertrag über die Umwandlung von Fronen in eine Geldabgabe von 1706, die Osthausener auf Urkunden, die ihre Fronfreiheit bewiesen, während die Gegenseite die Existenz derartiger Dokumente bestritt. Auch die Gemeinde Burgsinn hatte ihrer Herrschaft vorgeworfen, ein Privileg Kaiser Ludwigs des Bayern, das dem Ort nicht allein das Marktrecht, sondern die Freiheiten der Reichsstadt Gelnhausen verliehen habe, hinterlistig beiseite geschafft zu haben (vgl. Anm. 1). Zu ähnlichen Fällen: SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 1), 121. 79 Dies taten die fuchsischen Untertanen zu Bimbach und Brünnau, die bildhausischen Lehenleute zu Strahlungen und die röderischen Erben. 80 RKG 664, Q 32. 81 Vgl. Winfried SCHULZE, Der bäuerliche Widerstand und die „Rechte der Menschheit", in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848. Hrsg. v. Günter Birtsch. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund-und Freiheitsrechte, Bd. l.)Göttingen 1981,41-56, bes. S3-SS; ders., „Geben Aufruhr und Aufstand AnlaB zu neuen heilsamen Gesetzen". Beobachtungen über die Wirkungen bäuerlichen Widerstands in der Frühen Neuzeit, in: Aufstände, Revolten, Prozesse (wie Anm. 1), 261-285, bes. 281-183; ders., Die Entwicklung des „teutschen Bauernrechts" in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 12, 1990,127-163, bes. 139-141, 150-152. 82 RKG 7800, Q 20. 83 Diese untertanenfreundliche Haltung zeigte sich auch in anderen Äußerungen der Regierung, z. B.: „Es ist ... das Jus mortuarium für sich selbsten ein sehr gehässiges Rechte ... Es seynd mithin die solches betreffende Gesätze strictissimae interpretationis und über die buchstäbliche Ausdruckung nach rechtskundiger Lehre nicht zu extendiren" (RKG 9093, Q 22). Sie erstreckte sich allerdings nicht auf Streitigkeiten, die landesherrliche Belange berührten.

302

María Schimke und Manfred Hörner

sich selbst die fuldische Regierung, die in allen behandelten Fällen gegen die Untertanen entschied84, nicht entziehen, gestand sie doch ein: „Nun ist zwaren in Regula soviel richtig, daß für die natürliche Freyheit die stärckste Vermuthung streitet". Dennoch befreie dies nicht von der Beweislast, wenn die Gegenseite „eine in dem Vertrag, der Veijährung, der allgemeinen Observanz oder der Selbst-Geständnis des Gegentheils rechtlich gegründete Intention vor sich hat".85 Der Jüngste Reichsabschied schrieb dem Reichskammergericht verbindlich vor, Prozeßanträgen von Untertanen gegen ihre Herrschaften nicht stattzugeben, bevor nicht der obrigkeitliche Bericht eingeholt worden sei.86 Deshalb konnte es durchaus mehrere Jahre dauern87, bis der erbetene Prozeß erkannt wurde, wobei es förderlich sein mochte, wenn der Antrag abgeschwächt, beispielsweise statt um ein Mandat lediglich um eine Citatio nachgesucht wurde. Bis zur Verkündung eines Endurteils gediehen nur zwei der erörterten Untertanenprozesse. In beiden Fällen entschied das Reichskammergericht zugunsten der Herrschaften. Seine Rechtsprechung entfaltete aber auch dann Wirkung, wenn kein Endurteil zustande kam.88 Wenigstens ein Verfahren endete mit einem Vergleich, weitere Prozesse gingen in gütliche Verhandlungen über89. Dies geschah häufig wie im Falle der Prozesse der Propstei Thulba - unter tätiger Mithilfe der Landesherrschaft, die sich den Untertanen wenig entgegenkommend gezeigt hatte, solange die Auseinandersetzung im territorialen Rahmen verlaufen war. Daß damit wohl auch verhindert werden sollte, die landesherrliche Rechtsprechung der kameralen Nachprüfung auszusetzen, konnte den Bauern gleichgültig bleiben, sobald sich ihre eigene Lage besserte. Insgesamt bietet sich in den dargestellten Untertanenprozessen das Bild einer im wesentlichen noch stabilen spätfeudalen Agrarverfassung. Die Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und ihren Herrschaften drehten sich nicht um den grundsätzli-

84 Gleiches gilt für den ProzeB der Gemeinde Seeshof gegen die Propstei Thulba (vgl. Anm. 7) sowie für die Klage etlicher Untertanen aus dem Viertel Eichenwinden oder Steinwand gegen die Rentkammer zu Fulda wegen landesherrlicher Fronen (vgl. RKG 2S0S). 85 RKG 13096, Q 27. 86 Vgl. Jüngster Reichsabschied von 16S4, § 105, Neue und vollständigere Sammlung (wie Anm. 43), Tl. III, 660. Der Reichsabschied von 1530, § 93, ebd., Tl. II, 321, hatte dies für Diffamationsklagen, der Deputationsabschied von 1600, § 9, ebd., Tl. III, 475, für von armen Parteien eingebrachte Klagen vorgesehen; vgl. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (wie Anm. 1), 78. 87 Im Fall der Klage der Gemeinde Laudenbach gegen die freiherrliche Familie Fechenbach vergingen zwischen dem ersten Mandatsantrag und der Erteilung der Ladung achteinhalb Jahre (vgl. RKG 2556). 88 Vgl. TROSSBACH, Soziale Bewegung (wie Anm. 5), 165 f. 89 Da keineswegs immer Meldung ans Reichskammergericht erging, wenn Parteien gütliche Verhandlungen aufnahmen oder einen Vergleich schlossen, lassen sich endgültige Zahlen dazu nicht angeben.

Prozesse vor dem Reichskammergericht

303

chen Bestand, sondern um Art und Höhe der Abgaben und Dienste. Das Reichskammergericht und die Gerichte der Territorialherren konnten offenbar die Funktion erfüllen, die Eskalation zu nennenswerten Gewaltaktionen zu verhindern.

Die

Reichsverfassung bot damit den Bauern eine Möglichkeit zur rechtlichen Austragung der Konflikte. 9 0

90 Vgl. Wolfgang MAGER, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne, in: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution. Hrsg. v. Helmut Berding/Etienne François/Hans-Peter Ulimann. Frankfurt am Main 1989, 59-99, hier 78. Zum Problem der Verrechtlichung sozialer Konflikte erstmals: Winfried SCHULZE, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526. Hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler. (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 1.) Göttingen 1975, 277-302, bes. 300.

Margit Ksoll-Marcon Die Lage des reichsstädtischen Handwerks im ausgehenden 18. Jahrhundert im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse D a s Reichskammergericht als eines der beiden höchsten Reichsgerichte, das in erster Instanz nur von den Reichsständen, ansonsten, sofern der Landesherr nicht über ein Privilegium de non appellando illimitatum verfügte, als Appellationsinstanz angerufen werden konnte, erfreute sich am Ende des Alten Reiches einer steigenden Beliebtheit und wurde dem Reichshofrat vorgezogen. 1 W i e die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwahrten Reichskammergerichtsakten zeigen 2 , fanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis 1806 die meisten Prozesse neben Privatrechtsstreitigkeiten w i e Schuldforderungen oder Erbstreitigkeiten w e g e n Besitz- und Hoheitsrechten statt. Für die Zeit nach 1750 lassen sich aber auch Appellationsprozesse reichsstädtischer Zünfte oder auch einzelner Zunftmitglieder, vor allem aus fränkischen Reichsstädten, nachweisen. Sie haben bisher noch wenig Beachtung gefunden. 3 D i e Prozesse fanden vor dem Hintergrund eines politischen, wirtschaftli-

1 Volker PRESS, Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Friedrich Battenberg/Filippo Ranieri. Köln 1994, 349-365, hier 361. Zum Reichskammergericht [RKG] selbst soll an dieser Stelle nur auf drei Arbeiten verwiesen werden: Heinrich WIGGENHORN, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches. Diss. jur. Münster 1966; Bettina DICK, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 10.) Köln 1981; Filippo RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert. 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 17/1-2.) Köln 1985. 2 Barbara GEBHARDT/Manfred HÖRNER, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht. Bd. 1. (Bayerische Archivinventare, Bd. 50/1.) München 1994, XIV-XIX. 3 Auf die Handwerksprozesse vor dem RKG weist Uwe Puschner in seiner Dissertation hin: Uwe PUSCHNER, Handwerk zwischen Tradition und Wandel. Das Münchner Handwerk an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 13.) Göttingen 1988, 155. Aus der Fülle an Literatur zum Handwerk sei an dieser Stelle nur erwähnt: Wilhelm ABEL, Handwerksgeschichte in neuer Sicht. (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1.) Göttingen 1978. Einen Überblick über die handwerksgeschichtliche Forschung zu Nürnberg enthält: Peter FLEISCHMANN, Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. bis

Margit Ksoll-Marcon

306

chen, finanziellen und sozialen Niedergangs der Reichsstädte statt, der bereits mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges einsetzte, aber besonders am Ende des 18. Jahrhunderts deutlich wurde. Die Stellung der Zünfte in Wirtschaft und Gesellschaft war auch im 18. Jahrhundert noch ungebrochen. Sie regelten in eigenen Zunftordnungen u. a. ihre mit erheblichen „Marktzugangsbeschränkungen" verbundene Rekrutierung, die Voraussetzungen für die Erlangung des Meisterrechts, die Beschaffung und Verarbeitung der Materialien, die Produktion sowie die Verkaufspreise ihrer Waren. Obwohl dadurch eine gewisse Chancengleichheit garantiert werden sollte, bestand in vielen Zünften ein Sozialgefalle zwischen den Meistern, und zahlreiche Mißbräuche schlichen sich immer wieder ein.4 Die Stellung der Zünfte war aber derart stark, daß die Reichsstände einen Rückhalt im Reichsrecht suchten, um die Macht der Zünfte ansatzweise brechen zu können. So wurden seit 1530 Reichsabschiede erlassen, um die Situation des Handwerks zu verbessern.3 Einen Höhepunkt in der Reichshandwerkspolitik markiert die Reichshandwerksordnung von 1731. In zahlreichen Punkten wiederholte sie bereits erlassene Bestimmungen. Als einen Kernpunkt kann man den Versuch betrachten, die Autonomie der Zünfte zu brechen, z. B. durch die Zulassung von Freimeistern oder durch die Aufhebung der Beschränkung der Gesellenzahl.6 Häufig war die Verflechtung von Zunft und Stadt derart, daß eine Lockerung der Zunftbestimmungen nicht möglich war oder daß sich die Zünfte von den zuständigen Obrigkeiten ihre Rechte bestätigen ließen. Zum Teil konnten sie sich auf vom Kaiser bestätigte Ordnungen berufen, was auch eine Reform der verkrusteten Struktur verhinderte.7 So kam es auch noch nach 1731, wie schon früher, immer wieder zu Klagen innerhalb einer Zunft über unterschiedlichste Gewerbebeeinträchtigungen durch Mitmeister, wie z. B. Preisunterbietungen. Aber auch zwischen den Zünften gab es

zum 18. Jahrhundert. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 38.) Nürnberg 198S, 4-12. Im Folgenden wird noch auf verschiedene Arbeiten verwiesen werden. Spezialuntersuchungen zu einzelnen Handwerken stehen jedoch vielfach noch aus. 4

PUSCHNER, H a n d w e r k (wie A n m . 3), 153 f.

5

Hans PROESLER, Das Gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530 bis 1806. (Nürnberger Abhandlungen zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, H. 5.) Berlin 1954. 6

PROESLER, Gesamtdeutsches H a n d w e r k (wie A n m . 5), 5 3 * - 7 0 * ; U w e PUSCHNER, R e i c h s h a n d -

werksordnung und Reichsstädte. Der Vollzug des Reichsschlusses von 1731 in den fränkischen Reichsstädten, in: Reichsstädte in Franken. Aufsätze. Bd. 2: Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Hrsg. v. Rainer A. Müller. München 1987, 33-46, hier 33-35; Hagen HOF, Wettbewerb im Zunftrecht. Zur Verhaltensgeschichte der Wettbewerbsregelung durch Zunft und Stadt, Reich und Landesherr bis zu den Stein-Hardenbergschen Reformen. (Dissertationen zur Rechtsgeschichte, Bd. 1.) Köln 1983 [zugl. Diss. jur. Bonn 1981], 240, 243. 7 HOF, Wettbewerb (wie Anm. 6), 248.

Reichsstädtisches Handwerk

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häufig Auseinandersetzungen über die Abgrenzung der Arbeitsbereiche und die Verwendung von Materialien.8 Was innerziinftische Konflikte betraf, so konnten diese die Zünfte weitgehend aufgrund der ihnen zugestandenen Gerichtsrechte regeln. Häufig wurden jedoch wiederholt die städtischen Obrigkeiten oder der Landesherr angerufen.® Für die reichsstädtischen Zünfte bestand in der Regel die erste Instanz in Bürgermeister und Rat der Stadt, sofern es nicht ein Handwerksgericht, wie in Nürnberg das Rugamt10, gab. Appellationsinstanz war das RKG bzw. der Reichshofrat.11 In den Prozessen vor dem RKG berufen sich die Zünfte sowohl auf ihre Zunftordnungen als auch auf die Reichsgesetzgebung, vor allem auf den Reichsabschied von 1731. Entsprechend legen sie Auszüge daraus als Beweismaterial vor, ebenso wie Geschäftsbücher, Urteile aus früheren Verfahren vor der ersten Instanz oder sogar Arbeitsproben; mitunter werden auch Zeugen vernommen. Sie geben Einblick in die wirtschaftliche und soziale Lage des Handwerks wie auch die Streitschriften bzw. Schriftsätze der Prokuratoren12, die vorrangig für die folgenden Ausführungen herangezogen wurden. Aus Nürnberg wandten sich 1795 in zwei Appellationsprozessen die Meister der Altmacherzunft, d. h. der Flickschuster, gegen die Meister der Schuhmacher- oder Neumeisterzunft an das RKG.13 Es waren Streitigkeiten um Arbeitsbefugnisse und Grenzen der beiden eng verwandten Zünfte. Auslöser für beide Prozesse war, daß die Schuhmacher bei einem ihrer „Umgänge" bei dem Altmachermeister Nietsch ein Paar „vorgeschuhte" Stiefel vorfanden und diese mitnahmen, d. h. beschlagnahmten, mit der Begründung, daß die Altmacher kein Recht hätten, Stiefel „vorzuschuhen". Das nahmen die Altmeister zum Anlaß sowohl wegen des Rechts des „Stiefelvorschuhens" als auch wegen der „Umgänge" gegen die Neumacher vorzugehen.

8 PUSCHNER, Handwerk (wie Anm. 3), 153 f. Auch die nachfolgenden Beispiele werden dies belegen. 9

PUSCHNER, H a n d w e r k ( w i e A n m . 3), 154 f.

10

Zur reichsstädtischen Gerichtsverfassung und zur Stellung des Rugamts s. ζ. B.: Hanns H. HOFMANN, Nürnberg-Fürth. (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken, H. 4.) München 1954, 55 f., 71. S. auch: Johann H. HÄSSLEIN, Actenmäßige Widerlegung der in verschiedenen Journalen und Schriften dem Rugamt in Nürnberg gemachten unbegründeten Beschuldigungen. Nürnberg 1789. 11 Unter den im Bayerischen Hauptstaatsarchiv verwahrten Reichshofratsakten befindet sich kein Appellationsprozeß von Zünften. 12

13

WIGGENHORN, R e i c h s k a m m e r g e r i c h t s p r o z e ß ( w i e A n m . 1), 1 0 7 - 1 0 9 .

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [BayHStA] RKG 9618, 9619. In Nürnberg gab es 1803 bei den Schuhmachern 238 Meister und 178 Gesellen; für die Altmacher liegen keine Zahlen vor. Nach einer Gewerbesteuerrektifikation gab es 1815 101 Schuhmacher mit einem Steueraufkommen von 609 fl. und 93 Schuhflicker oder Altmacher mit einem Steueraufkommen von 116 fl. Vgl. dazu: Peter SCHRÖDER, Die Entwicklung des Nürnberger Großgewerbes 1806-1870. Studien zur Frühindustrialisierung. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 8.) Nürnberg 1971, 232b, 236.

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Margit Ksoll-Marcon

Beide Parteien hatten gemäß der RKG-Ordnungen einen Prokurator zu bestellen, der ihre Sache vor Gericht vertrat.14 Entsprechende Vollmachten wurden dem Gericht vorgelegt. Die Vollmacht der Kläger war von drei „dermaligen geschwornen Meistern", die der Beklagten von vier geschworenen Meistern unterschrieben und jeweils mit dem Zunftsiegel besiegelt.15 Auch in Fällen wie hier, in denen die gesamte Zunft als Kläger auftrat, war es nicht notwendig, daß alle Meister unterschrieben. Es genügten die Zunftvorsteher. In dem Verfahren wegen des „Vorschuhens der Stiefel" und den Gebrauch der Meßlade hatten sich in der Vorinstanz Bürgermeister und Rat zu Nürnberg mit Urteil zugunsten der Schuhmacher entschieden und den Altmachern das Recht „zur Verfertigung dergleichen Stiefelvorschuhe" abgesprochen.16 Dagegen erfolgte die Appellation an das RKG. Die Vorakten der ersten Instanz des Rugamtes und der zweiten Instanz von Bürgermeister und Rat liegen dem RKG-Akt in Abschrift bei. Beide Parteien verzichteten sowohl in beiden Vorinstanzen als auch vor den RKG auf die Heranziehung von Zeugen. Die Altmacher beriefen sich vor dem RKG darauf, daß sie eine vom Schuhmacherhandwerk „ganz unabhängige Zunft" seien, „dergleichen nur wenige in Deutschland, als zu Würzburg, Bamberg und Erfurt existieren, die mit der in Nürnberg in Zunftverhältniß und Freundschaft stehen."17 Der Unterschied zwischen den Altmachern und den Schuhmachern bestehe darin, daß erstere Schuhe ausbessern, letztere neue herstellen. Gemäß der Zunftordnung von 1688 ist es ihnen aber gestattet, „neue Fürfuß" auf alte Stiefel zu machen, „dergleichen auf alte Schuh neue Überschuh" zu setzen. Dieses Recht, das ihnen immer wieder von den Schuhmachern abgesprochen worden sei, habe wiederholt zu Streitigkeiten geführt. Die Schuhmacher würden ihnen „Nahrung und Brod" völlig entziehen, „wenn es diesen nach dem vorliegenden Judicato a quo gelingen könnte, unter dem Vorwand neue selbstgemachte Arbeit, von der sich die fremde nie unterscheiden ließe, alle Flickarbeit an sich zu ziehen, die Stiefel-Vorschuhen sich privative anzumassen und somit auch die letzten Spuren von Grenzlinie zwischen den Arbeits-Gegenständen und Befugnissen beyder Zünfte zu vernichten."18 Ein selbständiges Handwerk wäre damit vernichtet. Dagegen versucht der Anwalt der Beklagten trotz der „zu Wetzlar als zu Nürnberg vorgewalteten Kriegsunruhen" die Argumente der Kläger zu widerlegen und versucht zu zeigen, daß das RKG als Appellationsinstanz nicht zuständig sei. Die „Einrichtung der Zünfte und die

14 15 16 17 18

WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozfiß (wie Anm. 1), 39-41. BayHStA RKG 9618, Quadrangel [Q] 30, 34. BayHStA RKG 9618. BayHStA RKG 9618, Q 10. BayHStA RKG 9618, Q 10.

Reichsstädtisches Handwerk

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Abschaffung ihrer Mißbräuche" sei „eine ganz unverkennbare Policei-Sache", „welche nach denen bekanntesten Rechten von der Gerichtsbarkeit derer höchsten Reichs-Gerichte ausgenommen" sei." Er beruft sich dabei u. a. auf den Jüngsten Reichstagsabschied, in dem es in § 106 heißt, daß, wenn Zunft- oder Handwerksordnungen strittig sind und der Streitgegenstand durch Appellation vor das RKG gebracht werden soll, der Richter, „ehe er die Process erkennt, jedes Orts Obrigkeit und des Status publici mit einlaufendes Interesse mit seinen Umständen wol erwägen, fürnemlich aber in dergleichen Sachen Inhibition leichtlich erkennen, sondern daferne solche Sachen wider selbigen Orts hergebrachte vernünftig und den Reichskonstitutionen nicht ungemäße Handwerks- und andere hergebrachte Ordnungen laufet ab- und an des Orts Obrigkeit" verwiesen werden solle.20 Beklagte bäten daher, das Verfahren wieder an Bürgermeister und Rat von Nürnberg zu verweisen. Diese hatten sich ja bereits zu ihren Gunsten ausgesprochen. Beklagte werfen in ihrer Verteidigungsschrift den Klägern vor, sich durch Pfuschereien und die Verwendung verschiedener Materialien Rechte der Schuhmacher anzumaßen. So hätten die Schuhmacher bei einem Mitglied der Altmacherzunft „ein paar mit Kalbleder neu fürgeschuhete und neu besolte Stiefel vorgefunden", was eine neue Arbeit sei. Den Altmachern sei nur gestattet, einen Fürfuß aus Schafleder zu fertigen, wobei das Leder nur über den alten Schuh, der nach wie vor eine alte Sohle besitzen müsse, gezogen werde. Die Erstellung eines neuen „Vorschuhs" für einen Stiefel aus dem Leder, aus dem dieser gemacht wurde, und diesen Stiefel mit einer neuen Sohle und neuen Absätzen zu versehen, sei eine neue Arbeit, die nur den Schuhmachern zustünde. Gemäß Artikel 13 der Altmacherordnung und gemäß Artikel 19 der Schuhmacherordnung hätten die Schuhmacher die Erlaubnis, selbstgefertigte Arbeit ausbessern zu dürfen, nicht jedoch „fremde, nicht selbst gemachte Arbeit", worauf sie auch nie einen Anspruch erhoben hätten. Die Schuhmacher begnügten sich mit ihren Rechten, die sie aber geltend machen müßten „wegen des theuren Ledereinkaufs und derer vielen um die Stadt Nürnberg sich aufhaltenden Stümpler, die ihre Ware heimlich hereinschleifen, wegen derer von Jahrmärkten und Kirchweihen öffentlich herein getragen werdenden Stiefeln und Schuhe, deren jährlich mehr als eintausend Paar angenommen werden dürfen". Deshalb seien sie „übel genug daran" und ihr Handwerk gehöre zu den „gedrucktesten". Die Altmacher verdienten nicht „das mindeste Mitleiden", da sie „durch ihre ewige unvernünftige Vermehrung und

19

BayHStA RKG 9618, Q 36. BayHStA RKG 9618, Q 36. S. dazu auch: Arno BUSCHMANN (Hrsg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte und Dokumente zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806. München 1984, SOI. 20

Margit Ksoll-Marcon

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Anhäufung ihrer Profession ... ihres eigenen Unglücks Schmiedte" seien.21 Den Vorwurf der Überbesetzung ihres Handwerks wiesen die Kläger zurück und betonten, schon seit vielen Jahren die Zahl ihrer Mitglieder nicht mehr erhöht zu haben. Der Streit vor dem RKG endete mit Vergleich vom 4. November 1799, der sich auch auf das zweite Verfahren bezieht. In dem gleichzeitig stattgefundenen zweiten Verfahren zwischen beiden Zünften wegen der sogenannten Um- oder Eingänge der Schuhmacher bei den Altmachern hatten sich in der Vorinstanz Bürgermeister und Rat zu Nürnberg mit Urteil vom 27. September 1794 ebenfalls für die Schuhmacher ausgesprochen und ihnen das Recht zugestanden, „fernerhin die Eingänge bey den Altmachern auf die bisherige gewöhnliche Art" durchzuführen.22 Die Altmacher weisen in ihrer Anklageschrift darauf hin, daß es aufgrund der großen Ähnlichkeit zwischen beiden Zünften Sitte gewesen sei, um Streitigkeiten vorzubeugen, „einander zu gewissen oder auch unbestimmten und ungewissen Zeiten zu besuchen oder, nach der Kunstsprache, Um- oder Eingänge beyeinander zu halten, um durch selbige zur Erforschung und Entdeckung der entweder auf allgemeinem Verdacht beruhenden oder zur genauem Anzeige gekommenen besonderen Eingriffe und verbottenen Arbeiten zu gelangen".23 Sie selbst hätten früher auch das Recht gehabt, „Eingänge" bei den Schuhmachern zu halten, seien aber um dieses Recht gebracht worden. Sie fordern daher, die „Eingänge" der Schuhmacher bei ihnen solange zu verbieten, bis sie ihnen auch wieder zugestanden würden. Andernorts, wo beide Zünfte existierten, hätten entweder beide das Recht der „Eingänge" oder keiner.24 Es könne zwischen den Handwerken nicht statthaft sein, daß ein Mitglied der anderen Zunft „jährlich einigemal, es mag nun ein Verdacht gegen dieses oder jenes Individuum vorhanden seyn oder nicht, in ihren Häusern überfällt, ihre Arbeiten durchstört, nach Befinden wegnimmt und sich immer die Beschimpfenste, herabsetzenste Begegnung dabey erlaubt". Die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, der Hausfriede und die häusliche Sicherheit werden dadurch beeinträchtigt. Bei Verdacht auf unerlaubte Arbeiten eines Zunftmitglieds, sei das Rugamt anzurufen. Bereits 1759 seien den Schuhmachern, wie aus dem Protokollbuch des Rugamts hervorgehe, die „Umgänge" bei den Altmachern verboten worden.25 Dagegen berufen sich Beklagte zu ihrer Verteidigung auf die Schuhmacherordnung von 1713, in der es heißt: „Wie das Herkommen vermöge, daß zwar die Neumacher bey denen Altmachern aber nit vice versa die

21 22 23 24 25

BayHStA BayHStA BayHStA BayHStA BayHStA

RKG RKG RKG RKG RKG

9618, 9619. 9619, 9619, 9619,

Q 36. Q 5. Q 4. Q 5.

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Altmacher bey denen Neumachern eingehen und visitiren sollen." Außerdem habe jede Zunft das Recht, „sich bey ihrem Handwercksmonopol gegen die, welche in das Handwerck eingreifen, sie mögen Pfuscher, Bönhasen etc. heißen, durch wirksame Mittel zu schützen".26 Die Altmeister seien bereits wiederholt bei der Pfuscherei erwischt worden. Auch im Reichsschluß von 1731 werde die Zunftorganisation bestätigt, denn es heißt dort in Artikel 2: „Wird denen Meistern aber gleichwohl ein vernünftiger und heilsamer Zwang gelassen".27 Beide Verfahren wurden mit Vergleich vom 4. November 1799, der vom RKG am 29. Januar 1800 bestätigt wurde28, beendet: Die Schuhmacher erklären sich bereit „auf immerwährende Zeiten denen Altmachern die Stiefelvorschuh ungestört und ungekränkt mitmachen zu lassen und zwar dergestalt nach jederzeitiger Mode und Gebrauch des Leders." Gleichzeitig wurde auf die „Eingänge" verzichtet.29 Vermutlich kam dieser Vergleich aufgrund der bedrohlichen politischen Lage zustande. 1796 war das ganze nichtpreußische Franken den Revolutionsheeren preisgegeben. Die französischen Einquartierungen kosteten die Reichsstadt Nürnberg mehr als drei Millionen Gulden. Dazu kamen Raub, Plünderungen und Ausschreitungen. Als 1799 erneut der Krieg ausbrach, waren die fränkischen Reichsstädte wieder mit extrem hohen Kontributionsforderungen konfrontiert.30 Brachten die Kriege und die damit verbundenen wirtschaftlichen und finanziellen Einbrüche zwei Nürnberger Zünfte zum Beilegen ihrer Streitigkeiten, appellierten noch 1801 die Zeugmacher der Reichsstadt Dinkelsbühl an das RKG gegen ein Urteil des Magistrats der Stadt, der sich für das benachbarte Tuchmacherhandwerk ausgesprochen hatte. Streitgegenstand war die Herstellung, die Verarbeitung und der Verkauf von Arrasgarn. Im Reichsanzeiger Nr. 228 von 1795 wird Arras bzw. Karras folgendermaßen definiert: „Es ist kein fränkisches Provincialwort sondern in allen teutschen Manufacturen üblich, wo Zeuge aus Mischungen von Seide, Wolle und Leinengarn verfertigt werden, als Barchent, Berckan, Cardis, Sattin und dergleichen, welche man zusammen unter dem Worte Arras- oder Karras-Zeuge begreifft. Dies Wort hat seinen Ursprung von der französischen Stadt Arras, aus welcher die ersten Zeugmacher derley Art nach Teutschland gekommen sind."31 Die

26 BayHStA RKG 9619, Q 19. Der Prokurator der Beklagten belegt genau die Fundstellen, auf die er sich bei seiner Argumentation stützt, was nicht Pflicht der Prokuratoren war. 27 BayHStA RKG 9619, Q 19; vgl. auch PROESLER, Handwerk (wie Anm. 6), 55*. 28 BayHStA RKG 9617, 9618, jeweils im Spezialprotokoll enthalten. 29 BayHStA RKG 9619. 30 Rudolf ENDRES, Territoriale Veränderungen, Neugestaltung und Eingliederung Frankens in Bayern, in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg v. Max Spindler. Bd. III/1. 2. Aufl. München 1979, 250-261, hier 250-252. 31 BayHStA RKG 4607, Q 18. Die Zeugmacher hatten diesen Auszug aus dem Reichsanzeiger als

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Zeugmacher definierten Arras jedoch wie folgt: Es ist „von dem aus gekämmter Wolle gefertigten - gedreht oder ungedreht - gefärbt oder ungefärbten Garne die Rede, welchem durch den Gebrauch ebenfalls der Name Arras-Garn beigelegt worden ist. Dieses Garn, was den eigentlichen Streitgegenstand ausmacht, ist mithin das wahre Zeuchmachergarn, im engsten Verstände und der Urstoff woraus alle Zeuche verfertigt werden."32 Bereits 1735 begann der Streit zwischen beiden Zünften um die Herstellung von Arrasgarn für den Verkauf und die Verwendung der Zwirnmühle für dessen Produktion. Der Magistrat versuchte in dem Rechtsstreit einen Vergleich zu erwirken. Als dieser fehlschlug, sprach er sich mit Urteil vom 21. Januar 1736 für die Tuchmacher aus, was die Zeugmacher veranlaßte, die zu dieser Zeit in ihrer Stadt befindliche kaiserliche Kommission anzurufen. Von dieser erhielten die Zeugmacher die Erlaubnis „das sogenannte Arras- oder Zeuchmacher-Garn auf den Verkauf zu fabricieren und sich der Zwirnmühle zu bedienen." Der Magistrat von Dinkelsbühl und die Tuchmacher erkannten diese Entscheidung nicht an.33 Die Auseinandersetzungen zwischen beiden Zünften zogen sich hin, bis gegen Ende des Jahrhunderts abermals ein Rechtsstreit vor Bürgermeister und Rat ausgetragen wurde, die entschieden, daß „das Tuchmacher-Handwerck in dem quasi Besitze des Rechts, das sogenannte Arras-Gam, das ist aus gekämmter Wolle gefertigtes Garn, gedreht oder ungedreht, gefärbt oder ungefärbt zum Verkaufe ausschließend zu fertigen", zu schützen sei. Die Zeugmacher dürfen das Garn nur für die Stoffe, die sie selbst verarbeiten, fertigen und dafür auch die Zwirnmühle verwenden. Dagegen erfolgte die Appellation an das RKG. Der erste Eintrag im Spezialprotokoll stammt vom 13. April 1801. Der eigentliche Prozeßbeginn zog sich aber bis 1802 hin. Noch am 27. September 1802 bat der Prokurator der Kläger, Lizentiat Flach, um Fristverlängerung wegen der „bekanntlich vorgefallenen politischen Veränderungen und der dadurch veranlaßten Stockung der Geschäfte." Dagegen erhob der Prokurator der Beklagten, Lizentiat Emerich, Einspruch: „Die politischen Veränderungen sind freilich notorisch, können aber in gegenwärtiger Sache,... nicht als ein legales Impedimentum angesehen werden", weshalb eine Fristverlängerung abzulehnen sei. Das RKG sprach sich jedoch mit Interlokut für eine Fristverlängerung aus.34 Für die Bestellung ihres Prokurators vor dem RKG unterschrieben sämtliche Meister des Zeugmacherhand-

Beweismittel vorgelegt. 32 BayHStA RKG 4607, Q 15. 33 BayHStA RKG 4607, Q 15. 34 BayHStA RKG 4607, Spezialprotokoll.

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werks. Die Dominanz einer Familie ist hier deutlich zu sehen.35 Die Vollmacht der Tuchmacher wurde dagegen nur von den beiden geschworenen Meistern unterschrieben.36 Vor dem RKG beriefen sich die Kläger u. a. auf ihre Handwerksordnung von 1704, die das Recht Schafwolle zu verarbeiten festlegt, außerdem daß nur ihnen „das Kämen, Streichen und Gammachen gestattet" sei.37 Auch sei schon „von undenklichen Zeiten her" bei den Zeugmachern die Zwirnmühle, ein „Zeit und Kosten ersparendes Instrument", eingeführt worden. „Daß die Tuchmacher dieselbe früher benutzen, gab ihnen kein Recht, die Zeugmacher davon auszuschließen. Jeder Fortschritt in der Cultur, jede nützliche Erfindung, jede Vervollkommerung einer Kunst ist ein Gewinn für das ganze Menschengeschlecht - sie kann nie das Eigenthum eines einzelnen seyn".38 „Und wenn man auf die Quelle zurückgehen will", so könnte den Tuchmachern „nur die Streich, welches das einzige dem Tuchmacher nötige Instrument ist, gestatet werden". Wie also kämen sie dazu, den Zeugmachern die Zwirnmühle zu verbieten?39 Der Magistrat von Dinkelsbühl habe auf Veranlassung der Tuchmacher die Juristenfakultät in Erfurt angerufen. In deren Gutachten heißt es u. a., daß die Tuchmacher „bei dem ausschließenden Besize des Alleinverkaufs des sogenannten Arras Garns so lang bis die Zeuchmacher entweder bei einem höchsten Reichsgericht oder in Petitorio ein anderes ausgebracht haben würden" zu schützen seien.40 Dieses Gutachten sei jedoch aufgrund zahlreicher formaler Fehler nicht anzuerkennen. Die Zeugmacher drängten das RKG zu einer schleunigen Urteilsfindung, da ihr Gewerbe völlig darniederliege „durch die Einziehung der Klöster in Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden", wohin die meisten „Zeuche" abgesetzt wurden. Hier sieht man nicht nur die großen Handelsverbindungen der Dinkelsbühler Zeugmacher, sondern auch die Folgen der napoleonischen Kriege und der in verschiedenen Staaten durchgeführten Klostersäkularisationen. Da die Zeugmacher damit einen Absatzrückgang für ihre Endprodukte hatten, setzten sie als „einzigen

35 BayHStA RKG 4607, Q 39. Im einzelnen wurde die Vollmacht unterschrieben zuerst von den beiden Obermeistern Johann Albert Dimler und Wilhelm Friedrich Linck, dann folgten die dreizehn Meister Christian German, Johannes Hirlbach, Franz Walter, Michael Frank, Franz Joseph Dimler, Joseph Alexander Schneider, Karl Andreas Dümler (vermutlich verwandt mit dem namensähnlichen Dimler), Immanuel Schmidt, Georg Anton Dümler, Maximilian Reiner, Joseph Casimir Dümler, Johannes Ulrich Dümler sowie Friedrich Thomas Dümler. 36 BayHStA RKG 4607, Q 40. Die beiden geschworenen Meister waren hier Christian Heinrich Seybold und Johann Christoph Lober. 37 BayHStA RKG 4607, Q 20. 38 BayHStA RKG 4607, Q 81. 39 BayHStA RKG 4607, Q 15. 40 BayHStA RKG 4607, Q 25.

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kärglichen Nahrungszweig" auf den Verkauf von Garn.41 Zum Beweis dafür, daß sie das Garn sowohl zum Verkauf als auch für die Produktion ihrer Stoffe hergestellt haben, legten sie eine Musterkarte vor. Sie besteht aus achtundzwanzig sehr gut erhaltenen Stoffmustern, die an Dicke, Musterung sowie Webart variieren sowie aus neun Wollmustern in Gelb-, Rot- und Blautönen sowie in Grün und Schwarz, alle von einheitlicher Dicke.42 Sie geben einen Einblick in den Geschmack der damaligen Zeit. Dagegen baten nun die Beklagten, die für sich die ausschließliche Produktion des Garns beanspruchten, das Gericht, „das hiesige Bortenmacher-Handwerck zu weiterer genauer Bestimmung, ob das sogenannte Arras-Garn das sogenannte Zeuchmacher-Gam seye" anhand zweier, von ihnen vorgelegter Musterkarten eidlich zu vernehmen. Die beiden „Vorgeher" des Bortenmacherhandwerks, Johann Dill, katholisch, und Johann Georg Wolff, evangelisch - auf die Vertretung beider Konfessionen wurde geachtet - , wurden vereidigt und stellvertretend für ihr Handwerk vernommen. Eine der Musterkarten ist identisch mit der von den Zeugmachern vorgelegten Karte, die andere besteht aus achtunddreißig gleich dicken Wollmustern in verschiedenen Rot-, Grün-, Blau-, Gelb- und Orangetönen. Die beiden Bortenmacher erklärten, daß sie das Garn für ihre Borten von den Tuchmachern gekauft haben und es ihnen unbekannt sei, daß Zeugmacher dieses ebenfalls verkaufen würden; außerdem lasse sich diese Garnart „schlechterdings nicht zu den Zeuchen, welche sich auf der Musterkarte ... befinden, gebrauchen, denn es habe gar die Zurichtung und Feine nicht, die das Zeuch-Garn erfordere. "43 Eine weitere Wollmusterkarte mit sechsunddreißig verschiedenen Wollproben in unterschiedlicher Dicke wurde als weiteres Beweismaterial vorgelegt. Sie war den beiden Obermeistern des Zeuchmacherhandwerks zu Bopfingen, Jakob Friedrich Schatzmann und Gottfried Tuppert, zur Begutachtung übersandt. Sie vermerkten am Rand der Musterkarte, „daß von sämtlicher beygehender Muster-Carten keine Sorten der Garn zu Zeichmacher Waaren anständig. Folglich diese Garn auch bey jetzigen Zeiten von denselben nicht verarbeitet werden könne."44 Vergleicht man die Woll- mit den Stoffproben, so ist deutlich zu sehen, daß die Stoffe, auch die etwas dickeren, aus wesentlich dünneren Garnen gewebt wurden. Im Kampf um ihre Existenz gingen die Zeugmacher wohl davon aus, daß entweder die Richter keinen Unterschied feststellen oder sich die Tuchmacher zu einem Kompromiß durchringen könnten. Der Prozeß endete ohne Urteil des RKG bzw. ohne Vergleich. Am 17. Juli 1806

41 42 43 44

BayHStA BayHStA BayHStA BayHStA

RKG RKG RKG RKG

4607, 4607, 4607, 4607,

Q Q Q Q

25. 19. 78. 77.

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wiederholte der Prokurator der Kläger seine Bitte um Preclusion.45 Damit endet der Nachweis jeglicher Aktivität vor dem RKG. Das Verfahren wurde offensichtlich mit Ende des Alten Reiches und der Aufhebung des RKG an das nun zuständige bayerische Gericht verwiesen, d. h. an die königliche Regierung zu Ansbach, die sich für die Tuchmacher ausgesprochen hat.46 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich der Kampf um die Produktion und den Verkauf von Arrasgarn fort. Zu dieser Zeit gab es in Dinkelsbühl 56 Tuchmacher und 18 Zeugmacher.47 Am 24. März 1820 wandten sich die Tuchmacher an den Staatsrat des Königreichs Bayern und reklamierten die alleinige Herstellung des Garns für sich. Sie verwiesen u.a. auf verschiedene Streitigkeiten mit den Zeugmachern während des 18. Jahrhunderts, erwähnen jedoch nicht den Prozeß vor dem RKG. Die Zeugmacher hätten die Entscheidung der Regierung von Ansbach zwölf Jahre lang anerkannt, bis sie 1818 „unter dem Vorwand eines eingerissenen Nahrungsmangels" wieder mit dem Handel von Arrasgarn anfingen und der Magistrat ihnen am 31. Juli 1819 diesen Handel auch gestattet habe. Dagegen wandten sich die Tuchmacher an die Regierung des Rezatkreises, die das Urteil des Magistrats bestätigte. Die Tuchmacher riefen nun die oberste Instanz, den Staatsrat an, der in der Sitzung vom 7. Dezember 1820 entschied, daß es sich um eine Frage der Konzession handele und verwies die Angelegenheit an das Innenministerium. Dieses hat am 1. Januar 1821 die Beschwerde der Tuchmacher abgewiesen.48 Zwei Prozesse aus Schweinfurt zeigen den Konkurrenzkampf zwischen einer Zunft und dem Handelsstand. 1763 appellierten Zunftmeister und Vorsteher des Rotgerberhandwerks49 zu Schweinfurt gegen das Urteil von Bürgermeister und Rat der Reichsstadt vom 4. Mai 1763, das dem Schweinfurter Handelsmann Johann Martin Ehrlein gestattete, mit seinem auf der Frankfurter Fastenmesse erworbenen Lütticher, niederländischen, englischen und französischen Leder in der Stadt zu handeln. Die Rotgerber beriefen sich auf die Schweinfurter Handelsordnung vom 12. Juli 1697 wonach der Handel mit ungefärbtem Leder allein ihnen zustehe.50 Der Beklagte habe den Beruf nicht erlernt; er sei „eigentlich et quoad primam originem statt-

45

BayHStA RKG 4607, Spezialprotokoll. BayHStA MH 4313. 47 BayHStA MH 4313. 48 BayHStA MH 4404. Zur Handwerkspolitik im beginnenden 19. Jahrhundert s. ζ. B.: Emst AN EGG, Zur Gewerbestruktur und Gewerbepolitik Bayerns während der Regierung Montgelas. Diss. oec. München 1965; Josef KAIZL, Der Kampf um Gewerbereform und Gewerbefreiheit in Bayern von 1799-1868. (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 2.) Leipzig 1879. 49 Ein Verzeichnis der Rotgerber liegt dem Akt bei: BayHStA RKG 11700/I-II, Q 97. Zu den Gerbern vgl. Reinhold RErrH, Gerber, in: Lexikon des alten Handwerks. Vom späten Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Hrsg. v. dems. München 1990, 84-91. 50 Die Handelsordnung liegt in Abschrift bei: BayHStA RKG 11700/I-II, Q l l . 44

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kundiger Maßen ein gelernter Nadler, hat sich aber in die 3te Classe der Schweinfurtischen Kauffmannschafft versetzen lassen. " Wenn er Lederhandel betreiben will, so müsse er zunächst eine Rotgerberlehre durchmachen und als Lehijunge beginnen, wofür er jedoch zu alt sei.51 Ehrlein brachte dagegen vor, daß Schweinfurter Handelsleute seit den 1740er Jahren mit niederländischem Sohlleder handeln würden. Er beruft sich auf die Freiheit des Handels und darauf, daß er mit Wissen der Zunft seit den sechziger Jahren mit ausländischem Leder handele. Zur Bekräftigung seiner Aussage legte er Auszüge aus seinen Handelsbüchem aus den Jahren 1760 und 1761 vor, die den Verkäufer, die Menge und den Preis des Leders enthalten.52 Der Rotgerberzunft wirft er vor, sich ein profitables Monopol verschaffen zu wollen, was allein schon daran deutlich werde, daß sie zu wenig Sohlleder für die rund sechzig Schuhmachermeister der Reichsstadt bereitstellten. Ehrlein führte 1764 nach der Frankfurter Fastenmesse wieder ausländisches Sohlleder ein, worauf die Rotgerber Ende Juni ein Inhibitorialmandat erwirkten. Als Ehrlein das niederländische Leder, das er auf der im Herbst stattgefundenen Michaelismesse erworben hatte, in die Stadt brachte, ließen es Bürgermeister und Rat gewaltsam auf die Stadtwaage schaffen. Dagegen erhob Ehrlein Attentatsklage: es bedeute für ihn einen großen Verlust, „daß das Leder, welches ein Capital von 800 fl. ausmachet, otios dalieget, sofort ihm nicht nur das billige pro Cent entgehet, sondern auch das gerinn gesteckte Capital nicht umgesetzt werden kann." Er müsse auch befürchten, „daß das Leder, welches bey letzterer Messe theuerer als jemals gewesen und der Centner um 15 fl. höher eingekaufft werden mußte", im Preis fallen würde. Einen Teil des Leders habe er außerdem auf Kommission für die reichsstädtischen Schuster gekauft und es sei fraglich, ob sie weiter bei ihm kaufen würden.53 Bürgermeister und Rat erklärten dagegen, das verbotswidrig eingekaufte Leder nur bis zur weiteren Entscheidung des RKG in Verwahrung genommen zu haben. Beklagter ließ ein Zeugenverhör vornehmen. Die Altersspanne der dreizehn Zeugen reicht von 34 bis 72 Jahren. Vom Beruf gehörten sie dem Sattler- und überwiegend dem Schuhmacherhandwerk an, wobei ein Schuhmacher zum Weinhandel übergewechselt war. Die Zeugen wurden zu einzelnen Punkten der Streitschrift verhört, so z. B. ob sie bei Ehrlein Leder auf Kommission beschaffen ließen, ob sie überhaupt bei ihm Leder gekauft haben, wo der Verkauf stattgefunden habe und ob

51 BayHStA RKG 11700/I-II, Q 10. Der Wechsel in den Handelsstand war gegen Entrichtung einer Gebühr möglich; vgl. Friedrich L. ENDERLEIN, Die Reichsstadt Schweinüirt während des letzten Jahrzehnts ihrer Reichsunmittelbarkeit mit vergleichenden Blicken auf die Gegenwart. Schweinftirt 1862, 10. 52 BayHStA RKG 11700/I-II, Q 34, 35. 53 BayHStA RKG 11700/I-II, Q 47.

