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German Pages 374 Year 2023
Gaul Aktuelles Arbeitsrecht Band 1/2023
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Band 1/2023
Aktuelles Arbeitsrecht Herausgegeben von
Prof. Dr. Björn Gaul Bearbeitet von
Dietrich Boewer Rechtsanwalt, Vorsitzender Richter am LAG Düsseldorf a.D.
Prof. Dr. Björn Gaul Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln
Zitierempfehlung: Bearbeiter in Gaul, AktuellAR 2023, S. ...
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42713-9 ©2023 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung nach einem Entwurf von: Jan P. Lichtenford Druck und Verarbeitung: Stückle, Ettenheim Printed in Germany
Vorwort Das erste Halbjahr 2023 war zunächst einmal durch die letzten Arbeiten am Hinweisgeberschutzgesetz geprägt, das wohl (endlich) im Juni/Juli in Kraft treten wird. Wichtig ist, bestehende Regelungen unter rechtzeitiger Berücksichtigung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6 BetrVG anzupassen. Weiterhin stehen Veränderungen durch das Recht auf Partnerfreistellung („Vaterschaftsurlaub“) sowie Änderungen bei der Fachkräftezuwanderung bevor. Die Neuregelungen im Aufenthaltsrecht sollen helfen, dem Fachkräftemangel in Deutschland entgegenzuwirken, mit dem wir uns auch unter Berücksichtigung der Veränderungen durch die weiter fortschreitende Digitalisierung und die damit verbundene Veränderung der Arbeitsplätze unter verschiedenen Aspekten befasst haben. Bei Restrukturierungsvorhaben ist es wichtig, die Veränderungen im Umwandlungsrecht sowie die Einschränkungen durch die Regelungen zur Strom- und Gaspreisbremse im Auge zu behalten, die Regelungen zur Arbeitsplatzerhaltung sowie Boni- und Dividendenverbote erforderlich machen können. Eine gesetzliche Neuregelung zur Arbeitszeiterfassung ist noch nicht erfolgt. Der aktuelle Gesetzentwurf ist unzureichend. Er will eine Pflicht zur kalendertäglichen elektronischen Arbeitszeiterfassung festlegen und Ausnahmen nur durch Tarifvertrag oder aufgrund Tarifvertrags durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung zulassen. Das berücksichtigt nicht, dass ein Großteil der Arbeitnehmer in Vertrauensarbeitszeit heute keine Tarifbindung haben und/oder in Unternehmen ohne Betriebsrat tätig sind. Hier müssen Nachbesserungen erfolgen, die den übergreifenden Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an einer selbstbestimmten Arbeitszeit Rechnung tragen. Der nach wie vor bestehende Gender-Pay-Gap rückt auf vielen Ebenen in den Mittelpunkt der Diskussion. Dabei geht es nicht nur um die neue Richtlinie zur Transparenz bei der Durchsetzung des Anspruchs auf gleiches Entgelt. Weitergehende Veränderungen ergeben sich durch neue Überlegungen des BAG sowie des Generalanwalts des EuGH zur Vertragsfreiheit bei Verhandlungen mit Bewerberinnen und Bewerbern sowie zur Gestaltungsfreiheit von Überstunden- und Mehrarbeitszuschlägen bei Teilzeitbeschäftigten. Erhebliche Bedeutung hat der Umstand, dass der EuGH besondere Regelungen zum Datenschutzrecht im Beschäftigungsverhältnis nur noch für wirksam hält, wenn die jeweils in Rede stehenden Vorschriften spezifische Regelungen enthalten, die den Besonderheiten bei der Begründung, Durchführung und Beendigung dieser Vertragsverhältnisse Rechnung tragen. Das trifft zwar auf Betriebsvereinbarungen in der Regel zu. Gesetzliche VorV
Vorwort
schriften, die – wie § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG – aber nur die allgemeinen Grundsätze aus Art. 88 DSGVO wiederholen, müssen unangewandt bleiben. Hier ist es erforderlich, die Wirksamkeit der Datenverarbeitung auf der Grundlage allgemeiner Regelungen, insbesondere also aus Art. 5, 6, 9 DSGVO, zu überprüfen und ggf. anzupassen. Das gilt auch für prozessuale Auseinandersetzungen oder die Beteiligung des Betriebsrats. Diese Vorgaben wird man auch im Auge behalten müssen, wenn Arbeitnehmer in ihrer Freizeit angesprochen werden, um sie in Kenntnis über Veränderungen in Bezug auf künftige Arbeitseinsätze zu versetzen. Die Rechtsprechung diskutiert hier Schranken durch das „Recht auf Unerreichbarkeit“. Im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung dürften sich durch neue Vorgaben des EuGH zusätzliche Anforderungen an eine wirksame Abweichung vom Equal-Pay- und Equal-Treatment-Gebot durch Tarifvertrag ergeben. Wenn diesen Anforderungen Rechnung getragen wird, dürfte eine Kostensteigerung nicht vermeidbar sein. Ob und ggf. wann dies der Fall ist, hängt vom BAG ab, das schon im Mai darüber entscheiden will. Das Kollektivarbeitsrechts ist nicht nur durch Klarstellungen des BAG zu den tarifvertraglichen Regelungen zu Nachtarbeitszuschlägen gekennzeichnet, die erwartungsgemäß gebilligt worden sind. Von Bedeutung sind auch die Feststellungen des BGH zu den strafrechtlichen Auswirkungen einer fehlerhaften Festsetzung der Vergütung von Betriebsratsmitgliedern. Sie machen noch einmal deutlich, dass die Praxis gut daran tut, die strengen Regelungen in §§ 37, 78 BetrVG und ihre Konkretisierung durch das BAG einzuhalten. Neben weiteren Feststellungen des BAG zu einer wirksamen Beteiligung des Betriebsrats bei Einstellungen oder Versetzungen erscheint es außerdem wichtig, die neue Rechtsprechung zu den Gestaltungsgrenzen bei Höchstbetragsklauseln in Sozialplänen zu beachten. Sie dürfen keine Anwendung finden bei Klageverzichtsprämien sowie Abfindungszuschlägen wegen einer Schwerbehinderung. Auch in diesem Frühjahr gilt ein besonderer Dank Dietrich Boewer (Boe), der erneut in außerordentlich präziser Weise die aktuelle Rechtsprechung bewertet und daraus resultierende Folgen für die Betriebspraxis aufgezeigt hat. Ebenso danke ich den Kolleginnen und Kollegen Julia Tänzler-Motzek (Tä-Mo), Kai Roters (Ro), Dr. Mario Brungs (Br) sowie Anna Maria Miklaszewska, Jeremiah Reuter, Christin Rögels, Ajna Soeprapto und Frau Silvia Gwozdz für ihre Hilfe bei der fristgerechten Erstellung dieser Zusammenfassung der Rechtsentwicklung im Arbeits- und Sozialversicherungsrecht. Köln, im Mai 2023
VI
Björn Gaul (Ga)
Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort............................................................................. ............................. V Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. XV
A.
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland ................................ 1
1.
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie ........................... 1 a) b) c) d) e) f) g) h)
Sachlicher Geltungsbereich ........................................................... 2 Persönlicher Anwendungsbereich ................................................. 5 Widerspruch zu Regelungen des GeschGehG .............................. 6 Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung .................... 8 Einbeziehung anonymer Meldungen ............................................ 9 Kennzeichnung der externen Meldestellen ................................. 10 Verhältnis zwischen externer Meldung und Offenlegung ........... 11 Verhältnis zwischen Hinweisgeberschutz und Datenschutz ................................................................................. 12 i) Zulassung konzernbezogener Meldestellen ................................ 13 j) Verbot von Repressalien – Beweislastumkehr ............................ 13 k) Schutz betroffener Personen ....................................................... 14 l) Verbot abweichender Vereinbarungen......................................... 16 m) Inkrafttreten und Übergangsregelung ......................................... 16 n) Fazit ............................................................................................. 16 2.
Gesetzliche Regelungen zur Umsetzung unionsrechtlicher Regelungen zu grenzüberschreitenden Umwandlungen .................... 17 a) Unternehmensmitbestimmung bei grenzüberschreitender Umwandlung ............................................................................... 18 b) Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie ................... 21 c) Fazit ............................................................................................. 23 VII
Inhaltsverzeichnis
3.
Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ........................................................................ 24
4.
Anspruch auf Partnerfreistellung nach einer Entbindung .................. 25
5.
Erneute Anpassung und Verlängerung der Regelungen zur Kurzarbeit ........................................................................................... 27
6.
Referentenentwurf zur Arbeitszeiterfassung und behördliche Umsetzung der Dokumentationspflicht ............................................. 28
7.
Neuregelungen zur Erleichterung eines Zugangs ausländischer Fachkräfte .................................................................... 31 a) Chancen-Aufenthaltsrecht ........................................................... 31 b) Erwerbsmigration ........................................................................ 32
8.
Kein Aufschub für das Inkrafttreten des LkSG .................................. 37
9.
Aufhebung der Corona-Arbeitsschutzverordnung ............................. 38
10.
Gesetzliche Vorgaben für die Personalausstattung in Krankenhäusern.................................................................................. 39
11.
Anhebung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung ................... 40
12.
Verlängerung der EnSikuMaV ........................................................... 43
13.
ChatGPT und die Zukunft der Arbeit ................................................. 43
14.
Aktuelle Entwicklungen in der Leiharbeit ......................................... 45
B.
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht ............ 47
1.
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung .............................................................................. 47 a) Ausgangssituation ....................................................................... 47 b) Richtlinie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ............................ 50 c) Richtlinie zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Männern und Frauen in den Organen börsennotierter Gesellschaften .................................................... 57 d) Richtlinie über Standards für Gleichstellungsstellen .................. 61
2.
Richtlinie über angemessene Mindestlöhne ....................................... 62
3.
Unionsrechtliche Regelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen .......................... 65
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.
Stand der Umsetzung des EU-US Data Privacy Framework ............. 68
C.
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag ............................... 71
1.
Interne Personalentwicklung als Antwort auf den Fachkräftemangel ............................................................................... 71 a) Ausgangssituation ....................................................................... 71 b) Festlegung der zukünftigen Anforderungsprofile ....................... 72 c) Kennzeichnung unternehmensspezifischer Maßnahmen der Personalentwicklung ............................................................. 73 d) Zuordnung der Arbeitnehmer in der Soll-Struktur...................... 75
2.
Aktuelle Rechtsprechung zur Diskriminierung im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens .............................................................. 75
3.
Schadensersatzanspruch bei der Verletzung von Hinweispflichten nach dem NachwG ................................................ 77
4.
Versetzung ins Ausland kraft arbeitgeberseitigem Direktionsrecht ................................................................................... 81
5.
Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung ................... 85 a) Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werk- bzw. Dienstvertrag ............................................................ 85 b) Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer ............................................................ 89 c) Zulässigkeit und Grenzen einer tarifvertraglichen Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz ..................................... 96
6.
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz ............... 105 a) Weitere Klarstellungen zum Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO ......................................................................... 105 b) Schranken einer datenschutzrechtlichen Rechtfertigung durch Betriebsvereinbarung ...................................................... 108 c) Datenschutzrechtliche Zulässigkeit einer ständigen (digitalen) Mitarbeiterkontrolle im Logistikbetrieb .................. 118
7.
Gleichbehandlung: Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers ............. 119
8.
Workation: Außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtiger Tätigkeit im Ausland .............................................. 125
IX
Inhaltsverzeichnis
D.
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub .......................................... 131
1.
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit ........................................................................................ 131 a) Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auch ohne Änderung des ArbZG ............. 132 b) Inhaltliche und formale Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Arbeitszeiterfassung ............................. 136 c) Zulässigkeit einer Opt-in- bzw. Opt-out-Regelung ................... 139 d) Gesetzgeberischer Spielraum in Bezug auf die Vertrauensarbeitszeit ................................................................. 140 e) Unternehmerische Risiken bei einer (vorübergehenden) Fortführung des Verzichts auf Arbeitszeiterfassung ................. 142 f) Fazit ........................................................................................... 148
2.
Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit ............................................................................... 148 a) Ausgangssituation ..................................................................... 148 b) Sachverhalte der Entscheidungen des LAG Thüringen und des LAG Schleswig-Holstein ............................................. 149 c) Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Herausgabe der privaten Mobiltelefonnummer .................................................. 152 d) Pflicht des Arbeitnehmers zur Entgegennahme von Nachrichten des Arbeitgebers während der Freizeit ................. 155 e) Entgegennahme von Weisungen des Arbeitgebers als Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne .......................... 158 f) Fazit ........................................................................................... 159
3.
Geschlechtsbezogene Entgeltdiskriminierung: Gleichbehandlung und Entschädigung............................................. 160
4.
Anspruch auf Lohngleichheit bei geringfügiger Beschäftigung ................................................................................... 166
5.
Nochmals: Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter bei Überstunden- und Mehrarbeitszuschlägen ....................................... 169
6.
Unzulässigkeit eines „Hypotax-Verfahrens“ bei Auslandsentsendungen im tarifgebundenen Unternehmen .............. 173
7.
Verjährung oder Verfall des Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruchs ............................................................ 178
X
Inhaltsverzeichnis
a) Verjährung des Urlaubsanspruchs ............................................. 178 b) Verjährung des Urlaubsabgeltungsanspruchs............................ 180 c) Urlaubsabgeltung – tarifvertragliche Ausschlussfrist ............... 185 8.
Verfall des Urlaubsanspruchs bei langandauernder Erkrankung ....................................................................................... 187
E.
Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags ............................................ 191
1.
Weitere Klarstellungen des BAG zur Massenentlassung nach § 17 KSchG ...................................................................................... 191 a) b) c) d) e) f)
Ausgangssituation ..................................................................... 191 Nachkündigung ist keine Widerholungskündigung .................. 191 Der Betrieb i. S. d. § 17 Abs. 1 KSchG..................................... 192 Wesentliche Aspekte des Konsultationsverfahrens ................... 194 Beendigung des Konsultationsverfahrens ................................. 195 Weiterleitung einer Kopie der Betriebsratsinformationen an die Agentur für Arbeit........................................................... 196 g) Klarstellungen zur Massenentlassungsanzeige ......................... 197 h) Fazit ........................................................................................... 198 2.
Berücksichtigung der Rentennähe im Rahmen der Sozialauswahl ................................................................................... 198
3.
Beginn des Sonderkündigungsschutzes bei Schwangerschaft ......... 201
4.
Betriebsratsanhörung bei Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz.................................................................. 208
5.
Begründung eines Auflösungsantrags nach §§ 9, 10 KSchG .......... 212
6.
Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess ................................................................ 217
7.
Arbeitnehmerdatenschutz im Kündigungsschutzprozess ................ 226
F.
Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags ........................................................................ 231
1.
Betriebliche Altersversorgung: Anpassungsprüfung bei Tochtergesellschaft im Konzern ....................................................... 231
XI
Inhaltsverzeichnis
2.
Gestaltungschranken beim Personalrabatt als betriebliche Altersversorgung .............................................................................. 235
3.
Zulässigkeit eines Einmalkapitalbetrags anstelle monatlicher Betriebsrente .................................................................................... 239
G.
Tarifrecht........................................................................................ 243
1.
Gewerkschaftlicher Unterlassungsanspruch im tarifpluralen Betrieb .............................................................................................. 243
2.
Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Differenzierung beim Nachtarbeitszuschlag........................................................................ 245
H.
Betriebsverfassung und Mitbestimmung ................................ 251
1.
Klarstellungen zur Strafbarkeit bei fehlerhafter Betriebsratsvergütung ...................................................................... 251 a) b) c) d) e)
Sachverhalt ................................................................................ 251 Wesentliche Leitsätze des BGH ................................................ 252 Beweiswürdigung zum Vorsatz der Angeklagten ..................... 256 Vorgaben des BGH für die erneute Verhandlung ...................... 257 Empfehlungen für die betriebspraktische Umsetzung .............. 258
2.
Abberufung des Datenschutzbeauftragten wegen des gleichzeitigen Betriebsratsvorsitzes ................................................. 259
3.
Auskunftsanspruch des Betriebsrats beim Einsatz von Fremdpersonal .................................................................................. 263
4.
Mitbestimmung bei der vorzeitigen Vorlage von AUBescheinigungen bzw. Feststellung des Bestehens einer Arbeitsunfähigkeit ............................................................................ 265
5.
Aktuelles zur Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG ........ 269 a) Systematik der Beteiligung nach § 99 BetrVG ......................... 269 b) Verpflichtung zur Rücknahme einer Personalmaßnahme bei fehlender Beteiligung nach § 99 BetrVG ............................ 270 c) Digitale Übermittlung von Bewerbungsunterlagen .................. 274
6.
Arbeitnehmerlose SE – Nachverhandlungspflicht bei wirtschaftlicher Neugründung? ........................................................ 277 a) Die Vorrats-SE........................................................................... 277
XII
Inhaltsverzeichnis
b) Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens? ............... 277 c) Keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bei Einsatz einer Vorrats-SE als Komplementärin einer KG ............................................................................................. 278 d) Unionsrechtliche Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens? ............................................................ 281 e) Ausblick und Auswirkungen für die Praxis .............................. 283 7.
Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Einführung agiler Arbeit................................................................................................ 284
I.
Betriebsänderung und Betriebsübergang ............................... 287
1.
Digitalisierung als Betriebsänderung ............................................... 287 a) Erscheinungsformen der Digitalisierung .................................. 287 b) Vorliegen einer Betriebsänderung ............................................. 288 c) Rahmeninteressenausgleich und Rahmensozialplan als Grundlage einer langfristigen Transformation? ........................ 290 d) Qualifizierung statt Personalabbau ........................................... 292
2.
Höchstbegrenzungsklausel: Keine Einbeziehung eines Schwerbehindertenzuschlags ........................................................... 294 a) Zulässigkeit einer Klageverzichtsprämie .................................. 294 b) Zulässigkeit einer Höchstbetragsklausel ................................... 295 c) Keine Einbeziehung der Klageverzichtsprämie in die Höchstbetragsklausel................................................................. 296 d) Keine Einbeziehung eines Zuschlags wegen Schwerbehinderung in die Höchstbetragsklausel ..................... 297 e) Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz .................................................... 298
3.
Schranken der Restrukturierung durch die Strom- und Gaspreisbremse ................................................................................ 299 a) Arbeitsplatzerhaltungspflicht .................................................... 299 b) Boni- und Dividendenverbot ..................................................... 304
4.
Eingruppierung durch tariflosen Erwerber nach Betriebsübergang .............................................................................. 306
5.
Widerspruch beim „Kettenbetriebsübergang“ ................................. 309
XIII
Inhaltsverzeichnis
J.
Aktuelles aus Steuer- und Sozialversicherungsrecht............ 313
1.
Praktische Umsetzung der Regelungen zur Inflationsausgleichsprämie ...................................................................... 313
2.
Anspruch auf Entschädigung bei Quarantäne nach § 56 Abs. 1 S. 1 IfSG ............................................................................... 313
Stichwortverzeichnis .................................................................................. 319
XIV
Abkürzungsverzeichnis a. D. a. A. a. E. a. F. a. G. AA AAB AAG ABl. EG ABl. EU abl. Abs. ABV abw. abzgl. AcP AE AEntG
AEUV AFBG AFG AFKG
außer Dienst anderer Auffassung am Ende alte(r) Fassung auf Gegenseitigkeit Auswärtiges Amt Allgemeine Arbeitsbedingungen für die ver.diBeschäftigten Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (Aufwendungsausgleichsgesetz) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Union ablehnend Absatz/Absätze Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen abweichend abzüglich Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) Arbeitsrechtliche Entscheidungen (Zeitschrift) Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Gesetz zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung (Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz) Arbeitsförderungsgesetz Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz)
XV
Abkürzungsverzeichnis
Ag II-V
AG AGB AGBG AGG AGH AiB AktG AktuellAR allg. Alt. AltEinkG
AltvVerbG AltZertG AMP AMS amtl. ANABIN ANBA ÄndG AnKSchG Anl. Anm.
XVI
Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung) Amtsgericht bzw. Aktiengesellschaft bzw. Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz) Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Anwaltsgerichtshof Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Aktiengesetz B. Gaul bzw. Bearbeiter, Aktuelles Arbeitsrecht allgemein Alternative(n) Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz) Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Förderung der privaten Altersvorsorge (Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz) Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen (Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz) Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister Arbeitsschutzmanagementsystem amtlich(e) Anerkennung und Bewertung ausländischer Bildungsnachweise Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit Änderungsgesetz Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten (Angestelltenkündigungsschutzgesetz) Anlage(n) Anmerkung(en)
Abkürzungsverzeichnis
AO AP APS ArbG ArbGG AR-Blattei ArbMedVV ArbNErfG ArbPlSchG ArbR ArbRB ArbR-HB ArbSchG
ArbStättV ArbZG ARdGgw. ArGV ARP ARST Art. ARUG AS ASAV
ASiG
Abgabenordnung Arbeitsrechtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts) Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht Großkommentar Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrechts-Blattei, Handbuch für die Praxis Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge Gesetz über Arbeitnehmererfindungen (Arbeitnehmererfindungsgesetz) Gesetz über den Schutz des Arbeitsplatzes bei Einberufung zum Wehrdienst (Arbeitsplatzschutzgesetz) Arbeitsrecht Aktuell (Zeitschrift) Arbeits-Rechtsberater (Zeitschrift) Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz) Verordnung über Arbeitsstätten (Arbeitsstättenverordnung) Arbeitszeitgesetz Arbeitsrecht der Gegenwart Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für ausländische Arbeitnehmer (Arbeitsgenehmigungsverordnung) Arbeitsschutz in Recht und Praxis (Zeitschrift) Arbeitsrecht in Stichworten Artikel Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie Aksjeselskap, norwegische Aktiengesellschaft Verordnung über Ausnahmeregelungen für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an neu einreisende ausländische Arbeitnehmer (Anwerbestoppausnahmeverordnung) Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Arbeitssicherheitsgesetz)
XVII
Abkürzungsverzeichnis
ASR ASRG 1995 AsylG AsylVfG AT ATG ÄTV ATV AU AuA AufenthG AufenthG/EWG AufenthV Aufl. AÜG AuR AURL
ausf. AVE AVmEG
AVmG
XVIII
Technische Regeln für Arbeitsstätten Gesetz zur Reform der agrarsozialen Sicherung (Agrarsozialreformgesetz 1995) Asylgesetz Gesetz über das Asylverfahren (Asylverfahrensgesetz) außertariflich(e) Altersteilzeitgesetz Änderungstarifvertrag Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Tarifvertrag Altersversorgung) Arbeitsunfähigkeit Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Aufenthaltsverordnung Auflage Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz) Arbeit und Recht (Zeitschrift) Richtlinie über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung (Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie) ausführlich Allgemeinverbindlicherklärung Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensergänzungsgesetz) Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz)
Abkürzungsverzeichnis
AVR AVR-DD AWbG AWStG
Az. BA BAFA BaFin BAG BAnz AT BÄO BAP BAT BAT-O BAT-VKA BAuA bAV BAVAZ BayObLG BayVGH BB BBG BBiG Bd. BDA BDSG
Arbeitsvertragsrichtlinien in den Einrichtungen des Deutschen Caritas Verbandes Arbeitsvertragsrichtlinien für Einrichtungen der Diakonie Deutschland Gesetz zur Freistellung von Arbeitnehmern zum Zwecke der beruflichen und politischen Weiterbildung (Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz) Gesetz zur Stärkung der beruflichen Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiterbildungsstärkungsgesetz) Aktenzeichen Bundesagentur für Arbeit bzw. Blutalkohol (Zeitschrift) Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Amtlicher Teil Bundesärzteordnung Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister e. V. Bundesangestelltentarifvertrag Bundesangestelltentarifvertrag Ost Bundesangestelltentarifvertrag für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin betriebliche Altersversorgung bedarfsabhängige variable Arbeitszeit Bayerisches Oberstes Landgericht Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Betriebs-Berater (Zeitschrift) Beitragsbemessungsgrenze Berufsbildungsgesetz Band Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesdatenschutzgesetz
XIX
Abkürzungsverzeichnis
BeamtVG BeckOK BEEG BEG Beil. BEM BerASichG BErzGG BeschCG BeschFG BeschSchG BeschSiG BeschV BetrAV BetrAVG BetrSichV BetrVG BFH BFHE BGB BGBl. BGH BGHZ BIBB
XX
Gesetz über die Versorgung der Beamten und Richter des Bundes (Beamtenversorgungsgesetz) Beck‘scher Online-Kommentar Arbeitsrecht Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz) Gesetz zur Entlastung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie (Bürokratieentlastungsgesetz) Beilage Betriebliches Eingliederungsmanagement Berufsausbildungssicherungsgesetz Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit (Bundeserziehungsgeldgesetz) Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt (Beschäftigungschancengesetz) Beschäftigungsförderungsgesetz Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (Beschäftigtenschutzgesetz) Gesetz zur Beschäftigungssicherung infolge der COVID-19-Pandemie (Beschäftigungssicherungsgesetz) Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern (Beschäftigungsverordnung) Betriebliche Altersversorgung (Zeitschrift) Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz) Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsmitteln (Betriebssicherheitsverordnung) Betriebsverfassungsgesetz Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Amtliche Sammlung) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Amtliche Sammlung) Bundesinstitut für Berufsbildung
Abkürzungsverzeichnis
BildschArbV BilMoG BilRUG BImSchG
BKAmt BKK BMAS BMBF BMDV BMEL BMF BMFSFJ BMG BMI BMJ BMT-G BMUV BMVg BMWK BMWSB BMZ BNichtrSchG
BPersVG BPflV BPM
Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit an Bildschirmgeräten (Bildschirmarbeitsverordnung) Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz) Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundesimmissionsschutzgesetz) Bundeskanzleramt Betriebskrankenkasse Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium für Digitales und Verkehr Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium für Gesundheit Bundesministerium des Innern und für Heimat Bundesministerium der Justiz Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltung und Betriebe Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz Bundesministerium der Verteidigung Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gesetz zur Einführung eines Rauchverbots in Einrichtungen des Bundes und in öffentlichen Verkehrsmitteln (Bundesnichtraucherschutzgesetz) Bundespersonalvertretungsgesetz Bundespflegegeldverordnung Bundesverband der Personalmanager
XXI
Abkürzungsverzeichnis
BQFG BQG br BRAO BR-Drucks. Brexit-StBG
Brexit-ÜG
BRG BRKG BRSG BRTV-Bau BSeuchG BSG BSGE BSHG BSSichG
BStBl. BT-Drucks. BTHG BUrlG BuW
XXII
Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen (Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz) Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Behindertenrecht (Zeitschrift) Bundesrechtsanwaltsordnung Bundesratsdrucksache Gesetz über steuerliche Begleitregelungen zum Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (Brexit-Steuerbegleitgesetz) Gesetz für den Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (Brexit-Übergangsgesetz) Betriebsrätegesetz Bundesreisekostengesetz Gesetz zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung und zur Änderung anderer Gesetze (Betriebsrentenstärkungsgesetz) Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundesseuchengesetz) Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts (Amtliche Sammlung) Bundessozialhilfegesetz Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz) Bundessteuerblatt Bundestagsdrucksache Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz) Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
BV BVD BvE BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BVV BZgA bzgl. bzw. ca. C-ASR C-ASS C-ASV CCZ CEO CGM CGZP ChemG ChGlFöG CLPO Corona-StHG CoronaVMeldeV COVID-19 COVID-19-ArbZV
Betriebsvereinbarung bzw. Besloten Vennootschap, niederländische Gesellschaft mit beschränkter Haftung Bodenverkehrsdienste Beamter vom Einsatzdienst Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Amtliche Sammlung) Versicherungsverein des Bankgewerbes a. G. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bezüglich beziehungsweise circa SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) Corporate Compliance Zeitschrift Chief Executive Officer Christliche Gewerkschaft Metall Christliche Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz) Gesetz zur Förderung der Chancengleichheit von Männern und Frauen in Wirtschaftsunternehmen Civil Liberties Protection Officer for the Office of the Director of National Intelligence Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) Corona-Virus-Meldepflichtverordnung Corona-Virus Disease 2019 Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung)
XXIII
Abkürzungsverzeichnis
COVInsAG
CR CSDDD CSR CSRD CTA d. h. DA DAG DAS DAV DB DBGrG DCGK DD DDZ ders. DGB DGUV dies. diff. DKW DPRC DQR DrittelbG DRV DSAG DSAnpUG-EU
XXIV
Gesetz zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19Pandemie bedingten Insolvenz (COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz) Computer und Recht (Zeitschrift) Corporate Sustainability Due Diligence Directive Corporate Social Responsibility Corporate Sustainability Reporting Directive Contractual Trust Arrangement das heißt Durchführungsanweisung Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Deutscher AnwaltSpiegel (Online-Magazin) Deutscher Anwaltverein Der Betrieb (Zeitschrift) Gesetz über die Gründung einer Deutsche Bahn AG (Deutsche Bahn Gründungsgesetz) Deutscher Corporate Governance Kodex Due Diligence Däubler/Deinert/Zwanziger, Kündigungsschutzrecht Kommentar für die Praxis derselbe Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung dieselbe(n) differenzierend Däubler/Klebe/Wedde, BetrVG Kommentar für die Praxis Data Protection Review Court Deutscher Qualifikationsrahmen Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (Drittelbeteiligungsgesetz) Deutsche Rentenversicherung Datenschutzauditgesetz Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU
Abkürzungsverzeichnis
DSGVO
DSK DStR DStRE DTAG DTTS DuD DVKA DWWS e. V. EAO EAS eAU EBRG EBRRL EDSA EFG EFTA EFZG EG EGAktG EGBGB EGGmbHG EGMR EGV
Verordnung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (DatenschutzGrundverordnung) Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder (Datenschutzkonferenz) Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht – Entscheidungsdienst (Zeitschrift) Deutsche Telekom AG Deutsche Telekom Technischer Service Datenschutz und Datensicherheit (Zeitschrift) Deutsche Verbindungsstelle für Krankenversicherungen – Ausland Däubler/Wedde/Weichert/Sommer, EU-DSGVO und BDSG Kompaktkommentar eingetragener Verein Erreichbarkeitsanordnung Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (Loseblattsammlung) elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Gesetz über Europäische Betriebsräte (Europäische-Betriebsräte-Gesetz) Europäische-Betriebsräte-Richtlinie Europäischer Datenschutzausschuss Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) European Free Trade Agreement Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz) Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Aktiengesetz Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einführungsgesetz zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (Einführungsgesetz zum GmbH-Gesetz) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
XXV
Abkürzungsverzeichnis
ELENAVG EMRK EnSikuMaV
EntgTranspG EoR EBITDA ERA ERA-TV ErfK ESC ESchG ESG EStB EStG etc. ETS-TV ETV EU EuArbRK EuGH EUV EuZA EUZBLG EuZW evtl. EVÜ EWG
XXVI
Gesetz über das Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises (ELENA-Verfahrensgesetz) Europäische Menschenrechtskonvention Verordnung zur Sicherung der Energieversorgung über kurzfristig wirksame Maßnahmen (Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung) Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (Entgelttransparenzgesetz) Employer of Records Earnings Before Interest, Tax, Depreciation, and Amortization Entgelt-Rahmenabkommen Entgelt-Rahmentarifvertrag Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht Europäische Sozialcharta Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz) Environment, Social, Governance Ertrag-Steuerberater (Zeitschrift) Einkommensteuergesetz et cetera Ergänzungstransfer- und Sozialtarifvertrag Einführungstarifvertrag Europäische Union Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eventuell(e) Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Europäisches Schuldvertragsübereinkommen) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis
EWiR EWPBG EWR EzA f. FA FAZ FEG ff. FG Fitting FKS FMStG Fn. FördElRV FPfZG FR FreizügG/EU FS FüPoG II
GA-AÜG G-BA GbR GBV GdB
Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Gesetz zur Einführung von Preisbremsen für leitungsgebundenes Erdgas und Wärme (ErdgasWärme-Preisbremsengesetz) Europäischer Wirtschaftsraum Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht der/die/das Folgende Fachanwalt Arbeitsrecht (Zeitschrift) Frankfurter Allgemeine Zeitung Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Folgenden Finanzgericht Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, BetrVG Handkommentar Finanzkontrolle Schwarzarbeit Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz) Fußnote(n) Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten Gesetz über die Familienpflegezeit (Familienpflegezeitgesetz) Finanz-Rundschau (Zeitschrift) Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz EU) Festschrift Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionen-Gesetz) Geschäftsanweisung zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Gemeinsamer Betriebsausschuss Gesellschaft bürgerlichen Rechts Gesamtbetriebsvereinbarung bzw. Betriebsvereinbarung über die Versorgungsordnung Grad der Behinderung
XXVII
Abkürzungsverzeichnis
GefStoffV gem. GenDG GenTSV
GeschGehG GeschGehRL
GewO GG ggf. GK-BetrVG GKG GKV GLF GmbH GmbHG GmbHR GMBl. GMG GmS-OBG GNBZ GRC GrO
XXVIII
Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen (Gefahrstoffverordnung) gemäß Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (Gendiagnostikgesetz) Verordnung über die Sicherheitsstufen und Sicherheitsmaßnahmen bei gentechnischen Arbeiten in gentechnischen Anlagen (Gentechnik-Sicherheitsverordnung) Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen Richtlinie über den Schutz vertraulichen Knowhows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung (Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen) Gewerbeordnung Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/Weber/Franzen/Gutzeit/Jacobs, Gemeinschaftskommentar BetrVG Gerichtskostengesetz Verbund Gesetzlicher Krankenkassen Gaul/Ludwig/Forst, Europäisches Mitbestimmungsrecht Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH-Gesetz) GmbH-Rundschau (Zeitschrift) Gemeinsames Ministerialblatt Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz) Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Gewerkschaft der neuen Brief- und Zustelldienste Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse
Abkürzungsverzeichnis
GRUR GS GSA Fleisch GSG GVBl. GWB h. L. h. M. HAG Halbs. HBfDI HDSIG Hess u. a. HGB HinSchG
HinSchRL HK-KSchR HK-MuSchG/BEEG HMB HR HSE HTV HWK HwO
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Großer Senat Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft Gerätesicherheitsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz) herrschende Lehre herrschende Meinung Heimarbeitsgesetz Halbsatz/Halbsätze Hessischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit Hessisches Datenschutz- und Informationsfreiheitsgesetz Hess/Worzalla/Glock/Nicolai/Rose/Huke, BetrVG Kommentar Handelsgesetzbuch Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Hinweisgeberschutzgesetz) Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Hinweisgeber-/Whistleblowerrichtlinie) Gallner/Mestwerdt/Nägele, Handkommentar Kündigungsschutzrecht Rancke/Pepping, Handkommentar Mutterschutz, Elterngeld, Elternzeit Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, Handbuch Human Resources Health, Safety, Environment Haustarifvertrag Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung)
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
HZvNG
i. d. F. i. E. i. H. a. i. H. v. i. S. d. i. S. v. i. V. m. IAO IfSG iGZ IHK ILO InflAusG
InKDG InsO InstitutsVergV IntG IntGVO InvG IPR IT IT-ArbR IT-ArGV
XXX
Gesetz zur Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze (Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-Neuregelungs-Gesetz) in der Fassung im Ergebnis im Hinblick auf in Höhe von im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit Internationale Arbeitsorganisation Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz) Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V. Industrie- und Handelskammer International Labour Organization Gesetz zum Ausgleich der Inflation durch einen fairen Einkommensteuertarif sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen (Inflationsausgleichsgesetz) Informations- und Kommunikationsdienstegesetz Insolvenzordnung Verordnung über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Vergütungssysteme von Instituten (Institutsvergütungsverordnung) Integrationsgesetz Verordnung zum Integrationsgesetz (Integrationsgesetzverordnung) Investmentgesetz Internationales Privatrecht Informationstechnik/-technologie Kramer, IT-Arbeitsrecht Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hochqualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie
Abkürzungsverzeichnis
IT-AV ITRB JArbSchG jM JStG JuMoG JURA jurisPK-IntR jurisPR-ArbR JuS JVGG K&R Kap. KAPOVAZ KassKomm KAVO KBV KDVO KG KGaA KHPflEG
KHZG KI KMU KO KR krit. KSchG
Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hochqualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie IT-Rechtsberater (Zeitschrift) Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend (Jugendarbeitsschutzgesetz) juris Monatszeitschrift Jahressteuergesetz Gesetz zur Modernisierung der Justiz (Justizmodernisierungsgesetz) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Heckmann, juris Praxis-Kommentar Internetrecht juris Praxis-Report Arbeitsrecht Juristische Schulung (Zeitschrift) Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz Kommunikation und Recht (Zeitschrift) Kapitel kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht (Loseblattsammlung) Kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung Konzernbetriebsvereinbarung bzw. Kassenärztliche Bundesvereinigung Kirchliche Dienstvertragsordnung Kammergericht bzw. Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Gesetz zur Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus sowie zur Anpassung weiterer Regelungen im Krankenhauswesen und in der Digitalisierung (Krankenhauspflegeentlastungsgesetz) Gesetz für ein Zukunftsprogramm Krankenhäuser (Krankenhauszukunftsgesetz) künstliche Intelligenz kleines oder mittleres Unternehmen Konkursordnung Bader/Fischermeier/Gallner/Klose/Kreft/Kreutzberg-Kowalczyk, Gemeinschaftskommentar KSchG kritisch Kündigungsschutzgesetz
XXXI
Abkürzungsverzeichnis
KugBeV KugÖV
KugV KugVerlV KugZuV KündFG KWG LadSchlG LAG LAGE LasthandhabV
LFZG LG LHT Lit. lit. LKK LKB LkSG
XXXII
Verordnung über die Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld (Kurzarbeitergeldbezugsdauerverordnung) Verordnung über die Öffnung des Kurzarbeitergeldbezugs für Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer (Kurzarbeitergeldöffnungsverordnung) Verordnung über Erleichterungen der Kurzarbeit (Kurzarbeitergeldverordnung) Verordnung über die Bezugsdauer und Verlängerung der Erleichterungen der Kurzarbeit (Kurzarbeitergeldverlängerungsverordnung) Verordnung zur Verlängerung der Zugangserleichterungen für den Bezug von Kurzarbeitergeld (Kurzarbeitergeldzugangsverordnung) Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz) Gesetz über das Kreditwesen (Kreditwesengesetz) Gesetz über den Ladenschluss (Ladenschlussgesetz) Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der manuellen Handhabung von Lasten bei der Arbeit (Lastenhandhabungsverordnung) Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz) Landgericht Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar Literatur littera Löwisch/Kaiser/Klumpp, BetrVG Linck/Krause/Bayreuther, KSchG Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz)
Abkürzungsverzeichnis
LPartG LPartÜAG LPK-SGB IX Ls. LSG LSSW LStDV LStR LTD LTI LuftVG m. E. m. w. N. m. W. v. MAG MAHArbR MBO-Ä MDR MERL MgFSG MgVG MiLoDokV
MiLoG
Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz) Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts Dau/Düwell/Joussen/Luik, Lehr- und Praxiskommentar SGB IX Leitsatz/Leitsätze Landessozialgericht Löwisch/Schlünder/Spinner/Wertheimer, KSchG Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Lohnsteuer-Richtlinien Limited, britische Gesellschaft mit beschränkter Haftung Long Term Incentive Luftverkehrsgesetz meines Erachtens mit weiteren Nachweisen mit Wirkung vom Gesetz zur mobilen Arbeit (Mobile-Arbeit-Gesetz) Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte Monatsschrift für Deutsches Recht Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie) Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und grenzüberschreitender Spaltung Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung Verordnung zu den Dokumentationspflichten nach §§ 16, 17 des Mindestlohngesetzes und §§ 18, 19 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes in Bezug auf bestimmte Arbeitnehmergruppen (Mindestlohndokumentationspflichten-Verordnung) Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz)
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis
MiLoV MindArbBedG MINT Mio. MitbEG MitbG MMR MNB MontanMitbestErgG
MontanMitbestG
MTV MüKo MüKoAktG MünchArbR MünchGesR MuSchArbV MuSchG
XXXIV
Verordnung zur Anpassung der Höhe des Mindestlohns (Mindestlohnanpassungsverordnung) Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen (Mindestarbeitsbedingungengesetz) Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik Million(en) Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungs-Ergänzungsgesetz) Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz) Zeitschrift für IT-Recht und Recht der Digitalisierung Mund-Nasen-Bedeckung Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie (Montan-Mitbestimmungs-Ergänzungsgesetz) Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie (Montan-Mitbestimmungsgesetz) Manteltarifvertrag Münchener Kommentar BGB Münchener Kommentar AktG Münchener Handbuch Arbeitsrecht Münchener Handbuch Gesellschaftsrecht Verordnung zum Schutze der Mütter am Arbeitsplatz (Mutterschutzarbeitsverordnung) Gesetz zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (Mutterschutzgesetz)
Abkürzungsverzeichnis
MuSchRL
MwSt. n. F. n. v. NachwG NGG NJW NJW-RR NK-GA Nr. Nrn. NStZ NStZ-RR NV NZA NZA-RR NZG NZS o. g. öAT OECD OGH OLG OT OVG OWiG P&R p. a. PatG
Richtlinie über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (Mutterschutzrichtlinie) Mehrwertsteuer neue(r) Fassung (noch) nicht veröffentlicht Gesetz über den Nachweis der für ein Arbeitsverhältnis geltenden wesentlichen Bedingungen (Nachweisgesetz) Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Neue Juristische Wochenzeitschrift NJW Rechtsprechungs-Report Boecken/Düwell/Diller/Hanau, NomosKommentar Gesamtes Arbeitsrecht Nummer Nummern Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ Rechtsprechungs-Report Naamloze Vennootschap, niederländische Aktiengesellschaft Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht NZA Rechtsprechungs-Report Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht oben genannt(e) Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht Organisation for Economic Co-operation and Development Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht ohne Tarifbindung Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Ordnungswidrigkeitengesetz) Park & Ride pro anno Patentgesetz
XXXV
Abkürzungsverzeichnis
PBefG PC PCLOB PersVG PFARL PflBG PflegeArbbV PflegeVG PflegeZG PfWG PLC PM PreisKlG PSA PSABV
PStG PSV PublG PUEG QCG RÄ
XXXVI
Personenbeförderungsgesetz Personal Computer Privacy and Civil Liberties Oversight Board Personalvertretungsgesetz Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit Gesetz über die Pflegeberufe (Pflegeberufegesetz) Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche (Pflegearbeitsbedingungenverordnung) Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz) Gesetz über die Pflegezeit (Pflegezeitgesetz) Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) Public Limited Company, britische Aktiengesellschaft Pressemitteilung Gesetz über das Verbot der Verwendung von Preisklauseln bei der Bestimmung von Geldschulden (Preisklauselgesetz) persönliche Schutzausrüstung Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Benutzung persönlicher Schutzausrüstungen bei der Arbeit (PSA-Benutzungsverordnung) Personenstandsgesetz Pensionssicherungsverein Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen (Publizitätsgesetz) Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz) Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung (Qualifizierungschancengesetz) Rheinisches Ärzteblatt (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
RabattG RAG RAGE RdA RdE RDV RG RGO RisikoBegrG RIW RKI RL RL-V Rom I-VO Rs. RsprEinhG RSU RTV-Bau RVG RVLeistVerbG RVO Rz. RzK s. o. S. SA SaaS SAE
Gesetz über Preisnachlässe (Rabattgesetz) Reichsarbeitsgericht Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts Recht der Arbeit (Zeitschrift) Recht der Energiewirtschaft (Zeitschrift) Recht der Datenverarbeitung (Zeitschrift) Reichsgericht Ruhegeldordnung Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risikobegrenzungsgesetz) Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Robert-Koch-Institut Richtlinie(n) Richtlinienvorschlag Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Rechtssache(n) Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Rechtsprechungseinheitsgesetz) Restricted Stock Unit Rahmentarifvertrag für die Angestellten und Poliere des Baugewerbes Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz) Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) Reichsversicherungsordnung Randzahl(en)/Randziffer(n) Rechtsprechung zum Kündigungsrecht (Loseblattsammlung) siehe oben Seite bzw. Satz/Sätze Société Anonyme, schweizerische Aktiengesellschaft Software-as-a-Service Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen
XXXVII
Abkürzungsverzeichnis
SanInsFoG SARL SARS-CoV-2 SBV SCE SCEBG SchulG SchwarzArbG SchwbG SDG SE SEAG SEBG SeeArbG SeemG SEVO SG SGB I SGB II SGB III SGB IV
XXXVIII
Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz) Société À Responsabilité Limitée, französische Kapitalgesellschaft bzw. schweizerische Gesellschaft mit beschränkter Haftung Severe Acute Respiratory Syndrome Corona-Virus 2 Schwerbehindertenvertretung Societas Cooperativa Europaea, Europäische Genossenschaft Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in einer Europäischen Genossenschaft (SCE-Beteiligungsgesetz) Schulgesetz Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz) Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz) Sustainable Development Goal bzw. Zeitschrift für nachhaltige Unternehmensführung Societas Europaea, Europäische Gesellschaft Gesetz zur Ausführung der Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE-Ausführungsgesetz) Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz) Seearbeitsgesetz Seemannsgesetz Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft Sozialgericht Sozialgesetzbuch, I. Buch – Allgemeiner Teil Sozialgesetzbuch, II. Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende Sozialgesetzbuch, III. Buch – Arbeitsförderung Sozialgesetzbuch, IV. Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung
Abkürzungsverzeichnis
SGB V SGB VI SGB VII SGB VIII SGB IX SGB X SGB XI SGB XII SGb SigG SMG sog. SozplKonkG SozR SPA SPE SPI SprAuG SpTrUG SPV SR st. Rspr. StaRUG
Sozialgesetzbuch, V. Buch – Gesetzliche Krankenversicherung Sozialgesetzbuch, VI. Buch – Gesetzliche Rentenversicherung Sozialgesetzbuch, VII. Buch – Gesetzliche Unfallversicherung Sozialgesetzbuch, VIII. Buch – Kinder- und Jugendhilfe Sozialgesetzbuch, IX. Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen Sozialgesetzbuch, X. Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz Sozialgesetzbuch, XI. Buch – Soziale Pflegeversicherung Sozialgesetzbuch, XII. Buch – Sozialhilfe Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Gesetz über Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen (Signaturgesetz) Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts (Schuldrechtsmodernisierungsgesetz) sogenannte(r) Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren Sozialrecht (Entscheidungssammlung) Schnellinformation für Personalmanagement und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Societas Privata Europaea, Europäische Privatgesellschaft Sozialpolitische Informationen (Zeitschrift) Gesetz über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten (Sprecherausschussgesetz) Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, Handbuch Soziales Recht (Zeitschrift) ständige Rechtsprechung Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz)
XXXIX
Abkürzungsverzeichnis
Std. StGB StPO StrlSchG StromPBG StVG StVO SvEV
TAStG TaxVO TEG TestV
TGV TI TKG TLfDI TOP TransPuG TSG TS-TV TV LeiZ TV T-ZUG TV
XL
Stunde(n) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Gesetz zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung (Strahlenschutzgesetz) Gesetz zur Einführung einer Strompreisbremse (Strompreisbremsegesetz) Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (Sozialversicherungsentgeltverordnung) Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) Verordnung über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen (Taxonomieverordnung) Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) Verordnung zum Anspruch auf Testung in Bezug auf einen direkten Erregernachweis des CoronaVirus SARS-CoV-2 (Corona-Virus-Testverordnung) Trennungsgeldverordnung Telematikinfrastruktur Telekommunikationsgesetz Thüringer Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Technisch, Organisatorisch, Persönlich Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz) Gesetz über die Änderung von Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz) Transfer- und Sozialtarifvertrag Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit Tarifvertrag zum tariflichen Zusatzgeld Tarifvertrag
Abkürzungsverzeichnis
TV-EUmw/VKA TVG TV-L TVöD TVöD-F TVöD-K TVöD-VKA TV-SR TzBfG u. a. Uabs. UkraineAufentÜV
UmRUG UmwG UN-BRK UNO UN-Treaty UrhG UStG usw. ÜT UVV v.