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nicht auch die Rotgerber von anderen Orten Sohlleder eingeführt und verkauft haben. Die letzte Frage wurde von den Zeugen bejaht: die Rotgerber würden Sohlleder, aber auch Roß- und Rindsleder aus Bamberg einführen und verkaufen.54 Ob die Intervention der Handelsvorsteher Ende Juni 1769 zugunsten des Beklagten sich günstig auswirkte, geht aus dem Prozeßakt nicht hervor. In einem ebenfalls 1773 vor dem RKG begonnenen Appellationsverfahren versuchte der Bürger und Kaufmann Johann Friedrich Lehnemann sein Recht, mit ausländischem Leder handeln zu können, zu behaupten. Anders als im vorgenannten Fall hatte Lehnemann bei einem Frankfurter Lederhändler eine Lehre absolviert und erbrachte vor Gericht einen schriftlichen Nachweis darüber. Ihm war 1772 von Bürgermeister und Rat von Schweinfurt auf Betreiben der Rotgerberzunft der Handel mit ausländischem Leder verboten worden. Er warf den Rotgerbern vor, sich ein unzulässiges Monopol verschaffen zu wollen, denn sie hätten allenfalls das Recht des ausschließlichen Handels mit einheimischem und selbst bearbeitetem Leder.55 Beide Prozesse zwischen Lederhändlem und der Schweinfurter Rotgerberzunft endeten ohne ersichtlichen Ausgang. Auch in Nürnberg waren die Lederhändler und das gesamte Rot- und Weißgerberhandwerk miteinander im Streit. Noch 1805 wandten sich letztere an das RKG mit der Bitte um Restitution gegen den Ablauf der Appellationsfrist.56 Näheres ist nicht ersichtlich. Der Streitgegenstand dürfte jedoch ähnlich den Schweinfurter Prozessen sein. Sollte noch ein Prozeß stattgefunden haben, dann vor dem ab 1806 zuständigen bayerischen Gericht.57 Die reichsstädtischen Handwerksprozesse bestätigen die unzulängliche wirtschaftliche Lage der Zünfte. Klagen um den Lebensunterhalt, um die Sicherung der Lebensnotdurft sowie die Versuche, die eigenen Grenzen der eigenen Zunft auszuweiten, sind deutliche Anzeichen dafür. Konkrete Angaben über den Lebensstandard sowie über Einkommensrückgänge enthalten auch die Prozesse vor dem RKG nicht. Die Handwerksordnungen sahen eine Konkurrenz entweder in Form des Landhandwerks oder der sogenannten „Pfuscher" oder in Form eines sich ausweitenden Handelsstandes nicht vor. Darunter hatten, wie die Beispiele zeigen, die Nürnberger

54

BayHStA RKG 11700/I-II, Q 74. BayHStA RKG 8080. 56 BayHStA RKG 9620. 57 Bereits am 10. Januar 1803 wurde von der Regierung in München den Kommissariaten in Franken und Schwaben mitgeteilt, daB der Reichsdeputationshauptschluß das Privilegium de non appellando für alle Besitzungen enthalte und somit keine Appellation an die Reichsgerichte mehr statthaft sei, das gelte auch für Verfahren in denen noch keine reichsgerichtliche Verfügung ergangen sei; bereits im Gange befindliche Appellationsprozesse seien davon nicht betroffen. BayHStA MA 4062. 55

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Schuhmacher sowie die Schweinfurter Rotgerber zu leiden. Die schlechte wirtschaftliche und finanzielle Situation wurde noch durch den Verlust an Absatzmärkten durch die Koalitionskriege verschärft, wie das Beispiel der Dinkelsbühler Zeugmacher zeigt. Die ohnehin bereits vorhandene Orientierung des Handwerks am alltäglichen Grundbedarf wurde dadurch noch verstärkt. Die Zünfte sahen die Grenzen ihrer Möglichkeiten. In der reichsstädtischen Bevölkerung war auch eine Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution vorhanden58, was sich auch in den Prozeßschriften zeigt. So ist die Rede von bürgerlichen Freiheiten, von der Freiheit des Handels sowie vom Zugang der technischen Erkenntnisse für alle. Zu einer direkten Umsetzung, die in letzter Konsequenz die Aufhebung der Zünfte gefordert hätte, was in Frankreich bereits 1789 erfolgt war, kam es jedoch nicht.

38 Jutta SEITZ, Das Ende der alten Reichsstädte und ihr Übergang an Bayern, in: Reichsstädte in Franken (wie Anm. 6), Bd. 1: Verfassung und Verwaltung, 346-357, hier 350.

Cornelia Jahn Die erste Säkularisationsmaßnahme der Regierung Montgelas Die Aufhebung des Paulanerklosters in München 1799

Die Aufhebung der nichtständischen und der ständischen Klöster in Bayern ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach Gegenstand der Forschung gewesen. Überblicksartigen Darstellungen1 stehen Einzeluntersuchungen2 zu den verschiedenen Aspekten des Themas gegenüber. Auch die Vorgeschichte der Säkularisation mit ihrer umfangreichen Publizistik wurde untersucht.3

1 Eberhard WEIS, Die Säkularisation der bayerischen Klöster 1802/03. Neue Forschungen zu Vorgeschichte und Ergebnissen. (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte, Jg. 1983, H. 6.) München 1983; Winfried MÜLLER, Die Säkularisation von 1803, in: Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte. Hrsg. v. Walter Brandmüller. Bd. 3: Vom ReichsdeputationshauptschluB bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. St. Ottilien 1991, 1—84; Dietmar STUTZER, Klöster als Arbeitgeber um 1800. Die bayerischen Klöster als Untemehmenseinheiten und ihre Sozialsysteme zur Zeit der Säkularisation 1803. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 28.) Göttingen 1986; Josef KIRMEIER/Manfred TREML (Hrsg.), Glanz und Ende der alten Klöster. Säkularisation im bayerischen Oberland 1803. (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 21/91.) München 1991; immer noch unverzichtbar wenngleich einseitig die bislang einzige Gesamtdarstellung zur Säkularisation: Alfons M. SCHEGLMANN, Geschichte der Säkularisation im rechtsrheinischen Bayern. 3 Bde. Regensburg 1903-1905. 2 Beispielsweise: Sabine ARNDT-BAEREND, Die Klostersäkularisation in München 1802/03. (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 95.) München 1986; Wolfgang JAHN, Die Aufhebung des Klosters Benediktbeuern, in: Glanz und Ende der alten Klöster (wie Anm. 1), 70-77; Winfried MÜLLER, Die Aufhebung von Kloster Fürstenfeld im Jahr 1803, in: In Tal und Einsamkeit. 725 Jahre Kloster Fürstenfeld. Die Zisterzienser im alten Bayern. Hrsg. v. Angelika Ehrmann/Peter Pfister/Klaus Wollenberg. Bd. II: Aufsätze. München 1988, 141-163. 3 Andreas KRAUS, Probleme der bayerischen Staatskirchenpolitik 1750 bis 1800. (Kolloquium der Deutschen Gesellschaft für Geschichte des 18. Jahrhunderts.), Manuskript im Druck; Ludwig HAMMERMAYER, Das Ende des alten Bayern. Die Zeit des Kurfürsten Max III. Joseph (1745-1777) und des Kurfürsten Karl Theodor (1777-1799), in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. v. Max Spindler. Bd. II. 2. Aufl. München 1988, 1133-1283; Winfried MÜLLER, Universität und Orden. Die bayerische Landesuniversität Ingolstadt zwischen der Aufhebung des Jesuitenordens und der Säkularisation 1771-1803. (Ludovico Maximilianea. Universität Ingolstadt - Landshut München. Forschungen, Bd. 11.) Berlin 1986; Jutta SEITZ, Die landständische Verordnung in Bayern im Ubergang von der altständischen Repräsentation zum modernen Staat 1778-1808. Diss. phil. (masch.) München 1987; Cornelia JAHN, Klosteraufhebungen und Klosterpolitik in Bayern unter

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In diesem Kontext ist auch die Aufhebung des Münchener Paulanerklosters 1799 zu sehen, die die erste Säkularisationsmaßnahme der Regierung unter Kurfürst Max IV. Joseph darstellt. Dieser Klosteraufhebung kommt insofern besonderer Stellenwert zu, als sie das Bindeglied zwischen den Säkularisationsmaßnahmen Kurfürst Karl Theodors (1781 Ridlerkloster in München, 1783 Indersdorf und Osterhofen) und den Klosteraufhebungen von 1802/03 darstellt. Es wird daher zu fragen sein, inwiefern sie sich von den zuvor realisierten Maßnahmen unterscheidet und welche Motive ihr zugrundeliegen.

1.

Die Vorgeschichte dieser Aufhebung reicht bis in die 1780er Jahre zurück. Karl Theodor nahm sich schon bald nach der Regierungsübemahme im Januar 1778 der Mendikantenpolitik an. Er setzte 1778 eine Kommission ein, die zunächst unter Leitung der Hofkammer, dann seit 1780 unter der neu gegründeten Oberen Landesregierung stand.4 Ihre Aufgabe war es zunächst, sich ein genaues Bild von der Anzahl der Bettelmönche im Land und von deren finanzieller Situation zu verschaffen. Im Zuge dieser Erhebungen richtete die Kommission ihr Augenmerk auch auf die beiden Paulanerklöster in Amberg5 und München6, in denen insgesamt 35 Mönche lebten. Ihre jährlichen Einkünfte betrugen mehr als 12 000 Gulden. Neben Liegenschaften, die nicht näher spezifiziert werden, besaßen die Paulaner 95 629 Gulden Kapital.7 In einem Bericht an den Kurfürsten, der den beiden Paulanerklöstern gewidmet war, behauptete die Obere Landesregierung - ohne daß ein genauer Kontext ersichtlich wird - , daß „dem allgemeinen Ruf nach" die Aufhebung dieser

Kurfürst Karl Theodor 1 7 7 8 - 1 7 8 4 . (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 1 0 4 . ) München 1994. 4 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [BayHStA] M F 12343 GR Fasz. 671, Nr. 166 und GR Fasz. 6 7 2 , Nr. 167. - Sie setzte sich aus jeweils zwei Räten der Hofkammer, des kurfürstlichen geistlichen Rates und des „Policeyrates" zusammen. - Georg K. v. MAYR (Hrsg.), Sammlung der churpfalzbaierischen allgemeinen und besonderen Landesverordnungen. Bd. 2. München 1784, 1125. - Die Mendikantenpolitik der Regierung Karl Theodors ist bislang kaum untersucht worden. Vgl. Bernhard LINS, Geschichte der bayerischen Franziskaneiprovinz zum hl. Antonius von Padua von ihrer Gründung bis zur Säkularisation. Bd. 1: 1 6 2 0 - 1 8 0 2 . München 1926, 184; ARNDT-BAEREND, Klostersäkularisation (wie Anm. 2), 2 5 - 2 7 ; JAHN, Klosteraufhebungen (wie Anm. 3), 2 2 - 2 8 . 5 Johannes LÖSCHE, Die Evangelisch-Lutherische Paulaneikirche Amberg. Amberg 1991, insbes. 4 ; Norbert BACKMUND, Die kleineren Orden in Bayern und ihre Klöster bis zur Säkularisation.

W i n d b e r g 1 9 7 4 , 8 0 f . ; SCHEGLMANN, Säkularisation ( w i e A n m . 1), B d . 3 , 7 7 0 - 7 7 6 . 6 Josef FREUDENBERGER, Aus der Geschichte der Au (München). Die alte Au. München 1927, 9 5 - 1 6 0 ; BACKMUND, Kleinere Orden (wie Anm. 5), 81; SCHEGLMANN, Säkularisation (wie Anm.

1 ) , B d . 1, 7

169-172.

BayHStA M F 12343 GR Fasz. 6 7 1 , Nr. 166 und 672, Nr. 167.

Die erste Säkularisationsmaßnahme

321

beiden Klöster unmittelbar bevorstünde, was angesichts der speziellen Verfassung dieses Ordens und der schlechten Disziplin der Mönche notwendig sei.8 Detaillierte Vorschläge über die Weiterverwendung der Gebäude und des Vermögens schließen sich an. Karl Theodor folgte diesen Vorstellungen nicht und wies den kurfürstlichen geistlichen Rat an, „mit aller Bescheidenheit, und, wenn es nöthig ist, mit aller Strenge auf die Wiederherstellung der Ordnung und geistlichen Zucht bey den hiesigen sowohl als bey den ambergischen Paulanern zu dringen.

Der kurfürstliche

geistliche Rat sandte Lokalkommissionen in beide Klöster, um diese inspizieren und die Mönche vernehmen zu lassen. Als Kommissare waren Direktor Kumpf10 und der geistliche Rat und Zensurrat Ildefons Kennedy tätig". Sie begaben sich am 23. Mai in das Münchener Kloster, um alle Insassen einzeln zu befragen.12 Zusammenfassend ergab sich folgendes Bild: Nach Aufhebung der ungarisch-böhmischen Ordensprovinz 177013 hatte Kurfürst Max III. Joseph die beiden bayerischen Paulanerklöster zu eigenen Vikarien erhoben. Die Mönche sollten im Beisein kurfürstlicher Kommissare einen Generalvikar wählen.14 Der Ordensgeneral wartete jedoch den vorgesehenen Wahltag nicht ab und bestimmte eigenmächtig P. Mauritius Lohr aus dem Münchener Paulanerkloster als Generalvikar. Lohr war bei seinen Mitbrüdern äußerst unbeliebt, so daß sich schon bald Klagen über ihn häuften.15 Er soll sich u. a. mit weltlichen Freunden beinahe täglich zum gemeinsamen Spiel und zum Trinken getroffen haben.16 Lohr hingegen beklagte den mangelnden Chorbesuch und

8

Ebd. Ebd. Vermerk auf der Rückseite des Schreibens mit eigenhändigem Vermerk Haeffelins. 10 Franz de Paula von Kumpf war seit 1775 Mitglied des Kollegiums, dessen alleiniger Direktor er 1783 wurde. Der Priester stand der Pfarrei St. Peter vor und starb 1810. - Richard BAUER, Der kurfürstliche geistliche Rat und die bayerische Kirchenpolitik 1768-1802. (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 32.) München 1971, 99. 11 Der gebürtige Schotte aus katholischer Familie trat 1741 in das Schottenkloster St. Jakob in Regensburg ein, studierte in Erfurt und wurde 1761 Sekretär der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er war seit 1773 Mitglied des Kollegiums. - Ludwig HAMMERMAYER, Academiae Scientiarum boicae Secretan us Perpetuus: Ildefons Kennedy O.S.B. (1772-1804), in: Großbritannien und Deutschland. Europäische Aspekte der politisch-kulturellen Beziehungen beider Länder in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für John W. P. Bourke. Hrsg. v. Ortwin Kuhn. München 1974,195-246. 12 BayHStA GR Fasz. 758/3, Bericht vom 24. Mai 1784. - Die Amberger Paulaner wurden am 14. Juni 1784 vernommen. Sie beklagten sich ebenfalls über Vikar Lohr; ebd. 13 BayHStA GR Fasz. 758/3. Durch die Abtrennung von der kaiserlichen Ordensprovinz in Österreich unterstanden die bayerischen Paulaner nunmehr einem fremden Ordensgeneral. Für die Gründung einer eigenen Provinz waren die beiden Ordensgemeinschaften zu klein. 9

14

15

FREUDENBERGER, G e s c h i c h t e d e r A u ( w i e A n m . 6 ) , 140.

„Da denn ein solch eingedrungener Oberer bey seinen Mitbrüdern nothwendig verhaßt seyn muß, so kann statt brüderlicher Eintracht - eine der wesentlichen Stücke brüderlicher Gesellschaften - nichts als Abneigung, Unordnung und Mißvergnügen herrschen, so nämlich, wie es wirklich bey uns ist." - BayHStA GR Fasz. 758/3, Gesuch der Paulaner zu Neudegg an den Kurfürsten, o. D. (Frühjahr 1784). 16 „[...] und die zeit mit spillen zubringen, auf des Paulaner-Klosters unkösten, sich mit dem

322

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die schlechte Disziplin der Mönche, die sich seinen Weisungen widersetzen würden.17 Gegenüber den kurfürstlichen Kommissaren klagten die Paulaner über das schlechte und teure Essen, das aufgrund ihrer Ordensregel ausschließlich aus Fischund Ölspeisen bestand.18 Aus diesem Grund seien sie häufig krank, wenig leistungsfähig und hätten insgesamt mit einer geringeren Lebenserwartung als ihre Kollegen in anderen Klöstern zu rechnen. Ebenfalls aus diesem Grund litten die Paulanerklöster unter Nachwuchsmangel, da nur diejenigen Kandidaten, die in anderen Orden nicht unterkämen, dem Paulanerorden beiträten.19 Sie erachteten ihre Situation als so unerträglich, daß sie sich mit der Bitte um Aufhebung ihrer Klöster an den Kurfürsten wandten. „Sechstens: da diese wenigen Vorstellungen gar einem jeden einleuchtend sind, so ist fast keiner aus uns, der nicht um gänzliche Aufhebung, oder wenigst Abänderung geseufzet hat; und daher hat das öffentliche Gerücht, daß die meisten Paulaner verlangen aufgehebt zu werden seinen richtigen Grund. [...] P. Vicarius Generalis wäre also der Aufhebung gar nicht entgegen, wenn es nur auf eine gute Art geschehen möchte, und eine hinlängliche Unterhaltung /: wozu unsere sehr beträchtliche Einkünfte überflüssig genug wären :/ ausgeworfen würde. Siebtens: das wir Endes unterschriebenen Aufhebung betreiben wollen, ehe P. Vicarius Generalis eine Bewegung machet, ist die Ursache, weil er sich beynebens verlauten lassen: die Anstalten zur Aufhebung wären schon getroffen, und alsdenn wolle er seinen Freunden schon besonders helfen. Um also von ihme nicht hintergangen zu werden, wollten wir das Sichere erwählen.u20 Die Haltung der kurfürstlichen Behörden zu diesem Vorschlag war unterschiedlich. Die Obere Landesregierung befürwortete die Aufhebung des Klosters.21 Der geistliche Ratskommissar Kennedy hingegen schlug in einem eigenhändig verfaßten Bericht vor, sich bei der Kurie in Rom dafür einzusetzen, daß beiden Klöstern die

heiligen vatter Bier, fast bifi zum Kozen labten." BayHStA GR Fasz. 7S8/3, Bericht vom Juni 1784. - Der fürstbischöfliche Kommissar Joseph Darchinger bezeichnete diese in einem Bericht 1802 rückwirkend als „Sauf- und Rauftnetten. " ARNDT-BAEREND, Klostersäkularisation (wie Anm. 2), 37. 17 BayHStA GR Fasz. 758/3, vom 5. Mai 1784. 18 BayHStA GR Fasz. 758/3, vom 24. Mai 1784 („Gravamina wider die Kost" von P. Claudius Hagn). - Die Paulaner mußten laut ihrer Ordensregel ein viertes Gelübde ablegen, mit dem sie sich verpflichteten, Zeit ihres Lebens nur Fastenspeisen ohne Eier, Käse und Milch zu sich zu nehmen. Die ausschließliche Ernährung aus Fisch- und Ölspeisen gestaltete sich für sie in Bayern aufgrund des ungünstigen Klimas schwierig. Sie klagten daher über schlechte, teure Speisen, die sie zumeist aus dem Ausland beziehen müßten und die im Kloster sehr schlecht zubereitet würden, da ihnen ein gelernter Koch fehle. 19 BayHStA GR Fasz. 758/3, Bericht vom Frühjahr 1784. 20 BayHStA GR Fasz. 758/3, Schreiben der Paulaner an den Kurfürsten, ca. Frühjahr 1784. 21 BayHStA GR Fasz. 758/3, Bericht, ca. Frühjahr 1784.

Die eiste Säkularisationsmaßnahme

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Neuwahl eines Generalvikars ermöglicht werde, der dann vom Ordensgeneral in Rom auf drei Jahre bestätigt werden müsse. Zugleich solle man sich ebenfalls in Rom dafür einsetzen, daß den Paulanern der Verzehr von Milchspeisen erlaubt werde.22 Karl Theodor folgte diesen Vorschlägen und befahl am 15. September, Generalvikar Lohr von seinem Amt zu suspendieren und in ein anderes Kloster zu versetzen.23 Das Amt des Generalvikars sollte „ein Friede und Ordnung liebender Mann zu welchem die Konventualen selbst persönliches Zutrauen haben" versehen, wobei mit dem Ordensgeneral in Rom alles weitere zu regeln sei. Die Kommissare Kumpf und Kennedy begaben sich daraufhin am 15. November in das Paulanerkloster, enthoben Lohr seines Amtes und versetzten ihn, ohne auf Widerstand zu stoßen, in das Karmelitenkloster nach Schongau.24 Gleichzeitig ermahnte der Kurfürst die Paulaner, die Ordensregeln exakt einzuhalten und sich „ruhig, friedlich, einig und christlich eurem Stande gemäß" aufzuführen. Fortan sei es keinem erlaubt, „sich in dem sogenanten Bräustübl mit Spielen, Trinken und dergleichen aufzuhalten, sondern vilmehr sich in seinem Zimmer mit studiren, und Lesung nützlicher Bücher zu beschäftigen. "25 Unterdessen bemühte sich die kurfürstliche Regierung über ihren Gesandten in Rom, Tommaso Antici26, die Genehmigung des Papstes für den Verzehr von Milchspeisen durch die Paulaner zu erreichen.27 Dieses Gesuch lehnte Papst Pius VI. jedoch ohne nähere Begründung ab. Die Klagen der Paulaner über ihre Ernährung dauerten folglich an. Inzwischen hatte zwar der zuständige Nuntius den Verzehr von Milchspeisen gestattet28, doch die Situation im Kloster verbesserte sich nicht. Bei einer erneuten Vernehmung der Mönche durch die kurfürstlichen Kommissare Kumpf und Kennedy am 22. November 1786, werden Zwietracht und Uneinigkeit unter den Münchener Paulanern wiederum deutlich. Zur Wiederherstellung der klösterlichen Disziplin und Ordnung setzten die Kommissare daraufhin in Einvernehmen mit dem Nuntius den Weltpriester Dr. Josef Finsinger als Direktor „in

22

BayHStA GR Fasz. 758/3, undatierter Bericht Kennedys, ca. Herbst 1784. BayHStA GR Fasz. 758/3. 24 Ebd.; sowie BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. I. 25 BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. I, vom 16. November 1784. 26 Der römische Freiherr und spätere Kardinal Tommaso Antici (1731-1812) vertrat die Pfalz seit 1769 und Kurpfalzbayem seit 1777 bei der römischen Kurie. Er hatte maßgeblichen Anteil an der Errichtung der Münchener Nuntiatur. - Dizionario biografico degli italiani. Bd. 3, 448-450. 27 BayHStA GR Fasz. 758/3, Schreiben vom 25. Dezember 1784 und vom 29. Januar 1785. 28 BayHStA GR Fasz. 758/3, vom 22. August 1786. - Der Papst und der General des Paulanerordens in Rom hatten diesen Wunsch inzwischen mehrfach abgelehnt. 23

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324

spiritualibus und temporalibus" ein. 29 Gleichzeitig wurde der bisherige Konrektor abgesetzt und P. Ivo Hauer, ein fähiger aber bei den Konventualen unbeliebter Ökonom, mit der Verbesserung der schlechten Wirtschafts- und Finanzführung des Klosters betraut. Der kurfürstliche geistliche Rat und Kurfürst Karl Theodor waren in diesen Jahren bestrebt, in beiden Paulanerklöstern die klösterliche Disziplin und Ordnung wiederherzustellen. Auf die Aufhebungswünsche des Münchener Konventes, die von der Oberen Landesregierung unterstützt wurden, ging man nicht ein. Die Gründe hierfür dürften im Kontext der übrigen Klosterpolitik Karl Theodors zu suchen sein. Der Kurfürst hatte 1781 das Münchener Ridlerkloster, 1783 das Augustinerchorherrenstift Indersdorf und das Prämonstratenserkloster Osterhofen aufgehoben.30 Das Vermögen des Ridlerklosters sollte ursprünglich der bayerischen Malteserordenszunge zugute kommen. Mit demjenigen des Klosters Indersdorf wurde die Vereinigung der kurfürstlichen Hofkapelle an der Residenz mit dem Münchener Kollegiatstift zu Unserer Lieben Frau ermöglicht, eine Maßnahme, die die Gründung eines vom Freisinger Ordinariat unabhängigen Münchener Hofbistums vorbereitete. Das Vermögen des Klosters Osterhofen diente der Witwe Kurfürst Max' III. Joseph, Maria Anna, zur Gründung eines adeligen Damenstifts. Alle Säkularisationsmaßnahmen dienten also weitreichenden kirchenpolitischen

Projekten.

Im Gegensatz zu

Joseph II., der in Österreich zahlreiche Klöster und Stifte ohne päpstlichen Konsens auflöste, realisierte Karl Theodor diese Vorhaben ausdrücklich mit Zustimmung des Papstes. Nachdem seine Wünsche mit Aufhebung der genannten Klöster erfüllt waren, bestand für ihn nunmehr kein Grund, ein weiteres Kloster zu säkularisieren. Zudem veränderte sich ab 1784/85 durch den Beginn der Illuminatenverfolgung die innenpolitische Lage. Somit lag für Karl Theodor jetzt kein Motiv vor, das die Aufhebung des Klosters, die unter Umständen mit zahlreichen administrativen Problemen verbunden gewesen wäre, für ihn gerechtfertigt hätte.

II. 1789 führten endlich die Bemühungen der Mendikantenkommission zu ersten greifbaren Ergebnissen31, nachdem 1787 der kurfürstliche geistliche Rat dieses

29 30 31

Ebd., vom 22. August 1787; FREUDENBERGER, Geschichte der Au (wie Anm. 6), 143. Vgl. JAHN, Klosteraufhebungen (wie Anm. 3). „Collegialhauptgutachten" vom 14. Juli 1789, BayHStA GR Fasz. 671, Nr. 166.

Die erste Säkularisationsmaßnahme

325

Amtsgeschäft federführend übernommen hatte.32 In ihrem Kollegialhauptgutachten rieten die Mitglieder dem Kurfürsten, das Paulanerkloster in der Au und das Münchener Angerkloster aufzuheben. „[...] und könnte gleich mit dem Paulaner Kloster in der Au, worin die Mönch selbsten schon um die Aufhebung seufzen, und sich selbst aneinander aufreiben, auch keinen einzigen Kandidaten haben, gleich der Anfang gemacht werden, als welches Kloster um so mehr zu verstehendem Endzweck respectu seiner Einkünfte verwendet werden könnte, als für Versorgung ihres Personals meistentheils hinlänglich Gelegenheit vorhanden wäre. Sohin dessen Unterhaltung dem Klosterfond nicht zu hoch zu stehen käme"33. Mit dem Vermögen des Angerklosters sollten die barmherzigen Schwestern in München und in Azlburg bei Straubing, sowie die Ursulinen in Ingolstadt und Straubing unterstützt werden. Karl Theodor lehnte diese Vorschläge erneut und mit dem Hinweis auf mögliche Unruhen von Seiten der Bevölkerung ab.34 1791 nahm die kurfürstliche Regierung das Problem wieder auf, nachdem alle bisher erlassenen Maßnahmen zu keiner Verbesserung der Situation innerhalb des Klosters geführt hatten. Der Kurfürst wies den geistlichen Rat an, erneut eine Kommission in das Kloster mit dem Auftrag abzuordnen, nachdrücklich für eine Abstellung der dortigen Mißstände zu sorgen. Andernfalls werde er mit Kerkerstrafen gegenüber den Mönchen reagieren.35 Mit der Aufgabe wurde federführend der kurfürstliche geistliche Rat Benedikt Stattler36 betraut, der nach einem Besuch des Klosters ein umfangreiches Gutachten erstellte.37 Demnach sei nicht „der Verfall der oekonomie, sondern nur iener der religiösen Disciplin [...] der Haupt- und allem Ansehen nach unheilbare Fehler in dem hiesigen Paulanerkloster". Die Einkünfte hingegen seien ausreichend, und derzeit keine Schulden vorhanden. Es stelle sich nunmehr die Frage, ob eine Wiederherstellung der klösterlichen Disziplin, die mindestens seit 1781 nicht mehr den Forderungen entspräche, noch möglich sei. 32 Die Obere Landesregierung mußte die Akten aushändigen. BayHStA GR Fasz. 671, Nr. 166/8, Protokoll vom 12. Februar 1788. 33 BayHStA GR Fasz. 671, Nr. 166/8, Protokoll vom 7. März 1789. 34 BayHStA MF 12343, vom 22. März 1790. „/B/ ähnliche Abänder und Neüerungen in den Nieder- und anderen Landen die grösten Unruhen und Zerrüttungen unter dem Volcke, das noch immer fest an der Regulargeistlichkeit klebt, verursachet haben, und weil ICI jener Endzweck nach noch einem kurzen Zeitverflus von selbst erreicht werden wird." 35 BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. I, vom 10. Februar 1791. 36 Der bekannte Theologe und Exjesuit Benedikt Stattler (1728-1797) war von 1791-1795 Mitglied des Kollegiums. BAUER, Kurfürstlicher geistlicher Rat (wie Anm. 10), 232. 37 „Unterthänigst gehorsamer, und vollständiger Bericht und Gutachten Über die ganze Paulaner Geschieht" vom 31. Juli 1792. BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. II. - FREUDENBERGER, Geschichte der Au (wie Anm. 6), 144 f.

326

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„Sollen auswerdige Priester oder churfüstliche Kommissärs diese Klosterzucht bei ihnen einführen? Man vergebe mir den Ausdruck: dise Zucht läßt sich nicht unter Klosterleute hineinpritschen. Alle weltliche Macht vermag was solches nicht. Nur grosse Christmänner, welche potentes opere et sermone nach dem Beyspiele des Erlösers sind, bringen zu weilen sowas in schon ganz verfallenen Klostergemeinden zuwege. Und dann hält man es für ein grosses Wunder."38 Aus diesem Grund wäre es am besten, „so ein Kloster aufzuheben, und die reiche Stiftung und Einkünften desselben zu den ohnehin sonst so dringenden Bedürfnissen des öffentlichen geistlichen und zeitlichen Volks besser zu verwenden. [...] Nur erinnere ich noch, daß in der Execution einer ieden Klosteraufhebung grosse Behutsamkeit in der Wahl des Personals dazu, und in der Art selbsten beobachtet werden muß, um alles aergerniß der Schwachen zu vermeiden"39. Der Geistliche Rat folgte diesem Vorschlag seines Kommissars und bat am 4. August 1792 den Kurfürsten um eine Entscheidung. Karl Theodor billigte diesen Vorschlag wiederum nicht. Aus einem Mandat an den kurfürstlichen geistlichen Rat geht hervor, daß er sich das Problem ausführlich vortragen ließ und daraufhin beschloß, daß „erwähntes Kloster nach Vorschrift der Ordenssatzungen, und nach der Willensmeynung des gottseligen Stifters immerfort aufrecht erhalten" werden solle.40 Die Paulanerfrage war damit erneut vorläufig ad acta gelegt.

III.

Im Zuge des 15-Millionen-Gulden-Projektes wurden 1798 auch die Paulaner aufgefordert, ihren entsprechenden Beitrag an die Staatskasse abzuliefern. Sie erklärten sich jedoch außerstande, die geforderte Summe aufzubringen und ersuchten erneut um Aufhebung ihres Klosters.41 Der Kurfürst scheint in diesen letzten Wochen seiner Regierung jetzt grundsätzlich bereit gewesen zu sein, das Kloster aufzuheben. Er ersuchte die geistliche Güter-Contributions-Kommission zu prüfen, ob hierfür eine päpstliche Bulle erforderlich sei oder die Zustimmung des Münchener Nuntius ausreiche.42 Die genannte Kommission sprach sich für die Aufhebung beider Paulanerklöster aus, da sie diese selbst verlangt hätten und ihr

38

Ebd. Ebd. 40 BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. II, vom 11. September 1792. 41 FREUDENBERGER, Geschichte der Au (wie Anm. 6), 145. 42 BayHStA KL Fasz. 74/5, rückwirkender Bericht der Güter-Contributions-Kommission vom 4. April 1799. 39

Die erste Säkularisationsmaßnahme

327

Vermögen (zusammen 229 000 fl.) beträchtlich sei. Wegen der damit verbundenen Aufhebung der Gelübde sei hierzu eine päpstliche Bulle erforderlich.43 Der Tod Karl Theodors am 16. Februar 1799 verhinderte zunächst weitere Entscheidungen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß er beinahe bis zuletzt nicht bereit war, dem Aufhebungswunsch der Mönche nachzukommen. Stattdessen versuchte er immer wieder, Ordnung und Disziplin im Kloster wiederherstellen zu lassen. Erst als 1798 die finanzielle Lage des Staates prekärer denn je war, war er bereit, das Münchener Paulanerkloster zu säkularisieren. Die neue Regierung mußte sich schon im April 1799 des Problems annehmen. Der Wiederausbruch des Krieges im Frühjahr 1799, bei dem Bayern nunmehr auf Seiten der Koalition gegen Frankreich kämpfte, hatte dazu geführt, daß in den Münchener Kasernen, Klöstern und öffentlichen Gebäuden mehr als 4500 Soldaten untergebracht waren.44 Gleichzeitig fehlte nunmehr der Platz für weitere 1361 Soldaten. Der Hofkriegsrat, der mit diesem Problem befaßt war, schlug daraufhin - basierend auf Berichten seiner Mitglieder Lechner und Hohenhauser - vor, das Münchener Paulanerkloster räumen zu lassen, die Mönche nach Amberg zu versetzen und die freigewordenen Münchener Klostergebäude als Kaserne zu verwenden.45 Der Kurfürst habe „nicht nur die Macht, ein so unbedeutendes sich selbst zur Last fallendes Kloster aufzuheben, sondern alle der bedeutendsten, und welche Mitstände vom Lande sind. α4ί Max IV. Joseph folgte diesem Vorschlag und ersuchte am 4. Mai den kurfürstlichen geistlichen Rat, Kommissare zu benennen, die sich im Einvernehmen mit Generalmajor v. Hohenhausen des Problems annähmen. Dabei verstehe es sich von selbst, „daß auf die kirchliche, oeconomische und anderer zur Sache gehörigen Umstände Rücksicht genommen, und durch allenfalls mit den Oberen der Paulaner selbst, über die Frage, wie, zu pflegende Rücksprache, alles in Kürze so eingeleitet werden soll, daß die höchste Intention in möglichster Bälde,

43

Ebd. BayHStA Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6, vom 28. April 1799. - Vgl. Christian LANKES, München als Garnison im 19. Jahrhundert. Die Haupt- und Residenzstadt als Standort der Bayerischen Armee von Kurfürst Max IV. Joseph bis zur Jahrhundertwende. (Militärgeschichte und Wehrwissenschaften, Bd. 2.) Berlin/Bonn/Herford 1993. 45 BayHStA Kriegsarchiv AIX 1 Bund 6, vom 30. April 1799. Lechner hatte bereits am 28. April argumentiert: „Da nun bey diesen Verhältnis der Umstände, nachdem alle Casemen, Klöster und öffentliche Gebäude beleget sind, kein anderes Mittel übrig bleibet, als das ein Klostergebäude ganz zu einer Caserne [Hervorhebung im Original] noch verwendet werde; so unterfange ich mich den unterthänigsten Vorschlag zu machen, ob euer Churfürstlichen Durchlaucht nicht das hiesige Paulaner Klostergebäude, welches wenigstens mit einiger Herrichtung einen Platz für 1200 Koepf verschaffet, zu einer Casern Benhuef verwenden lassen wollen, indem sich aldort in diesen Kloster nur 12 bis IS Patres befinden, welche leichthin zu jenen nach Amberg befindlichen eingetheilet werden könnten [...]." Ebd. 44 Ebd., vom 30. April 1799. 44

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und ohne unnöthige Verzögerung erfüllt werden könne"47. Mit diesen auf den ersten Blick unscheinbaren Zeilen löste Max IV. Joseph das Münchener Paulanerkloster ohne päpstlichen oder fürstbischöflichen Konsens auf. Anders als Karl Theodor, der bei den Klosteraufhebungen der Jahre 1781-1783 zunächst jedenfalls bewußt die Zustimmung des Papstes gesucht hatte, setzte Max IV. Joseph sich über - mit der Aufhebung verbundene - kirchenrechtliche Probleme hinweg. Ein über dieses Reskript hinausgehendes Schreiben, in dem beispielsweise detaillierte Anweisungen an die Aufhebungskommissare ergehen, Bestimmungen über die Weiterverwendung des Klostergebäudes und die Höhe der Pensionen enthalten sind, gab es zunächst nicht. Vielmehr gewinnt man bei Durchsicht der einschlägigen Akten den Eindruck, daß alles sehr rasch unter der Hand ablief. Gedanken zur Weiterverwendung des Vermögens machte man sich zunächst nicht. Somit können finanzielle Motive für diese Aufhebung zum damaligen Zeitpunkt nicht als ausschlaggebend angesehen werden. Der kurfürstliche geistliche Rat ordnete nunmehr seinen Direktor v. Kittreiber ab. Die beiden Kommissare begaben sich am 7. und 8. Mai in das Kloster, besichtigten die Gebäude, vernahmen den Korrektor, den Generalvikar, den Pfarrvikar und den Ökonom und verschafften sich so ein genaues Bild von der Situation.48 Sie kündigten den Mönchen „die höchste Willensmeinung in einer Art an, daß ihnen selbe gleichsamm willkommen zu sein schien; um so mehr, als sie dadurch auch der schlechten Kost und der klösterlichen Unannähmlichkeiten enthoben würden"49. Man verständigte sich darauf, daß das Kloster innerhalb von vierzehn Tagen geräumt und sodann für die Unterbringung von Soldaten genutzt werde. Der Freisinger Fürstbischof Joseph Conrad v. Schroffenberg, in dessen Diözese das Kloster lag, protestierte am 24. Juni 1799 gegen diese Maßnahme. Er sei davon überzeugt, daß man für die Unterbringung der Soldaten auch ein anderes Gebäude hätte finden können und forderte, die Paulaner so bald als möglich in ihr Kloster zurückzubringen.50 Die Aufhebung des Klosters, wie sie geschehe, sei ohne Genehmigung des Papstes kirchenrechtlich äußerst bedenklich." Aus diesem Grund sollten die Mönche mit ihren Pensionen in das Kloster nach Amberg versetzt werden. Am 47

BayHStA Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6. BayHStA KL Fasz. 80/30 Conv. I, Protokolle vom 7. und 8. Mai 1799. 49 BayHStA KL Fasz. 80/30 Conv. I, vom 10. Mai 1799. 50 BayHStA KL Fasz. 74/5. 51 Am deutlichsten wird die Haltung Schroffenbergs in einer eigenhändigen Notiz vom 26. August 1799: „Da übrigens das ganze Münchensche Verfahren, mittels eigenmächtiger Auflösung einer geistlichen Gemeinde, und die Ermächtigung ihres Stiftungsfonds mit Auswerfung bloß willkürlicher Pensionen weiter nichts, als eine Aufhebung dieser geistlichen Stiftung, und allerdings ein widerrechtliches Verfahren und eine Quelle der Bedenklichsten Folgen ist, so soll sich die fürstbischöfliche Ordinariatstelle mit einer erneuten Vorstellung nach München wenden. " 48

Die erste SäkularisationsmaBnahme

329

5. August mußte der Fürstbischof den ehemaligen Paulanem den Verzehr von Fleischspeisen gewähren, nachdem sich die Mönche aus gesundheitlichen Gründen zuletzt ohnehin über dieses Verbot hinweggesetzt hatten.52 Weitere Proteste gegen die Aufhebung und der Versuch, den Papst, dessen derzeitiger Aufenthaltsort ungewiß war, einzuschalten, führten zu keinem weiteren Ergebnis.53 Am 20. September schließlich ersuchte der Direktor des geistlichen Rates die freisingische Regierung um Ablegung des Ordensgewandes für die aufgehobenen Paulaner, „theils weil es in publico auffallend seyn muß, wenn sie, als verlohrne Schafe gleichsam, zum Gespöth im Ordens-Kleid einzeln herumirren sollten. Meines dafürhaltens verdient bey solchen Umständen, und weil das Ordenskleid bey einem Religiösen just das Wesentliche nicht ist, ihre Bitte allenfalls eine gnädigste Rücksicht"54. Die Mönche verließen am 15. Juli das Kloster, dessen Gebäude sodann dem Hofkriegsrat zur weiteren Nutzung übergeben wurden.55 Von den fünfzehn Paulanern (darunter drei Laienbrüder) blieben sechs in der Au, um dort weiterhin in der Seelsorge tätig zu sein. Fünf, die sich noch im Studium befanden, wurden nach Dorfen versetzt, um ihre Ausbildung zu beenden. Alle übrigen traten in den Weltpriesterstand über.5* Die Patres erhielten eine jährliche Pension von 300 fl., die drei Laienbrüder jeweils 240 fl.57 Für die Versorgung der ehemaligen Mönche fielen somit jährlich 4330 fl. an. Die Höhe der zugewiesenen Pensionen lag damit deutlich über denjenigen, die die Bettelmönche 1802 erhielten.58 Der Klostergärtner und der Stallknecht, die im Kloster im Dienst standen, behielten ihre Arbeit, während der vormalige Konventdiener, sowie ein Maurer- und ein Zimmergeselle entlassen wurden.5'

52 BayHStA KL Fasz. 74/5, vom 5. August 1799 und AEM K1A 227/IV, vom 31. Juli und 1. August 1799. 53

BayHStA KL Fasz. 74/5, vom 2. September 1799.

54

AEM K1A 227/IV.

55 BayHStA Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6, vom 30. Juli 1799 und BayHStA KL Fasz. 74/5, vom 16. und 23. Juli 1799; Freudenberger, Geschichte der Au (wie Anm. 6), 146. 56 BayHStA KL Fasz. 74/5, vom 17. Juni 1799 und AEM K1A 227/IV, vom 1. Juni, 8. Juni, 31. Juli und 1. August 1799 sowie BayHStA KL Fasz. 80/25 (detaillierte Liste). 57 BayHStA KL Fasz. 80/25. 58

Diese lagen zwischen 125 und 200 fl. - Vgl. ARNDT-BAEREND, Klostersäkularisation (wie

A n m . 2), 59

176-178.

BayHStA KL Fasz. 74/5, vom 25. August 1799.

330

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a) Die Weiterverwendung des Klostervermögens Mit der Administration des Vermögens wurde am 1. Juni 1799 der kurfürstliche geistliche Rat Friedrich Woschitka betraut.60 Er erhielt Anfang Oktober den Auftrag, das gesamte Vermögen bestehend aus Mobilien und Immobilien schätzen zu lassen, ihre Erträge zu ermitteln und den Pensionsstatus für die Mönche auszuwerfen.61 Doch erst als der Kurfürst zwei (!) Jahre später erneut eine diesbezügliche Weisung an den kurfürstlichen geistlichen Rat mit der Bitte erteilte, ein Gutachten „über die gemeinnützige Verwendung dieser Fundation, und über derselben künftige Verwaltung" zu erstellen, kam Woschitka diesem Auftrag nach. Er gelangte in seinem Gutachten62 zu folgenden Ergebnissen: Die Immobilien seien insgesamt 102 521 fl. 20 kr. wert, aus denen das Kloster einen jährlichen Ertrag von 4994 fl. 38 1/2 kr. zöge. Mit 60 000 fl. machte dabei das Braurecht („Braurechts Anschlag") den größten Wert aus, gefolgt vom Klostergebäude mit 32 000 fl. und der Hofmark Neudeck von 10 897 fl. Die Mobilien schätzte Woschitka insgesamt auf 92 099 fl. 34 kr., die jährlichen Ausgaben auf 5416 fl. 24 kr. 2 pf., wobei allein 4330 fl. auf Pensionszahlungen für die ehemaligen Mönche entfielen. Woschitka schlug vor, das Vermögen des Paulanerklosters zur „Umschaffung der Kloster Pfarr mit ihren Filialen in eine Saecular Pfarr, Verbesserung ihres gegenwärtigen Zustandes, eingentlich Dotirung derselben, Errichtung und Verbesserung der Schulen in der Au und zu Giesing"63 zu verwenden. Auf der Basis dieses Gutachtens traf Max IV. Joseph am 25. August 1802 schließlich folgende Entscheidungen:64 Der kurfürstliche geistliche Rat wurde angewiesen, insgesamt für die Reduzierung der Ausgaben zu sorgen. Die vorgeschlagenen Pensionszahlungen wurden teilweise reduziert, wie überhaupt gerade in diesem Bereich immer wieder das Bestreben des Staates deutlich wird, hier Geld zu sparen. Gleichzeitig erteilte der Kurfürst die grundsätzliche Genehmigung für die Veräußerung des ehemaligen Paulanerbesitzes, sicherte die Errichtung einer Pfarrei bei der Maria Hilf Kirche65 zu und stellte Mittel für die Errichtung einer Schule in der Au bereit. Der kurfürst-

60

BayHStA KL Fasz. 74/3. BayHStA KL Fasz. 74/3. 62 BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. III, „Unterthänigst geistl. Raths Bericht, die Herstellung des Vermögens-Standes der Paulaner zu München und zu Amberg, dann die Verwendung des FundationsFondes betr." vom 22. bis 29. September 1801. Alle folgenden Zahlen beziehen sich auf diesen Bericht. 63 Ebd. 64 BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. III (Konzept vollständig aus der Hand Brancas). 65 Uwe G. SCHATZ, Der Mariahilfplatz in München-Au. Planungen 1816-1830, in: Oberbayerisches Archiv 111, 1986, 85-117, insbes. 88-90. 61

Die erste Säkularisationsmaßnahme

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liehe geistliche Rat versteigerte Ende Oktober die Immobilien des ehemaligen Paulanerklosters, wobei auffällt, daß die meisten Güter über dem Schätzpreis verkauft wurden.66 Weitere Versteigerungen und Verkäufe zogen sich bis 1803 hin.67 Die Aktion gestaltete sich zunehmend schwieriger, zumal in der zweiten Jahreshälfte aufgrund der Säkularisation aller übrigen Klöster in München68 nunmehr ein Überangebot bestand.69 Im Zuge der Inventarisierung der Mobilien des Klosters im September 1801 schenkte Woschitka auch der Bibliothek Aufmerksamkeit. Sie soll ca. 5000 Bände70 umfaßt haben und wurde von dem Antiquar und Hofratsschätzer Philipp Falter auf einen Wert von 708 fl. 56 kr. geschätzt.71 Bereits am 25. März 1800 hatte der kurfürstliche geistliche Rat den Befehl erhalten, diese Bibliothek der Hofbibliothek zu übergeben.72 Mehr als zwei Jahre später mahnte Oberhofbibliothekar Haeffelin unter dem Hinweis auf die Gefährdung der Bücher diese nunmehr an.73 Der geistliche Rat gestattete schließlich am 30. August der Hofbibliothek einen „Abgeordneten" zu entsenden, der die in Frage kommenden Bände auswählen sollte.74 Die Anzahl der Bände, die auf diesem Weg in die Hofbibliothek gelangten, läßt sich nicht mehr ermitteln. Neben vier Handschriften wählte Kommissar Aretin 19 Inkunabeln für die Hofbibliothek aus. Weitere Bände gelangten in verschiedene Schulbibliotheken. Den Rest erwarb der Münchener Antiquar F. J. Ehrentreich für 180 fl., mit der Verpflichtung, diese nur im Ausland zu verkaufen.

b) Weiterverwendung der Klostergebäude Das Reskript vom 4. Mai 1799, das die Versetzung der Münchener Paulanermönche anordnete, sah die Einquartierung von Soldaten in den sehr geräumigen Kloster-

66

BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. III, vom 23. Oktober 1802.

67

Es handelte sich jetzt um das Brauhaus und um die Hofmark Neudeck, für die die Angebote nunmehr unter dem Schätzpreis lagen. Vgl. BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. IV, vom 4. März 1803. 68

V g l . ARNDT-BAEREND, K l o s t e r s ä k u l a r i s a t i o n ( w i e A n m . 2 ) .

69

BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. IV, vom 22. September 1803.

70 Genaue Zahlen sind nicht überliefert. Die Schätzung beruht auf Paul RUF, Säkularisation und Bayerische Staatsbibliothek. Bd. 1: Die Bibliotheken der Mendikanten und Theatiner (1799-1802). Wiesbaden 1962, 378. 71 BayHStA KL Fasz. 74/3, vom 12. September 1801. - Grundlegend: RUF, Säkularisation (wie Anm. 70), Bd. 1, hier 375-380. Die Bibliothek galt als unbedeutend. 72 BayHStA KL Fasz. 80/30 Conv. I. 73

BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. III, vom 5. Juni 1802.

74

RUF, Säkularisation (wie Anm. 70), 378-379.

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Cornelia Jahn

gebäuden vor.75 In ihnen sollten mehr als 1300 Soldaten Platz finden. Nachdem die Mönche das Kloster am 15. Juli 1799 verlassen hatten, übergab der kurfürstliche geistliche Rat am 23. Juli die Gebäude dem Hofkriegsrat.76 Dieser nutzte sie bis Anfang 1802 als Kaserne.77 Die Bevölkerung beschwerte sich bei den zuständigen Behörden mehrfach über die dort einquartierten französischen Soldaten. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln sei teilweise unterbrochen und sogar von Mißhandlungen ist in den Akten die Rede.78 Der Hofkriegsrat bezeichnete diese Klagen als „nicht ungegründet"7®. Die mittlerweile baufälligen und einsturzgefährdeten Gebäude wurden im Juni 1802 vom kurfürstlichen geistlichen Rat übernommen.80 Ein Jahr später entschloß sich die kurfürstliche Regierung, hier ein Strafarbeiterhaus zu errichten.81

IV.

Vergleicht man die Säkularisation des Münchener Paulanerklosters mit deijenigen Karl Theodors mehr als fünfzehn Jahre zuvor, so fallen folgende grundlegende Unterschiede auf: Waren für Karl Theodor stets finanzielle Motive ausschlaggebend, so stand 1799 gerade diese Frage im Hintergrund. Der kurfürstlichen Regierung ging es zunächst nur um Platz für die französischen Truppen, die die Paulanerklostergebäude nur wenige Wochen nach Auflösung des Konventes beziehen konnten. Hier arbeiteten die Behörden rasch und effizient, wohingegen die Frage nach der Höhe und der weiteren Verwendung des Klostervermögens erst im Zuge der Säkularisation der Münchener Klöster 1802 gelöst wurde. Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt in der Vorgehensweise der kurfürstlichen Behörden. Karl Theodor realisierte seine Klosteraufhebungen größtenteils im Bündnis mit der Kurie. Dieser Weg war langsam, umständlich und stets mit zahlreichen diplomatischen Schwierigkeiten behaftet. Sein Nachfolger hingegen ignorierte die

75 BayHStA Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6. - Ausführlich hierzu: BayHStA KL Fasz. 80/30 Conv. I-II. 76 BayHStA KL Fasz. 74/5 und BayHStA, Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6, vom 30. Juli 1799 (Ubergabeprotokoll). 77 BayHStA KL Fasz. 80/30 Conv. II. 78 BayHStA KL Fasz. 80/29: „Churfürstliche geheime Raths Acta, die feindlichen einquartierungen ins Paulaner Kloster dahier, und darinn von den Franzosen verübten Excessen betr. de a° 1800." 79 BayHStA Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6, vom 23. Mai 1801. 80 BayHStA Kriegsarchiv A IX 1 Bund 6, vom 1. Juni 1802. 81 BayHStA KL Fasz. 80/25 Conv. IV, vom 8. Juli und 5. August 1803. - Klassizismus in Bayern, Schwaben und Franken. Architekturzeichungen 1775-1825. München 1980, 132-134.

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mit der Aufhebung verbundene kirchenrechtliche Problematik völlig. Er hob das Kloster mittels eines kurfürstlichen Reskripts auf. Unterschiede lassen sich auch bezüglich der Rolle des zuständigen Diözesanbischofs feststellen. Zwar versuchte schon Karl Theodor den betroffenen Bischof so weit als möglich auszuschalten, doch banden ihn die verschiedenen päpstlichen Bullen und Breven immer wieder an dessen Mitwirkung. Die Versetzung der Mönche und Nonnen in andere Klöster war stets Angelegenheit des zuständigen Ordinariats. 1799 nun wurde der betroffene Freisinger Bischof völlig übergangen. Die kurfürstliche Regierung löste alle mit der Aufhebung verbundenen Fragen ohne Mitwirkung von außen. Auch hinsichtlich des Fortlebens der Mönche unterscheiden sich die genannten Säkularisationsmaßnahmen grundlegend voneinander. Zwischen 1781 und 1783 wurden die betroffenen Mönche und Nonnen unter Mitwirkung des zuständigen Diözesanbischofs stets in andere Klöster versetzt, bzw. eigene Priesterhäuser für sie gegründet. Max IV. Joseph hingegen gewährte den Paulanern „den freyen Abzug samt den ihnen eigentümlich gehörigen Effecten zu ihren Befreunden oder Pfarrern, mit welchen sie bekannt sind."82 Damit versetzte er erstmals im Zuge der Säkularisation in Bayern Mönche in den Stand von Weltpriestern. Den Vorschlag des Freisinger Bischofs, die Münchener Paulaner in das Amberger Kloster zu versetzen, ignorierte er. Die zuletzt rasche, entschlossene Vorgehensweise der kurfürstlichen Behörden, das Übergehen von Papst und zuständigem Bischof und das neue Verständnis bezüglich des Weiterlebens der ehemaligen Mönche sind Charakteristika, die auf die Säkularisation 1802/03 hindeuten.

82

AEM K1A 227/IV, Beschluß vom 1. Juni 1799 in Schreiben vom 8. Juni 1799.

Wolfgang Zorn Die Eingliederung Augsburgs in das Königreich Bayern unter König Max I. Joseph in der Sicht des Patriziats Das Thema der Integration ehemals reichsunmittelbarer Gebiete in den Wittelsbacherstaat der Montgelas-Zeit nach der Säkularisation und Mediatisierung ist im vergangenen Jahrzehnt insbesondere durch Anstöße des Jubilars1 vermehrt und vertieft bearbeitet worden. Das gilt auch für Bayerisch-Schwaben2 und die ehemalige Reichsstadt Augsburg. Nachdem die in eine weitergespannte Thematik eingefügte Darstellung der Dissertation von Peter Fassl3 das Fehlen aller bayerischen Organisationsakten in den Archiven behauptet hatte, wurden diese zentralen Akten für eine bei Eberhard Weis eingereichte Dissertation von Rosemarie Dietrich4 aufgefunden und akribisch und wohl abschließend ausgewertet. Auch diese genaue Schilderung stützt sich wesentlich auf Akten und darin enthaltene Berichte der mit Besitzergreifung und Verwaltungs- und Finanzreform beauftragten königlichen Beamten. Einen Ansatz von der Stadtgesellschaft selbst her verfolgt eine Frankfurter Augsburg-Dissertation von Frank Möller im Rahmen des von Lothar Gall geleiteten städtevergleichenden Forschungsprojekts „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert". Auch da erlauben vorwiegend gedrucktes zeitgenössisches Schrifttum und archivierte Behördenakten einen Blick auf die Reaktionen und Stimmungen der verschiedenen

1 Vgl. u. a. den Kolloquiumsband Eberhard WEIS (Hrsg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland. München 1984. 2 Zusammenfassend Pankraz FRIED (Hrsg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostschwaben. (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 2.) Sigmaringen 1982. 3 Peter FASSL, Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt, Augsburg 1750-1850. (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, Bd. 32.) Sigmaringen 1988, 171-189: Politik und Gesellschaft beim Übergang der Reichsstadt an Bayern, hier 177. 4 Rosemarie DIETRICH, Die Integration Augsburgs in den bayerischen Staat (1806-1821). (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, Bd. 34.) Sigmaringen 1993.

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Wolfgang Zorn

Schichten der Stadtbevölkerung.5 Deren Dokumentierung sollte bereits Aufgabe einer 1944 bei Karl Alexander v. Müller in München eingereichten Dissertation von Hildegunde Dietrich sein, die aber quellenmäßig auf örtliche Zeitungen, Akten und gedruckte Stadtgeschichten ohne Chronikmanuskripte von Zeitzeugen beschränkt blieb.6 Nicht viel weiter kam eine etwas anders betitelte Dissertation bei Franz Schnabel von Richard Thoma von 1953.7 Offenbar wäre ein echtes Stimmungsbild „von unten", von Privatleuten, über dokumentierte Begegnung mit Behörden der neuen Obrigkeit und über zensierte Presse hinaus, nur mit privaten Aufzeichnungen und Briefen der Jahre seit 1806 zu gewinnen. Davon ist nur wenig in öffentliche Archive und Bibliotheken gelangt. Auch wäre es ein glücklicher Zufall, wenn aus den sogenannten nichtliterarischen Schichten Aufzeichnungen sich erhalten hätten, sofern es sie überhaupt gab. Der bürgerliche Kaufleutestand hinterließ selten und unvollständig genug interne Geschäftspapiere, kaum anderes. Nach aussagefähigen Aufzeichnungen von Geistlichen beider Konfessionen scheint merkwürdigerweise nie gezielt gesucht worden zu sein. So bleibt der ehemals stadtregierende Familienkreis des katholischen und evangelischen Patriziats® mit seiner Anwärtergruppe der „Mehrer der Geschlechter", meist Kaufleuten und gelegentlich Juristen. Hier führt die Quellensuche natürlich in private Adelsarchive, die - manchmal infolge Diebstahls oder Vertrauensmißbrauchs - unterschiedlich zugänglich zu sein pflegen. In diesem Kreis war das Führen von Tagebüchern heranwachsenden Söhnen oft als Erziehungsteil aufgetragen und tat stilistisch den Ausbildungserfolg an den beiden Gymnasien der Stadt dar. Außer den Fürsten und Grafen Fugger waren allerdings mehrere weitere Patrizierfamilien Besitzer von Schloßgütern mit adliger Gerichtsbarkeit, also in ihren Interessen gleichzeitig dem Landadel angehörig. Zum Anfang des betrachteten Zeitraums mag doch eine Quellenstelle aus bayerisch-beamtenadliger Feder zitiert werden, der längst im Wortlaut abgedruckte Bericht vom September 1806, den der entsandte königliche Organisationskommissar

5 Vorerst Frank MÖLLER, Bürgertum als Schutzgemeinschaft. Augsburg 1794-1818, in: Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780-1820. Hrsg. v. Lothar Gall. (Stadt und Bürgertum, Bd. 3; auch: Historische Zeitschrift, Beiheft 14.) München 1991, 559-603; zuletzt ders. in dem allerdings systematisch angelegten Projekt-Fortsetzungsband bis 1848: Stadt und Bürgertum im Ubergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft. Hrsg. v. Lothar Gall. (Stadt und Bürgertum, Bd. 4.) München 1993, 391-412. 6 Hildegunde DIETRICH, Die Angliederung Augsburgs an Bayern und die Augsburger öffentliche Meinung. Diss. phil. (masch.) Hohenbrunn 1944. 7 Richard THOMA, Gesellschaft und Geistesleben im vormärzlichen Augsburg. Diss. phil. (masch.) München 1953. 8 Demnächst Wolfgang ZORN, Das Augsburger Patriziat im Königreich Bayern, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (1995).

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in Augsburg, Landesdirektionsrat Freiherr Peter v. Widnmann, an das damalige Generallandeskommissariat der Provinz Schwaben in Ulm richtete.9 Der Aufklärungsanhänger meldete pauschal positives Verhältnis zum neuen Staat bei der evangelischen, negatives bei der katholischen Bevölkerung. Er wertete das entmachtete Patriziat, soweit es nicht gleichzeitig fürstliche Adelstitel führte, mangels noch ausstehender bayerischer Adelsbestätigung ständisch ab, indem er es nur in der Funktion „Magistrat" erwähnte: „Die Mehrheit des Magistrats fühlte zwar das Ende tief, war aber selbst billig genug einzusehen, daß die Auflösung hiesiger Reichsstadt als solcher bei ihrer geographischen Lage und ihrer finanziellen Zerrüttung unvermeidlich sei, und wünschte sich Glück, einem so weisen und aufgeklärten Monarchen zugeteilt worden zu sein. - Der Adel, der in Augsburg außer dem kleinen Hof des Kurfürsten von Trier nur dem Namen nach besteht, ist und war nie für die Neuordnung der Dinge und klagt sich seine Not im Stillen; er war ehemals sehr empfänglich für gute Nachrichten aus Österreich, scheint aber jetzt, bei dem langen Ausbleiben derselben, keine mehr zu erwarten". Traf dieses Stimmungsbild zu? Falls ja, wie hat es sich in den folgenden Jahren verändert? Welche Quellenaussagen sind dafür verfügbar? Zum Ende der Max-Joseph-Zeit liegt ein Buch über die Geschichte Augsburgs bis zur Gegenwart vor, das einen Augsburger Patrizier, der höherer bayerischer Beamter geworden war, zum Verfasser hatte. Es erschien postum 1826 und ist schon häufiger als damals gewissermaßen halboffizielle Darstellung benützt worden.10 Der schreibfreudige Autor Freiherr Franz Eugen v. Seida suchte in der Stadtgeschichte die Kontinuität zwischen nostalgisch verklärter Patriziatsherrschaft und dann überschwenglich gepriesener Königsuntergebenheit. Beide Systeme schienen ihm der Volksbeglückung durch aufgeklärten, rechtsstaatlichen Absolutismus und der Abwehr der geradezu mit Haß verfolgten „Demokratie" zu dienen; zur „Zunftrevolution" von 1368 sprach er von „pestgleicher Seuche der Demokratie" und „Pöbelaufstand". In diese Urteile waren auch eigene Erlebnisse eingegangen. Seida entstammte einer unbegüterten, katholischen österreichischen Beamtenadelsfamilie, die 1731 ins Patriziat zugewählt worden war. Er hatte in Bonn unter dem habsburgischen Kölner Kurfürsten Jura studiert, war bei ihm zunächst Offizier, dann unter französischer Besatzung Präsident der Bezirksverwaltung in Geldern, seit 1796

9 Karl HAUPT, Die Vereinigung der Reichsstadt Augsburg mit Bayern. (Historische Forschungen und Quellen, Bd. 6.) München 1923, 99 ff.; zuletzt wieder in: Konrad v. ZWEHL/Susan BOENKE, Aufbrach ins Industriezeitalter. Bd. 3: Quellen zur Wirtschafte- und Sozialgeschichte Bayerns vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. München 198S, 20 f. 10 Franz Eugen Freiherr v. SEIDA UND LANDENSBERG, Augsburgs Geschichte von Erbauung der Stadt bis zum Tode Max Josephs, ersten Königs von Bayern 1825. 2 Bde. Augsburg/Leipzig 1826, hier Bd. 2.

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Stadtgerichtsassessor in Augsburg und kam dort 1798 in den Kleinen Rat (Senat). 1799 stieg er zum katholischen Oberrichter d. h. Vorsitzenden des Stadtgerichts auf, 1800 heiratete er eine Seida-Kusine. Die bayerische Regierung übernahm ihn 1806 sofort. Seit 1807 war er Landesdirektionsrat und königlicher Kammerherr, 1808 Kreisrat beim Generalkommissariat in Augsburg, seit 1817 Regierungsrat des Oberdonaukreises.11 1805 ließ er in Leipzig eine Biographie des noch lebenden bedeutendsten Augsburger Industriellen, des Kattunfabrikanten (und Mehrers) Johann Heinrich v. Schüle erscheinen, offenbar eine Auftragsarbeit. In der Stadtgeschichte verurteilte er nicht nur die Französische Revolution, sondern auch Napoleon wegen „Tyrannei eines Usurpators" und „blutigen Gräueltaten". Zur Stadtmediatisierung meinte er, der abtretende Senat habe „mit voller Beruhigung und Selbstzufriedenheit" zurückblicken können, weil er stets die wesentlichen und dauernden Interessen der Bürgerschaft verteten habe: „Das Patriziat, aus dem von jeher so viele kluge und weise Väter der Vaterstadt hervorgegangen waren, durfte sich das Zeugnis geben, daß es in den seit dem Umsturz der Pöbelherrschaft verflossenen 258 Jahren seiner Regierung nach Kräften für Augsburgs Glück und Ruhm gewirkt habe, während nur mattherzige Selbstsucht unsere demokratischen Machthaber geleitet hatte" (854). So sei es ein Ruhmesbild, das „ihrem durch die unbeugsamen Forderungen des polititschen Gesetzbuches des Stärkeren herbeigeführten Falle Würde" gebe. Auch die Finanzlage habe ein selbständiges Fortbestehen der Reichsstadt nicht unmöglich gemacht. Vom Königreich seien die Patrizier schlechter mit Pension versorgt worden als die Domherrn. Die Rolle Napoleons für das Bayerischwerden mußte der Verfasser hier vorsichtig ausblenden. Montgelas würdigte er anläßlich der Entlassung 1817 als einen Mann, „der durch schwere Zeiten, die vorzugsweise mit der baierischen Regierung ihr Spiel getrieben, sich mit Klugheit, Konsequenz, Kraft und Geschicklichkeit durchgewunden hatte, und unstreitig der Geschichte unserer Zeit angehört" (1004). Der Augsburger Besuch des Königs von 1808 habe schon das Vivat der „entzückten Einwohner" gebracht. Zum Wiener Kongreß konnte man im Buch lesen: „Bei der wieder zu Ehren gekommenen und in Ehren gehaltenen Legitimität glaubte man anfangs fest an die Wiederherstellung des alten Reiches und der Kaiserkrone zu Gunsten Österreichs. Es war natürlich, daß damals auch unsere Stadt sich mit dem schönen Traum ihrer Wiedereinsetzung in den Rang der selbständigen Regierungen schmeichelte, und ihn festhielt, da Augsburg zum Sitz der künftigen Bundesversammlung mit in Vorschlag gebracht ward. Aber die das künftige Weltgeschick lenkenden großen Staatsmänner und Diplomaten waren weit entfernt, die Herstellung des alten Zustandes als allge-

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Ebd., Herausgebervorwort in Bd. 1, IV ff.

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mein geltendes Gesetz anzuerkennen, oder die Wünsche für Wiederherstellung der freien Reichsstädte zu begünstigen"; die Hauptmächte planten selbst von den größten Republiken wie Genua keine wiederzubeleben. „Nur den alten Hansestädten und Frankfurt ward das Glück, wieder zu ihrer politischen Existenz zu gelangen" (981). Näheres und Namen nannte Seida zu diesen gegen Bayern gerichteten Restaurationshoffhungen nicht. Das „landesväterliche Geschenk" der Verfassung von 1818 brachte ihn mit der Gewährung einer Landtags-Abgeordnetenkammer aus Männerwahl auch der Stadtund Marktbürger und Bauern in gewisse Schwierigkeiten, da er darin ein modernes Element von Demokratie sah. Als Staatsdiener entschloß er sich zu der Formulierung, die Konstitution habe „der Aristokratie und der Demokratie ihre natürlichen und rechtmäßigen Sphären weislich erhalten" (1028). Das Steuerklassen-Wahlrecht der Gemeindeordnung von 1818 führte dazu, daß 3/4 der Augsburger bürgerlichen Magistratsräte aus der Kaufmannschaft kamen, dazu der zweite Bürgermeister; auch der Vorstand des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten, der bürgerliche Bankier und königliche Finanzrat Johann Lorenz Schaezler, war nur Patrizierschwiegersohn. Ihn, der auch erster Abgeordneter der Stadt im Landtag wurde, feierte Seida zwar als „Heros der Wohltätigkeit". Der öffentliche „ElitenWechsel" in der Stadt und die eigene Lebensbegrenzung der Staatskarriere veranlaßten den vormaligen Patrizier aber doch zu bitteren Bemerkungen im Buch: „Wird auch in unserm berechnenden Zeitalter alles außer Frage gestellt, was nicht auf klingende Taler und Reichtum zurückgebracht werden kann, so läßt sich doch nicht leugnen, daß unter dem ehrenvollen und wohltätigen Regiment jener Männer, welche allerdings die Geburt, und nicht die Wahl der jetzt alles überschwemmenden Aristokratie des Reichtums dazu erhoben hatte, so viel Herrliches geschähe, was neidische Tadler und moderne Liberalen vergebens zu schmähen suchen" (1031). Im Spätmittelalter hätten „Staatsklüglinge noch nicht die Lehre aufgestellt, daß nur mit dem Reichtum das größte Maß von Intelligenz und geistiger Kraft verbunden" und daher nur der Reiche weise und tüchtig für „hohe Bahn" im öffentlichen Leben sei (150). Frau Dietrichs Buch meint, nach zwanzig Jahren bayerischen Staatsdienstes habe die erwünschte ideelle Umorientierung offensichtlich immer noch zu wünschen übrig gelassen.12 Bei König Ludwig I. hätte Seida wohl mehr geschichtsromantisches Mitgefühl erhoffen dürfen. Der ungenannte Herausgeber brachte das Buch eines Mannes, der selbst Pressezensor der Kreisregierung gewesen war, jedenfalls nach der Zensurfreigabe des neuen Königs auf den Markt.

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DIETRICH, Integration (wie Anm. 4), 171.

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Diesem Werk eines katholischen Patriziers und bayerischen Beamten seien nun bisher unveröffentlichte Aufzeichnungen aus der evangelischen Patriziatsfamilie v. Stetten gegenübergestellt. Paul v. Stetten, der letzte evangelische Stadtpfleger an der Spitze der Reichsstadt, kaiserlicher Rat, fruchtbarer Schriftsteller und sogar noch jüngsthin nachgedruckter Romanautor, hinterließ eine handschriftliche Selbstbiographie, aus deren viertem Teil über die Zeit von 1804 bis Neujahr 1808 kleine Auszüge im Aufsatzbändchen eines Nachfahren veröffentlicht sind." Stetten, der nach der Stadtübergabe noch zum bayerischen Geheimen Rat ernannt wurde, starb nach einem zweiten Schlaganfall 76jährig im Februar 1808. Die letzten Aufzeichnungen des Pensionisten sind ganz der Vergangenheit „seines" Stadtstaates und der Familie zugewandt und für das hier erörterte Thema von geringerem Interesse als die gleichfalls überlieferte Selbstbiographie seines älteren Sohnes Christoph David v. Stetten, der 1774 geboren war und bei Reichsstadtende im Stadtgericht saß. Die Stetten hatten ihren Lebensschwerpunkt im Stadtdienst, gehörten aber auch dem schwäbischen Landadel an. Der Memoirenverfasser war Erbe eines Anteils an der Herrschaft Hammel bei Augsburg sowie der Herrschaft Wollmetshofen mit Schloß Elmischwang. Die Lebensbeschreibung in vier Heften wurde wohl 1835 begonnen und schließt zwei Jahre vor dem Tode 1843.14 Der Patriziersohn kam wie üblich auf das evangelische Augsburger Gymnasium bei St. Anna, 1792 zum Studium der Rechte und der Geschichte an die Universität Göttingen zu Pütter, Spittler und Schlözer, dessen „Sarkasmen" gegen die Reichsstadtverfassung ihn freilich „anwiderten", 1793 an die Universität Leipzig, wohin ihm sein jüngerer Bruder Markus folgte, zuletzt wieder nach Göttingen. Ohne einen akademischen Titel erworben zu haben, wurde er nach einer Wien-Reise 1796 Assessor des Augsburger Stadtgerichts und Mitglied des Einquartierungsamts. 1798 ehelichte er eine Tochter des vermögenden Bankiers und Mehrers v. Lausberg. 1802 übernahm er zusätzlich die Administration dreier evangelischer Stiftungen. Indem er sich die Enttäuschung der nichtpatrizischen Bürgerschaft über das Ausbleiben eigenständiger fortschrittlicher Reformen eingestand, schrieb er über sie zu diesem Jahr: „So gerne sie auch ihre republikanische Stellung behielt und namentlich aus uralter Abneigung man die Vereinigung mit Bayern nicht wünschte, besonders nicht die Katholiken, welche mit

13 Hausarchiv der Familie v. Stetten, Aystetten, Nr. 115, IV; Teilabdruck: Dietrich v. STETTEN, 500 Jahre Stetten und Augsburg. Aystetten 1965, 75-81. Nur diese Zitate sind benützt in Ingrid BÀTORI, Paul von Stetten der Jüngere. Augsburger Staatsmann in schwieriger Zeit, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 77, 1983, 103-124. 14 Aus dem Leben Christoph Davids v. Stetten, Stetten-Hausarchiv, Nr. 42: vier Hefte 1774-1806, 1806-16, 1816-32, 1832-43. In STETTEN, Stetten und Augsburg (wie Anm. 13), finden sich nur Teilabdrucke 119-123 (Reisen in alter Zeit), 124-128 (Aus Reiseberichten und Tagebüchern), 87-92 (Die Stetten und die Musik). Das Original ist unpaginiert. FASSL, Konfession (wie Anm. 3), benutzte beide Stetten-Autobiographien für einige Zitate.

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Ingrimm die Reformen Montgelas* in dem bayerischen Kirchenwesen beobachteten", so habe sie doch eine Verfassungsänderung vermißt. Das Patriziat sei am Reichsstadtende zusammengeschmolzen gewesen und für Selbstverwaltung „keine Auswahl mehr unter demselben"; unter seinen meisten Mitgliedern habe Abneigung gegen alle Reformen und Verbesserungen in den finanziellen und politischen Zuständen geherrscht, es habe „nur einzelne Patrioten" (wie seinen Vater) gegeben.15 Die neue Stadtobrigkeit verwendete Stetten zunächst, da das Stadtgericht ganz nichtpatrizisch umbesetzt wurde, als Inspektor der städtischen Bau- und Holzmagazine weiter. Sein Bruder Markus war noch Stadtgerichtsassessor geworden, aber bereits 1804 als Polizeidirektor von Ulm in bayerische Dienste übergetreten. Das zweite Heft vermeldet, aufgrund seiner guten Leistung sei in ihn gedrungen worden, ebenfalls eine Anstellung im bayerischen Staatsdienst anzunehmen, zuerst auf die Landeskommissariatsstelle des als Polizeidirektor nach Augsburg berufenen Freiherrn v. Andrian in Mindelheim, dann auf eine Stelle als Landesdirektionsrat in Ulm. Als Grund für seinen Verzicht gab er die schwere Erkrankung des Vaters und seine Familienpflichten in Guts- und Vermögensverwaltung an. Des Organisationskommissars Baron Widnmann erinnerte er sich als eines Augsburg gut gesonnenen „Lebemanns", aber Montgelas, „aus der Schule des Illuminatismus hervorgegangen und dem System des Fortschritts zugetan", war ihm noch 1821 dann doch der Mann, der ihm „die schönsten Jahre des jugendlichen Mannesalters verdorben" habe. 1807 schied er aus dem Stadtdienst aus und erhielt für seine Gerichtsstelle nachträglich eine Jahrespension von nur 128 fl., für seine Stiftungsstelle dazu 132 fl. Der auferlegten Betätigung in der neuen „Nationalgarde" entzog er sich „wie allgemein in den höheren Ständen". Daß auch von den bisher privilegierten Adelsgütern Steuererklärungen verlangt wurden, verursachte „große Bestürzung" und für den nunmehrigen reinen Privatmann zu Wollmetshofen Mehrarbeit. Der bayerische Verfassungsakt von 1808, der die adligen Fideikommisse aufhob, veranlaßte Stetten zu düstersten Sorgen: „Diese Aufhebung der Fideikommisse bedrohte den alten Adel binnen kurzer Frist mit Auflösung, ganz im Sinne Montgelas', der Himmel wollte es jedoch anders: als Napoleons Stern verblaßte, gewann der Stern des deutschen Adels wohl nicht mehr den alten Glanz, aber er verschwand doch auch nicht so ganz von der politischen Hemisphäre". Im Herbst erlebte Stetten den Besuch der Königs-

15 Zur Stadtübergabe vermag die Quelle die von DIETRICH, Integration (wie Anm. 4), 104, nicht klärbare und anderwärts manchmal „heroisierte" Frage der anfänglichen Bayerneid-Verweigerung des Reichsstadtmilitärs zu klären. Christoph David v. Stetten schreibt: „Ein kleines Intermezzo gewährte die Stadtgarde, welche lange sich weigerte, den Fahneneid, durch welchen sie zu Wasser und zu Land zu dienen sich anheischig machen sollte, zu leisten, endlich aber doch sich überzeugen ließ, daß es wenigstens für sie mit dem Seedienste nicht viel auf sich haben werde".

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familie in Augsburg sehr anders als Seida: „Schmerzlich war es mir und so manchen andern, wie kalt und stumm das Volk den so trefflichen, freundlichen und liebevollen Landesvater, welcher besonders für unsere Familie so viel Gnade hatte, empfing. Wie ganz anders war es sechs Jahre später an seinem Regierungs-Jubelfeste?" Markus v. Stetten war nun Polizeidirektor in München. Als der Königshof im Krieg von 1809 auf der Flucht nach Dillingen in Augsburg weilte, machte aber nur die Mutter Stetten eine „Aufwartung". Indessen gab es, wie der Sohn sich erinnert, für die im Waffenplatz Augsburg zahlreich anwesenden Franzosen in der „Privatgesellschaft" der Stetten wenig Freunde. Die Einquartierungen fand er besonders gerade für diejenige „Klasse" drückend, der seine Familie nun angehörte, nämlich die von Kapitalien und dem Ertrag ihrer Güter Lebenden. Die Kriegsnöte von 1809 führten Stetten, dessen Gesamtfamilie anstandslos in die neue bayerische Adelsmatrikel aufgenommen wurde, wieder in städtische Aufgaben des Vertrauens zurück. Auf Antrag beim zuständigen Generalkommissariat sah er sich für seine „Klasse" zum Mitglied in der örtlichen Einquartierungs-Klassifikations-Kommission, dann Lokal-Kriegskommission berufen. Die Kriegsfolgen machten es seinem Stande auch schwierig, Grundreichnisse, Holzgeld und Pachtschillinge von den Bauern zu erlangen. „Nicht besser stand es mit den Kapitalschuldnern, vorzüglich mit dem ,alten Güteradel' unter ihnen, wo eine Vermögensstockung und Insolvenz nach der andern ausbrach und nur wenige vermochten, die Zinsen aufzutreiben"; das galt sogar für die Fuggerlinien Kirchheim, Babenhausen und Oberkirchberg. Die Finanzbedrängnis der Stadt selbst veranlaßte die Bildung einer dreiköpfigen inoffiziellen Sonderdeputation aus dem (nichtpatrizischen) Bürgermeister v. Zabuesnig, Stetten und Bankier Finanzrat Carli, die sich sechs Wochen lang in München aufhielt und schließlich einen Lokalmalzaufschlag aufs Bier erreichte. Zu Napoleons Heirat mit der Erzherzogin Marie Luise bemerkt Stetten, „nur die altbayerischen Patrioten fanden an diesem Ereignisse wenig Geschmack", und die Durchreise der Braut sprach in der Tat für fortdauernde Österreichverbundenheit: „Unbeschreiblich war der Jubel des Volkes bei dem Anblick einer Tochter aus dem angestammten alten Kaiserhause". Im Winter und Frühjahr 1811 war die Finanz-Dreierdeputation wieder fast vier Monate zu zähen Verhandlungen in München und diesmal war der Erfolg, daß das Staatsaerar von den etwa zwei Millionen fi. Stadtschulden noch 0,7 Millionen übernahm und die Bürgerschaft der Schuldentilgungsumlagen enthob. Beim Abschied lobte Montgelas immerhin den „patriotischen Eifer" für die Stadt. Stetten übergeht, daß er im folgenden Herbst von dem von ihm sehr geschätzten Augsburger Stadtkommissar v. Stichaner mit der Ausarbeitung eines Gutachtens zur weiteren Sondergestaltung der Augsburger Stadtverfassung beauftragt wurde und daß seine Vorschläge beim

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Münchner Ministerium unbeachtet blieben.16 Spannend wird die Stimmungswende durch Napoleons Katastrophe in Rußland geschildert, das offene Hervortreten von Franzosenhaß - wieder heißt es: „Nur einzelne Altbayern teilten denselben nicht" (Anfang 1813). Trotz der Zwangsanleihe für ein neues bayerisches Heer traf der nach dem politisch-militärischen Parteiwechsel Bayerns wieder in Augsburg durchreisende König diesmal auf „lauten Jubel". Stetten vermerkte jedoch nichts über eigene Kriegsspenden. Er ärgerte sich über den „anmaßenden Kommunalverwalter" Ott, die 1813 verzögert eingeführte neue Stadtverfassung und über das neue Allgemeine Grundsteuerprovisorium von 1814, gegen das er erfolgreich reklamierte: „Die Schätzmänner hatten die Bauerngüter gewöhnlich sehr gering, die herrschaftlichen und geistlichen Widdums-Güterkomplexe desto höher taxiert. Dem Adel und den Pfaffen geschehe daran wohl recht, mochten sie zu ihrer innerlichen Rechtfertigung denken". Außerdem beklagte er die Versetzung des bisherigen Augsburger Polizeidirektors Baron Andrian: „Andrian war hier nicht so beliebt, als er es verdiente. Man hatte ihm Stolz und Härte vorgeworfen, ohne zu bedenken, welchen Augiasstall von der Reichsstadt her er hier zu räumen angetroffen hatte, und daß die neuen monarchischen Formen einer geordneten Polizei unmittelbar hinter der früheren republikanischen Polizeilosigkeit immer der Einwohnerschaft schwer auffallen mußten ... Anerkennung wurde erst allgemeiner ihm zu Teil, als er Augsburg verlassen hatte. Von ganz anderer Art war sein Nachfolger [Dr. Wirschinger]: servil gegen alle höhere Behörden, war er desto herrischer gegen alle, welche unter ihm standen: seine Polizeiverwaltung erhielt einen inquisitorischen Anstrich und aller selbständigen Einwirkung der Bürgerschaft auf Kommunalgegenstände war er gram".17 Seine Politik, den Wirkungskreis der Lokalkriegskommission zu beschränken, führte nach Kriegsende zu Stettens Austritt. Zum Wiener Kongreß ist in der Literatur verschiedentlich zu lesen, Christoph David v. Stetten sei bereit gewesen, die Stadt Augsburg in Wien zu vertreten.18 Publiziert sind auch Berichte Wirschingers an das Innenministerium, die seit Juli noch ohne, im August aber mit ausdrücklicher Nennung von Patriziern abgingen: Solche, Handelsleute und Geistliche glaubten fest an die Rückkehr der Reichsstadt; bei einem Familienfest der Patrizier Besserer, (Stettens Onkel) Albrecht Stetten und Rad sei sogar ein Toast darauf ausgebracht worden. Wahrscheinlich von einigen

16 DIETRICH, Integration (wie Anm. 4), 143 f. Ebenso unerwähnt ließ er schon seine vorherige Ablehnung des Eintritts in den machtlosen Munizipalrat 1809; ebd., 139. 17 Umgekehrt urteilte 1814 Seida; DIETRICH, Integration (wie Anm. 4), 229. 18 So auch Volker DOTTERWEICH, Die bayerische Ära, in: Geschichte der Stadt Augsburg. Hrsg. V. Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 1984, SS1-S68, hier 556; nach FASSL, Konfession (wie Anm. 3), 312 f.

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getreuen Patriziern seien bereits Pläne für eine Bundesstadtverfassung Augsburgs zu Papier gebracht gewesen (Juni 1815) - die aber offenbar kein Gewährsmann gesehen hatte und die auch später nie aufgetaucht sind. Stettens Name war von Wirschinger nicht genannt." Seine eigenen Erinnerungen gehen seltsam unklar über die Angelegenheit hinweg: „Ein paar Wochen lang war davon die Rede, daß auch ich mit Schwager Herrmann [wohl dem Sohn-Schwiegervater Gutsbesitzer Freiherm Hermann auf Wain], Kaufmann Hederer etc. hinabgehen wollte, wo ich bei meinem damals zu Wien domizilirenden Freund von Pfister die freundschaftlichste Aufnahme gefunden hätte. Leider kam das Vorhaben nicht zu Stande: den Grund davon weiß ich mir heute noch nicht anzugeben".20 J. M. Hederer wurde später Magistratsrat. Zuvor erwähnte Stetten lediglich stark gesteigerten Postverkehr zwischen Augsburg und Wien, jedoch keine eigene Teilnahme daran. Wer „auch" zum Wiener Kongreß reisen sollte, könnte der Exbenediktiner von St. Ulrich, P. Placidus Braun gewesen sein, der für die ehemaligen schwäbischen Reichsstifte zu kämpfen gehabt hätte.21 Es blieb bei demonstrierter Reichsstadtnostalgie anläßlich der Durchreise Kaiser Franz' I. in der spontan beleuchteten Stadt 1815: „Man mußte einräumen, daß die Einwohnerschaft in ihrem Freudentaumel, das vormalige Reichsoberhaupt wieder zu sehen, ganz alles Maß überschritt. Denn dieser wilde Jubel, dieses Rennen und Toben neben dem Wagen einher und zuletzt das ungestüme Geschrei" um Erscheinen auf dem Residenzbalkon „war wohl den bestehenden Subjectionsverhältnissen ganz unangemessen und mußte die Bayern verletzen". Als Stetten 1816 erfuhr, Wirschinger wolle seinen Namen einer Augsburger Adresse gegen Bayerns Abtretung von Salzburg und Innviertel voranstellen, wich er dieser Anfrage durch sofortiges Davonreiten aus, angeblich wegen Voraussicht der Aussichtslosigkeit. Das dritte Heft setzt 1817 ein. Zur Befriedigung des Schreibenden wurde Montgelas „vom Staatsruder entfernt. Ungerechnet, daß er die Finanzen des Staates in völlige Zerrüttung geraten ließ, ... so war nach Abschüttelung des französischen Joches sein System der Zwangsherrschaft und des entschiedenen Absolutismus durchaus nicht mehr anwendbar. Auch war er wegen seiner Anhänglichkeit an Frankreich allen andern Höfen verhaßt und verdächtig. Das Ministerium Rechberg, Lerchenfeld, Thürheim etc. wurde gegründet und vom ersten Augenblicke an gewahrte man, daß in ganz anderm Geiste geherrscht werden, daß man leben und leben lassen, aller Gewalttätigkeit ein Ziel setzen wolle". Augsburg wurde Haupt-

19 Josef A. WEISS, Die Integration der Gemeinden in den modernen bayerischen Staat. Zur Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung in Bayern (1799-1818). München 1986, 174 f. 20 FASSL, Konfession (wie Anm. 3), 312, zitiert, interpolierend, ungenau „war bei den Protestanten davon die Rede". 21 Ebd.

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Stadt des Oberdonaukreises. „Insbesondere kämpfte auch der Güteradel, eben so auch die Standesherren, aus der bisherigen Unterdrückung sich empor zu arbeiten". Ein Augsburger Nachklang der Napoleonszeit war damals noch die Stadtniederlassung der Exkönigin Hortense von Holland mit ihrem Sohn, dann Gymnasiasten bei St. Anna und späteren Kaiser Napoleon III. Zutritt zu ihrem Hause suchten „die Angestellte, dann die ersten Familien der Stadt, weniger die Familien des alten Reichsadels". Das 1825 wieder verlassene Haus galt als „Feuerherd aller Intrigen" gegen das in Frankreich wieder eingesetzte Bourbonenkönigtum. Stetten konnte sich „nicht überwinden, sich vorstellen zu lassen". Die bayerische Konstitution von 1818 sah Stetten im Rückblick mit voller Zustimmung. Er war erleichtert, daß durch sie „das bisherige unglückliche Schwanken aller gesellschaftlichen Verhältnisse, das unaufhörliche Organisiren sein Ende finden konnte". Er erkannte an, daß zuletzt jeder Stand sich möglichst und billigst befriedigt fühlen durfte, „und es ist keine Frage, daß erst durch Einführung der Verfassung in den neuen Provinzen in Schwaben und Franken eine wahre innere Anhänglichkeit an den bayerischen Staatsverband und an die Dynastie in den Gemütern hervorgerufen wurde". Mit der eigenen Mitvertretung in der Abgeordnetenklasse der Gutsbesitzer mit adeliger Gerichtsbarkeit war er voll zufrieden, Fideikommisse waren wieder zugelassen. „Die VI. Beilage der Konstitution läßt den mit Gerichtsbarkeit versehenen Gutsbesitzern ebenfalls eine neue Sonne der Wohlfahrt, der Beruhigung und Sicherstellung ihrer Rechtsverhältnisse aufgehen". Für ihn wurden die Patrimonialgerichte Wollmetshofen und Hammel errichtet. Daß zum Abgeordneten der Stadt Augsburg der ehemalige evangelische Mehrer Schaezler gewählt wurde, konnte ihm auch nur recht sein. Er nahm sogar 1819 als Zuhörer an einigen ersten Sitzungen beider Kammern der Ständeversammlung in München teil, freilich: „Noch bewegte sich alles in ungewohnten Geleisen". Als die neue bayerische Gemeindeordnung ebenfalls Wahlen für Kollegium der Gemeindebevollmächtigten, Magistrat und Bürgermeister ankündigte, habe sich bald ergeben, daß die zuerst gewählten Wahlmänner „im Schilde führten", ihn, Stetten, zum rechtskundigen ersten Bürgermeister zu machen. Diese Stelle habe aber zum allerwenigsten in seinen Wünschen gelegen. Es sei ihm unmöglich gewesen, „zu der so untergeordneten Bürgermeisterwürde herabzusteigen ", nachdem er im Staatsdienst bei Eintritt 1806 vielleicht schon zum Präsidenten aufgestiegen gewesen wäre. In Wahrheit wichtiger war wohl die Unsicherheit, ob er die staatliche Bestätigung erhalten hätte. Der Geschäftskreis habe vorzugsweise die Polizeiverwaltung umfaßt, für die seine juristische Vorbildung gerade die geringste Kenntnis gebracht hatte und zu der ihn auch „seine Gemütseigenschaft am allerwenigsten qualificirte". Die Bankiers Schaezler und Süßkind, die ihn in Elmischwang zur Kandidatur bewegen

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wollten, kamen besonders im Auftrag der Protestanten; wenn auch die Katholiken noch bereit gewesen wären, ihn zu wählen, wie Fassl annimmt22, so fürchtete er doch auch Konfessionsprobleme. Als Erster Bürgermeister gewählt wurde darauf der Stadt- und Kreisgerichtsdirektor Augsburgs, v. Caspar aus München (den die konservativen Katholiken 1821 nicht im Amt bestätigten), Stadtkommissar wurde Dr. Ludwig Wirschinger. Bei der Neuwahl von 1822 kam man nicht mehr auf Stetten zurück. Mit Stillschweigen übergeht seine Niederschrift die Familienenttäuschung, daß der König 1821 nur die um die Staatsfinanzen verdienten bürgerlichen Bankiers Schaezler und Süßkind in den bayerischen Freiherrnstand erhob, nicht auch seine Familie baronisierte. Der Augsburger Besuch des Hofes von 1824 verlief für ihn und besonders den zum Krankheitsabschied gezwungenen Bruder Markus eingestandenermaßen wenig befriedigend. Er beließ es aber bei den oben zitierten Dankesworten für den König. Die Erinnerungen zeigen dann keinerlei näheres Verhältnis zu König Ludwig mehr an. Der 1826 verstorbene Regierungspräsident des Oberdonaukreises und Augsburger Ehrenbürger Graf v. Gravenreuth wird mit Patrizierstolz beurteilt: „Er war hier nie sehr beliebt gewesen. Sein Stolz und vornehm zurückstoßendes Wesen, dann seine nicht besondere Geschäftsgewandtheit wendete das Vertrauen von ihm ab". Unter dem „tauglicheren" neuen Präsidenten Graf v. Drechsel blieb der Kreis aber nur kurz. Schließlich wurde Stetten 1831 in dem neugeschaffenen Landrat des Kreises als Vertreter der Klasse der Gutsbesitzer mit Gerichtsbarkeit, wie er schrieb, des „Ritterstandes" gewählt. Nach seiner Erinnerung war auch 1831 und 1838 wieder ein Angebot zur Kandidatur zur Landtagskammer an ihn ergangen, doch dürften seine Aussichten gering geworden sein. Die französische Julirevolution und der Polenaufstand von 1831 mit Flüchtlingen in Augsburg führten ihn politisch ins konservative Lager. In sein Heft schrieb er damals: „Die liberale Partei verlor alles Maß und Ziel aus den Augen". Die damit inhaltlich für unser Thema endenden Aufzeichnungen zeigen den Mann einer älteren Zeit, der die Stadt zwar nicht unkritisch immer noch in ihrer Tradition vor 1806 und Dienste für sie als Familienverpflichtung sah, der aber den Einstieg in ihre Moderne der angehenden Großindustriestadt letzten Endes nicht gewagt und wirklich gewollt hatte. Er rieb sich an der aufgeklärt-absolutistischen Staatsbürokratie und enthielt sich des Grolls auf die ihn überflügelnde neue Unternehmer-Führungsschicht. Seine Kinder heirateten in vormaliges Patriziat, zwei von dreien innerhalb der Stetten-Familie selbst. Ein abweichendes Bild geben erhaltene Tagebücher eines anderen evangelischen Patriziers, des jungen Reichsfreiherrn Marcus Paulus v. Schnurbein von 1811, 1814

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FASSL, Konfession (wie A n m . 3), 319.

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und 1815.23 Der 1793 geborene Erbe von Schloßherrschaft Meitingen und Deuringen war damals einziger männlicher Namensträger; die Familie erschien darum im letzten reichsstädtischen Adreßkalender für 1806 überhaupt nicht mehr mit Amt oder Stadtgewerbe. Schnurbein wurde 18jährig Student der Rechte an der Universität Erlangen und 1814 Assessor am bayerischen Landgericht Monheim, das er jedoch bald verließ, um sich den Familiengütem zu widmen. 1815 entging er der Militärkonskription wie standeshäufig durch Stellung eines bezahlten Ersatzmannes und heiratete eine Schaezlertochter. Schon 1819 erlag er einer Krankheit, der Sohn wurde postum geboren. Schnurbein nahm zwar am gesellschaftlichen und kulturellen Leben Augsburgs lebhaft teil, hielt aber Politik und Augsburger Verwaltungsprobleme keiner Erwähnung in seinen Aufzeichnungen für wert. Selbst zu Napoleons Rückkehr von Elba vermerkte er nur, sie bringe „eine so unangenehme Stimmung hervor", über das voreheliche Privatleben des bayerischen Kronprinzen fing er ein despektierliches Erlanger Studentengerücht auf. Zur Kulturstadt Augsburg gehörte ihm auch der exkurfürstliche Hof, aber König und Staatsregierung schienen für den jungen Baron ebenso weit weg wie die versunkene Patriziatsherrschaft mit ihrem erblichen Familienprivileg für Mitherrschaft und gleichzeitig Amtsdienst. Der Verkehr mit der ja noch bürgerlichen, wenn auch ehemaligen Mehrer-Schwiegerfamilie Schaezler erfolgte offenkundig problemlos auf gleichem Fuße; hier zeigte sich die Altaugsburger Eigentümlichkeit des relativ geringen Abstands zwischen Patriziat und (wechselfähiger) Kaufmannschaft an. Insofern stand Schnurbein, auf andere Weise als Seida, mit mehr persönlichem Gefühlsabstand, zwischen Augsburgs alter und neuer Zeit. Schließlich soll als letzter Zeitzeuge Johann Lorenz Schaezler zu Worte kommen. Er hinterließ wie Stetten eine eigene handschriftliche Lebensbeschreibung, die aus dem Schaezlerarchiv schon vor Jahren publiziert werden konnte, allerdings schon 1804 endet. Die nicht mehr ebenso ausgearbeitete Fortsetzung sind laufende Tagebuchnotizen von 1801-1812, ein Heft „ Vermögens-Buch und Lebens-Notizen 18131822", ein nur begonnenes 1823; dazu kommen reine Geschäftsschriften, Reisetagebücher und Briefe.24 Gedruckt sind Schaezlers Abgeordnetenreden in den Verhandlungen der Münchner Ständeversammlung 1819-1822.