Tarifvertrag zur Entgeltumwandlung für Arbeitnehmer/-innen im kommunalen öffentlichen Dienst Tarifvertragsgesetz Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst für den Bereich Flughäfen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst für den Bereich Krankenhäuser Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Tarifvertrag zur Sicherung der sozialen Rechte der Arbeitnehmer Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz) und andere Unterabsatz/Unterabsätze Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen (Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung) Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Gesetze Umwandlungsgesetz Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) United Nations Organization UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) Umsatzsteuergesetz und so weiter übertariflich(e) Unfallverhütungsvorschriften vom
XLI
Abkürzungsverzeichnis
VAG Var. VBL VC VermbG VermG VerSanG VersAusglG VG VGH vgl. VglO VKA VO Vorbem. VorstAG VorstOG VSSR VTFF VTV VVG VwGO VwVfG WHSS WiB WissZeitVG
XLII
Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz) Variante(n) Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder Gewerkschaft Vereinigung Cockpit Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer (Vermögensbildungsgesetz) Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz) Gesetz über den Versorgungsausgleich (Versorgungsausgleichsgesetz) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vergleichsordnung Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Verordnung(en) bzw. Versorgungsordnung Vorbemerkung(en) Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung Gesetz über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen (Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz) Vierteljahresschrift für Sozialrecht Verband Technischer Betriebe für Film und Fernsehen e. V. Vergütungstarifvertrag Gesetz über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz) Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Arbeitsrechtliches Handbuch Wirtschaftliche Beratung (Zeitschrift) Gesetz über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft (Wissenschaftszeitvertragsgesetz)
Abkürzungsverzeichnis
WKS WM WMVO WO-BetrVG WO-SprAuG WpHG WPK WPrax WpÜG WRV WSI z. B. z. T. ZAB ZAR ZAT ZAU ZD ZDG ZESAR ZEuP ZFA ZGR ZHR Ziff. ZIP ZMGR ZPO
Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht Kommentar Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift) Werkstätten-Mitwirkungsverordnung Erste Verordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes (Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz) Erste Verordnung zur Durchführung des Sprecherausschussgesetzes (Wahlordnung zum Sprecherausschussgesetz) Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz) Wlotzke/Preis/Kreft, BetrVG Kommentar Wirtschaftsrecht und Praxis (Zeitschrift) Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Weimarer Reichsverfassung Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut zum Beispiel zum Teil Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für Arbeitsrecht und Tarifpolitik in kirchlichen Unternehmen Zeitschrift für Arbeitsrecht im Unternehmen Zeitschrift für Datenschutz Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer (Zivildienstgesetz) Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Ziffer(n) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Medizinrecht Zivilprozessordnung
XLIII
Abkürzungsverzeichnis
ZRP ZSEG ZTR zutr. zust. ZustRG ZVertriebsR zzgl.
XLIV
Zeitschrift für Rechtspolitik Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (Zeugen- und Sachverständigenentschädigungsgesetz) Zeitschrift für Tarifrecht zutreffend zustimmend Gesetz zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen im gerichtlichen Verfahren (Zustellungsreformgesetz) Zeitschrift für Vertriebsrecht zuzüglich
A. Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland 1.
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
Nachdem die Frist zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1937/EU zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Hinweisgeber-/ Whistleblowerrichtlinie – HinSchRL), bereits am 17.12.2021 abgelaufen ist, war zu begrüßen, dass der Bundestag das Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Hinweisgeberschutzgesetz – HinSchG), dessen Entwurf die Bundesregierung eingebracht hatte1, auf der Grundlage einer Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 14.12.20222, mit der noch einmal wichtige Änderungen vorgenommen wurden, am 16.12.2022 endlich verabschiedet hatte. Zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Inhalt das HinSchG schlussendlich in Kraft treten wird, ist derzeit aber offen. Denn der Bundesrat hat am 10.2.2023 beschlossen, dem Gesetz gemäß Art. 74 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 27 i. V. m. Art. 80 Abs. 2 GG nicht zuzustimmen3. Da eine Zustimmung nur insgesamt erfolgen kann, kann das Gesetz erst einmal nicht in Kraft treten. Es muss im Vermittlungsausschuss, der angerufen wurde, nach einer Lösung gesucht werden. Scheiter sie, dürfte das Gesetz auf der Grundlage neuer Entwürfe der Bundesregierung, die am 14.3.2023 unter Einschränkung des persönlichen Geltungsbereichs in den Bundestag eingebracht wurden4, ohne Zustimmungspflicht des Bundesrats kommen. Zur Begründung hatten die unionsgeführten Länder vor allem Kritik an dem Geltungsbereich der gesetzlichen Regelung geübt, der über die unionsrechtlichen Notwendigkeiten hinausgehe5. Außerdem hatten sie den bürokratischen Aufwand der Unternehmen durch die Pflicht zur Einrichtung interner Meldestellen und die Einbeziehung der anonymen Meldungen infrage gestellt. Darüber hinaus hatten sie geltend gemacht, dass die Frist zur Umsetzung zu kurz sei, was angesichts des Umstands erstaunt, dass die Richtlinie seit vielen Jahren bekannt ist und längst hätte umgesetzt werden müssen. Auch wenn in Anbetracht dieser politischen Auseinandersetzung derzeit noch offen ist, ob und ggf. welche Zugeständnisse in Bezug auf den Inhalt des Ge1 2 3 4 5
BT-Drucks. 20/3442. BT-Drucks. 20/4909. BT-Drucks. 20/5688; BR-Drucks. 20/23. Vgl. BT-Drucks. 20/5991; BT-Drucks. 20/5992. Vgl. auch BT-Drucks. 20/4914.
1
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
setzes gemacht werden, soll sein wesentlicher Inhalt nachfolgend auf der Grundlage der Beschlussfassung des Bundestags dargestellt werden. Denn trotz des Risikos einer weiteren Änderung müssen die technischen und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden. Außerdem ist der Betriebsrat einzubeziehen, in der Regel schon aufgrund von §§ 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6 BetrVG6. Ein Teil der Kritik der unionsgeführten Bundesländer übersieht bereits, dass Regelungen, die noch einmal geändert werden sollen, bereits durch die HinSchRL vorgegeben sind. Andere Kritikpunkte missachten längst bestehende Erkenntnisse über notwendige Rahmenbedingungen für funktionsfähige Whistleblowersysteme. Schon deshalb sollte man sich darauf einstellen, dass es bei den wesentlichen Regelungen, einschließlich einer Einbeziehung eines Verstoßes gegen nationales Recht, bei der Kennzeichnung des Geltungsbereichs bleibt, selbst wenn dort – was durchaus sinnvoll wäre – im Detail noch Konkretisierungen und Einschränkungen erfolgen7.
a)
Sachlicher Geltungsbereich
Geht man bis zu einer Anpassung durch den Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat von der im Bundestag verabschiedeten Fassung aus, werden nicht nur Meldungen über Verstöße gegen das Unionsrecht erfasst, wie sie in Art. 2 Abs. 1 HinSchRL genannt werden. Auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 2 HinSchRL werden Hinweisgeber und betroffene Personen auch im Zusammenhang mit Verstößen gegen nationales Recht geschützt, das keinen Bezug zum EU-Recht hat. Entgegen der pauschalen Kritik aus den unionsgeführten Ländern, erscheint dies aus Gründen der Rechtssicherheit auch geboten, weil es insbesondere der hinweisgebenden Person nicht zugemutet werden kann, vor der Meldung eines Verstoßes eine rechtshistorische Klärung des Ursprungs einer gesetzlichen Regelung vorzunehmen. Darüber hinaus kommt in der entsprechenden Erweiterung zum Ausdruck, dass die unternehmerische Verpflichtung zur Regelkonformität und die daraus resultierende Pflicht der Geschäftsleitung, für eine Einhaltung der das Unternehmen verpflichtenden Rechtsvorschriften Sorge zu tragen, nicht auf Regeln begrenzt sind, die einen unionsrechtlichen Ursprung haben. Daran anknüpfend verlangt die Einrichtung eines nachhaltigen Compliance-Systems Maßnahmen, die es der hinweisgebenden Person ermöglichen, unter Ausschluss von Maßregelungen Rechtsverletzungen zu melden und damit Risiken etwaiger Rechtsverstöße zu minimieren. Soweit 6 7
2
Vgl. zu einem möglichen Mitbestimmungsrecht bei Formularen zur Verwendung bei Meldungen ArbG Siegen v. 17.2.2022 – 1 BV 5/21 n. v. Eingehend auch Bürger/von Dahlen, DB 2023, 829.
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
dabei gleichwohl nicht alle Rechtsverletzungen erfasst werden, stellt dies hinweisgebende Personen, Beschäftigungsgeber und Betroffene weiterhin vor die Frage, wie Hinweise außerhalb des Geltungsbereichs des HinSchG zu behandeln sind. Aus arbeitsrechtlicher Sicht bleibt hier nur das Maßregelungsverbot aus § 612 a BGB, was unzureichend erscheint und deshalb schon in der Vergangenheit zu Vorschlägen einer Ergänzung und Erweiterung geführt hatte8. Zu den in den Geltungsbereich einbezogenen Verstößen gehören nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 HinSchG bislang alle Verstöße, die strafbewehrt sind9. Außerdem werden Verstöße einbezogen, die bußgeldbewehrt sind, soweit die verletzte Vorschrift „dem Schutz von Leben, Leib oder Gesundheit oder dem Schutz der Beschäftigten oder ihrer Vertretungsorgane dient“. Zu begrüßen ist, dass damit nicht jede Rechtsverletzung, sondern als Ergänzung zu Nr. 1 (strafbewehrte Vorschriften) nur bußgeldbewehrte Vorschriften (Nr. 2) erfasst werden. Damit bezieht der letztgenannte Teil aber nicht alle Vorschriften zum Schutz von Beschäftigten und ihren Vertretungen mit ein, sondern nur solche, die bußgeldbewehrt sind. Die Einbeziehung entsprechender Meldungen wird damit von der staatlichen Sanktion abhängig gemacht, was von den hinweisgebenden Personen und den Beschäftigungsgebern eine juristische Subsumtion verlangt, die die Gefahr von Rechtsunsicherheit und im Ergebnis auch einen Verzicht auf Meldungen begründen kann. Eine nur schwer zu beantwortende Frage dürfte dabei sein, wann eine bußgeldbewehrte Vorschrift dem Schutz von Beschäftigten und ihren Vertretungen „dient“. Fallen darunter auch die Regelungen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG), soweit dort menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken im Kreise von unmittelbaren und mittelbaren Zulieferern erfasst werden, die für die Beschäftigten selbst erst einmal keine (unmittelbare) Bedeutung haben? Wie ist es mit den gesetzlichen Regelungen des Sozialversicherungsrechts? Darüber hinaus wird eine Reihe von Handlungsvorgaben zum Schutz von Beschäftigten und ihren Vertretern nicht erfasst, weil sie nicht bußgeldbewehrt sind. Betroffen hiervon sind zahlreiche Vorschriften des Arbeitsschutzes, des Schutzes besonderer Personengruppen (z. B. SGB IX) oder des Schutzes vor Diskriminierungen (z. B. AGG). Bei den weiteren Verstößen, die in § 2 Abs. 1 Nr. 3 HinSchG genannt werden, hat der Gesetzgeber versucht, eine möglichst klare Eingrenzung auf die in Betracht kommenden Regelungen und Regelungsbereiche vorzunehmen. Dabei bleibt natürlich Unsicherheit bestehen, da abstrakte Begriffe verwendet 8 9
Vgl. BT-Drucks. 18/3039. Vgl. Behr/Haas/Ellinger, DB 2022, 2137; Reufels/Osmakova, ArbRB 2022, 148.
3
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
werden, denen die zuständigen Gerichte dann die entsprechenden Rechtsvorschriften zuordnen müssen. Beispielsweise sei nur auf den Begriff des Umweltschutzes, der „ökologischen Produktion“, der Rechnungslegung oder der öffentlichen Auftragsvergabe hingewiesen. Neben dem Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation wird der gesamte Datenschutz einbezogen, soweit er in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt. Soweit in § 2 Abs. 1 Nr. 7 HinSchG auch rechtsmissbräuchliches Verhalten im Bereich des Steuerrechts erfasst wird, war dies zwar im Grundsatz in Art. 5 Nr. 1 lit. ii HinSchRL angelegt. Da das Steuerrecht aber nationales Recht ist, liegt im Anwendungsbereich nach § 2 Abs. 1 Nr. 7 HinSchG eine Ausweitung gegenüber der Richtlinie. Gleichzeitig wird dies Art. 5 Nr. 1 lit. ii HinSchRL nicht gerecht, weil dieser als Verstoße Handlungen und Unterlassungen erfasst, die dem Ziel oder dem Zweck sämtlicher Rechtsakte zuwiderlaufen, die in Art. 2 HinSchRL genannt werden. Mit dem im Bundestag verabschiedeten Gesetz wird EU-Recht insoweit also nicht vollständig umgesetzt. Außerdem bleibt offen, wann ein Handeln im objektiven Widerspruch zu dem Zweck einer gesetzlichen Regelung steht. Meint dies schon die Ausschöpfung eines denkbaren Auslegungsspielraums, den subjektiven oder den objektiven bzw. institutionellen Rechtsmissbrauch? Für eine objektive Sichtweise spricht § 3 Abs. 2 Nr. 2 HinSchG, der jetzt allein eine Tätigkeit verlangt, die dem Ziel oder Zweck einer Regelung zuwiderläuft. Abschließend bleibt festzuhalten: Die Regelungen zum sachlichen Anwendungsbereich sollten zwar im Vermittlungsverfahren nicht weiter eingeschränkt werden, weil es richtig ist, nicht nur Verstöße gegen EU-Recht und seine Umsetzung zu erfassen. Der Wortlaut sollte aber nicht nur präzisiert werden. Das betrifft auch die schwierige Frage, ob im Geltungsbereich jetzt auch „Äußerungen von Beamtinnen und Beamten, die einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Verfassungstreue darstellen“ (§ 2 Abs. 1 Nr. 10 HinSchG) erfasst werden. Auch wenn mit dem am 14.3.2023 vorgelegten Entwurf eine Begrenzung auf Bundesbeamte erfolgt, bleibt unklar, unter welchen inhaltlichen Voraussetzungen in einer solchen Erklärung ein Verstoß liegt. Außerdem sollten Überschneidungen beseitigt oder dadurch vereinfacht werden, dass ein größerer Kreis nationaler Rechtsvorschriften einbezogen wird, die eine einzelfallbezogene Rechtsprüfung vor der Meldung eines Verstoßes oder der Verarbeitung solcher Meldungen vereinfachen oder entbehrlich machen. Darüber hinaus muss der Rechtsmissbrauch in unionsrechtskonformer Weise erfasst werden, wobei – wie nachfolgend aufzuzeigen ist – auch die Überschneidungen zum GeschGehG bzw. zur Richtlinie 2016/943/EU über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformatio-
4
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
nen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung (GeschGehRL) beachtet werden müssen.
b)
Persönlicher Anwendungsbereich
Kennzeichnung der Hinweisgeber: Der persönliche Geltungsbereich ist unklar und enthält Lücken gegenüber der Regelung in Art. 4 HinSchRL. Überlegenswert erscheint, den Wortlaut hier stärker an der Richtlinie auszurichten, diesen ggf. zu übernehmen und allenfalls spezifische Klarstellungen vorzunehmen10. So erfasst § 3 Abs. 8 HinSchG als Beschäftigte neben Arbeitnehmern, zu denen auch Leiharbeitnehmer gehören (vgl. § 16 Abs. 1 HinSchG), auch arbeitnehmerähnliche Personen. Organmitglieder (Geschäftsführung, Vorstand, Aufsichtsrat) werden zwar ebenfalls als Hinweisgeber erfasst11. Ihre Einbeziehung in das Gesetz erfolgt indes unabhängig von den Begriffsbestimmungen in § 3 HinSchG bereits über § 1 HinSchG, sofern die Meldung eines Verstoßes im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit oder im Vorfeld einer beruflichen Tätigkeit erfolgt. Das Gleiche gilt für Bewerber, Solo-Selbständige oder ausgeschiedene Arbeitnehmer, die ebenfalls einbezogen werden. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen auch Beamte und Richter erfasst werden, dürfte sich aus der weiteren Diskussion zwischen Bundestag und Bundesrat ergeben. Gibt es dort keine Einigung, steht zu erwarten, dass Beamte der Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstigen der Aufsicht eines Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie Richter im Landesdienst erst einmal nicht erfasst werden. Das stellt § 1 Abs. 3 HinSchG in der am 14.3.2023 in den Bundestag eingebrachten Fassung, mit dem die Zustimmungspflicht des Bundesrats vermieden werden soll, ausdrücklich klar12. Kennzeichnung der Beschäftigungsgeber: Bei den Beschäftigungsgebern werden die privaten Beschäftigungsgeber gesondert gekennzeichnet, weil die nachfolgenden Regelungen zum Teil differenzierte Handlungspflichten vorsehen. Private Beschäftigungsgeber sind solche mit Ausnahme juristischer Personen des öffentlichen Rechts und solcher Beschäftigungsgeber, die im Eigentum oder unter der Kontrolle einer juristischen Person des öffentlichen Rechts stehen.
10 Vgl. Oberthür, ArbRB 2022, 378. 11 Vgl. Reufels/Osmakova, ArbRB 2022, 149. 12 BT-Drucks. 20/5992 S. 5.
5
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Mit Blick auf die gesetzlichen Schwellenwerte für die betroffenen Beschäftigungsgeber sollte klargestellt werden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen im Ausland tätige Beschäftigte erfasst werden. Außerdem sollte klargestellt werden, ob Leiharbeitnehmer nur beim Verleiher oder auch beim Entleiher berücksichtigt werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass die HinSchRL nur juristische Personen als Beschäftigungsgeber erfasst, §§ 3 Abs. 9, 12 HinSchG aber auch natürliche Personen. Damit werden unabhängig von den Schwellenwerten gemäß § 3 Abs. 9 HinSchG als Beschäftigungsgeber auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie Privathaushalte erfasst, wenn dort Beschäftigte (z. B. teilzeitbeschäftigte Reinigungskraft) oder Solo-Selbständige (z. B. Nachhilfe, Babysitter) eingesetzt werden. Hier besteht zwar keine Pflicht zur Errichtung einer internen Meldestelle, weil der Schwellenwert des § 12 Abs. 2 HinSchG (50 Beschäftigte) im Zweifel nicht überschritten wird. Sonstige Regelungen, einschließlich des Verbots von Repressalien nebst Beweislastumkehr, finden aber auch hier Anwendung, wenn in KMU bzw. Privathaushalten eine vermeintliche Straftat (z. B. Belästigung, Steuerhinterziehung) angezeigt und die hinweisgebende Person dann von dem KMU bzw. der Familie entlassen wird.
c)
Widerspruch zu Regelungen des GeschGehG
Geschäftsgeheimnisse können z. B. dann betroffen sein, wenn eine Meldung Verstöße zum Erwerb, Schutz oder zur Nutzung eines Geschäftsgeheimnisses zum Gegenstand hat (z. B. Kartellabsprachen). Hier ist zum Schutz der hinweisgebenden Personen, aber auch zur Gewährleistung von Rechtssicherheit der betroffenen Beschäftigungsgeber, eine Harmonisierung und/oder Abgrenzung der unterschiedlichen Regelungen im GeschGehG und HinSchG erforderlich. Trotz offenkundiger Überschneidungen finden die Regelungen des GeschGehG und der GeschGehRL im HinSchG bislang noch keine ausreichende Berücksichtigung. Bisher wird in § 6 Abs. 1 HinSchG lediglich klargestellt, dass die Weitergabe eines Geschäftsgeheimnisses an eine zuständige Meldestelle oder dessen Offenlegung erlaubt ist, sofern die hinweisgebende Person hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass die Weitergabe oder die Offenlegung des konkreten Inhalts dieser Informationen notwendig ist, um einen Verstoß aufzudecken, und die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Nrn. 2, 3 HinSchG erfüllt sind. Im Mittelpunkt steht insoweit die Konkurrenz zwischen den Regelungen des HinSchG und § 5 Nr. 2 GeschGehG. Danach fällt die Erlangung, die Nutzung oder die Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses bereits dann nicht unter die Verbote des § 4 GeschGehG, wenn dies zur Aufdeckung einer rechtswidrigen Handlung oder eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens erfolgt 6
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
und die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung geeignet ist, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. Nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse genügt also die objektive Eignung zum Schutz öffentlicher Interessen, um einen Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen auszuschließen. Nach § 33 HinSchG wird der Hinweisgeber aber nur geschützt, wenn 1.
dieser intern gemäß § 17 oder extern gemäß § 18 Meldung erstattet oder eine Offenlegung nach § 32 vorgenommen hat,
2.
zum Zeitpunkt der Meldung oder Offenlegung hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass die von ihm gemeldeten oder offengelegten Informationen der Wahrheit entsprechen, und
3.
die Informationen zugleich auch Verstöße im Anwendungsbereich des Gesetzes betreffen oder der Hinweisgeber zum Zeitpunkt der Meldung oder Offenlegung hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass das der Fall sei.
Das (objektive) öffentliche Interesse spielt bei vorrangig subjektiv bestimmter Rechtfertigung keine Rolle. Das Gleiche gilt für § 35 Abs. 2 HinSchG, der – wiederum ohne Bezug zu § 5 Nr. 2 GeschGehG – darauf abstellt, ob der Hinweisgeber einen hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass die Weitergabe der Informationen erforderlich war, um einen Verstoß aufzudecken. Hier geht es also nicht um die Annahme einer Richtigkeit der gemeldeten Informationen, sondern um die Erforderlichkeit der Meldung zur Offenlegung eines Verstoßes. Darüber hinaus erfasst § 5 Nr. 2 GeschGehG auch „sonstiges Fehlverhalten“, wodurch auch Aktivitäten miteinbezogen werden, die ein unethisches Verhalten darstellen, aber nicht notwendigerweise gegen Rechtsvorschriften verstoßen. Als Beispiel hierzu werden Auslandsaktivitäten eines Unternehmens genannt, die in den betreffenden Ländern nicht rechtswidrig sind, aber dennoch von der Allgemeinheit als Fehlverhalten angesehen werden, wie z. B. Kinderarbeit oder gesundheits- bzw. umweltschädliche Produktionsbedingungen. Auch die systematische und unredliche Umgehung von Steuertatbeständen wird in der öffentlichen Diskussion häufig als unethisches Verhalten angesehen13. Dieses an „Redlichkeit“ und Ethik ausgerichtete Verständnis von § 5 Nr. 2 GeschGehG erfasst zwar auch Rechtsmissbrauch, weicht jedoch von den Grundsätzen des Rechtsmissbrauchs ab, wie sie auch im Steuerrecht bei der Kennzeichnung von Umgehungstatbeständen entwickelt wurden. Letzt-
13 BT-Drucks. 19/4724 S. 29.
7
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
genannte Maßstäbe sind aber nach §§ 2 Abs. 1 Nr. 7, 3 Abs. 2 Nr. 2 HinSchG für den Geltungsbereich des HinSchG maßgeblich.
d)
Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung
§ 7 Abs. 1 S. 1 HinSchG gewährleistet zwar weiterhin ein Wahlrecht des Hinweisgebers, ob die Meldung gegenüber einer internen14 oder externen Meldestelle erfolgt. In § 7 Abs. 3 HinSchG ist jetzt allerdings – in Übereinstimmung mit Art. 7 Abs. 2 HinSchRL – vorgesehen, dass Beschäftigungsgeber, die nach § 12 Abs. 1, 3 HinSchG zur Einrichtung interner Meldestellen verpflichtet sind, Anreize dafür schaffen sollen, dass sich hinweisgebende Personen vor einer Meldung an eine externe Meldestelle zunächst an die jeweilige interne Meldestelle wenden. Dazu können auch finanzielle Vorteile des Hinweisgebers gehören, die aus Einsparungen des Beschäftigungsgebers als Folge der Beseitigung von Gesetzesverstößen finanziert werden. Voraussetzung ist aber, dass diese Beschäftigungsgeber für Beschäftigte klare und leicht zugängliche Informationen über die Nutzung des internen Meldeverfahrens bereitstellen. Außerdem darf dadurch die Möglichkeit einer externen Meldung nicht beschränkt oder erschwert werden. Ergänzend hierzu sehen §§ 24 Abs. 2 S. 2, 28 Abs. 1 HinSchG vor, dass die externe Meldestelle den Hinweisgeber auch über die Möglichkeit einer internen Meldung informiert, wenn natürliche Personen in Erwägung ziehen, eine Meldung zu erstatten. Diese Regelung ist zu begrüßen. Denn aus der einem jeden Schuldverhältnis immanenten Pflicht zur Rücksichtnahme und Loyalität (§ 241 Abs. 2 BGB) folgt die Verpflichtung, grundsätzlich – wenn nicht der Erfolg bereits infrage gestellt ist und/oder Repressalien drohen – eine Abhilfe bei Verstößen erst einmal intern zu versuchen. Das gilt nicht nur dort, wo gar keine internen Meldestellen geschaffen werden müssen und § 7 Abs. 1 HinSchG also gar nicht greift. Es gilt auch dort, wo externe Meldungen in rechtsmissbräuchlicher Weise nur das Ziel verfolgen, die eigene Rechtsposition der hinweisgebenden Person in einer Auseinandersetzung mit dem Beschäftigungsgeber zu stärken, ohne dass ernstzunehmende Zweifel an der Bereitschaft des Beschäftigungsgebers bestanden hätten, den Verstoß zu beseitigen. Schließlich werden Hinweisgeber durch den Gesetzgeber ohne Rücksicht auf das Ziel einer Meldung geschützt (vgl. § 33 HinSchG). Der Widerspruch zu § 17 Abs. 2 ArbSchG, der durch das HinSchG nur insoweit angepasst wird, als die Regelungen des HinSchG durch § 17 Abs. 2 Arb14 Vgl. Sultzer, AuA 2023/1, 28.
8
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
SchG nicht berührt werden, wird damit aber nicht in Gänze beseitigt. Denn der dort vorgesehene Vorrang der internen Meldung bleibt für Fälle bestehen, in denen der Beschäftigungsgeber keine Pflicht zur Errichtung interner Meldestellen hat oder Verstöße gegen das Arbeitsschutzrecht nicht bußgeldbewehrt sind. Derzeit ist dies beispielsweise bei der fehlenden Dokumentation der Arbeitszeit der Fall, mit der – folgt man dem BAG im Beschluss vom 13.9.202215 – gegen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verstoßen wird16. In den übrigen Fällen aber besteht ein Wahlrecht des Arbeitnehmers, einen Verstoß intern oder extern zu melden. Der Arbeitgeber kann lediglich Anreize setzen, die zu einer internen Meldung führen. Diesen Fall bringt § 17 Abs. 2 ArbSchG indes nicht zum Ausdruck.
e)
Einbeziehung anonymer Meldungen
Die Regelungen zur Behandlung anonymer Meldungen durch die internen Meldestellen sind auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu Recht geändert worden. Im ursprünglichen Entwurf war noch vorgesehen, dass die Meldestelle anonyme Meldungen nur bearbeiten sollte, soweit dadurch die vorrangige Bearbeitung nicht anonymer Meldungen nicht gefährdet werde. Außerdem sollte keine Verpflichtung bestehen, die Meldekanäle so zu gestalten, dass sie die Abgabe anonymer Meldungen ermöglichten. In § 16 Abs. 1 HinSchG ist hiervon abweichend jetzt allerdings vorgesehen, dass die interne Meldestelle jedenfalls ab dem 1.1.2025 (§ 42 Abs. 2 HinSchG) auch anonym eingehende Meldungen bearbeiten muss. Natürlich muss dabei weiterhin im Auge behalten werden, ob nicht im Wege einer anonymen Meldung unberechtigte Vorwürfe erhoben werden, die den Ruf der hiervon Betroffenen schädigen. Das ist umso wichtiger, als der Schutz der Betroffenen durch das HinSchG deutlich schwächer als in der Richtlinie ausgestaltet worden ist. Im Hinblick auf die Relevanz anonymer Hinweise sollen auch Meldekanäle vorgehalten werden, die die anonyme Kontaktaufnahme und die für die hinweisgebende Person anonyme Kommunikation zwischen hinweisgebender Person und interner Meldestelle ermöglichen. Wenn anonyme Meldungen ohne Nutzung des Meldekanals nach § 16 Abs. 1 S. 5 HinSchG eingehen, finden allerdings § 11 Abs. 4 (Überprüfung des Protokolls), § 17 Abs. 1 Nrn. 1, 3, 5, Abs. 2 (Regelungen zu Eingangsbestätigungen, Kontakt mit dem Hin-
15 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1620 Rz. 42 ff. 16 Eingehend hierzu B. Gaul, AktuellAR 2023, 131 ff., 135 f.
9
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
weisgeber und Rückmeldung) sowie § 18 Nr. 2 HinSchG (Verweis an andere Stelle) keine Anwendung. Auch externe Meldestellen müssen nach § 27 Abs. 1 S. 2 HinSchG anonym eingehende Meldungen bearbeiten. Wenn dem Gesetzgeber in seiner Bezugnahme auf § 27 Abs. 1 S. 3 bis 5 HinSchG in § 42 Abs. 2 HinSchG kein Fehler unterlaufen ist, greift diese Verpflichtung allerdings bereits drei Monate nach Verkündung des Gesetzes. Gleichzeitig wird allerdings bestimmt, dass erst ab dem 1.1.2025 Meldekanäle vorzuhalten sind, welche die anonyme Kontaktaufnahme und die für die hinweisgebende Person anonyme Kommunikation zwischen hinweisgebender Person und externer Meldestelle ermöglichen. Auch hier finden dann aber Regelungen, die eine persönliche Kontaktaufnahme zum Hinweisgeber verlangen, keine Anwendung. Dazu gehört auch, dass sie sich bei einer späteren Offenlegung der Informationen nicht auf § 32 Abs. 1 Nr. 1 HinSchG berufen können, der an eine unterbliebene Rückmeldung geknüpft ist. Nach dem ursprünglichen Entwurf sollte – vorbehaltlich spezialgesetzlicher Regelungen – keine Verpflichtung bestehen, die Meldekanäle so zu gestalten, dass sie die Abgabe anonymer Meldungen ermöglichen. Hiervon ausgehend sollten anonym eingehende Meldungen nur bearbeitet werden, soweit dadurch die vorrangige Bearbeitung nicht anonymer Meldungen nicht gefährdet wird.
f)
Kennzeichnung der externen Meldestellen
Bemerkenswert ist, dass das HinSchG nach § 1 HinSchG nur auf hinweisgebende Personen anwendbar ist, die die im Gesetz genannten Meldestellen nutzen oder in den Grenzen des Gesetzes eine Offenlegung vornehmen. Für die Praxis ist dies bereits insoweit relevant, als viele Meldungen auch bei den Arbeitnehmervertretern (Betriebs- und Personalrat) eingehen, ohne dass damit die im HinSchG vorgesehenen Handlungspflichten des Arbeitgebers oder die Schutzmechanismen des Hinweisgebers oder des Betroffenen verbunden sind. Für den Bund soll insoweit eine Stelle für externe Meldungen beim BMJ eingerichtet werden (§ 19 HinSchG); darüber hinaus gibt es ergänzende Stellen (§§ 21 ff. HinSchG). Bei den Ländern soll es weitere Meldestellen geben (§ 20 HinSchG). Welche Rechtsfolgen gelten, wenn andere – externe – Stellen angesprochen und Rechtsverletzungen gemeldet werden, bleibt ebenso unklar wie bei internen Meldungen, die außerhalb der internen Meldekanäle oder aufgrund des berechtigten oder unberechtigten Fehlens interner Meldekanäle bei anderen Stellen erfolgen. Beispielhaft sei nur eine Meldung genannt, die über den Betriebsrat erfolgt.