23 Freiherr v. Schnurbeinsches Familienarchiv Hemerten Gem. Münster/Lech, unsigniert. Briefe von Marcus Paulus v. Schnurbein an die Ehefrau aus Wien 1819 sind rein persönlichen Inhalts. 24 Freiherr v. Schaezlersches Archiv Augsburg, künftig Schemeck, ohne Signaturen und seit Jahren nicht mehr zugänglich. Das Archiv war mir zu Lebzeiten von Dr. Wolfgang Freiherrn v. Schaezler aufgrund persönlicher Beziehungen offen und wurde verwertet für Wolfgang ZORN, Johann Lorenz und Ferdinand Benedikt v. Schaezler, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Hrsg. v. Götz Freiherr, v. Pölnitz. Bd. 3. München 1954, 369-388, und v. a. für ders., Handelsund Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648-1870. Wirtschafts-, Sozial-und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums. Augsburg 1961. Die Lebensbeschreibimg ist darin als 9. Kapitel,

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Schaezler war als Sohn eines markgräflichen beamteten Chirurgen in Ansbach geboren, kam dort aufs evangelische Gymnasium, anschließend aber in Kaufmannslehre nach Frankfurt und Aachen und trat 1791 als Commis in das eng mit dem Kaiserhaus verbundene Augsburger Wechselhaus des patrizischen Bankiers Freiherrn v. Liebert ein, des Erbauers des nachmaligen Schaezlerpalais'. Schon 1793 wurde er Liebertschwiegersohn und Mehrer, 1795 kurz Assessor im Augsburger Stadtgericht als nichtjuristischer Beisitzer. 1800 gründete er sein eigenes Bankhaus und 1805 gehörte er bereits den Abordnungen der Reichsstadt an, die bei Napoleon wegen der politischen und wirtschaftlichen Stadtzukunft vorsprachen. Seit 1807 gab er mit Bankier Carli erhebliche Darlehen an das bayerische Finanzministerium und wurde königlicher Finanzrat mit Uniform der Landesdirektion im Oberstenrang. 1812 war der Finanzrat dann Hauptgründer einer privaten Discontokasse zur Unterstützung der Staatsschulden-Tilgungskommission und wurde Vorsitzender Stubenmeister des Augsburger Handelsstandes. Seit 1818/19 war er schließlich Gemeindekollegiums-Vorstand und Landtagsabgeordneter, seit 1821 Freiherr, seit dem Folgejahr Gutsherr mit adligem Patrimonialgericht in Stätzling und Sulzemoos, doch kam ein Fideikommiß bis zu seinem Tode 1826 nicht mehr zustande. Zwei Söhne führten das Bankhaus fort. Schaezlers Aufzeichnungen zeigen ihn schon seit 1805 als öffentlichen, unbeirrten und risikobereiten Anhänger der bayerischen Herrschaft, jahrelang wohl auch Napoleons; gegen ihn wie gegen Montgelas flocht er auch später nie Anklagen ein. Der Nationalgarde blieb er stets fern. Laut Tagebuch reiste er im September 1814 zum Wiener Kongreß und kam erst Ende Oktober zurück, war jedoch offenbar dort nur im Interesse der Finanzspekulation tätig. Von Stadtaugsburger Vertretung verlautet nichts. 1817 speiste er in Augsburg alsbald bei der Exkönigin Hortense und empfing sie im Schaezlerpalais. Sein nachfolgendes politisches Ideal war indessen die liberale, ja parlamentarische Monarchie, obgleich er auf seine Weise zuvor dem Montgelas'sehen aufgeklärten Staatsabsolutismus gedient hatte. 1818 machte er in England eigene Beobachtungen, 1819 sprach er in der Abgeordnetenkammer über die Dankadresse der Reichsräte an den König: „Was kann man ehrenvolleres von einem Staate sagen, was vermag einen Staat mehr empor zu bringen und über die Concurrenten anderer Staaten zu erheben, als wenn alle Menschen in solchem tätig sind und mit stets neu belebter Kraft unwiderstehlich nach Verbesserung strebten? - in diesen wenigen Worten liegt der Grundstein von Großbritanniens hohem, von

310-342, abgedruckt. Zu Schaezlers Finanzgeschäften jetzt eingehender Hans-Peter ULLMANN, Staatsschulden und Vermögenspolitik. Zur Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780-1820. Gotting«! 1986, passim, 172 (1807)-570 ff. (1813).

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keiner anderen Nation erreichtem Flor".25 Anlaß war die Selbstdarstellung der teils hochadligen Reichsräte als Beharrungsdamm gegenüber dem Bewegungselement der Gewählten. Daß Schaezlers erste Kammerrede da zu vermitteln suchte, entsprach seiner eigenen Doppelrolle. Seine eigenen Parlamentsanträge für Gründung einer Bayerischen Nationalbank, dann einer Nationalkreditanstalt für größere Gutsbesitzer blieben erfolglos. Beim Augsburger Königsbesuch von 1824 ließ er ein Haustransparent mit dem „Constitutionsstein", wohl der Schönbornschen Konstitutionssäule in Gaibach, zeigen und gab einen Ball für das Königspaar und 1500 Gäste. Auch dieser Bericht verzichtet aber auf Lobpreisungen von der Art der Seidaschen, wie überhaupt die stete Mischung mit finanziellen Überlegungen für Nüchternheit der Aufzeichnungen sorgt. Zur Landtagseröffnung 1822 trug er als einziger Abgeordneter statt der vorgeschriebenen engen Seidenkniehosen „bürgerliche" Pantalons, also fußlange Beinkleider. Aus München schrieb er damals an den Sohn Ferdinand26: „Daß ich Kammerherr, und wohl auch Pair [d.h. Reichsrat] werden könnte, sobald ich die zu letzterm erforderliche Grund-Stücke kaufen wollte, daran ist wohl kein Zweifel, auch würde es der Majestät wahrscheinlich nicht anders als lieb sein, den nach und nach an der Metallischen Schwindsucht absterbenden Alten Adel durch einige Dutzend Süßkind, Wohnlich, Schaezler recrutirt und aufgefrischt zu sehen. Es ist damit schon so weit gekommen, daß wenn sich nicht der kranke Seckendorf hätte in die Kammer der Reichs-Räte tragen lassen, solche erst später hätte constituirt werden können. Aber je mehr ich es erwäge, je mehr incommodirt es mich schon jetzt, daß mich fast jedermann Baron, nicht mehr Finanz-Rat nennt. Als letzterer habe ich in ganz Deutschland einen geachteten Namen, mit dem Baron ist es so eine Sache". Er wünschte darum auch von seiner Familie Unterschrift ohne den frischen Adelstitel. Den ganz staatsabhängigen Beamten gegenüber zeigte er manchmal verletzend das Selbstbewußtsein der Reichtumsmacht in der modernisierten Monarchie. Der Stadtkommissar Freiherr v. Pflummem, ehemaliger Patrizier und Augsburger Reichsstadtsenator, berichtete 1808 ärgerlich ans Innenministerium von Schaezlers Einstellung zur Mitgliederaufnahme in die Geselligkeitsvereinigung für die gebildeten Stände „Harmonie": Er habe geäußert, „daß der Commis und der Stadt-Kommissar in gleichem Verhältnis stehe, jeder diene für Sold: der Kaufmann allein sei der selbständige Mann".27 Der Staat erzwang die Aufnahme von Offizieren

25 Verhandlungen der 2. Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern 1819. Bd. 1. München 1819, 292. 26 Schaezler-Archiv, Briefe von meinem Vater und an meinen Vater während der Ständeversammlung von 1822, hier München, 29. Januar 1821 (richtig: 1822). 27 Werner K. BLESSING, Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41, 1978, 633-700, hier 640. Vgl. Verfassung und Gesetze der Harmonie-Gesellschaft zu Augsburg, o. O.

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und höheren Zivilbeamten, aber eine Satzungsänderung von 1816 bildete drei Mitgliederklassen und wies nur Verheiratete der ersten, ledige Herren, mit Einschränkung für die nichtselbständigen, der zweiten Klasse zu. Schaezler hielt zu seinem 50. Geburtstag 1812 mit Stolz fest, daß Teilnehmer am großen Gartenfest auch der damalige Akademie-Generalsekretär Professor Schelling war, dessen Frau Gespielin einer Schaezlertochter gewesen. Als neuer Gutsherr verfuhr Schaezler trotz ertragsorientierter Landwirtschaft patriarchalisch. Nach dem Erwerb von Sulzemoos veranstaltete er auf dem Schloß einen „Huldigungstag", wobei er die Grundholden mit Handschlag zu „gegenseitiger Treue" verpflichtete. Jedoch blieb er mehr als Stetten und Schnurbein ein Mann der Stadtbürgergesellschaft. Zahlreiche Stiftungen und Spenden verschafften ihm gerade im kleineren und ärmeren Bürgertum große Popularität. Er suchte damit wie mit der Stadtsparkassengründung bewußt auch Sozialprobleme der frühen Industrialisierungszeit aufzufangen. Nicht mehr Patrizier und noch nicht königlicher Kammerherr und Reichsrat, stellte er sich schließlich 1824/25 in aller publizistischen Öffentlichkeit als unabhängigen Gewerbe- und Staatsbürger im Gegensatz zur Spitze der Augsburger Staatsbürokratie dar. Als Gutsherr von Stätzling-Scherneck führte er einen Nachbarschaftsprozeß wegen einer bloßen Feldwegausbesserung mit dem amtierenden Regierungspräsidenten des Oberdonaukreises, Freiherrn, bald Grafen und Reichsrat v. Gravenreuth auf Affing. Als Stadtkommissar und Kreisregierung die Veröffentlichung seiner Beschwerdeschrift mittels Pressegesetz zu verhindern suchten, richtete er sie schließlich auch gegen das Innenministerium an den König selbst und erreichte die Freigabe. Jedermann konnte nun die Angriffe des Augsburger Abgeordneten auf den „despotischen Willen" des Präsidenten und die „Wohldienerei" der untergeordneten Beamten lesen. Schaezler prangerte sogar in einer zweiten Druckschrift, wieder unter Berufung auf die Verfassung, das diese verletzende Verhalten der Augsburger Behörden an.28 Dieser freilich von König Max gedeckte Freimut gefiel in Augsburg nicht nur den Kaufleuten, auch Patriziern wie Stetten. Schaezler starb so 1826 als eine Symbolgestalt des Epochenwechsels und sozialen Wandels in der Zeit des ersten bayerischen Königs. Die vier hier vorgestellten Verhaltenstypen zeigen unterschiedliche Teilnahmen an der Augsburger Integration in den größeren bayerischen Staat, aber keinen Widerstand gegen die „Wende".

1816. 28 An Se. Maj. den König zum Kgl. Staatsrath in München Allerunterthän. gehors. Beschwerde des J. L. Freiherm v. Schaezler ... gegen das Kgl. Staatsministerium des Innern wegen gehinderter Ausbesserung eines Vizinalweges. Augsburg 1824, 18. Weitere Nachrichten über die von dem Titl. Freiherrn v. Gravenreuth und der kgl. Regierung des Oberdonaukieises beharrlich gehinderte Ausbesserung usw. Augsburg 1825, 35. Schaezlerarchiv.

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Auch einsetzende Sozialintegration regionaler „Führungsschichten" konnte der Staatsintegration zu Hilfe kommen.2'

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Die zitierten Originaltexte sind in einheitlich modernisierter Form wiedergegeben.

Uwe Puschner Sieben Bilder aus der Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit Eine Analyse bayerischer Schulgeschichtsbücher des 19. Jahrhunderts

Als Herzog Maximilian Joseph von Zweibrücken am Abend des 20. Februar 1799 in München eintraf, um sein Erbe im seit 1777 vereinigten pfalzbayerischen Kurfürstentum anzutreten, wurde der Nachfolger des in Bayern ungeliebten Karl Theodor „unter entsezlichen Jubel, u. Vivatrufen des Volks" empfangen.1 Große Erwartungen und Hoffnungen wurden in ihn gesetzt, zumal Bayern sich am Vorabend des 19. Jahrhunderts in einer bedrohlichen innen- wie vor allem außenpolitischen Lage befand. Schon wenige Monate nach Max' IV. Joseph Regierungsantritt war Bayern Schauplatz des Zweiten Koalitionskrieges. Dessen Folgen wie auch die bereits 1799 einsetzenden Staatsreformen signalisierten den Beginn einer neuen Epoche der staatlichen Existenz Bayerns. Max Josephs ausgeprägter politischer „Instinkt, Realitätssinn und Schläue"2 und die staatsmännischen Fähigkeiten seines Ministers Maximilian v. Montgelas3 bewahrten Bayern nicht nur vor österreichischen Annexionsversuchen sowie in der rheinbündischen Zeit vor dem Verlust der staatlichen Souveränität. Vielmehr trugen sie dazu bei, daß das territorial vergrößerte und abgerundete, 1806 zum Königreich erhobene Bayern seine politische Selbständigkeit über das Ende der napoleonischen Epoche hinaus zu bewahren vermochte und infolge durchgreifender innerer, die neuerworbenen Territorien integrierender Refor-

1 Uwe PUSCHNER/Axel SCHREIBER (Hrsg.), Johann Baptist Dornhofers Merkwürdigkeiten von München aus den Jahren 1788 bis 1806, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 40, 1991, 55-129, hier 98. 2 Eberhard WEIS, Maximilian I., in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 16, 487-490, hier 488. 3 Eberhard WEIS, Maximilian Joseph Graf von Montgelas, in: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648-1945. Hrsg. v. Kurt G. A. Jeserich/Helmut Neuhaus. Stuttgart u. a. 1991, 70-74.

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men ein moderner Verwaltungsstaat auf konstitutioneller Grundlage entstand.4 Dabei erleichterte insbesondere Max Josephs „Ansehen ... das Zusammenwachsen der zahlreichen neuerworbenen Territorien mit den alten Gebieten und die Ausbildung eines gemeinsamen Staatsbewußtseins."5 Eine prominente Aufgabe kam in diesem Zusammenhang der Geschichte, vornehmlich der „vaterländischen" bayerischen Geschichte zu, die angeblich Kurfürst Max III. Joseph auf die populäre Formel gebracht hatte: „Ohne Vaterlandsgeschichte keine echte Vaterlandsliebe".6 Ein halbes Jahrhundert später hob dann der historische Berater Ludwigs I., Joseph v. Hormayr, in seinen Geschichtsvorlesungen für den Kronprinzen Maximilian diese Bedeutung hervor und betonte in diesem Zusammenhang insbesondere ihre integrative Kraft im Zusammenwachsen der alt- und neubayerischen Gebiete. Vor allem aber sei die Vaterlandsgeschichte - neben ihrer Funktion als „die mächtigste Trutzwaffe gegen fremde Übermacht oder gegen fremden Übermuth" - „die trefflichste Schutzwaffe der Dynastie und vorzüglich Ihrer Dynastie".7 Hormayr umreißt damit die grundlegenden, sich gegenseitig ebenso bedingenden wie ergänzenden Merkmale und Funktionsbestimmungen, der die Vaterlandsgeschichte im bayerischen Königreich unterlag: die Förderung und Bewahrung eines integrierten Staatsbewußtseins (ohne die Verleugnung regionaler Identitäten) sowie des bayerischen Patriotismus (zur Betonung einzelstaatlicher Souveränität sowie zur Abwehr preußisch-österreichischen und nach 1866 preußischen Hegemoniaistrebens) und der Anhänglichkeit der Untertanen an den Monarchen und die Dynastie.8

4 S. hierzu insbesondere Eberhard WEIS, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799-1825), in: Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. v. Max Spindler. Bd. IV/1. 2., verb. Aufl. München 1979, 3-86; Hubert GLASER (Hrsg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. (Wittelsbach und Bayern, Bd. III/1.) München 1980; Walter DEMEL, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08-1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 76.) München 1983; Karl Otmar v. ARETIN, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714-1818. München 1976, bes. 120 ff. 5

WEIS, Maximilian (wie Anm. 2), 488. Viktoria STROHBACH, Geschichtsbewußtsein und vermittelte Geschichtsbilder in Bayern an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: „Vorwärts, vorwärts sollst du schauen ...". Geschichte, Politik und Kunst unter Ludwig I. Hrsg. v. Johannes Erichsen/Uwe Puschner. (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 9/86.) München 1986, 237-231, hier 248. 7 Rede des Geheimen Rats Freyherm von Hormayer bey dem Beginnen seiner Vorlesungen über die Geschichte bey Sr. kônigl. Hoheit dem Kronprinzen im Nov. 1828; Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, Nachlaß Max II., 83/6/456. 8 Hierzu ausführlich und grundlegend Hans-Michael KÖRNER, Staat und Geschichte im Königreich Bayern. 1806-1918. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 96.) München 1992. 6

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Bei dem sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum eigenständigen Schulfach entwickelnden Geschichtsunterricht' sind diese - systemstabilisierenden - Funktionen der Vaterlandsgeschichte zwar ebenfalls zu beobachten, andererseits wurde er jedoch „von ganz anderen Determinanten bestimmt": ζ. B. „von der politisch motivierten Zusammenarbeit zwischen dem liberalen Ministerium und der ebenfalls liberal ausgerichteten Standesorganisation der Lehrerschaft; von den Möglichkeiten einer staatlichen Politik gegen die konservative Landtags- und Bevölkerungsmehrheit im Medium der Schul- und Hochschulpolitik; von den Forderungen und Ansprüchen der historischen Fachwissenschaft und ihren Professionalisierungstendenzen im Universitätsbereich. " 10 Insofern ist Karl Filsers Vergleich des Geschichtsunterrichts mit „einem Seismographen, der alle Bewegungen in der politischen und geistigen Landschaft anzeigt" 11 , treffend. Dieses Bild kann cum grano salis auch auf die Schulgeschichtsbücher des 19. Jahrhunderts übertragen werden, wenngleich für die

9 Vgl. KÖRNER, Staat und Geschichte (wie Anm. 8), 413 ff. ; ders., Staat und Geschichtsunterricht im Königreich Bayern. Eine Problemskizze, in: Neue Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Hrsg. v. Hans Georg Kirchhoff. (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik, Bd. 11.) Bochum 1986, 85-97; ders., Geschichtsunterricht im Königreich Bayern. Zwischen deutschem Nationalgedanken und bayerischem Staatsbewußtsein, in: Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Diszipliniemng. Hrsg. v. Karl-Emst Jeismann. (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Bd. 2.) Wiesbaden/Stuttgart 1989, 245-255; Walter TRAPP, Der Einfluß der Regierungsform der Monarchie auf den Geschichtsunterricht in den bayerischen Volksschulen (1806-1918). Diss. phil. München 1971; Sigrid ULLWER, Der Geschichtsunterricht in der Volksschule nach den Vorstellungen der Lehrervereine von der Gründung des bayerischen Lehrervereins 1861 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Diss. phil. Regensburg 1973; Karl FILSER, Geschichtsunterricht im Dienst von Monarchie und Kirche (19. Jahrhundert), in: Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts. Hrsg. v. Karl Filser. Bad Heilbrunn 1974, 198-216; Wolf WEIGAND, Ziele und Inhalte des Fachs Geschichte an den Schulen zur Zeit von Ludwig I., in: Geschichte, Politik und Kunst (wie Anm. 6), 289-305. Zur Entwicklung des Geschichtsunterrichts in Deutschland im 19. Jahrhundert - in der Regel mit starker Fokussierung auf das preußische Beispiel - s. Emst WEYMAR, Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1961; Helmut BEILNER, Geschichtsunterricht vor 1918, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40, 1977, 641-675; Margret KRAUL, Gymnasium, Gesellschaft und Geschichtsunterricht im Vormärz, in: Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500-1980. Hrsg. v. Klaus Bergmann/Gerhard Schneider. Düsseldorf 1982, 44-76; Elisabeth ERDMANN, Tendenzen und Neuansätze in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1848 bis in die Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: ebd., 77-103, sowie Gerhard SCHNEIDER, Der Geschichtsunterricht in der Ära Wilhelms II. (vornehmlich in Preußen), in: ebd., 132-189; Bernd MÜTTER, Entwicklungslinien geschichtsdidaktischen Denkens in Deutschland während des 19. Jahrhunderts: Geschichtswissenschaft - Geschichtsunterricht Pädagogik, in: Neue Beiträge zur Geschichtsdidaktik (wie oben), 55-84; Gerhard SCHNEIDER, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht am Ende des Kaiserreichs (vorwiegend in Preußen), in: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen. Hrsg. v. Paul Leidinger. Stuttgart 1988, 54-67. 10 KÖRNER, Geschichtsunterricht im Königreich Bayern (wie Anm. 9), 245 f. 11 FILSER, Geschichtsunterricht (wie Anm. 9), 206.

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bayerische Schulbuchforschung ein unbefriedigender Forschungsstand festgestellt werden muß. 1 2 Es ist in diesem Zusammenhang reizvoll, den bayerischen Schulgeschichtsbüchern eine Untersuchung zu widmen, die sich mit der Darstellung, vor allem aber mit den Bewertungen der Max-Joseph-Zeit in der Epoche Napoleons beschäftigt; eine Rekonstruktion der Schulwirklichkeit kann damit jedoch nicht verbunden sein. 1 3 Vielmehr soll das Augenmerk der historiographischen Auseinandersetzung mit der Gründungsepoche des bayerischen Königreichs gelten, wie sie in Schulgeschichtsbüchern des 19. Jahrhunderts stattfand. Denn die sowohl kollektive w i e individuelle Erinnerung an jene stürmische Epoche der Entstehung des Neuen Bayern war nie unproblematisch, nie einmütig 14 : Vorgänge w i e die Klostersäkularisation, Ereignisse w i e die napoleonischen Kriege oder Persönlichkeiten w i e Montgelas und nicht zuletzt Napoleon führten zu kontroversen Bewertungen. Pars pro toto sei hier auf das vielgestaltige Napoleon-Bild im 19. und 20. Jahrhundert hingewiesen 1 5 , und damit auf j e n e herausragende, die Epoche prägende Persönlichkeit, die „quasi zu einer Gestalt der deutschen Geschichte" 16 wurde und der insbesondere das N e u e Bayern seine Existenz verdankte. 17 Haß und Bewunderung kennzeichnen nicht nur das

12 Hierzu KÖRNER, Staat und Geschichte (wie Anm. 8), 475-494 und 498-501; s. auch Gudrun HELLER, Geschichtsschulbücher im 19. Jahrhundert in Bayern. Diss. phil. München 1944; Rainer ROTH, Politische Bildung in Bayern. Eine historische Untersuchung der Bemühungen um politische Bildung an den Volksschulen Bayerns in der Zeit der Monarchie. Von Ludwig I. bis zur Gründung des Deutschen Reiches. (Politik und politische Bildung) München 1974, bes. 142-208; Walter MÜLLER, Schulbuchzulassung. Zur Geschichte und Problematik staatlicher Bevormundung von Unterricht und Erziehung. Kastellaun 1977, 15-18 und 82-130; Michael RETTINGER, Die Schulbücher Heinrich Brauns, in: Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens. Hrsg. v. Max Liedtke. Bd. 1. Bad Heilbmnn 1991, 701-710; Max LŒDTKE, Schulbücher, in: ebd.,

B d . 2 . B a d H e i l b r u n n 1993, 2 4 5 - 2 6 3 u n d 5 7 1 - 5 8 0 ; weitere H i n w e i s e auch bei TRAPP, ULLWER u n d WEIGAND ( w i e A n m . 9 ) . 13

Zu dieser Problematik KÖRNER, Staat und Geschichte (wie Anm. 8), 475. Hierzu KÖRNER, Staat und Geschichte (wie Anm. 8), 226-249; die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Epoche ist dargestellt in WEIS, Begründung (wie Anm. 4). 15 Hierzu mit ausführlichen, kritischen Literaturhinweisen Heinz-Otto SLEBURG, Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21, 1970, 470-486; Hans SCHMIDT, Napoleon in der deutschen Geschichtsschreibung, in: Francia 14, 1986, 530-560, und Roger DUFRAISSE, Die Deutschen und Napoleon im 20. Jahrhundert. (Schriften der Historischen Kollegs, Vorträge, Bd. 21.) München 1991; femer, vornehmlich für das zeitgenössische Napoleon-Bild: Antje SIEMER, „Moi, toujours moi, rien que moi" - zu einigen Facetten des Napoleonbildes in der deutschen Publizistik, in: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v.HolgerBöning. (DeutschePresseforschung,Bd. 28.)Münchenu. a. 1992, 309-322. 14

16

17

SCHMIDT, N a p o l e o n ( w i e A n m . 15), 5 3 0 .

S. hierzu v. a. die Arbeiten von WEIS, Begründung (wie Anm. 4); Das neue Bayern - Max I. Joseph, Montgelas und die Entstehung und Ausgestaltung des Königreichs 1799 bis 1825, in: GLASER, Krone und Verfassung (wie Anm. 4), 49-64; Bayern und Frankreich in der Zeit des Konsulats und des ersten Empire (1799-1815), sowie: Napoleon und der Rheinbund, beide in: Eberhard WEIS, Deutschland und Frankreich um 1800. Aufklärung, Revolution, Reform. Hrsg. v.

Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit

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Verhältnis Ludwigs I." oder des Sprachforschers Johann Andreas Schmeller zu Napoleon. Wenn Schmeller Napoleon beispielsweise mit Beinamen belegt wie „der Eiserne", „der Große", „der Kecke", „der Stolze", „der Unsinnige", ihn als „Franzosengott", „Menschheitsschänder", „TamerlanischerRäuber", „Teufel", „Weltbeherrscher", „Weltverspieler" und als „großen Mann" bezeichnet oder ihn mit Caesar vergleicht", so tritt damit ein sowohl persönliches, von Widersprüchen geprägtes Napoleon-Bild zutage, als vor allem auch der zwischen „Verherrlichung und Verdammung"20 oszillierende Mythos Napoleon21.

Napoleon

Die in den knapp einhundert Jahren zwischen Napoleons Verbannung nach St. Helena und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienenen, 75 untersuchten bayerischen Schulgeschichtsbücher spiegeln - erwartungsgemäß - dieses von Gegensätzen gekennzeichnete Napoleon-Bild wider. Zudem korrespondieren die überwiegend von Lehrern verfaßten Lehr- und Lernhilfen mit den verschiedenen Beurteilungen über den „Mann des Jahrhunderts"22, wie sie von den politischen und intellektuellen Meinungsführern und der deutschen Geschichtswissenschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbreitet wurden.23 In den ersten Jahren nach dem Sturz Napoleons beschränkten sich die Schulbuchautoren unter dem Eindruck der

Walter Demel/Berad Roeck. München 1990, 152-185 bzw. 186-217; Roger DUFRAISSE, Napoleon und Bayern, in: GLASER, Krone und Verfassung (wie Anm. 4), 221-229. 18 S. hierzu Heinz GOLLwrrZER, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie. München 1986, bes. 120-161, und Eberhard WEIS, Die politischen und historischen Auffassungen Ludwigs I. in der Kronprinzenzeit, in: ders., Deutschland und Frankreich (wie Anm. 17), 2 9 9 - 3 2 0 , bes. 3 0 2 - 3 0 5 . 19 Johann Andreas SCHMELLER, Tagebücher 1801-1852. 3 Bde. Hrsg. v. Paul Ruf. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 47-48a.) München 1954-1957. 20 Eberhard WEIS in seinem Nachwort zu: Roger DUFRAISSE, Napoleon. Revolutionär und Monarch. Eine Biographie. München 1994, 166; in ähnlicher Weise Hans SCHMIDT, Napoleon I., in: Französische Könige und Kaiser der Neuzeit. Von Ludwig XII. bis Napoleon III. 1498-1870. Hrsg. v. Peter Claus Hartmann. München 1994, 308-366, bes. 309 f., und DUFRAISSE, Die Deutschen (wie Anm. 15), 7. 21 S. hierzu den instruktiven Überblick von Bernhard BARTH, Mythos Napoleon. Die NapoleonLegende in Deutschland, in: Biedermeiers Glück und Ende. Die gestörte Idylle. 1815-1848. Hrsg. v. Hans Ottomeyer/Ulrike Lauffer. München 1987, 452 f. 22 Heinrich GRIEBEL, Lehrbuch der Deutschen Geschichte in Verbindung mit der Geschichte Bayerns und mit EinschluB der wichtigsten Tatsachen der Kulturgeschichte. Vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges bis zum Tode Wilhelms I. Für den Unterricht an Mittelschulen. Erlangen/Leipzig 1902, 134. 23 Hierzu SCHMIDT, Napoleon (wie Anm. 15).

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miterlebten Zeitgeschichte auf eine auf bloße Fakten reduzierte Darstellung 2 4 ; erst nach dessen Tod setzt eine wertend-bewertende Auseinandersetzung ein. 2 5 Unbestritten ist und bleibt d i e Bewunderung für N a p o l e o n s militärisches Genie w i e für seine Klugheit, Kühnheit und seinen Mut im Krieg. Daneben stehen aber Charaktereigenschaften w i e übersteigerter Ehrgeiz und eine unbezähmbare Herrschsucht, d i e in despotischer Willkür, „unersättlicher Eroberungssucht" und die Vorsehung herausforderndem Übermut zum Ausdruck kamen und zwangsläufig zu seinem Fall führen mußten. 2 6 B e g n ü g t e sich d i e Mehrzahl der bayerischen Schulgeschichtsbücher in ihrem a u s g e w o g e n e n Urteil über Napoleon damit, die Ursachen für sein Schicksal aus seinen W e s e n s z ü g e n heraus zu erklären, so tritt in den w e n i g e n national akzentuierten Lehrbüchern eine e b e n s o ausgeprägte antinapoleonische w i e antifranzösische Ausrichtung zutage. 2 7 Ein frühes und extremes Beispiel dafür ist die v o n W o l f g a n g Woerlein verfaßte,

1835 erschienene „Baierische Vaterlands-Geschichte" 2 8 :

In

seinem apodiktischen Verdammungsurteil würdigt Woerlein zwar, daß N a p o l e o n „ein gebornes Kriegsgenie" g e w e s e n sei, aber gleichzeitig auch ein M e n s c h „voll Ruhmgier und Herrschsucht" und - ein Beispiel für die ausufernde antifranzösische

24 Zu nennen sind hier beispielsweise Nikolaus HAAS, Die Weltgeschichte mit besonderer Rücksicht auf das Vaterland. Zunächst für Schulseminaristen, Real-, auch Studienschüler, dann Gebildete aus dem Volke überhaupt. Bamberg/Würzburg 1815, 146-150, und Felix Joseph LIPOWSKY, GrundLinien der baierischen Geschichte, zum Schulgebrauche. München 1816, 255-257. 25 So ζ. B. Joseph MILBILLER, Kurtzgefafite Geschichte der Teutschen, zum Gebrauche beim Unterrichte in Gymnasien. München 1824, 239-246. 26 Karl Wilhelm BÖTTIGER, Die Deutsche Geschichte für Gymnasien und Schulen. 2., verb. Aufl. Erlangen 1826, 185 f.; ders., Die Allgemeine Geschichte für Schule und Haus. Für katholische Lehranstalten eingerichtet und bearbeitet v. Franz Wenzel Goldwitzer. Erlangen 1826, 198; Joseph MILBILLER, Kurzgefaßte Geschichte des Königreichs Bayern. Zum Gebrauch beim Unterricht in den königl. bayerischen Schulen. 6., verb, und verm. Ausg. neu bearb. v. Anton Mengein. München 1834, 187; ders., Lehrbuch der deutschen Geschichte für lateinische Schulen und höhere Lehranstalten. 3., verb, und verm. Ausg. neu bearb. v. Johann Nepomuk Uschold. München 1835, 311; Sebastian MUTZL/Karl KUGLER, Geschichte Bayerns von der frühesten bis auf unsere Zeit, für Schule und Haus. Regensburg 1857, 351 f.; Lehrbuch der bayerischen Geschichte unter steter Bezugnahme auf die deutsche Geschichte für die Gewerbs- und gewerblichen Fortbildungsschulen mit Berücksichtigung der neuen Schulordnung von 1864 von einem Schulmanne. München 1866, 99 und 104; Karl KEPPEL, Deutsche Geschichte in Verbindung mit dem Wichtigsten aus der bayerischen Geschichte und einem kurzen Überblick über die alte Geschichte für Mittelschulen. 5., verm. und verb. Aufl. Nürnberg 1885, 180, 182, 186, 189. In diesem Zusammenhang wird wiederholt der Vergleich mit Alexander d. Gr. gezogen, so etwa bei Karl Wilhelm BÖTTIGER, Geschichte Baieras nach seinen alten und neuen Bestandteilen. Für Gebildete des In- u. Auslandes, vor allem für Baieras reifere Jugend. Erlangen 1832, 385, oder Heinrich DLTTMAR, Leitfaden der Weltgeschichte für mittlere Gymnasialklassen, lateinische Schulen, Real- und Bürgerschulen, Seminare, höhere Mädchenschulen und andere Anstalten. Neu bearb. v. G. Dittmar. Heidelberg 1891, 194. 27 S. hierzu BÖTTIGER, Deutsche Geschichte (wie Anm. 26), 198-212; Joseph ZrrZLSPERGER, Bayerische Geschichte für Mittelschulen. 2., vollst, umgearb. und verm. Aufl. Amberg 1868, 132-137; ders., Bayerische Geschichte in engem Zusammenhange mit der deutschen Geschichte für Mittelschulen. 8. Aufl. Amberg 1886, 170-179. 28 Wolfgang WOERLEIN, Die Baierische Vaterlands-Geschichte für Schule und Haus. Aus den Quellen und nach den besten Hülfsmitteln bearbeitet. Nürnberg 1835.

Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit

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Polemik29 - ein „Meister der wälschen Praktik"; „die stolzesten Fürsten senkten ihre Kronen vor dem kleinen Hütchen des Korsen", während „die Franzosen ... ihn als Heiland" verehrten. Und so „verfügte [er] über Deutschland, als wär' er Herr der Welt, stieß in unüberwindlicher Macht Fürsten von ihren Thronen, zertrümmerte alte Reiche und schuf neue Kronen". Als schließlich „der Machttrunkene, getrieben vom bösen Geist der Herrschgier,... keine Ruhe" fand, „ging er in seinem Riesenplan gegen Rußland unter". Napoleons Untergang aber wurde durch ein Menetekel angekündigt: denn bereits im Sommer 1811 hatte der damals „drohend am Himmel" stehende „ungeheure Komet" „den erschrockenen Völkern einen großen Wechsel" angekündigt, und während des Rückzugs der geschlagenen Armeen im Winter 1812/13 kämpften „selbst die Elemente ... für Europa's Befreiung".30 Während Napoleons Sturz eine unmittelbare Folge des „Verrathfs] seiner ehemaligen Günstlinge, wie Talleyrand, Fouché, Marmont etc." war, konnte „der große heilige Krieg für Deutschlands Errettung und Europa's Entbindung von Frankreichs Obermacht" nur mit Gottes Hilfe gewonnen werden.31 Denn nach Woerleins apokalyptischer Interpretation war Napoleon, wie „einst Attila, eine Geißel Gottes der neuen Zeit32, ein Strafwerkzeug der Vorsehung, die Sünden der Väter an den Kindern heimzusuchen".33 Die Schärfe dieses Verdammungsurteils sollte in den bayerischen Schulgeschichtsbüchern die Ausnahme bleiben. Im allgemeinen waren die bayerischen Schulbuchautoren, auch wenn sie - verstärkt seit 1871 - deutlicher national akzentuiert waren und im Tenor Napoleon und Frankreich mehr oder weniger mit Ablehnung begegneten, in ihrem Urteil um Ausgewogenheit und Sachlichkeit bemüht wie etwa Karl Lorenz, der in seinem Resümee über die napoleonische Epoche zur „sogenannte[n] Napoleonslegende" bemerkt: „man erinnerte sich nur des Guten, das der außerordentliche Mann tatsächlich geschaffen, vergaß aber dabei die zahllosen

29 Weitere Beispiele für eine deutliche antifranzösische Haltung sind: BÖTTIGER, Deutsche Geschichte (wie Anm. 26), 199, 203; MLLBILLER, Geschichte des Königreichs (wie Anm. 26), 191; Heinrich DNTMAR, Die Weltgeschichte in einem leicht überschaulichen Umrisse für den Schul- und Selbstunterricht. 2. Hälfte: Die Geschichte der Welt nach Christus. 4., verm. und z. T. umgearb. Aufl. Heidelberg 1849, 511; Johann FINK/G. GEBHARD, Geschichtsbilder in drei konzentrischen Kreisen. Für die Hand der Schüler. München 1883, 82 f.; KEPPEL, Deutsche Geschichte (wie Anm.

2 6 ) , 1 9 2 ; DITTMAR, L e i t f a d e n ( w i e A n m . 26), 2 0 2 . 30 In ähnlicher Weise: BÖTTIGER, Allgemeine Geschichte (wie Anm. 26), 210; Georg Friedrich HEINISCH, Geschichte Bayeras. Für Lehranstalten. 2., vert), und verm. Aufl. Bamberg 1858, 159; Wilhelm PREGER, Abrifi der bayerischen Geschichte. Ein Leitfaden für den Unterricht an Latein- und Gewerbeschulen. Erlangen 1866, 46. 3< Die Metapher vom heiligen Krieg auch bei ZITZLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 135. 32 Mit ähnlichen Worten Anton PFEILSCHIFTER, Memorierstoff aus der deutschen und bayerischen Geschichte für Mittelschulen. Regensburg 1893, 223. 33 Die Zitate sind in ihrer Reihenfolge zu finden bei WOERLEIN, Baierische Vaterlands-Geschichte (wie Anm. 2 8 ) , 197, 2 0 1 , 2 0 3 , 2 0 8 , 2 1 0 , 2 1 3 und 2 1 1 .

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blühenden Menschenleben, die er seinem Ehrgeiz und seiner Herrschsucht geopfert hatte."34 1805 Neben den reformerischen Impulsen, die vom napoleonischen Frankreich ausgingen, zeichnete Napoleon insbesondere für die territoriale Gestalt Bayerns wie für die Schaffung eines unabhängigen Königreichs verantwortlich. Während Bayern im Zweiten Koalitionskrieg noch auf Seiten der antifranzösischen Allianz gekämpft hatte, kam es mit dem Herannahen eines neuen Krieges zu einer bayerisch-französischen Annäherung, die im August 1805 in ein Bündnis mündete.35 Im Gegensatz zur kleindeutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die mit Heinrich v. Treitschke von „Verrat" und „Felonie" sprach36, schilderten die bayerischen Schulgeschichtsbücher den Bündniswechsel mit wenigen Ausnahmen als eine pragmatische, unabdingbare Notwendigkeit zur staatlichen „Selbsterhaltung".37 Während Joseph Milbiller in diesem Zusammenhang die Gefahr für Bayern von Frankreich ausgehen sieht, gelten für die überwiegende Mehrzahl der Schulbuchautoren die österreichische Politik und insbesondere die habsburgischen Annexionspläne als ursächliche Gründe, denn: „Dieser Übertritt Bayerns auf die Seite Frankreichs ist begreiflich. Bayern war nicht groß genug, eine selbständige Politik zu treiben. Es mußte sich an einen größeren Staat anschließen: an Österreich oder Preußen. Auf Österreichs Seite hatte es eben schwere Verluste erlitten; außerdem hatte Österreich seine Gelüste auf Bayern (vgl. 1705, 1748, 1778, 1785) noch nicht ganz aufgegeben. Preußen aber war seit dem Sonderfrieden von Basel 1795 neutral. So blieb dem Kurfürsten kein anderer Ausweg als der Anschluß an Frankreich. "3S

34 Karl LORENZ, Lehrbuch der Geschichte für realistische Mittelschulen. 2. Aufl. München 1906, 310 f. S. hierzu auch DUFRAISSE, Die Deutschen (wie Anm. IS), 12, der zu demselben Urteil über die Rezeption Napoleons in deutschen Schulgeschichtsbüchem des späten Kaiserreichs kommt. 35 Grundlegend hierzu WEIS, Begründung (wie Anm. 4), 16-18. 36 Heinrich v. TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. 4. Aufl. Leipzig 1886, 221 f. und 226 (Zitate). 37

3

MILBILLER, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 2 5 ) , 2 4 0 .

* Eduard EBENER, Geschichte der Neuzeit. 3. Aufl. Nürnberg 1914, 110 f.; s. auch BÖTTIOER, Geschichte Beierns (wie Anm. 26), 374; WOERLEIN, Vaterlands-Geschichte (wie Anm. 28), 201; Anton MENGEIN, Kurze Geschichte des Königreiches Bayern für den Schul- und Selbst-Unterricht (statt einer siebenten Auflage des Dr. J. Milbiller'schen Lehrbuches). München 1841, 250; Erzählungen aus der bayerischen Geschichte, mit besonderer Berücksichtigung der Pfalz. Mit einer Vorrede von Karl Egger. Augsburg 1846, 162; Die Geschichte von Bayern für die deutschen Schulen. München 1849, 141 f.; HEINISCH, Geschichte Bayerns (wie Anm. 30), 142; Maximilian Vincenz SATTLER, Leitfaden zur bayerischen Geschichte in engster Verbindung mit der Geschichte des deutschen Volkes für die niederen Mittelschulen bearbeitet. München 1868, 155 f. ; Karl KEPPEL, Deutsche Geschichte in Verbindung mit den Hauptmomenten aus der bayerischen Geschichte und einem kurzen Überblick über die alte Geschichte für Mittelschulen. Hof 1871, 181; Maximilian

Geschichte Bayerns in napoleonischer Zeit

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S o z u s a g e n in Umkehrung von Treitschkes Verdammungsurteil werteten

einige

Autoren den bayerischen Bündniswechsel v o n 1805 als eine Reaktion auf d i e eigensüchtigen Interessen der beiden Großmächte Österreich und Preußen, die schon 1797 b z w . 1795 „am deutschen Reiche zu Verrätern" geworden waren. 3 9 Aber das D i k t u m der deutschlandfeindlichen Politik Österreichs und Preußens stellte e b e n s o d i e A u s n a h m e dar w i e der kurz vor der Jahrhundertwende erhobene Vorwurf, Kurfürst M a x I V . Joseph habe sich, „von seinem allerdings berechtigten Groll g e g e n Österreich verführt, den Franzosen in die Arme" g e w o r f e n . 4 0 Entgegen der nüchternen Darstellung der v o n äußeren Z w ä n g e n

geleiteten

bayerischen Bündnispolitik, die unterschwellig g e g e n die (klein-)deutsche Nationalgeschichtsschreibung w e n n nicht verteidigt, dann zumindest aber gerechtfertigt wurde, werden die F o l g e n des Preßburger Friedensvertrags, der territoriale Zug e w i n n und die Erhebung zum souveränen Königreich ausnahmslos patriotisch gewürdigt. D e n n dies bedeutete nicht nur - w i e bereits 1816 Felix Joseph L i p o w s k y betonte - d i e langersehnte „Wiederherstellung der alten Königswürde" 4 1 , vielmehr „erhielt Bayern eine europäische Stellung und nahm wieder den Rang ein, w e l c h e n e s einst besessen hatte." 4 2

Vincenz SATTLER, Abriß der Geschichte und Geographie für höhere Lehranstalten, Bd. 2. München 1873, 209; Gustav ZEISS, Bilder aus der deutschen und bayerischen Geschichte. Landshut 1880, 149; Wilhelm PREGER, Lehrbuch der bayrischen Geschichte. 8. Aufl. Erlangen 1882, 101; FINK/GEBHARD, Geschichtsbilder (wie Anm. 29), 82; Franz DNTMAR, 20 Bilder aus der bayerischen Geschichte. Für die Hand der Schüler bearbeitet. München 1887, 10; Oskar STEINEL, Geschichte des Königreichs Bayern. Zum Gebrauche für Schüler in den unteren Klassen der Mittelschule und in den oberen Klassen der Volksschule bearbeitet. München 1892, 20; Heinrich WEIGAND/August TECKLENBURG, Deutsche Geschichte für Schule und Haus nach den Forderungen der Gegenwart für das Königreich Bayern. Bearb. v. Johannes Friedrich. Hannover 1899, 88. 39 Otto KRONSEDER, W. Pregers Lehrbuch der Bayerischen Geschichte. 19. und 20., völlig Überarb. Aufl. Erlangen/Leipzig 1914,152; ebenso MUTZL/KUGLER, Geschichte Bayerns (wie Anm. 26), 325; Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 97; PREGER, Abrifi (wie Anm. 30), 44; Hugo KLEMMERT, Sechsundzwanzig kurze Geschichtsbilder zum Gebrauche in den bayerischen Volksschulen. 4. Aufl. Würzburg 1889, 12; STEMEL, Geschichte (wie Anm. 38), 20; Theodor PREGER, Abriß der bayerischen Geschichte. Ein Leitfaden für den ersten Unterricht an den Mittelschulen von Dr. Wilhelm Preger. 13. Aufl. Erlangen/Leipzig 1904, 45. 40 Friedrich VOGEL, Lehrbuch lür den ersten Unterricht in der Geschichte. Bd. 3: Deutsche Geschichte der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der bayerischen Geschichte. 2. Aufl. Bamberg

1898, 7 7 . 41 LIPOWSKY, Grund-Linien (wie Anm. 24), 257; s. auch u. a. Wolfgang MAURER, Historische Unterhaltungen aus der bayerischen Geschichte für die vaterländische Jugend. Passau 1822, 227: DaB Bayern von altersher ein Königreich gewesen sei, kommt in einem Titelkupfer zum Ausdruck, welches den aus der Mitte des 6. Jahrhunderts überlieferten, ersten namentlich bekannten Agilolfinger Garibald im phantastischen herrscherlichen Habitus zeigt; Geschichte von Bayern (wie Anm. 38), 142; MUTZL/KUGLER, Geschichte Bayerns (wie Anm. 26), 344; Gotthilf Heinrich v. SCHUBERT, Die Geschichte von Bayern lür Schulen. Neue, verm. Aufl. München 1860, 144; KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 154. 42 Christian KLEINSTÄUBER, Lehrbuch der Geschichte Bayerns und der Rheinpfalz, zunächst für die vaterländischen Gymnasien bearbeitet. Regensburg 1855,91; ähnlich MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 2 5 3 .