10
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
Die Beschränkung auf bestimmte Meldestellen ist jedenfalls bei den externen Meldestellen grundsätzlich sinnvoll, auch um eine Abgrenzung zur Offenlegung vorzunehmen. Unklar ist aber, ob ein Zugänglichmachen von Informationen über Verstöße gegenüber der Öffentlichkeit (§§ 3 Abs. 5, 32 HinSchG) schon dann vorliegt, wenn die Meldung gegenüber Behörden im Bereich der Strafverfolgung, namentlich Staatsanwaltschaft und Polizei, erfolgt. Das lässt das HinSchG nicht erkennen, weil beide Stellen zwar einerseits keine externen Meldestellen sind, andererseits aber auch nicht mit der Öffentlichkeit gleichgesetzt werden dürfen. Hier ist eine Klarstellung notwendig.
g)
Verhältnis zwischen externer Meldung und Offenlegung
§ 32 HinSchG konkretisiert und erweitert die Möglichkeiten einer Offenlegung gegenüber dem heutigen Recht. Dabei ist die Offenlegung unrichtiger Informationen über Verstöße zwar verboten. Gleichwohl greift der Schutz der hinweisgebenden Person nach § 33 HinSchG bereits dann, wenn die hinweisgebende Person zum Zeitpunkt der Offenlegung hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass die von ihr offengelegten Informationen der Wahrheit entsprechen. Wichtig ist, dass die Voraussetzungen einer zulässigen Offenlegung durch § 32 HinSchG konkretisiert werden. Danach fallen Hinweisgeber nur dann unter die gesetzlichen Schutzmaßnahmen, wenn sie 1.
zunächst gemäß Abschnitt 2 Unterabschnitt 4 eine externe Meldung erstattet haben und
a)
hierauf innerhalb der Fristen für eine Rückmeldung nach § 28 Abs. 4 keine geeigneten Folgemaßnahmen nach § 29 ergriffen wurden oder
b) sie keine Rückmeldung über das Ergreifen solcher Folgemaßnahmen erhalten haben oder 2.
hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass
a)
der Verstoß wegen eines Notfalls, der Gefahr irreversibler Schäden oder vergleichbarer Umstände eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann,
b) im Fall einer externen Meldung Repressalien zu befürchten sind oder c)
Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten, Absprachen zwischen der zuständigen externen Meldestelle und dem Urheber des Verstoßes bestehen könnten oder aufgrund sonstiger
11
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
besonderer Umstände die Aussichten gering sind, dass die externe Meldestelle wirksame Folgemaßnahmen nach § 29 einleiten wird.
Hilfreich wäre, wenn klargestellt würde, wann eine „Befürchtung“ von Repressalien durch eine externe Meldung anerkannt wird.
h)
Verhältnis zwischen Hinweisgeberschutz und Datenschutz
Durch § 10 S. 1 HinSchG wird eine Grundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch interne und externe Meldestellen geschaffen, wenn dies zur Erfüllung ihrer in §§ 13, 24 HinSchG bezeichneten Aufgaben erforderlich ist. Dabei ist jetzt zu Recht dargestellt worden, dass auch besondere personenbezogene Daten erfasst werden. Insoweit muss die Verarbeitung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die sonstigen Vorgaben der DSGVO wahren. In diesem Sinne stellt § 10 S. 2, 3 HinSchG klar, dass die Verarbeitung besonderer personenbezogener Daten durch eine Meldestelle, abweichend von Art. 9 Abs. 2 DSGVO, zulässig ist, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist. In diesem Fall hat die Meldestelle aber spezifische und angemessene Maßnahmen zur Wahrung der Interessen der betroffenen Person vorzusehen; außerdem ist § 22 Abs. 2 S. 2 BDSG entsprechend anzuwenden. Wichtig ist, dies bei der Ausgestaltung entsprechender Regelungen – auch in Betriebsvereinbarungen – zu beachten. Weiterhin klärungsbedürftig bleibt im HinSchG das Verhältnis zwischen dem Schutz des Hinweisgebers und dem Schutz der personenbezogenen Daten des Betroffenen17. Hintergrund ist Art. 14 Abs. 1, 3 DSGVO. Danach muss eine von der Datenverarbeitung betroffene Person innerhalb eines Monats über die Quelle informiert werden, von der die Daten stammen. Verpflichtet dies losgelöst von den Regelungen des HinSchG zu einer Preisgabe der Identität des Hinweisgebers an den Beschuldigten, dessen Handeln Gegenstand der Meldung geworden ist? Außerdem ist klarzustellen, ob Meldungen oder Offenlegungen der hinweisgebenden Person, die Bestandteil der verantwortlichen Stelle ist, den Arbeitgeber zum Schadensersatz oder Bußgeld verpflichten können. Dies gilt umso mehr, als es in der Praxis immer wieder vorkommt, dass die Betroffenen nach Art. 15 DSGVO Auskunft über die personenbezogenen Daten verlangen, die ihre Person betreffen und beim Arbeitgeber verarbeitet werden.
17 Vgl. Bayreuther, NZA 2022, 20, 22.
12
Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
i)
Zulassung konzernbezogener Meldestellen
Wichtig ist, dass § 14 HinSchG – abweichend von der bisherigen Sichtweise der EU-Kommission – zu Recht die Möglichkeit vorsieht, dass innerhalb eines Konzerns eine übergreifende Meldestelle eingerichtet wird18. Das berücksichtigen die Erwägungsgründe 54 ff. HinSchRL, die neben der Einbindung von eigenen Arbeitnehmern und Arbeitnehmern in Doppelfunktion (z. B. Leitung Recht und Compliance, Personalleitung) auch die Einbeziehung Dritter für zulässig halten (z. B. Berater, Gewerkschaften) und dabei ebenfalls eine Gruppe von Unternehmen erfassen. Die übergreifende Meldestelle fungiert dann gegenüber den einzelnen Konzerngesellschaften als Dritter, wobei entsprechend den Vorgaben in Erwägungsgründen 78, 79 HinSchRL sicherzustellen ist, dass die notwendige Unabhängigkeit von der Konzernobergesellschaft bzw. der Gesellschaft gegeben ist, innerhalb welcher die Meldestelle als Dienstleistung erbracht wird. Die Meldestelle wird insoweit im Auftrag und in der Verantwortung der einzelnen Konzerngesellschaft tätig. Das gilt auch, wenn die Berichtspflichten gegenüber der Konzernobergesellschaft festgelegt werden. Wichtig aus arbeitsrechtlicher Sicht ist, dass die erforderliche Rechtsgrundlage für die unternehmensübergreifende Datenverarbeitung gesetzt wird. Denn die Verarbeitung erfolgt häufig gerade nicht nur im Rahmen einer Auftragsdatenverarbeitung. Im Zweifel ist daher eine Konzernbetriebsvereinbarung notwendig, die ihrerseits aber die allgemeinen Grenzen, insbesondere die Schranken der Verhältnismäßigkeit, beachten muss. Der Vorteil der Konzernbetriebsvereinbarung liegt insbesondere darin, dass neben der datenschutzrechtlichen Rechtfertigung auch eine Dokumentation dafür geschaffen wird, dass die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6 BetrVG beachtet worden sind. Das gilt auch bei Formularen, die für etwaige Meldungen genutzt werden sollen19.
j)
Verbot von Repressalien – Beweislastumkehr
Das Benachteiligungsverbot und die Regelungen zur Beweislastumkehr in § 36 HinSchG sind im Grundsatz ebenso notwendig wie die Regelungen zum Schadensersatz nach Repressalien in § 37 Abs. 1 S. 1 HinSchG20. Sie wurden zuletzt durch die Möglichkeit einer Entschädigung in § 37 Abs. 1 S. 2 HinSchG ergänzt. Dabei werden als Repressalien alle arbeitsrechtlichen Reak18 Vgl. Behr/Haas/Ellinger, DB 2022, 2138. 19 ArbG Siegen v. 17.2.2022 – 1 BV 5/21 n. v. 20 Vgl. Oberthür, ArbRB 2022, 378; Zimmer/Schwung, NZA 2022, 1167.
13
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
tionen erfasst, insbesondere Abmahnung, Kündigung, Versetzung, Wegnahme und Umverteilung von Aufgaben, soweit damit ein Nachteil des Beschäftigten verbunden ist (vgl. Art. 19 HinSchRL). Dabei werden die §§ 35 bis 37 HinSchG entsprechend auch auf Dritte, die mit der hinweisgebenden Person in Verbindung stehen und in einem beruflichen Zusammenhang eine Repressalie erlitten haben, angewandt, es sei denn, diese beruhen nicht auf der Meldung oder Offenlegung durch die hinweisgebende Person. Aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit erscheint geboten, die Vermutung einer Repressalie klarstellend einzuschränken. Dabei sollte sichergestellt werden, dass es nicht genügt, wenn die Benachteiligung gemäß § 36 Abs. 2 HinSchG in zeitlicher Hinsicht „nach“ einer Meldung oder Offenlegung erfolgt. Hier könnte, auch wenn dies in der Gesetzesbegründung erkennbar wird21, stärker zum Ausdruck gebracht werden, dass eine zeitliche Begrenzung (Frist) oder inhaltliche Verknüpfung (sachlicher Zusammenhang) durch weitere (hinreichende) Umstände gegeben sein muss, die dann analog § 22 AGG jedenfalls die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Benachteiligung begründen. Damit würde Art. 21 Abs. 5 HinSchRL konkretisiert, der nur Benachteiligungen „infolge“ der Meldung/Offenlegung erfasst. Andernfalls müssen Beschäftigungsgeber befürchten, dass die Vermutung einer Benachteiligung nach einer Meldung für das gesamte Beschäftigungsverhältnis bis zum Erreichen der Altersgrenze besteht. Damit stehen Schadensersatzansprüche im Raum, wenn durch Personalmaßnahmen etwa 10 oder 15 Jahre danach (z. B. Bewertung persönlicher Ziele im Rahmen einer variablen Vergütung, Ablehnung einer Beförderung) Nachteile entstehen. Ebenfalls problematisch ist, dass §§ 33, 36 Abs. 1 HinSchG auch Mittäter der gemeldeten Taten, Teilnehmer daran oder jedenfalls organisatorisch (durch Unterlassen) verantwortliche Führungskräfte vor Repressalien schützen wollen, die den gemeldeten Verstoß kannten und „weggesehen“ haben und anschließend melden oder den Hinweisgeber bei der Meldung „unterstützen“. Im Gesetz sollte klargestellt werden, dass es für den Arbeitgeber/das Unternehmen möglich ist, gegen diese Personen wegen ihrer Tatbeiträge und eigener Verstöße (arbeits-)rechtliche Maßnahmen zu ergreifen.
k)
Schutz betroffener Personen
Ein Schutz der von Meldungen bzw. Offenlegungen betroffenen Personen erfolgt grundsätzlich nur dadurch, dass an verschiedenen Stellen (vgl. §§ 32 Abs. 2, 33 Abs. 1 Nr. 2, 34 Abs. 1 Nr. 1, 38 HinSchG) „Falschmeldungen“
21 BT-Drucks. 20/3442 S. 95 ff.
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Gesetzliche Umsetzung der Whistleblowerrichtlinie
untersagt bzw. nicht geschützt werden. Unklar bleibt aber nach dem Wortlaut, ob dies auch für „leicht“ oder „mittel“ fahrlässige Falschmeldungen gilt oder nur ab der Schwelle der „groben Fahrlässigkeit“, wie nach § 38 HinSchG (Schadensersatz); in §§ 32 bis 34 HinSchG ist die Formulierung unklar („hinreichender Grund zu der Annahme“). Damit überlässt das HinSchG die Schaffung von größerer Klarheit/Rechtssicherheit offenbar den (Arbeits- und Verwaltungs-)Gerichten. In § 38 HinSchG wird festgelegt, dass die hinweisgebende Person zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist, der aus einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Meldung oder Offenlegung unrichtiger Informationen entstanden ist. Die darin liegende Haftungseinschränkung dürfte zwar gemäß Art. 23 Abs. 2 HinSchRL zulässig sein, zumal dort Sanktionen nur bei „wissentlicher“ Falschmeldung vorgesehen sind, was im Zweifel sogar dolus directus 2. Grades verlangt, also „mehr“ als grobe Fahrlässigkeit. Insoweit liegt eine Verschärfung gegenüber der HinSchRL vor, die angesichts des durch das HinSchG insgesamt stark erweiterten Anwendungsbereichs und der Berechtigung zur sofortigen externen oder gar öffentlichen Meldung gerechtfertigt ist. Darin liegt aber kein ausreichender Schutz der betroffenen Person, wenn sich die Meldung als falsch erweist. Wenn der Gesetzgeber aus politischen Gründen die Einschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit wünscht, sollte jedenfalls der Begriff der groben Fahrlässigkeit geklärt werden. Dabei könnte festgelegt werden, dass von einer grob fahrlässigen Meldung bzw. Offenlegung unrichtiger Informationen auszugehen ist, wenn die hinweisgebende Person keinen hinreichenden Grund zur Annahme hatte, dass die gemeldeten oder offengelegten Informationen der Wahrheit entsprechen (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 HinSchG). Das vermeidet Unsicherheit über das Vorliegen hinreichender Gründe und möglicher Schadensersatzansprüche. Darüber hinaus erscheint es geboten sicherzustellen, dass auch innerhalb des Beschäftigungsverhältnisses die Unschuldsvermutung sowie Verteidigungsrechte, einschließlich des Rechts auf Anhörung und des Rechts auf Einsicht in die Personalakte, gewahrt werden können. Diese Befugnisse müssen auch im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses durch entsprechende Auskunftsansprüche gewährleistet werden, selbst wenn diese an den Vorbehalt des Art. 15 Abs. 4 DSGVO geknüpft werden müssen. Ergänzend hierzu ist in Bezug auf die externen Meldeverfahren sicherzustellen, dass die Identität betroffener Personen während der Dauer einer durch die Meldung oder Offenlegung ausgelösten Untersuchung unter Berücksichtigung von Art. 12, 17, 18 HinSchRL geschützt bleibt. Es bleibt abzuwarten, wie die externen Meldestellen diese Vorgaben erfüllen werden.
15
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
l)
Verbot abweichender Vereinbarungen
Nach § 39 HinSchG sind Vereinbarungen, die die Rechte hinweisgebender Personen oder der nach § 34 HinSchG geschützten Personen einschränken, unwirksam. Dazu dürften auch fehlerhafte Fristen, eine Regelung über den Vorrang der internen Meldung oder vom Gesetz abweichende Meldestellen, die benutzt werden sollen, gehören. Dieser Vorgabe ist zuzustimmen, allerdings sollte nicht nur klargestellt werden, dass die Vereinbarungen nur insoweit unwirksam sind. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Unwirksamkeit abweichender Vereinbarungen in Arbeitsverträgen, Richtlinien über die Einführung eines Hinweisgebersystems oder Betriebsvereinbarungen die Frage zur Folge hat, ob sich daraus die Unwirksamkeit der Gesamtvereinbarung oder nur eine teilweise Unwirksamkeit ergibt. Losgelöst davon ist klarzustellen, dass auch die Rechte der von einer Meldung betroffenen Personen nicht eingeschränkt werden dürfen.
m)
Inkrafttreten und Übergangsregelung
Das HinSchG sollte ursprünglich bereits drei Monate nach Verkündung in Kraft treten. Mit Ausnahme der Übergangsregelung in Bezug auf anonyme Meldungen (§ 42 Abs. 2 HinSchG) war allerdings schon in § 42 Abs. 1 HinSchG bestimmt worden, dass private Beschäftigungsgeber mit in der Regel 50 bis 249 Beschäftigten ihre internen Meldestellen – abweichend von § 12 Abs. 1 HinSchG – erst ab dem 17.12.2023 einrichten müssen. Auch wenn das HinSchG als Folge des Widerstands im Bundesrat noch einmal verzögert wurde, ist zu erwarten, dass es bis Mitte 2023 in Kraft tritt. Die nächste Bundesratssitzung ist für den 12.5.2023 bestimmt. Scheitert das Verhandlungsverfahren und erfolgt die Umsetzung auf Grundlage der letzten Entwürfe, tritt die Neuregelung dann innerhalb eines Monats nach seiner Verkündung in Kraft.
n)
Fazit
An sich wäre zu wünschen gewesen, dass die Bundesregierung die fehlende Zustimmung des Bundesrats noch einmal zum Anlass genommen hätte, die im Dezember bereits verabschiedete Gesetzesfassung zu überarbeiten, um die weiterhin bestehenden Unklarheiten und Zweifel zu beseitigen. Sie betreffen auch solche Unternehmen, die gar keine internen Meldekanäle errichten müssen oder entgegen der gesetzlichen Vorgabe errichtet haben. Hier ist zu klären, ob Hinweisgeber auch dann geschützt sind, wenn sie gleichwohl an einer selbst gewählten Stelle die interne Meldung vornehmen oder – gerade, weil diese Stelle nicht besteht – unmittelbar eine externe Meldung veranlassen. 16
Umsetzung unionsrechtlicher Regelungen zu grenzüberschreitenden Umwandlungen
Die Einleitung eines neuen Gesetzgebungsverfahrens am 14.3.2023, im Rahmen dessen nur die Regelungen beseitigt wurden, die im alten Gesetzgebungsverfahren eine Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrats zur Folge hatten, zeigt allerdings, dass von Seiten der Bundesregierung keine inhaltliche Anpassung mehr gewünscht ist. Damit bleibt es auch bei den derzeit vorhandenen Lücken. Hierzu gehört auch der Umstand, dass das HinSchG bedauerlicherweise auf eine Regelung zu der Frage verzichtet, ob Beschäftigte zu einer Meldung verpflichtet sind oder verpflichtet werden können, wenn schwerwiegende Rechtsverletzungen in Rede stehen. Das ist bemerkenswert, geht die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur doch davon aus, dass auch aus der Pflicht zur Rücksichtnahme bzw. Loyalität (§ 241 Abs. 2 BGB) außerhalb strafrechtlicher Handlungspflichten sowie außerhalb spezialgesetzlicher Regelungen (z. B. § 16 Abs. 1 ArbSchG) keine Anzeigepflicht folgt. Entsprechende Handlungspflichten müssen daher individualoder kollektivvertraglich begründet werden. Hier hätte der Gesetzgeber eine eigene Entscheidung treffen und die Beschäftigten auch vor unverhältnismäßigen Anzeigepflichten schützen können. Dabei sollte klargestellt werden, welche objektiven Verdachtsmomente eine Pflicht zur Meldung/Offenlegung in Bezug auf welche Schwere des Verstoßes rechtfertigen. Im HinSchG ungelöst dürfte auch der Fall bleiben, dass Arbeitnehmer etwas beim Betriebsrat melden, dort um Anonymität bitten und der Betriebsrat dann zwar „weitermeldet“, aber eine Ermittlung und „Folgemaßnahmen“ wegen der Anonymität unmöglich oder stark erschwert werden. Hier ist zu klären, ob der Betriebsrat mangels gesetzlicher Befugnisse nach dem BetrVG eine solche Vertraulichkeit zusagen darf oder ob er zur vollständigen Weitergabe verpflichtet ist. Hinzu kommt, dass eine Mitteilung von Verstößen beim Betriebsrat in § 3 Abs. 4 HinSchG nicht als Meldung bei einer internen Meldestelle, die Handlungspflichten des Arbeitgebers und/oder Garantien des Hinweisgebers auslöst, qualifiziert wird. (Ga)
2.
Gesetzliche Regelungen zur Umsetzung unionsrechtlicher Regelungen zu grenzüberschreitenden Umwandlungen
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Bestimmungen der Umwandlungsrichtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen vom 4.1.202322, das am 31.1.2023 in Kraft getreten ist, und dem Gesetz zur Umsetzung der Umwand22 BGBl. I 2023/10, 1.
17
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
lungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Gesetze (UmRUG) vom 22.2.202323, das – vorbehaltlich unwesentlicher Regelungen – am 1.3.2023 in Kraft getreten ist, hat die Bundesregierung unter Berücksichtigung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 30.11.202224 bzw. der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 18.1.202325 die beiden im August 2022 durch die Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfe26 umgesetzt. Die darin liegende Umsetzung der Richtlinie 2019/2121/EU (Umwandlungsrichtlinie) zur Änderung der Richtlinie 2017/1132/EU (Gesellschaftsrechtsrichtlinie) in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen in innerstaatliches Recht musste bis zum 31.1.2023 erfolgen. Nachfolgend sollen die aus arbeitsund mitbestimmungsrechtlicher Sicht wesentlichen Folgen aufgezeigt werden.
a)
Unternehmensmitbestimmung bei grenzüberschreitender Umwandlung
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Bestimmungen der Umwandlungsrichtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen wurden Regelungen zur Sicherung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die von solchen Umwandlungen betroffen sind, in Kraft gesetzt. Bei den entsprechenden Regelungen im Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und grenzüberschreitender Spaltung (MgFSG) geht es im Wesentlichen darum, auf den zur Gründung einer SE entwickelten Grundsätzen aufbauend eine Verhandlungslösung in Kraft zu setzen, die erst bei einem Scheitern der Verhandlungen durch eine gesetzliche Auffangregelung zur Sicherung erworbener Mitbestimmungsrechte („Vorher-Nachher-Prinzip”) ergänzt wird. Bemerkenswert daran ist, dass Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung auf Unternehmensebene nicht erst dann zu führen sind, wenn an der Umwandlung Rechtsträger beteiligt sind, bei denen die für diese Unternehmensmitbestimmung erforderlichen Schwellenwerte bereits überschritten wurden und eine entsprechende Arbeitnehmerbeteiligung besteht. Vielmehr genügt für eine Verhandlungspflicht, dass im Unternehmen bzw. Konzern mindestens 4/5 der im Recht des Mitgliedstaats der von der Umwandlung be-
23 24 25 26
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BGBl. I 2023/51, 1. BT-Drucks. 20/4693. BT-Drucks. 20/5237. BR-Drucks. 371/22; BR-Drucks. 360/22.
Umsetzung unionsrechtlicher Regelungen zu grenzüberschreitenden Umwandlungen
troffenen Gesellschaft festgelegten Schwellenwerte für eine solche Mitbestimmung der Arbeitnehmer erreicht werden. Scheitern die Verhandlungen, bewirkt dies aber nicht, dass als Folge dieser Umwandlung auch unterhalb der Schwellenwerte eine Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat erfolgen muss. Vielmehr bleibt es dann bei einer Übernahme des bisherigen Status, in dem keine Unternehmensmitbestimmung vorgesehen ist. Nach § 5 Nr. 2 MgFSG bemisst sich der Umfang der Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem Anteil der Arbeitnehmervertreter im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan, in Ausschüssen, in denen die Mitbestimmung der Arbeitnehmer erfolgt, oder im Leitungsgremium, das für die Ergebniseinheiten der Gesellschaften zuständig ist. Da die gesetzlichen Regelungen zur Aufrechterhaltung der Unternehmensmitbestimmung bei der grenzüberschreitenden Umwandlung die Regelungen zur SE-Umwandlung zur Grundlage genommen haben, wird man dabei auch die Vorgaben des EuGH im Urteil vom 18.10.202227 zu berücksichtigen haben. Bei einer grenzüberschreitenden Umwandlung muss also ein getrennter Wahlgang für die Wahl der von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter gewährleistet bleiben, wenn dies im bislang anwendbaren Recht vorgesehen ist. Das Verhandlungsverfahren orientiert sich an den Regelungen zur SEUmwandlung. Es dauert grundsätzlich sechs Monate, kann aber bis zu zwölf Monate verlängert werden. Ziel ist der Abschluss einer Vereinbarung über die Mitbestimmung. Scheitert sie, gilt die Mitbestimmung kraft Gesetzes. Erhebliche Bedeutung für die betriebliche Praxis haben die ergänzenden Vorschriften. Dort wird nicht nur bestimmt, dass bei innerstaatlichen Umwandlungen, die innerhalb von vier Jahren nach Wirksamwerden der grenzüberschreitenden Umwandlung vorgenommen werden, neue Verhandlungen zur Unternehmensmitbestimmung geführt werden müssen, wenn in der hervorgehenden Gesellschaft eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer besteht (§ 32 MgFSG). Ergänzend hierzu enthält § 36 MgFSG ein umfassendes Missbrauchsverbot. Danach darf ein grenzüberschreitendes Vorhaben nicht dazu missbraucht werden, Arbeitnehmern Mitbestimmungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Bei einem Verstoß gegen das Missbrauchsverbot sind Verhandlungen über die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer entsprechend §§ 6 ff. MgFSG zu führen. Wird in diesen Verhandlungen keine Einigung erzielt, sind die in §§ 25 ff. MgFSG enthaltenen Regelungen über die Mitbestimmung kraft Gesetzes entsprechend anzuwenden.
27 EuGH v. 18.10.2022 – C-677/20, NZA 2022, 1477 Rz. 46 ff. – IG Metall und ver.di.
19
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Problematisch daran ist nämlich, dass ein Missbrauch nicht nur dann vorliegen soll, wenn innerhalb von vier Jahren ab Wirksamwerden des grenzüberschreitenden Vorhabens strukturelle Änderungen erfolgen, die bewirken, dass ein Schwellenwert der Mitbestimmungsgesetze im Sitzstaat überschritten wird28. Diese Regelung ist weitestgehend an § 18 Abs. 3 SEBG ausgerichtet. Weitergehend sieht § 36 S. 2 MgFSG vor, dass von einem Missbrauch auch dann auszugehen ist, wenn „sonst Arbeitnehmern Mitbestimmungsrechte vorenthalten oder entzogen werden“. Wichtig ist, dass auch hier der Bezug zu den „strukturellen Änderungen“ gesehen werden muss. Diese stellen also nicht nur dann einen Missbrauch dar, wenn sie bewirken, dass Schwellenwerte überschritten werden, sondern auch dann, wenn sie „auf andere Weise“ bewirken, dass Arbeitnehmern Mitbestimmungsrechte vorenthalten oder entzogen werden, die sie ohne die grenzüberschreitende Umwandlung bei einer solchen strukturellen Änderung gehabt hätten. Das Relativpronomen „die“ bezieht sich also auf beide Alternativen in § 36 S. 2 MgFSG. Dabei ist es allerdings wichtig, strukturelle Änderungen entsprechend § 18 Abs. 3 SEBG, der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich als Bezug genannt wird29, weiterhin nur als Veränderungen durch korporative Akte zu verstehen. Dazu gehören solche Akte, die so schwer wiegen wie der Gründungsakt selbst, beispielsweise eine Verschmelzung30. Fälschlicherweise nennt die Bundesregierung in der Begründung des Gesetzes hiervon abweichend indes auch die Aufnahme von Arbeitnehmern31 und will damit offenbar auch einen Betriebsoder Betriebsteilübergang im Wege der Einzelrechtsnachfolge nach § 613 a BGB erfassen. Auch der Bundesrat hatte damit übereinstimmend verlangt, dass eine Nachverhandlungspflicht bereits bei einem „Nachwachsen“ der Beschäftigtenzahlen gegeben sein solle32, obwohl bei einer solchen Maßnahme der Bestand des aufnehmenden Rechtsträgers unberührt bleibt und er nach ganz überwiegender Auffassung damit nicht von dem Begriff der „strukturellen Änderung“ in § 18 Abs. 3 SEBG erfasst wird33. Ausgehend davon, dass der Verweis der Bundesregierung auf § 18 Abs. 3 SEBG schlussendlich den übergeordneten Zweck bestimmt, wird man die fehlerhafte Rechtsauffassung
28 Vgl. Bungert/Strothotte, DB 2022, 1823. 29 BR-Drucks. 360/22 S. 60. 30 Frodermann/Jannott/Gaul, Kap. 15 Rz. 165; GLF/Kienast, § 2 Rz. 629 f.; HWK/Hohenstatt/Dzida, SEBG Rz. 32; MüKoAktG/Jacobs, SEBG § 18 Rz. 12. 31 BR-Drucks. 360/22 S. 60. 32 BR-Drucks. 360/22 (B) S. 1 f. 33 Vgl. Frodermann/Jannott/Gaul, Kap. 15 Rz. 165; GLF/Kienast, § 2 Rz. 647 f.; MüKoAktG/Jakobs, SEBG § 18 Rz. 19; Müller-Bonanni/Müntefering, BB 2009, 1699, 1702; Werner, NZG 2022, 541.
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Umsetzung unionsrechtlicher Regelungen zu grenzüberschreitenden Umwandlungen
in Bezug auf die damit verbundenen Folgen in der Begründung des Gesetzentwurfs aber wohl ignorieren müssen.
b)
Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie
Das Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (UmRUG) ist vor allem mit gesellschaftsrechtlichen Regelungen verbunden. Sie betreffen insbesondere das UmwG und haben zum Inhalt, dass in §§ 305 ff. UmwG Bestimmungen zur grenzüberschreitenden Umwandlung eingeführt werden. Dabei geht es um die Verschmelzung, die Spaltung und den Formwechsel. Veränderungen ergeben sich aus arbeitsrechtlicher Sicht dadurch, dass im Verschmelzungs-, Spaltungs- und Formwechselplan zukünftig auch Informationen über die Auswirkungen der grenzüberschreitenden Verschmelzung auf Betriebsrenten und Betriebsrentenanwartschaften enthalten sein müssen (§§ 307 Abs. 2 Nr. 16, 322 Abs. 2, 335 Abs. 2 Nr. 14 UmwG). Bei der Bekanntmachung des Verschmelzungs-, Spaltungs- oder Formwechselplans hat das Gericht den Hinweis an die zuständigen Betriebsräte der an der grenzüberschreitenden Verschmelzung beteiligten Gesellschaften oder, soweit es keinen Betriebsrat gibt, an die Arbeitnehmer der an der grenzüberschreitenden Verschmelzung beteiligten Gesellschaften mitzuteilen, dass sie der jeweiligen Gesellschaft spätestens fünf Arbeitstage vor dem Tag der Gesellschafterversammlung Bemerkungen zum Verschmelzungsplan übermitteln können (vgl. nur § 308 Abs. 1 Nr. 4 lit. b UmwG). Nach §§ 310, 324, 337 UmwG sind die Verschmelzungs-, Spaltungs- und Formwechselberichte den Anteilsinhabern und den zuständigen Betriebsräten der an einer grenzüberschreitenden Umwandlung beteiligten Gesellschaften oder, sofern es in der jeweiligen Gesellschaft keinen Betriebsrat gibt, den Arbeitnehmern spätestens sechs Wochen vor der Versammlung der Anteilsinhaber, die über die Zustimmung zum Umwandlungsplan beschließen soll, elektronisch zugänglich zu machen. Erhält das Vertretungsorgan der an der grenzüberschreitenden Umwandlung beteiligten Gesellschaft spätestens eine Woche vor der Versammlung der Anteilsinhaber in Textform eine Stellungnahme des zuständigen Betriebsrats oder, sofern es in der Gesellschaft keinen Betriebsrat gibt, der Arbeitnehmer, so unterrichtet die Gesellschaft ihre Anteilsinhaber hiervon unverzüglich nach Fristablauf durch elektronische Zugänglichmachung des einheitlichen Berichts oder des Berichts für die Arbeitnehmer unter Beifügung einer Kopie der Stellungnahme. Bei der Anmeldung der Umwandlung müssen die Mitglieder des Vertretungsorgans versichern, dass die Rechte der Arbeitnehmer gemäß §§ 308 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 lit. b, 310 Abs. 1, 3 UmwG eingehalten wurden. Auch muss das 21
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Vertretungsorgan dem Registergericht die Zahl der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verschmelzungsplans mitteilen. Entsprechendes gilt nach §§ 329, 342 Abs. 3 Nr. 3 UmwG für Spaltung und Formwechsel. Nach § 316 UmwG prüft das Registergericht innerhalb von drei Monaten nach der Anmeldung gemäß § 315 Abs. 1, 2 UmwG, ob für die übertragende Gesellschaft die Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Umwandlung vorliegen. Dabei wurde auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses klargestellt, dass das Registergericht bei Vorliegen von Anhaltspunkten prüfen muss, ob die grenzüberschreitende Verschmelzung zu missbräuchlichen oder betrügerischen Zwecken, die dazu führen oder führen sollen, sich Unionsrecht oder nationalem Recht zu entziehen oder es zu umgehen, oder zu kriminellen Zwecken vorgenommen werden soll. Liegen solche Zwecke vor, lehnt es die Eintragung ab. Ist es für die Prüfung notwendig, zusätzliche Informationen zu berücksichtigen oder weitergehende Ermittlungen durchzuführen, kann die vorgenannte Frist um höchstens drei Monate verlängert werden. Anhaltspunkte für missbräuchliche oder betrügerische Zwecke liegen nach § 316 Abs. 3 UmwG insbesondere vor, wenn 1.
ein gemäß Art. 133 Abs. 2 bis 4 Richtlinie 2017/1132/EU durchzuführendes Verhandlungsverfahren erst auf Aufforderung des Gerichts eingeleitet worden ist;
2.
die Zahl der Arbeitnehmer mindestens 4/5 des für die Unternehmensmitbestimmung maßgeblichen Schwellenwerts beträgt, im Zielland keine Wertschöpfung erbracht wird und der Verwaltungssitz (trotzdem) in Deutschland verbleibt;
3.
eine ausländische Gesellschaft durch die grenzüberschreitende Verschmelzung Schuldnerin von Betriebsrenten oder -anwartschaften wird und diese Gesellschaft kein anderweitiges operatives Geschäft hat.
Entsprechende Vorgaben gelten auch bei Spaltungen und/oder Formwechseln (vgl. §§ 329, 343 Abs. 3 UmwG). Dabei sind die vorgenannten Indizien insoweit alternativ zu verstehen. Bei der Prüfung kann das Registergericht nicht nur von der Gesellschaft und einem besonderen Verhandlungsgremium Informationen und Unterlagen verlangen (§ 317 S. 1 Nrn. 1, 3 UmwG). Soweit dies für die Prüfung erforderlich ist, kann das Registergericht auch eine in dem sich verschmelzenden Unternehmen vertretene Gewerkschaft anhören (§ 317 S. 1 Nr. 4 UmwG).
22
Umsetzung unionsrechtlicher Regelungen zu grenzüberschreitenden Umwandlungen
Unabhängig von den vorstehenden Einzelheiten hat die Einfügung der besonderen Regelungen zur grenzüberschreitenden Umwandlung in den §§ 305 ff. UmwG zur Folge, dass die arbeits- und unternehmensmitbestimmungsrechtlichen Regelungen, wie sie bislang in §§ 322 bis 325 UmwG enthalten waren, verschoben wurden. So findet sich die Möglichkeit, im Interessenausgleich eine Zuordnung von Arbeitnehmern vorzunehmen, so dass diese durch das Arbeitsgericht nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann (früher: § 323 Abs. 2 UmwG), in § 35 a Abs. 1 UmwG. Der Verweis auf § 613 a Abs. 1, 4 bis 6 BGB (früher: § 324 UmwG) findet sich in § 35 a Abs. 2 UmwG. Bei der Spaltung und Vermögensübertragung finden diese Regelungen durch Verweisungen Anwendung (z. B. § 125 UmwG). Die Regelungen zum Kündigungsschutz im Zusammenhang mit einer Spaltung, die bislang in § 322 UmwG (gemeinsamer Betrieb) bzw. § 323 Abs. 1 UmwG (kündigungsrechtliche Stellung) enthalten waren, finden sich jetzt in § 132 UmwG. Die Regelungen zur Mitbestimmungsbeibehaltung, die die Abspaltung oder Ausgliederung betreffen und bislang in § 325 UmwG enthalten waren, finden sich jetzt in § 132 a UmwG. Wichtig mit Blick auf Unterrichtungsschreiben nach § 613 a Abs. 5 BGB ist die Ergänzung in § 133 Abs. 3 UmwG. Sie lautet wie folgt: Die Haftung des in S. 1 bezeichneten Rechtsträgers beschränkt sich auf den Wert des ihnen am Tag des Wirksamwerdens zugeteilten Nettoaktivvermögens.
Die darin liegende Einschränkung der gesamtschuldnerischen Haftung im Zusammenhang mit Spaltungen nach § 123 UmwG muss in den Unterrichtungsschreiben ergänzt werden. Andernfalls droht ihre Fehlerhaftigkeit, was zur Folge hat, dass ein etwaiger Widerspruch in den Grenzen der Verwirkung nach Ablauf der Monatsfrist des § 613 a Abs. 6 BGB erfolgen kann.
c)
Fazit
Beide Gesetze sind mit weiteren Änderungen in anderen Rechtsvorschriften (z. B. SCEBG, AktG) verbunden. Da die wesentlichen Regelungen durch die unionsrechtlichen Vorgaben bestimmt sind, ist aber nicht zu erwarten, dass das Gesetzgebungsverfahren insoweit noch zu wesentlichen Änderungen führen wird. (Ga)
23
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
3.
Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
Im Herbst hatten wir über das Gesetz zur weiteren Umsetzung der Richtlinie 2019/1158/EU zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU berichtet, mit dem vor allem Änderungen in Bezug auf ein Teilzeitverlangen während der Elternzeit, der Pflegezeit oder Familienpflegezeit verbunden sind 34. Nach Maßgabe der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 30.11.202235 wurde auf diese Weise der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 19.9.202236 unverändert angenommen. Das Gesetz ist am 24.12.2022 in Kraft getreten37. Damit ist es zwar zunächst einmal dabei geblieben, dass in Deutschland kein Vaterschaftsurlaub eingeführt wird. Die Bundesregierung beruft sich insoweit auf Art. 20 Abs. 6, 7 Richtlinie 2019/1158/EU. Danach kann auf eine Umsetzung der Regelungen zum Vaterschaftsurlaub in Art. 8 Abs. 2 Richtlinie 2019/1158/EU verzichtet werden, wenn während eines Elternurlaubs von mindestens sechs Monaten Dauer für jedes Elternteil eine Bezahlung oder Vergütung i. H. v. mindestens 65 % des Nettoeinkommens gewährt wird. Eine Obergrenze, sollte sie festgelegt werden, ist dabei zulässig. Diese Voraussetzungen sind in Deutschland grundsätzlich erfüllt, auch wenn problematisch erscheint, dass der Anspruch auf Elterngeld an sich an eine mindestens zweimonatige Inanspruchnahme von Elternzeit geknüpft ist. Mit dem „Familienstartzeit-Gesetz“, das nachfolgend gesondert behandelt wird38, soll jetzt doch noch ein Anspruch auf eine bezahlte Partnerfreistellung von bis zu zehn Arbeitstagen eingeführt werden. Obwohl die Überschrift des Gesetzes eine vollständige Umsetzung der Richtlinie 2019/1158/EU suggeriert, ist Art. 9 Richtlinie 2019/1158/EU damit weiterhin nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Danach sind die Mitgliedstaaten eigentlich auch gehalten, auf nationaler Ebene übergreifend zu gewährleisten, dass Arbeitnehmer mit Kindern bis zu einem bestimmten Alter, mindestens jedoch bis zum Alter von acht Jahren, sowie pflegende Angehörige das Recht haben, flexible Arbeitsregelungen für Betreuungs- oder Pflegezwecke zu beantragen. Mit den Regelungen in §§ 8 ff. TzBfG, 15 BEEG sind zwar entspre-
34 35 36 37 38
24
B. Gaul, AktuellAR 2022, 357 ff. BT-Drucks. 20/4738. BT-Drucks. 20/3447. BGBl. I 2022, 2510. B. Gaul, AktuellAR 2023, 25 ff.
Anspruch auf Partnerfreistellung nach einer Entbindung
chende Möglichkeiten für die Durchsetzung einer Teilzeitbeschäftigung vorgesehen. Es fehlen aber Regelungen, auf deren Grundlage der Arbeitnehmer jedenfalls eine Erörterung seines Wunsches nach einer Veränderung des Arbeitsortes, wie dies bei mobiler Arbeit oder der Arbeit im Homeoffice der Fall sein kann, verbunden ist. Eine solche Regelung, wie sie zuletzt im Entwurf des Mobile-Arbeit-Gesetzes (MAG) enthalten war39, muss noch geschaffen werden. (Ga)
4.