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Der Rheinbund Demgegenüber stellte aber die Mitgliedschaft im Rheinbund die Kehrseite der Medaille der Allianz mit Napoleon dar. Denn in dem im Juli 1806 errichteten Rheinbund fiel Bayern die gefährliche strategische Aufgabe einer „Vormauer gegen Österreich"43 zu, und zudem war dieses „Löwenbündnis"44 mit ständigen militärischen Verpflichtungen verbunden. War es Max Joseph gelungen, „in seinen ersten sechs Regierungsjahren die der Selbständigkeit Bayerns von Oesterreich her drohende Gefahr" abzuwenden, so trat seit 1806 das napoleonische Frankreich an die Stelle des östlichen Nachbarn.45 Dem Protektor des Rheinbundes diente dieses Bündnis nämlich lediglich als Instrument, „um Deutschland allmählig zu unteijochen",46 es sei letztlich nur „ein Mittel, um der thatsächlich schon bestehenden Fremdherrschaft Frankreichs über Deutschland auch eine völkerrechtliche Form zu geben".47 Insofern war Süddeutschland „jetzt Vasallenreich des Franken", „kaum mehr als eine französische Provinz", und die „Fürsten seine Schützlinge und Knechte".48 Wenngleich immer wieder auf die Schutzfunktion des Rheinbundes (vornehmlich gegen Österreich) hingewiesen wurde, der nach Napoleons Vorstellungen ein politisches und militärisches Äquivalent gegenüber Österreich und Preußen, ein - in Anspielung auf die das 19. Jahrhundert durchziehende Diskussion - „Drittes Deutschland"49 darstellen sollte, so haftete ihm und vor allem den deutschen Mitgliedern doch stets der vom nationalen Standpunkt her empfundene Makel an, daß, „durch die französische Uebermacht gezwungen50, Deutsche gegen Deutsche kämpfen" mußten.51 Und

43 BÔTTIGER, Geschichte Beierns (wie Anm. 26), 375; STEINEL, Geschichte (wie Anm. 38), 20; ZITZLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 169. 44 MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 255; ebenso Christian MAYER, Leitfaden für den ersten geschichtlichen Unterricht an Mittelschulen. Abt. 3: Die neue Zeit. München 1883, 123. 45 Sebastian FREUDENSPRUNG, Geschichte des Königreiches Bayern für den Schul- und Selbst-Unterricht statt einer achten Auflage des J. Milbiller'sehen und einer zweiten des A. Mengein'schen Lehrbuches. München 1856, 377; SATTLER, Leitfaden (wie Anm. 38), 258; Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 99; Wilhelm PREGER, Lehrbuch der bayerischen Geschichte. 8. Aufl. Erlangen 1882, 102. 46 DnTMAR, Weltgeschichte (wie Anm. 29), 507; Leitfaden der Weltgeschichte für untere Gymnasialklassen oder lateinische Schulen, Real- und Bürgerschulen, Pädagogien und Töchteranstalten nach H. Dittmar's Umriß der Weltgeschichte. Heidelberg 1855, 176; DnTMAR, Leitfaden (wie Anm. 26), 196; KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 155. 47 Hermann STÖCKEL, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen. Ausgabe B: für neunklassige Anstalten. Bd. 3: Geschichte der Neuzeit. 6., durchges. Aufl. München/Leipzig 1901, 117. 48 WOERLEIN, Baierische Vaterlands-Geschichte (wie Anm. 28), 202; KEPPEL, Deutsche Geschichte (wie Anm. 38), 190; ähnlich BÖTTIGER, Deutsche Geschichte (wie Anm. 26), 199; BÖTTIGER, Allgemeine Geschichte (wie Anm. 26), 203. 49 Hermann DEGEL, Leitfaden der Bayerischen Geschichte für höhere Lehranstalten. Bamberg 1908, 83 f. 50 Dieses Argument u. a. auch in Geschichte Bayerns. Nebst einer kurzen Geschichte der Landestheile Franken, Schwaben und Pfalz. Zum Gebrauche für die vaterländische Jugend. 2., verb.

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aus patriotischer Sicht wurde bedauert, „daß die deutsche Tapferkeit der Bayern ... so viel zu den französischen Siegen beitragen mußte!"52 1813 Dieses Kainszeichen konnte Bayern jedoch mit dem Anschluß an die antinapoleonische Koalition im Herbst 1813 von sich abwaschen, der das Ende des Rheinbundes, jenes „für Deutschlands Ehre und Freiheit so verderblichen Bundfes]"53, zur Folge hatte. Nur in wenigen Schulgeschichtsbüchern wird der mit dem Vertrag von Ried vollzogene Übertritt Bayerns auf die Seite der Alliierten ähnlich wie der Bündniswechsel von 1805 als unumgänglicher Schritt gewertet, um politisch und staatlich zu überleben.54 Wenngleich der Anschluß an die Alliierten durchgängig als Bayerns - nationaler - Beitrag zur Rettung Deutschlands hervorgehoben wurde, so war dies insbesondere vor der Reichsgründung wiederholt mit dem Hinweis auf die Bedeutung Napoleons für Bayern verbunden.55 Demgegenüber werden im Kaiserreich nicht nur deutlich nationalere Töne angeschlagen, sondern zudem Bayerns Anteil in den Befreiungskriegen eindringlich hervorgehoben. Dies kommt zum einen in Formulierungen zum Ausdruck, wie: Bayern „Schloß sich ... noch zu einer Zeit der deutschen Sache an, in welcher der Erfolg noch nicht gegen Napoleon entschieden hatte"56, zum anderen in der Stilisierung der Bedeutung des bayerischen Militärs für den Sieg über Napoleon. Zwar war auch schon vor der Jahrhundertmitte in Zusammenhang mit den Schlachten von 1813 und 1814 auf die „altbajoarische Tapferkeit" und den „rühmlichen AntheiP Bayerns hingewiesen worden, der „unvergeßlich in den Geschichtsbüchern der Kriegskunst" bleiben werde57, seit der Mitte der

Aufl. Augsburg 1855, 186; MUTZL/KUGLER, Geschichte Bayerns (wie Anm. 26), 345. 51 SCHUBERT, Geschichte (wie Anm. 41), 145; ebenso: Geschichte von Bayern (wie Anm. 38), 143. 52 Johann Michael BEITELROCK, Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für Gymnasien und höhere Lehrinstitute. Tl. 2. 3. Aufl. Augsburg 1849, 267. 53 BÖTTIGER, Deutsche Geschichte (wie Anm. 26), 203. 54 BÖTTIGER, Geschichte Baierns (wie Anm. 26), 386; ZrrzLS PERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 135, ders., Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 178; GRIEBEL, Lehrbuch (wie Anm. 22), 164. 55 U. a. MILBILLER, Geschichte des Königreichs (wie Anm. 26), 188; FREUDENSPRUNG, Geschich-

te ( w i e A n m . 4 5 ) , 3 9 1 f . ; MUTZL/KUGLER, Geschichte Bayerns ( w i e A n m . 2 6 ) , 3 5 2 ; SATTLER,

Abriß (wie Anm. 38), 215; DEGEL, Leitfaden (wie Anm. 49), 86. 56 PREGER, Lehrbuch (wie Anm. 38), 104; ebenso: ders., Abriß (wie Anm. 30), 46; Hugo KLEMMERT/Kaspar WEICKERT, Bilder aus der deutschen und bayerischen Geschichte in drei sich erweiternden Kreisen. Hilfsbuch für den ersten geschichtlichen Unterricht. Würzburg 1890, 64; KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 159. 57 WOERLEIN, Baierische Vaterlands-Geschichte (wie Anm. 28), 213, und MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 268.

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1860er Jahre aber fällt eine deutliche Akzentverschiebung auf. Sie kommt insbesondere in der Überhöhung von Wredes militärisch sinnloser Aktion bei Hanau zum Ausdruck, wo dieser nicht nur Napoleon nötigte, „den deutschen Boden für immer zu verlassen", sondern vor allem „durch die That das neue Bündniß Bayerns" besiegelte.58 Unübersehbar ist der Versuch, Bayerns Bedeutung für die deutsche Nationalgeschichte des 19. Jahrhunderts rechtfertigend hervorzuheben, wobei insbesondere wiederholt der „,teutsch' gesinnte Kronprinz Ludwig", der schon 1807 „von Berlin aus den Ton ... zu nationaler Erhebung" anstimmte, als glühender Feind Napoleons und Gallionsfigur der frühen deutschen Nationalbewegung ins Feld geführt wird. 5 ' Montgelas

Daß Montgelas entscheidenden Anteil an der Vorbereitung des außenpolitischen Kurswechsels von 1813 hatte, wird im Gegensatz zum Abschluß des Bogenhausener Vertrages 180560 verschwiegen. Interessanterweise wird Montgelas, der erst zu Beginn der 1830er Jahre in die bayerischen Schulgeschichtsbücher Eingang fand61, aufgrund seiner „in der Verbindung mit Frankreich sich Vorteile" sichernden Politik62 nie kritisiert. Selbst der Hinweis auf seinen „starken Antheil" bei der Errichtung des überwiegend negativ beurteilten Rheinbundes bleibt unkommentiert.63 Dies mag in Zusammenhang mit der Tatsache stehen, daß Montgelas in der Mehrzahl der bayerischen Schulgeschichtsbücher vornehmlich pauschal und dabei in erster Linie wegen seiner innenpolitischen Leistungen gewürdigt wurde. Dabei wird Montgelas bis zur Jahrhundertwende in einem überaus positiven Licht dargestellt: Er sei achtzehn Jahre lang die „Seele" der bayerischen Politik gewesen64; als „treuer

58 Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 105, und ZrrzELS PERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 135; ähnlich: Geschichte von Bayern (wie Anm. 38), 145, und SCHUBERT, Geschichte (wie Anm. 41), 146 f. Eine gerechte Würdigung des Hanauer Gefechtes erstmals bei Eduard MUTZL, Kurzgefaßte Geschichte Bayerns. Regensburg 1862, 106. 59 KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 157 f.; u. a.: WoERLEIN, Baierische Vater-

lands-Geschichte (wie A n m . 28), 205; BÖRNGER, Geschichte Baieras (wie A n m . 26), 3 8 6 ; STEINEL,

Geschichte (wie Anm. 38), 21; STÖCKEL, Lehrbuch (wie Anm. 47), 123; LORENZ, Lehrbuch (wie A n m . 34), 3 0 7 ; DEGEL, Leitfaden (wie A n m . 49), 86. 60 Darauf wird explizit hingewiesen bei FREUDENSPRUNG, Geschichte (wie Anm. 45), 332; SATTLER, Leitfaden (wie Anm. 38), 150; ohne Namensnennung bereits MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 2 5 0 . 61 Erstmals bei BÖTTIGER, Geschichte Baiems (wie Anm. 26), 371 ff. 62

63

STEINEL, Geschichte (wie A n m . 38), 21.

BÖTTIGER, Geschichte Baieras (wie Anm. 26), 375. ZITZLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 137; SATTLER, Leitfaden (wie Anm. 38), 150; ZrrzLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 182. 64

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und vorzüglichster Rathgeber"65 des Königs steuerte Montgelas, „der sich durch allseitige Bildung, Klugheit, Scharfblick und Entschiedenheit, sowie durch Treue gegen seinen Fürsten auszeichnete"66, „Baiern durch die Klippen einer stürmischen und hochbedenklichen Zeit".67 Sein Wirken „um Bayern's Größe" mache ihn „unvergeßlich in den Jahrbüchern dieses Landes".68 Im Gegensatz zu Georg Friedrich Heinischs ausführlicher und insbesondere das innenpolitische Reformprogramm, selbst die Tätigkeit als Finanzminister überschwenglich lobender Würdigung69 erfahren Montgelas und sein Reformwerk zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kritische, aber ausgewogene Beurteilung, die die jüngsten wissenschaftlichen Forschungen widerspiegelt: So sieht Karl Lorenz in Montgelas einen Vertreter des „aufgeklärten Absolutismus", der „den konstitutionellen Ideen abhold" blieb.70 Und wie Lorenz beurteilt Otto Kronseder Montgelas, „dank seinem klaren Blicke und seiner rücksichtslosen Willenskraft", als den richtigen Mann, um aus dem rechtlich, wirtschaftlich und gesellschaftlich heterogenen bayerischen Territorialgebilde der napoleonischen Zeit „einen völlig neuen, innerlich festgefügten Staat aufzubauen". Jedoch „verraten" seine Reformen „oft geringes Verständnis für die historische Entwicklung und die althergebrachte Eigenart. Man klagte über, Vielregiererei' und .Organisationsfieber', worüber Bayern nicht zur Ruhe kommen könne, über die Hast und Rücksichtslosigkeit bei der Durchführung der neuen Maßnahmen. Den ärgsten Anstoß im Volke erregte seine schroffe Stellung gegenüber der Kirche und das geringe Maß von politischer Freiheit, das der allmächtige Minister den Bürgern seines Staates ließ."71

65 ΖrrzLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 137; BEITELROCK, Lehrbuch (wie Anm. 52), 275; MUTZL, Geschichte Bayerns (wie Anm. 58), 99; PREGER, Abriß (wie Anm. 30), 47; Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 107; ZEISS, Bilder (wie Ann. 38), 150; PREGER, Lehrbuch (wie Anm. 38), 106; ZrrzLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 172;

STEINEL, Geschichte (wie A n m . 38), 19; PREGER, Abriß (wie A n m . 39), 4 8 ; H a n s STICH, Lehrbuch

der Geschichte für die oberen Klassen der Mittelschulen. ΊΊ. 3: Die Neuzeit. 3. Aufl. Bamberg 1905, 159. 66 67 68 69

MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 242; femer die Hinweise von Anm. 65. BÖTTIGER, Geschichte Baiems (wie Anm. 26), 389. Geschichte Bayerns (wie Anm. 50), 182. HEINISCH, Geschichte Bayerns (wie Anm. 30), 166-168.

70

LORENZ, Lehrbuch (wie A n m . 34), 312.

71

KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 161 und 164.

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Die Reformen Kronseders Urteil steht beispielhaft für die Bewertung der bayerischen Reformen in den Schulgeschichtsbüchem des 19. Jahrhunderts. Bereits 1832 hatte der Erlanger Historiker Karl Wilhelm Böttiger die Montgelasschen Reformen in ähnlicher Weise gewürdigt, wobei er jedoch Verständnis für die Radikalität mancher Maßnahmen und insbesondere für die wiederholten Rückschläge äußerte: Trotz der „vielen Kriegsjahre" sei „doch keine derselben ganz ohne bedeutende neue Gestaltungen geblieben; wenn auch manches fast zu eilig geschah, mancher Schritt zurückgethan werden mußte, oder ohne die beabsichtigten Folgen blieb. Das Experimentiren gilt beim Staats- wie beim Heilkünstler, der oft seinem Kranken erst den Zustand und die Mittel durch Versuche ablauschen muß. Aber wenn auch mitunter ein falsches System - besonders das Centralisirungssystem - vorwaltete, immer war eine tüchtige Gesinnung, ein gesunder Regierungsverstand von der einen und eine vieles erleichternde Empfänglichkeit von der andern Seite nicht zu verkennen; und was gerieth, mehrte wiederum den Muth und das Selbstvertrauen."72 In diesem Sinne würdigten fortan die Schulbuchautoren, wobei in der Regel die Darstellung der Innen- stets hinter die der dominanten Außenpolitik zurücktrat, die Reformen als herausragende Leistung der Max-Joseph-Zeit, die grundlegend waren für die weitere Entwicklung Bayerns im 19. Jahrhundert.73 Aber ebenso einhellig wurden die Vorgehensweise bei der Klostersäkularisation und die damit verbundenen Verluste für Kirche, Kultur und Staat sowie die Maßnahmen gegen die religiöse Volkskultur verurteilt: „Die Aussicht auf schnellen Erwerb der ansehnlichen Klostergüter in Verbindung mit Vorurteilen gegen diese kirchlichen Anstalten selbst verdrängte dabei jede andere Rücksicht und jede Erwägung dessen, was die Klöster dem Lande waren, und was

72

BÖTTIGER, Geschichte Baiems (wie Anm. 26), 390. Vor Böttiger schon LLPOWSKY, Grund-Linien (wie Anm. 24), 255; MAURER, Unterhaltungen (wie Anm. 41), 225 ff.; Georg Godhard GIGL, Geschichte der Baiern für die vaterländische Jugend in den Volksschulen. Passau 1823, 126 f.; nach 1832: MLLBLLLER, Geschichte des Königreichs (wie Anm. 26), 169, 182 ff., 191 ff.; Johann Georg WAITZMANN, Kurzgefaßte Geschichte des Königreiches Bayern. Nach der neuesten Eintheilung für Bayerns Schulen und Vaterlands freunde entworfen. Augsburg 1838, 39 f.; MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 246 ff., 257 ff., 270 ff.; BEITELROCK, Lehrbuch (wie Anm. 52), 275; Geschichte von Bayern (wie Anm. 38), 139 ff.; 73

KLEINSTÄUBER, L e h r b u c h ( w i e A n m . 4 2 ) , 9 6 ; FREUDENSPRUNG, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 4 5 ) , 3 2 8 f f . ;

HEINISCH, Geschichte Bayerns (wie Anm. 30), 161 ff.; Johann Michael FLCK, Bayerische Geschichte für Schulen und Familien, zur Erweckung der Liebe zum Könige und zum Vaterlande. Nebst einer Geographie Bayerns. 6., durchges. und verb. Aufl. Augsburg 1860, 41; PREGER, Abriß (wie Anm. 30), 47 ff.; SCHUBERT, Geschichte (wie Anm. 41), 141 ff., 148 ff.; Lehrbuch [...] von einem S c h u l m a n n e ( w i e A n m . 26), 9 6 f . , 137 f . ; ZEISS, Bilder (wie A n m . 3 8 ) , 150; ZLTZLSPERGER,

Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 182 ff. ; Maximilian Vincenz SATTLER, Abriß der bayerischen Geschichte für den ersten Unterricht in den Mittelschulen. München 1889, 52 ff.; PREGER, Abriß (wie Anm. 39), 48 ff. Ein aus liberal-demokratischer Sicht negatives Urteil über die Reformen fällt W o ERLEIN, V a t e r l a n d s - G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 28), 2 0 4 f.

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sie ihm noch seyn oder werden könnten. Die Art und Weise, wie einzelne Kommissäre gegen den Willen des Churfürsten bei der Aufhebung der Klöster verfuhren, minderte den erwarteten finanziellen Gewinn, und verletzte häufig sowohl Personen, als Gemeinden. ... Der nämliche Zeitgeist, welcher rücksichtslos Stifter und Klöster zertrümmerte, waltete auch vom Jahr 1800 bis 1806 in allen religiösen und kirchlichen Verhältnissen."74 Ähnliche Kritik erfuhr die Integrationspolitik, der nach dieser Auffassung die Einsicht in die Notwendigkeit, Rücksicht auf gewachsene Strukturen und Traditionen zu nehmen, fehlte.75 Interessanterweise wird erst im Kaiserreich auf die französischen Vorbilder bei einzelnen Reformmaßnahmen hingewiesen. Während Wilhelm Preger 1882 erstmals auf diese Tatsache eingeht und sie mit dem nationalen Argument zurückweist, diese Reformen, gemeint sind die Zentralisierungsmaßnahmen, hätten „dem Bedürfnis des deutschen Volkslebens auf die Dauer" nicht entsprechen können76, werden seit der Jahrhundertwende die positiven Auswirkungen des französischen Einflusses hervorgehoben.77 Den absoluten Höhepunkt der Reformen stellte jedoch die 1818 erlassene Verfassung dar78, mit der Max Joseph „zuerst unter allen Monarchen der größeren

74 MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 247 f.; ebenso: GIGL, Geschichte (wie Anm. 73), 127; BÖTTIGER, Geschichte Baiems (wie Anm. 26), 392 ff.; Geschichte von Bayern (wie Anm. 38), 141; Geschichte Bayerns (wie Anm. SO), 183 f.; KLEINSTÄUBER, Lehrbuch (wie Anm. 42), 90; MUTZL/KUGLER, Geschichte Bayerns (wie Anm. 26), 331 f.; SCHUBERT, Geschichte (wie Anm. 41), 143; Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 137; SATTLER, Abriß (wie Anm. 38),

2 0 8 f . ; ZEISS, Bilder ( w i e A n m . 38), 150; PREGER, L e h r b u c h ( w i e A n m . 38), 107; ZITZLSPERGER,

Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 168; VOGEL, Lehrbuch (wie Anm. 40), 75; Hans WINTER, Lehrbuch der Deutschen und Bayerischen Geschichte mit Einschluß der wichtigsten Tatsachen der außerdeutschen Geschichte sowie der Kulturgeschichte und Bürgerkunde für Höhere Lehranstalten. Bd. 2: Neuere Zeit vom Westfälischen Frieden bis zur Gegenwart. 8. Aufl. München 1914, 118; KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 163. 75 So ζ. B. MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 249; MUTZL/KUGLER, Geschichte Bayerns (wie Anm. 26), 330. 76 PREGER, Lehrbuch (wie Anm. 38), 106. 77 Zunächst 1898 bei VOGEL, Lehrbuch (wie Anm. 40), 94; ferner bei WEIGAND/TECKLENBURG, Deutsche Geschichte (wie Anm. 38), 88; STICH, Lehrbuch (wie Anm. 65), 159; LORENZ, Lehrbuch ( w i e A n m . 3 4 ) , 3 1 3 ; DEGEL, L e i t f a d e n ( w i e A n m . 49), 87 f. 78 U. a. BÖTTIGER, Geschichte Baiems (wie Anm. 26), 397; J. OFFNER, Fragen aus der vaterländischen (bayerischen) Geschichte und Geographie. Mit beigefügten Antworten. Zum Gebrauche für die Schuljugend in den hohem Klassen der deutschen Werk- und Sonntagsschulen. 3., verb. Aufl. München 1840; 33f. ; Lehrbuch für deutsche Schulen und Schullehrlinge. Nach den beßten Hilfsbüchern bearbeitet von einem Lehrer Niederbayems. Landshut 1842, 160; MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 275 ff. ; BEITELROCK, Lehrbuch (wie Anm. 52), 276; Geschichte Bayerns (wie Anm. 50), 191; HEINISCH, Geschichte Bayerns (wie Anm. 30), 161 f.; Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 107; FLCK, Geschichte (wie Anm. 73), 41; PREGER, Lehrbuch (wie Anm. 38), 108; ZRRZLSPERGER, Bayerische Geschichte (wie Anm. 27), 184 f.; PREGER, Abriß (wie Anm. 39), 49; LORENZ, Lehrbuch (wie Anm. 34), 313; KRONSEDER, Pregers Lehrbuch (wie Anm. 39), 165.

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Länder bekundete, daß er die Lehren der französischen Revolution wohl verstanden habe und mit allem Despotismus der frühem Zeit brechen wolle". 79 Max I. Joseph Im Zeichen dynastischer, auf den Herrscher ausgerichteter Geschichtsschreibung in den Schulgeschichtsbüchern war die „Gewährung" der Verfassung die originäre Leistung Max Josephs80, womit der Monarch „seiner väterlichen Fürsorge ... die Krone" aufsetzte.81 Auch hinter dem Firnis dynastisch-politischer Geschichtsschreibung, die vornehmlich in der ersten Jahrhunderthälfte eine Apotheose des Herrschers anstimmte82, wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung greifbar, die der Persönlichkeit Max Josephs bei der Entstehung des Neuen Bayern beigemessen wurde: Ausgestattet mit herrscherlichen Attributen wie „erleuchtetem Geist", „großer Herzensgüte", „reger Kraft", dem „reinsten Willen für das Beste des Volkes" wurde Max Joseph - vergleichbar dem vom patriarchalisch-aufgeklärtabsolutistischen Herrscher im 18. Jahrhundert gezeichneten Bild - als „zärtlicher Hausvater" verehrt.83 Der Wandlungsprozeß, den Bayern in der napoleonischen Epoche erfuhr, wurde in erster Linie als Verdienst und Ergebnis des politischen Geschicks Max Josephs verstanden. Nicht nur die Integration der neuen Gebietsteile in den bayerischen Staat sowie der damit verbundene staatliche und gesellschaftliche Transformationsprozeß, sondern vor allem „seine Größe, seine Selbstständigkeit, die Abrundung seines Gebietes und seine Machtstellung verdankt" Bayern Max Joseph84: „Er formte Bayern in einen modernen Staat um". 85

79

ZEISS, Bilder (wie Anm. 38), 154; ähnlich: KLEMMERT, Geschichtsbilder (wie Anm. 39), 13. Mehrfach wird direkt oder indirekt darauf hingewiesen, daß der Verfassungsgebungsakt erst nach dem Sturz Montgelas' möglich war; z. B. PREGER, Lehrbuch (wie Anm. 38), 108; LORENZ, Lehrbuch (wie Anm. 34), 312. 81 LORENZ, Lehrbuch (wie Anm. 34), 313. 82 GIGL, Geschichte (wie Anm. 73), 132 f.; BÖTTIGER, Geschichte Baiems (wie Anm. 26), 399 f.; MENGEIN, Kurze Geschichte (wie Anm. 38), 281-284; Geschichte Bayerns (wie Anm. SO), 191 f. 83 MILBILLER, Geschichte des Königreichs (wie Anm. 26), 169; Erzählungen (wie Anm. 38), 158, 170 f.; Geschichte von Bayern (wie Anm. 38), 137,139; Georg Friedrich HEINISCH, Geographie und Geschichte Bayerns. 5., verm. Aufl. Bayreuth 1853, 31; MUTZL/KUOLER, Geschichte Bayerns (wie Anm. 26), 322 f.; HEINISCH, Geschichte Bayerns (wie Anm. 30), 140 f.; FLCK, Bayerische Geschichte (wie Anm. 73), 40; MUTZL, Geschichte Bayerns (wie Anm. 58), 98; SCHUBERT, Geschichte (wie Anm. 41), 140 f., 151; ZEISS, Bilder (wie Anm. 38), 149, 155; 80

KLEMMERT/WEICKERT, B i l d e r ( w i e A n m . 5 6 ) , 6 4 ; STEINEL, G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 3 8 ) , 2 2 ; PFEILSCHIFTER, M e m o r i e r s t o f f ( w i e A n m . 3 2 ) , 2 1 9 ; LORENZ, L e h r b u c h ( w i e A n m . 3 4 ) , 3 1 4 ;

DEGEL, Leitfaden (wie Anm. 49), 85. WOERLEIN, Baierische Vaterlands-Geschichte (wie Anm. 28), 198, vergleicht Max Josephs Wirken mit dem Friedrichs II. und Josephs II. 84

Lehrbuch [...] von einem Schulmanne (wie Anm. 26), 96, sowie die Hinweise in Anm. 83. Geschichte (wie Anm. 3 8 ) , 2 2 ; ähnlich BEITELROCK, Lehrbuch (wie Anm. 5 2 ) , 2 7 0 ; Kaspar SCHARRER, Kurze Vaterlands-Geschichte zum Gebrauche in den deutschen Schulen. 16. Aufl. 85

STEINEL,

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369

Conclusion

Die Koordinaten des modernen bayerischen Staates des 19. Jahrhunderts werden nicht von den mit dem „revolutionären Minister"84 Montgelas verbundenen Reformen gegeben, vielmehr stehen in der auf den Herrscher bezogenen bayerischen Schulbuchgeschichtsschreibung drei Ereignisse im Vordergrund, die in J. Offners Frage-Antwort-Schema deutlich zutagetreten: „180. Fr. Was ereignete sich i. J. 1806? Antw. Maximilian Joseph nahm den Königstitel an ... 182. Fr. Wie hat sich unter der Regierung Maximilian Joseph I. Bayern gestaltet? Antw. Es hat an Länderbezirken bedeutend zugenommen ... 183. Fr. Was ist besonders Wichtiges von diesem so väterlich gesinnten Regenten auszuführen? Antw. Er gab i. J. 1818 seinem geliebten Volke eine Verfassung ...". 87 Königskrone, Arrondierung und Verfassung sind die bestimmenden Merkmale der Epoche, die es zu überliefern und im historischen Gedächtnis des Staatsvolkes zu bewahren galt. Der auf diesen Errungenschaften und der Geschichte der MaxJoseph-Zeit mitgründende bayerische Patriotismus tritt erst mit der Gründung des Kaiserreichs in Konkurrenz zu nationalstaatlichen Geschichtsdeutungen. Dies aber wohl weniger aus der Überzeugung der Autoren, sondern vornehmlich aus dem patriotischen Bedürfnis heraus, Bayerns Bündnis mit Frankreich vor der kleindeutschen Geschichtsschreibung zu rechtfertigen. Die Deutlichkeit, mit der dies geschieht, zeugt nicht nur von patriotischem Stolz und Selbstbewußtsein, sie ist auch ein Indiz für das bayerische Selbstverständnis im Preußen-Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg.

München 1858, 19. 86 KRONSEDER, Pregeis Lehrbuch (wie Arnn. 39), 14. 87 OFFNER, Fragen (wie Anm. 78), 33.

Sabine Arndt-Baerend Die Restauration der Frauenklöster unter König Ludwig I. „Wie können einige ehemals sogenannte ständische Klöster in Bajern wieder aufgerichtet werden ohne den Finanzen des Staates zu nahe zu tretten?" Mit dieser bereits 1812 aufgeworfenen Frage macht ein anonymer Autor1 die Restauration der säkularisierten Klöster zum Gegenstand einer kontrovers geführten Diskussion. Er unterbreitet den Vorschlag, mit der Neuerrichtung der Klöster im Kleinen zu beginnen, „wie dieß bey ihrem Entstehen unter den Agilolfingern und Wittelsbachern der Fall war." Der Autor begründet dies damit, daß erstens „rechtschaffene und taugliche Priester für die Seelsorge und den damit wesentlich verbundenen Schulunterricht auf dem Lande zu erzielen", sowie zweitens geschickte Lehrer für niedere und höhere Schulen heranzubilden seien.2 Der Verfasser schließt seine Anfrage mit dem Vorschlag, mit der Wiedererrichtung erst einmal nur eines Klosters - vielleicht von Tegernsee - zu beginnen, sodann „wird man erstaunen, welch einen Eindruck solch eine Erklärung auf das gute Bajer-Volk machen und welche wohlthätigen Folgen sie nach sich ziehen wird." In weiten Teilen der Bevölkerung waren die Aufhebungen von Klöstern und die Verbote altvertrauter religiöser Bräuche mit Betroffenheit aufgenommen worden. Immer wieder hatten Abordnungen aus allen Teilen des Landes Bittschriften um Beibehaltung ihrer Klöster und Heiligtümer eingereicht.3 Auch in der Literatur hatte diese Stimmung ihren Niederschlag gefunden, so etwa in den 1802 erschienenen Schriften „Freymüthige Bemerkungen über die Klosteraufhebung in Baiern" und 1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [BayHStA], Geheimes Hausarchiv [GHM], Nachlaß Ludwig I., 185. Eine Bleistiftanmerkung auf diesem Schriftstück vermutet Dompropst Streber als Verfasser. 2 Zum Problem des Priestermangels und den Folgen der Säkularisation für die Seelsorge vgl. u. a. Konrad BAUMGARTNER, Die Seelsorge im Bistum Passau zwischen barocker Tradition, Aufklärung und Restauration. (Münchener Theologische Studien, Historische Abt., Bd. 19.) St. Ottilien 1975. 3 Vgl. für München: Sabine ARNDT-BAEREND, Die Klostersäkularisation in München 1802/03. (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 95.) München 1986, 82-93.

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„Die Klöster waren nie so nothwendig als heut zu Tage."4 Noch am 13. Mai 1808 schrieb der Historiker Lorenz Westenrieder - ebenfalls ein Gegner der Säkularisation - in seinem Tagebuch: „Heute sind die Barmherzigen Brüder von hier abgereiset, und an ihre Stelle weltliche Diener gekommen. O ihr Eseln und Stocknarren! " 5 Mit der Säkularisation von 1802/1803 waren in Bayern sämtliche nichtständischen und ständischen Klöster aufgehoben worden. Die männlichen nichtständischen Konventualen wurden mit Pensionen in sogenannte Zentralklöster versetzt. Sie konnten nach Dispensbewilligung vereinzelt auch das Kloster verlassen. Die Angehörigen ständischer Orden mußten aus dem Klosterverband austreten. Bei den weiblichen nichtständischen Ordensniederlassungen wurden hingegen keine Austrittsbewilligungen erteilt; die Konvente wurden ohne Differenzierung zwischen Laienschwestern und Nonnen gemeinsam versetzt.6 In § 42 des Reichsdeputationshauptschlusses war zur Auflage gemacht worden, daß „Frauenklöster nur im Einvernehmen mit den bischöflichen Ordinariaten aufgehoben werden sollten".7 Dahinter verbarg sich die Tatsache, daß unverheiratete Frauen nicht ohne weiteres in das bürgerliche Leben entlassen werden konnten. Deshalb gestattete man in Bayern den ständischen Ordensfrauen weiterhin, in den säkularisierten Konventen zu wohnen. Die Behörden stellten es den Nonnen aber auch frei, ihr Kloster zu verlassen.8 Von dieser Möglichkeit wurde in ganz unterschiedlichem Maße Gebrauch gemacht. Aufschluß hierüber - und über die allgemeine Lage der Frauenklöster in der Zeit nach der Säkularisation - geben die Landrichterprotokolle aus dem Jahre 1807.' Nach diesen Aufstellungen gab es in elf Landgerichten 14 Nonnenkonvente, deren Mitglieder bis auf einige wenige Ausnahmen nicht den Wunsch hatten, ihre Klöster bzw. ihren Konvent zu verlassen. Dennoch ist es erstaunlich, daß unter den erschwerten Bedingungen10 von Geldmangel" und

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Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung, Bavar. 2685. Sigrid V. MOISY, Von der Aufklärung zur Romantik. Ausstellungskatalog der Bayerischen Staatsbibliothek. Regensburg 1984, 99. 6 Winfried MÜLLER, Die Säkularisation von 1803, in: Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte. Bd. 3. Hrsg. v. Walter Brandmüller. St. Ottilien 1991, 1-129 (mit ausführlichen Literaturhinweisen). 7 Rudolfine Freiin v. OER (Hrsg.), Die Säkularisation 1803. Vorbereitung - Diskussion - Durchführung. (Historische Texte. Neuzeit, Bd. 9.) Göttingen 1970, 70. 5

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MÜLLER, Säkularisation von 1803 (wie ANM. 6), 42 f.

Georg SCHWAIGER, Zur Geschichte der bayerischen Frauenklöster nach der Säkularisation, in: Münchener Theologische Zeitschrift 14,1963,60-75. Aufgrund des Befehls vom 22. September 1807 erhielten die Landrichter den Auftrag, Berichte an das General-Landeskommissariat zu senden, um darin die Lage der noch bestehenden Nonnenklöster zu erläutern. Vgl. hierzu Staatsarchiv München [StAM], Regierungsakten [RA] 16293, (bei Schwaiger alte Signatur: RA 1171); darin enthalten: Personalstandstabellen mit Alter, Krankheit, Pensionszahlungen und Veiändemngswünschen. 10 Natürlich gab es auch hier Ausnahmen, so z. B. die Expriorin Claudia Weigl v. Altenhohenau. Sie erklärte dem Landrichter: „Ich wünsche sehnlichst auszutreten, weil das Klosterleben nicht mehr

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Raumnot nicht mehr Konventualinnen an einen Austritt dachten. Die Nonnen waren im allgemeinen mit ihrem Leben zufrieden und stellten keine großen Ansprüche; sie lebten ihr Klosterleben, ζ. T. auch mit Klausur, wie vor der Aufhebung. Mit dem Sturz Montgelas' 1817 und dem im selben Jahr abgeschlossenen Konkordat12 zwischen König Max I. Joseph und dem Heiligen Stuhl waren die ersten Grundlagen für eine spätere Restauration der Klöster unter Ludwig I. geschaffen. In Artikel VII des Konkordates heißt es, daß „in Anbetracht der Vortheile, welche die religiösen Orden der Kirche und dem Staate gebracht haben, und in der Folge auch bringen könnten [...] einige Klöster der geistlichen Orden beyderley Geschlechts entweder zum Unterrichte der Jugend in der Religion und den Wissenschaften, oder zur Aushülfe in der Seelsorge, oder zur Krankenpflege im Benehmen mit dem heiligen Stuhle mit angemessener Dotation" hergestellt werden sollen. 1823 wurde die Klosterfrage von amtlicher Seite zwar erneut durch ein Reskript des Innenministeriums, das eine Aufstellung über den Klosterbestand, Mitgliederzahl und Vermögen durch die Kreisregierungen verlangte, aufgeworfen, dennoch kam es erst mit dem Regierungsantritt König Ludwigs I. 1825 zu einer Veränderung in der Klosterpolitik13. Bereits im Dezember 1825 errichtete Ludwig I. mit dem „Obersten Kirchen- und Schulrat" eine Abteilung im Innenministerium, die mit der Restauration der Klöster betraut wurde.14 Er hatte zwar mit Eduard v. Schenk einen Mann seines Vertrauens in den Vorstand dieser Sektion bestellt, Finanzminister Armansperg allerdings - ein Verfechter der bisherigen liberalen Regiemngsprinzipien - war ein Gegner dieser Vorhaben. Er weigerte sich, öffentliche Mittel für die Gründung

wie sonst besteht und dem Zeitgeist nicht angemessen ist. Wir leben weder im Kloster noch auch eigentlich in der Welt. Um dieses sonderbare Mittelding zu vermeiden, will ich in keinem klösterlichen Verbände mehr leben." Vgl. Protokoll des Landrichters!, v. Gröller, Altenhohenau, S. Oktober 1807, S t A M R A 16293. 11 In den archivalischen Akten sind zahlreiche Bittgesuche um Erhöhung der Pensionen und finanzielle Zuschüsse zu finden; vgl. BayHStA Ministerium für Kultus [MK] 22086 (Ursulinenkloster Ingolstadt 1809, „Das Elend der Ursulinerinnen betr."). Die Oberin des Klosters bittet den König um 600 fl. jährliche „Gratification aus dem Local-Schulfond", die ihr auch am 10. Oktober 1809 bewilligt wird. Aus dem Kloster Indersdorf stellt die Oberin an den König die Bitte, die Pensionen der zwei jüngst verstorbenen Nonnen weiterzuzahlen, um die Kosten der weiblichen Erziehungsanstalt zu finanzieren. Dieser Antrag wird abgewiesen. Vgl. ebd., Indersdorf, 30. Dezember 1819. 12 Druck des Konkordats z. B. : Karl HAUSBERGER, Staat und Kirche nach der Säkularisation. Zur bayerischen Konkordatspolitik im frühen 19. Jahrhundert. (Münchener Theologische Studien, Historische Abt., Bd. 23.) St. Ottilien 1983, 309-329. Vgl. hierzu auch MÜLLER, Säkularisation von 1803 (wie Anm. 6), 109 sowie Josef LISTL, Die konkordatäre Entwicklung von 1817 bis 1988, in: Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte (wie Anm. 6), Bd. 3, 427-441. 13 StAM RA 53184 I, vom 27. Dezember 1823; Placidus SATTLER, Die Wiederherstellung des Bene-diktiner-Ordens durch König Ludwig I. von Bayern. Teil 1: Die Restaurationsarbeit in der Zeit Eduards von Schenk. (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Ergänzungsheft 7.) München 1931, 6. 14 Ebd., 7. Leider sind die Originalschriftstücke, v. a. die Protokolle des Kirchen- und Schulrats, verbrannt.

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von Ordensniederlassungen zur Verfügung zu stellen." So wurde die Klosterrestauration nicht aus der Staatskasse, sondern aus der Kabinettskasse Ludwigs I., aus Fondsdotationen sowie Spenden finanziert.16 Um einen Überblick über die tatsächliche Anzahl von Klöstern, die sich noch in staatlicher Hand befanden, zu erhalten, forderte Ludwig I. die Kreisregierungen noch einmal auf, eine „Übersicht des Personal- und Vermögensstandes sämtlicher Klöster"'7 zu erstellen. Daraus geht hervor, daß in den bayerischen Klöstern 409 männliche und 478 weibliche Klosterangehörige lebten; die Klostervermögen insgesamt beliefen sich auf 1 105 271 Gulden (fl.) und 57 Kreuzer (kr.). Grundlage für die Klosterrestauration war eine Liste von 67 Klöstern, die der Oberste Kirchen- und Schulrat im Frühjahr 1826 erstellte. König Ludwig zog hiervon etwa die Hälfte in die engere Wahl." Aus der „Übersicht deijenigen Klöster, deren Wiederherstellung oder Fortbestand bereits ausgesprochen worden ist" (20. September 1827)", ist zu erkennen, daß die Verwirklichung der Pläne noch länger dauerte. In dieser Übersicht werden an Frauenklöstem die Servitinnen in München, Salesianerinnen in Indersdorf, Ursulinen in Landshut, Straubing und Würzburg, Franziskanerinnen in Dillingen, Dominikanerinnen in Fremdingen und die Barmherzigen Schwestern in München genannt. Daß es dem König mit seinem Restaurationsvorhaben nicht schnell genug voran ging, wird immer wieder deutlich. Im Zusammenhang mit der Wiederherstellung des Ordens der Barmherzigen Schwestern in München konstatierte er: „Bey dieser Gelegenheit kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß, was ich in Betreff Geistlicher Anstalten verordne mit einer auffallenden Langsamkeit vollzogen wird"20. Die Wiedererrichtung der einzelnen Frauenklöster wurde - wie im Konkordat festgelegt - mit zwei Auflagen verbunden: das restaurierte Kloster mußte entweder eine Mädchenschule errichten oder aber seine Dienste in die Krankenpflege stellen. Diese Bedingungen veränderten manchmal den eigentlichen Stiftungszweck des

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Ebd., 8 f., 13. Heinz GOLLWITZER, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie. München 1986, 523, sowie BayHStA Ministerium des Auswärtigen [MA] 99502 (Ministerratsprotokolle 1831), Nr. 81-83. 17 BayHStA GHA Nachlaß Ludwig I., XV 542 (3. Dezember 1825) sowie SATTLER, Wiederherstellung (wie Anm. 13), 6-9. 18 U. a. die Benediktiner- und Zisterzienserklöster Ensdorf, Ettal, Michelfeld, Scheyern, Weltenburg, Fürstenfeld und Ebrach. 19 BayHStA GHA Nachlaß Ludwig I., 47-4-19/5. 20 Andreas KRAUS (Hrsg.), Sígnate König Ludwigs I. Ausgew. und eingel. v. Max Spindler. Bd. 1. (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 1.) München 1987, 176, Nr. 085 (1. 3. 1828). 16

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Klosters, wie das Beispiel des Servitinnenklosters in München zeigt. Als rein beschaulicher Orden begründet, gaben sich die Servitinnen ganz der Anbetung des Allerheiligsten für den Segen des Herrscherhauses hin. Bereits 1826 wurde ihr Kloster mit der Auflage wiederbelebt, auch eine Mädchenschule zu eröffnen.21 Im folgenden soll anhand von Einzelbeispielen die Restauration einiger Nonnenklöster aufgezeigt werden. Die Oberin des Franziskanerinnenklosters Gnadenthal bei Ingolstadt richtete am 1. August 1827 an König Ludwig I. die Bitte um Fortbestand ihres Klosters und um Aufnahme neuer „Individuen". Das neugegründete Kloster wollte - den Auflagen des Konkordats entsprechend - eine Mädchenschule errichten.22 König Ludwig sicherte daraufhin in einem Signât vom 6. August 1827 die Erhaltung des Klosters zu.23 Wie bei allen wieder zu errichtenden Klöstern ging es nun um die Bereitstellung der nötigen Mittel. So heißt es in einem Schreiben des Innenministeriums an die Regierung des Regenkreises, daß ein „Beitrag aus dem Staatsaerar nicht bewilligt werden kann." Vielmehr sollten andere Vorschläge unterbreitet werden, nach denen sich der Stadtmagistrat von Ingolstadt an der Finanzierung des wiederzugründenden Klosters beteiligen könnte.24 Die Stadt Ingolstadt ihrerseits aber hielt sich zurück. Erst als sich König Ludwig I. selbst nachdrücklich in einem Signât für das Kloster verwendete25, und das Innenministerium am 3. Januar 1829 ein erneutes Schreiben an die Regierung des Regenkreises mit Bitte um finanzielle Unterstützung sandte26, war der Fortbestand des Klosters vorerst gesichert. Finanzielle Probleme traten aber erneut 1835 auf. In einem Schreiben vom 19. Oktober 183527 machte die Oberin auf die schlechte finanzielle Situation ihres Klosters aufmerksam. Die von der Regierung und dem Schulfonds zur Verfügung gestellte Summe reichte zur Bestreitung der laufenden Kosten nicht aus. Sie machte deshalb den Vorschlag, den Fonds des aufgehobenen Ursulinenklosters von Ingolstadt mit ihren Kapitalien zu vereinigen. Am 3. Februar 1836 genehmigte die Kreisregierung diesen Vorschlag; ein Teil des Ursulinenfonds wurde dem Gnadenthaler Kloster überlassen.

21 BayHStA GHA Nachlaß Ludwig I., 47-4-19/10 sowie StAM RA 11229; vgl. auch die Ausführungen zum Kloster Altomünster weiter unten. 22 StAM RA 53208. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 KRAUS, Sígnate (wie Anm. 20), 208, Nr. 215 (27. 7. 1828) („Ich sollte meynen [...], daß weit geeigneter sey, daß ihren Töchtern Unterricht von Klosterfrauen als von Männern erteilt werde."). 26 StAM RA 53208. 27 Ebd.

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In diesem Kloster lebten nach Angabe der Personalstandstabelle vom 10. Juli 18292' 24 Nonnen im Alter von 52 bis 81 Jahren sowie eine Kostgeherin. Die jährliche Pension für alle belief sich auf 4293 fl. 20 kr., zusätzlich erhielt die Kostgeherin 365 fl. Für den „Elementar- und Industrie Unterricht" in der neuen Mädchenschule sollten sechs Nonnen für das Lehramt, sechs für den Klosterdienst und bis zu sechs Laienschwestern aufgenommen werden.29 Als religiöses Institut war das Kloster der Aufsicht des betreffenden Stadtpfarrers und des bischöflichen Ordinariats Eichstätt, als Unterrichtsanstalt hingegen der Aufsicht der „Lokalschulinspektion " und der Kreisregierung unterstellt. Die Schulinspektion hatte der Pfarrer ohne besondere Bezahlung zu versehen. Die innere Leitung des Klosters stand der Oberin zu, welche den Ordensstatuten gemäß gewählt wurde, jedoch zur Ausübung ihres Amtes der Bestätigung sowohl der Kreisregierung als auch des bischöflichen Ordinariats bedurfte.30 Für die Aufnahme von Novizinnen war die Genehmigung der Oberin, der Regierung des jeweiligen Kreises (im Fall von Gnadenthal des Regenkreises) und des zuständigen Ordinariats (hier Eichstätt) notwendig.31 Das Verfahren zur Ablegung der Gelübde wurde in einer Entschließung König Ludwigs vom 9. Juli 183132 neu geregelt. Darin wurde festgelegt, daß „mit Ausnahme der englischen Fräulein, welche nie feyerliche lebenslängliche Gelübde ablegen, alle anderen Klosterfrauen nach vollendetem 33ten Lebensjahr zu solchen Gelübden zu gelassen werden." Die Einkleidung sollte vor dem vollendeten zwanzigsten und die Ablegung der ersten zeitlichen Gelübde vor dem vollendeten einundzwanzigsten Lebensjahre stattfinden. Vor der „jedesmaligen" Ablegung zeitlicher oder lebenslänglicher Gelübde sollte der betreffenden Kreisregierung die „Anzeige davon gemacht werden." Der Ablegung der Nonnengelübde mußte der Generalvikar des Ordinariats zusätzlich zustimmen. Ein Beispiel sowohl für die problematische finanzielle Situation des Gesamtprojekts der Klosterrestauration als auch für die Durchsetzungskraft König Ludwigs I. ist das Franziskanerinnenkloster Reutberg. Finanzielle Probleme gab es in Reutberg seit der Zeit, als die Schwestern um Wiederherstellung angesucht hatten.33 Sowohl das Ordinariat34 als auch die Regierung des Isarkreises33 waren von Anfang

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Ebd. BayHStA GHA Nachlaß Ludwig I., 47-4-19/10. 30 StAM RA 53184, 2. November 1829. Die Wahl der Oberin wurde am 21. September 1838 durchgeführt ; vgl. hierzu StAM RA 53209. 31 StAM RA 53208, 2. November 1829; zur Aufnahme von Novizinnen: RA 11223. 32 KRAUS, Sígnate (wie Anm. 20), 555, Nr. 286 (25. 6. 1831). 33 StAM RA 34178, 17. März 1835. 34 StAM RA 34718, Bericht vom 20. Dezember 1830. 29

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an gegen eine Wiederbelebung dieses Klosters. Auch das Innenministerium bestätigte in einem Bericht vom 4. Juni 1835 an Ludwig, „daß selbes ohne förmliche ständige Dotation nie restauriert werden kann".36 Trotz aller kritischer Stimmen genehmigte der König im August 1835 die Restauration des Klosters.37 Zwei Jahre später wurde auch hier eine Mädchenschule errichtet. Auch die Zisterzienserinnen des Klosters Seligenthal in Landshut38 hatten nach der Säkularisation nicht den Wunsch, ihr Kloster zu verlassen. 1807 befanden sich noch 34 Nonnen im Kloster und widmeten sich dem Unterricht der weiblichen Jugend. Durch den Tod einiger Nonnen und dem daraus folgenden Verlust der Pensionen wurden die finanziellen Sorgen immer drückender, so daß 1820 die Schule geschlossen werden mußte. Am monastischen Leben aber wurde während der ganzen Zeit der Aufhebung festgehalten. Der spätere Beichtvater Bachmayer überliefert uns eine Tagesordnung, die bis zur Restauration galt: „An höheren Festtagen wurde um 2 Uhr das Zeichen zur Mette gegeben und aufgestanden; an gewöhnlichen Sonn- und Festtagen um 3 Uhr und an Werktagen um 3 1/2 Uhr. Zuerst wurde der Cursus marianus gebethet, darnach kurze Gemüthsversammlung. Hierauf wurde die Mette und Laudes gesungen, und erst dann das Gebet geläutet. Um 6 Uhr war Meditation bis 6 1/2, darnach wurde die Prim gesungen und Capitel gehalten. Nach diesem war das Sub tuum und die Collecte pietate tua quaesumus, dann die heilige Messe. Um 8 1/2 Uhr und um 9 1/4 Uhr [...] läutet man zur Terz, Sext und Non; nach der Terz war sonst Convent Amt. Um 2 3/4 Uhr Zeichen zur Vesper. Um 6 3/4 Uhr Zeichen zum Completarium; zuerst geistliche Lesung auf dem Kreuzgange, dann Complet, Salve und Examen conscientiae und Nachtgebet. "39 1829 lebten nur noch acht, 1830 nur mehr fünf Nonnen im Kloster. Am 10. Juli 1833 richteten diese letzten fünf Schwestern an König Ludwig die Bitte, ihr Kloster wiederzuerrichten und neue Kandidatinnen aufnehmen zu lassen. Gleichzeitig wurde der Wunsch nach Rückgabe der Kirche, der Klostergebäude und des Gartens als Eigentum geäußert. Mit der Restauration sollte auch die Schule des Klosters wieder 33 BayHStA GHA NachlaB Ludwig I., XVI 185, 28. Mai 1835: „Es scheint uns nun allerdings die Wiederherstellung des Klosters Reutberg zum Zwecke des Schulunterrichtes blos für die nächste Umgebung, wenn auch wohlthätig, doch nicht nöthig; die Herstellung einer Erziehungs-Anstalt ähnlich jener zu Dietramszell jedoch für niedere Stände aber eine Aufgabe, deren Gelingen sehr problematisch wäre und von Seite der Nonnen Vorbildung erfordern würde, welche zu erlangen dieselben kaum Gelegenheit hatten, vor allem aber ist uns gänzlich unbekannt, woher die Mittel zur Realisierung des Vorhabens geschöpft werden sollten." 36 Ebd. 37 StAM RA 34718. 38 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Stephana FENZL, Von der Säkularisation des Klosters bis zu seiner Wiedererrichtung, in: Seligenthal. Zisterzienserinnenabtei 1232-1982. Beiträge zur Geschichte des Klosters. Landshut 1982, 172-195. 39 Ebd., 176.

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aufleben.40 So heißt es: „Bereits haben sich mehrere Kandidatinnen gemeldet, die, falls unser Kloster die Erlaubniß zur Aufnahme erhielte, uns ein baares Kapital von zwölftausend Gulden zubrächten. Andere würden bey der wiederzunehmenden Vorliebe für das klösterliche Leben ihrem Bey spiele folgen. Der Ertrag von diesem Eingebrachten würde uns sammt dem Betrag der uns allergnädigst bewilligten Pensionen bey der uns vorgeschriebenen heiligen Armuth so nähren, daß wir bestehen könnten, wenn überdieß Kirche, Wohngebäude und Garten uns als Eigentum zurückerstattet würde. " Doch wieder stellte sich die Finanzierung als schwierig heraus.41 Im Jahre 1835 waren dann endlich alle Probleme beseitigt, so daß einer Restauration nichts mehr im Wege stand. Die notwendigen Mittel waren gesichert, für den Lehrberuf standen geeignete Kandidatinnen bereit, ein Beichtvater war gefunden und auch die notwendigen Räumlichkeiten waren zur Verfügung gestellt worden. Am 22. Januar 1836 gewährte König Ludwig endgültig den Fortbestand des Seligenthaler Klosters zur Übernahme des Unterrichts der weiblichen Jugend sowie die Neuaufnahme von Kandidatinnen.42 Dafür, daß die Restauration der Frauenklöster nicht schematisch ablief, ist das Kloster der Birgittinnen in Altomünster ein treffendes Beispiel. Bereits am 6. Januar 182643 wandte sich die Oberin mit der Bitte um Neugründung ihres Klosters an König Ludwig. Dieses Gesuch ist zugleich eine Beschreibung des beschaulichen, in Gebet, Betrachtung und strenger Askese sich vollendenden Lebens der 21 Klosterfrauen, trotz der eigentlich längst vollzogenen Auflösung ihres Klosters. Als Dotation sollte die Pension von jährlich 6954 fl. ausreichen; der Staat sollte weiterhin für den Unterhalt der Klostergebäude aufkommen. Das Innenministerium forderte daraufhin einen Bericht vom Landgericht Aichach, ob man das Vorhaben unterstützen könne.44 Das Landgericht ging in seiner Beurteilung45 des Gesuchs pflichtgemäß von Artikel VII des Bayerischen Konkordats aus und mußte folgerichtig feststellen, daß dem Wunsch der alten Frauen nach Wiederherstellung des rein kontemplativen Klosterlebens, ohne einen Beitrag zum Nutzen der Allgemeinheit leisten zu wollen, nicht nachgekommen werden könne. Das Landgericht empfahl indes nicht, das Gesuch der Birgittinnen rundweg abzulehnen, sondern schlug vor,

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BayHStA GHA 47-4-19/10. S. ausführlicher FENZL, Säkularisation des Klosters (wie Anm. 38), 182-184. STAM R A 5 0 9 8 3 .

StAM RA 34704 sowie Manfred WEITLAUFF, Die Wiedereröffnung des Klosters der Birgittinnen zu Altomünster nach der Säkularisation von 1803, in: Festschrift Altomünster 1973. Hrsg. v. Toni Grad. (Schriftenreihe des Heimatmuseums Aichach) Aichach 1973, 341-377. 44 StAM RA 34704, 21. Januar 1826. 45 Ebd., 1. Juni 1826.

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die Wiederbelebung des Klosters von der Bereitschaft der Nonnen zur Übernahme schulischer Aufgaben abhängig zu machen, um auf diese Weise, etwa durch Gründung eines Mädcheninstituts, die Schulverhältnisse in Altomünster und Umgebung zu heben.44 Dieser Vorschlag blieb vorerst erfolglos. Unter Hinweis auf die schon bestehenden Erziehungsinstitute für Mädchen in Indersdorf, Nymphenburg und München und in Anbetracht der verhältnismäßig geringen Zahl von Werk- und Sonntagsschülerinnen in Altomünster erachtete die Regierung des Oberdonaukreises47 den schulischen Einsatz der Birgittinnen als überflüssig; sie bezweifelte im übrigen deren Eignung für jugenderzieherische Aufgaben und empfahl dem Innenministerium, von einer Restauration dieses Klosters „blos zum Zwecke des Gebeths, des Chorsingens und des kontemplativen Lebens" abzusehen. Diesem Gutachten Schloß sich der König an. Ein königliches Reskript an die Regierung des Oberdonaukreises vom 25. April 182748 entschied, das Kloster der Birgittinnen zu Altomünster sei zur Wiederherstellung „theils wegen Mangels der erforderlichen Dotation, theils wegen Nähe anderer bereitstehender aehnlicher Institute nicht geeignet"; jedoch wurde den Nonnen zugesichert, sie könnten „noch fortwährend bis zu ihrem allmähligen Aussterben im klösterlichen Verbände unter der Aufsicht und Leitung einer Oberin in den von ihnen bisher bewohnten Gebäuden fortleben, sowie ihnen auch ihre Pensionen zugesichert bleiben." Die vielen Versuche der Nonnen, doch noch die Restauration ihres Klosters zu erreichen, hatten erst 1840 Erfolg.49 Nun kam ihnen zugute, daß König Ludwig zunehmend Neigung zeigte, auch kontemplative Orden wieder zuzulassen. Deutlich wird dies in einer Weisung des Königs an die Regierung von Oberbayern und an das Erzbischöfliche Ordinariat. Danach sollten auch „Zufluchtstätten, um aus dem Gedränge der Welt sich zu flüchten, geöffnet werden, und nicht alle Klosterfrauen lehren müssen, Altomünster aber eine solche Zuflucht darzubiethen scheine."50 Nun konnte auch das Ordinariat keine Einwände gegen eine Restauration mehr finden. Am 18. Februar 184151 wurde das Kloster zu Altomünster endgültig durch königliches Reskript restauriert. Zum Schluß soll noch einmal auf die Veränderungen im Klosterleben durch das Restaurationsprojekt König Ludwigs hingewiesen werden. Hierzu ist die Aufstellung des Innenministers Abel vom 23. Januar 1846 „Die vormaligen Klöster in Bayern

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Auch das Ordinariat unterstützte am 18. Juli 1826 das Vorhaben (StAM RA 34704). Ebd., 24. November 1826. Ebd. Ausführlich hierzu WEITLAUFF, Wiedereröffnung (wie Anm. 43), 348-355. StAM RA 53198, 26. Juni 1840. Ebd.

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betr. " von grundlegender Bedeutung. Verglichen werden hier diejenigen Klöster, die in Bayern zur Zeit der Säkularisation bestanden hatten, mit den „gegenwärtig im Königreich bestehenden Ordensgenossenschaften." Das Verzeichnis stützt sich auf die von den Erzbischöfen und Bischöfen gemachten genauen Vorlagen und „darf als vollständig und verläßig" angesehen werden.52 Zur Zeit der Säkularisation bestanden in Bayern 315 Männerklöster und 83 Frauenklöster, insgesamt 398 Ordenshäuser. In der Zeit vor der Säkularisation war die überwiegende Mehrzahl der weiblichen Orden dem beschaulichen Leben gewidmet. Zwei Häuser der Elisabethinerinnen waren für die Krankenpflege, 13 Häuser der Salesianerinnen, Ursulinen, der Frauen de Notre Dame sowie sieben Institute der englischen Fräulein für den Unterricht der weiblichen Jugend zuständig, 61 Genossenschaften widmeten sich dem beschaulichen Leben. Im Vergleich dazu verschrieben sich die nun restaurierten weiblichen Ordensgemeinschaften größtenteils dem Unterricht der weiblichen Jugend sowohl in Gemeindeschulen als auch in eigenen Erziehungsinstituten.53 In der Krankenpflege tätig wurden die Elisabethinerinnen zu Atzelburg, Franziskanerinnen in Mindelheim und die Congregation der Barmherzigen Schwestern. „Der sittlichen Besserung gefallener weiblicher Personen" und der Jugenderziehung widmete sich das Kloster der Frauen vom guten Hirten in München. Die Birgittinnen in Altomünster pflegten das beschauliche Leben. Im Jahre 1846 gab es in Bayern 26 Frauen- und 35 Männerklöster. Bis in das Jahr 1875 erhöhte sich die Anzahl der neuerrichteten Frauenklöster auf 40. In den beiden bayerischen Kirchenprovinzen München-Freising und Bamberg unterhielten sie etwa 420 Häuser bzw. Stationen mit über 3700 Schwestern.54

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BayHStA GHA Nachlaß Ludwig I., ARO 21 IV. Es bestanden zu diesem Zweck zwei Klöster des Benediktinerinnenordens, zwei der Zisterzienserinnen, sechs der Franziskanerinnen, fünf der Dominikanerinnen, zwei der Salesianerinnen, drei der Ursulinen und eines der Clanssinnen. Hinzu kommen die Ordenshäuser der Armen Schulschwestern und die Kongregation der Englischen Fräulein. 54 Peter RUMMEL, Die nichtmooastischen Ordensgemeinschaften, in: Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte (wie Anm. 6), Bd. 3, 755-808, hier 799. 53

Wilhelm Volkert Bauherr - Architekt - Geldgeber Anmerkungen zur Finanzierung des Archiv- und Bibliotheksgebäudes in München 1831-1840

Die bei der Stadterweiterung in München seit dem frühen 19. Jahrhundert angelegten großen Prachtstraßen sind in Anlage und Durchführung abhängig vom Organisationsinteresse und der Gestaltungskraft der bayerischen Könige'; in Ansätzen zeigen dies schon die Planungen zur Zeit Max I. Joseph (ab 1804); die Ludwigstraße ist mit Ludwig I., dem bedeutendsten der Bayern-Könige im 19. Jahrhundert, verbunden; die Straße Maximilians 11. (seit 1852) erschließt das Gebiet zwischen dem Nationaltheater neben der Residenz bis hin zur Isar und schafft mit der neuen Brücke zum Maximilianeum die direkte Verbindung zu den Vororten am rechten Isarufer und zu den Ausfallstraßen nach Osten; die nach dem Regenten des Königreichs, dem Prinzen Luitpold, genannte und seit 1891 angelegte Straße läuft am Südrand des Englischen Gartens und gewinnt (ebenfalls mit einer neuen Brücke über die Isar) das östliche Hochufer. Diese Straßenzüge greifen über die Altstadt hinaus; sie sind in der Anlage großzügig und in der Durchführung monumental. Die anderen großen Ausfallstraßen, die die mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt mit den zuwachsenden Vororten verbinden, sind ebenfalls großzügig, breit und geradlinig; der Bebauung, teils in geschlossenen Straßenwänden, teils in aufgelockerter Einzelanordnung der Gebäude, fehlt aber die monumentale Gestaltung; sie entspricht der bürgerlichen Wohnnutzung oder der gewerblichen Zweckbestimmung der Grundstücke.

1 Vgl. dazu im allgemeinen Carola FRIEDRICHS-FRIEDLAENDER, Architektur als Mittel politischer Selbstdarstellung im 19. Jahrhundert. Die Baupolitik der bayerischen Wittelsbacher. (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 97.) München 1980. Zur bautopographischen Entwicklung vgl. Max MEGELE, Baugeschichtlicher Atlas der Landeshauptstadt München. (Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München, Bd. 3.) München 1951; Literatur zum Stadtbild und zur Stadttopographie s. bei Richard BAUER (Hrsg.), Geschichte der Stadt München. München 1992, 513-520.

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Die Gestaltung der königlichen Straßenzüge wurde dadurch erreicht, daß hier zum großen Teil Gebäude der „öffentlichen Hand" errichtet wurden, die aus Staats- oder Stiftungsmitteln finanziert wurden. Dadurch war der Einfluß der königlichen Bauherren nachhaltiger wirksam, als dies bei Gebäuden privater Bauherren der Fall sein konnte. So stehen an der Maximiliansstraße das weitläufige Regierungsgebäude, das korrespondierende Museumsgebäude und das staatliche Wilhelmsgymnasium2; einen wesentlichen Bauakzent setzt an der Prinzregentenstraße das vom Staat errichtete Bayerische Nationalmuseum.3 Am deutlichsten wird diese städtebaulich wichtige Vorgabe im nördlichen Teil der Ludwigstraße sichtbar; hier hat Ludwig I. planmäßig seit 1826 öffentliche Gebäude errichten lassen, den planenden und bauleitenden Architekten bestimmt, diesem allgemeine und auch höchst spezielle Anweisungen erteilt und schließlich die Bauführung bis ins Detail selbst mitbestimmt und kontrolliert. Hierher gehören die Werke Friedrich v. Gärtners4: die Universität und das Georgianum, das Blindeninstitut und das Damenstiftsgebäude, die Ludwigskirche, das Verwaltungsgebäude der Bergwerks- und Salinenadministration und dann als das Bauwerk mit der größten Längenausdehnung und der größten Kubatur: das Archivund Bibliotheksgebäude5, welches sich nördlich an das von Leo v. Klenze entworfene und gebaute Kriegsministerialgebäude6 anschließt. Im Vergleich mit den für den Militärfiskus errichteten Gebäuden gewinnt der „Urkunden- und Bücherpalast" als Manifestation des Kulturstaates Bayern ganz

2 Zur MaximilianstraBe vgl. FRIEDRICHS-FRIEDLAENDER, Architektur (wie Anm. 1), 157 ff.; Norbert LIEB, München. Die Geschichte seiner Kunst. München 1971, 291-296; Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Bayern IV: München und Oberbayem. München 1990, 807 ff. 3 Zur Prinzregentenstrafle vgl. LIEB, München (wie Anm. 2), 323-32S; Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler (wie Anm. 2), 824. 4 Oswald HEDERER, Friedrich von Gaertner, 1792-1847. Leben, Werk, Schüler. (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, Bd. 30.) München 1976; Klaus EGGERT, Die Hauptwerke Friedrich von Gärtners. (Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München, Bd. 15.) München 1963; LIEB, München (wie Anm. 2), 258-266; Winfried NERDINGER (Hrsg.), Romantik und Restauration. Architektur zur Zeit Ludwigs I. 1825-1848. (Ausstellungskataloge der Architektursammlung der Technischen Universität München und des Münchener Stadtmuseums, Bd. 6.) München 1987, 17-34; Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler (wie Anm. 2), 802-807. 5 Hans Michael CRASS, Bibliotheksbauten des 19. Jahrhunderts in Deutschland. München 1976, 23-27, 151 f.; Carolyn KREBBER, Der Bau der Bayerischen Staatsbibliothek in München von Friedrich von Gärtner. (Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte der Universität München, Bd. 15.) München 1987; NERDINGER, Romantik und Restauration (wie Anm. 4), 372-383; weitere Literatur zum Gebäude: Ladislaus BuzAs/Fridolin DRESSLER, Bibliographie zur Geschichte der Bibliotheken in Bayern. München 1986, 81 f.; femer Klaus HALLER (Hrsg.), Die Bayerische Staatsbibliothek in historischen Beschreibungen. München/New York/Paris u. a. 1992, 203-211; Ludwig I. von Bayern. Der königliche Mäzen. (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellungskataloge, Bd. 38.) München 1986, Liste der Exponate: Nr. 116-130 über das Archiv- und Bibliotheksgebäude. 6 Florian ZIMMERMANN, Klenzes Kriegsministerium. Magisterarbeit (masch.) München 1977; Wilhelm VOLKERT, Die zentralen Gebäude der staatlichen Archive Bayerns in München, in: Archivalische Zeitschrift 74, 1978, 1-34, hier 4 ff.

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besondere Bedeutung. Das klassizistische Kriegsministerium Klenzes von 1827/30 ist ein wohlproportionierter und ansprechend gegliederter Bau, der aber gegenüber der Wucht des Gärtnerschen Archiv- und Bibliotheksgebäudes zierlich, keineswegs martialisch-militärisch wirkt, wie dies die Reliefskulpturen mit ihren Waffendarstellungen über den Eingangsarkaden andeuten möchten. Das östlich an das Kriegsministerium anschließende Wohngebäude für den Kriegsminister beherrscht den forumsartigen Platz an der Schönfeldstraße, einer schmalen Seitenstraße der Ludwigstraße; es wurde ebenfalls von Klenze 1822/25 geplant und gebaut. Nach Aufriß und Grundriß folgt es mit zwei Hauptgeschossen und einem Mezzanin mehr dem Schema eines Adelspalais als dem eines aufwendigen Staatsgebäudes. Die weiter im Osten anschließenden Bürogebäude des Kriegsministeriums waren Bürgerhäuser, die nach dem Erwerb durch den Militärfiskus notdürftig für den neuen Verwendungszweck adaptiert worden waren. Die Militärgebäude an der Ludwigstraße und der Schönfeldstraße können den Vergleich mit dem Archiv- und Bibliotheksgebäude nicht aushalten.7 Das Kriegsministerium war mit Geldern des Militäretats errichtet worden; die weiteren Gebäude an der nördlichen Ludwigstraße waren für Institutionen bestimmt, die Stiftungsvermögen besaßen und auf Weisung des Königs daraus die Baukosten aufbrachten (Universität, Georgianum, Damenstift) oder öffentliche Sonderetats verwalteten (Bergwerks- und Salinenadministration). Für die Ludwigskirche mußte die Stadtgemeinde München aufkommen, der außerdem auch Kosten für den Grunderwerb aufgebürdet wurden. Der König steuerte aus der Zivilliste größere Beträge zu einzelnen Bauwerken bei (ζ. B. für die Ludwigskirche und das Blindeninstitut). Ausschließlich auf Staatskosten sollte der Bau des Archiv- und Bibliotheksgebäudes ausgeführt werden; denn die beiden Institutionen (Reichsarchiv und Hofbibliothek) unterstanden dem Ministerium des Innern und wurden aus dessen Etat unterhalten. Archiv und Bibliothek waren höchst unzureichend im sogenannten Wilhelminischen Gebäude (früheres Jesuitenkolleg neben der Michaelskirche) untergebracht. Diese sachliche Begründung für den Neubau wurde ausführlich in den Kammern der Ständeversammlung erörtert. Zunächst hatte der Bauherr daran gedacht, das neue Archiv- und Bibliotheksgebäude dem Ensemble des Königsplatzes einzugliedern; er hatte mit Klenzes Glyptothek seit 1816 den ersten Akzent erhalten. Es zeigte sich jedoch bald, daß auf

7 Die GröBenverhältnisse lassen in höchst aufschluß reicher Weise Luftbilder erkennen; vgl. Richard BAUER/Eva GRAF, Stadt im Überblick. München im Luftbild 1890-1935. München 1986, 80 f. Ebenso instruktiv ist das Stadtmodell der Brüder Seitz im Bayerischen Nationalmuseum (um 1850); vgl. LIEB, München (wie Anm. 2), 266.

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dem dort zur Verfügung stehenden Grundstück gegenüber der Glyptothek das weitläufige Urkunden- und Büchergebäude nicht unterzubringen war. Planender Architekt war Friedrich Gärtner. Er erhielt 1828 einen neuen Planungsauftrag für das Archiv- und Bibliotheksgebäude auf dem Grundstück an der Ludwigstraße, das im Norden an das Kriegsministerium anschloß. Die Stadt München hatte die Parzellen ankaufen und dem Staat zur Verfügung stellen müssen; diese und weitere Grunderwerbungen an der nördlichen Ludwigstraße und die Baukosten für die Ludwigskirche belasteten die Stadtkasse aufs stärkste.8 Auf diesem knapp 200 m langen und etwa 90 m tiefen Grundstück zwischen dem Bauplatz der Ludwigskirche (im Norden) und dem Kriegsministerium (im Süden) sollte das langgestreckte Gebäude die Straßenwand der Ludwigstraße bilden. Die Raumanforderungen waren bereits seit 1827 von den beiden Direktoren Lichtenthaler (für die Bibliothek) und Baron Freyberg (für das Archiv) zusammengestellt worden; daraus wurde das Raumprogramm mit den Beständesälen, den Arbeitszimmern für die Bediensteten und den Leseräumen für Besucher entwickelt. Gärtner setzte dies architektonisch um in das dreigeschossige Gebäude mit 25 Fensterachsen zur Straßenseite; ihm entspricht ein gleichdimensionierter Bau auf der Gartenseite, der durch drei Querflügel mit dem vorderen Gebäude verbunden ist, so daß sich zwei geräumige Innenhöfe ergeben. Die Kosten für diesen Gebäudekomplex kalkulierte Gärtner auf 1,2 Millionen Gulden (fl.).9 Dieser Betrag mußte über das Budget, den Staatshaushalt, bereitgestellt werden; denn es handelte sich um den Bau eines Staatsgebäudes, das ausschließlich öffentlichen Zwecken dienen sollte. Stiftungsmittel standen dafür nicht zur Verfügung; die Zivilliste des Königs kam dafür auch nicht in Frage. Dem Budget hatte die Ständeversammlung mit der Kammer der Reichsräte und der Kammer der Abgeordneten zuzustimmen. Auf die Zustimmung der Abgeordneten zu hoffen, konnten weder der Bauherr, noch der Architekt, noch die künftigen Nutznießer, der Bibliothekar Lichtenthaler und der Archivar Freyberg, wagen; denn im Budget war noch ein großer Betrag unterzubringen, um das Lieblingsprojekt des Königs, die Pinakothek, vollständig zu finanzieren; das Galeriegebäude war seit 1826 im Bau.10

8 Jakob BAUER, Grundzüge der Verfassung und Vermögens-Verwaltung der Stadtgemeinde München. München 1845, 45 f.; NERDINGER, Romantik und Restauration (wie Amn. 4), 27 ff., 379; EGGERT, Hauptwerke (wie Anm. 4), 53, 64 f.; vgl. die StadtplSne aus den Jahren 1826 und 1850.

' Z u r P l a n u n g v g l . EGGERT, H a u p t w e r k e (wie A n m . 4 ) , 5 1 - 6 9 ; KREBBER, Staatsbibliothek ( w i e

Anm. 5), 18-24; Wilhelm VOLKERT, Zur Geschichte des Bayerischen Hauptstaatsarchivs 1843-1944, in: Archivalische Zeitschrift 73, 1977, 131-148, hier 132-135. - Über Philipp v. Lichtenthaler, 1826-1855 Direktor der Hofbibliothek, vgl. Walter SCHÄRL, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft von 1806 bis 1918. (MQnchener Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte, Bd. 1.) München 1955, 233. 10 Zum Bau der Pinakothek vgl. LIEB, München (wie Anm. 2), 278 ff.; NERDINGER, Romantik

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Es war wohl der Bibliotheksdirektor Lichtenthaler, der dem Architekten Gärtner die Idee nahebrachte, das große Bauvorhaben aufzuteilen und zunächst nur einen Teilbetrag in das Budget" einzusetzen mit dem Hintergedanken, für die jeweiligen Anschlußbeträge die Zustimmung zu bekommen, wenn mit einem Teilbetrag der Bau begonnen worden wäre. Dieses System lief darauf hinaus, den Landtag bei der Ausübung seines wichtigsten Rechts, der Mitwirkung beim Finanzgesetz, hinters Licht zu führen. In den Jahren zwischen 1831 und 1840 hat sich die Ministerialbürokratie in diesem Sinn völlig zum Vollstrecker des Bauherrnwillens gemacht. Bereits 1828 hatte der Architekt Gärtner auf Anregung des Königs beim Finanzminister Graf Armansperg wegen der Finanzierung des Archiv- und Bibliotheksgebäudes vorgefühlt12; der Minister zeigte freundlich-distanziertes Interesse und meinte, daß frühestens in der nächsten, 1832 beginnenden Finanzperiode ein Betrag für den Bau vorgesehen werden könne. Die Zusage wurde auch eingehalten; denn das vom Finanzministerium 1831 dem Landtag vorgelegte Budget enthielt die Anforderung („Postulat") von 550 000 fl. für den Archiv- und Bibliotheksneubau. König Ludwig I. hatte in einem umfangreichen Signât seine Anweisungen zu dem Budget gegeben, wobei er die Baukosten für Bibliothek und Archiv ausdrücklich erwähnte; sie sollten aus Ersparnissen der abgelaufenen Finanzperiode aufgebracht werden.13 Nun begannen die parlamentarischen Verhandlungen, die alle Beteiligten und die interessierte Öffentlichkeit bis 1840 lebhaft beschäftigten. In der Sitzung vom 10. Oktober 1831 trug Staatsrat v. Stürmer, Verweser des Innenministeriums, die Begründung für diesen Haushaltsantrag vor14: Die gegen-

und Restauration (wie Anm. 4), 362-367; FMEDRICHS-FRIEDLAENDER, Architektur (wie Anm. 1), 105 ff. 11 Erika MÜLLER, Theorie und Praxis des Staatshaushaltsplans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg. (Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 84.) Opladen 1989, 80, 94 ff., 110 f. u. ö. erörtert den Zusammenhang der firühkonstitutionellen Bestimmungen mit dem altständischen Steuerbewilligungsrecht, den Gesetzescharakter des Budgets, die Öffentlichkeit, Einheitlichkeit, Verrechnungstechnik u. dgl., geht aber nicht näher auf die politischen Komponenten des Zusammenwirkens von Krone, Ministerium und Landtag bei der Entstehung des Finanzgesetzes und auf die Kontroversen beim Steuerbewilligungsrecht und bei der Befugnis der Kammern zur Ausgabenbewilligung ein. 12

EGGERT, Hauptwerke (wie Anm. 4), 53 ff. Andreas KRAUS (Hrsg.), Sígnate König Ludwigs I. Ausgew. und eingel. v. Max Spindler. 6 Bde. (Materialien zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 1-6.) München 1987-94, hier Bd. 1, 502 f., Nr. 83. 14 Entwurf des Finanzgesetzes 1831/37: Verhandlungen der zweyten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern 1831. Beil.-Bd. 1, Beilage 8, 7 [LV Abg., Beil.-Bd.]; Vorlage in der Kammer: Ebd., Protokoll-Bd. 1 [LV Abg., Prot.-Bd.], Prot. 3, 2; Begründung des Ministerverwesers v. Stürmer: LV Abg., Prot.-Bd. 20, Prot. 112, 72-76; Debatte in der Kammer: Ebd., 76-136. Zu den Verhandlungen des Jahres 1831 vgl. auch LV Abg., Repertorium 1831, 79 f. Zum Landtag von 1831 vgl. Wilhelmine Götz, Der bayerische Landtag 1831. Ein Wendepunkt in der Regierung Ludwigs I. Diss. phil. München 1926; Heinz GOLLWTTZER, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie. München 1986, 448-454; Handbuch der bayerischen 13

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wältige Unterbringung von Archiv und Bibliothek15 im sogenannten Wilhelminischen Gebäude neben der Michaelskirche, dem ehemaligen Jesuitenkolleg, sei nicht mehr länger tragbar; auch die Mitglieder des Finanzausschusses der Abgeordnetenkammer hätten bei einer Besichtigung den Eindruck gewonnen, daß diese Lokalitäten für Archiv und Bibliothek völlig ungeeignet seien. Urkunden und Handschriften, die wichtigsten Belege öffentlicher Rechte des Staates, seien in dumpfen, feuchten und engen Gemächern der Gefahr des Verderbens und der Vermoderung ausgesetzt. Der Bibliothek stünden 50 Räume, zum Teil eng, winklig und dunkel, zur Verfügung für die Aufbewahrung einer halben Million Bücher und von 16 000 Handschriften. 200 000 Bände könnten nur auf dem Speicher gelagert werden, der Verwitterung ausgesetzt, den Ratten und Mardern zur Beute hingeworfen. Auf den Reposi tonen (Regalen) stünden die Bücher zum Teil in drei Reihen hintereinander; sie seien häufig nur mit hohen Leitern zu erreichen. Zudem sei seit der Verlegung der Universität von Landshut (1826) die Benutzerfrequenz stark gestiegen. Es stehe nur ein Zimmer mit 25 Arbeitsplätzen zur Verfügung, das außerdem unheizbar sei; wegen der Platznot herrsche große Unordnung bei den herbeigeholten Büchern. Die Studien der Gäste, wie die literarischen Arbeiten des Bibliothekspersonals seien stark behindert. Die Räume, besonders in den oberen Geschossen, sind wegen der zahlreichen durch das Gebäude laufenden Kamine nicht feuersicher. Die Tragfähigkeit der Decken ist unzureichend. Diese Baumängel könnten nicht gewendet werden, andere Gebäude stünden nicht zur Verfügung. Deshalb betreibe die Staatsregierung den Neubau, um „den seltenen, heiligen Nationalschatz zu erhalten, auf den wir stolz sind und um den uns die Ausländer beneiden". Die Vernichtung durch Brand oder Moder wäre „ein unersetzlicher Verlust für Bayern und die Gesamtliteratur Europas". Dann kam in der Abgeordnetenkammer der Referent des Finanzausschusses, der oberfränkische Jurist Vetterlein, zu Wort; er galt als gemäßigt liberal. Es hieß, daß

Geschichte. Hrsg. v. Max Spindler. Bd. 4/1. München 1974, 152-157. Zu den Budget-Beratungen vgl. auch Wilhelm LEMPFRID, Der bayerische Landtag 1831 und die öffentliche Meinung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 24, 1961, 59-67, und Eva Alexandra MAYWNO, Bayern nach der französischen Julirevolution. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 90.) München 1990, 138 f. - Über den Ministerverweser, Staatsrat Johann Baptist v. Stürmer (17771856; vom 27. 5. bis zum 31. 12. 1831 kommissarischer Leiter des Innenministeriums zwischen den Innenministern Eduard v. Schenk und Ludwig Fürst zu Oettingen-Wallerstein), vgl. Dirk GÖTSCHMANN, Das bayerische Innenministerium 1825-1864. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 48.) Göttingen 1993, 211-214. 15 Úber das Allgemeine Reichsarchiv im Wilhelminischen Gebäude s. VOLKERT, Hauptstaatsarchiv (wie Anm. 9), 131 f.; zahlreiche Informationen über die Unterbringung der Hofbibliothek im ehemaligen Jesuitenkolleg aus der Zeit zwischen 1784 und 1841 teilt HALLER, Bayerische Staatsbibliothek (wie Anm. 5), 69-132, mit.

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er zur Steigerung seiner Popularität öfters gegen Interessen der Regierung abstimme.16 Vetterlein erläuterte die ablehnende Haltung des Ausschusses zu dem Regierungspostulat. Man könne allenfalls 300 000 fl. zur Verfügung stellen, um ein ausreichendes Gebäude herzustellen. Aber der Etat sei mit Ausgaben für bereits begonnene Bauten belastet, die zuerst fertiggestellt werden sollten. Besonders kostspielig seien die protestantische Kirche in München und die katholische Kirche in Ansbach, für die der Staat große Zuschüsse leiste.17 Der Ansicht Vetterleins, daß ein durch einen Voranschlag belegter Betrag von 300 000 fl. zur Verfügung gestellt werden solle, fand Unterstützung beim Abgeordneten Mussinan, Gutsbesitzer aus Oberbayern, Jurist und Historiker, der sich meist regierungstreu zeigte. Er schilderte die Bibliothek als eine der reichsten in ganz Europa („reicher als die Pariser Nationalbibliothek, wie französische Gelehrte versichern"). Archiv und Bibliothek dienen der Geschichte, aus der Wissen und Erkenntnis fließen. Er zitiert Schiller: „Die Geschichte ist das Weltgericht". Wenn der Finanzausschuß für die protestantische Kirche über 100 000 fl. bewilligen wolle, dann müsse er auch diesen Bau fördern; denn „Lernen ist so wichtig als beten. Eine hochherzige, liberale, freysinnige Kammer wird in wissenschaftlicher Aufklärung und Bildung nicht zurückbleiben". Wer meine, man brauche keine Bibliothek, der nähere sich den Gesinnungen des türkischen Sultans Selims II., der die Bibliothek in Alexandria verbrennen ließ, als die Stadt im Sturm genommen war. Denn die Bücher seien überflüssig, wenn sie das überlieferten, was im Koran steht; würden sie aber etwas dem Koran Widersprechendes enthalten, dann müßten sie vernichtet werden.18 Schließlich sei zu bedenken, so Mussinan, daß durch den Bau über Jahre hinweg viele Arbeiter Verdienst fänden und daß in der Zukunft die Bibliothek viele Reisen16 Über Johann Martin Karl Vetterlein (1786-1849) vgl. Josef LEEB, Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der Bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818-1848). Diss. phil. (masch.) Regensburg 1993, 733. 17 Zu diesen Bauten vgl. Ν ERDINGER, Romantik und Restauration (wie Antn 4), 256 (protestantische Kirche, seit 1876 St. Matthäus, in München), 286 (St. Ludwig in Ansbach). 18 Über Joseph Anton v. Mussinan (1766-1837) vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 686. - Die berühmte Ptolemäer-Bibliothek in Alexandria wurde bereits 48/47 v. Chr. während der Besetzung der Stadt durch Caesar stark dezimiert; weitere Verluste traten bei Religionsunruhen 391 ein. Ob bei der Einnahme der Stadt durch die Araber zur Zeit des Kalifen Omar I. (634-644) im Jahr 642 Bibliotheksbestände vernichtet wurden, ist umstritten. Das von Mussinan erwähnte Diktum über das Verhältnis von wissenschaftlicher Literatur und Koran und die deswegen angeordnete Vernichtung der Bibliotheksbestände wird durch wesentlich spätere Quellen diesem Ereignis zugeschrieben. Der genannte Sultan Selim II. regierte von 1566 bis 1574; unter seinem Großvater Selim I. (1512-1520) war Ägypten wie Palästina und Syrien unter türkische Herrschaft gekommen. Mussinan bezog seine Informationen (bei deren Wiedergabe ihm aber Verwechslungen unterlaufen sind) offensichtlich aus der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Hrsg. v. Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber. 3. Theil. Leipzig 1819, 48-54 und 9. Theil. Leipzig 1822, 54 f.; vgl. auch Handbuch der Bibliothekswissenschaft. Bd. 3. Wiesbaden 1955,182 f. und Lexikon des Buchwesens. Bd. 1. Stuttgart 1952, 31 f. - Ministerverweser v. Stürmer kam im Fortgang der Debatte ebenfalls auf die Brandkatastrophe in der Alexandrinischen Bibliothek zu sprechen.

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de anziehe, was dem städtischen Gewerbe und auch der Landwirtschaft der Umgebung nützlich sei. Im selben Sinn sprach sich auch der zweite Präsident der Kammer, der Würzburger Universitätsprofessor der Jurisprudenz, Johann Seuffert aus, der die „großen National schätze" des Archivs und der Bibliothek besser gesichert sehen will. Ihm sei auch bewußt, daß Neubauten des Staates in der Residenzstadt „in der Ungunst, nicht bloß der Kammer, sondern der ganzen Nation" stehen; aber „die Sache der geistigen Bildung sei nicht geringer zu achten als die der Freyheit". Er unterstützte den Antrag Vetterleins; er war 1830/31 einer der Führer der aktiven liberalen Opposition in der zweiten Kammer." Zu den Gemäßigt-Liberalen gehörte der Abgeordnete Ignaz v. Rudhart. Er trat vorbehaltlos für den Archiv- und Bibliotheks-Neubau ein, weil man deren Nationalschatz nicht weiter der Gefährdung aussetzen dürfe; „nicht nur auf den Kirchenvätern, sondern auch auf Plato und Aristoteles würden Katzen ihr Kindbett halten, an den Klassikern nagen hungrige Hamster". Ein Fremder, der Archiv und Bibliothek in ihrem jetzigen Zustand sieht, würde sagen, wir „seyen keine Bayern, sondern Vandalen. Man nennt München das deutsche Athen, es würde eher den Namen des deutschen Abdera verdienen", wenn an den jetzigen Zuständen der Nationalschätze nichts geändert würde.20 Für die Modifizierung des Regierungspostulates durch den Antrag Vetterleins setzte sich der als konservativ geltende Abgeordnete v. Dippel aus Oberfranken (Gutsbesitzer und Bergrat) ein.21 Ebenso äußerte sich der Abgeordnete Lechner, Vertreter der oberbayerischen katholischen Geistlichen; er schlug vor, die Bibliothek dadurch zu entlasten, daß man in den Kreisen Provinzialbibliotheken errichte und dorthin die entbehrlichen Doubletten abgebe. Die Bücherschätze stammten aus der Zeit der Klöster; vor der Verschleppung in die Hofbibliothek seien sie auf dem Land gewesen, wohin sie wieder zurückkehren sollten.22 Die Opposition, die den Bauplan grundsätzlich ablehnte, trat mit drei Abgeordneten auf.23 Am deutlichsten äußerte sich der niederbayerische Gutsbesitzer Dr. Peregrin Schwindl aus Münchsdorf. Er stimme für keinen Heller, so lange nicht eine

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Über Johann Adam Seuffert (1794-1857) vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 695. Über Ignaz v. Rudhart (1790-1838) vgl. ebd., 729. 21 Über Andreas v. Dippel (gest. 1837) vgl. ebd., 742. 22 Über Franz Xaver Lechner (1774-1849) vgl. ebd., 699. Die von Lechner geforderten Provinzialbibliotheken wurden seit 1816 organisiert; s. HALLER, Bayerische Staatsbibliothek (wie Anm. 5 ) , 8 5 f. 23 Über die oppositionellen Abgeordneten Peregrin Schwindl, Karl Freiherr v. Closen (1786-1856) und Christoph Heinzelmann (gest. 1847) vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 768, 678 f., 721; über Closen auch GÖTSCHMANN, Innenministerium (wie Anm. 14), 302-307. 20

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eindeutige Bausumme genannt und nachgewiesen sei. Die Regierung locke die Kammer mit einer kleinen Forderung, der dann bestimmt andere folgen würden. Dieser Unfug sei auch bei der protestantischen Kirche in München eingerissen. Die schlechte Unterbringung der Bibliothek sei ihm sehr wohl bekannt; man könne sie sehr wohl verbessern, wenn man die gewaltige Zahl der Doppel- und Mehrfachexemplare auslagere. Außerdem sei die Verlegung der Universität von Landshut nach München24 ein Fehler gewesen; denn für die Universität müsse man wohl auch ein neues Gebäude errichten, weil die Hörsäle im Bibliotheksgebäude höchst unzweckmäßig seien. Der ebenfalls der Regierung nicht wohlgesonnene Abgeordnete Karl Freiherr v. Closen, Angehöriger des doktrinär-liberalen Flügels im rechtsrheinischen Bayern, stellte bei seiner Ablehnung des Neubauplanes an der Ludwigstraße ebenfalls die Verbindung zur Universität her; denn dieser Platz sei wegen der weiten Entfernung zum Kollegiengebäude an der Michaelskirche völlig ungeeignet. Die Studenten würden zu viel Zeit durch den weiten Weg verlieren, wo sie doch jede freie Minute zum Studieren verwenden müßten. Den Vorwurf Rudharts, daß die Kammermitglieder, die den Bibliotheksbau ablehnten, Abderiten seien, wies Closen zurück; denn den Mängeln der Bibliothek könne abgeholfen werden, wenn man aus dem jetzigen Gebäude die physikalischen und naturwissenschaftlichen Sammlungen und das Kupferstichkabinett entferne. Für diese lasse sich leicht Platz anderwärts, etwa im Damenstiftsgebäude, finden. Vehement gegen den Bau sprach auch der Abgeordnete Heinzelmann, Großhändler und Mitglied des Steuerausschusses; er sah hier einen Parallelfall zur Finanzierung der Pinakothek, wo es auch keinen festen Voranschlag gegeben habe und nun eine Forderung an das Budget nach der anderen käme. Der Feuergefahr in den Bibliotheksmagazinen solle man nach Sachverständigengutachten durch vorläufige Maßnahmen begegnen. Beim Archiv könne er sich über die Klagen nur wundern, daß die Verwaltung bisher nichts unternommen habe, wenn die Gefahr der Vermoderung so groß sei. Im übrigen habe nach seinem Augenschein das Archiv überwiegend gute Lokale. Man solle mit dem Bau bis zur nächsten Finanzperiode (1838/44) warten; da gäbe es sicher aus dem jetzigen Budgetzeitraum Überschüsse, mit denen man den Bau beginnen könne. Nachdem die Argumente von beiden Seiten ausgebreitet waren, wollte der erste Präsident, Baron Sebastian v. Schrenck (ein königstreuer, den Regierungsanträgen

24 Zur Verlegung der Universität von Landshut nach München 1826 vgl. Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 14), Bd. 4/1, 1011 ff. Die Universität war von 1826 bis 1840 ebenfalls im „Wilhelminischen" Gebäude untergebracht; vgl. Carl PRANTL, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München. Bd. 1. München 1872, 720.

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meist zustimmender Parlamentarier), dem Antrag eine positive Wendung geben und berichtete, der Architekt Gärtner und der Bibliotheksdirektor Lichtenthaler hätten ihm anhand der Baupläne bewiesen, daß es sich keineswegs um einen Luxusbau handle; darüber könne auch der Abgeordnete Fikentscher vom Finanzausschuß Aufschluß erteilen.25 Dieser, ein Fabrikant aus Marktredwitz in Oberfranken, der meist der Regierungslinie folgte, berichtete nun, daß er Gärtner die Zustimmung des Budgetausschusses zu einer Bewilligung von 350 000 fl. signalisiert habe, wenn ein genauer Kostenvoranschlag vorliege. Darauf hätte Gärtner geantwortet, für diesen Betrag könne keine Bibliothek gebaut werden, habe das Postulat doch 550 000 fl. betragen. Darauf sahen sich viele Abgeordnete in ihren Befürchtungen vor Nachforderungen bestätigt, so daß in der Abstimmung der Antrag Vetterlein (300 000 fl. aus den Erübrigungen als unüberschreitbare Maximalsumme) mit 58 zu 50 Stimmen abgelehnt wurde. Dabei haben offensichtlich nicht nur „inkorrigible Oppositionsmänner", sondern auch Abgeordnete, welche sonst Regierungsvorlagen folgten, gegen den modifizierten Antrag des liberalen Abgeordneten Vetterlein gestimmt und damit das Bauprojekt vorerst scheitern lassen.26 Zur Verabschiedung des Budgets als Gesetz bedurfte es des übereinstimmenden Beschlusses beider Kammern des Landtags. Die Haushaltsberatung in der Reichsrätekammer fand im November 1831 statt. Die Stimmung war dem Regierungspostulat für das Archiv- und Bibliotheksgebäude nicht ungünstig. Ein Debattenredner stellte zwar die Notwendigkeit des Baues in Frage mit dem Vorschlag, man könne die Bibliotheksprobleme durch Abgabe von Doubletten und die Archivmisere durch Auslagerung der Urkunden in die gewölbten Erdgeschoßhallen der Schlösser in Schleißheim oder Nymphenburg lösen. In der Abstimmung kam jedoch eine Mehrheit für den Regierungsantrag zustande.27 Die Sache ging an die Abgeordnetenkammer zurück; der Ausschuß blieb mit vier gegen zwei Stimmen bei seiner ablehnenden Empfehlung. In der Kammerdebatte am

25 Über Sebastian Freiherr Schrenck v. Notzing (1774-1848) und über Kaspar Fikentscher vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 688, 745. 26 In der am 18. August 1831 König Ludwig I. vorgelegten Namensliste der Abgeordneten sind 46 Personen der Opposition zugeordnet, 36 als zweifelhaft und 46 als verlässig im Sinn der Regierung bezeichnet; s. GÖLZ, Landtag (wie Anm. 14), 149 ff. Da nicht namentlich abgestimmt wurde, ist eine genauere Analyse nicht möglich. - Gärtner, der die Ablehnung auch auf eine Intrige Klenzes zurückführte, schilderte den Ablauf seiner Kontakte mit dem Präsidenten und dem AusschuBvorsitzenden in etwas abweichender Form, wobei das Ergebnis (Ablehnung durch die Kammer) gleich bleibt; s. EGGERT, Hauptwerke (wie Anm. 4), 54 ff. 27 Diese und die folgenden Verhandlungen s. in LV Reichsräte 1831, Prot.-Bd. 9, 542 ff., 599; Prot.-Bd. 10, 250-254, 377, 382; Prot.-Bd. 11, 7, 431 f., 447; Prot.-Bd. 13, 89; vgl. auch Repertorium Reichsräte 1831, 27. - Uber das meist „regierungstreue" Abstimmungsverhalten der Reichsräte auf dem Landtag von 1831 vgl. Hubert OSTADAL, Die Kammer der Reichsräte in Bayern von 1818 bis 1848. (Miscellanea Bavarica Monacensia, H. 12.) München 1968, 101-107.