Anspruch auf Partnerfreistellung nach einer Entbindung
Am 29.3.2023 hat das BMFSFJ einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Freistellungsanspruchs für den Partner oder die Partnerin nach der Entbindung und zur Änderung anderer Gesetze im Bereich der familienbezogenen Leistungen (Familienstartzeit-Gesetz) vorgelegt. Wenn es in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wird und eine Mehrheit findet, soll es am 1.1.2024 in Kraft treten. Mit diesem Gesetz würde die Bundesregierung ihre ursprüngliche Entscheidung aufgeben, keinen Vaterschaftsurlaub einzuführen40. Mit der gesetzlichen Neuregelung, die insbesondere das MuSchG und das BEEG betrifft, würde dem Partner bzw. der Partnerin einer Frau die Möglichkeit eröffnet, nach einer Entbindung bis zu zehn Tage bezahlte Freistellung in Anspruch zu nehmen. Auf diese Weise soll schon frühzeitig ein Grundstein für eine partnerschaftliche Aufteilung der Familienaufgaben gesetzt werden. Gleichzeitig soll auch Alleinerziehenden die Möglichkeit verschafft werden, sich von den Anstrengungen der Geburt zu erholen. Bei Frühgeburten soll es einen zusätzlichen Basiselterngeldmonat geben. Partner oder Partnerin im Zusammenhang mit der gesetzlichen Neuregelung ist der andere Elternteil, der mit der Frau, die entbunden hat, in einem Haushalt lebt, oder eine andere Person, die mit der Frau, die entbunden hat, eine Lebenspartnerschaft geschlossen hat und mit ihr in einem Haushalt lebt, oder eine von der Frau während der Schwangerschaft oder nach ihrer Entbindung benannte Person, wenn der andere Elternteil nicht mit der Frau in einem Haushalt lebt. Die Benennung einer anderen Person kommt damit nur in Betracht, wenn der andere Elternteil oder der Lebenspartner mit der Frau, die entbunden hat, nicht in einem Haushalt lebt. Darüber hinaus soll zur Vermeidung einer mehrfachen Inanspruchnahme von Leistungen bestimmt werden, dass 39 B. Gaul, AktuellAR 2021, 36 ff. 40 Vgl. hierzu B. Gaul, AktuellAR 2023, 24.
25
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
im Zusammenhang mit der Geltendmachung des Anspruchs auf Partnerfreistellung nur eine Person Partner oder Partnerin sein darf (§ 15 MuSchG-Entwurf). Nach § 25 a MuSchG-Entwurf kann der Partner oder die Partnerin von seinem oder ihrem Arbeitgeber tageweise in den ersten zehn Arbeitstagen ab dem Entbindungstag oder – falls am Entbindungstag gar keine Arbeitspflicht bestanden hat – ab dem darauffolgenden Arbeitstag eine Freistellung von der Arbeitsleistung verlangen. Dies gilt auch für den Fall einer Totgeburt. Für die Dauer der Freistellung erhält der Partner oder die Partnerin von seinem oder ihrem Arbeitgeber Partnerschaftslohn. Als Partnerschaftslohn wird das durchschnittliche kalendertägliche Arbeitsentgelt der letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor der Entbindung als steuer- und sozialversicherungsrechtliche Leistung gezahlt. Dabei gelten die §§ 21, 22 MuSchG für die Ermittlung des Anspruchs auf Partnerschaftslohn entsprechend. Das soll sicherstellen, dass für den Partner bzw. die Partnerin und die Frau, die entbunden hat, die gleichen Regelungen zur Höhe der Vergütung zur Anwendung kommen. Weitergehend gelten für den Partner bzw. die Partnerin die §§ 24, 25 MuSchG entsprechend. Der Partner oder die Partnerin soll seinem oder ihrem Arbeitgeber zwar die Schwangerschaft und den voraussichtlichen Tag der Entbindung mitteilen (§ 25 a Abs. 5 MuSchG-Entwurf). Eine frühere Mitteilungspflicht oder eine Anmeldepflicht sind nicht vorgesehen, so dass der Arbeitgeber von einer Partnerfreistellung auch überrascht werden kann. Das hält der Referentenentwurf mit Blick auf die Dauer der Freistellung aber für vertretbar. Verlangt der Arbeitgeber einen Nachweis über die Entbindung, muss der Partner oder die Partnerin diesen vorlegen (§§ 15 Abs. 3, 25 a Abs. 4 MuSchG-Entwurf). Der Partnerschaftslohn während der Partnerfreistellung soll allerdings nicht durch den Arbeitgeber getragen werden müssen. Deshalb soll das U2-Verfahren nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG), aus dem bislang die Mutterschaftsleistungen erstattet werden, ausgeweitet werden. Insofern gelten also die gleichen Regelungen wie beim Mutterschaftslohn nach § 18 MuSchG. Abweichend von § 616 BGB soll der Arbeitgeber auf diese Weise einen Anspruch auf Erstattung seines Aufwands erhalten. Bei freiwillig versicherten Arbeitnehmern, die aufgrund ihrer Wahlerklärung nach § 44 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V bei Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Krankengeld haben und Partner oder Partnerin i. S. d. § 2 Abs. 6 MuSchG sind, soll für die Dauer der Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit in den ersten zehn Arbeitstagen ab dem Entbindungstag oder ab dem darauffolgenden Arbeitstag ein Anspruch auf Partnerschaftsgeld in Höhe des Krankengeldes bestehen. 26
Erneute Anpassung und Verlängerung der Regelungen zur Kurzarbeit
Das gilt allerdings nicht, soweit und solange das Mitglied beitragspflichtiges Arbeitseinkommen erhält (§ 24 j SGB V-Entwurf). Eine entsprechende Regelung soll für die privat krankenversicherten Partnerinnen und Partner in § 192 Abs. 5 S. 2 VVG eingefügt werden. Im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer Partnerfreistellung sollen auch §§ 15, 16 BEEG angepasst werden. Losgelöst von sprachlichen Vereinfachungen soll auf diese Weise nicht nur festgelegt werden, dass eine Partnerfreistellung auf eine etwaige Elternzeit bzw. die Zwei-Jahres-Zeit in § 16 BEEG angerechnet wird. Ergänzend hierzu soll bestimmt werden, dass die Elternzeit zur Inanspruchnahme einer Partnerfreistellung auch ohne Zustimmung des Arbeitgebers vorzeitig beendet werden kann. Das soll auch für Personen gelten, die nicht der andere Elternteil sind (§ 16 a BEEG-Entwurf). (Ga)
5.
Erneute Anpassung und Verlängerung der Regelungen zur Kurzarbeit
Die Regelungen zur erleichterten Inanspruchnahme von Kurzarbeit werden auf der Grundlage der Verordnung über den erweiterten Zugang zum Kurzarbeitergeld vom 19.12.2022, mit der die Kurzarbeitergeldzugangsverordnung (KugZuV) und die Kurzarbeitergeldöffnungsverordnung (KugÖV) angepasst wurden41, bis zum 30.6.2023 fortgeführt. Weiterhin genügt es also für den Bezug von Kurzarbeitergeld auch in der Zeit bis zum 30.6.2023, dass abweichend von § 96 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB III nur 10 % der Beschäftigten im Betrieb von einem Entgeltausfall betroffen sein müssen. Außerdem wird auf den Aufbau negativer Arbeitszeitsalden verzichtet (§ 421 c Abs. 4 SGB III). Die für Leiharbeitnehmer geltenden Sonderregelungen wurden ebenfalls bis zum 30.6.2023 verlängert. § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG findet damit keine Anwendung, wenn und solange für den Leiharbeitnehmer Kurzarbeitergeld gezahlt wird. Grundlage ist die KugÖV. Die Höchstdauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld bleibt hingegen bei dem gesetzlichen Regelmaß von zwölf Monaten. Falls die Bezugsdauer ausgeschöpft ist, kommt eine erneute Inanspruchnahme daher erst nach einer Unterbrechung von drei Monaten in Betracht, wenn dann auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind (§ 104 Abs. 3 SGB III). In diesem Fall kann die erneute Beantragung von Kurzarbeitergeld auch genutzt werden, um den Bezugspunkt (Betrieb/Betriebsabteilung) zu ändern. (Ga)
41 BAnz AT v. 21.12.2022 V3.
27
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
6.
Referentenentwurf zur Arbeitszeiterfassung und behördliche Umsetzung der Dokumentationspflicht
Obwohl der EuGH bereits mit Urteil vom 14.5.201942 klargestellt hatte, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass die tägliche Arbeitszeit mit dem Ziel dokumentiert wird, Arbeitnehmern, Arbeitnehmervertretern und Behörden einen Überblick über die Einhaltung der materiell-rechtlichen Schranken des Arbeitszeitrechts zu geben, hat das BMAS erst im April 2023 einen Referentenentwurf zur Anpassung des Arbeitszeitrechts vorgelegt. Da der Entwurf allerdings Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassung nur durch Tarifvertrag oder durch Betriebsvereinbarung aufgrund eines Tarifvertrags zulässt, ist er völlig ungeeignet, um den Erfordernissen der betrieblichen Praxis Rechnung zu tragen. Viele Arbeitnehmer, die in Vertrauensarbeitszeit und/oder mobil tätig sind, haben gerade keine Tarifbindung oder fallen aus der Zuständigkeit eines Betriebsrats. Das muss korrigiert werden. Unabhängig davon werden verfassungsrechtlich relevante Pflichtenkollisionen, wie sie beispielsweise im Gesundheitswesen oder bei der anwaltlichen Berufsausübung auftreten können, noch nicht berücksichtigt. Den Kern des Referentenentwurfs bildet eine Anpassung von § 16 ArbZG. In seiner Neufassung soll er ab dem Abs. 2 wie folgt aussehen: (2) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen. Er hat ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in eine Verlängerung der Arbeitszeit gemäß § 7 Abs. 7 eingewilligt haben. Der Arbeitgeber hat die Arbeitszeitnachweise nach S. 1, 2 mindestens zwei Jahre aufzubewahren. (3) Die Aufzeichnung nach Abs. 2 S. 1 kann durch den Arbeitnehmer oder einen Dritten erfolgen; der Arbeitgeber bleibt für die ordnungsgemäße Aufzeichnung verantwortlich. (4) Wenn die Aufzeichnung nach Abs. 2 S. 1 durch den Arbeitnehmer erfolgt und der Arbeitgeber auf die Kontrolle der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verzichtet, hat er durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass ihm Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zur Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden. (5) Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer auf Verlangen über die aufgezeichnete Arbeitszeit nach Abs. 2 S. 1 zu informieren. Er hat dem
42 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 638 – CCOO.
28
Referentenentwurf zur Arbeitszeiterfassung und behördliche Umsetzung
Arbeitnehmer auf Verlangen eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. (6) Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, die für die Kontrolle der Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften erforderlichen Aufzeichnungen im Inland für die gesamte Dauer der tatsächlichen Beschäftigung der Arbeitnehmer im Geltungsbereich dieses Gesetzes, mindestens für die Dauer der gesamten Werk- oder Dienstleistung, insgesamt jedoch nicht länger als zwei Jahre in deutscher Sprache bereitzuhalten. Auf Verlangen der Aufsichtsbehörde sind die Unterlagen auch am Ort der Beschäftigung bereitzuhalten, bei Bauleistungen auf der Baustelle. (7) In einem Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann zugelassen werden, dass 1. die Aufzeichnung abweichend von Abs. 2 S. 1 in nicht elektronischer Form erfolgen kann, 2. die Aufzeichnung abweichend von Abs. 2 S. 1 an einem anderen Tag erfolgen kann, spätestens aber bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertages, 3. die Pflicht zur Aufzeichnung nach Abs. 2 S. 1 nicht bei Arbeitnehmern gilt, bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. (8) Abweichend von Abs. 2 S. 1 kann ein Arbeitgeber [noch ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes] die Arbeitszeit in nicht elektronischer Form aufzeichnen. Für Arbeitgeber mit weniger als 50 bzw. 250 Arbeitnehmern gilt diese Ausnahme bis zum [Ablauf von fünf bzw. zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes]. Abweichend von Abs. 2 S. 1 kann ein Arbeitgeber mit bis zu zehn Arbeitnehmern die Arbeitszeit in nicht elektronischer Form aufzeichnen; (…) Bei Hausangestellten in einem Privathaushalt kann die Arbeitszeit in nicht elektronischer Form aufgezeichnet werden.
Es ist dringend zu hoffen, dass die in Abs. 7 vorgesehenen Ausnahmeregelungen auch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart werden können. Abs. 4 genügt nicht. Hier kommt es nämlich weiterhin zu Aufzeichnungen, die zwei Jahre aufbewahrt werden müssen und deren Vorlage auch der Betriebsrat verlangen kann (§ 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BetrVG). Die erforderliche Anpassung von Abs. 7 betrifft nicht nur die Art und den Zeitpunkt der Arbeitszeiterfassung; eine tagesgenaue Erfassung ist z. B. bei tagesübergreifen29
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
der Arbeit, bei Reisetätigkeit und/oder mobiler Arbeit schwierig. Das gilt selbst dann, wenn „Tabellenkalkulationsprogramme“ (z. B. Microsoft Excel) ausdrücklich zugelassen werden. Weitergehend muss auch die Ausgrenzung von Arbeitnehmern in Vertrauensarbeitszeit auf individualrechtlicher Ebene vereinbart werden können. Gerade mit Blick auf die negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) ist es unverhältnismäßig, zu verlangen, dass das Arbeitsverhältnis eine Tarifbindung hat und/oder in den Zuständigkeitsbereich eines Betriebsrats fällt. Das missachtet auch das Versprechen des Koalitionsvertrags, Vertrauensarbeitszeit weiterhin zuzulassen. Arbeitnehmer können ausreichend dadurch geschützt werden, dass der Arbeitgeber beweisen muss, dass die gesamte Arbeitszeit nicht im Voraus festgelegt wird oder durch den Arbeitnehmer selbst festgelegt werden kann. Wie das BAG in seinem Beschluss vom 13.9.202243 klargestellt hat, den wir an anderer Stelle behandeln44, wäre auch eine generelle Herausnahme dieser Personengruppe durch Änderung von § 18 ArbZG möglich und sinnvoll. Dann entfiele losgelöst von einer Tarifbindung die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Auch der Betriebsrat könnte keinen Auskunftsanspruch mehr geltend machen. Wichtig erscheint, dass man aus dem Referentenentwurf wohl keine Verpflichtung ableiten kann, auch die genaue Lage einer Pause zu erfassen. Es genügt, wenn der tägliche Beginn, das Ende und die Dauer der Arbeitszeit erfasst werden. Insoweit dürfte es ausreichend sein, Pausen und andere Zeiten, die nicht als Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne zu qualifizieren sind (z. B. Reisezeiten im Flugzeug, soziale Verweilzeiten im Unternehmen), abzuziehen oder die Dauer der Arbeitszeit gesondert als eigene Eingabe zu erfassen. Dabei dürfte es zulässig sein, einen etwaigen Abzug automatisch vorzunehmen, wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, Einsicht zu nehmen und Korrekten zu veranlassen. Das entspricht der elektronischen Auswertung von Schichtplänen, die ebenfalls genügen soll. Bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens ist den Unternehmen weiterhin anzuraten, mit eigenen Schritten zur Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben abzuwarten. Dabei ist es hilfreich zu wissen, dass die Gewerbeaufsichtsämter offenbar Zurückhaltung walten lassen. Das zeigen Leitlinien des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW in einem an die Bezirksregierungen in NRW gerichteten Schreiben vom 17.2.2023. Danach sind die Betriebe bei Betriebsbesichtigungen unter Bezugnahme auf die BAG-Entscheidung darauf hinzuweisen, dass der Arbeitgeber ein System zur vollständigen Arbeitszeiterfassung vorhalten müsse, das auch tatsächlich zur 43 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616. 44 B. Gaul, AktuellAR 2023, 132 ff.
30
Neuregelungen zur Erleichterung eines Zugangs ausländischer Fachkräfte
Anwendung kommen müsse. Bei einer fehlenden Aufzeichnung der Arbeitszeit könne die jeweils zuständige Behörde diese Aufzeichnung nach § 17 Abs. 4 S. 2 ArbZG auch anordnen. Das bestätigt auch die Entscheidung des OVG Sachsen-Anhalt vom 17.11.202245. Das ändert sich aber mit der Anpassung von § 22 ArbZG, wie dies im Referentenentwurf vorgesehen ist46. (Ga)
7.
Neuregelungen zur Erleichterung eines Zugangs ausländischer Fachkräfte
Pünktlich zum Jahreswechsel ist am 31.12.202247 das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts in Kraft getreten, das Menschen, die am 31.10.2022 seit mindestens fünf Jahren geduldet oder gestattet in Deutschland leben, nach Maßgabe des § 104 c AufenthG n. F. grundsätzlich die Chance auf ein zuverlässiges Bleiberecht gibt. Dabei werden auch Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige (ledige) Kinder einbezogen, selbst wenn sich diese am 31.10.2022 noch nicht seit fünf Jahren ununterbrochen gestattet, geduldet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland befinden. Volljährige (ledige) Kinder haben die gleiche Rechtsstellung, wenn sie bei der Einreise minderjährig gewesen sind. Für 2023, teilweise auch erst für die Folgejahre48, stehen im Aufenthaltsrecht zudem Neuerungen an, die die Erwerbszuwanderung erleichtern sollen. So hat die Bundesregierung am 31.3.2023 den Entwurf für ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung und für eine Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung in den Bundesrat eingebracht49. Angesichts des Fach- und Arbeitskräftemangels ruhen große Hoffnungen auf der geplanten Reform. Im Folgenden sollen die wesentlichen Neuerungen, die das Gesetz und die Verordnung bringen würden, zusammengestellt und eingeordnet werden.
a)
Chancen-Aufenthaltsrecht
Beim Chancen-Aufenthaltsrecht, das seit dem 31.12.2022 in § 104 c AufenthG geregelt ist, geht es nicht um die nahezu gleichnamige Chancenkarte, sondern um eine Möglichkeit für Geduldete, die am Stichtag des 31.10.2022 bereits mindestens fünf Jahre in Deutschland leben, innerhalb der 18-mona-
45 46 47 48 49
Hierzu vgl. OVG Sachsen-Anhalt v. 17.11.2022 – 1 L 100/20.Z n. v. B. Gaul/Pitzer, AktuellAR 2022, 604 ff. BGBl. I 2022, 2847. BR-Drucks. 137/23 S. 110. BR-Drucks. 137/23 S. 110.
31
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
tigen Geltungsdauer eines sog. Chancen-Aufenthaltsrechts die Voraussetzungen für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erfüllen und ihr Bleiberecht damit zukünftig auf eine rechtssichere Grundlage stützen zu können. Dafür müssen innerhalb des 18-Monats-Zeitraums mündliche Deutschkenntnisse auf A2-Niveau und eine überwiegende eigenständige Lebensunterhaltssicherung durch Erwerbstätigkeit nachgewiesen werden.
b)
Erwerbsmigration
Die aktuell vorgestellten Referentenentwürfe für ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung und für eine Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung sind als Schritte zur Umsetzung der bereits im Koalitionsvertrag50 und sodann noch einmal am 30.11.2022 als Eckpunkte51 angekündigten Strategie der Bundesregierung zur Schaffung des „modernsten Einwanderungsrechts in Europa“52 zu verstehen. Von dieser Strategie ausgehend soll die Erwerbseinwanderung künftig auf drei Säulen beruhen: der Fachkräftesäule, der Erfahrungssäule und der Potenzialsäule, die das Prinzip der Bedarfszuwanderung zukünftig ergänzen wird. Die Einführung dieser drei Säulen der Erwerbseinwanderung ist nicht nur an einen Ausbau der bestehenden Rechtsgrundlagen zur Einwanderung als Fachkraft mit anerkanntem Abschluss („Fachkräftesäule“) geknüpft. Vielmehr bedarf es auch einer Erweiterung der Möglichkeit, einen formellen Abschluss durch einen Nachweis von Berufserfahrung zu ersetzen („Erfahrungssäule“). Außerdem soll eine sog. Chancenkarte zur Arbeitsplatzsuche auf Basis eines Punktesystems eingeführt werden („Potenzialsäule“). Unabhängig davon geht es bei den Gesetzesvorhaben zugleich um die Umsetzung der Richtlinie 2021/1883/EU über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/50/EG53 (Hochqualifiziertenrichtlinie), die insbesondere den Rahmen für die Blaue Karte EU bestimmt hat. aa)
Blaue Karte EU
Die Blaue Karte EU ist einer der begehrtesten deutschen Aufenthaltstitel. Dies liegt zum einen daran, dass dieser Titel günstige Bedingungen für den Familiennachzug bietet. Zum anderen ist mit der Blauen Karte EU ein rascher 50 Koalitionsvertrag S. 33. 51 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/fachkraefteeinwanderungsgesetz2146480. 52 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/fachkraefteeinwanderungsgesetz2146480. 53 ABl. EU 2021, L 382, 1.
32
Neuregelungen zur Erleichterung eines Zugangs ausländischer Fachkräfte
Wechsel in einen Daueraufenthaltstitel möglich. Schließlich eröffnet die Blaue Karte EU Möglichkeiten zur vereinfachten Mobilität innerhalb der EU. Zukünftig wird die Blaue Karte EU in § 18 g AufenthG geregelt sein. Dabei wird bei den Erteilungsvoraussetzungen weiterhin zwischen Regelberufen und Engpassberufen unterschieden werden. Zu dem Begriff des Regelberufs sind insoweit alle Bereiche einer Beschäftigung von Fachkräften mit akademischer Ausbildung zu rechnen, die nicht in die Liste der Engpassberufe fallen. Für Regelberufe wurde die Gehaltsschwelle abgesenkt. Für Berufseinsteiger soll in den ersten drei Jahren nach dem Abschluss zukünftig sogar in Bezug auf die Erteilung der Blauen Karte EU für einen Regelberuf die niedrigere Gehaltsschwelle für Engpassberufe Anwendung finden. Im Übrigen gelten jedoch die bisherigen Bestimmungen, die neben dem Erreichen der Mindestgehaltsgrenze einen deutschen oder einen anerkannten bzw. gleichwertigen ausländischen Hochschulabschluss voraussetzen. Engpassberufe waren bislang neben dem Arztberuf nur solche, die dem MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zugeordnet werden konnten. Zukünftig wird die Liste deutlich erweitert. So sollen auch Führungskräfte in der Produktion, im Bergbau und im Bau sowie in der Logistik umfasst sein. Weiter werden Tierärzte, Zahnärzte, Apotheker sowie sonstige akademische und verwandte Gesundheitsberufe ebenso wie Lehrkräfte einbezogen. Dabei soll die bereits reduzierte Gehaltsschwelle für Engpassberufe noch abgesenkt werden. Eine Zustimmung der Agentur für Arbeit wird im Bereich der Engpassberufe auch weiterhin erforderlich sein. Der im Referentenentwurf noch vorgesehene Vorschlag, dieses Erfordernis auf Antragsteller mit ausländischem Hochschulabschluss zu beschränken54, hat sich nicht durchgesetzt. Eine große Neuerung, die sich aus der Umsetzung von Art. 2 Nr. 8 Hochqualifiziertenrichtlinie ergibt, besteht darin, dass die Blaue Karte EU erstmals auch an hochqualifizierte Drittstaatsangehörige erteilt werden kann, die keinen akademischen Abschluss besitzen. Erfasst sind insbesondere Meister, die Vorbereitungskurse im Umfang von mindestens 880 Stunden absolviert haben. Das jährliche Bruttomindestgehalt orientiert sich auch insoweit an den Vorgaben in Art. 5 Hochqualifiziertenrichtlinie, die für die verschiedenen Beschäftigtengruppen bestimmte Faktoren des durchschnittlichen Bruttover-
54 Referentenentwurf des BMI und BMAS für ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung und für eine Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung v. 17.2.2023 S. 9.
33
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
dienstes ansetzt. In Deutschland wird dies – wie bislang auch – durch eine Bezugnahme auf die Beitragsbemessungsgrenze realisiert. In Umsetzung von Art. 15 Abs. 2 Hochqualifiziertenrichtlinie wurde ein Arbeitsplatzwechsel, für den bislang in den ersten beiden Jahren die Zustimmung der Ausländerbehörde erforderlich ist, in § 18 g Abs. 4 AufenthG deutlich erleichtert. Nach der Neuregelung kann die zuständige Ausländerbehörde einen solchen Arbeitsplatzwechsel nur in den ersten zwölf Monaten der Beschäftigung für 30 Tage aussetzen und ablehnen, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Blauen Karte EU nicht erfüllt sind. Auch wenn der Anwendungsbereich der Blaue Karte EU durch die Neuregelungen deutlich ausgeweitet wurde, bestehen leider typische Probleme der Betriebspraxis bei der Erlangung der Blauen Karte EU. Bottleneck ist in der Praxis oft nicht die Mindestgehaltsgrenze, sondern das aufwändige Verfahren zur Feststellung der Gleichwertigkeit ausländischer Hochschulabschlüsse durch die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB). Hier wäre wünschenswert, dass das Verfahren beschleunigt und hinsichtlich der Anforderungen an Umfang und Übersetzung der Studiendokumente, die von Land zu Land variieren, vereinfacht wird. Einen deutlichen Beitrag würde insoweit ein Ausbau der ANABIN-Datenbank (Anerkennung und Bewertung ausländischer Bildungsnachweise) bedeuten. Ausländische Abschlüsse, die in dieser Datenbank gelistet und als gleichwertig eingestuft sind, bedürfen nicht der individuellen Prüfung durch die ZAB, so dass das aufenthaltsrechtliche Verfahren unmittelbar angestoßen werden kann. bb)
Fachkräfte ohne formalen Berufsabschluss
Gemäß § 19 c Abs. 2 AufenthG können Drittstaatsangehörige mit ausgeprägten berufspraktischen Kenntnissen bereits jetzt auch ohne formalen Berufsabschluss eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn die BeschV den Zugang zum Arbeitsmarkt vorsieht. Im aktuellen § 6 BeschV ist ein solcher Arbeitsmarktzugang jedoch nur für Spezialisten im IT-Bereich vorgesehen. Zukünftig soll Fachkräften aller Branchen ein besonderer Arbeitsmarktzugang gewährt werden, wenn sie ausgeprägte berufspraktische Kenntnisse nachweisen. Als Nachweis wird eine in den letzten fünf Jahren erworbene, mindestens zweijährige Berufserfahrung, ein Arbeitsplatzangebot mit einem Gehalt von mindestens 45 % der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung und eine ausländische Berufsqualifikation oder ein Hochschulabschluss, die jeweils in dem Erwerbsland staatlich anerkannt sind, verlangt.
34
Neuregelungen zur Erleichterung eines Zugangs ausländischer Fachkräfte
cc)
Westbalkan-Regelung
Nach § 19 c Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 26 Abs. 2 BeschV können Staatsangehörige von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien mit Zustimmung der Agentur für Arbeit einen Aufenthaltstitel für jede Beschäftigung erhalten. Die Regelung ermöglicht die Anwerbung von Arbeitskräften unterhalb des Fachkräfteniveaus und ist daher äußerst praxisrelevant. Die Regelung wurde bislang immer wieder verlängert und soll mit dem neuen Gesetz nun entfristet werden. Da Aufenthaltstitel nach der Westbalkan-Regelung kontingentiert sind, kommt zur Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen allerdings immer ein Glücksfaktor hinzu, der sich in der Auslosung der in das Kontingent fallenden Bewerber durch die Agentur für Arbeit niederschlägt. Dieser Faktor bleibt zwar bestehen, das Kontingent wird jedoch auf 50.000 Zustimmungen jährlich verdoppelt. Damit sollte sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, mit der Auslosung auch die am Glücksfaktor ausgerichtete Voraussetzung zu erfüllen. dd)
Kurzfristige Beschäftigung
Eine ähnlich unkomplizierte Bestimmung wie die Westbalkan-Regelung soll jetzt mit § 15 d BeschV eingefügt werden. Auch hier soll die Ausübung jeder denkbaren Beschäftigung unabhängig vom Nachweis einer Qualifikation ermöglicht werden. Die Regelung dient damit der Abmilderung des bestehenden Arbeitskräftemangels und erlaubt eine Beschäftigung für insgesamt sechs Monate innerhalb von zwölf Monaten. Die Regelung soll es Arbeitgebern ermöglichen, temporäre Engpässe, etwa in der Landwirtschaft oder im Hotelund Gaststättengewerbe, abzufedern. Der Anwendungsbereich der kurzfristigen Beschäftigung nach § 15 d BeschV wird allerdings dadurch stark eingeschränkt, dass sie die Beschäftigung bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber verlangt. Dabei wird auf eine gesetzliche Tarifbindung abgestellt, die nach §§ 3, 4 TVG durch den Abschluss eines Firmentarifvertrags, die gesetzliche Bindung an einen Verbandstarifvertrag oder eine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 4 TVG begründet werden kann. ee)
Chancenkarte
Schon jetzt besteht nach § 20 AufenthG die Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel zur Arbeitsplatzsuche zu beantragen. Dieser Titel ermöglicht die Einreise ohne konkretes Arbeitsplatzangebot, beruht jedoch nicht auf einem Punktesystem, sondern erfordert insbesondere eine anerkannte Berufsausbildung oder einen anerkannten akademischen Abschluss und ist damit Fachkräften im Sinne der Definition des § 18 Abs. 3 AufenthG vorbehalten. 35
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Praktisch hatte der Aufenthaltstitel bislang keine große Bedeutung für die Zuwanderung; er spielte stattdessen eher bei der Überbrückung kurzfristiger Arbeitslosigkeit von drittstaatsangehörigen Fachkräften eine Rolle. Dies lag zum einen daran, dass vor Einreise die Unterhaltssicherung nachgewiesen werden musste. Zum anderen war es nicht möglich, gemeinsam mit der Familie zur Arbeitssuche nach Deutschland zu kommen. Mit dem neuen § 20 a AufenthG soll der Aufenthaltstitel zur Arbeitsplatzsuche als sog. Chancenkarte neu geregelt werden. Auch nach der Neuregelung können Fachkräfte mit anerkanntem Abschluss den Aufenthaltstitel ohne Weiteres erlangen. Neu ist jedoch, dass die Chancenkarte daneben auch von Bewerbern ohne einen in Deutschland anerkannten Abschluss auf der Grundlage eines Punktesystems beantragt werden kann, wenn diese eine Berufsqualifikation nachweisen können, die eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren erfordert und in dem Land, in dem sie erworben wurde, staatlich anerkannt ist, oder einen entsprechenden Hochschulabschluss besitzen. Zudem müssen entweder Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 oder Englischkenntnisse auf dem Niveau C1 vorhanden sein. Das Punktesystem basiert sodann auf den Kriterien Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter. Dabei soll in § 20 a Abs. 3 bis 6 AufenthG bestimmt werden, für welche Voraussetzungen im Zusammenhang mit den genannten Kriterien jeweils vier, drei, zwei oder ein Punkt gesammelt werden können. Notwendig sind insgesamt mindestens sechs Punkte. Während der Aufenthaltstitel zur Arbeitsplatzsuche vollständig in der Chancenkarte aufgeht, bleibt der Titel zur Ausbildungsplatzsuche in § 17 AufenthG bestehen und wird erweitert. Insbesondere die Anhebung der Altersgrenze von 25 auf 35 Jahre dürfte sich bei der Zahl der Anträge auswirken. Die Bundesregierung rechnet insoweit mit einem Anstieg um 60 %55. Neben der Chancenkarte wird der in § 16 d AufenthG geregelte Aufenthalt zur weiteren Qualifikation mit dem Ziel der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen weiterhin eine große Rolle spielen. Auch ein Aufenthaltstitel für den Besuch eines Sprachkurses ist in diesem Zusammenhang möglich. Wie groß der durch die Neuregelung zusätzlich angesprochene Personenkreis sein wird, bleibt abzuwarten. Das liegt bereits daran, dass ein im Heimatland erworbener Abschluss und Sprachkenntnisse weiterhin zwingende Voraussetzungen für den Erwerb der Chancenkarte sind. Kandidaten mit diesen Voraussetzungen fallen derzeit in weiten Teilen bereits unter die Regelungen in 55 BR-Drucks. 137/23 S. 51.
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Kein Aufschub für das Inkrafttreten des LkSG
§§ 20, 16 d AufenthG, die eine Einreise zur Teilnahme an einer Qualifikationsmaßnahme und zum Erwerb noch fehlender berufspraktischer Qualifikationen ermöglichen. Auch die Chancenkarte ist darauf ausgerichtet, dass im Anschluss daran ein Aufenthaltstitel als Fachkraft beantragt werden kann. Der Nachweis eines beliebigen Arbeitsplatzes genügt für ein Bleiberecht nach Ablauf der Chancenkarte hingegen nicht. Auch der Familiennachzug ist im Rahmen der Chancenkarte nach wie vor nicht vorgesehen. Möchte man Fachkräfte ansprechen, die einen dauerhaften Verbleib in Deutschland in Erwägung ziehen, wäre dies jedoch eine wichtige Voraussetzung. Es bleibt daher abzuwarten, ob diese Lücke im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch geschlossen und damit eine weitere, echte Erleichterung bei der Einwanderung von Fachkräften geschaffen wird. (Tä-Mo)
8.
Kein Aufschub für das Inkrafttreten des LkSG
Wie wir bereits bei früherer Gelegenheit berichtet haben, ist das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) am 1.1.2023 in Kraft getreten56. Seitdem müssen Unternehmen, die ihre Hauptverwaltung, ihre Hauptniederlassung, ihren Verwaltungssitz oder ihren satzungsgemäßen Sitz im Inland haben und unter Einbeziehung der ins Ausland entsandten Arbeitnehmer in der Regel mindestens 3.000 Arbeitnehmer im Inland beschäftigen, die gesetzlichen Sorgfaltspflichten bereits einhalten. Ab dem 1.1.2024 trifft dies auch Unternehmen, die mindestens 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen. Leiharbeitnehmer werden in beiden Fällen bei der Berechnung der Arbeitnehmerzahlen berücksichtigt. Noch am 13.12.2022 hatte der Freistaat Bayern im Bundesrat einen Antrag zur Beschlussfassung eingebracht, mit dem der Bundesrat die Entschließung treffen sollte, das Inkrafttreten des LkSG auszusetzen57. In der Begründung seiner Initiative hatte der Freistaat Bayern zwar das grundsätzliche Regelungsziel anerkannt. In Bezug auf die aktuelle geopolitische Situation mit ihren enormen Herausforderungen für die international aktiven deutschen Unternehmen, die sich vor allem aus den wirtschaftlichen Folgen der CoronaPandemie und dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine ergeben, könnten die Pläne zum Inkrafttreten des LkSG indes nicht aufrechterhalten werden. Vielmehr solle der Bundesrat feststellen, dass eine Verschiebung des Inkrafttretens erforderlich sei. Dies folge – so die Antragsbegründung – im Übrigen auch daraus, dass Detailanforderungen an die Unterneh-
56 B. Gaul, AktuellAR 2021, 46 f., 369 ff., 2022, 63 ff., 384 ff. 57 BR-Drucks. 657/22.
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Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
men erst noch durch Rechtsverordnungen und Handlungsempfehlungen konkretisiert werden sollen. Viele Verpflichtungen seien den Unternehmen daher noch nicht in allen Details bekannt, so dass eine längere Übergangsfrist geboten sei. Im Bundesrat hat dieser Antrag indes keine Mehrheit gefunden. Vielmehr hat der Bundesrat am 10.2.202358 auf der Grundlage einer Empfehlung des federführenden Ausschusses für Arbeit, Integration und Sozialpolitik, des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit und des Wirtschaftsausschusses beschlossen, die Empfehlung nicht zu fassen. Damit bleibt es bei dem schrittweisen Inkrafttreten des LkSG. Hilfreich ist, bei der praktischen Ausgestaltung der entsprechenden Regelungen die FAQ des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) im Auge zu behalten. Sie behandeln alle grundsätzlichen Fragen zum LkSG, die bei der Einführung und Ausgestaltung entsprechender Systeme zu beachten sind. Außerdem geben sie weitere Umsetzungshilfen der Bundesregierung, die sich vor allem an kleinere Unternehmen richten59. (Ga)
9.
Aufhebung der Corona-Arbeitsschutzverordnung
Mit der Verordnung zur Aufhebung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (C-ASV) ist diese mit Wirkung zum 2.2.2023 aufgehoben worden. Die entsprechenden Handlungspflichten, die als Folge der Corona-Pandemie geschaffen worden waren, finden daher in der betrieblichen Praxis keine Anwendung mehr. Die Bundesregierung begründet dies damit, dass die Häufigkeit und Schwere von Infektionen mit dem Coronavirus stetig abnähmen und günstige Prognosen hinsichtlich des mittel- und langfristigen Infektionsgeschehens bestünden. Eine Fortgeltung bis zum 7.4.2023, wie sie ursprünglich vorgesehen war, sei daher nicht mehr erforderlich. Angekündigt ist allerdings, dass das BMAS zur Unterstützung der Arbeitgeber und Beschäftigten unverbindliche Empfehlungen veröffentlichen wird, die Betriebe und Verwaltungen in die Lage versetzen sollen, im Falle erneuter lokaler und branchenspezifischer Infektionsausbrüche praxisgerechte und wirksame betriebliche Maßnahmen umzusetzen. Losgelöst davon müssen sich Arbeitgeber natürlich weiterhin mit etwaigen Gefahren durch ansteckende Erkrankungen im Rahmen der allgemeinen arbeitsschutzrechtlichen Pflichten aus §§ 3 ff. ArbSchG befassen. (Ga)
58 BR-Drucks. 657/22 (B). 59 Vgl. www.csr-in-deutschland.de.
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Gesetzliche Vorgaben für die Personalausstattung in Krankenhäusern
10. Gesetzliche Vorgaben für die Personalausstattung in Krankenhäusern Bereits mit §§ 136 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 136 a Abs. 2, 5 SGB V hatte der Gesetzgeber die Grundlage dafür geschaffen, durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) verbindliche Mindestvorgaben für die vertragsärztliche Versorgung und für zugelassene Krankenhäuser sowie die psychiatrische und psychosomatische Versorgung in stationären Einrichtungen für die Notwendigkeit und Qualität der durchgeführten Leistungen festzulegen. Neben Mindestanforderungen an die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität können hierzu auch verbindliche Mindestvorgaben für die Ausstattung mit dem für die Behandlung erforderlichen therapeutischen Personal gehören. Mit dem Gesetz zur Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus sowie zur Anpassung weiterer Regelungen im Krankenhauswesen und in der Digitalisierung (Krankenhauspflegeentlastungsgesetz – KHPflEG) vom 20.12.202260, das insoweit am 29.12.2022 in Kraft getreten ist, hat die Bundesregierung durch § 137 k SGB V weitergehende Vorgaben getroffen, auf deren Grundlage eine Mindestausstattung mit Personal durchgesetzt wird. Betroffen hiervon sind die nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhäuser. Mit § 137 k Abs. 1 S. 1 SGB V wird zunächst einmal eine abstrakt-generelle Verpflichtung begründet, eine „angemessene Personalausstattung” vorzuhalten und das für eine bedarfsgerechte Pflege am Bett „erforderliche Personal” sicherzustellen. Bis zum 30.11.2023 soll eine Konkretisierung der Vorgaben zur Ermittlung der Anzahl der eingesetzten und der auf der Grundlage des Pflegebedarfs einzusetzenden Pflegekräfte in der unmittelbaren Patientenversorgung von Erwachsenen und Kindern auf bettenführenden Stationen der somatischen Versorgung durch Rechtsverordnung erfolgen. In der Rechtsverordnung kann das Nähere bestimmt werden •
zur Ermittlung des täglichen Pflegebedarfs durch die Festlegung von Pflegekategorien sowie den ihnen zugrunde zu legenden Minutenwerten für die pflegerische Versorgung je Patient,
•
zur bedarfsgerechten personellen Zusammensetzung des Pflegepersonals auf der Grundlage der beruflichen Qualifikationen des Pflegepersonals,
•
zu der von den Krankenhäusern standortbezogen zu erfassenden Anzahl der in der jeweiligen Station eingesetzten Pflegekräfte, umgerechnet auf Vollkräfte (Ist-Personalbesetzung), und Anzahl der
60 BGBl. I 2022, 2793.
39
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
in der jeweiligen Station auf Grundlage des Pflegebedarfs einzusetzenden Pflegekräfte, umgerechnet auf Vollkräfte (Soll-Personalbesetzung), (...)