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7. Dezember 1831 agitierte der aktiv oppositionelle Abgeordnete Binder, Bauer aus Unterfranken, gegen die Vorlage; auch der gemäßigt liberale Graf Drechsel distanzierte sich vom Regierungspostulat, indem er nochmals den vom Abgeordneten Closen gebrachten Vorschlag (Gewinnung des Damenstiftsgebäudes zur Entlastung der vorhandenen Bibliothekslokalitäten) aufgriff; der Abgeordnete von Utzschneider, sonst ein zuverlässiger Parteigänger der Regierung, brachte einen neuen Vorschlag ins Gespräch: Man solle die ehemalige Augustinerkirche, jetzt als Mauthalle verwendet, für Bibliothek und Archiv herrichten; dies könne mit geringen Unkosten geschehen. Utzschneider war zweiter Bürgermeister von München; das hat ihn wohl veranlaßt, gegen die Regierungspläne zu stimmen.28 Die Abgeordneten Rudhart, Lechner und Schwindl wiederholten ihre schon im ersten Teil der Debatte vorgebrachten positiven (Rudhart und Lechner) wie negativen (Schwindl) Argumente. Ministerverweser v. Stürmer wandte nochmals seine gesamte Beredsamkeit auf, um eine Mehrheit der Abgeordneten für die Regierungsvorlage, wenn auch nur in der reduzierten Form des Vetterlein-Antrages, zu gewinnen. Er warnte vor der Feuergefahr in den jetzigen Bibliotheksräumen. Die Folgen eines Brandes seien mit der Katastrophe der alexandrinischen Bibliothek zu vergleichen; diese sei zur Zeit des Kalifen Omar II. vernichtet worden. Stürmer erinnerte an den Geist der römischen Republik, als das Volk die Herrschaft über das Volk gehabt hätte; damals seien die öffentlichen Bauten groß und majestätisch gewesen im Vergleich zu den privaten Gebäuden. Die Entwicklung der geistigen Kräfte des Volkes, die Entwicklung des Schönen und Erhabenen sei damals aber weit vorangekommen. Daran sollten sich die Abgeordneten orientieren und sich von den höheren Interessen humaner Ideen leiten lassen, unter denen nach der Religion Wissenschaft und Kunst die erste Stelle einnehmen. Was sie dafür tun, das tun sie (die Abgeordneten) „zur Beförderung einer wahren staatsbürgerlichen Freiheit". Aber weder die sachlichen Gesichtspunkte noch die Verwendung des liberalen Vokabulars bewirkten etwas. Mit Mehrheit beschlossen die Abgeordneten, der Vorlage der Reichsratskammer nicht zu folgen. So war das Bauprojekt im Kammerplenum vom 7. Dezember erneut gescheitert.29 Nun kamen wieder die Reichsräte an die Reihe (12. Dezember): Sie ermäßigten das Postulat auf 400 000 fl. und brachten als neue Argumente ins Gespräch, daß das Bauvorhaben „der niedern Volksklasse Beschäftigung gäbe" und daß es außerdem

28 Über Peter Binder, Karl Joseph Graf v. Drechsel (1778-1838) und Joseph Ritter v. Utzschneider (1763-1840) vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 739, 679 f., 714 und 771. 29 LV Abg. 1831, Prot.-Bd. 26, Prot. 145, 147-167.

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„für Bayern seit 15 Jahren keine bessere Zeit als gegenwärtig gegeben habe". Deswegen solle man den Bau nicht länger hinausschieben. Zwei Tage später verhandelten die Abgeordneten erneut, nun zum dritten Mal, über dieselbe Sache.30 Wieder war der Ausschuß mit vier gegen zwei Stimmen gegen die Zustimmung. Die aktiv oppositionellen Abgeordneten Freiherr v. Closen, Schwindl und Ziegler (Weinhändler aus Würzburg)31 agitierten gegen die Maßnahme; sie diene nur der Verschönerung der Ludwigstraße.32 Baron Closen wollte immerhin 200 000 fl. genehmigen, um damit die Verhältnisse in dem bisherigen Lokal zu verbessern. Als Befürworter des Unternehmens traten nochmals v. Rudhart und v. Stürmer auf, die an das bayerische Nationalgefühl, an Humanität und Zivilisation der Abgeordneten appellierten. Lechner und v. Seuffert, beide nicht unbedingt Anhänger des Regierungskurses, plädierten erneut dafür, 300 000 fl. als unüberschreitbare Summe für den Bau des Archiv- und Bibliotheksgebäudes in das Budget einzusetzen. Dieser Antrag fand dann in der dritten Abstimmung eine Mehrheit. Die Reichsräte schlossen sich dem auch an, so daß eine Startsumme für das Gärtnersche Projekt zur Verfügung stand. Der Ständeabschied vom 29. Dezember 1831 fixierte mit dem Finanzgesetz über die dritte Finanzpenode diese Summe.33 Bis zum Schluß der langwierigen parlamentarischen Verhandlungen waren die doktrinären Gegner der Regierung (Schwindl, v. Closen, Ziegler, Heinzelmann) strikt gegen das Projekt an der Ludwigstraße. Gegen die Neubauplanung waren der liberale Graf Drechsel und der sonst regierungstreue Münchener Bürgermeister Utzschneider. Der zu den Liberalen zählende einflußreiche Abgeordnete Vetterlein erdachte den Kompromiß, der dann schließlich allgemeine Zustimmung fand. In der Debatte sprachen sich der konservative Abgeordnete Dippel wie der aktiv Oppositionelle Seuffert für diesen Plan aus, ebenso der regierungstreue Mussinan, dem dabei das liberale Vokabular geläufig über die Lippen ging. Uneingeschränkt für die Regierungsforderung sprach sich nur der gemäßigt liberale Abgeordnete v. Rudhart aus, für den Archiv und Bibliothek als Bildungsgüter volle Unterstützung verdienten. Das knappe Ergebnis der ersten Abstimmung (50 positive und 58 negative Voten)

30

LV Abg. 1831, Prot.-Bd. 26, Prot. 149, 9, 12, 118-133. Über Adalbert Ziegler vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 735. 32 So äußerte sich auch der Bibliothekar Johann Andreas SCHMELLER, Tagebücher. Hrsg. v. Paul Ruf. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 48.) München 1956, 219. 33 LV Abg. 1831, Prot.-Bd. 27, Prot. 152, 6; Prot. 153, 7; Prot.-Bd. 28, 187 f. (Ständeabschied mit Finanzgesetz für die dritte Finanzperiode 1832/37). - Das mehrfache Hin und Her zwischen den Kammern, um ein Einvernehmen über das Budget zu erzielen, hielt auch der französische Geschäftsträger in München für berichtenswert; s. Anton CHROUST (Bearb.), Gesandtschaftsberichte aus München 1818-1848. Abt. I: Die Berichte der französischen Gesandten. Bd. II. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 19.) München 1935, 461 und 466, vom 22. 11. und 16. 12. 1831. 31

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zeigt, daß sich Gegner und Befürworter der königlichen Planung nahezu die Waage hielten. Sechs Debattenredner sprachen sich gegen die Neubaupläne an der Ludwigstraße aus; davon gehörten vier zur doktrinär-liberalen Opposition; zwei gemäßigt Liberale waren ebenfalls gegen den Neubau. Ein aktiv Oppositioneller war für den Kompromißvorschlag des gemäßigten Liberalen Vetterlein, dem dann andere Liberale der Mitte und auch Konservative folgten. - Das war das Stimmungsbild 1831. Mit dem im Budget für 1832/37 zugewiesenen Betrag von 300 000 fl. begann der Architekt das Werk.34 Bereits im Juli 1832 wurde der Grundstein für den langgestreckten Westflügel an der Ludwigstraße gelegt. 1833 fand das Richtfest statt. Im folgenden Jahr ging es an den Innenausbau und den Verputz der Fassaden. Es zeichnete sich längst ab, daß die Mittel der ersten Bewilligung bald aufgebraucht sein würden. Mitten in der sechsjährigen Finanzperiode (1832/37) konnten neue Gelder nur durch ein eigenes Gesetz, welches das Budget ergänzte, bewilligt werden. Deshalb legte im Juni 1834 Innenminister Oettingen-Wallerstein den beiden Kammern einen Gesetzentwurf vor, um die Bausumme zur „Herstellung eines feuerfesten Archiv- und Bibliotheksgebäudes" auf 500 000 fl. zu erhöhen. Damit sollten zwei Seitenflügel zur Ergänzung des Hauptgebäudes an der Ludwigstraße errichtet werden.35 Der Minister begründete die Forderung damit, daß die erstbewilligte Summe wohl zur Herstellung eines „feuerfesten Gebäudes" für Archiv und Bibliothek ausreichend gewesen sei, daß damit aber keinesfalls eine den modernen Benutzungsansprüchen genügende Aufstellung der vorhandenen 600 000 Bände (mit einer jährlichen Zuwachsrate von 5-6000 Bänden) hätte bewerkstelligt werden können. Darum müßten jetzt zwei seitliche Flügel errichtet werden. Die Reichsräte folgten dieser Argumentation und stimmten dem Gesetzentwurf zu. Im Ausschuß der Abgeordnetenkammer votierte der Referent Vetterlein, der 1831 für die Reduzierung des Regierungspostulats eingetreten war, nun positiv im Sinn des neuen Antrags, fand dafür dort aber keine Mehrheit. Im Plenum der zweiten

34 EGGERT, Hauptwerke (wie Anm. 4), 56 f.; VOLKERT, Hauptstaatsarchiv (wie ANM. 9), 135 f.; SCHMELLER, Tagebücher (wie Anm. 32), 145. 35 Diskussion in der Reichsratskammer: LV Reichsräte 1834, Prot.-Bd. 2, 124-129; Ausschußbericht der Abgeordnetenkammer: LV Abg. 1834, Beil.-Bd. 6, 329-338; Debatte in der Abgeordnetenkammer: LV Abg. 1834, Prot.-Bd. 11, Prot. 50, 228-276; vgl. Repertorium 1834, 29-32. Zum Landtag von 1834 s. Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 14), Bd. 4/1, 186-189; GOLLWTTZER, Ludwig I. (wie Anm. 14), 502-505; OSTADAL, Kammer (wie Anm. 27), 107-110. - Uber den Innenminister Ludwig Fürst Oettingen-Wallerstein vgl. GÖTSCHMANN, Innenministerium (wie Anm. 14), 215-224. - Das lebhafte Interesse Ludwigs I. an der Fortsetzung des Archiv- und Bibliotheksbaues zeigen zahlreiche Signale zwischen dem 26. 4. und dem 6. 9. 1834; s. KRAUS, Sígnate Ludwigs I. (wie Anm. 13), Bd. 2, 383 ff., Nr. 194, 198 ff.; 394, Nr. 231; 407, Nr. 277; 411, Nr. 293; 415, Nr. 303; 451, Nr. 433.

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Kammer unterstützten zahlreiche Debattenredner diesen Antrag, weil man mit dem begonnenen Bau nicht auf halbem Weg stehen bleiben dürfe. So äußerten sich auch oppositionelle Abgeordnete, die 1831 gegen den Bau gestimmt hatten (wie der protestantische Dekan Weinmann aus Aubstadt, der protestantische Pfarrer Lösch aus Geilsheim36 oder Graf Drechsel) positiv zu dem Gesetzentwurf. Die ablehnende Meinung vertraten in der Debatte die oppositionellen Abgeordneten Schwindl, Heinzelmann und Schickendanz (Bürgermeister in Landau37). Schwindl gab der Hoffnung Ausdruck, daß die Sache bei den Budgetverhandlungen von 1837 wieder gestrichen würde; dem Baumeister gebühre Lob für sparsame Wirtschaft, worunter aber möglicherweise die Bauleute hätten leiden müssen. Die Forderung nach einem vollständigen Plan und Kostenanschlag sei nicht erfüllt. Der Abgeordnete Schickendanz aus der Pfalz fügte noch hinzu, seine ablehnende Meinung solle nicht als dauernde Opposition eines Überrheiners mißverstanden werden; auch er hätte das Wohl des ganzen Vaterlandes im Sinn und empfinde die herzlichsten Wünsche für den König und für des Vaterlandes Wohl. Schwindl beantragte den Ausschluß künftiger Nachforderungen; außerdem wurde die Begrenzung der Bausumme auf eine halbe Million Gulden unter die ausdrückliche Verantwortung des Innenministers gestellt. An der Diskussion beteiligten sich 15 Abgeordnete; sieben von ihnen waren 1831 gegen das Gesamtpostulat der Regierung gewesen. Jetzt blieben nur mehr drei Abgeordnete in den Debattenbeiträgen bei ihrer ablehnenden Haltung (Heinzelmann und Schickendanz; Schwindl sprach in der Debatte gegen das Bauvorhaben, stimmte zum Schluß dann aber doch für das Gesetz). Für die Vorlage sprachen drei weitere Liberale und fünf regierungstreue Konservative.38 Zum Schluß wurde namentlich abgestimmt. 77 Abgeordnete gaben ein positives, 26 Abgeordnete ein negatives Votum. Die ablehnenden Votanten kamen aus Franken (zehn), Schwaben (neun), der Pfalz (fünf) und Altbayern (zwei); unter den Berufsgruppen dominierten die Bauern und Wirte (14); es folgten die Kaufleute und Fabrikanten (sieben), Gutsbesitzer (drei) und Juristen (zwei). Der radikalen und aktiven Opposition wurden 17 Abgeordnete zugerechnet; als gemäßigt Liberale galten neun Neinsager. Von den 76 positiven Stimmen kamen 52 aus dem regierungstreuen Lager; 17 gehörten zur gemäßigten Opposition; acht sind anderwärts als aktive Oppositionelle hervorgetreten. Das liberale Lager der Gemäßigten und Radikalen war gespalten; beide Gruppen waren fast gleichgroß (26 Gemäßigte gegen 25

36

Über Dr. Karl Christian Wilhelm Weinmann und Gottlieb Karl August Lösch (geb. 1799) vgl.

LEEB, Wahlrecht (wie A n m . 16), 710, 708. 37

Über Johann Schickendanz vgl. ebd., 730, 765. Die Zuordnung der Abgeordneten zu den politischen Richtungen sowie die Angaben zu Beruf und Herkunft nach LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16). 38

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Radikale). Zusammen kamen sie der Zahl der Konservativen (53) recht nahe. Die Oppositionellen, welche hier mit den Konservativen für die Regierungsvorlage des Gesetzes über den Bibliotheksbau in München stimmten, kamen aus Franken (16), Altbayern (sechs) und der Pfalz (zwei). Die Abgeordneten konservativer Gesinnung waren vornehmlich Altbayern (29) und Franken (15); einige waren Schwaben (8); einer kam aus der Pfalz. Sie stimmten dem Gesetz zu. Altbayern (35 dafür, zwei dagegen) und Franken (31 dafür, zehn dagegen) haben das Gesetz durchgebracht; Schwaben (neun dagegen und acht dafür) und Pfälzer (fünf dagegen und drei dafür) lehnten das Vorhaben mehrheitlich ab. Über die Redaktion der von den Abgeordneten gewünschten Ergänzungen zum Gesetzestext (Ausschluß von Nachforderungen und Verantwortlichkeit des Ministers) mußte nochmals zwischen den Reichsräten und den Abgeordneten korrespondiert werden. Der Sache nach blieb es aber dabei, daß der Landtag 1834 weitere 200 000 fl. für das Archiv- und Bibliotheksgebäude bewilligt hatte.39 Gärtner arbeitete zügig weiter; er ließ den nördlichen Querbau und den ihm im Süden korrespondierenden Seitenflügel aufführen.40 Der Bau hatte nun die Form eines Hufeisens; er war nach Osten offen. Im Herbst 1837 war dieser Teil unter Dach. Man dachte daran, ihn zu beziehen; jedenfalls ordnete der königliche Bauherr im August 1837 den Umzug des Reichsarchivs in das neue Gebäude an.41 Der Reichsarchivdirektor v. Freyberg sah jedoch die volle Funktionsfähigkeit in den zur Verfügung stehenden Gebäudeteilen noch nicht gegeben; außerdem wollte er die Struktur der Münchener Zentralarchive umgestalten. Er beantragte die Verschiebung des Einzugs und außerdem die Fortsetzung des Baues und die Vollendung des gesamten Gebäudekomplexes. Vorher aber kam auf dem Landtag des Jahres 1837 das Budget für die Finanzperiode 1837/43 zur Beratung. Weder der Bauherr, noch der Architekt, noch das Ministerium wollten im Landtag alle Karten auf den Tisch legen und das Geld für den schon ins Auge gefaßten Weiterbau beantragen. Sie befürchteten die Ablehnung

39 LV Reichsräte 1834, Prot.-Bd. 2, 158-162, 167 f.; LV Abg. 1834, Prot.-Bd. 12, 143-149; Prot.-Bd. 13, 14, 70 f. (Gesetztext im Ständeabschied vom 3. Juli 1834). - Nach Meinung des preußischen Gesandten in München, Graf Dönhoff, war der Landtag von 1834 die bisher am ruhigsten verlaufene Ständeversammlung; das Einveraehmen zwischen Regierung und Kammern wurde durch das Ubereinkommen über die permanente Zivilliste, durch die Bewilligungen für den Festungsbau in Ingolstadt, den Donau-Main-Kanal und schließlich für das Bibliotheksgebäude wesentlich gebessert; s. CHROUST, Gesandtschaftsberichte (wie Anm. 33), Abt. III: Die Berichte der preußischen Gesandten. Bd. II. München 1950, 330, vom 29. 6. 1834. 40 SCHMELLER, T a g e b ü c h e r (wie A n m . 32), 2 1 9 f., zum 15. 6 . 1836; vgl. EGGERT, H a u p t w e r k e (wie A n m . 4 ) , 57; VoLKERT, Hauptstaatsarchiv (wie A n m . 9), 136 f . ; KREBBER, Staatsbibliothek (wie Anm. 5), 2 0 f.

41 Signât Ludwigs I. vom 19. 8. 1837; s. KRAUS, Sígnate Ludwigs I. (wie Anm. 13), Bd. 3, 370, Nr. 460.

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und beantragten deshalb nur einen Teilbetrag für die Beschaffung von Büchergestellen und Urkundenschränken, damit die Inneneinrichtung der Seitenflügel vollendet werden könne. Das sollte 133 000 fl. kosten.42 Der Referent über diesen Teil des Haushaltes, der Abgeordnete Dr. Schwindl, bestätigte dem Innenminister, daß die beiden Seitenflügel ohne Kostenüberschreitung errichtet seien und daß die beantragten Einrichtungskosten mit den Baukosten nichts zu tun hätten, die Anforderung jetzt also gerechtfertigt sei. Die Beträge wären zuverlässig ermittelt (106 000 fl. für die Bibliothek; 27 000 fl. für das Archiv) und sparsam angesetzt. Der Minister möge dafür verantwortlich gemacht werden, daß der Betrag nur für die Einrichtung und „durchaus nicht für weitere Ausdehnung der Baulichkeiten, wozu die Kammer vor der Hand nun nimmermehr die Zustimmung erteilen könnte, verwendet werde". In der Kammerdebatte polemisierte der Abgeordnete Willich (ein Advokat aus Franken thai in der Pfalz) gegen diese Forderung; Regale seien ein integrierter Bestandteil jeden Bibliotheksgebäudes und ihre Kosten deshalb in der Bausumme enthalten. Außerdem sei nicht zu übersehen, daß das Bibliotheksgebäude mit den jetzt bewilligten Mitteln nur zur Hälfte hergestellt sei; der rückwärtige Flügel und der mittlere Verbindungsbau sei noch zu erwarten, so daß das ganze Gebäude mehr als eine Million kosten werde. Dem müsse jetzt durch die Ablehnung des Postulats ein Riegel vorgeschoben werden. Der Ansicht von Willich folgten der Freiherr v. Rotenhan, ein fränkischer Protestant, der sonst meist mit den Regierungsvorlagen einverstanden war, und der oppositionelle Binder, während der sonst der Regierung kritisch gegenüberstehende fränkische Abgeordnete Dr. Hornthal wegen der großen Bedeutung der Bibliothek für das ganze Land und ihrer großen Schätze den Haushaltsansatz befürwortete.43 Die Kammer bewilligte dann nach dem Antrag des Ausschusses die Anforderung für den Innenausbau des Gebäudes. Bemerkenswert ist die im Protokoll der Reichsräteverhandlung festgehaltene Bemerkung, es sei zu bedauern, daß die Regierung keinen Antrag für den Ausbau des Gebäudes, „welches offenbar an Gestalt unvollendet und an Raum wahrscheinlich nur auf kurze Zeit

42 Bericht des Ausschusses der Abgeordnetenkammer: LV Abg. 1837, Beil.-Bd. 9, 427 ff., 448, 459; Diskussion in der Abgeordnetenkammer: LV Abg. 1837, Prot.-Bd. 17, 486-489, 495, 503 f., 541 f., 547, 575, 579; Prot.-Bd. 18, 13, 149, 153; Prot.-Bd. 21, 457 f., 485; Prot.-Bd. 22, 377; Prot.-Bd. 23, 112; Verhandlung in der Reichsratskammer: LV Reichsräte 1837, Beil.-Bd. 2, 157; Übersicht: Repertorium 1837, 67 f. 43 Über Dr. Friedrich Justus Willich (1790-1849), Hermann Freiherr v. Rotenhan (1800-1858) und Dr. Johann Peter v. Homthal vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 774, 687, 721.

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ausreichend ist", gestellt habe.44 Die Gesamtplanung und offensichtlich auch deren Gesamtkosten waren allgemein bekannt. Der König hatte offensichtlich schon im August 1837, als die Landtagsverhandlungen über das Budget von 1837/43 noch nicht abgeschlossen waren, den Plan gefaßt, den Weiterbau des Archiv- und Bibliotheksgebäudes zu betreiben, wenn sich Ersparnisse („Erübrigungen") in der Finanzperiode ergeben sollten. Im Oktober desselben Jahres hatte nun Baron Freyberg43, Direktor des Reichsarchivs, seit 1835 Abgeordneter in der zweiten Kammer, ein dem König nahestehender höherer Beamter, einen Bericht vorgelegt mit der näheren Begründung, wie unzweckmäßig doch der Bezug des neuen Gebäudes durch das Reichsarchiv sei und daß es sich dringend empfehle, den Bau nach der Gesamtplanung, also einschließlich des großen rückwärtigen Längsbaues und des mittleren Querflügels mit dem großen Repräsentationstreppenhaus, zu vollenden. Auch Ludwig I. wollte sofort mit den Vorbereitungen für die Fortführung des Baues im Frühjahr 1838 beginnen und zur Finanzierung Gelder aus den Ersparnissen verwenden. Es sei nicht nötig, bis zum nächsten Landtag zu warten, weil die Kammern gar kein Recht hätten, bei den Einzelheiten der Staatsausgaben mitzureden; es stünde ihnen nur zu, über die Höhe der Steuern zu befinden. Für das Archiv- und Bibliotheksgebäude seien aber neue Steuerforderungen nicht notwendig, so daß man den Landtag nicht fragen müsse. Im übrigen sei der Antrag zum Weiterbau von einem Abgeordneten der Kammer gestellt worden. Ludwig war der Meinung, daß er als König allein, ohne Mitwirkung der Stände, über die sogenannten Erübrigungen verfügen könne. Architekt Gärtner erhielt den Auftrag, einen Zeit- und Kostenplan für die Vollendung des Gebäudes vorzulegen. Der König wünschte, daß die gewölbten Archivräume im Ostflügel zuerst und dann das repräsentative Treppenhaus im Mittelbau hergestellt werden sollten. Den Voranschlag über 568 000 fl. für die zwischen 1837 und 1842 auszuführenden Bauteile nach der Vorgabe des Königs legte Gärtner noch im November 1837 vor. Am 23. November erging das königliche Signât an das Finanzministerium mit der Weisung, den Bau fortzusetzen und aus „den Ersparnissen der zwei letzten Jahre der dritten Finanzperiode" zu bezahlen.44

44 Über die meist kritische Haltung der Reichsratskammer auf dem Landtag von 1837 vgl. OST AD AL, Kammer (wie Anm. 27), 110 ff. Zum Landtag im allgemeinen s. GOLLWITZER, Ludwig I. (wie Anm. 14), 506 ff.; Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 14), Bd. 4/1, 189 ff. 45 Über Maximilian Procop Freiherr v. Freyberg-Eisenberg (1789-1851), Reichsarchivdirektor, Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abgeordneter von 1836-1848, vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 681. Freyberg gehörte bis 1847 zu den engen Vertrauten des Königs. S. auch GÖTSCHMANN, Innenministerium (wie Anm. 14), 2 9 5 - 3 0 2 . 46 Vgl. die Sígnate Ludwigs I. vom 28. 8. 1837, vom 16., 19. und 23. 11. 1837; s. KRAUS, Sígnate Ludwigs I. (wie Anm. 13), Bd. 3, 377, Nr. 486; 409, Nr. 606; 412, Nr. 614; 416, Nr. 627; EGGERT, Hauptwerke (wie Anm. 4), 58 f. - Mit Signât vom 11. 11. 1839 lehnte es Ludwig I. ab,

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Vom Frühjahr 1838 an wurde tüchtig auf der Baustelle gearbeitet, so daß im Herbst 1839 das Richtfest für den Ostflügel begangen wurde und der Mittelbau mit dem Treppenhaus im Rohbau für 1840 terminiert war, wie dies der Planung Gärtners vom Herbst 1837 entsprach. Es konnte den Beteiligten nicht verborgen geblieben sein, daß die Finanzierung dieser großen Maßnahmen über den Titel der „Erübrigungen" nicht problemlos war; denn es stand zu erwarten, daß der nächste Budgetlandtag, der für 1843 anstand, große Schwierigkeiten bei der Steuerbewilligung machen würde, wenn so große Summen nach Erledigung der budgetmäßigen Ausgaben übrigblieben. Außerdem war für jedermanns Auge offenkundig, daß das Gebäude viel größer ausgeführt worden war, als dies mit den ausdrücklich im Landtag als „unüberschreitbar" gekennzeichneten Haushaltbeiträgen möglich gewesen war. Diese Überlegungen führten zu dem Entschluß, dem 1840 zusammentretenden Landtag einen Gesetzentwurf über die abschließende Finanzierung des Archiv- und Bibliotheksgebäudes vorzulegen; damit sollten auch die bisher getätigten Ausgaben genehmigt werden. Ludwig I. ging also von der unnachgiebigen Haltung in der Erübrigungsfrage ab, indem er den Kammern ein Mitspracherecht bei dieser Budgetfrage einräumte; er erwartete offensichtlich als entsprechendes Entgegenkommen die nachträgliche Zustimmung der zweiten Kammer zu einem Bauwerk, gegen das auf drei Landtagen heftig agiert worden war. Der Gesetzentwurf, den der Innenminister v. Abel47 am 5. März 1840 den Abgeordneten vortrug, bestimmte in lapidarer Kürze, daß der nach den Gesetzen von 1831 und 1834 für die Hof- und Staatsbibliothek und das Reichsarchiv begonnene Neubau durch die Herstellung des Mittelbaues und des hinteren Flügels vollendet werden solle. Für Bau und Einrichtung werden 650 000 fl., „unüberschreitbarer Maximalbetrag", festgesetzt; bereits Ausgegebenes wird darauf verrechnet. Die Gelder werden den Erübrigungen der dritten Finanzperiode entnommen.48

331 fl. „Hebwein" (Trinkgeld für die Bauarbeiter anläBlich des Richtfestes) für den rückwärtigen Flügel zu zahlen; denn es handle sich um ein Gebäude, bei dem nur einmal das Richtfest-Trinkgeld anfalle. Sonst könne dies auch bei dem im nächsten Jahr unter Dach kommenden Mittelbau aufs neue gefordert werden; s. ebd., Bd. 4, 134, Nr. 475. 47 Heinz G O L L W I T Z E R , Ein Staatsmann des Vormärz: Karl von Abel 1 7 8 8 - 1 8 5 9 . (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 50.) Göttingen 1 9 9 3 , 2 6 8 - 2 8 1 ; G Ö T S C H M A N N , Innenministerium (wie Anm. 1 4 ) , 2 2 4 - 2 3 5 . 48 Gesetzentwurf mit Begründung: LV Abg. 1 8 4 0 , Beil.-Bd. 1 , 4 9 7 - 5 0 4 ; Verhandlung im Ausschuß am 2 9 . 3 . 1 8 4 0 : LV Abg. 1 8 4 0 , Beil.-Bd. 4 , 4 4 2 - 4 5 7 ; Verhandlung in der Kammer am 1. 4 . 1 8 4 0 : LV Abg. 1 8 4 0 , Prot.-Bd. 5 , 4 1 6 - 4 3 6 ; Ausschußverhandlung der Reichsratskammer: LV Reichsräte 1 8 4 0 , Beil.-Bd. 2 , 2 0 7 - 2 1 5 ; Verhandlung in der Reichsratskammer: LV Reichsräte 1 8 4 0 , Prot.-Bd. 2 , 1 8 4 - 1 9 6 , 2 1 1 ; Gesamtbeschluß beider Kammern: LV Abg. 1 8 4 0 , Prot.-Bd. 7 , 1 0 5 f.; Ständeabschied: LV Abg. 1840, Prot.-Bd. 8, 5, 30 f.; Veröffentlichung: Gesetzblatt 1840, 70; vgl. Repertorium 1 8 4 0 , 2 0 ff. - Über den Landtag vgl. auch GOLLWTTZER, Ludwig I . (wie Anm. 1 4 ) , 621 f.; Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 14), Bd. 4/1, 204 ff.; OST AD AL, Kammer

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Abel begründete diese Finanzanforderung im wesentlichen damit, daß die Planung vom Gesamtumfang der Archiv- und Bibliotheksbestände ausgehe und daß mit den Teilbewilligungen unmöglich der angestrebte Zweck hätte erreicht werden können; „hier stand eine mathematische Unmöglichkeit im Wege". Das sei allgemein bekannt gewesen. Dann stellte er detaillierte Raumberechnungen an, um die vorhandenen 800 000 Bände (ohne 100 000 Doubletten) unterzubringen. Abgesehen davon, daß bei den früheren Beratungen immer nur von 600 000, allenfalls 700 000 Bänden die Rede war, mußten seine Ausführungen über den Aufstellungsraum der Bücher den Abgeordneten als Augenauswischerei erscheinen. Für das Reichsarchiv führte er ins Feld, daß dort eine „sorgfältige, übrigens auch dienstlich notwendige Aktenausscheidung" vorgenommen werden müsse, wodurch die Bestände so anwüchsen, daß das neue Gebäude gleich beim Einzug völlig überfüllt sei. Innen- und Finanzminister seien vor der Schwierigkeit gestanden, Unmögliches nicht bewirken zu können und das Notwendige und Zweckmäßige nach dem „dürren Wortlaut" des Gesetzes nicht bewirken zu dürfen. Die Fortsetzung des Baues sei notwendig gewesen. Diese Notwendigkeit habe die Anordnung und Durchführung der Arbeiten begründet; deswegen übernimmt der Minister die Verantwortung und erbittet von der Kammer für dieses Verhalten die „nöthige Indemnitybill". Abel zögerte also nicht, für die Entscheidung Ludwigs I. vom November 1837 in der Kammer geradezustehen. Das entscheidende Signât hatte der König am 16. November 1837, wenige Tage nach der Ernennung Abels zum Verweser des Ministeriums des Innern niedergeschrieben. Der Vorgänger, Innenminister (Dettingen-Wallerstein, war am 4. November entlassen worden, in erster Linie deswegen, weil er auf dem gerade geschlossenen Landtag in der Budget-Frage und bei den Erübrigungen seine eigene, den Landtag begünstigende Position vertreten hatte und dadurch den Unwillen Ludwigs I. erregte.49 In der zweiten Kammer referierte Graf Butler50 über die vorbereitende Beratung im Ausschuß. Obwohl er als gemäßigt liberal, keineswegs als Anhänger des Innenministers galt, Schloß er sich weitgehend an dessen Argumentation an und bejahte die Größe der Gesamtplanung. Dabei berief er sich auf „Gutachten" des Architekten Gärtner und der Amtsvorstände Lichtenthaler und Freyberg; keinen von ihnen kann man als unparteiischen Gutachter bezeichnen. Er unterließ aber nicht darauf hinzuweisen, daß er schon bei der Ankunft in München vor Beginn des Landtags (am 28. Dezember 1839) das Archiv- und Bibliotheksgebäude vollständig - mit Mittelbau

(wie A n m . 27), 121-128. 49

GOLLWITZ®, Ludwig I. (wie Anm. 14), 507 ff.; Ders., Abel (wie Anm. 47), 174-178. Über Theobald Graf Butler-Cloneburgh auf Haimhausen (1803-1879) vgl. LEEB, Wahlrecht (wie Anm. 16), 6 7 8 . 50

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und rückwärtigem Flügel - unter Dach gesehen habe. Die Fortführung des Baues nach 1837 stelle eine Kompetenzüberschreitung der Minister dar und widerspreche der Verfassung; dadurch werde das Vertrauen zwischen Regierung und Landtag gestört. Denn nach der Konstitution seien die Minister für den genauen Vollzug der Gesetze und für die Einhaltung der Geldbewilligungen verantwortlich; die Stände des Reiches müßten deshalb die Minister des Innern und der Finanzen zur Verantwortung ziehen. Das könne nur durch Verweigerung der Zustimmung zu dem Gesetzentwurf geschehen, den er - der Referent - für sachlich gut halte; mit der Verweigerung werde aber kein guter Zweck verfolgt. Da das Ministerium durch den Antrag auf Indemnität die Zuständigkeit der Stände anerkannt habe und da durch die Gesetzesverletzung ein positiv zu erachtender Zweck erreicht worden sei, beantrage er die Zustimmung der Kammer sowohl in sachlicher wie in formaler Hinsicht. Alle Redner der anschließenden Debatte setzten sich für den Entwurf ein. Sie führten besonders die Bedeutung des Bauwerkes für die Förderung der Wissenschaften ins Feld; sodann spielte eine Rolle, daß mit diesem Fall der Landtag bei der Verwendung der Erübrigungen als kompetent erachtet werde. Das sei ein wichtiger Präzedenzfall und stelle ein bedeutendes Zugeständnis der Regierung dar. So äußerten sich die zur Opposition neigenden Abgeordneten Tafel (katholischer Pfarrer aus der Pfalz) und Bestelmeyer (Kaufmann aus Nürnberg) und auch die als königstreu bekannten protestantischen Franken v. Harleß (Theologe in Erlangen) und Baron Kreß (Gutsbesitzer in Neunhof).51 Der altoppositionelle Abgeordnete Dr. Schwindl, der 1831 und 1834 gegen den Bau agitiert hatte, forderte jetzt seine Kollegen zur Zustimmung für das Gebäude auf, das dem „wichtigsten und schönsten Staatszweck im Interesse der bayerischen Nation geweiht" sei. Außerdem werde glaubhaft versichert, daß keine Nachforderung mehr komme. Da die Kostenüberschreitung durch Erübrigungen finanziert sei, brauche man die Verantwortlichkeit der Minister nicht allzu eng ansetzen. Ironisch erwähnte er die „mit Pracht vereinte Einfachheit der Baulichkeiten und die darin sogar vorherrschende Ökonomie". Die „Stiege" sei allerdings verunglückt. Damit meint er das Prachttreppenhaus, welches den größten Teil des Mittelbaus einnahm.52

51 Über Franz Tafel (1799-1869), Johann Georg Bestelmeyer (1785-1852), Dr. Adolph Ritter v. Harleß (1806-1879), Christoph Wilhelm Karl Freiherr Kreß v. Kressenstein (1775-1856) vgl. L E E B , Wahlrecht (wie Anm. 16), 703, 716, 694, 684. 52 Die imposante Treppe im Mittelbau des Gebäudes führt in das erste Obergeschoß, das Hauptgeschoß der Hofbibliothek; das Publikum durfte sie nicht benutzen. Erst nach Ludwigs I. Abdankung 1848 wurde sie für die Allgemeinheit freigegeben. Vgl. dazu die Tagebucheinträge von S C H M E L L E R , Tagebücher (wie Anm. 32), vom 1. 6. 1843 und vom 13. 1. 1844: ebd., 341, 365 f.; femer H A L L E R , Bayerische Staatsbibliothek (wie Anm. 5), 136 ff.

Bauherr - Architekt - Geldgeber

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In der namentlichen Abstimmung folgten 106 Votanten der Regierungsvorlage. Zehn sprachen sich dagegen aus; davon kamen sechs Abgeordnete aus der Pfalz, zwei aus Schwaben, je einer aus Unterfranken und Oberbayern; fünf waren Kaufleute, vier Bauern und Wirte, einer Gutsbesitzer. Der liberal-demokratischen Opposition wurden nur drei von ihnen zugeordnet, sieben galten als regierungstreu und konservativ, einer wurde als unzuverlässig bezeichnet. Die ablehnenden Votanten gehörten demnach zu den bäuerlich-kleinbürgerlichen Bevölkerungskreisen mit Schwerpunkt in der Pfalz. Die eigentlich liberale Opposition war nur mehr schwach vertreten. Am 4. und am 7. April 1840 beschäftigte sich die Reichsratskammer mit dem Gesetzentwurf, zuerst in den zuständigen Ausschüssen, dann im Plenum. Beide Gremien kamen zu einem positiven Votum. Die Formulierungen über das verfassungswidrige Verhalten der Minister waren anklagend und scharf; der Ton war schärfer als in der Abgeordnetenkammer. Der Ausschußreferent erklärte mit Nachdruck, daß ein beträchtlicher Teil der geforderten Summe ohne Zustimmung der Stände bereits verbraucht sei. Die Nachforderung sei wesentlich höher als die schon bewilligten Teilbeträge. Der jetzige Gesetzentwurf sei von den Ministern als Indemnitybill eingeführt. Diese Bezeichnung aus dem Repräsentativsystem Englands enthält die Erklärung, daß die Stände durch die nachträgliche Genehmigung der bereits verwendeten Gelder dem Vorgriff der Minister die fehlende Gesetzmäßigkeit verleihen sollen. „In der Geschichte unserer Verfassung ist vorliegender Fall der Einzige, nicht der erste, weil ein zweiter nicht erwartet werden darf". Das waren deutliche Worte an die Adresse der Minister; im Plenum fügte der Referent noch hinzu, daß der Gesetzentwurf nicht nur eine „Indemnitybill" für die Minister der Krone sei, sondern daß er auch „unter Aegide eines persönlichen Wunsches Seiner Majestät des Königs an die Stände gebracht worden" sei. Damit war die Ministerschelte der Verfassungswidrigkeit auch auf den König ausgedehnt. Der Referent fuhr fort, daß der Zweck des Gebäudes, die feuersichere Unterbringung von Bibliothek und Archiv mit den Bewilligungen von 1831 und 1834 hätte erreicht werden können. Da es aber der jetzige Finanzzustand Bayerns erlaube, nicht nur diese Minimalforderung zu erfüllen, sondern auch die großen Nationalschätze der Bibliothek und des Archivs als ein würdiges Nationaldenkmal in hinreichend geräumigen Lokalen aufzustellen, sei das Vorgehen der Minister, die die gesamte Architektenplanung realisierten, gerechtfertigt. Außerdem entspreche dies einem persönlichen Wunsch des Monarchen, „die vielfachen glorreichen Denkmäler seiner Regierung durch ein schönes und zweckmäßiges Bibliothek- und Archivgebäude, welches die wichtigsten Schätze der Nation sicher zu bewahren bestimmt ist", zu vermehren. Die „Teutschen, vor allem die Bayern, sind durch ihre Treue, ihre Anhänglichkeit an die

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angestammten Fürsten ausgezeichnet"; sie sind zu jedem Opfer bereit, um den gerechten (d. h. berechtigten) Wünschen ihrer Fürsten entgegenzukommen. Darum trete er - der Referent - für die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf ein. Weitere Debattenredner der Reichsratskammer setzten sich kritisch mit dem Verhalten der früheren und der jetzigen Minister und auch mit den Raumberechnungen für die Bücheraufstellung auseinander; dem Gesetzentwurf stimmten sie zu. Er wurde dann schließlich einstimmig von der ersten Kammer angenommen und nach der königlichen Sanktion im Ständeabschied veröffentlicht. Mit dem Antrag auf die Indemnitäts-Bill der Minister wegen des hohen Überschreitungsbetrages von 650 000 fl. beim Bibliotheksbau beschäftigte sich auch der französische Gesandte; er erwartete von der zweiten Kammer nur einen einfachen Protest; denn sie sei furchtsam und außerordentlich geduldig. Bei den Etatverhandlungen in drei Jahren sei aber eine Steuerverweigerung wegen der hohen Erübrigungen zu erwarten, die die jetzigen Willkürakte ermöglicht hätten. Die erste Kammer nehme zwar eine festere Haltung ein, werde aber auch zustimmen.53 Zu diesem Landtag berichtete Graf Colloredo nach Wien, daß die rigorose Handhabung des Ausschließungsparagraphen durch die Regierung die zweite Kammer ihrer wichtigsten und kenntnisreichsten Mitglieder beraubt hätte, so daß auch das Gesetz über den Bibliotheksausbau durchgegangen sei; dabei hätten vor allem die Gegner der Regierung die erwünschte Gelegenheit gehabt, über die Verwendung der Erübrigungen mitzubestimmen; dies habe die Haltung der Abgeordneten wesentlich geprägt.54 Die Informationen der beiden Geschäftsträger schildern damit zutreffend die Stimmung und das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten und der Reichsräte. Das Gesetz von 1840 über die Vollendung des Archiv- und Bibliothekgebäudes war durch einen Kompromiß zustandegekommen: Der Landtag hatte bei der außergewöhnlich großen Bewilligung von 650 000 fl. für ein einziges Bauvorhaben das Mitspracherecht bei Verwendung der Erübrigungen ausgeübt und damit einen wichtigen Präzedenzfall für die Lösung dieser Finanzverfassungsfrage auf dem nächsten Landtag gewonnen; König und Regierung, Reichsarchiv und Hofbibliothek hatten die Finanzierung des großartigen Gärtner-Baues endgültig gesichert. Der Architekt konnte den Bau zu Ende führen. 1843 waren Bibliothek und Archiv eingezogen.55 Die „Nationalschätze" hatten eine würdige Bleibe gefunden. Mit dem

53

CHROUST, Gesandtschaftsberichte (wie Anm. 33), Abt. I. Bd. IV, 156 ff., vom 12. 3. 1840. Ebd., Abt. II: Die Berichte der österreichischen Gesandten. Bd. III. München 1942, 93 ff., vom 14. 4. 1840. 54

55

SCHMELLER, T a g e b ü c h e r ( w i e A n m . 3 2 ) , 3 3 9 f f . , 3 4 7 ; VOLKERT, H a u p t s t a a t s a r c h i v ( w i e A n m .

9), 138

f.

Bauherr - Architekt - Geldgeber

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königlichen Treppenhaus war ein besonderer Wunsch des Monarchen erfüllt worden. König 5 6 , Regierung und Landtag hatten ein imposantes Denkmal der Wissenschaftsförderung vollendet.

56 Ludwig I. erhöhte auch den Anschaffungsetat der Bibliothek; in diesem Zusammenhang signierte er am 16. Februar 1841: „... Ich allerdings will, daß, wie das Gebäude aller Bibliotheken Deutschlands Vorzüglichstes ist, auch dessen Inhalt es werden soll." S. KRAUS, Sígnate Ludwigs I. (wie Anm. 13), Bd. 4, 433, Nr. 86.

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Die protestantischen Abgeordneten im bayerischen Landtag 1837 Zur Genese konfessioneller Fraktionsbildung in Bayern

Der bekannte Antrag, in dem am 14. Dezember 1842 39 Abgeordnete die Aufhebung der Kniebeugungsordre des Kriegsministeriums vom 14. August 1838 forderten1, formulierte zum erstenmal einen gemeinsamen Protest der bayerischen Protestanten gegen die Unterdrückung durch das Ministerium Karl v. Abels.2 Der Kniebeugestreit, der in einer Vielzahl an Flugschriften und Gutachten seinen literarischen Niederschlag fand3, war der Höhepunkt einer konfessionellen Spaltung Bayerns. Es ist unverkennbar, daß sich die Gegensätze seit den 1830er Jahren verschärft hatten. Symptomatisch dafür ist das Ministerialreskript vom 3. Juli 1836, in dem außerkirchliche Versammlungen der Protestanten einer rigiden Genehmigungspflicht seitens staatlicher Behörden unterworfen wurden.4 Auch Professoren der Universität Erlangen, die sich zur „Erlanger Theologie"5 zusammengeschlossen hatten, wurden mißtrauisch beobachtet.6 Hintergrund für diese Maßnahmen war eine angeblich konstatierte religiöse „Schwärmerei" in den protestantischen Gebieten

1 Der Antrag ist abgedruckt in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten der Ständeversammlung des Königreichs Bayern [im folgenden zitiert: KdA] im Jahre 1843. Bd. 2. München 1843, 103-105; vgl. Heinz GOLLwrrZER, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie. München 1986, bes. 583 ff. 2 Heinz GOLLWITZER, Ein Staatsmann des Vormärz. Karl von Abel 1788-1859. Beamtenaristokratie - monarchisches Prinzip - politischer Katholizismus. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 50.) Göttingen 1993. 3 Ernst DORN, Zur Geschichte der Kniebeugungsfrage und der Prozess des Pfarrers Volkert in Ingolstadt, in: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 5, 1899, 1-37 und 53-75 (mit Quellenund Literaturverzeichnis). 4 Landeskirchliches Archiv Nürnberg [LkAN], Oberkonsistorium München, Nr. 617. 5 Friedrich Wilhelm KANTZENBACH, Die Erlanger Theologie. Grundlinien ihrer Entwicklung im Rahmen der Geschichte der Theologischen Fakultät 1743-1877. München 1960. 6 So wurde ein von den Erlanger Professoren Olshausen, Raumer und Stahl gegründeter Handwerkerverein verboten; Georg DÔLLINGER, Sammlung der im Gebiethe der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehender Verordnungen. Bd. 14/3. München 1838, 941.

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Bayerns, „in zunehmenden Maaße in dem Rezatkreise"7. Ein weiteres Zeichen für den religiösen Konfrontationskurs waren im Jahr 1838 die Gründungen der Periodica „Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland" auf der einen und der „Zeitschrift für Protestantismus und Kirche" auf der anderen Seite. Die Formierung des bayerischen Protestantismus führt zu der Frage, ob und inwieweit sich diese Entwicklung auf politischer Ebene, d. h. im bayerischen Landtag, widergespiegelt hat, vor allem aber, seit wann sich dort Ansätze einer protestantischen Zusammenarbeit nachweisen lassen. Für das Ministerium Abel, also für die Jahre 1837 bis 1847, ist die Einflußnahme auf die protestantische Kirche unbestritten. So konzentriert sich die Betrachtung auf den Landtag des Jahres 1837, die letzte Ständeversammlung, die vor dem Ministerwechsel von Ludwig v. (Dettingen-Wallerstein zu Karl v. Abel tagte. Diesem Landtag kam aufgrund der Tatsache, daß ihm der Haushalt zur Prüfung vorgelegt werden mußte, eine außerordentliche Bedeutung zu. Die prosopographische Erforschung der bayerischen Abgeordneten im Vormärz ist ein historisches Desiderat. Das Hauptproblem liegt darin, daß zu den Parlamentariern von 1837 kaum biographische Daten bekannt sind; Parlamentshandbücher existieren für die frühen bayerischen Landtage nicht. Einige Abgeordneten spielten politisch eine periphere Rolle und sind unbekannt geblieben. Die Protokolle der Landtagsverhandlungen nennen lediglich den Nachnamen und den Beruf.8 Anhand ergänzender Quellen konnten für die Abgeordneten des Landtags 1837 in den meisten Fällen der Vorname und der Wohnort ermittelt werden.' Um die Abgeordneten der Zweiten Kammer biographisch zu erfassen, war der Rückgriff auf kommunale Archive und Pfarrarchive notwendig. Allerdings erschwerten Überlieferungslücken oftmals eine exakte Identifizierung oder machten sie vollends unmöglich. Nach einer Notiz des preußischen Gesandten in München, August Friedrich Hermann Graf v. Dönhoff, befanden sich 1837 in der Zweiten Kammer insgesamt 43 protestantische Abgeordnete.10 Diese Zahl deckt sich nahezu mit eigenen Forschungsergebnissen. Insgesamt gehörten 45 protestantische Abgeordnete dem

7 Bericht des Ministeriums des Innern an das Obelkonsistorium München, 2. 2. 1836; LkAN Oberkonsistorium München, Nr. 617. 8 KdA 1837, Bd. 1, 17-20. 9 Vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [BayHStA], Abt. IV Kriegsarchiv, E 44: Uebersicht der in die zweite Kammer der Stände-Versammlung gewählten Abgeordneten und der nächstfolgenden Ersatzmänner für die Jahre 1837-1843; Simon Josef JANDEBEUR, Die Kammern des Königreichs Bayern seit 1819. Sulzbach 18S8. 10 Anton CHROUST (Bearb.), Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848. Abt. III: Die Berichte der preußischen Gesandten. 5 Bde. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 39-43.) München 1949-51, hier Bd. 2. München 1950, 473.

Die protestantischen Abgeordneten

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Landtag an11; einer von ihnen, der Notar Karl August Köster, schied bereits im März wieder aus. Gemessen an einem Anteil von ca. 28 Prozent an der Gesamtbevölkerung von 4 315 469 Einwohnern12 waren die Protestanten mit über einem Drittel der 132 Abgeordneten leicht überrepräsentiert13, ein Faktum, das für viele bayerische Ständeversammlungen des Vormärzes zu konstatieren ist. Numerisch überproportional vertreten waren die Protestanten in den fünf Ausschüssen der Kammer der Abgeordneten. Von 35 Ausschußmitgliedern stellten sie 17, damit fast die Hälfte. Besonders stark waren sie in den wichtigen Ausschüssen für Gesetzgebung und innere Verwaltung sowie für Staatsschuldentilgung vertreten; in den beiden letzteren waren sie - konfessionell gesehen - sogar in der Mehrheit. Die hohe Zahl der protestantischen Mitglieder in den Ausschüssen muß angesichts der Tatsache überraschen, daß gerade in ihrer Mitte sehr viele Landtagsneulinge waren, die über keinerlei parlamentarische Erfahrung verfügten. Fast 64 Prozent der protestantischen Abgeordneten waren zum erstenmal im Landtag, nur 17 hatten zwei oder mehr Landtagen angehört. Von protestantischer Seite hatten lediglich die Abgeordneten Anns und Wächter sämtlichen Landtagen von 1819 bis 1837 angehört. Es kann also gefolgert werden, daß die Religionszugehörigkeit und die parlamentarische Erfahrung bei den Wahlen in die Ausschüsse kaum eine Rolle spielten. Gefragt war vor allem Sachkompetenz, die den juristisch oder kaufmännisch vorgebildeten Abgeordneten zugebilligt wurde. So wurden von Seiten der Protestanten die Juristen Briegleb, Sand, Stahl, Stockinger und Willich sowie die Kaufleute Bestelmeyer und Rebmann und schließlich der Steuerkontrolleur Mayer in einen Ausschuß delegiert, obwohl sie Landtagsneulinge waren. Hinzu kam später der Hammergutsbesitzer Friedrich Trautner, der nach dem Tode des Königlichen Bergrats Andreas v. Dippel im Juni 1837 in den vierten Ausschuß nachgewählt wurde. Der hohe Anteil der Protestanten in den Ausschüssen war auch eine Folge ihres überdurchschnittlich hohen Bildungsniveaus. Daß die Studierwilligkeit von Protestanten im 19. Jahrhundert höher lag als bei Katholiken, ist eine oft zitierte

11 Aramensdörfer, Anns, Aufseß, Bestelmeyer, Böckh, Briegleb, Dobeneck, Dorn, Gack, Hagen, Harsdorf v. Enderadorf, Hartmann, Heydenreich, Holzschuher, Jakob, Kapp, Kern, Kober, Köster, Laubmann, Leybold, Lösch, Meyer, Ph. Müller, Rebmann, Reck, Reudelhuber, Rotenhan, Rüffershofer, Sand, Schäfer, Schätzler, Schickendanz, Schmidt, Seewald, Sigmund, Städler, Stahl, Stockinger, Stöcker, Tann, Trautner, Wächter, Willich, Zinn. 12 Vgl. Königlich Statistisches Landesamt (Hrsg.), Geschichte der neueren bayerischen Statistik. (Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayera, Bd. 86.) München 1914, 269. Die Zahl bezieht sich auf die Zollabrechnungsbevölkerung, also einschließlich der Einwohner der Zollanschlußgebiete Jungholz und Mittelberg; diese Bevölkerungsermittlung war von 1834 bis 1867 üblich. Vgl. Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 348, 14. 12. 1837, 2781 (4 181 548 Einwohner); Bayerische Landbötin, Nr. 114, 23. 9. 1837 (4 246 788 Einwohner). 13 Im Jahr 1836 lag die Zahl der Protestanten bei 1 170 482; CHROUST, Gesandtschaftsberichte (wie Anm. 10), Bd. III/2, 438; eine Zahl für 1837 liegt nicht vor.

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Feststellung.14 Eine Durchsicht der Universitätsmatrikel ergab, daß rund 35 Prozent der katholischen Abgeordneten eine Hochschule absolviert hatten; demgegenüber kann man bei mehr als 50 Prozent der protestantischen Volksvertreter ein Hochschulstudium nachweisen, davon 80 Prozent in den Fächern Jura oder Theologie. Der hohe Akademikeranteil machte sich während der Landtagsverhandlungen bemerkbar. Die Akademiker bestimmten im wesentlichen die Ausschußarbeit und die Diskussionen der Plenarsitzungen, während der Großteil der Abgeordneten aufgrund mangelnder Qualifikation kaum Anteil nehmen konnte an diffizilen Tagesordnungspunkten, wie an der Beratung des Budgets und des Gesetzes zur Verbesserung der Gerichtsordnung. Gleichzeitig nahmen die Auseinandersetzungen häufig einen grundsätzlichen Charakter an, was eine ausgesprochen langsame Bearbeitung der Gesetzesvorlagen nach sich zog. In der Presse wurden die schleppenden Kammerverhandlungen und die häufige Absenz - wohl ebenfalls ein Zeichen von Desinteresse und Überforderung vieler Parlamentarier - scharf kritisiert.15 Die soziale Homogenität der protestantischen Abgeordneten, ihre Herkunft vorwiegend aus fränkischen und pfälzischen Kreisen, ihre Altersstruktur, ähnliche schulische Sozialisation, persönliche Beziehungen und teilweise Zugehörigkeit zur gleichen Burschenschaft deuten an, daß die protestantischen Abgeordneten des Landtags von 1837 ein hohes Maß einer „corporative identity" besaßen, die sich durch die politische und kulturelle Bedrohung des Protestantismus in Bayern weiter verfestigte. „Es kommen diesmal viele mir Befreundete oder Gleichgesinnte hin", konnte Friedrich Julius Stahl an seinen Jugendfreund Hermann Freiherr v. Rotenhan (1800-1858), ebenfalls Mitglied der Kammer der Abgeordneten, kurz vor Landtagsbeginn schreiben.16 Bereits im Vorfeld des Landtags wurde von protestantischer Seite versucht, eine Art „Programmleitlinie" für die Verhandlungen in der Zweiten Kammer zu formulieren. Ausgangspunkt dieser Bestrebungen waren Professoren der Universität Erlangen, die sich zu dem sogenannten „Dienstagskränzchen" zusammengeschlossen hatten. Mitglieder waren u. a. Ludwig Döderlein, Gottlob Christoph Adolf v. Harleß, Johann Wilhelm Friedrich Höfling, Johann Christian Gottlob Ludwig Krafft, Hermann Olshausen, Karl v. Raumer, Eduard Joseph Schmidtlein und Friedrich Julius Stahl; hinzu kam der Advokat Johann Karl Briegleb, der später Professor in

14 15

Konrad H. JARAUSCH, Deutsche Studenten 1800-1970. Frankfurt am Main 1984, 28. Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 134, 14.5. 1837,1070; Nr. 144,24. 5. 1837, 1151; vgl.

CHROUST, G e s a n d t s c h a f t s b e r i c h t e ( w i e A n m . 10), B d . III/2, 4 4 6 . 16

Olaf KOGLIN, Die Briefe Friedrich Julius Stahls. Diss. phil. Kiel 1975, 164.

Die protestantischen Abgeordneten

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Erlangen wurde.17 Bei ihnen handelte es sich um die führenden Köpfe der „Erlanger Theologie". Aus dem Kreis finden sich 1837 zwei Männer - Stahl und Briegleb als Landtagsabgeordnete wieder. Die in einem Brief des später berühmt gewordenen Staatsrechtslehrers Friedrich Julius Stahl" aufgezählten Leitlinien weisen darauf hin, daB von protestantischer Seite, genauer gesagt von den politisch gemäßigten fränkischen Protestanten, versucht wurde, konfessionelle Themen mit den Landtagsverhandlungen zu verquicken. Inhaltlich sollten ganz global protestantische Interessen gestärkt werden. Ein Hauptanliegen war die finanzielle Besserstellung der Universität Erlangen. Kernpunkte waren die Übernahme der Kosten für das Ephorat an der Hochschule auf den staatlichen Kultusetat und die Abschaffung des Preußischen Landrechts hinsichtlich der Ehescheidungsgesetze. Auf beide Forderungen wird später noch eingegangen werden. Der Weg von einem unverbindlichen Programm hin zu einer organisierten Fraktion war nicht einfach. Mögliche Fraktionsbildungen wurden von der Regierung durch das Instrument der Urlaubsverweigerung für oppositionelle Kandidaten und durch massiven politischen Druck auf gewählte Staatsbedienstete bekämpft; andere antifraktionelle Maßnahmen waren Eingriffe mittels der Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten, die Sitzzuweisung per Losentscheid und die reglementierte Redeordnung." Die Anwesenheit des zuständigen Ministers oder eines Regierungsreferenten beeinträchtigte ein unbefangenes Abstimmungsverhalten zusätzlich. Trotz dieses Maßnahmenbündels bildeten sich bereits zu Beginn des Landtags lose Parlamentariergruppen. Johann Nepomuk Ringseis, der führende Vertreter des katholischen „Görreskreises"20, berichtet von der Konstituierung eines katholischen Zirkels, wobei er notiert: „... den protestantischen Freunden ist es nicht eingefallen, es zu verübeln, thaten sie doch ihrerseits ein gleiches"21. Daß der Fraktionsbildung gerade in der Memoirenliteratur der Parlamentarier so wenig Raum eingeräumt wird, erklärt sich aus dem „Makel des Anstößigen, dem jede Beeinflussung von Abgeordneten in der Öffentlichkeit anhaftetfe]"22. Die Begriffe „Partei" und

17 Oskar VOIGT, Werdegang und Wirksamkeit Friedrich Julius Stahls in Bayern bis zu seiner Berufung nach Berlin 1840. Diss. phil. Marburg 1919, 269 f. 18

KOGLIN, Briefe (wie Anm. 16), 165-167.

19

Helmut KRAMER, Fraktionsbildungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849. (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 7.) Berlin 1968, 17-21. 20 Ludwig BERGSTRÄSSEH, DerGörreskreis im bayerischen Landtag von 1837, in: Oberbayerisches Archiv 56, 1912, 248-266. 21 Emilie RINGSEIS (Hrsg.), Lebenserinnerungen des Dr. Johann Nepomuk von Ringseis. 4 Bde. Regensburg/Amberg 1886-1891, hier Bd. 3, 58. 22

KRAMER, F r a k t i o n s b i l d u n g e n ( w i e A n m . 1 9 ) , 13.

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„Fraktion" waren in den 1830er Jahren noch vorwiegend negativ besetzt und wurden als Organisationsformen von Abgeordneten lange abgelehnt.23 Angesichts der spärlichen Quellenlage zu Fraktionsbildungen am bayerischen Landtag von 1837 liegt es nahe, eventuelle Fraktionen aus dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten abzuleiten. Für eine statistische Auswertung bieten sich generell die Guttmann-Skalierung, ein Parteierfolgsindex und ein Übereinstimmungsindex an, mit denen die Intensität der Beziehungen zwischen den Abstimmungen, die Übereinstimmung einer Gruppe mit dem Mehrheitsbeschluß sowie der Grad der Übereinstimmung einzelner Abgeordneter meßbar sind.24 Diese Verfahren können für die vormärzlichen Landtage in Bayern nicht ohne Vorbehalte angewendet werden. Unter den insgesamt 43 namentlichen Abstimmungen des Landtags von 1837 waren 19 einstimmige Ergebnisse; bei weiteren acht Entscheidungen stimmten so wenige Abgeordnete dagegen, daß nahezu von Einstimmigkeit gesprochen werden kann. Von den verbleibenden 16 Ergebnissen müssen zwei Abstimmungen subtrahiert werden, da sie relativ unwichtige Punkte betrafen oder kleinere Modifizierungen behandelten.25 So verbleiben lediglich 14 Abstimmungsergebnisse, eine Basis, die viel zu schmal ist, um daraus sichere Ergebnisse extrapolieren zu können.26 Methodisch nachteilig wirkt sich bei der Guttmann-Skalierung aus, daß sie auf einem hohen Ideologisierungsgrad der Parlamentarier basiert. Gerade dies war in der Kammer von 1837, im Gegensatz zu den Verhandlungen von 1831, dem Jahr nach der französischen Julirevolution, nicht der Fall.27 Der hohe Anteil einstimmiger Ergebnisse verdeutlicht, daß eine offene Polarisierung selten erfolgte. Eine Kategorisierung im Sinne einer politischen Einordnung der Abgeordneten als konservativ oder liberal, als gouvernemental oder oppositionell, ist ebenfalls problematisch. Die Wahlen zum Landtag waren so sehr im Sinne der Regierung ausgefallen, daß nach einer zeitgenössischen Einschätzung von einer systematischen Opposition nicht die Rede sein konnte.28 Politisch brisante Themen, wie die Frage der Verwendung von

23 Vgl. Wilhelm SCHULZ, Faction, in: Das Staats-Lexikon. Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaft für alle Stände. Bd. 4. Altona 1846, S76-S81 (mit einem Nachtrag Karl v. Rottecks, 581-582). 24 Konrad H. JARAUSCH, Möglichkeiten und Probleme der Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten. Hrsg. v. dems. Düsseldorf 1976, 11-30, hier 17. 25 KdA Bd. 6, 42 und Bd. 12, 151. 26 Mattheisen hatte für seine Untersuchung der Fraktionen der Preußischen Nationalversammlung rund 300 namentliche Abstimmungen zur Verfügung, von denen er 52 für seine Auswertung heranzog. Vgl. Donald J. MATTHEISEN, Die Fraktionen der preußischen Nationalversammlung von 1848, in: Quantifizierung (wie Anm. 24), 149-167, bes. 161. 27 Vgl. Wilhelmine GÖLZ, Der bayerische Landtag 1831. Diss. phil. München 1926. 28 Vgl. CHROUST, Gesandtschaftsberichte (wie Anm. 10), Bd. III/2, 441; ders. (Bearb.), Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848. Abt. II: Die Berichte der österreichischen Gesandten.

Die protestantischen Abgeordneten

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sechs Millionen Gulden Erübrigungen, politisierten zwar die Abgeordneten, ohne aber zu einem systematischen und organisatorischen Zusammenschluß, zu einer markanten Fraktion zu führen.29 Ein Testfall für die Konstituierung einer liberalen Opposition konnte der Antrag des Abgeordneten Willich werden, der im Zusammenhang mit der Bewilligung des Etats für das Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern forderte: „Es möge der k. Staatsregierung gefällig seyn, durch ihren Gesandten auf geeignetem Wege und gehörigen Orts dahin mitzuwirken, daß der verfassungsmäßige Zustand des Königreichs Hannover in seiner Integrität hergestellt werde"30. Der Antrag hatte seinen Hintergrund in der hannoveranischen Verfassungsentwicklung, nachdem König Ernst August das Staatsgrundgesetz aus dem Jahr 1833 für nicht bindend erklärt hatte.31 Damit war eine Kardinalfrage des vormärzlichen Liberalismus, die Bindung des Monarchen an eine Verfassung, angesprochen. In der Landtagsdiskussion kristallisierten sich zwei Argumentationsstränge heraus. Die Befürworter des Antrags - Binder, Stockinger, Hornthal, Lechner, Leybold und Schwindl - argumentierten unter Hinweis auf die Artikel 13 und 54 der Bundesakte, laut denen die Bundesversammlung in Frankfurt über die Einhaltung landständischer Verfassungen zu wachen habe; somit sei eine Instruktion des dortigen bayerischen Gesandten zulässig. Mit dem Recht der Stände, Steuern zu bewilligen, komme ihnen auch das Recht zu, über die Verwendung der Geldmittel mitzusprechen.32 Gegen eine solche Ausweitung des Steuerbewilligungsrechts wandten sich die Abgeordneten Seinsheim, Harsdorf, Stahl, Freyberg, Moy und Rotenhan, indem sie unter Heranziehung des Titels VII § 19 der Bayerischen Verfassungsurkunde (Petitionsrecht der Kammern) eine Einmischung der Kammer in auswärtige Verhältnisse als verfassungswidrig bezeichneten. Die Abstimmung ergab eine klare Zweidrittelmehrheit (85 : 40) zugunsten des Antrags von Willich.33 Eine liberale Grundstimmung der Kammer kann daraus nicht gefolgert werden. Das Abstimmungsergebnis stand

4 Bde. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 35-38.) München 1941, hier Bd. 2, 643 und 647. 29 Vgl. die Diskussion und die Abstimmung über den Antrag Dobeneck, der sich für eine teilweise Verwendung der Erübrigungen zugunsten der Landbauten ausgesprochen hatte; KdA Bd. 14, 235 und 340 ff. Für den Antrag Dobeneck stimmten auch Abgeordnete, die vom Ministerium des Innern und von den zuständigen Kreispräsidenten als regierungsfreundlich eingestuft worden waren; vgl. BayHStA Minn 443S4. 30 KdA Bd. 14, 373. 31 Vgl. Geoffrey MALDEN WILLIS, Emst August, König von Hannover. Hannover 1961, 121-145 und 170-195. 32 33

So die Argumentation des Abgeordneten Stockinger; KdA Bd. 14, 405 f. Vgl. ebd., 450 f.

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in den Verhandlungen zu isoliert und beruhte auf einer momentanen Sympathiewelle zugunsten der Opposition in Hannover.34 Ebenfalls nur eine Abstimmung überdauerte die „Koalition" der Gastwirte und Bierbrauer gegen die Vorlage des Expropriationsgesetzes, durch das der Bau von Eisenbahnen erleichtert werden sollte. Diese zwei Berufsgruppen sahen darin eine Zerstörung des bestehenden Postroutensystems und der Existenzgrundlage vieler Gasthäuser.35 Zusammenfassend läßt sich bisher konstatieren, daß der Landtag von 1837 weder von ideologischen Gruppierungen noch von vereinzelten Interessengruppen auf Dauer bestimmt war. Umso erstaunlicher ist es, daß die konfessionellen Gegensätze viele Kammerverhandlungen und Abstimmungen prägten. Wegscheiden waren auf katholischer Seite die Dotierung von Klöstern und Stiften, auf protestantischer die Erhöhung des Etats für ihre Kultusangelegenheiten. Durch eine bewußte Verzögerungstaktik der Regierung gelangte das Budget zeitlich erst spät an die Kammern. Schon bei der Frage einer staatlichen Dotierung der Klöster und Stifte regten sich im zuständigen Ausschuß, der aus den Abgeordneten Bestelmeyer, Friedrich, Heydenreich, Hornthal, Rauch, Schwindl und Utzschneider bestand, Bedenken. Wenngleich der Ausschuß überwiegend regierungsfreundlich und mit einem Geistlichen (Friedrich) besetzt war, schlug er einstimmig folgende Anträge vor: „Es möge 1. mit Errichtung von neuen oder Wiederherstellung von ehemaligen Klöstern in Bayern aus Staats- oder anderen öffentlichen Mitteln von jetzt an Einhalt geschehen; 2. die Stiftung von neuen Klöstern durch Privatdotationen, gleichfalls von jetzt an, nicht weiter, oder doch nur zu dem im Art. VII des Concordats ausgesprochenen Zwecke der Aushilfe in der Seelsorge und in der Pflege der Kranken bei vollkommener und sicher ausreichender Dotation verstattet" .36 Die von Zeitgenossen als maßvoll empfundene Formulierung37 knüpfte fast wortgetreu an ähnliche Anträge des Landtags von 1831 an38. Die ablehnende Haltung des Ausschusses zur Errichtung und Dotierung von Klöstern war nicht nur für die Regierung überraschend. In der Debatte über die Anträge prallten die konfessionellen Gegensätze vehement aufeinander. Die Abgeordneten, die dem

34 Vgl. die Berichterstattung der Augsburger Allgemeinen Zeitung im Juli 1837 (bes. 18. 7., 20. 7., 22. 7. und 23. 7. 1837). 35 Gegen das Gesetz votierten die Bierbrauer und Gastwirte Ammensdörfer, Bahr, Billmann, Deuringer, Dorn, Erthel, Eser, Hummel, Hutter, Kempter, Körblein, Niedermeyer, Rist und Schadt; KdA Bd. 14, 89-91. 36 KdA Bd. 7, 380. 37 Vgl. CHROUST, Gesandtschaftsberichte (wie Anm. 10), Bd. III/2, 467. 38 Vgl. Rede Johann Peter Hornthals, KdA Bd. 7, 412.

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Görreskreis nahestanden (Freyberg, Moy, Ringseis, Seinsheim, Weinzierl, Weiß und Tischer), sahen in ihren Reden die Prärogative der Krone gefährdet und unterstellten eine bewußte Umgehung der im Konkordat zwischen Bayern und dem Vatikan festgeschriebenen Wiederherstellungspflicht von Klöstern.39 Zum offenen Bruch kam es, als der streng katholische Reichsarchivar Max Procop v. Freyberg-Eisenberg die protestantischen Abgeordneten ermahnte, die Wünsche der Katholiken nicht zu behindern.40 Obwohl die Aufforderung vom Kammerpräsidenten formell gerügt wurde, rief sie bei den Protestanten große Verärgerung hervor. Die Klosterfrage, die eine eindeutige Formierung einer katholischen Gruppierung im Landtag erkennen ließ, führte zu einer Etablierung einer politisch orientierten protestantischen Fraktion. Der protestantische Abgeordnete Johann Sebastian Leybold gab dies in seiner Rede unumwunden zu: „Wir werden daher auch heute schon ... von den meisten protestantischen Mitgliedern für die Anträge des Ausschusses stimmen, und ich glaube zur Rechtfertigung dieser Abstimmung diese offenherzige Erklärung geben zu müssen".41 Unterstützung fanden die protestantischen Abgeordneten bei liberalen Parlamentariern, wie Willich oder Drechsel, die sich in der Debatte gegen eine Vermehrung von Klöstern ausgesprochen hatten.42 So fiel die nichtnamentliche Abstimmung zu den Ausschußanträgen mit 71 : 43 bzw. 76 : 38 deutlich zuungunsten der katholischen Gruppierung aus.43 Je mehr die Protestanten einen katholischen Zusammenschluß im Landtag befürchteten, umso stärker versuchten sie, als Einheit aufzutreten. In den namentlichen Abstimmungen läßt sich diese Polarisierung auch für Fälle erkennen, die keineswegs konfessionell ausgerichtet waren. Beispiele dafür sind die Etatdebatte, wo die Protestanten einen Antrag von Willich befürworteten, der ein genaueres Prüfungsrecht der Kammer hinsichtlich der Staatseinnahmen beinhaltete, die Auseinandersetzung um die Folgekosten der Cholera, wo die Protestanten fast geschlossen einen Antrag von Karl Fürst zu (Dettingen-Wallerstein unterstützten, oder die Debatte um den Bauetat, in der sich die Protestanten einem Antrag Dobenecks anschlossen.44 Gemeinsam abgelehnt wurde ein Antrag auf authentische Erläuterung des Staatsschuldengesetzes, ein Ausschußantrag auf Angleichung des Rezat- und des Donaukreises an den Isarkreis hinsichtlich Bonitierung und Klassifikation von Ackerflächen

39

Vgl. BERGSTRÄSSER, Görreskreis (wie ANM. 20), 255. KdA Bd. 7, 418; ähnlich die Abgeordneten Seinsheim (422), Weinzierl (430) und Ringseis (460). 41 KdA Bd. 7, 462. 42 Ebd., 406-410 und 448-452. 43 Ebd., 490. 44 Vgl. KdA Bd. 6, 42 ff., Bd. 10, 70 ff., Bd. 14, 340 ff. 40

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sowie eine Modifikation Willichs, den Bestand und die Wahl der Gemeinderäte im Rheinkreis betreffend.45 Diese Abstimmungen, bei denen die protestantischen Abgeordneten trotz völlig unterschiedlichen politischen Inhalts bewußt gegen die katholischen Parlamentarier stimmten, verdeutlichen gleichzeitig das Dilemma, in dem sich die Protestanten im Landtag von 1837 befanden. Da sie nur ein Drittel der Sitze innehatten, mußten sie eine sehr deutliche Mehrheit innerhalb der eigenen Konfession finden und auf ein relativ ausgeglichenes Stimmenverhältnis bei den katholischen Abgeordneten hoffen, wollten sie eine Abstimmung in ihrem Sinne entscheiden. Eine einheitliche Linie sämtlicher protestantischer Kammermitglieder war aufgrund unterschiedlicher politischer Vorstellungen nur selten erreichbar. Somit gelang es den Protestanten nur viermal, eine Abstimmung gegen die Mehrheit der Katholiken zu gewinnen.46 Die Dominanz der Katholiken und die Ohnmacht der protestantischen Parlamentarier verschärfte den Gegensatz besonders bei konfessionellen Tagesordnungspunkten. Die Haupttendenz der protestantischen Fraktion war, die protestantische Kirche in Bayern mit ihrem universitären Mittelpunkt Erlangen finanziell zu entlasten und für die Zukunft erhöhte Geldmittel des Staates einzufordern. In diesem Sinne hatte Friedrich Julius Stahl bereits zu Beginn des Landtags, am 3. März 1837, den Antrag gestellt, die Kosten für das Ephorat an der Universität Erlangen auf einen Staatstitel zu übernehmen.47 Wenngleich es sich nur um die unbedeutende Summe von 2250 Gulden pro Jahr handelte, wurde der Antrag von der Kammer, sprich: katholischer Mehrheit, verworfen.48 Ebenso erging es Stahls Mitstreiter Dobeneck, der sich angesichts der Erübrigungen im Fond des protestantischen Kultus für eine Verwendung dieser Gelder noch in der laufenden Finanzperiode einsetzte.49 Bei der Behandlung des Antrags plädierte der katholische Geistliche Leonhard Friedrich dafür, die Erübrigungen im Etat des protestantischen Kultus für beide Konfessionen zu verwenden50; Stahl sah darin eine Begünstigung der katholischen Kirche und beharrte auf einer Trennung der beiden Posten, um „beständig Conflikte unter den Confessionen"51 zu vermeiden. Auch der protestantische Dekan und Pfarrer von Sulzbach, Georg Friedrich Gack, der in Ministerialkreisen als entschiedener Gegner

45

Ebd., Bd. 5, 373 ff., Bd. 16, 139 ff.

46

KdA Bd. 6, 42 ff, Bd. 10, 70, Bd. 16, 139 und Bd. 16, 340.

47

KdA Beilagenbd. 8, 253-260; vgl. KdA Bd. 2, 60-64.

48

KdA Bd. 15, 135. Ebd., Bd. 7, 710. Es handelte sich um den Betrag von rund 24 000 fl., der für den Pensionsfond für protestantische Geistliche verwendet werden sollte. Der Antrag wurde erstmals am 19. Juni 1837 formuliert und am 1. Juli modifiziert; vgl. ebd., Bd. 6, 241, Bd. 7, 698. 50 KdA Bd. 7, 702 f. 51 KdA Bd. 7, 704. 49

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des Oberkonsistoriums und als streng lutherischer Orthodoxer galt, fand bei seinem Vermittlungsversuch, den Etat beider Konfessionen zu erhöhen, keinen Anklang.52 Nach dieser Serie parlamentarischer Niederlagen brachten insgesamt 17 protestantische Abgeordnete53 einen Antrag ein, der eine grundsätzliche finanzielle Besserstellung der protestantischen Kirche in Bayern beinhaltete. Dieser Antrag ist das deutlichste Zeichen für die Formierung eines politischen Protestantismus am bayerischen Landtag 1837. Er war ein letzter Versuch, im Postulat des Etats der Staatsanstalten den Posten für protestantischen Kultus um rund 13 000 Gulden zu erhöhen. Mit dieser, im Vergleich zum Dobeneckschen Antrag maßvollen Forderung hofften die protestantischen Abgeordneten, die offensichtliche Benachteiligung ihrer Konfession abzumildern. Verbittert verwiesen die Abgeordneten darauf, daß die Protestanten zwar rund ein Drittel der bayerischen Bevölkerung stellten, ihnen aber von den im Budgetansatz eingesetzten 1 388 688 Gulden nur 295 672 Gulden, d. h. nur rund 21 Prozent, zugebilligt würden; proportional gesehen müßte ihnen 462 896 Gulden bewilligt werden.54 Gestützt auf die in der Verfassungsurkunde verankerte Gleichstellung beider Kirchen forderten sie verschiedene Zulagen für die einzelnen Dekanate, Visitationsgebühren, Gradation der Konsistorialräte und bessere finanzielle Ausstattung der Konsistorien. Der Antrag hatte wenig Chancen, angenommen zu werden. Die Begutachtung im Ausschuß hatte der schon genannte katholische Pfarrer Friedrich übernommen. In seinem Vorschlag wurde die im Antrag eingesetzte einprozentige Erhöhung nochmals um 4000 Gulden, also auf 9000 Gulden gekürzt.55 Da das Plenum dem Vortrag des Gutachters meist zustimmte, war bereits nach den Ausschußverhandlungen klar, daß die protestantische Fraktion eine schwere Niederlage erwartete. Sie wurde von ihnen umso schmerzlicher empfunden, als im gleichen Vortrag verschiedene Positionen zugunsten katholischer Einrichtungen sogar erhöht wurden - um insgesamt 20 000 Gulden. Zwar unternahm die protestantische Fraktion in den Plenardebatten am 1. September 1837 einen erneuten Vorstoß auf Erhöhung ihres Postens56, doch blieb auch dieser erfolglos.57

52

Vgl. KdA Bd. 15, 139-299 (Sitzung vom 1. 9. 1837). Anns, Bestelmeyer, Böckh, Briegleb, Dobeneck, Gack, Hagen, Hartmann, Kapp, Kern, Müller, Reck, Rüffershofer, Sand, Schätzler, Trautner, Wächter. Zum folgenden vgl. KdA Beilagenbd. 8, 317-326. 54 Ebd., 324. Das Postulat der Regierung betrug 1 355 217 fl., der Ausschuß erhöhte die Summe auf 1 380 119 fl.; KdA Bd. 15, 140. Die im Antrag genannte Zahl bezieht sich auf ein frühes Stadium der Ausschußverhandlungen. 55 KdA Beilagenbd. 8, 334. 56 Antrag Leybold, KdA Bd. 15, 196. 57 Ebd., 297. 53

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Eine weitere Niederlage mußten die protestantischen Abgeordneten bei ihrer Initiative auf Reform der Ehescheidung hinnehmen. Bereits im Vorfeld des Landtags war an Friedrich Julius Stahl von Seiten der „Erlanger Theologie" der Wunsch herangetragen worden, auf die Abschaffung des Preußischen Landrechts in der Ehescheidungsgesetzgebung zu dringen.3* Stahl erklärte sich dazu bereit, obwohl er einer Antragstellung in der Kammer der Reichsräte durch den Präsidenten des Oberkonsistoriums, Karl Friedrich v. Roth, bessere Chancen einräumte.5' Roth unterstützte den Vorstoß nur halbherzig und verzögerte die Einbringung des Antrags, was bei Stahl und den Initiatoren erhebliche Verärgerung hervorrief.60 Schließlich wurde der Antrag durch den Ansbacher Konsistorialrat Karl Freiherr v. Dobeneck am 10. März 1837 in die Kammer der Abgeordneten eingebracht. Der Antrag Dobeneck61 auf „Erlassung eines Gesetzes zur Beschränkung der Ehescheidung bei Protestanten" ging von den verschiedenen Provinzialgesetzen aus, welche die Kriterien, unter denen eine Ehescheidung bei Protestanten möglich war, unterschiedlich regelten. Dabei werde die Ehe - so Dobeneck - lediglich als formaler bürgerlicher Vertrag interpretiert, was zu einer erhöhten Scheidungsrate geführt habe. Konsequenterweise trat Dobeneck für eine Beschränkung der Ehescheidung und für eine Verlagerung der Ehegerichtsbarkeit bei Protestanten von den Justizbehörden auf die Konsistorien ein, da die Einbeziehung von Geistlichen unerläßlich sei. Die Tendenz des Antrags, die Scheidung protestantischer Ehen als konfessionelle und nicht als staatliche Angelegenheit zu verankern, rief nach einer Notiz Friedrich Julius Stahls bei den katholischen Abgeordneten „wütige Ablehnung"62 hervor, die den Antrag als Mißtrauensvotum gegen die katholische Regierung und eine überwiegend katholische Bürokratie und Justiz interpretierten. Stahls Briefe an zwei Mitglieder der „Erlanger Theologie", Johann Christian Gottlob Leberecht Krafft und Karl v. Raumer, geben Aufschluß über die Behandlung des Antrages63; in ihnen wird aber auch deutlich, daß das weitere Vorgehen der Protestanten im Landtag interessanterweise in enger Abstimmung mit dem außerparlamentarischen Kreis der „Erlanger Theologie" erfolgte.

58 KOGLIN, Briefe (wie Anm. 16), 166. Durch die Briefe Stahls sind wir über die Hintergründe des Antrages und das geplante Vorgehen in dieser Sache gut informiert. 59 Ebd. 60

Ebd., 168 und 170.

61

Text in KdA Beilagenbd. 12, 183*-189* (die entsprechenden Seiten sind in dem Beilagenbd. doppelt gezählt, daher die Kennzeichnung mit *). 62

KOGLIN, B r i e f e ( w i e A n m . 16), 1 8 1 .

63

Ebd., 180-184, 187.

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Mit der Begutachtung des Antrags war im ersten Ausschuß Stahl beauftragt worden. Die erste Reaktion der Katholiken hatte deutlich gemacht, daß der Antrag keine Chance hatte, in seiner ursprünglichen Form angenommen zu werden. Stahls Gutachten64 wandelte in Abstimmung mit Krafft und Raumer die Dobenecksche Petition in mehreren Punkten ab. Ganz allgemein sollte der König gebeten werden, eine Angleichung der kirchenrechtlichen Bestimmungen bei der Ehescheidung im rechtsrheinischen Bayern zu schaffen; fallengelassen wurde die Forderung nach Übertragung der Ehescheidungskompetenz auf die Konsistorien. Mit dieser unverfänglicheren Formulierung sollte der katholischen Mehrheit die Zustimmung ermöglicht werden. Als Stahl Mitte Juni 1837 sein Gutachten vorlegte, ließ der Präsident der Kammer der Abgeordneten, Schrenck v. Notzing, durch den Prüfungsausschuß den bereits lithographierten Vortrag unter dem Vorwand zurückhalten, es lägen der Kammer schon zu viele Anträge vor.65 Stahl konnte zwar die Verteilung an die Kammermitglieder erzwingen, doch fand eine Debatte darüber nicht mehr statt.66 Zusammenfassung Die Fraktion der Protestanten formierte sich 1837 schon zu Beginn des Landtags; ihre Wurzel hatte sie in dem orthodox lutherisch gesinnten Kreis der „Erlanger Theologie". Zur „Fraktion" sind etwa die Hälfte der insgesamt 43 Protestanten zu zählen. Sie stimmten auch in nichtkonfessionellen Fragen meist geschlossen ab, obwohl es zwischen ihren Mitgliedern durchaus Meinungsverschiedenheiten gab, wie die Behandlung der Ehescheidungsfrage zeigt. Im allgemeinen blieb die protestantische Fraktion personell konstant. Im Zentrum standen die Abgeordneten Briegleb, Dobeneck, Rotenhan und Stahl. Sie sind als politisch gemäßigte Abgeordnete zu bezeichnen (Beispiel: Diskussion um die hannoveranische Verfassungsangelegenheit). Die Grundlage des engeren Zusammenschlusses bildete die persönliche Freundschaft zwischen den vier Parlamentariern, besonders zwischen Rotenhan67 und Stahl. Briegleb, Rotenhan und Stahl hatten gemeinsam in Erlangen Jura studiert und waren Mitglieder der gleichen Burschenschaft gewesen.68 Erweitert wurde der Kreis

64

KdA Beilagenbd. 12, 181-182.

65

KOGLIN, Briefe (wie A n m . 16), 184.

66

Ebd. Stahl wurde zugebilligt, in einer Sitzung sein Gutachten zu begründen; KdA Bd. 18, 296 ff. 67 Werner UHDE, Hermann Freiherr von Rotenhan. Eine politische Biographie. (Münchener Historische Abhandlungen, Abt. I, Bd. 3.) München 1933. 68 Vgl. Emst HÖHNE, Die Bubenreuther. Geschichte einer deutschen Burschenschaft. Erlangen 1936.

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durch die beiden evangelischen Geistlichen Böckh und Kapp, die der antirationalistisch gesinnten „Erlanger Theologie" nahestanden, zu der sich auch Briegleb und Stahl bekannten. Zum engeren Kreis der protestantischen Fraktion gehörten Anns, Aufseß, Hagen, Harsdorf und Holzschuher. Unter diesen elf Abgeordneten ist ein auffälliger Übereinstimmungsgrad konstatierbar, wobei die Tendenz ihres Abstimmungsverhaltens als ausgesprochen konservativ bezeichnet werden kann. Die zentrale Person des protestantischen Kreises war zweifelsohne der später berühmt gewordene Staats- und Kirchenrechtslehrer Friedrich Julius Stahl, der mit seinem Werk „Die Philosophie des Rechts" zum Programmatiker einer christlichkonservativen Staatsauffassung aufgerückt war.69 Analog zur Gepflogenheit, Fraktionen nach dem Tagungslokal oder nach der führenden Persönlichkeit zu benennen, müßte die protestantische Fraktion als „Fraktion Stahl" bezeichnet werden. Stahls dominierende Rolle wurde verstärkt durch die Tatsache, daß über ihn die Kontakte zum Kreis der „Erlanger Theologie" liefen. Die enge Verknüpfung zwischen parlamentarischer Fraktion und außerparlamentarischer Basis ist eine bemerkenswerte Tatsache für die Formierung des politischen Protestantismus in Bayern. Etwas überspitzt könnte man die „Fraktion Stahl" als verlängerten politischen Arm der „Erlanger Theologie" sehen, die mit ihrer antirationalistischen Grundeinstellung die ideologische Substanz für die Fraktionsbildung lieferte. Am Beispiel der Behandlung des Antrags von Dobeneck hinsichtlich der Ehescheidung ist die Zusammenarbeit deutlich nachvollziehbar. In diesem Beziehungsgeflecht kam dem Erlanger Professorenkreis um Harleß, Krafft und Raumer eine gesteigerte politische Bedeutung zu. Diese Tradition setzte sich in den folgenden Landtagen fort, wo Adolf v. Harleß70 Friedrich Julius Stahl als Vertreter der Universität Erlangen ablöste. Mit Harleß und Stahl sind zwei herausragende Vertreter des bayerischen Protestantismus in den Jahren von 1837 bis 1845 genannt. Für beide gehörten religiöse Erneuerungsbewegung und politisches Engagement eng zusammen. Beide wurden wegen ihrer politischen Aktivitäten vom Bannstrahl des Königs und des Ministeriums Abel getroffen. Stahl wurde sofort nach Schluß des Landtages mit einer Rückstufung seiner Professur bestraft, indem sein Aufgabengebiet auf die Lehre des Zivilprozes-

69 Zur politischen Tätigkeit Stahls vgl. VOIGT (wie Anm. 17); Gerhard MASUR, Friedrich Julius Stahl. Geschichte seines Lebens. Aufstieg und Entfaltung 1802-1840. Berlin 1930; Hanns-Jürgen WIEG AND, Das Frühwerk Friedrich Julius Stahls und dessen Bedeutung für den Beginn seiner Wirksamkeit in Preußen. 3 Bde. Diss. phil. (masch.) Heidelberg 1976; Wilhelm FÜSSL, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 33.) München 1988. 70 Zu Harleß: Neue Deutsche Biographie. Bd. 7, 680; Theodor HECKEL, Adolf von Harleß. Theologie und Kirchenpolitik eines lutherischen Bischofs in Bayern. München 1933.

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ses eingeschränkt wurde.71 Harleß wurde acht Jahre später als Konsistorialrat nach Bayreuth versetzt, da so die Möglichkeit bestand, ihm als staatlichen Beamten den Eintritt in die Kammer zu verweigern. Mit dem Erstarken des Katholizismus ist eine der Bedingungen umschrieben, warum es der protestantischen Fraktion in der Kammer der Abgeordneten weder 1837 noch 1840 und 1843 gelang, entscheidendes politisches Gewicht zu gewinnen. Zu sehr war König Ludwig I. katholischem Denken verhaftet; hinzu kam seine oft schematisierte Gleichsetzung von Protestantismus und Liberalismus. Ein weiteres Kriterium für die Erfolglosigkeit war die zahlenmäßige Unterlegenheit der Protestanten, die virulente politische Erfolge verhinderte. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß es innerhalb der protestantischen Abgeordnetengruppe erhebliche politische und theologische Differenzen gab. So blieb die „Fraktion Stahl" 1837 letztlich bedeutungslos. Hinzu kommt, daß sich die Aktivitäten der „Fraktion Stahl" auf die Kammer der Abgeordneten beschränkten. Zu den protestantischen Mitgliedern in der Kammer der Reichsräte bestanden, soweit sich dies anhand der Quellen beurteilen läßt, kaum Kontakte. Vielleicht liegt ein Grund in der Person des Präsidenten des Oberkonsistoriums, v. Roth72, der 1837 und später 1843 mehrfach in der Kammer der Reichsräte gegen Anträge der protestantischen Gruppierung aus der Kammer der Abgeordneten stimmte. Die Folge war, daß sich die „Fraktion Stahl" nicht annähernd gegen die zahlenmäßig etwa gleich starke Gruppe des ultramontanen Katholizismus um Moy, Seinsheim und Ringseis durchsetzen konnte. Auf der anderen Seite muß das Wirken der „Fraktion Stahl" durchaus positiv gewürdigt werden. Zum erstenmal formierte sich am bayerischen Landtag eine protestantische Gruppe, die in einer Vielzahl von Abstimmungen eine gemeinsame Position bezog. Auslöser für die Fraktionsbildung waren die Angriffe der Ultramontanen und die gemeinschaftlich artikulierten Interessen der protestantischen Kirche Bayerns. Mit der „Fraktion Stahl" manifestierte sich 1837 ein politisch organisierter Protestantismus, der in den folgenden Jahren trotz personeller Veränderungen eine Konstante in den Landtagsverhandlungen bildete.

71 BayHStA MInn 23589 (Personalakte Stahls). Hermann Rotenhan berichtete an Julius Rotenhan vom 29. 9. 1837: „Denke Dir, der Finanzminister muBte aus allerhöchsten Auftrage den armen Stahl privatim ausputzen über sein Benehmen beim Budget und ihm namentlich bemerken, daß die Kammer sich erlaubt babe, die Einnahmen höher anzuschlagen, als das Regierungsbudget es getan, verwundere ihn nicht, daß aber ein Staatsrechtslehrer sich dieses erlaubt, sei ihm umso auffallender Archiv der Freiherren von Rotenhan, Briefwechsel Hermann und Julius von Rotenhan. Bd. 7, 96. GOLLwrrZER, Staatsmann (wie Anm. 2), 413, sieht für einen Zusammenhang zwischen der Maßregelung Stahls und der Bekämpfung des politisch werdenden Protestantismus keinen Beweis, schließt aber eine solche „Nebenabsicht" nicht aus. 72 Vgl. Friedrich Wilhelm KANTZENBACH, Protestantische Pfarrer in Politik und Gesellschaft der bayerischen Vormärzzeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 39, 1976, 171-200, bes. 181; GOLLWTTZER, Ludwig I. (wie Anm. 1), 588 ff.

Mitarbeiter und Herausgeber Dieter ALBRECHT, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Regensburg; Sekretär der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Karl Otmar Freiherr von ARETIN, emeritierter Professor für Neuere Geschichte, Technische Hochschule Darmstadt; ehemaliger Direktor des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz Sabine ARNDT-BAEREND, München Helmut BERDING, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Gießen Walter DEMEL, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität der Bundeswehr, München Roger DUFRAISSE, emeritierter Professor für Deutsche Geschichtsschreibung der Neuzeit, École Pratique des Hautes Études, Paris Elisabeth FEHRENBACH, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Saarbrücken Wilhelm FÜSSL, Leiter der Archive des Deutschen Museums, München Lothar GALL, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Frankfurt am Main Heinz GOLLWITZER, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Münster Ludwig HAMMERMAYER, pensionierter Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität München Manfred HÖRNER, Wissenschaftlicher Angestellter, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Cornelia JAHN, Wissenschaftliche Angestellte, Bayerische Staatsbibliothek, München

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