Auf dieser Grundlage können dann durch Rechtsverordnung außerdem Regelungen zur schrittweisen Anpassung der Ist-Personalbesetzung an den konkreten erforderlichen Erfüllungsgrad der Soll-Personalbesetzung durch das Krankenhaus, zum Nachweis der Anpassung der Ist-Personalbesetzung an den konkreten erforderlichen Erfüllungsgrad der Soll-Personalbesetzung und zu Vergütungsabschlägen festgesetzt werden, wenn ein Krankenhaus es unterlässt, die Ist-Personalbesetzung an die Soll-Personalbesetzung anzupassen oder die Anpassung der Ist-Personalbesetzung an die Soll-Personalbesetzung nachzuweisen (§ 137 k Abs. 4, 5 SGB V). Die Verpflichtung, die Anzahl der eingesetzten Pflegekräfte schrittweise an die Anzahl der einzusetzenden Pflegekräfte anzupassen, bestimmt § 137 k Abs. 1 S. 3 SGB V. Es ist zu erwarten, dass die Betriebsräte die Vorgaben zur Personalbesetzung nicht erst im Rahmen ihrer Beteiligung nach §§ 80 Abs. 1 Nr. 1, 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG im Auge behalten werden. Vielmehr werden sie bereits die abstrakt-generelle Verpflichtung aus § 137 k SGB V, eine „angemessene Personalausstattung” vorzuhalten bzw. das für eine bedarfsgerechte Pflege am Bett „erforderliche Personal” sicherzustellen, zum Anlass nehmen, die aktuelle Personalbesetzung zu überprüfen und ggf. auf Anpassungen zu drängen. Schließlich wird man davon ausgehen müssen, dass mit den gesetzlichen Vorgaben zur Anzahl der einzusetzenden Pflegekräfte nicht nur dem Pflegebedürfnis Rechnung getragen werden soll. Vielmehr wird man darin mittelbar auch eine Handlungsvorgabe sehen müssen, mit der arbeitsschutzrechtliche Überlegungen zur Vermeidung einer Überlastung im Pflegebereich berücksichtigt werden. (Ga)
11.
Anhebung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung
Am 5.4.2023 hat sich das Bundeskabinett mit dem Referentenentwurf vom 3.4.2023 für ein Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz – PUEG) befasst. Die damit verbundenen Änderungen sollen einer Stärkung der häuslichen Pflege sowie der Versorgung von pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen dienen, sind allerdings auch an eine Finanzierung geknüpft, die bereits mit Wirkung zum 1.7.2023 zu einer Mehrbelastung von Unternehmen, Arbeitnehmern und Betriebsrentnern führen soll.
40
Anhebung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung
Zunächst einmal soll der Beitragssatz in der Pflegeversicherung bereits zum 1.7.2023 um 0,35 % auf bundeseinheitlich 3,4 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder (BBG: 59.850 EUR) angehoben werden. Damit vergleichbare Anhebungen zukünftig mit geringerem Aufwand vollzogen werden können, soll in § 55 Abs. 1 SGB XI die Möglichkeit geschaffen werden, diesen Beitragssatz durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats anzupassen, wenn der Mittelbestand der sozialen Pflegeversicherung absehbar die Höhe einer Monatsausgabe laut Haushaltsplänen der Pflegekassen zu unterschreiten droht; mehrere Anpassungen durch Rechtsverordnung dürfen insgesamt allerdings nicht höher als 0,5 Beitragssatzpunkte über dem jeweils zuletzt gesetzlich festgesetzten Beitragssatz liegen. Personen, die nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit und Pflege Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorger haben, müssen nach dem Entwurf weiterhin nur die Hälfte des Beitrags zahlen. Sie erhalten allerdings die jeweils zustehenden Leistungen auch nur zur Hälfte (§ 28 Abs. 2 SGB XI). Als Konsequenz der verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigung des Erziehungsaufwands von Eltern, auf die das BVerfG in seinem Beschluss vom 7.4.202261 hingewiesen hatte, werden die Privilegien für Eltern ausgeweitet. Nach der geplanten Neuregelung in § 55 Abs. 3 SGB VI erhöht sich der grundsätzliche Beitrag zwar nach Ablauf des Monats, in dem das Mitglied das 23. Lebensjahr vollendet hat, um einen Beitragszuschlag i. H. v. 0,6 Beitragssatzpunkten (Beitragszuschlag für Kinderlose). Derzeit beträgt dieser Zuschlag noch 0,35 Beitragssatzpunkte. Bei Eltern, sonstigen Verwandten der geraden aufsteigenden Linie, Stiefeltern oder Pflegeeltern (§ 56 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 SGB I) kommt dieser Beitragszuschlag für Kinderlose nicht zum Tragen. Für Eltern mit einem Kind gilt insoweit weiterhin (nur) der allgemeine Beitragssatz i. H. v. 3,4 % der beitragspflichtigen Einnahmen. Darüber hinaus ist für jedes Kind ab dem zweiten Kind bis zum fünften Kind jeweils ein Abschlag i. H. v. 0,25 Beitragssatzpunkten bis zum Ablauf des Monats vorgesehen, in dem das jeweilige Kind das 25. Lebensjahr vollendet hat. Nicht berücksichtigt werden Kinder, die das 25. Lebensjahr bereits vollendet haben. Die vorstehende Minderung gilt auch für Eltern, die das 23. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Für die betriebliche Praxis dürfte die Umsetzung dieser gesetzlichen Änderung mit einem nicht unerheblichen Arbeitsaufwand verbunden sein. Denn die Arbeitgeber müssen den Beitragsabzug zukünftig differenziert nach der
61 BVerfG v. 7.4.2022 – 1 BvL 3/18 u. a., NJW 2022, 2169.
41
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Anzahl der Kinder der bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer festlegen. Dabei bestimmt § 55 Abs. 3 SGB XI lediglich, dass die Elterneigenschaft sowie die Anzahl der Kinder „in geeigneter Form gegenüber der beitragsabführenden Stelle” nachzuweisen sind, sofern dieser die Angaben nicht bereits aus anderen Gründen bekannt sind. Um in diesem Zusammenhang eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen und ein möglichst effizientes, schnelles und digitales Verwaltungshandeln zu gewährleisten, soll durch verschiedene Ministerien spätestens bis zum 1.7.2023 ein Verfahren zur Erhebung und zum Nachweis der Anzahl der Kinder entwickelt werden. Hier ist leider Skepsis geboten. Darüber hinaus soll der Spitzenverband Bund der Pflegekassen Empfehlungen zu geeigneten Nachweisen aussprechen. Erfolgt der Nachweis innerhalb von drei Monaten nach der Geburt des Kindes, gilt er als mit Beginn des Monats der Geburt als erbracht. Nachweise für vor dem 1.7.2023 geborene Kinder, die bis zum 31.12.2023 erbracht werden, sollen allerdings bereits vom 1.7.2023 an wirken. Abschläge, die von den beitragsabführenden Stellen und den Pflegekassen nicht bereits ab dem 1.7.2023 berücksichtigt werden konnten, sollen so bald wie möglich, „spätestens“ bis zum 31.12.2024 erstattet werden. Wichtig ist, dass dieser Aufwand nicht nur für aktive Arbeitnehmer besteht. Auch Betriebsrentner sind Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung und müssen dort den gesamten Beitrag allein entrichten. Auch hier muss sich der Arbeitgeber also die entsprechenden Informationen beschaffen. Unabhängig von diesen Änderungen der Pflegeversicherungsbeiträge sollen auch die Regelungen zum Pflegeunterstützungsgeld in § 44 a Abs. 3 SGB XI angepasst werden. Nach der geplanten Neuregelung können Beschäftigte, die als Folge einer kurzzeitigen Arbeitsverhinderung nach § 2 PflegeZG keine Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber und kein Kranken- oder Verletztengeld beanspruchen können, nicht nur einmalig für bis zu insgesamt zehn Arbeitstage einen Ausgleich für entgangenes Arbeitsentgelt (Pflegeunterstützungsgeld) von der Pflegekasse oder dem Versicherungsunternehmen des pflegebedürftigen nahen Angehörigen verlangen. Vielmehr wird dieser Anspruch so ausgeweitet, dass er in jedem Kalenderjahr für bis zu zehn Arbeitstage in Anspruch genommen werden kann. Teilen sich mehrere Beschäftigte die Pflege eines Angehörigen, sind die Arbeitstage allerdings zusammenzurechnen. Die letztgenannte Anpassung von § 44 a SGB XI soll erst zum 1.1.2024 in Kraft treten. Sinnvoll wäre allerdings, auch die Anhebung und Flexibilisierung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung durch Änderung von § 55 SGB XI auf diesen Zeitpunkt zu verschieben, damit die Praxis die erforderlichen Informationen abfragen und die Abrechnung der Entgelte darauf vorbereiten kann. (Ga) 42
ChatGPT und die Zukunft der Arbeit
12. Verlängerung der EnSikuMaV Mit der Zweiten Verordnung zur Änderung der Kurzfristenenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung (EnSikuMaV) hat die Bundesregierung die Regelungen zur Sicherung der Energieversorgung über kurzfristig wirksame Maßnahmen bis zum 15.4.2023 verlängert. Ursprünglich sollte die EnSikuMaV am 28.2.2023 auslaufen. Damit waren die Höchstwerte für die Lufttemperatur in Arbeitsräumen, wie sie abweichend von den Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR) durch §§ 6, 12 EnSikuMaV bestimmt wurden, bis zum 15.4.2023 zu beachten. Grundsätzlich sollte die Lufttemperatur in Räumen damit einen Grad niedriger sein, als dies noch in 4.2 ASR A3.5 vorgesehen war62. (Ga)
13. ChatGPT und die Zukunft der Arbeit Wir haben uns bereits in der Vergangenheit einige Male mit den Auswirkungen von KI auf das Arbeitsleben befasst. Dabei geht es nicht nur um veränderte Arbeitsanforderungen, den damit verbundenen Wegfall der Arbeitsplätze, die Entstehung neuer Arbeitsplätze und das damit verbundene Re-Skilling bzw. Up-Skilling, sondern auch um die Frage, welche ethischen Schranken bei der Verwendung von KI zu berücksichtigen sind63. Darüber hinaus hatten wir uns mit den Vorschlägen der EU-Kommission zu den übergreifenden Anforderungen einer Entwicklung und Verwendung von KI bzw. der damit verbundenen Haftung befasst64. Lässt man übergreifende datenschutzrechtliche Bedenken einmal außer Acht, die am 31.3.2023 in Italien zu einem generellen Verbot von ChatGPT geführt haben, dürfte die Lösung – anders als teilweise vertreten65 – aber wohl nicht in dem generellen Verbot einer Nutzung von ChatGPT im Rahmen von Arbeitsverhältnissen liegen. Dies gilt jedenfalls solange, als die Nutzung in Deutschland grundsätzlich zulässig ist. Denn die datenschutzrechtlichen Herausforderungen lassen sich auch durch pseudonymisierte oder anonymisierte Eingaben lösen. Das gilt auch für personenbezogene Daten, wenn insoweit eine Einwilligung des betroffenen Arbeitnehmers erteilt wird oder mit Zustimmung des Arbeitgebers dienstliche Kontaktdaten verwendet werden.
62 63 64 65
B. Gaul, AktuellAR 2022, 348 ff. Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2019, 73 ff., 2020, 56 f. B. Gaul, AktuellAR 2021, 383 ff. So Kleinebrink, ArbRB-Blog v. 23.2.2023, https://www.arbrb.de/blog/2023/02/23/ chatgpt-und-das-weisungsrecht-datenschutz-spricht-fuer-ein-verbot/.
43
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Inzwischen ist ChatGPT auch im Bundestag Gegenstand der Diskussion. So hat die Fraktion der AfD der Bundesregierung eine Reihe von Fragen vorgelegt66, die sich insbesondere mit den Auswirkungen solcher Technologien auf den Arbeitsmarkt, die Entwicklung von Berufsgruppen und Branchen sowie die Arbeitslosenquote befassen. In ihrer Antwort, die die Bundesregierung ausdrücklich ohne Verwendung von ChatGPT verfasst hat, hat diese deutlich gemacht, dass sie Auswirkungen von KI vor allem mit Blick auf berufliche Tätigkeiten sieht, die mit standardisierten Fragestellungen zu tun haben67. Sie übersieht dabei aber, dass gerade Tätigkeiten mit komplexen Fragestellungen von KI betroffen sind, weil KI deutlich mehr Informationen verknüpfen und verarbeiten kann als die Intelligenz einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen. Schon heute ist es ohne Weiteres möglich, Stellenanzeigen, Zeugnisse oder Personalentwicklungsprofile mit ChatGPT oder anderen Formen der KI zu erstellen. Auch dürfte die Annahme, dass Tätigkeiten, die an Einfühlungsvermögen geknüpft sind, nicht gefährdet seien, eine gewisse Naivität zeigen. Beispielhaft sei nur auf Pflegeroboter sowie KI im Bereich von Call-Centern verwiesen, die auch mit emotionalen Situationen umgehen können. Soweit die Bundesregierung darüber hinaus Auskunft darüber geben sollte, wie das BMAS, die Agentur für Arbeit und die Jobcenter auf die Auswirkungen von ChatGPT auf den Arbeitsmarkt reagieren und welche Besonderheiten insoweit für Menschen mit mittleren oder geringen Qualifikationen gelten werden, wird aus der Antwort erkennbar, dass das BMAS und die Agentur für Arbeit offenbar nicht daran denken, ChatGPT oder andere Formen der KI im Rahmen ihrer Arbeit einzusetzen. Wörtlich teilt die Bundesregierung mit: „Derzeit werden keine Einsatzmöglichkeiten für ChatGPT bei den Agenturen für Arbeit und den Jobcentern gesehen.“68 Das erstaunt ebenfalls. Denn KI kann auch die Komplexität eines Beschäftigungsmarktes, einschließlich veränderter Anforderungen verschiedener Branchen, auswerten und damit Vermittlungsbemühungen unterstützen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Arbeitslose außerhalb der bisherigen Branche zum Einsatz kommen sollen. (Ga)
66 BT-Drucks. 20/5656. 67 BT-Drucks. 20/6062 S. 2. 68 BT-Drucks. 20/6062 S. 3.
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Aktuelle Entwicklungen in der Leiharbeit
14. Aktuelle Entwicklungen in der Leiharbeit In ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage einzelner Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE vom 9.12.202269 hat sich die Bundesregierung mit aktuellen Entwicklungen in der Leiharbeit befasst. Die daraus resultierenden Informationen wird man bei der weiteren – auch rechtspolitischen – Diskussion über die Arbeitnehmerüberlassung im Auge behalten müssen. Zunächst einmal lässt die Antwort der Bundesregierung erkennen, dass die Anzahl der Leiharbeitnehmer seit 2016 von 932.561 (13.6.2016) bis zum Jahr 2022 auf 781.300 (31.3.2022) abgesunken ist. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Zahl der insgesamt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dieser Zeit von 31.443.318 auf 34.333.843 angestiegen ist. Leiharbeitnehmer werden, dies kann der Antwort der Bundesregierung entnommen werden, häufig unterhalb ihres Qualifikationsniveaus eingesetzt. Dies kann jedenfalls für 188.000 der 407.000 sozialversicherungspflichtigen Leiharbeitskräfte mit einem anerkannten Berufsabschluss und für 36.000 der 74.000 sozialversicherungspflichtigen Leiharbeitskräfte mit einem akademischen Abschluss vermutet werden70. Nach Maßgabe der statistischen Feststellungen waren von den am 31.12.2021 knapp 620.000 sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigten Leiharbeitskräften der Kerngruppe mit Angaben zum Entgelt rund 380.000 bzw. 61,2 % im unteren Entgeltbereich beschäftigt. Demgegenüber traf dies bei allen sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten nur auf 18,1 % zu. Die Bundesregierung weist allerdings darauf hin, dass bei der Interpretation von Entgeltverteilungen zu beachten sei, dass sich Leiharbeitnehmer von anderen Beschäftigten teils erheblich unterschieden, beispielsweise in ihren soziodemografischen Eigenschaften oder in der Stabilität ihrer individuellen Erwerbsbiografien. Ein einfacher Vergleich der mittleren Bruttoarbeitsentgelte greife daher zu kurz und diene nur als ein erster Anhaltspunkt. Berücksichtige man zusätzlich die systematischen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, verringere sich die Lohndifferenz deutlich. Es erscheint berechtigt, insofern nicht allein die statistischen Werte heranzuziehen. Bemerkenswert bleibt aber gleichwohl, dass die Zahl der Leiharbeitnehmer, die neben ihrem Arbeitsentgelt Leistungen nach dem SGB II beziehen, mit 3,9 % deutlich höher ist als im Rest der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (1,4 %). Ebenfalls wird man zu berücksichtigen haben, dass das
69 BT-Drucks. 20/4946. 70 BT-Drucks. 20/4946 S. 2.
45
Gesetzliche Entwicklungen in Deutschland
Medianentgelt von Leiharbeitnehmern nur in drei Berufshauptgruppen über demjenigen aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten liegt. In allen anderen Berufshauptgruppen lag es darunter71. Dies gilt insbesondere für die Branchen, in denen zahlenmäßig die meisten Leiharbeitnehmer eingesetzt werden (Verkehrs- und Logistikberufe sowie Metallerzeugung und -bearbeitung, Metallbau-, Maschinen- und Fahrzeugtechnikberufe, Berufe in Unternehmensführung und -organisation, Kunststoffherstellung und -verarbeitung, Holzbe- und -verarbeitung, Mechatronik-, Energie- und Elektroberufe sowie gebäude- und versorgungstechnische Berufe). (Ga)
71 BT-Drucks. 20/4946 S. 4, 6.
46
B.
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
1.
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
a)
Ausgangssituation
Die Mühlen der Gleichbehandlung mahlen langsam. Das zeigen alle statistischen Erhebungen der vergangenen Jahre, unabhängig davon, ob sie die Entgeltentwicklung oder die Karrierechancen von Frauen und Männern in den Fokus nehmen. Lediglich beispielhaft sei auf die nachfolgende Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse verwiesen, die aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 30.1.20231 und dem 80. Report des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Instituts (WSI) über den Stand der Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland in ausgewählten Branchen vom Februar 20232 gewonnen werden können. Danach liegt der unbereinigte Gender-Pay-Gap, der etwa 63 % der Verdienstlücken betrifft, in Bezug auf Bruttostundenlöhne (2022) bei 18 % (Männer: 24,36 EUR, Frauen: 20,05 EUR). Die verschiedenen Branchen differieren im Bereich der Produktion zwischen 7 % (Metallerzeugung) und 26 % (Herstellung Nahrungs-/Futtermittel) und im Bereich der Dienstleistungen zwischen 2 % (Postdienste) – zu Gunsten der Frauen – und 32 % (Rechts-/Steuerberatung). Der bereinigte Gender-Pay-Gap (2022), der 37 % des Verdienstunterschieds entspricht, liegt bei 7 %. Bemerkenswert ist der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. Während er in Ostdeutschland unbereinigt bei etwa 6 % liegt, beträgt er in Westdeutschland etwa 19 %. Der erhebliche Unterschied zwischen dem bereinigten und dem unbereinigten Gender-Pay-Gap, bei dessen Berechnung die monatliche Vergütung unter Einbeziehung etwaiger Zulagen und Zuschläge berücksichtigt wird, ist ganz wesentlich auf den Umstand zurückzuführen, dass beim unbereinigten Gender-Pay-Gap Unterschiede in Bezug auf Qualifikationen, Berufsabschlüsse, Erwerbsbiografien, Anforderungsprofile oder Hierarchieebenen keine Berücksichtigung finden. Insofern werden Branchen und Berufe mit hoher Ver1 2
PM des Statistischen Bundesamts Nr. 636 v. 30.1.2023, Gender-Pay-Gap 2022: Frauen verdienten pro Stunde 18 % weniger als Manner. Report des WSI Nr. 80 v. Februar 2023.
47
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
gütung, in denen ganz überwiegend Männer tätig sind, in einen „Topf“ mit Berufen und Branchen geworfen, in denen überwiegend Frauen eine schlechter bezahlte (Teilzeit-)Tätigkeit ausüben, ohne dass die Unterschiede in der Vergütung in allen Fällen dem unterschiedlichen Arbeitswert der Tätigkeiten Rechnung tragen. Dies wird auch insoweit relevant, als Arbeitnehmer unabhängig von ihrem individuellen Beschäftigungsumfang bei der Berechnung des unbereinigten Gender-Pay-Gaps einbezogen werden. Die Statistik berücksichtigt also die Vergütung von Mini-Jobbern, Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten gleichermaßen. Dabei ist zu erkennen, dass trotz der Verpflichtung zur Gleichbehandlung aus § 4 TzBfG3 für Mini-Jobs und Teilzeitbeschäftigungen häufig nicht nur im Durchschnitt aller Tätigkeiten eine geringere Vergütung als für Vollzeitbeschäftigungen gezahlt wird. Da Mini-Jobs und Teilzeitbeschäftigungen branchenübergreifend sowohl im Bereich der Produktion als auch der Dienstleistung deutlich stärker von Frauen wahrgenommen werden (Ausnahmen: öffentliche Verwaltung, Gesundheitswesen und Erziehung/Unterricht), bewirkt deren Schlechterstellung gegenüber Vollzeitbeschäftigungen zugleich auch eine Verstärkung des Gender-Pay-Gaps. Deutlich wird dies bei einem Vergleich der Bruttostundenvergütung, wenn nur Vollzeitbeschäftigte berücksichtigt würden. Dort beträgt der Gender-Pay-Gap im Bereich von Produktion und Dienstleistung branchenübergreifend nur 3,19 % (Männer: 25,52 EUR, Frauen: 22,33 EUR). Dennoch gibt es auch hier eine Spreizung. Der Gap variiert zwischen 1,28 % (Personen-/Güterverkehr auf Straßen und Schienen) – zu Gunsten der Frauen – auf der einen und 12,2 % (Rechts-/Steuerberatung) auf der anderen Seite. Der bereinigte Gender-Pay-Gap berücksichtigt strukturelle Unterschiede, indem der Gap jedenfalls in Bezug auf vergleichbare Tätigkeiten, Qualifikationen und Erwerbsbiografien festgestellt wird, ohne dass dabei alle entgeltrelevanten Faktoren einbezogen werden. Nicht berücksichtigt werden vor allem Erwerbsunterbrechungen als Folge von Schwangerschaft, Geburt von Kindern, Erziehungszeiten oder der Pflege von Angehörigen, die – spätestens auf der Zeitschiene – zu geringerer Berufserfahrung, weniger Ausbildung und einem verzögerten Aufstieg führen können. Der bereinigte Gender-Pay-Gap ist deshalb auch die Obergrenze für etwaige Benachteiligungen wegen des Geschlechts. Es steht außer Frage: Beide Gaps müssen nach Kräften verringert werden. Eine vollständige Beseitigung dürfte aber wohl kaum zu bewältigen sein, wenn man nicht insbesondere davon ausgeht, dass (1) Frauen zukünftig ausschließlich durch Schwangerschaft und Geburt andere Erwerbsbiografien be3
48
Vgl. hierzu Boewer, AktuellAR 2023, 166 ff., 169 ff.
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
kommen, durch eine gleichmäßige Aufteilung von Erziehung und Pflege aber keine weitergehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern entstehen, und dass (2) Frauen die berufliche Laufbahn zukünftig verstärkt auch auf die MINT-Berufe ausrichten, die bislang mit einer durchschnittlich höheren Vergütung verbunden sind. Unterschiede, die sich bisher offenbar aus einer unterschiedlichen Risikobereitschaft der Geschlechter und einer höheren Selbsteinschätzung (bis hin zur persönlichen Überschätzung) der Männer ergeben haben4, dürften in der Zukunft wohl abnehmen. Das gilt jedenfalls dann, wenn es gelingt, das Selbstbewusstsein der heranwachsenden Arbeitnehmerinnen zu stärken und verschlossene Türen zu öffnen, um auch unter Berücksichtigung von Schwangerschaft, Geburt und vorübergehender Erziehung gleiche Entwicklungschancen zu fördern, die tatsächlich wahrgenommen werden. Ein Problem mit vielen Ursachen hat einen Vorteil: Es gibt unterschiedliche Ansätze, Teile des Problems zu lösen. Insofern ist es nicht nur folgerichtig, die Bereitschaft von Männern zu fördern, sich in die Erziehung und Pflege einzubringen. Gleichzeitig ist es wichtig, Anreize für eine erleichterte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu setzen5, steuerliche Fehlanreize durch die aktuellen Steuerklassen zu beseitigen, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen nach Erwerbsunterbrechungen zu fördern und fordern sowie das gesetzliche Arbeitszeitsystem zu flexibilisieren6. Da schlichte Appelle in der Vergangenheit nichts genutzt haben, erscheint es richtig, auch die Rahmenbedingungen zu verändern, die den Ein- und Aufstieg von Frauen in Führungspositionen ebenso wie ihre Vergütung für diese Positionen bestimmen. Insofern ist es zu begrüßen, dass sich die Mitgliedstaaten auf die Richtlinie 2022/2381/EU zur Gewährleistung einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern unter den Direktoren börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen verständigt haben7, die – wie nachfolgend auszuführen sein wird – die Regelungen des FüPoG II8 noch einmal nachschärfen werden. Ebenso hilfreich dürfte es sein, dass es am 15.12.2022 zwischen EU-Parlament und Rat eine politische Einigung über eine neue Richtlinie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Lohntransparenz und Durchsetzungsmechanismen (Lohntransparenzrichtlinie) gegeben hat. Der Entwurf stammt vom
4 5 6 7 8
Vgl. Sutter, FAZ v. 3.3.2023 S. 18. Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2022, 357 ff., 2023, 24 ff. B. Gaul, AktuellAR 2022, 360 ff., 2023, 131, 139 ff. ABl. EU 2022, L 315, 44. Hierzu B. Gaul, AktuellAR 2021, 28 f., 361 ff.
49
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
4.3.20219 und ist damit kurzfristig verabschiedet worden. Der Inhalt beider Richtlinien soll nachfolgend zusammengefasst werden. Ergänzend hierzu sei auf die Rechtsprechung des BAG verwiesen, das in einer Reihe von Grundsatzentscheidungen neue und wichtige Leitlinien zur Durchsetzung des Anspruchs auf Equal Pay aufgezeigt hat. Sie werden an anderer Stelle behandelt10.
b)
Richtlinie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen
Am 15.12.2022 haben sich das EU-Parlament und der Rat politisch über die Richtlinie über Maßnahmen zur Lohntransparenz geeinigt11; hierzu hat im EU-Parlament am 30.3.2023 die erste Lesung stattgefunden12. Den ursprünglichen Vorschlag für eine Richtlinie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Lohntransparenz und Durchsetzungsmechanismen (Lohntransparenzrichtlinie) hatte die EU-Kommission bereits am 4.3.202113 vorgelegt. Vorbehaltlich letzter Änderungen, die bei der Verschriftlichung der politischen Einigung nicht völlig auszuschließen sind, sind mit der Richtlinie, die innerhalb von drei Jahren umgesetzt werden soll, folgende Regelungen verbunden: aa)
Geltungsbereich
Die Richtlinie soll im öffentlichen ebenso wie im privaten Sektor zur Anwendung kommen (Art. 2). Sie soll alle Arbeitnehmer erfassen, die gemäß den in dem jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und/oder Gepflogenheiten einen Arbeitsvertrag haben oder in einem Beschäftigungsverhältnis stehen. Da insoweit auch die Rechtsprechung des EuGH Berücksichtigung finden soll, ist davon auszugehen, dass von der Richtlinie jedenfalls auch Fremdgeschäftsführer bzw. Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer erfasst werden14, was mit Blick auf die Informationspflichten in Bewerbungsgesprächen oder die Durchsetzung des Anspruchs auf gleiches Entgelt für Männer und Frauen durchaus Relevanz hat. Ergänzend hierzu werden auch Stellenbewerber erfasst. 9 COM(2021) 93 final. 10 Boewer, AktuellAR 2023, 160 ff. 11 Vgl. Provisional Agreement resulting from Interinstitutional Negotiations v. 21.12.2022 (PE7440.543v01-00). 12 P9_TA(2023)0091. 13 COM(2021) 93 final. 14 Vgl. EuGH v. 11.11.2010 – C-232/09, NZA 2011, 143 – Danosa.
50
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
bb)
Begriffsbestimmungen
In Art. 3 werden neben dem Begriff des Entgelts und des Einkommens auch das geschlechtsspezifische Entgeltgefälle (= Differenz zwischen den durchschnittlichen Entgelthöhen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eines Arbeitgebers, ausgedrückt als Prozentsatz der durchschnittlichen Entgelthöhe männlicher Arbeitnehmer), die Median-Entgelthöhe (= Entgelthöhe, von der aus die Zahl der Arbeitnehmer eines Arbeitgebers, die mehr verdienen, gleich groß ist wie die der Arbeitnehmer dieses Arbeitgebers, die weniger verdienen), das mittlere geschlechtsspezifische Entgeltgefälle (= Differenz zwischen der Median-Entgelthöhe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eines Arbeitgebers, ausgedrückt als Prozentsatz der Median-Entgelthöhe männlicher Arbeitnehmer) und das Einkommensquartil (= jede der vier gleich großen Gruppen von Arbeitnehmern, in die sie gemäß ihrer jeweiligen Entgelthöhen in aufsteigender Form unterteilt werden) definiert. Eine Gruppe von Arbeitnehmern bilden insoweit Arbeitnehmer, die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten und die auf nicht willkürliche Weise auf der Grundlage nicht diskriminierender und objektiver geschlechtsneutraler Kriterien von ihrem Arbeitgeber und – ggf. – in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten entsprechend eingeteilt werden. Unter Berücksichtigung von Erwägungsgrund 21 werden von dem Begriff des Entgelts dabei auch zusätzliche Leistungen, wie Boni, Überstundenausgleich, Reisemöglichkeiten, Firmenwagen, Fahrausweise, Wohnungszuschüsse, Ausbildungsentschädigungen, Abfindungen, gesetzliches Krankengeld oder Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, erfasst. Bei der Feststellung der Vergleichbarkeit der gleichen oder gleichwertigen Tätigkeit i. S. d. Art. 3 Abs. 1 lit. a, g, 4 Abs. 4 wird – wie auch im EntgTranspG – der Wert der Arbeit anhand objektiver Kriterien, die keinen Bezug zum Geschlecht haben, festgestellt. Auf der Grundlage einer individuellen Gewichtung gehören dazu insbesondere die Kompetenzen (Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsanforderungen, etwaige Qualifikationen), die Belastung und die Verantwortung sowie Arbeitsbedingungen und weitere Faktoren, die für den konkreten Arbeitsplatz oder die konkrete Position relevant sind. Dabei ist sicherzustellen, dass Soft Skills nicht unterbewertet werden. Wichtig ist, dass dabei auch Vergleichspersonen erfasst werden, die zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt eingestellt worden sind (Erwägungsgrund 29, Art. 19 Abs. 2).
51
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
cc)
Arbeitgeber und situationsübergreifende Betrachtungsweise
Art. 19 Abs. 1 sieht bei den denkbaren Vergleichssituationen auch eine arbeitgeberübergreifende Betrachtungsweise vor. Danach darf die Bewertung, ob Arbeitnehmer die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten, nicht auf Situationen beschränkt sein, in denen Frauen und Männer für denselben Arbeitgeber arbeiten, wenn Unterschiede bei dem Entgelt einer einzigen Quelle zugeordnet werden können, die die Entgeltbestimmungen festlegt. Das betrifft vor allem Tarifverträge, ausnahmsweise auch Konzernbetriebsvereinbarungen. In diesem Fall kann die Betrachtungsweise alle Arbeitnehmer mit gleicher oder gleichwertiger Arbeit erfassen, auf die diese (einzige) Quelle zur Anwendung kommt. Wenn keine konkrete Vergleichsperson festgestellt werden kann, soll ein Vergleich mittels einer hypothetischen Vergleichsperson oder anderer Nachweise zulässig sein, die auf eine mutmaßliche Diskriminierung schließen lassen. Dabei ist die Bewertung, ob sich Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation befinden, nicht auf Arbeitnehmer beschränkt, die zur gleichen Zeit wie der betreffende Arbeitnehmer beschäftigt sind (Art. 19 Abs. 2). Kann keine echte Vergleichsperson ermittelt werden, können auch andere Beweismittel berücksichtigt werden. Dazu gehört auch ein Vergleich darüber, wie ein Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation behandelt würde. dd)
Entgelttransparenz im Bewerbungsverfahren
Nach Art. 5 sollen Stellenbewerber das Recht haben, vom künftigen Arbeitgeber Informationen über das auf objektiven, geschlechtsneutralen Kriterien beruhende Einstiegseinkommen für die betreffende Stelle oder dessen Spanne zu erhalten. Diese Informationen müssen in einer veröffentlichten Stellenausschreibung angegeben oder dem Bewerber vor dem Vorstellungsgespräch anderweitig zur Verfügung gestellt werden, ohne dass der Bewerber dies beantragen muss. Ergänzend hierzu ist vorgesehen, dass der Arbeitgeber Bewerber weder mündlich noch schriftlich, persönlich oder über einen Vertreter über ihre Lohnentwicklung in früheren Beschäftigungsverhältnissen befragen darf. Dies trägt der Erkenntnis Rechnung, dass Frauen in Bewerbungsgesprächen offenbar eher Zurückhaltung zeigen und insbesondere dort, wo kein Verhandlungsspielraum aufgezeigt wird, dazu neigen, Angebote des Arbeitgebers ohne den Versuch einer Nachbesserung anzunehmen15.
15 Vgl. Sutter, FAZ v. 3.3.2023 S. 18.
52
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
ee)
Entgelttransparenz im Beschäftigungsverhältnis
Nach Art. 6 stellt der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern eine Beschreibung der Kriterien für die Festlegung ihres Entgelts, ihrer Entgelthöhe und ihrer Entgeltentwicklung in leicht zugänglicher Weise zur Verfügung. Diese Kriterien müssen geschlechtsneutral sein. Unternehmen mit weniger als 50 Arbeitnehmern können davon ausgenommen werden. Ergänzend hierzu bestimmt Art. 9 eine umfassende Berichterstattung über das geschlechtsspezifische Entgeltgefälle und das mittlere geschlechtsspezifische Entgeltgefälle, jeweils einschließlich ergänzender und variabler Bestandteile, den Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ergänzende oder variable Entgeltbestandteile erhalten, den Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in jedem Entgeltpunkt sowie das geschlechtsspezifische Entgeltgefälle zwischen Arbeitnehmern bei Gruppen von Arbeitnehmern, nach dem normalen Grundlohn oder -gehalt sowie nach ergänzenden und variablen Bestandteilen ausgeschlüsselt. Der Bericht, der allen Arbeitnehmern und Arbeitnehmervertretern zur Verfügung zu stellen ist, hat erstmals vier Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist und sodann jährlich in Unternehmen zu erfolgen, die mindestens 250 Arbeitnehmer beschäftigen. In Unternehmen, die zwischen 150 und 249 Arbeitnehmer haben, soll diese Berichtspflicht alle drei Jahre bestehen. In einer zweiten Phase, die acht Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist beginnt, wird diese Berichtspflicht auf Unternehmen abgesenkt, die 100 bis 149 Beschäftigte haben. Bei kleineren Unternehmen können die Mitgliedstaaten auf freiwilliger Ebene entsprechende Berichtspflichten vorlegen. Wichtig dürfte sein, bei dieser Prüfung eines etwaigen Gender-Pay-Gaps geeignete Software einzusetzen. Hilfreich dabei ist, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Instrumente und Methoden zur Analyse als Unterstützung und Orientierung bei Bewertungen und Vergleichen des Werts der Arbeit verfügbar gemacht werden und leicht zugänglich sind. Diese Instrumente müssen es Arbeitgebern und Sozialpartnern ermöglichen, leicht Systeme zur geschlechtsneutralen Arbeitsbewertung und beruflichen Einstufung einzurichten und zu verwenden, mit denen jede Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts ausgeschlossen wird (vgl. Art. 4 Abs. 2). Geht der Arbeitgeber allein vor, haben die Arbeitnehmervertreter einen Anspruch auf Zugang zu den vom Arbeitgeber angewandten Methoden (Art. 9 Abs. 6). Die entsprechenden Informationen sollen in benutzerfreundlicher Weise auf der Website des Arbeitsgebers oder anderweitig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus sollen Arbeitnehmer, Arbeitnehmervertreter, Aufsichtsbehörden und Gleichbehandlungsstellen das Recht erhalten, 53
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
vom Arbeitgeber zusätzliche Klarstellungen und Einzelheiten zu beliebigen bereitgestellten Daten (einschließlich Erläuterungen zu etwaigen geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden) zu verlangen. ff)
Auskunftsrecht des Arbeitnehmers
Vergleichbar mit den in Deutschland bereits im EntgTranspG bestehenden Regelungen, sieht Art. 7 vor, dass Arbeitnehmer das Recht haben, unmittelbar, über ihre Arbeitnehmervertreter oder eine Gleichbehandlungsstelle schriftliche Auskünfte über ihre individuelle Entgelthöhe und über die durchschnittlichen Entgelthöhen zu verlangen, aufgeschlüsselt nach Geschlecht und für die Gruppen von Arbeitnehmern, die eine gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten. Über diese Befugnis sollen die Arbeitnehmer jährlich informiert werden. Das Verlangen einer entsprechenden Auskunft soll innerhalb einer angemessenen Frist, in jedem Fall innerhalb von zwei Monaten erfüllt werden. Dabei soll nach Art. 11 Unternehmen mit weniger als 250 Arbeitnehmern und den dortigen Arbeitnehmervertretern eine Hilfestellung in Form von technischer Hilfe und Schulungen durch die Mitgliedstaaten gegeben werden. Vereinbarungen, mit denen eine Offenbarung der Vergütung gegenüber Dritten verboten wird, sind unwirksam. gg)
Gemeinsame Entgeltbewertung und Beseitigung ungerechtfertigter Unterschiede
Sollte sich aus der Berichterstattung nach Art. 9 ergeben, dass sich ein Unterschied bei der durchschnittlichen Entgelthöhe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern i. H. v. mindestens 5 % in einer Gruppe von Arbeitnehmern mit gleicher oder gleichwertiger Arbeit ergibt, der Arbeitgeber diesen Unterschied nicht durch objektive und geschlechtsneutrale Faktoren rechtfertigen kann und diesen ungerechtfertigten Unterschied nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem Tag der Berichterstattung korrigiert, muss er nach Art. 10 in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern eine gemeinsame Entgeltbewertung vornehmen („Gender-Pay-Check“). Die gemeinsame Entgeltbewertung umfasst nach dem Entwurf der Richtlinie Folgendes:
54
•
Analyse des Anteils der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in jeder Gruppe von Arbeitnehmern,
•
Informationen über die durchschnittlichen Entgelthöhen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie über ergänzende oder variable Bestandteile für jede Gruppe von Arbeitnehmern,
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
•
etwaige Unterschiede bei den durchschnittlichen Entgelthöhen zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in jeder einzelnen Gruppe von Arbeitnehmern,
•
die Gründe für diese Unterschiede bei den durchschnittlichen Entgelthöhen, ggf. auf der Grundlage objektiver und geschlechtsneutraler Kriterien, wie von den Arbeitnehmervertretern und dem Arbeitgeber gemeinsam festgestellt,
•
den Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen eine Verbesserung beim Entgelt nach ihrem Wiedereinstieg nach Mutterschafts- oder Vaterschaftsurlaub, Elternurlaub oder Urlaub für pflegende Angehörige gewährt wurde, wenn es eine solche Verbesserung in der einschlägigen Gruppe von Arbeitnehmern während des Zeitraums, in dem der Urlaub in Anspruch genommen wurde, gegeben hat,
•
Maßnahmen zur Beseitigung dieser Unterschiede, wenn sie nicht auf der Grundlage objektiver und geschlechtsneutraler Kriterien gerechtfertigt sind,
•
eine Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen aus früheren gemeinsamen Entgeltbewertungen.
Bei der Umsetzung der Maßnahmen aus der gemeinsamen Entgeltbewertung hat der Arbeitgeber in enger Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretern für die ungerechtfertigten Entgeltunterschiede Abhilfe zu schaffen. Dennoch hat die gemeinsame Entgeltbewertung, die Arbeitnehmern und Arbeitnehmervertretern zur Verfügung zu stellen ist, nur beobachtenden Charakter. Wenn keine Abhilfe erfolgt, können Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter aber individuelle Ansprüche geltend machen. Die Mitgliedstaaten müssen den Arbeitnehmern, den Arbeitnehmervertretern oder anderen Personen, die im Namen oder zur Unterstützung des Arbeitnehmers tätig werden, die hierfür erforderlichen Verfahren zur Verfügung stellen (Art. 14, 15). hh)
Schadensersatz, Entschädigung und Geldbußen
Gemäß Art. 16 haben benachteiligte Arbeitnehmer einen Anspruch auf Schadensersatz oder vollständige Entschädigung, der durch eine Verletzung des Grundsatzes des gleichen Entgelts entstanden ist. Schadensersatz und Entschädigung müssen wirksam sein und – nach den Vorgaben des Mitgliedstaats – auch abschreckende Wirkung haben. Dabei soll der Arbeitnehmer, der einen Schaden erlitten hat, in die Situation versetzt werden, in der er sich befunden hätte, wenn er nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden wäre oder 55
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
wenn keine Verletzung der Rechte oder Pflichten im Zusammenhang mit dem gleichen Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit erfolgt wäre. Dazu gehören auch die vollständige Nachzahlung entgangener Entgelte und damit verbundener Boni oder Sachleistungen sowie der Schadensersatz für entgangene Chancen und immaterielle Schäden. Sie erfassen auch Schäden, die durch andere relevante Faktoren – insbesondere eine intersektionelle Diskriminierung – verursacht wurden. Eine vorab festgelegte Obergrenze für Schadensersatz und Entschädigung, wie sie derzeit noch in § 15 Abs. 2 AGG vorgesehen ist, wird ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 16 Abs. 3, 4). Gemäß Art. 18 Abs. 3 soll dabei eine mit § 15 Abs. 5 EntgTranspG vergleichbare Beweiserleichterung greifen: Hat der Arbeitgeber seine Transparenzverpflichtungen nicht erfüllt, soll es ihm obliegen, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass es keine Diskriminierung wegen des Geschlechts in Bezug auf das Entgelt gegeben hat. Eine Ausnahme ist nur für den Fall vorgesehen, dass der Verstoß offensichtlich unbeabsichtigt und geringfügig war. Ergänzend hierzu sollen die zuständigen Behörden oder die Gerichte in die Lage versetzt werden, die Offenlegung von Beweismitteln unter Berücksichtigung des nationalen Verfahrensrechts anzuordnen, wenn sie vertrauliche Informationen enthalten, sofern sie diese als sachdienlich für den Anspruch auf gleiches Entgelt erachten. Unabhängig davon sollen nach Art. 23 Vorschriften über wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen erlassen werden. Nach den Feststellungen des EuGH im Urteil vom 17.12.201516 ist dies mit den derzeit geltenden Regelungen in Richtlinie 2006/54/EU (noch) nicht verbunden. Zu diesen Sanktionen bei einer Verletzung der Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit gleichem Entgelt bei gleicher und gleichwertiger Arbeit sollen auch Geldbußen gehören. ii)
Verjährungsregelungen
Nach Art. 21 Abs. 1 ist auf nationaler Ebene sicherzustellen, dass etwaige Verjährungsfristen nicht kürzer sind als drei Jahre. Sie dürfen nicht beginnen, bevor die klagende Partei Kenntnis von einem Verstoß hat oder diese Kenntnis von ihr vernünftigerweise erwartet werden kann. Vorschriften über das Erlöschen von Ansprüchen, zu denen man an sich Ausschlussfristen rechnen muss, bleiben hiervon indes unberührt (Art. 21 Abs. 3).
16 EuGH v. 17.12.2015 – C-407/14, NZA 2016, 471 Rz. 37, 40 – Arjona Camacho.
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Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
c)
Richtlinie zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Männern und Frauen in den Organen börsennotierter Gesellschaften
aa)
Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen
Auf der Grundlage des durch die EU-Kommission bereits am 14.11.201217 vorgelegten Entwurfs haben sich die Mitgliedstaaten im Herbst auf die Richtlinie 2022/2381/EU zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den Direktoren börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen verständigt18. Wie bereits der Titel erkennbar macht, findet die Richtlinie auf börsennotierte Gesellschaften Anwendung. Ausgegrenzt werden Kleinstunternehmen sowie KMU (Art. 2). Dazu gehören Unternehmen, die weniger als 250 Personen beschäftigen oder entweder einen Jahresumsatz von höchstens 50 Mio. EUR erzielen oder deren Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 43 Mio. EUR beläuft. Hat das Unternehmen seinen Sitz in einem Mitgliedstaat, der nicht den Euro als Währung hat, ist eine entsprechende Umrechnung vorzunehmen (Art. 3 Nr. 8). Dabei ist für die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem die Gesellschaft ihren eingetragenen Sitz hat (Art. 4). bb)
Zielvorgaben für eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter in den Leitungsorganen
Auf der Grundlage von Art. 5 werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, bis zum 30.6.2026 sicherzustellen, dass für börsennotierte Gesellschaften eines der folgenden Ziele gilt: •
das unterrepräsentierte Geschlecht stellt mindestens 40 % der nicht geschäftsführenden Direktoren;
•
das unterrepräsentierte Geschlecht stellt mindestens 33 % aller Direktoren, wozu die Posten der geschäftsführenden und der nicht geschäftsführenden Direktoren zählen.
Börsennotierte Gesellschaften, die von der zweitgenannten Zielvorgabe ausgenommen sind, müssen verpflichtet werden, in diesen Duellen qualitative Zielvorgaben zur Verbesserung der ausgewogenen Vertretung der Geschlechter unter den geschäftsführenden Direktoren festzulegen. Dabei sollen die
17 COM(2012) 614 final. 18 ABl. EU 2022, L 315, 44.
57
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
Mitgliedstaaten sicherstellen, dass diese börsennotierten Gesellschaften versuchen, solche Zielvorgaben bis zum 30.6.2026 zu erfüllen. Die genaue Anzahl der Stellen nicht geschäftsführender Direktoren, bei der die Zielvorgabe i. H. v. 40 % als erfüllt gilt, entspricht der Anzahl, die dem Anteil von 40 % am nächsten kommt, 49 % aber nicht überschreitet. Die Anzahl der Direktorenstellen, bei denen die Zielvorgabe i. H. v. 33 % als erfüllt gilt, entspricht der Anzahl, die dem Anteil von 33 % am nächsten kommt, 49 % aber nicht überschreitet. Eine genaue Aufschlüsselung der Zahl der Posten und der daraus resultierenden Mindestzahl ist im Anhang der Richtlinie aufgeführt. cc)
Ergänzende Maßnahmen zur Erreichung der Zielvorgaben
Nach Art. 6 müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass börsennotierte Gesellschaften, die die vorstehend genannten Zielvorgaben nicht erfüllen, das Verfahren für die Auswahl der Kandidaten für die Bestellung oder Wahl zu Direktoren anpassen. Diese Kandidaten werden auf der Grundlage eines Vergleichs der Qualifikationen jedes Kandidaten ausgewählt. Zu diesem Zweck müssen klare, neutral formulierte und eindeutige Kriterien ohne Diskriminierung während des gesamten Auswahlverfahrens angewandt werden. Ausdrücklich werden dabei auch die Vorbereitung von Stellenausschreibungen, die Vorauswahl, die Auswahlliste und die Bildung von Auswahlpools von Kandidaten genannt. Die dafür maßgeblichen Kriterien müssen vor dem Auswahlverfahren festgelegt werden. Ergänzend hierzu wird bestimmt, dass bei der Auswahl der Kandidaten für die Bestellung oder Wahl zu Direktoren zwischen den Kandidaten, die in Bezug auf Eignung, Befähigung und berufliche Leistung gleichermaßen qualifiziert sind, dem Kandidaten des unterrepräsentierten Geschlechts Vorrang eingeräumt wird, es sei denn, dass in Ausnahmefällen Gründe von größerem rechtlichen Gewicht, wie etwa die Verfolgung anderer Diversitätsstrategien, die im Rahmen einer objektiven Beurteilung angewandt werden, die die besondere Situation eines Kandidaten des anderen Geschlechts berücksichtigt und auf nicht diskriminierenden Kriterien beruht, den Ausschlag zu Gunsten dieses Kandidaten des anderen Geschlechts geben (Art. 6 Abs. 2). Bei der Umsetzung dieser Vorgaben ist Transparenz gegenüber den Bewerbern sicherzustellen. Dafür müssen börsennotierte Gesellschaften einen Kandidaten, der bei der Auswahl der Kandidaten für die Bestellung oder Wahl zu Direktoren in Betracht gezogen wurde, auf seinen Antrag über Folgendes informieren: •
58
über die Qualifikationskriterien für die Auswahl der Kandidaten,
Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
•
über den objektiven Vergleich der Kandidaten anhand dieser Kriterien,
•
ggf. über die besonderen Erwägungen, die ausnahmsweise den Ausschlag zu Gunsten des Kandidaten gegeben haben, der nicht dem unterrepräsentierten Geschlecht angehört.
Ergänzend hierzu müssen die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihrem nationalen Justizsystem Maßnahmen ergreifen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die börsennotierte Gesellschaft nachweist, nicht gegen Art. 6 Abs. 2 verstoßen zu haben (Art. 6 Abs. 4), wenn ein nicht ausgewählter Kandidat des unterrepräsentierten Geschlechts vor einem Gericht oder einer anderen zuständigen Behörde glaubhaft macht, dass er die gleiche Qualifikation hat wie der Kandidat des anderen Geschlechts, der für die Bestellung oder Wahl zum Direktor ausgewählt wurde. Erfolgt die Auswahl der Kandidaten für die Bestellung oder Wahl zu Direktoren in Form einer Abstimmung von Aktionären oder Beschäftigten, so müssen die Mitgliedstaaten die börsennotierten Gesellschaften auffordern, dafür zu sorgen, dass dem Abstimmenden die in der Richtlinie 2022/2381/EU vorgesehenen Maßnahmen in angemessener Form bekannt gegeben werden. Zu den mitteilungspflichtigen Informationen gehören auch die Sanktionen, denen sich eine börsennotierte Gesellschaft aussetzt, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. dd)
Pflicht zur Berichterstattung
Auf der Grundlage der in Art. 7 getroffenen Vorgaben müssen die börsennotierten Gesellschaften jährlich Angaben über die Vertretung von Frauen und Männern in ihren Leitungsorganen vorlegen, und zwar getrennt nach geschäftsführenden Direktoren und nicht geschäftsführenden Direktoren. Außerdem müssen die Maßnahmen mitgeteilt werden, die die börsennotierten Gesellschaften ergriffen haben, um die jeweils geltenden bzw. festgelegten Zielvorgaben zu erreichen. Diese Angaben müssen in einer leicht zugänglichen Form auf ihren Webseiten veröffentlicht werden. Wenn eine börsennotierte Gesellschaft eine der geltenden bzw. festgesetzten Zielvorgaben nicht erfüllt, sind nicht nur die Gründe hierfür zu nennen. Es muss weiterhin umfassend dargelegt werden, welche Maßnahmen die börsennotierte Gesellschaft bereits ergriffen hat oder zu ergreifen gedenkt, um die Zielvorgaben zu erfüllen. Wichtig ist: Diese Berichtspflicht kann auf der Grundlage von Art. 12 ausgesetzt werden, wenn bis zum 27.12.2022 in einem Mitgliedstaat bereits Regelungen zur Vertretung von Frauen und Männern unter den Direktoren börsen59
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
notierter Gesellschaften vorhanden sind, die die dort genannten Schwellenwerte erfüllen und durch entsprechende Durchsetzungsmechanismen ergänzt werden. Da Deutschland nur einen Teil dieser Vorgaben erfüllt, kommt diese Ausnahmeregelung aber vorliegend nicht zum Tragen. Es fehlt nämlich an einer festen Zielgröße für die Repräsentanz beider Geschlechter im Aufsichtsrat. § 111 Abs. 5 AktG begründet nur eine Verpflichtung, für den Frauenanteil im Aufsichtsrat und im Vorstand Zielgrößen festzulegen. Eine feste Frauenquote für den Vorstand sieht § 76 Abs. 3 a AktG für den Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft darüber hinaus nur dann vor, wenn eine gesetzliche Regelung zur Unternehmensmitbestimmung Geltung beansprucht und der Vorstand aus mehr als drei Personen besteht. Dass der Aufsichtsrat bei börsennotierten Gesellschaften, für die das MitbG, das MontanMitbestG oder das MitbEG gilt, zu mindestens 30 % aus Frauen und zu mindestens 30 % aus Männern zusammengesetzt sein muss (§ 96 Abs. 2 AktG), genügt nicht. ee)
Sanktionen und zusätzliche Maßnahmen
Nach Art. 8 müssen die Mitgliedstaaten Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen Art. 5 Abs. 2, Art. 6, 7 zu verhängen sind, festlegen und die für eine Anwendung dieser Sanktionen erforderlichen Maßnahmen treffen. Derartige Sanktionen können Geldbußen oder die Möglichkeit einer gerichtlichen Instanz, einen Beschluss hinsichtlich der Auswahl von Direktoren zu annullieren oder für nichtig zu erklären, umfassen. Dies entspricht bereits § 96 Abs. 2 AktG. Des Weiteren muss auf nationaler Ebene sichergestellt werden, dass börsennotierte Gesellschaften bei der Ausführung öffentlicher Aufträge und Konzessionen die geltenden Verpflichtungen des Arbeits- und des Sozialrechts im Einklang mit dem einschlägigen Unionsrecht in diesem Bereich einhalten. Diese Vorgabe umfasst weitergehende Regelungen, die nicht mit der Vertretung von Frauen und Männern in den Leitungsorganen solcher Gesellschaften zu tun haben. Ergänzend hierzu müssen die Mitgliedstaaten eine oder mehrere Stellen bezeichnen, deren Aufgabe darin besteht, die ausgewogene Vertretung der Geschlechter in den Leitungsorganen zu fördern, zu analysieren, zu beobachten und zu unterstützen. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten beispielsweise Gleichstellungsstellen benennen, wie dies mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes bereits geschehen sein dürfte. ff)
Umsetzungsfrist
Die Umsetzung der Richtlinie muss bis zum 28.12.2024 erfolgen. Zu erwarten ist, dass hierfür ein FüPoG III geschaffen wird.
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Unionsrechtliche Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung
d)
Richtlinie über Standards für Gleichstellungsstellen
Am 7.12.2022 hat die EU-Kommission den Vorschlag für eine Richtlinie über Standards für Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen und zur Streichung von Art. 20 Richtlinie 2006/54/EG und Art. 11 Richtlinie 2010/41/EU vorgelegt19. Mit dieser Richtlinie werden übergreifende Regelungen zur Errichtung und Arbeit sog. Gleichstellungsstellen geschaffen, die auf nationaler Ebene für die Verteidigung der Menschenrechte oder den Schutz der Rechte des Einzelnen verantwortlich sind. Sie betreffen Regelungen zur Unabhängigkeit (Art. 3), zur Ausstattung mit personellen, technischen und finanziellen Ressourcen (Art. 4), zur Unterstützung von Opfern (Art. 6) sowie zu der Möglichkeit, etwaige Streitigkeiten von Parteien gütlich beizulegen (Art. 7). Ergänzend hierzu sieht der Entwurf vor, dass die Gleichstellungsstellen das Recht haben, in Gerichtsverfahren in Verwaltungs- und Zivilsachen, die die Umsetzung des in den Richtlinien 2006/54/EG und 2010/41/EU verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung betreffen, nach den weiteren Maßgaben des Richtlinienentwurfs tätig zu werden. Hierzu gehört unter anderem das Recht, dem Gericht als „Amicus Curiae“ Stellungnahmen zu übermitteln oder im Namen oder zur Unterstützung eines oder mehrerer Opfer ein Verfahren einzuleiten oder sich daran zu beteiligen; in diesem Fall ist allerdings die Zustimmung der Opfer erforderlich. Als Amicus Curiae wäre die Gleichstellungsstelle nicht – wie dies bei Sachverständigen der Fall ist – auf die durch einen Beweisbeschluss aufgeworfene Sachfrage beschränkt. Obwohl der Amicus Curiae keine eigenständigen Verfahrensrechte besitzt, dürfte die Gleichstellungsstelle – ohne eine Pflicht zur Unparteilichkeit – einzelne Rechtsfragen aufwerfen und mögliche Entscheidungswege aufzeigen. Führt man sich den Zweck der Gleichstellungsstelle vor Augen, müssen entsprechende Stellungnahmen allerdings stets dem übergeordneten Zweck einer Verteidigung der Menschenrechte oder dem Schutz der Rechte des Einzelnen dienen. Wir werden über den weiteren Gang des Verfahrens berichten. Allerdings kann schon heute festgestellt werden, dass ein Teil der im Entwurf vorgesehenen Aufgaben im Zweifel bereits durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wahrgenommen wird. (Ga)
19 COM(2022) 688 final.
61
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
2.
Richtlinie über angemessene Mindestlöhne
Inzwischen ist auch die Richtlinie 2022/2041/EU vom 19.10.2022 über angemessene Mindestlöhne in der EU verabschiedet und im Amtsblatt veröffentlicht20. Sie muss bis zum 15.11.2024 umgesetzt werden. Wir hatten über die Entstehung dieser Richtlinie berichtet21. Die Richtlinie gilt zwar für alle Arbeitsverhältnisse, wobei bei deren Kennzeichnung neben den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten des jeweiligen Mitgliedstaats auch die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen ist (Art. 2). In Übereinstimmung mit den Klarstellungen im Erwägungsgrund 19 wird damit allerdings nicht die Autonomie der Sozialpartner sowie das Recht berührt, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen. Die Richtlinie zielt also nicht darauf ab, die Höhe der Mindestlöhne in der EU zu vereinheitlichen oder einen einheitlichen Mechanismus für die Festsetzung von Mindestlöhnen zu schaffen. Es bleibt bei der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen sowie der Entscheidung, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen, den Zugang zum tarifvertragsgarantierten Mindestlohnschutz zu fördern oder beides zu tun (Art. 1 Abs. 2, 3). Im Kern sind zwei Verpflichtungen auch im Zusammenhang mit der Umsetzung in deutsches Recht maßgeblich22: Zum einen sieht Art. 4 eine Pflicht zur Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung vor. Danach muss jeder Mitgliedstaat, in dem die „tarifvertragliche Abdeckung“ unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt, einen Rahmen festlegen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen. Außerdem soll der Mitgliedstaat einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen. Dieser soll einen klaren Zeitplan und konkrete Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung unter uneingeschränkter Achtung der Autonomie der Sozialpartner enthalten. Dabei bestimmt Art. 3 Nr. 5, dass „tarifvertragliche Abdeckung“ den Anteil der Arbeitnehmer auf nationaler Ebene meint, für die ein Tarifvertrag gilt, berechnet als das Verhältnis der Zahl der Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt, zu der Zahl der Arbeitnehmer, de-
20 ABl. EU 2022, L 275, 33. 21 B. Gaul, AktuellAR 2021, 57 ff., 2022, 60 ff., 388 ff. 22 Vgl. Klumpp, ZESAR 2023, 101.
62
Richtlinie über angemessene Mindestlöhne
ren Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten geregelt werden können. Hiervon ausgehend dürfte der Begriff der „Abdeckung“ – abweichend von einem am Wortlaut ausgerichteten Verständnis – allerdings nicht allein nach räumlichen Gesichtspunkten zu verstehen sein. Vielmehr wird man nach dieser Vorgabe durch das Unionsrecht davon ausgehen müssen, dass für eine „tarifvertragliche Abdeckung“ eine echte Bindung an den Tarifvertrag gegeben sein muss, mag diese durch Gesetz, individualrechtliche Regelung (insbesondere Bezugnahmeklausel) oder behördliche Vorgabe (insbesondere Allgemeinverbindlicherklärung) begründet sein. Folgt man diesem Verständnis, dürfte die Schwelle einer tarifvertraglichen Abdeckung von 80 % in Deutschland nicht erreicht sein. Zwar wird man davon ausgehen können, dass eine große Zahl von Arbeitsverhältnissen in den räumlichen und sachlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags fällt. Dieser Anteil mag auch oberhalb von 80 % der insgesamt bestehenden Arbeitsverhältnisse liegen. Auch wenn keine statistischen Erhebungen vorliegen, dürfte aber nur für einen deutlich geringeren Anteil der Arbeitsverhältnisse ein Tarifvertrag tatsächlich Verbindlichkeit haben. In den übrigen Arbeitsverhältnissen dürfte das Arbeitsentgelt losgelöst vom Tarifvertrag festgelegt werden, so dass insoweit auch keine „tarifvertragliche Abdeckung“ gegeben ist23. Nach Maßgabe der Richtlinie folgt daraus zwar keine Verpflichtung, als Folge des Aktionsplans tatsächlich mehr Tarifverträge abzuschließen oder durch ihre inhaltliche Veränderung die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen (Erwägungsgrund 25). Es bleibt aber abzuwarten, ob die Bundesregierung eine entsprechende Unterschreitung des Schwellenwerts nicht doch zum Anlass nimmt, ungeachtet der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) weitergehende Maßnahmen zu einer verstärkten Bindung an Tarifverträge, jedenfalls in Bezug auf den Vergütungsbereich, einzuleiten. Dazu könnten weitere Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung oder auch eine Ausweitung der Branchen gehören, in denen nach den Vorgaben des AEntG eine Tarifbindung hergestellt werden kann24. Losgelöst davon verpflichtet Art. 5 die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen, die erforderlichen Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung dieser Mindestlöhne festzulegen. Im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten in einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften sollen dabei
23 So auch Fechner, AuR 2023, 156, 157. 24 So der Vorschlag von Fechner, AuR 2023, 156, 157.
63
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
Kriterien zugrunde gelegt werden, die zu ihrer Angemessenheit beitragen. Diese Kriterien umfassen mindestens die folgenden Aspekte: •
die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten;
•
das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung;
•
die Wachstumsrate der Löhne;
•
langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen.
Auf der Grundlage dieser Regelungen müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig und rechtzeitig mindestens alle zwei Jahre oder – bei Mitgliedstaaten, die einen automatischen Identifizierungsmechanismus gemäß Art. 5 Abs. 3 verwenden – mindestens alle zehn Jahre aktualisiert werden. Zu erwarten ist, dass die Regelungen des MiLoG um solche Kriterien und den Rahmen für die zeitliche Überprüfung des Mindestlohns ergänzt werden. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass die Mitgliedstaaten bei der Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde legen sollen. Als Referenzwerte, die mit nationalen Indikatoren verbunden sind, nennt die Richtlinie beispielhaft den Vergleich des Nettomindestlohns mit der Armutsgrenze und der Kaufkraft von Mindestlöhnen (Erwägungsgrund 28). Wenn internationale Referenzwerte verwendet werden, kann dies 60 % des Bruttomedianlohns oder 50 % des Bruttodurchschnittslohns sein (Art. 5 Abs. 4). Derzeit wäre ein Referenzwert, der den Bruttodurchschnittslohn berücksichtigt, durch den gesetzlichen Mindestlohn noch gerade gewahrt. Dies gilt jedenfalls auf der Grundlage des monatlichen Bruttodurchschnittslohns des Jahres 2021. Denn dieser lag bei 4.100 EUR, ausgehend von einer 40-Stunden-Woche. Daraus resultiert ein durchschnittlicher Stundenlohn von 23,65 EUR/Stunde, der mit dem Mindestlohn i. H. v. 12 EUR/Stunde zu 51 % erreicht wird. Es bleibt abzuwarten, welche Referenzwerte die Bundesregierung im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie auswählen wird. Gerade weil die bloße Entwicklung von Brutto- oder Nettodurchschnittsverdiensten keine Aussage in Bezug auf die Kaufkraft beinhaltet, wird man angesichts der aktuellen Diskussion über die Auswirkungen der Inflation sicher auch darüber nachdenken, wie der Reallohn einbezogen werden kann. Das würde berücksichtigen, dass die Entwicklung der Reallöhne in 2022 durchgehend negativ verlaufen ist. (Ga)
64
Unionsrechtliche Regelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen
3.
Unionsrechtliche Regelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen
Im vergangenen Jahr hatten wir bereits über den Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie 2019/1937/EU (Lieferkettenrichtlinie, Corporate Sustainability Due Diligence Directive – CSDDD) vom 23.2.202225 berichtet26, deren Verabschiedung die bislang durch das LkSG begründeten Handlungspflichten, die wir bereits in den beiden vergangenen Jahren behandelt hatten27, wesentlich erweitern würde. Eine politische Einigung in Bezug auf dieses Vorhaben ist derzeit auf europäischer Ebene noch nicht erzielt worden. Die Bundesregierung hat allerdings deutlich gemacht, das Vorhaben der EU-Kommission zu unterstützen28. Es tritt neben die Bemühungen um ein UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte (UN-Treaty), zu dem es ebenfalls noch keine Einigung gibt. Hier sind vor allem Regelungen zur Haftung weiterhin streitig29. Insofern bleibt es in der betrieblichen Praxis derzeit erst einmal bei den Vorgaben des LkSG. Diesbezüglich sei allerdings auf die FAQ des BAFA hingewiesen, durch die Leitlinien zur Risikoanalyse, zum Beschwerdemechanismus, zu den Berichtspflichten und zum Prinzip der Angemessenheit bei der Kennzeichnung konkreter Handlungspflichten gesetzt werden. Sie sind nicht verbindlich, aber hilfreich, sollten allerdings nicht unkritisch umgesetzt werden30. Einvernehmen wurde auf europäischer Ebene allerdings in Bezug auf die notwendigen Änderungen im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen erzielt. Auf dieser Grundlage ist die Richtlinie 2022/2464/EU zur Änderung der Verordnung 537/2014/EU und der Richtlinien 2004/109/EG, 2006/43/EG und 2013/34/EU hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive – CSRD) verabschiedet und im Amtsblatt veröffentlich worden31.
25 26 27 28 29 30 31
COM(2022) 71 final. B. Gaul, AktuellAR 2022, 64 ff. B. Gaul, AktuellAR 2021, 370 ff., 2022, 64 ff. BT-Drucks. 20/4207 S. 2. Vgl. BT-Drucks. 20/4207 S. 7. Zutr. Ritz/Werner, DB 2023, 125. ABl. EU 2022, L 322, 15.
65
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
Sie ist schrittweise umzusetzen. Die ersten Handlungspflichten gelten bereits für Geschäftsjahre, die ab dem 1.1.2024 beginnen32. Auch wenn sich die geänderten Vorgaben primär an Vorstand, Aufsichtsrat und Abschlussprüfer richten, wird man den Inhalt der Richtlinie 2022/2464/EU auch aus arbeitsrechtlicher Sicht im Auge behalten müssen. Schließlich kommt eine Nachhaltigkeitsberichterstattung nach Art. 19 a, 29 a Richtlinie 2013/34/EU in ihrer Neufassung nur in Betracht, wenn man sich während des jeweils laufenden Geschäftsjahres auch mit diesen Themen befasst hat und dies im Lagebericht entsprechend dargestellt werden kann. Dies gilt nicht nur für allgemeine Aspekte, die die Chancen und Risiken des Geschäftsmodells und der Strategie des Unternehmens im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsaspekten betreffen. Auch Informationen zu der Art und Weise, wie das Unternehmen beabsichtigt sicherzustellen, dass sein Geschäftsmodell und seine Strategie mit dem Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft und der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C vereinbar sind, dürften diesen arbeitsrechtlichen Bezug nicht unmittelbar aufweisen. Erkennbar wird der Bezug der Nachhaltigkeitsberichterstattung zu den Bereichen Arbeitsrecht und HR beispielsweise in der Notwendigkeit zu beschreiben, welche Rolle die Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsaspekten haben und welches Fachwissen und welche Fähigkeiten bei diesen Organen zur Wahrnehmung dieser Rolle bzw. welche Möglichkeiten eines Zugangs zu solchem Fachwissen und solchen Fähigkeiten bestehen (Art. 19 a Abs. 2 lit. c, 29 a Abs. 2 lit. c). Hier geht es unmittelbar um die Personalentwicklung auf Organebene, die insbesondere die Verantwortlichkeit des Anteilsinhabers bzw. der Aufsichtsorgane betrifft. Auch können Angaben über das Vorhandensein von Anreizsystemen, die Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen und Mitgliedern der Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane angeboten werden (Art. 19 a Abs. 2 lit. e, 29 a Abs. 2 lit. e), nur dann beschrieben werden, wenn das Bewusstsein zu entsprechenden Regelungen bei den hierfür auf Unternehmens- bzw. Konzernebene verantwortlichen Stellen besteht und entsprechende Vereinbarungen entwickelt werden. Wichtig allerdings ist: Eine Verpflichtung, wegen der Nachhaltigkeitsberichterstattung Veränderungen auf der Organebene und/oder in Bezug auf die mit den Organen bestehenden Vergütungsvereinbarungen zu treffen, wird durch die Richtlinie 2022/2464/EU nicht begründet. Das wäre Gegenstand der Lieferkettenrichtlinie, die allerdings noch in Diskussion ist.
32 Eingehend Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118.
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Unionsrechtliche Regelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen
Ein weiterer Bezug zu den Bereichen HR und Arbeitsrecht ergibt sich aus der Richtlinie 2022/2464/EU insoweit, als in Art. 19 a Abs. 5, 29 a Abs. 5 vorgesehen ist, dass die Unternehmensleitung bzw. die Unternehmensleitung des Mutterunternehmens die Arbeitnehmervertreter auf geeigneter Ebene unterrichtet und mit ihnen die einschlägigen Informationen und die Mittel zur Einholung und Überprüfung von Nachhaltigkeitsinformationen erörtert. Eine solche Unterrichtungs- und Beratungspflicht ist in § 106 Abs. 3 Nrn. 5 a, 5 b BetrVG mit der Bezugnahme auf den Umweltschutz und die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten gemäß dem LkSG nur unvollkommen enthalten. Im Zweifel wird man daher eine Erweiterung in § 106 Abs. 3 BetrVG vornehmen müssen, wobei zu berücksichtigen ist, dass beim Konzernbetriebsrat an sich kein Wirtschaftsausschuss besteht. Zur Umsetzung von Art. 29 a Abs. 5 wird man deshalb wohl ein eigenständiges Unterrichtungsund Beratungsrecht des Konzernbetriebsrats schaffen müssen. Die Stellungnahme der Arbeitnehmervertreter soll ggf. dem zuständigen Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan mitgeteilt werden. Damit die Nachhaltigkeitsberichterstattung auf der Grundlage von Art. 19 a, 29 a einheitlich erfolgt, soll die EU-Kommission delegierte Rechtsakte zur Ergänzung der Richtlinie erlassen, in denen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung enthalten sind (Art. 29 b). Darin werden dann auch die Informationen präzisiert, die Unternehmen zu den verschiedenen Umwelt-, Sozial-, Menschenrechts- und Governance-Faktoren offenlegen müssen. Dabei können allerdings Besonderheiten für KMU festgelegt werden (Art. 29 c). Wichtig ist, dass die Regelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung – wenn auch eingeschränkt – auch für Unternehmen zur Anwendung kommen können, deren Konzernobergesellschaft sich außerhalb der EU befindet. Dabei setzt Art. 40 a grundsätzlich einen Nettoumsatzerlös in den beiden letzten aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren von jeweils mehr als 150 Mio. EUR voraus. Die Umsetzung der Neuregelungen durch Richtlinie 2022/2464/EU beginnt nach Art. 5 schrittweise mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung für große Unternehmen i. S. v. Art. 3 Abs. 4 Richtlinie 2013/34/EU, bei denen es sich um Unternehmen von öffentlichem Interesse i. S. d. Art. 2 Nr. 1 Richtlinie 2013/34/EU handelt und die am Bilanzstichtag die durchschnittliche Zahl von 500 während des Geschäftsjahres Beschäftigten überschreiten, sowie für Unternehmen von öffentlichem Interesse i. S. v. Art. 2 Nr. 1 Richtlinie 2013/34/EU, bei denen es sich um Mutterunternehmen einer großen Gruppe i. S. v. Art. 3 Abs. 7 Richtlinie 2013/34/EU handelt und die am Bilanzstichtag auf konsolidierter Basis die durchschnittliche Zahl von 500 während des Geschäftsjahres Beschäftigten überschreiten. Für andere Unternehmen ist die 67
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
Nachhaltigkeitsberichterstattung – abhängig von ihrer Größe – erst für Geschäftsjahre ab dem 1.1.2025, 1.1.2026 oder 1.1.2028 maßgeblich. (Ga)
4.
Stand der Umsetzung des EU-US Data Privacy Framework
Nachdem Biden – wie im Herbst berichtet33 – in den USA durch eine Executive Order vom 7.10.2022 das EU-US-Datenschutzabkommen (EU-US Data Privacy Framework) in Kraft gesetzt und die Umsetzung eingeleitet hat, sind auch auf europäischer Ebene erste Umsetzungsschritte eingeleitet worden. In diesem Zusammenhang hat die EU-Kommission den Entwurf eines Angemessenheitsbeschlusses vorbereitet und am 13.12.2022 das Verfahren zur Annahme des Beschlusses nach Art. 45 Abs. 3 DSGVO eingeleitet. Damit wurde der Entwurf dem Europäischen Datenschutzausschuss (EDSA) zur Prüfung und Stellungnahme vorgelegt. Mit einem Angemessenheitsbeschluss soll festgestellt werden, dass die USA als ein Drittland i. S. d. DSGVO bei einer vereinbarungsgemäßen Umsetzung des EU-US-Datenschutzabkommens ein angemessenes Schutzniveau i. S. d. Art. 45 Abs. 2 DSGVO bieten. In dem Durchführungsrechtsakt ist ein Mechanismus für eine regelmäßige Überprüfung vorgesehen, die mindestens alle vier Jahre erfolgen und allen maßgeblichen Entwicklungen in den USA Rechnung tragen soll. Darüber hinaus werden dort der territoriale und der sektorale Anwendungsbereich sowie ggf. die in Art. 45 Abs. 2 lit. b DSGVO genannte Aufsichtsbehörde bzw. genannten Aufsichtsbehörden angegeben. Einzelheiten des weiteren Verfahrens bis zum Beschluss der Angemessenheit bestimmen sich nach Art. 93 Abs. 2 DSGVO, Art. 5 Verordnung 182/2011/EU. Etwaige Entscheidungen werden mit einer Mehrheit nach Art. 16 Abs. 4, 5 AEUV getroffen. Grundsätzlich kann die EU-Kommission den Angemessenheitsbeschluss daher erst treffen, wenn der EDSA eine befürwortende Stellungnahme abgegeben hat oder gar keine Stellungnahme abgegeben wird. Bei einer ablehnenden Stellungnahme müsste die EU-Kommission den Angemessenheitsbeschluss an etwaige Bedenken des EDSA anpassen, was möglicherweise voraussetzte, dass auch das EU-US-Datenschutzabkommen angepasst und dem EDSA dann erneut zugeleitet würde. Ob die erforderlichen Mehrheiten für eine Zustimmung im EDSA erreicht werden, ist derzeit nicht absehbar. In einer ersten Stellungnahme vom
33 B. Gaul, AktuellAR 2022, 383 f.
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Stand der Umsetzung des EU-US Data Privacy Framework
28.2.202334 begrüßt der EDSA zwar wesentliche Verbesserungen, wie die Einführung von Anforderungen an Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit für die nachrichtendienstliche Datenerhebung in den USA und den neuen Rechtsbehelfsmechanismus für betroffene Personen aus der EU. Gleichzeitig äußert der EDSA aber nicht unerhebliche Bedenken und bittet um Klarstellungen zu mehreren Punkten. Diese betreffen insbesondere das Fehlen klarer Begriffsbestimmungen, die Wirkungsweise bestimmter Rechte betroffener Personen, die Weiterübermittlung personenbezogener Daten innerhalb der USA, den Umfang der Ausnahmen bei öffentlich verfügbaren Daten, das Fehlen von Regeln zur automatisierten Profilierung, die vorübergehende Massenerfassung von Daten und die praktische Funktionsweise des Rechtsbehelfsmechanismus35. Der EDSA betont weiter, dass die praktische Anwendung der neu eingeführten Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit genau überwacht werden müsse. Überprüft werden muss ebenfalls, ob die Gremien, die über etwaige Rechtsbehelfe gegen die Verarbeitung der personenbezogenen Daten in den USA zu entscheiden haben, die notwendige Unabhängigkeit besitzen. Das gelte sowohl für die Beschwerde beim Civil Liberties Protection Officer for the Office of the Director of National Intelligence (CLPO) als auch die dagegen mögliche Beschwerde bei einem Data Protection Review Court (DPRC). Weitere Klarheit ist aus Sicht des EDSA auch in Bezug auf die Frage erforderlich, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die verschiedenen Agenturen innerhalb der USA die Einhaltung des EU-US-Datenschutzabkommens bestätigen. Problematisch ist aus seiner Sicht außerdem, dass die Regeln des EU-US-Datenschutzabkommens unabhängig von der Frage als angemessen erklärt werden sollen, ob die amerikanischen Agenturen die Umsetzung der Regelungen und etwaiger Änderungen des EU-US-Datenschutzabkommens bestätigt haben. Hier sieht der EDSA nicht nur Nachbesserungsbedarf innerhalb des Datenschutzabkommens, sondern auch innerhalb der Regelungen zum Inkrafttreten des Angemessenheitsbeschlusses. Vor diesem Hintergrund ist derzeit nicht erkennbar, wann das Verfahren abgeschlossen und – wenn es eine Zustimmung gibt – der Angemessenheitsbeschluss erlassen wird. Zum einen geht bereits der EDSA von der Notwendigkeit einer Anpassung bzw. Klarstellung des EU-US-Datenschutzabkommens aus, die erneute Verhandlungen zwischen den USA und der EU zur Folge hätte. Deren Ausgang ist offen. Zum anderen müssen nach dem EDSA auch 34 Stellungnahme des EDSA v. 28.2.2023 Nr. 5/2023. 35 Vgl. PM der Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder (DSK) v. 1.3.2023.
69
Europäisches Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
noch ein Ausschuss aus Vertretern der EU-Mitgliedstaaten sowie das EU-Parlament beteiligt werden. Bis zu deren Zustimmung setzt die weitere Verarbeitung personenbezogener Daten in einem Drittland die Nutzung von Standardvertragsklauseln oder die Einwilligung der Betroffenen voraus. Losgelöst davon steht zu erwarten, dass auch die Verarbeitung auf der Grundlage des EUUS-Datenschutzabkommens erneut durch den EuGH überprüft werden wird. Ob dieser dann – anders als bei Safe Harbour36 und dem EU-US Privacy Shield37 – den Datenschutz als ausreichend gewahrt sieht, ist offen. (Ga)
36 EuGH v. 6.10.2015 – C-362/14, NZA 2015, 1373 – Schrems I. 37 EuGH v. 16.7.2020 – C-311/18, NJW 2020, 2613 – Schrems II.
70
C. Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag 1.
Interne Personalentwicklung als Antwort auf den Fachkräftemangel
a)
Ausgangssituation
Die ständig fortschreitende Digitalisierung, die wachsende Bedeutung von ESG-Themen (Environment, Social, Governance) und die damit verbundene Veränderung der Anforderungsprofile der im Betrieb vorhandenen und zukünftig benötigten Arbeitsplätze sowie das Bedürfnis einer weiteren Flexibilisierung, die den arbeitgeber- und arbeitnehmerseits gewünschten Erfordernissen nach unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Arbeitszeit und den Arbeitsort Rechnung tragen soll, treffen derzeit auf einen demographischen Wandel, der mit einem akuten Mangel an Fachkräften in Bezug auf eine Vielzahl der künftig benötigten Arbeitsplätze verbunden ist. In der Pflegebranche kommen sogar gesetzliche Vorgaben zur Personalbesetzung dazu1. Für viele Unternehmen liegt darin ein echtes Risiko, das nicht allein mit externer Beschaffung von Personal aufgelöst werden muss. Daran ändern auch geplante Neuregelungen in Bezug auf eine Zuwanderung ausländischer Fachkräfte nur wenig2. Vielmehr ist es erforderlich, das eigene Personal weiterzuentwickeln und dabei vorhandene Potenziale zu heben. Dabei geht es keineswegs nur um (technische) Kenntnisse und Fähigkeiten, die durch formale Qualifikationen nachweisbar sind. Es geht auch um zeitliche und örtliche Mobilität, persönliche Anpassungsfähigkeit, Führungs- oder Teamfähigkeit, Agilität, Empathie, Kreativität oder Servicebereitschaft. Dass nicht jeder Arbeitnehmer in etwaige Re- oder Up-Skilling-Maßnahmen eingebunden werden kann, vielleicht auch will, wird man hinnehmen müssen. Das kann insoweit auch zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen führen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die betrieblichen und tariflichen Sozialpartner die Bedeutung von Qualifizierungsmaßnahmen erkannt und durch Kollektivvereinbarungen zur Qualifizierung eine nachhaltige Grundlage für den Transformationsprozess gesetzt haben. Nicht alle Arbeitnehmer können so entwickelt und/oder qualifiziert werden, dass eine Weiterbeschäftigung in
1 2
Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2023, 39 f. Hierzu vgl. Tänzler-Motzek, AktuellAR 2023, 31 ff.
71
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
der zukünftigen Unternehmensstruktur möglich ist. Wir haben auf einen Teil der Fragen, die damit zusammenhängen, an anderer Stelle hingewiesen3. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die internen Handlungsoptionen zu prüfen und die Inhouse-Personalentwicklung zu stärken4. Wenn und soweit Potenzial vorhanden ist, muss es erkannt und fortentwickelt werden. In fast allen Fällen ist die Fortführung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses die erfolgreichere und auch wirtschaftlich günstigere Möglichkeit. Das liegt nicht nur daran, dass ein Weggang erfahrener Mitarbeiter einen Know-howVerlust auch in Bezug auf Faktoren bewirkt, die von der Digitalisierung gar nicht betroffen sind. Hinzu kommt, dass auch die Digitalisierung von Arbeitsprozessen in vielen Fällen die genaue Kenntnis ihrer (bisherigen) analogen Abwicklung verlangt. Digitalisierung setzt häufig Systematisierung voraus, die aber nur bei Kenntnis der aktuellen (analogen) Abläufe möglich ist. In der Betroffenheit von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit der Digitalisierung liegt aber nicht nur eine Belastung. Die Einbeziehung von Arbeitnehmern in die zukünftige Ausgestaltung und ihre Qualifikation kann motivieren, „stille Reserven“ auszuschöpfen und dem Quiet Quitting entgegenzuwirken. Gleichzeitig werden hohe Kosten eines etwaigen Personalabbaus vermieden.
b)
Festlegung der zukünftigen Anforderungsprofile
Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen sind die Anforderungsprofile der zukünftig im Unternehmen vorhandenen Arbeitsplätze. Sie werden durch den Arbeitgeber im Rahmen der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit festgelegt. Das gilt auch dann, wenn dies zur Folge hat, dass damit heute bereits beschäftigte Arbeitnehmer zukünftig nicht mehr eingesetzt werden können5. Selbst der Sonderkündigungsschutz von Schwerbehinderten steht einer solchen Entscheidung nicht entgegen6. Besteht auch unter Berücksichtigung zumutbarer Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen – auch zu ggf. geänderten Arbeitsbedingungen – keine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung im Unternehmen, kann dies eine personen-7 oder
3 4 5
6 7
72
B. Gaul, AktuellAR 2023, 287 ff. Vgl. Schweitzer/Langohr, DB 2022, 2988, 2991. Vgl. BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 476/16, NZA 2018, 234 Rz. 31 ff.; BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 546/16, NZA 2017, 905 Rz. 23 ff.; BAG v. 10.7.2008 – 2 AZR 1111/06, NZA 2009, 312 Rz. 23 ff. BAG v. 16.5.2019 – 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198 Rz. 36 ff. Vgl. BAG v. 19.4.2012 – 2 AZR 233/11, NZA 2012, 1449 Rz. 24 ff.; BAG v. 28.1.2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625 Rz. 11 ff.
Interne Personalentwicklung als Antwort auf den Fachkräftemangel
betriebsbedingte8 Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Besonderheiten gelten nur bei Arbeitnehmern, die als Folge eines tarifvertraglichen Sonderkündigungsschutzes ordentlich nicht mehr gekündigt werden können. Hier müssen alle denkbaren Möglichkeiten einer sinnvollen Weiterbeschäftigung überprüft werden9; bei ordentlich kündbaren Arbeitnehmern gilt § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG.
c)
Kennzeichnung unternehmensspezifischer Maßnahmen der Personalentwicklung
Im Zusammenhang mit einer entsprechenden Anpassung der Arbeitsplätze und einer Entwicklung und Qualifizierung des aktuellen Personals wird man eine Vielzahl denkbarer Maßnahmen prüfen und an die unternehmensspezifischen Gegebenheiten anpassen müssen. Dazu gehören nicht nur organisatorische und/oder technische Themen, sondern auch weiche – kulturelle und kommunikative – Ansätze, die miteinander verknüpft werden müssen. Ergänzend hierzu wird man überlegen müssen, wie man zusätzliche Anreize setzen kann, um die Arbeitnehmer dazu zu bewegen, sich aktiv in die Transformation einzubinden. Lediglich beispielhaft sei auf folgende Aspekte hingewiesen:
8 9
•
Entwicklung einer Kultur des lebenslangen Lernens,
•
Analyse der Arbeitsanforderungen in den Zielpositionen (Befragung/Beobachtung/Benchmark) mit anschließendem Skill-Mapping (Relevanz/Bedeutung),
•
Systematisierung der Kompetenz- und Potenzialanalyse der vorhandenen Mitarbeiter (z. B. Mitarbeitergespräche und -befragungen, externe Dienstleister, Assessment Center),
•
Stärkung der Personalentwicklung und -werbung außerhalb des HR-Bereichs (z. B. Mentoren-Systeme, E-Recruiting, Mitarbeiterwerben-Mitarbeiter, Online Assessment Center, Gamification),
•
Prüfung einer verstärkten Nutzung von KI (z. B. Taledo),
•
Förderung der Diversität, insbesondere von Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung (einschließlich Anpassung der Stellenausschreibungen, Bewertungsverfahren, Arbeitszeitregelungen),
BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 476/16, NZA 2018, 234 Rz. 18 ff.; LAG Köln v. 14.3.2019 – 6 Sa 489/18 n. v. (Rz. 62 ff.). BAG v. 27.6.2019 – 2 AZR 50/19, NZA 2019, 1345 Rz. 13.
73
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
•
Talentmanagement durch (unternehmensübergreifende) Speicherung/Nutzung der Mitarbeiterpotenziale sowie (unternehmensübergreifende) Stellenausschreibungen,
•
rechtzeitige Planung von Karriere- und Qualifikationsmöglichkeiten,
•
Verpflichtung der Arbeitnehmer und Führungskräfte zur Übertragung und Nachfolgevorsorge (einschließlich einer entsprechenden Anpassung von Zielvereinbarungen),
•
Job-Rotation und Arbeitsplatz-Tausch,
•
Zielvereinbarungen als Steuerungselement der Qualifizierung,
•
Arbeitsgruppen der betrieblichen Sozialpartner und Abschluss entsprechender Vereinbarungen zur Qualifikation von Mitarbeitern,
•
Stärkung der ESG-Initiativen,
•
attraktive Sozialleistungen, Maßnahmen zur Flexibilisierung von Arbeitszeit und Urlaub,
•
Angebote für Coaching und entsprechende Schwerpunkte im Rahmen des Führungskräfte-Trainings,
•
wirtschaftliche oder ideelle Anreize für einen Verbleib im Unternehmen (Retention) und/oder die Teilnahme an Qualifikationsmaßnahmen oder deren erfolgreicher Abschluss,
•
Urlaub oder (unbezahlte/bezahlte) Freistellungen zum Zwecke der Fort- und Weiterbildung.
Nicht jedes Tool passt für jedes Unternehmen. Aber viele dieser Tools passen oder können passend gemacht werden. Ob man die Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen dabei übergreifend stets mit Rückzahlungsklauseln10 oder sogar Vertragsstrafenabreden11 verbinden will, dürfte zweifelhaft sein. Die Grenzen dafür sind eng12. Und gerade dort, wo Fachkräfte wirklich „Mangelware“ sind, werden die entsprechenden Zahlungen durch den Folgearbeitgeber erstattet, so dass die Klausel selbst eine echte Bindung nicht bewirken kann. Wichtiger ist es, diesen Arbeitnehmern eine interessante Perspektive aufzuzeigen, die es lohnenswert erscheinen lässt, im heutigen Unternehmen zu bleiben. Dazu gehört auch die Attraktivität des Arbeitgebers im 10 Hierzu vgl. BAG v. 1.3.2022 – 9 AZR 260/21, NZA 2022, 786; BAG v. 25.1.2022 – 9 AZR 144/21, NZA 2022, 978; Schweitzer/Langohr, DB 2022, 2988, 2990 f. 11 Vgl. BAG v. 20.10.2022 – 8 AZR 332/21 n. v. (Rz. 16 ff.). 12 Vgl. nur BAG v. 1.3.2022 – 9 AZR 260/21, NZA 2022, 786.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Diskriminierung im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens
Vergleich zu anderen Unternehmen, wozu neben dem Erfolg des Unternehmens wiederum attraktive Arbeitszeitmodelle, eine offene Unternehmenskultur und klare ESG-Konzepte gehören.
d)
Zuordnung der Arbeitnehmer in der Soll-Struktur
Wenn die richtigen Arbeitnehmer gefunden sind, ist zu prüfen, ob sie für die neuen Aufgaben der Soll-Struktur eingesetzt werden können und wollen. Dazu gehört aus arbeitsrechtlicher Sicht auch die Frage, ob eine Zuweisung im Rahmen des Direktionsrechts erfolgen kann oder ob eine Änderungsvereinbarung oder -kündigung geboten ist. Zulässig ist, die Teilnahme an Qualifikationsmaßnahmen/Schulungen anzuordnen, wenn dies zur Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten erforderlich ist13. (Ga)
2.
Aktuelle Rechtsprechung zur Diskriminierung im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens
Während sich das LAG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 14.10.202214 noch mit einer Benachteiligung wegen der Rasse bzw. ethnischen Herkunft im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses durch das insistierende und herabsetzende Nachfragen nach der Herkunft einer Arbeitnehmerin befasst hat, die durchaus auch im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens denkbar wäre und als Benachteiligung i. S. d. § 3 Abs. 1 AGG hätte qualifiziert werden müssen, ging es in den Entscheidungen des LAG Nürnberg vom 13.12.202215 und des EuGH vom 12.1.202316 um eine Benachteiligung von Bewerbern wegen des Geschlechts bzw. der sexuellen Ausrichtung. In der Entscheidung des LAG Nürnberg hatte sich der Kläger bei der Beklagten, die Modelle von PKW, LKW und öffentlichen Verkehrsmitteln im Maßstab 1:87 mit 100 bis 150 Einzelteilen produzierte und vertrieb, auf die Stelle eines Bestückers für Digitaldruckmaschinen beworben. Bereits nach einem Tag hat er allerdings eine Absage erhalten, die die Gesellschafterin und Prokuristin der Beklagten mit folgenden Worten begründete: (…) unsere sehr kleinen filigranen Teile sind eher etwas für flinke Frauenhände. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Sie für diese Stelle nicht infrage kommen. (…)
13 14 15 16
LAG Hessen v. 11.4.2007 – 8 Sa 1279/06 n. v. (Rz. 28 ff.). LAG Berlin-Brandenburg v. 14.10.2022 – 12 Sa 51/22, NZA-RR 2023, 125. LAG Nürnberg v. 13.12.2022 – 7 Sa 168/22 n. v. EuGH v. 12.1.2023 – C-356/21, NZA 2023, 287 – TP.
75
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Natürlich hat das LAG Nürnberg darin eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts gesehen und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung i. H. v. 2.500 EUR zu zahlen. Es erstaunt, dass die Beklagte den Rechtsstreit trotz dieses Sachverhalts noch in die Berufungsinstanz gebracht hat, nachdem auch das ArbG Nürnberg eine solche Benachteiligung angenommen und sie zur Zahlung von 3.300 EUR verurteilt hatte. Dass die Beklagte dabei glaubte, mit ihrer Formulierung nur die Bedeutung kleiner Hände und feingliedriger Finger für die Arbeit als Bestücker der Digitaldruckmaschinen verdeutlicht zu haben, besaß allenfalls anekdotischen Wert. Das Gleiche galt für ihren Vortrag, mit dem sie geltend gemacht hatte, bei der Internetrecherche über den Kläger auf Bilder gestoßen zu sein, die auch seine Hände gezeigt hätten. Auch dieser Vortrag rechtfertigte nicht die Schlussfolgerung der Beklagten und die geschlechtsbezogene Ablehnung der Bewerbung des Klägers. In der Entscheidung des EuGH vom 12.1.202317 ging es um die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 lit. a, c Richtlinie 2000/78/EG auch einer Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung im Zusammenhang mit dem Abschluss bzw. der Verlängerung eines Vertrags über die selbständige Beschäftigung eines Bewerbers entgegenstehe. In dem zugrunde liegenden Fall hatte der Kläger geltend gemacht, dass die Beklagte – eine polnische Fernsehgesellschaft – den Neuabschluss bzw. die Verlängerung seines Dienstvertrags mit Blick auf seine sexuelle Ausrichtung abgelehnt habe. Denn die Ablehnung entsprechender Vereinbarungen war – entgegen der zuvor im Zusammenhang mit mehreren Verlängerungen seines Dienstvertrags geübten Praxis – erst erfolgt, nachdem er – gemeinsam mit seinem Lebensgefährten – auf seinem YouTube-Kanal ein Weihnachtsmusikvideo veröffentlicht hatte, das für Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren geworben hatte. In seiner Entscheidung hat der EuGH deutlich gemacht, dass der Anwendungsbereich von Richtlinie 2000/78/EG nicht auf Arbeitnehmer bzw. Bewerber für eine Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses beschränkt sei. Vielmehr erfasse er ausdrücklich auch selbständige Erwerbstätigkeiten in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position18. Hiervon ausgehend stehe die Richtlinie einer einzelstaatlichen Regelung entgegen, die es erlaube, die Weigerung, einen Vertrag mit einer Person abzuschließen oder zu verlängern, der die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit dieser Person zum Inhalt habe, mit der sexuellen Ausrichtung dieser Person zu begründen. 17 EuGH v. 12.1.2023 – C-356/21, NZA 2023, 287 – TP. 18 EuGH v. 12.1.2023 – C-356/21, NZA 2023, 287 – TP.
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Schadensersatzanspruch bei der Verletzung von Hinweispflichten nach dem NachwG
Darin liege eine Benachteiligung, die durch die Richtlinie 2000/78/EG ausgeschlossen werden solle. Die hier in Rede stehende Bewertung des Geltungsbereichs der gesetzlichen Regelungen zum Schutz vor einer Diskriminierung entspricht § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG. Danach sind Benachteiligungen aus einem in § 1 AGG genannten Grund unzulässig in Bezug auf die Bedingungen, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen, für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, sowie für den beruflichen Aufstieg. Dies ist außerhalb der Anstellung von Arbeitnehmern bei der Beschäftigung von freien Mitarbeitern oder sonstigen Solo-Selbständigen zu berücksichtigen. (Ga)
3.
Schadensersatzanspruch bei der Verletzung von Hinweispflichten nach dem NachwG
Die Richtlinie 2019/1152/EU19 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der EU (Arbeitsbedingungenrichtlinie) war nach Art. 22 bis zum 31.7.2022 in innerstaatliches Recht umzusetzen. Diese Umsetzung ist durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2019/1152/EU erfolgt20 und abgesehen von Art. 10, 11 a, 11 b gemäß Art. 12 am 1.8.2022 in Kraft getreten. Neben Änderungen, die im Seearbeitsgesetz (SeeArbG) (Art. 5), in der GewO (Art. 6) sowie im TzBfG (Art. 7) vorgenommen worden sind, hat der Gesetzgeber in Art. 1 die bereits in der Nachweisrichtlinie vorgesehene Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung über die wesentlichen Aspekte des Arbeitsverhältnisses erweitert. Das für alle Arbeitnehmer sowie Praktikanten nach § 22 Abs. 1 MiLoG geltende NachwG (§ 1 NachwG) verpflichtet den Arbeitgeber nach § 2 NachwG, die wesentlichen Vertragsbedingungen des Arbeitsverhältnisses innerhalb der Fristen des S. 4 schriftlich niederzulegen, die Niederschrift zu unterzeichnen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen. In die Niederschrift sind mindestens 15 vom Gesetzgeber selbst näher bezeichnete Arbeitsbedingungen aufzunehmen, wobei bestimmte Arbeitsbedingungen spätestens am ersten Tag der Arbeitsleistung, andere Arbeitsbedingungen spätestens am siebten Kalendertag nach vereinbartem Beginn und weitere Arbeitsbedingungen spätestens einen Monat nach vereinbartem Beginn dem Arbeitnehmer auszuhändigen sind. Dabei gestattet der Gesetzgeber in § 2 Abs. 4 NachwG, dass die Angaben über die Dauer der Probezeit (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 NachwG), über die Arbeitsent19 ABl. EU 2019, L 186, 105. 20 BGBl. I 2022, 1174.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
geltzusammensetzung (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 NachwG), über Fragen der Arbeitszeit (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 8 NachwG), über Anordnung/Voraussetzung von Überstunden (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 NachwG), über die Dauer des jährlichen Erholungsurlaubs (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 11 NachwG), über vom Arbeitgeber bereitgestellte Fortbildung (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 12 NachwG), über Übernahme und Anschrift des Versorgungsträgers (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 13 NachwG) und über das Schriftformerfordernis bei Kündigungen, Kündigungsfristen und die Klageerhebungsfrist (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 14 NachwG) durch einen Hinweis auf die auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen ersetzt werden können. Wird dem Arbeitnehmer ein schriftlicher Arbeitsvertrag ausgehändigt, entfällt die Verpflichtung nach § 2 Abs. 1 NachwG, soweit der Vertrag die darin geforderten Angaben enthält. Unabhängig davon, dass eine Verletzung der dem Arbeitgeber obliegenden Verpflichtung nach § 2 Abs. 1 S. 2 NachwG bußgeldbewehrt ist, hat ein Arbeitgeber, der sich mit der Aushändigung der nach § 2 NachwG geschuldeten Niederschrift in Verzug befindet, gemäß §§ 280 Abs. 1, 2, 286 BGB den durch den eingetretenen Verzug adäquat verursachten Schaden zu ersetzen21. Einer Mahnung zur Begründung des Verzugs bedarf es nach § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB wegen der zeitlich vorgegebenen Pflicht zur Aushändigung der Niederschrift nach § 2 Abs. 1 S. 3 NachwG nicht. Der Schadensersatzanspruch ist auf Naturalrestitution gerichtet (§ 249 Abs. 1 BGB). Bei der Prüfung der adäquaten Verursachung kommt dem Arbeitnehmer nach Ansicht des BAG22 die vom Arbeitgeber widerlegbare Vermutung eines aufklärungsgemäßen Verhaltens zugute, wonach grundsätzlich jedermann bei ausreichender Information seine Eigeninteressen in vernünftiger Weise wahrt. Es ist von einem Kausalverlauf auszugehen, der sich ergeben hätte, wenn der Arbeitgeber seine Nachweispflicht erfüllt hätte. So hat das BAG23 bei einem Verstoß des Arbeitgebers gegen den in allgemeiner Form gehaltenen Hinweis auf die auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträge (§ 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 15 NachwG) vermutet, dass der Arbeitnehmer eine tarifliche Ausschlussfrist beachtet hätte, wenn er vom Arbeitgeber auf die Geltung des Tarifvertrags hingewiesen worden wäre. Allerdings entbindet diese Beweiserleichterung den Arbeitnehmer
21 BAG v. 30.10.2019 – 6 AZR 465/18, NZA 2020, 379 Rz. 47; BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750 Rz. 34 f. 22 BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750 Rz. 34. 23 BAG v. 20.6.2018 – 4 AZR 235/15 n. v. (Rz. 23); BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750 Rz. 35.
78
Schadensersatzanspruch bei der Verletzung von Hinweispflichten nach dem NachwG
nicht von der Verpflichtung, eine Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden darzulegen24. In der Entscheidung des 8. Senats des BAG vom 22.9.202225 ging es um einen Schadensersatz für verfallene Ansprüche des Klägers auf Entgelt nach einer höheren Entgeltgruppe, weil die beklagte Arbeitgeberin ihrer Nachweispflicht aus § 2 NachwG a. F. nicht vollständig nachgekommen war. Der Kläger war bei der beklagten Kirchengemeinde in der Zeit vom 10.6.1996 bis zum 5.6.2016 als Küster beschäftigt. Sein schriftlicher Arbeitsvertrag nahm auf die Kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO) in ihrer jeweiligen Fassung Bezug. § 57 Abs. 1 KAVO enthält eine Ausschlussfrist, wonach Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit vom Mitarbeiter oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht werden. Für die Zeit vom 1.5.2004 bis zum 30.4.2015 stand dem Kläger nach den jeweiligen Entgeltordnungen der KAVO unstreitig ein höheres Entgelt wegen zu niedriger Eingruppierung zu. Die fehlerhafte Eingruppierung hatte der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen über viele Jahre hinweg nicht bemerkt, erst im November 2015 erfahren und bei der Beklagten geltend gemacht. Die Beklagte vergütete den Kläger rückwirkend ab dem 1.5.2015 nach der höheren Entgeltgruppe, berief sich aber wegen der weiter zurückliegenden Ansprüche auf die Ausschlussfrist. Da das LAG Düsseldorf dem Kläger für den Zeitraum vom 1.1.2013 bis zum 30.4.2015 einen Schadensersatz für die verfallenen, aber insoweit nicht verjährten Entgeltansprüche zugesprochen hat, stritten die Parteien in der nun vom Kläger eingelegten Revision noch darüber, ob ihm weitere 12.698,32 EUR (brutto) Differenzvergütung als Schadensersatz für die Zeit vor dem 1.1.2013 zustanden. Die Revision des Klägers blieb erfolglos. Im Hinblick auf die zweifelsfrei verfallenen Differenzvergütungsansprüche für die Zeit vor dem 1.1.2013 bestätigt das BAG zunächst seine bisherige Rechtsprechung, wonach ein Arbeitgeber, der mit seiner Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 S. 1 NachwG – hier in der bis zum 31.7.2022 geltenden Fassung – gegenüber dem Arbeitnehmer in Verzug gerät, nach §§ 280 Abs. 1, 2, 286 BGB dem Arbeitnehmer den dadurch adäquat-kausal verursachten Schaden zu ersetzen hat. Da die in der KAVO geregelte Ausschlussfrist als eine wesentliche Vertragsbedingung i. S. v. § 2 Abs. 1 S. 1 NachwG a. F. zu qualifizieren ist, deren Nachweis die Beklagte gegenüber dem Kläger versäumt hatte, galt grundsätzlich zu vermuten, dass der Arbeitnehmer die Ausschluss24 BAG v. 30.10.2019 – 6 AZR 465/18, NZA 2020, 379 Rz. 47; BAG v. 20.6.2018 – 4 AZR 235/15 n. v. (Rz. 23). 25 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 4/21, NZA 2023, 151.
79
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
frist im Falle eines Hinweises beachtet hätte. Der Schadensersatzanspruch entspricht dann dem erloschenen Vergütungsanspruch, wenn dieser nur wegen der Versäumung der Ausschlussfrist untergegangen ist und bei gesetzmäßigem Nachweis seitens des Arbeitgebers nicht erloschen wäre (§ 249 BGB). Da der Schadensersatzanspruch auf Naturalrestitution gerichtet ist, kann der Kläger von der Beklagten verlangen, so gestellt zu werden, als sei sein Vergütungsanspruch nicht untergegangen. Wie zuvor dargelegt worden ist, muss der unterbliebene Nachweis des Arbeitgebers für den Verfall der Entgeltansprüche des Arbeitnehmers jedoch kausal sein. Deshalb hat nach Ansicht des BAG26 der Arbeitnehmer die Tatsachen für die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden zu begründen. Im Streitfall geht das BAG jedoch davon aus, dass nach dem Vorbringen des Klägers die Differenzvergütungsansprüche auch untergegangen wären, wenn die Beklagte die Ausschlussfrist i. S. v. § 2 Abs. 1 S. 1 NachwG a. F. ordnungsgemäß nachgewiesen hätte. Der Kläger habe nämlich vorgetragen, seine fehlerhafte Eingruppierung über viele Jahre hinweg nicht bemerkt zu haben und erst im November 2015 durch einen anderen bei der Beklagten beschäftigten Mitarbeiter über die zu niedrige Eingruppierung informiert worden zu sein. Aus diesem Umstand schlussfolgert das BAG, dass die unterstellte Vermutung, der Kläger hätte ihm nicht bekannte Ansprüche bereits Jahre vorher rechtzeitig geltend gemacht, nicht zu Gunsten des Klägers herangezogen werden kann. Die Vermutung aufklärungsgemäßen Verhaltens reiche nicht so weit, dass unterstellt werden könne, der Geschädigte hätte ihm nicht bekannte Ansprüche rechtzeitig verfolgt. Einen ihm nicht bekannten Anspruch hätte der Kläger auch in Kenntnis der Ausschlussfrist nicht geltend gemacht. Das BAG27 verneint anschließend auch einen etwaigen deliktischen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 2 NachwG a. F., weil § 2 NachwG a. F. nicht als ein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB zu qualifizieren sei28. Voraussetzung dafür wäre, dass § 2 NachwG bezwecken würde, Schäden auszugleichen, die einem Arbeitnehmer durch Verletzung dieser Norm entstehen, die das Vermögen des Arbeitnehmers schützen soll. Das NachwG dient der Anpassung des deutschen Rechts an die Arbeitsbedingungenrichtlinie und verfolgt das Ziel, die
26 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 4/21, NZA 2023, 151 Rz. 19; BAG v. 20.6.2018 – 4 AZR 235/15 n. v. (Rz. 23). 27 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 4/21, NZA 2023, 151 Rz. 27; BAG v. 24.5.2017 – 5 AZR 251/16 n. v. (Rz. 69). 28 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096 Rz. 32 ff.
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Versetzung ins Ausland kraft arbeitgeberseitigem Direktionsrecht
Arbeitsbedingungen zu verbessern, indem eine transparente und vorhersehbare Beschäftigung gefördert werden soll29. Demgegenüber soll die verletzte Schutznorm als Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB gerade dazu dienen, vor Schädigungen der eingetretenen Art zu schützen, so dass der jeweilige Schaden vom Schutzzweck der Norm umfasst sein muss30. Daran gemessen stellt § 2 NachwG nach seinem Normzweck kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB dar. Mit dieser Entscheidung setzt das BAG seine bisherige Rechtsprechung zum NachwG a. F. fort, die gleichermaßen für das NachwG in der durch das Gesetz zur Umsetzung der Arbeitsbedingungenrichtlinie geänderten Fassung des § 2 NachwG maßgebend ist. In diesem Zusammenhang konzentrierte sich die bisherige Rechtsprechung des BAG auf Schadensersatzansprüche, die ihren Grund in der Versäumung von tariflichen Ausschlussfristen fanden. Soweit tarifliche Ausschlussfristen in Rede stehen, ist der Arbeitgeber auch nach der Neuregelung in § 2 Nr. 15 NachwG nur verpflichtet, den Arbeitnehmer schriftlich auf den Tarifvertrag hinzuweisen, in dem die Ausschlussfrist enthalten ist. Eines gesonderten Hinweises auf die Ausschlussfrist bedarf es nicht31. Dies gilt auch für einen Tarifvertrag, der nur kraft vertraglicher Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis zur Anwendung gelangt32. Nur wenn die Ausschlussfrist allein auf einer einzelvertraglichen Vereinbarung beruht, ist auf sie ausdrücklich in der Niederschrift als wesentliche Arbeitsbedingung i. S. d. § 2 Abs. 1 S. 1 NachwG hinzuweisen. (Boe)
4.
Versetzung ins Ausland kraft arbeitgeberseitigem Direktionsrecht
Immer wieder entsteht in der betrieblichen Praxis Streit über die Frage, ob Weisungen des Arbeitgebers in Bezug auf Art, Ort und Zeit der vom Arbeitnehmer geschuldeten Tätigkeit mit dem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht aus § 106 S. 1 GewO gerechtfertigt werden können. Denn dies ist nicht nur dann der Fall, wenn die Weisung gegen ein Gesetz, einen für das Arbeitsverhältnis verbindlichen Kollektivvertrag oder arbeitsvertragliche Vereinbarungen zwischen den Parteien verstößt. Die Weisung muss auch den Grundsatz billigen Ermessens wahren, also die wechselseitigen Interessen beider Parteien berücksichtigen.
29 30 31 32
BT-Drucks. 20/1636 S. 18. BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096 Rz. 33. BAG v. 5.11.2003 – 5 AZR 469/02, NZA 2004, 102 Rz. 43. BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096 Rz. 22.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Arbeitsleistung entsprechend der arbeitgeberseitigen Vorgabe zu erbringen. Weigert sich der Arbeitnehmer, weil er irrtümlich glaubt, die Weisung sei rechtwidrig, trägt er das damit verbundene Risiko einer etwaigen Kündigung wegen beharrlicher Arbeitsverweigerung33. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Arbeitgeber auch eine andere (ermessensgerechte) Anordnung hätte geben können. Vielmehr bleibt die erste Anordnung des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer verbindlich, bis sie durch den Arbeitgeber – wozu keine Verpflichtung besteht – korrigiert wird. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitnehmer die andere – ebenfalls ermessensgerechte – Arbeit anbietet34. In seinem Urteil vom 13.11.202235 hat das BAG deutlich gemacht, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer aufgrund seines arbeitsvertraglichen Direktionsrechts deshalb auch anweisen könne, an einem Arbeitsort des Unternehmens im Ausland zu arbeiten, wenn nicht im Arbeitsvertrag ausdrücklich oder den Umständen nach konkludent etwas anderes vereinbart worden sei. § 106 GewO begrenze das Weisungsrecht des Arbeitgebers insoweit nicht auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland. Die Ausübung des Weisungsrechts im Einzelfall unterliege nach dieser Bestimmung allerdings einer Billigkeitskontrolle. In dem zugrunde liegenden Fall war der Kläger seit Januar 2018 bei der Beklagten bzw. der Rechtsvorgängerin – beides international tätige Luftverkehrsunternehmen mit Sitz im europäischen Ausland – als Pilot beschäftigt. Arbeitsvertraglich war die Geltung irischen Rechts und ein Jahresgehalt von 75.325 EUR (brutto) vereinbart. Aufgrund eines von der Beklagten mit der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) – deren Mitglied der Kläger war – geschlossenen Vergütungstarifvertrags verdiente er zuletzt 11.726,22 EUR (brutto) monatlich. Stationierungsort des Klägers war der Flughafen Nürnberg. Der Arbeitsvertrag sah indes vor, dass er auch an anderen Orten stationiert werden könne. Aufgrund der Entscheidung, die Homebase am Flughafen Nürnberg Ende März 2020 aufzugeben, versetzte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 20.1.2020 zum 30.4.2020 an ihre Homebase am Flughafen Bologna. Vorsorglich sprach sie eine entsprechende Änderungskündigung aus, die der Kläger unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung annahm.
33 BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 569/14, NZA 2017, 419 Rz. 22. 34 Vgl. LAG Hamburg v. 13.10.2021 – 7 Sa 23/21 n. v. (Rz. 67). 35 BAG v. 30.11.2022 – 5 AZR 336/21 n. v.
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Versetzung ins Ausland kraft arbeitgeberseitigem Direktionsrecht
Der Kläger war der Auffassung, dass seine Versetzung nach Bologna unwirksam sei. Zur Begründung machte er geltend, dass das Weisungsrecht keine Versetzung ins Ausland erfasse. Jedenfalls betrachtete er die Versetzung als unbillig, weil ihm damit sein tariflicher Vergütungsanspruch entzogen werde und ihm auch ansonsten erhebliche Nachteile entstünden. Die Beklagte hingegen verteidigte sich nicht nur damit, dass alle an der Homebase Nürnberg stationierten Piloten ins Ausland versetzt worden seien. Ein freier Arbeitsplatz an einem inländischen Stationierungsort sei nicht vorhanden gewesen. Außerdem habe sie das mit der Gewerkschaft VC in einem „Tarifsozialplan“ vorgesehene Verfahren eingehalten. In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen hat auch das BAG die Klage für unbegründet gehalten. Nach seiner Auffassung rechtfertigte § 106 S. 1 GewO, der im Rahmen des deutschen Arbeitsvertragsstatuts zur Anwendung kam, die Versetzung des Klägers ins Ausland. In seiner Begründung hat das BAG darauf verwiesen, dass eine generelle Begrenzung des Weisungsrechts auf Arbeitsorte in der Bundesrepublik Deutschland dem Gesetz nicht zu entnehmen sei. Dafür hätte – ausdrücklich oder konkludent – eine entsprechende Einschränkung im Arbeitsvertrag vereinbart werden müssen. Insofern liegt in der Versetzung auch keine Änderung des Arbeitsvertrags, insbesondere kein Eingriff in den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses. Vielmehr habe das LAG Nürnberg rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Maßnahme billigem Ermessen entsprochen habe und der Ausübungskontrolle standhalte. Die Versetzung sei Folge der unternehmerischen Entscheidung, die Homebase am Flughafen Nürnberg aufzugeben. Damit sei die Möglichkeit, den Kläger dort zu stationieren, entfallen. Freie Arbeitsplätze an einem anderen (inländischen) Stationierungsort habe es nicht gegeben; ein Einsatz als „mobiler Pilot“ war nicht möglich, eine Base-Präferenz hatte der Kläger nicht angegeben und alle am Flughafen Nürnberg stationierten Piloten waren an einen Standort in Italien versetzt worden. Dass der Kläger mit der Versetzung seinen tarifvertraglichen Vergütungsanspruch verlor, weil er nach dem Wechsel nach Bologna nicht mehr in den räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags fiel, war aus Sicht des BAG hinzunehmen. Denn die Versetzung hatte insoweit zu keiner Änderung des Arbeitsvertrags geführt. Der bestehende Arbeitsvertrag blieb – wenn auch mit niedrigerem Gehalt – unverändert weiterhin maßgeblich. Dies war auch im Ergebnis mit der Gewerkschaft abgestimmt. Denn der Tarifsozialplan sah ausdrücklich vor, dass Piloten, die an einen ausländischen Stationierungsort verlegt würden, zu den dort geltenden Arbeitsbedingungen, insbesondere den dortigen Tarifgehältern, weiterbeschäftigt würden. Dass die Beklagte die damit verbundenen Nachteile nicht stärker ausgeglichen hatte, als dies im Tarif83
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
sozialplan vorgesehen sei, bewirkte daher nicht die Unbilligkeit der Versetzung. Der Entscheidung ist zuzustimmen. Sie zeigt allerdings noch einmal, welche Bedeutung die arbeitsvertraglichen Regelungen zum Tätigkeitsbereich eines Arbeitnehmers haben können. Je weniger Schranken im Arbeitsvertrag festgehalten werden, desto größer ist das bereits in § 106 S. 1 GewO begründete Direktionsrecht in Bezug auf Art, Ort und Zeit der Tätigkeit. Arbeitgeberseitig muss allerdings im Auge behalten werden, dass eine entsprechende Berechtigung zu weitreichenden Versetzungen im bestehenden Arbeitsverhältnis für den Fall einer Kündigung weitergehende Verpflichtungen, insbesondere im Rahmen der Sozialauswahl, auslösen kann. Denn die Sozialauswahl bezieht sich auf alle vergleichbaren Arbeitnehmer, die im kündigungsschutzrechtlichen Betrieb tätig sind. Wird der kündigungsschutzrechtliche Betrieb standortübergreifend gebildet, kann eine standortübergreifende Direktionsklausel auch zur standortübergreifenden Sozialauswahl führen. Voraussetzung ist, dass der andere Arbeitnehmer – ggf. an einem anderen Standort – auf einer gleichwertigen Stelle tätig ist, deren Anforderungen durch den vom Wegfall seines Arbeitsplatzes betroffenen Arbeitnehmer ohne Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen übernommen werden können. Darüber hinaus macht die Entscheidung des BAG noch einmal deutlich, dass eine Versetzung auch dann ermessensgerecht sein kann, wenn sie die Anwendbarkeit einer Kollektivvereinbarung beendet oder zur Anwendung einer anderen Kollektivvereinbarung führt und daraus wirtschaftliche Nachteile des Arbeitnehmers resultieren. Hier war es der Wegfall eines Tarifvertrags. In anderen Sachverhalten kann dies der Wegfall oder die Änderung von Zulagen und Zuschlägen oder das Erfordernis von Reisekosten für die An- und Abreise zum neuen Arbeitsort sein. Das gilt selbst dann, wenn der Arbeitnehmer bereits über eine sehr lange Zeit an dem bisherigen Arbeitsort bzw. in der bisherigen Abteilung oder Funktion eingesetzt war. Denn aus dem bloßen Zeitablauf resultiert keine Einschränkung oder Konkretisierung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts, wie das BAG jetzt noch einmal betont hat36. Entsprechende Nachteile können aber im Rahmen der Ausübungskontrolle zu berücksichtigen sein. (Ga)
36 BAG v. 30.11.2022 – 5 AZR 336/21 n. v. (Rz. 22).
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
5.
Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
a)
Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werkbzw. Dienstvertrag
In der betrieblichen Praxis gibt es nicht nur Diskussionen über die Abgrenzung zwischen einer selbständigen Tätigkeit (Werkvertrag, Dienstvertrag, Solo-Selbständiger) und einem Arbeitsverhältnis. Wenn Fremdpersonal auf der Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und einem Dritten im Betrieb eingesetzt wird, stellt sich immer wieder die damit vergleichbare Frage, ob das Fremdpersonal als Leiharbeitnehmer oder als Erfüllungsgehilfe im Rahmen eines Dienst- bzw. Werkvertrags zum Einsatz kommt. Gerade weil der Einsatz von Leiharbeitnehmern auch mit Beteiligungsrechten eines im Betrieb gebildeten Betriebsrats verknüpft ist, sieht § 80 Abs. 1 S. 1 BetrVG einen entsprechenden Auskunftsanspruch vor. Wir hatten an anderer Stelle darüber berichtet37. Hilfreich für die betriebliche Praxis ist, dass sich das BAG in den Entscheidungen vom 5.7.202238 und vom 27.9.202239 noch einmal eingehend mit der Abgrenzung zwischen dem Fremdpersonaleinsatz auf der Grundlage einer Arbeitnehmerüberlassung und der Tätigkeit als Erfüllungsgehilfe im Rahmen eines Dienst- oder Werkvertrags befasst hat. Wichtig ist es, die damit verbundenen Kriterien im Auge zu behalten, um arbeits-, sozialversicherungs- und steuerrechtliche Risiken für den Fall einer fehlerhaften Einordnung solcher Beschäftigungsformen zu vermeiden. Nach den entsprechenden Feststellungen des BAG liegt eine Überlassung zur Arbeitsleistung i. S. d. § 1 Abs. 1 AÜG vor, wenn einem Entleiher Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden, die in dessen Betrieb eingegliedert sind und ihre Arbeit nach Weisungen des Entleihers und in dessen Interesse ausführen. Arbeitnehmerüberlassung – so das BAG – sei durch eine spezifische Ausgestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Verleiher und Entleiher einerseits (dem Arbeitnehmerüberlassungsvertrag) und zwischen Verleiher und Arbeitnehmer andererseits (dem Leiharbeitsvertrag) sowie durch das Fehlen einer arbeitsvertraglichen Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Entleiher gekennzeichnet. Notwendiger Inhalt eines Arbeitnehmerüberlassungsvertrags sei die Verpflichtung des Verleihers, dem Entleiher zur Förderung von dessen 37 B. Gaul, AktuellAR 2023, 263 ff. 38 BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1602. 39 BAG v. 27.9.2022 – 9 AZR 468/21, NZA 2023, 105.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Betriebszwecken Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Diese Vertragspflicht des Verleihers gegenüber dem Entleiher ist erfüllt, wenn er den Arbeitnehmer ausgewählt und dem Entleiher zur Verfügung gestellt hat40. Von der Arbeitnehmerüberlassung zu unterscheiden ist allerdings die Tätigkeit eines Arbeitnehmers, der als Erfüllungsgehilfe eines Unternehmers auf der Grundlage eines Werk- oder Dienstvertrags bei einem Dritten eingesetzt wird. Wie das BAG jetzt noch einmal deutlich gemacht hat, organisiert nämlich der Unternehmer die zur Erreichung eines wirtschaftlichen Erfolgs notwendigen Handlungen nach eigenen betrieblichen Voraussetzungen und bleibt für die Erfüllung der in dem Vertrag vorgesehenen Dienste oder für die Herstellung des geschuldeten Werks gegenüber dem Dritten verantwortlich. Die zur Ausführung des Dienst- oder Werkvertrags eingesetzten Arbeitnehmer unterlägen dabei den Weisungen des Unternehmers und seien dessen Erfüllungsgehilfen. Solche Dienst- oder Werkverträge – so das BAG – würden vom AÜG nicht erfasst41. Erhebliche Bedeutung für die betriebliche Praxis hat der Umstand, dass auch der Werkbesteller – was das BAG mit Blick auf § 645 Abs. 1 S. 1 BGB deutlich macht – dem Werkunternehmer selbst oder dessen Erfüllungsgehilfen Anweisungen für die Ausführung des Werks erteilen kann. Entsprechendes gelte – so das BAG – für Dienstverträge. Diese projektbezogene Anweisung des Werkvertragsrechts aus § 645 Abs. 1 S. 1 BGB sei insoweit von der arbeitsrechtlichen Weisung nach § 611 a Abs. 1 BGB zu unterscheiden. Die werksvertragliche Anweisung sei sachbezogen und ergebnisorientiert. Sie sei gegenständlich auf die zu erbringende Werkleistung begrenzt. Das arbeitsrechtliche Weisungsrecht sei hingegen personenbezogen und insoweit ablaufund verfahrensorientiert. Dabei beinhalte es Anleitungen zur Vorgehensweise und zur Motivation des Mitarbeiters, die nicht Inhalt des werkvertraglichen Anweisungsrechts seien42. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen dem Arbeitsverhältnis einerseits und dem Werk- oder Dienstvertrag mit dem Solo-Selbständigen andererseits ist der Inhalt der Rechtsbeziehung zwischen dem Arbeitgeber und dem Dritten, aufgrund dessen sodann zwischen Arbeit-
40 BAG v. 27.9.2022 – 9 AZR 468/21, NZA 2023, 105 Rz. 32; BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1602 Rz. 17. 41 BAG v. 27.9.2022 – 9 AZR 468/21, NZA 2023, 105 Rz. 32; BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1604 Rz. 18; BAG v. 21.3.2017 – 7 AZR 207/15, MDR 2017, 1371 Rz. 71. 42 BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1602 Rz. 19; BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 133/16 n. v. (Rz. 28).
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
nehmerüberlassung einerseits und Dienst- oder Werkvertrag andererseits zu unterscheiden ist, sowohl auf der Grundlage der ausdrücklichen Vereinbarungen der Vertragsparteien als auch unter Berücksichtigung der praktischen Durchführung des Vertrags zu bestimmen. Darauf weist das BAG noch einmal hin. Widersprächen sich beide, sei die tatsächliche Durchführung des Vertrags maßgeblich, weil sich aus der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehungen am ehesten Rückschlüsse darauf ziehen ließen, von welchen Rechten und Pflichten die Vertragsparteien ausgegangen seien, was sie hier also wirklich gewollt hätten. Wichtig daran ist, dass einzelne Vorgänge der Vertragsabwicklung zur Feststellung eines vom Vertragswortlaut abweichenden Geschäftsinhalts allerdings nur geeignet sind, wenn es sich dabei – so das BAG – nicht um „untypische Einzelfälle“, sondern um beispielhafte Erscheinungsformen einer durchgehend geübten Vertragspraxis handelt. Dafür sei nicht die Häufigkeit maßgeblich; entscheidend seien vor allem Gewicht und Bedeutung der behaupteten Vertragsabweichung43. Will der durch einen Dritten Eingesetzte geltend machen, dass seine Beschäftigung auf der Grundlage einer Arbeitnehmerüberlassung – und damit nicht als Erfüllungsgehilfe im Rahmen eines Werk- oder Dienstvertrags – erfolgt, muss er – so das BAG – die hierfür erforderlichen Tatsachen darlegen und ggf. beweisen. Eine Erleichterung kann sich nur über die Grundsätze der sekundären Darlegungslast für solche Tatsachen ergeben, die außerhalb des für den Anspruch erheblichen Geschehensablaufs stehen44. Von diesen Grundsätzen ausgehend hat das BAG im Urteil vom 27.9.202245 das Vorliegen von Arbeitnehmerüberlassung abgelehnt. In dem seiner Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte ein Flugbegleiter gegen eine zum Lufthansa-Konzern gehörende Fluggesellschaft geklagt. Er machte geltend, dass das Wet-Lease, auf dessen Grundlage sein bisheriger Arbeitgeber und Insolvenzschuldner auf vereinbarten Flugstrecken Flugzeuge nebst Besatzung, Wartung und Versicherung für den Flugbetrieb der Beklagten zur Verfügung gestellt hatte, als Arbeitnehmerüberlassung zu qualifizieren sei. Für die Passagiere war dieser Umstand nur durch einen kleinen Hinweis auf die operierende Dienstleisterin erkennbar. Der Kläger trug – wie auch die übrige Besatzung – die Uniformen der Beklagten. Auch das Flugzeug entsprach in der Lackierung den Flugzeugen der Flotte der Beklagten.
43 BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1602; BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 133/16 n. v. (Rz. 29). 44 BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1602 Rz. 21. 45 BAG v. 27.9.2022 – 9 AZR 468/21, NZA 2023, 105 Rz. 37 ff.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Trotz dieser Umstände lag für das BAG keine Arbeitnehmerüberlassung vor. Zwar bestimmte die Beklagte durch ihren Flugplan, wann die Maschinen des bisherigen Arbeitgebers auf welcher Strecke eingesetzt werden mussten. Gleichwohl ergaben sich aus diesen Vorgaben in Bezug auf den Flugplan keine individuellen Anweisungen im Hinblick auf die einzelnen Crewmitglieder, durch die deren Arbeitszeit und Arbeitsort festgelegt wurden. Vielmehr oblag die Umsetzung des Flugplans durch Ausgestaltung der Arbeitsorganisation weiterhin dem bisherigen Arbeitgeber, der Crewmitglieder auswählte und im Rahmen eines selbstbestimmten Schichtmodells auf den Flugzeugen zum Einsatz gebracht hatte. Jede Änderung des Flugplans oder eines einzelnen Flugs, einschließlich der geplanten Abflug- oder Ankunftszeit, der Wartungsstelle, der Routen, des Umlaufs sowie der Art des einzelnen Flugzeugs, konnte nach Maßgabe der vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Parteien durch die Beklagte nicht einseitig bestimmt werden, sondern musste vorab schriftlich bei dem bisherigen Arbeitgeber angefordert werden. Dieser hatte nur die Verpflichtung, wirtschaftlich vertretbare Anstrengungen zu unternehmen, um diese Anforderung zu erfüllen. Eine Weisungsbefugnis der Beklagten gegenüber dem beim bisherigen Arbeitgeber beschäftigten Personal war damit nicht verbunden46. Dass der bisherige Arbeitgeber einen Teil seiner Personalarbeit auf einen weiteren Dienstleister verlagert hatte, stand – so das BAG – der Annahme eines Dienst- bzw. Werkvertrags nicht entgegen. Denn die Entscheidung, ob die Ergebnisse dieser Crew-Planung bzw. der Crew-Kontrolle auch tatsächlich in der eigenen Arbeitsorganisation zur Umsetzung kamen, traf nicht der Dienstleister, sondern der bisherige Arbeitgeber. Dies galt insbesondere für Trainings, individuelle Einsatzpläne, Urlaubspläne sowie die Überprüfung in Bezug auf Legalität, Sicherheit, Effizienz und Pünktlichkeit47. Wichtig ist dies, weil solche „Shared Service Center“ in der betrieblichen Praxis keine Seltenheit haben. In dem der Entscheidung vom 5.7.202248 zugrunde liegenden Fall musste das BAG eine Zurückverweisung vornehmen. So ergaben sich aus den tatrichterlichen Feststellungen zwar Anhaltspunkte dafür, dass der Einsatz des Klägers als Systemingenieur in der Automobilindustrie durchaus mit Kriterien der Arbeitnehmerüberlassung verbunden war. Das BAG konnte indes nicht erkennen, ob die darin liegenden Abweichungen von den vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Beklagten und dem Dritten beispielhafte Erscheinungs46 BAG v. 27.9.2022 – 9 AZR 468/21, NZA 2023, 105 Rz. 40 f. 47 BAG v. 27.9.2022 – 9 AZR 468/21, NZA 2023, 105 Rz. 47. 48 BAG v. 5.7.2022 – 9 AZR 323/21, NZA 2022, 1602 Rz. 24 ff.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
formen einer durchgehend geübten Vertragspraxis waren oder ob es sich dabei um einzelne Vorgänge handelte, aus denen wegen ihrer geringen Bedeutung kein Rückschluss auf die übergreifende Kennzeichnung des Vertragsverhältnisses gezogen werden konnte. Darüber hinaus fehlte eine vollständige Würdigung des durch den Kläger geleisteten Sachvortrags, der unter anderem geltend gemacht hatte, als Vertreter von Arbeitnehmern der Beklagten eingesetzt worden zu sein. Außerdem seien bei der Genehmigung seiner Urlaubsanträge Urlaubswünsche von Arbeitnehmern der Beklagten entgegengehalten worden. Beide Entscheidungen liegen auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung, machen aber noch einmal deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmerüberlassung einerseits und Werk- bzw. Dienstvertrag andererseits nicht nur bei der Ausgestaltung des Einsatzes von Fremdfirmen berücksichtigt werden muss. Vielmehr ist darauf zu achten, dass diese Vereinbarungen auch mit den dafür jeweils erforderlichen Charakteristika tatsächlich umgesetzt werden. Denn wenn eine tatsächliche Eingliederung vorgenommen wird, obwohl auf dem Papier von einem Werk- bzw. Dienstvertrag die Rede ist, liegt Arbeitnehmerüberlassung vor. Da diese dann allerdings nicht als Arbeitnehmerüberlassung gekennzeichnet ist, führt dies kraft Gesetzes zu einem Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer (§§ 9 Abs. 1 Nr. 1 a, 10 AÜG).
b)
Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer
aa)
Streit der Instanzgerichte über die Wirksamkeit von § 1 Abs. 1 b AÜG
Grundsätzlich darf der Verleiher gemäß § 1 Abs. 1 b S. 1 AÜG denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinanderfolgende Monate demselben Entleiher überlassen. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. Davon kann allerdings gemäß § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG in einem Tarifvertrag von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche abgewichen werden. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können abweichende tarifvertragliche Regelungen im Betrieb eines nicht tarifgebundenen Entleihers durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen übernommen werden. Ebenso kann in einer aufgrund eines Tarifvertrags von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung eine abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. In Betrieben eines nicht tarifgebundenen Entleihers kann davon bis zu 24 Monate Gebrauch gemacht werden, 89
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
soweit nicht durch diesen Tarifvertrag eine abweichende Überlassungshöchstdauer für Betriebs- oder Dienstvereinbarungen festgelegt ist. Wie bereits früher aufgezeigt49, dürfen die Mitgliedstaaten den Tarifvertragsparteien und – auf Grundlage eines Tarifvertrags – auch den betrieblichen Sozialpartnern die Befugnis zur Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer übertragen. Das hatte der EuGH mit Urteil vom 17.3.202250 bestätigt. Die Mitgliedstaaten müssen lediglich gewährleisten, dass durch den Tarifvertrag keine missbräuchliche Ausgestaltung von Arbeitnehmerüberlassung erlaubt wird, die den Grundprinzipien der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) entgegensteht. Das folgt aus Art. 5 Abs. 5 Leiharbeitsrichtlinie. Im Ergebnis und in Übereinstimmung mit dem EuGH hatte die 21. Kammer des LAG Baden-Württemberg entsprechende Tarifverträge für zulässig gehalten und die tarifvertraglich vereinbarte Überlassungsdauer als Höchstgrenze anerkannt51. Trotz der überzeugend begründeten Entscheidung war in der betrieblichen Praxis aber erhebliche Rechtsunsicherheit durch den Umstand eingetreten, dass ein Teil der Instanzgerichte – beispielsweise die 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg im Urteil vom 2.12.202052 und das LAG Niedersachsen im Urteil vom 21.4.202253 – die Ansicht vertreten hatte, dass diese Regelung verfassungs- und unionsrechtswidrig sei. bb)
Klarstellungen durch das BAG
Wie schon im Herbst berichtet, hat das BAG diese einschränkende Sichtweise bereits mit zwei Urteilen vom 14.9.202254 abgelehnt und die Wirksamkeit der gesetzlichen Regelung in § 1 Abs. 1 b AÜG bestätigt. Gleiche Feststellungen hat es am 8.11.202255 getroffen. In den Grenzen der durch die Tarifvertragsparteien festgelegten Höchstüberlassungsdauer sei eine ununterbrochene Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher zulässig. Solange diese Grenze gewahrt wurde, konnte deshalb auch kein Arbeitsverhältnis zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher geltend gemacht werden. Denn die hierfür nach §§ 9 Abs. 1 Nr. 1 b, 10 Abs. 1 S. 1 AÜG erforderlichen Voraussetzungen einer Überschreitung der nach Gesetz, Tarifvertrag bzw. BeVgl. B. Gaul, AktuellAR 2022, 121 ff. EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 556 Rz. 111 – Daimler. LAG Baden-Württemberg v. 18.11.2020 – 21 Sa 12/20, NZA-RR 2021, 176 Rz. 27. LAG Baden-Württemberg v. 2.12.2020 – 4 Sa 16/20, NZA-RR 2021, 188. LAG Niedersachsen v. 21.4.2022 – 5 Sa 97/21 n. v. BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313; BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 83/21, NZA 2023, 305. 55 BAG v. 8.11.2022 – 9 AZR 226/21 n. v.; BAG v. 8.11.2022 – 9 AZR 486/21 n. v. 49 50 51 52 53 54
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
triebsvereinbarung zulässigen Höchstüberlassungsdauer waren nicht gegeben. (1)
Sachverhalt
In den beiden Fällen, mit denen sich das BAG im Rahmen der Revision befassen musste, hatten die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche durch einen Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit (TV LeiZ) eine Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten vereinbart. Da der jeweils in Rede stehende Tarifvertrag zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e. V. (Südwestmetall) und der IG Metall vom 31.5.2017 ergänzende Regelungen durch Betriebsvereinbarung ausdrücklich zugelassen hatte, war die Überlassungshöchstdauer in einem der beiden Fälle durch eine beim Entleiher geltende Gesamtbetriebsvereinbarung auf 36 Monate begrenzt worden. Tatsächlich war ein Kläger 62 Monate überlassen. Davon lagen allerdings 36 Monate vor dem 1.4.2017. Bei dem anderen Kläger war ohnehin nur eine 24-monatige Überlassung erfolgt. (2)
Arbeitsplatzbezug der Höchstüberlassungsdauer
Zunächst einmal bestätigt das BAG, dass die Höchstüberlassungsdauer arbeitnehmer-, nicht arbeitsplatzbezogen zu bestimmen ist56. Entgegen der von Teilen der Literatur vertretenen Auffassung57 sei das entsprechende Verständnis von § 1 Abs. 1 b AÜG auch mit dem Unionsrecht vereinbar. Schließlich hatte auch der EuGH in seinem Urteil vom 17.3.202258 klargestellt, dass der Begriff „vorübergehend“ nicht den Arbeitsplatz, der im entleihenden Unternehmen zu besetzen sei, sondern die Modalitäten der Überlassung eines Arbeitnehmers an dieses Unternehmen bezeichne. Die Überlassung eines Arbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen zur Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz, der dauerhaft vorhanden sei und der nicht vertretungsweise besetzt werde, stehe einem Verständnis der Überlassung als „vorübergehend“ daher nicht entgegen. Folgerichtig ist eine vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung auch dann gegeben, wenn mehrere Leiharbeitnehmer hintereinander auf demselben Arbeitsplatz beim Entleiher tätig werden.
56 Vgl. BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 14 ff.; BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 83/21, NZA 2023, 305 Rz. 12 ff. 57 So Schüren/Hamann/Hamann, AÜG § 21 Rz. 302; Ulber, RdA 2018, 50, 52. 58 EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 31 – Daimler.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
(3)
Zulässigkeit einer Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer durch Tarifvertrag
In Übereinstimmung mit den Feststellungen des EuGH im Urteil vom 17.3.202259 geht auch das BAG davon aus, dass der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien die Befugnis zur Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer übertragen darf. Angesichts der Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitnehmerüberlassung auf vorübergehende Tatbestände, muss der Tarifvertrag allerdings die konkrete Benennung einer Überlassungshöchstdauer enthalten60. Zu Recht hält das BAG darüber hinaus für zulässig, dass die Überlassungshöchstdauer durch einen Tarifvertrag der Einsatzbranche bestimmt wird, an den der Entleiher gemäß § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist. Nicht erforderlich sei, dass auch der Verleiher und/oder der Leiharbeitnehmer an diesen Tarifvertrag gemäß §§ 3, 4 Abs. 1 TVG gebunden seien. Dennoch werde nach dem gesetzgeberischen Konzept durch diesen Tarifvertrag einheitlich die Überlassungshöchstdauer für alle an der Überlassung Beteiligten, also Verleiher, Entleiher und Leiharbeitnehmer, geändert. Nach den Feststellungen des BAG handelt es sich bei einer solchen tarifvertraglichen Regelung weder um eine Inhaltsnorm noch um eine Betriebsnorm i. S. d. §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 2 TVG61. Zum einen beträfen die tariflichen Regelungen nach § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG nicht allein das Arbeitsverhältnis als Zwei-Personen-Verhältnis, wie dies bei Inhaltsnormen der Fall sei, sondern das gesamte Drei-Personen-Verhältnis von Verleiher, Leiharbeitnehmer und Entleiher. Zum anderen bestehe zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer kein Arbeitsverhältnis. Das Vorliegen einer Betriebsnorm scheitere daran, dass bei der Festlegung der Überlassungshöchstdauer keine einheitliche Regelung für das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Belegschaft erfolgen könne. Insbesondere sei es im Hinblick auf die in einem Betrieb eingesetzten Leiharbeitnehmer verschiedener Berufsgruppen nicht zwingend erforderlich, für alle die gleiche Überlassungshöchstdauer festzulegen. Hinzu käme, dass § 3 Abs. 2 TVG den Verleiher nicht erfasse. Dass diese Form einer Tarifbindung aus § 1 Abs. 1 b AÜG nicht mit den Regelungen der Tarifbindung in §§ 3 ff. TVG übereinstimme, steht dieser Wirkungsweise nach Auffassung des BAG nicht entgegen. Der Gesetzgeber sei
59 EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 111 – Daimler. 60 BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 83/21, NZA 2023, 305 Rz. 20 ff.; Deinert, RdA 2017, 65, 76; Seiwerth, NZA 2017, 479. 61 BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 83/21, NZA 2023, 305 Rz. 20 ff.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
nicht gehindert, für die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche eine solche Möglichkeit zu eröffnen, die von den Gestaltungsoptionen des TVG abweiche und hinsichtlich der verbindlichen Rechtsetzung darüber hinausgehe. Mit § 1 Abs. 1 b AÜG habe der Gesetzgeber daher die nach Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit gesetzlich ausgestaltet und die erforderliche Grundlage für eine Regelung durch die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche geschaffen62. Da auch der EuGH in seinem Urteil vom 17.3.202263 keine Schranken für eine entsprechende Delegation der Rechtsetzungsbefugnis auf die Tarifvertragsparteien gesehen hat, bedürfe es auch keiner erneuten Vorlage, um die unionsrechtliche Zulässigkeit der in § 1 Abs. 1 b S. 3, 5 AÜG getroffenen Regelungen anzunehmen64. (4)
Zulässigkeit einer Regelung der Höchstüberlassungsdauer durch Betriebsvereinbarung
Mit entsprechender Begründung hat das BAG auch die Regelungsbefugnis der Betriebspartner anerkannt65. Dass die Betriebsparteien insoweit auch Regelungen treffen könnten, die für den Verleiher und den Leiharbeitnehmer verbindlich seien, sei mit Unionsrecht vereinbar. Die Zuordnung der Regelungsmacht an die Betriebsparteien des Einsatzbetriebs folge aus der Zuweisung der tariflichen Regelungsmacht an die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche in § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG. Eine auf dieser Grundlage geschlossene Betriebsvereinbarung solle die gleichen Auswirkungen wie der ihr zugrunde liegende Tarifvertrag nach § 1 Abs. 1 b S. 3 AÜG haben66. Dass die entsprechende Regelungsbefugnis damit nicht allein den Tarifvertragsparteien anerkannt werde, sei auch mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar. Denn daraus folge zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol67. Grundsätzlich ist für den Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung der Betriebsrat des Einsatzbetriebs zuständig. Da es sich insoweit aber um eine freiwillige Betriebsvereinbarung handelt, kann der Arbeitgeber ihren Abschluss auch von einer überbetrieblichen bzw. unternehmensübergreifenden Regelung abhängig machen und so die Zuständigkeit des Gesamt- bzw.
62 63 64 65 66 67
BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 32 ff. EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 101 ff. – Daimler. BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 54 ff. BAG v. 22.11.2022 – 9 AZR 226/21 n. v. (Rz. 28 ff.). BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 22 ff. BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 28.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Konzernbetriebsrats für den Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung herbeiführen68. (5)
Fehlender Missbrauch durch Angemessenheit der Höchstüberlassungsdauer
Auch wenn das Unionsrecht durch den Tatbestand einer vorübergehenden Überlassung geprägt ist, lehnt es das BAG – insoweit in Übereinstimmung mit dem EuGH – ab, den Tarifvertragsparteien eine zeitliche Höchstgrenze für eine Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer vorzugeben. Nicht vorübergehend sei eine Überlassung – so das BAG – dann, wenn sie unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählten, vernünftigerweise nicht mehr als vorübergehend bezeichnet werden könne69. Dies sei jedenfalls dann der Fall, wenn die Überlassung ohne jegliche zeitliche Begrenzung erfolge und der Leiharbeitnehmer dauerhaft anstelle eines Stammarbeitnehmers eingesetzt werden solle70. Auf dieser Grundlage hat das BAG die in den streitgegenständlichen Fällen vereinbarte Höchstüberlassungsdauer von 36 bzw. 48 Monaten noch als vorübergehend angesehen. Dabei sei aufgrund des den Tarifvertragsparteien bzw. den Betriebspartnern zustehenden Gestaltungsspielraums und deren Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen davon auszugehen, dass die Branchenbesonderheiten bei Abschluss des Tarifvertrags hinreichend Berücksichtigung gefunden hätten. Dies galt erst recht für die Betriebsvereinbarung, durch die die im Tarifvertrag vorgesehene Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten auf 36 Monate verkürzt wurde. (6)
Keine Fiktion eines Arbeitsverhältnisses bei nicht vorübergehender Arbeitnehmerüberlassung
Problematisch an einem der beiden Sachverhalte war der Umstand, dass der Arbeitnehmer insgesamt etwa 62 Monate ununterbrochen beim gleichen Entleiher eingesetzt war. Auch unter Berücksichtigung der Feststellungen des EuGH im Urteil vom 17.3.202271 dürfte dies ein Grenzfall sein, bei dem durchaus Zweifel in Bezug auf den noch vorübergehenden Charakter der Arbeitnehmerüberlassung bestehen könnten.
68 So in Bezug auf den Gesamtbetriebsrat BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 59. 69 Ebenso EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 60 – Daimler. 70 BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 70; BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 83/21, NZA 2023, 305 Rz. 74. 71 EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 63 – Daimler.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
In Übereinstimmung mit § 19 Abs. 2 AÜG war in den streitgegenständlichen Kollektivvereinbarungen allerdings festgelegt worden, dass Überlassungszeiten vor dem 1.4.2017 bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer keine Berücksichtigung finden sollten. Die Übergangsregelung dürfte im Widerspruch zum Unionsrecht stehen, weil sie verhindert, dass der vorübergehende Charakter einer Arbeitnehmerüberlassung auch unter Berücksichtigung des Zeitraums bis zum 1.4.2017 gewährleistet wird. Dies aber wäre erforderlich, weil die Leiharbeitsrichtlinie bereits bis zum 5.12.2011 in nationales Recht hätte umgesetzt werden müssen. Darauf hatte auch der EuGH hingewiesen72. In Übereinstimmung mit den weiterführenden Feststellungen des EuGH geht allerdings auch das BAG in seinem Urteil vom 14.9.202273 davon aus, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privaten anhängig sei, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet sei, eine unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewandt zu lassen, die für die Anwendung einer Regelung, die eine Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers festlege, die Berücksichtigung der dem Inkrafttreten dieser Regelung vorausgehenden Überlassungszeiträume ausschließe. Im Gegenteil: Diese Vorschrift wäre selbst dann anzuwenden, wenn sie im Widerspruch zu den unionsrechtlichen Vorgaben stünde. Hiervon ausgehend kommt nach Auffassung des BAG auch keine Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher in Betracht. Denn § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG fingiere das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses nur für die Fälle, in denen der Vertrag zwischen einem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer nach § 9 AÜG unwirksam sei. Dies sei aber bei einem Verstoß gegen § 1 Abs. 1 S. 4 AÜG – der Verleiher und Entleiher zu einer nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung verpflichte – mangels Erwähnung in § 9 AÜG nicht der Fall. Eine analoge Anwendung von § 9 Abs. 1 Nr. 1 b AÜG, nach dem Arbeitsverträge zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer mit dem Überschreiten der Überlassungshöchstdauer unwirksam werden, scheide mangels planwidriger Regelungslücke aus. Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der ständigen Rechtsprechung des BAG, nach der § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG in der Fassung vom 28.4.2011 nicht auf Fälle angewandt werden könne, für die es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung gebe, nur die Überschreitung der Überlassungshöchstdauer mit der Rechtsfolge des § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG sanktioniert. Die Überlassungshöchstdauer, wie sie durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung unter Ausschluss der
72 EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 72 ff. – Daimler. 73 BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 71 ff.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Überlassungszeiträume bis zum 1.4.2017 bestimmt worden war, war aber in beiden Fällen nicht überschritten. (7)
Schadensersatzanspruch bei unzureichender Umsetzung des EURechts
Aus den vorstehend wiedergegebenen Grundsätzen folgt, dass für den Leiharbeitnehmer keine Möglichkeit besteht, die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher geltend zu machen, selbst wenn die Überlassung bei einer Einbeziehung der Zeiträume bis zum 1.4.2017 als nicht mehr vorübergehend qualifiziert werden muss. Denkbar ist allerdings, dass der Arbeitnehmer, der durch diese Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigt wird, einen Schadensersatzanspruch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geltend machen kann74.
c)
Zulässigkeit und Grenzen einer tarifvertraglichen Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz
aa)
Ausgangssituation
Grundsätzlich verpflichtet § 8 Abs. 1 AÜG in Übereinstimmung mit Art. 5 Abs. 1 Leiharbeitsrichtlinie den Verleiher, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen, einschließlich des Arbeitsentgelts, zu gewähren (Equal Treatment/Equal Pay). Auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie erlaubt § 8 Abs. 2 bis 4 AÜG den Tarifvertragsparteien allerdings, auch in Bezug auf wesentliche Arbeitsbedingungen, für die Dauer der Überlassung eine abweichende Vereinbarung zu treffen. Die entsprechenden Regelungen lauten auszugsweise wie folgt: (2) Ein Tarifvertrag kann vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3 a Abs. 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet. Soweit ein solcher Tarifvertrag vom Gleichstellungsgrundsatz abweicht, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung des Tarifvertrags vereinbaren. (…)
74 EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 Rz. 99 – Daimler; BAG v. 14.9.2022 – 4 AZR 26/21, NZA 2023, 313 Rz. 80.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
(3) Eine abweichende tarifliche Regelung i. S. v. Abs. 2 gilt nicht für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern i. S. d. § 18 AktG bildet, ausgeschieden sind. (4) Ein Tarifvertrag i. S. d. Abs. 2 kann hinsichtlich des Arbeitsentgelts vom Gleichstellungsgrundsatz für die ersten neun Monate einer Überlassung an einen Entleiher abweichen. Eine längere Abweichung durch Tarifvertrag ist nur zulässig, wenn 1.
nach spätestens 15 Monaten einer Überlassung an einen Entleiher mindestens ein Arbeitsentgelt erreicht wird, das in dem Tarifvertrag als gleichwertig mit dem tarifvertraglichen Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer in der Einsatzbranche festgelegt ist, und
2.
nach einer Einarbeitungszeit von längstens sechs Wochen eine stufenweise Heranführung an dieses Arbeitsentgelt erfolgt.
Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen.
In seiner Entscheidung vom 16.12.202075 hatte das BAG Zweifel in Bezug auf die Frage erkennen lassen, ob die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien mit den Vorgaben aus Art. 5 Abs. 2, 3 Leiharbeitsrichtlinie vereinbar ist und dem EuGH daher folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1.
Wie definiert sich der Begriff des „Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG, umfasst er insbesondere mehr als das, was nationales und Unionsrecht als Schutz für alle Arbeitnehmer zwingend vorgeben?
2.
Welche Voraussetzungen und Kriterien müssen erfüllt sein für die Annahme, von dem in Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG festgelegten Grundsatz der Gleichbehandlung abweichende Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern in einem Tarifvertrag seien unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt?
75 BAG v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A), NZA 2021, 800 Rz. 29 ff.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
a)
Ist die Prüfung der Achtung des Gesamtschutzes – abstrakt – auf die tariflichen Arbeitsbedingungen der unter den Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags fallenden Leiharbeitnehmer bezogen oder ist eine vergleichende, wertende Betrachtung zwischen den tariflichen und den Arbeitsbedingungen geboten, die in dem Unternehmen bestehen, in das die Leiharbeitnehmer überlassen werden (Entleiher)?
b) Verlangt bei einer Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt die in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG vorgegebene Achtung des Gesamtschutzes, dass zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht?
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3.
Müssen die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern i. S. d. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG den Sozialpartnern vom nationalen Gesetzgeber vorgegeben werden, wenn er ihnen die Möglichkeit einräumt, Tarifverträge zu schließen, die von dem Gebot der Gleichbehandlung abweichende Regelungen in Bezug auf die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten, und das nationale Tarifsystem Anforderungen vorsieht, die zwischen den Tarifvertragsparteien einen angemessenen Interessenausgleich erwarten lassen (sog. Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen)?
4.
Falls die dritte Frage bejaht wird:
a)
Ist die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern i. S. d. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG gewahrt mit gesetzlichen Regelungen, die wie die seit dem 1.4.2017 geltende Fassung des AÜG eine Lohnuntergrenze für Leiharbeitnehmer, eine Höchstdauer für die Überlassung an denselben Entleiher, eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt, die Nichtgeltung einer vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden tariflichen Regelung für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern i. S. d. § 18 AktG bildet, ausgeschieden sind, sowie die Verpflichtung des Entleihers, dem Leiharbeitnehmer grundsätzlich unter den gleichen Bedingungen, wie sie für Stammarbeitnehmer gelten, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten (wie insbesondere Kinderbetreuungseinrich-
Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
tungen, Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmittel) zu gewähren, vorsehen? b) Falls dies bejaht wird: Gilt das auch dann, wenn in entsprechenden gesetzlichen Regelungen, wie in der bis zum 31.3.2017 geltenden Fassung des AÜG, eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt nicht vorgesehen ist und das Erfordernis, dass die Überlassung nur „vorübergehend“ sein darf, zeitlich nicht konkretisiert wird? 5.
Falls die dritte Frage verneint wird: Dürfen die nationalen Gerichte bei vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern durch Tarifverträge gemäß Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG diese Tarifverträge ohne Einschränkung daraufhin überprüfen, ob die Abweichungen unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt sind oder gebieten Art. 28 GRC und/oder der Hinweis auf die „Autonomie der Sozialpartner“ im Erwägungsgrund 19 Richtlinie 2008/104/EG, den Tarifvertragsparteien in Bezug auf die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum einzuräumen, und – wenn ja – wie weit reicht dieser?
Wir hatten über diese Vorlage bereits berichtet76. bb)
Sichtweise des EuGH im Urteil vom 15.12.2022
Nachdem der Generalanwalt – wie im Herbst berichtet77 – schon am 14.7.202278 seine Schlussanträge vorgelegt hatte, hat inzwischen auch der EuGH entschieden und sein Urteil am 15.12.202279 verkündet80.
76 B. Gaul, AktuellAR 2021, 105 ff. 77 B. Gaul, AktuellAR 2022, 453 ff. 78 Generalanwalt EuGH v. 14.7.2022 – C-311/21 n. v. – TimePartner Personalmanagement. 79 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 – TimePartner Personalmanagement. 80 Eingehend hierzu auch Bissels/Singraven, DB 2022, 2089; Buschmann, AuR 2023, 150; Däubler, NZA 2023, 73; ders., AiB 2023/4, 26; Franzen, NZA 2023, 25; Thüsing, NZA 2023, 31.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
(1)
Generelle Kennzeichnung des Gesamtschutzes
Soweit die Tarifvertragsparteien nach Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie bei Vereinbarungen, durch die in Bezug auf wesentliche Arbeitsbedingungen vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden soll, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern wahren müssen, muss damit kein eigenes Schutzniveau für Leiharbeitnehmer geschaffen werden, das über dasjenige hinausgeht, das in Bezug auf wesentliche Arbeitsbedingungen in den verbindlichen Schutzbestimmungen des nationalen Rechts und des Unionsrechts für die Arbeitnehmer im Allgemeinen vorgesehen ist. Das stellt der EuGH zunächst einmal klar. Gleichwohl begründe Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie eine Verpflichtung, Leiharbeitnehmern, zu deren Nachteil für die Dauer des Arbeitseinsatzes beim Entleiher durch Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Vergleich zu den für die eigenen Arbeitnehmer des Entleihers geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen abgewichen worden sei, Vorteile zu gewähren, die die Auswirkungen dieser Ungleichbehandlung ausgleichen sollten. Diese Vorteile müssten sich auf die in Art. 3 Abs. 1 lit. f Leiharbeitsrichtlinie definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen beziehen, also auf diejenigen, die die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt beträfen81. Solche Vorteile zum Ausgleich etwaiger Nachteile, die beispielsweise durch eine längere Arbeitszeit oder eine geringere Vergütung bewirkt werden, sehen die aktuellen Tarifverträge der Zeitarbeit grundsätzlich nicht vor82. So fehlen z. B. Regelungen, mit denen eine geringere Vergütung des Leiharbeitnehmers beispielsweise durch mehr Urlaubstage oder eine kürzere Arbeitszeit ausgeglichen wird. Gleichzeitig wird nur sehr eingeschränkt auf die im Einsatzbetrieb geltenden Regelungen verwiesen, was einer Schlechterstellung bereits im Ausgangspunkt entgegenstünde. Ungeachtet dessen wird man auch unter Berücksichtigung der vorstehend wiedergegebenen Grundsätze des EuGH jedenfalls bei unbefristet beschäftigten Leiharbeitnehmern nicht ohne Weiteres von einem Verstoß der Tarifverträge gegen diese Gestaltungsschranke aus Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie ausgehen können. Denn der EuGH verweist bei seiner Auslegung von Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie berechtigterweise auch auf Art. 5 Abs. 2 Leih-
81 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 Rz. 30 ff., 39 ff. – TimePartner Personalmanagement. 82 Däubler, NZA 2023, 73.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
arbeitsrichtlinie. Dieser erlaubt den Mitgliedstaaten, vom Grundsatz der Gleichbehandlung abzuweichen, wenn Leiharbeitnehmer insbesondere auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden. Art. 5 Abs. 2 Leiharbeitsrichtlinie legt also selbst einen konkreten Ausgleich dafür fest, dass Leiharbeitnehmer während ihres Arbeitseinsatzes beim Entleiher eine geringere Vergütung erhalten. Danach ist der Nachteil des vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweichenden Tarifvertrags zulässig, wenn zugleich gewährleistet wird, dass der in Rede stehende Leiharbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit dem Verleiher abgeschlossen hat und auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt wird. Aus diesen Feststellungen des EuGH wird man schlussfolgern können, dass die Tarifvertragsparteien eine etwaige Abweichung jedenfalls in Bezug auf das Arbeitsentgelt bei Arbeitnehmern, die durch den Verleiher unbefristet beschäftigt werden, dadurch ausgleichen können, dass sie auch in der Zeit zwischen den Überlassungen einen Arbeitsentgeltanspruch haben. Ob ein solcher Entgeltfortzahlungsanspruch für die verleihfreien Zeiten allerdings auch genügt, um sonstige Nachteile in Bezug auf wesentliche Arbeitsbedingungen auszugleichen, erscheint zweifelhaft. Betroffen davon dürften insbesondere solche Tarifverträge sein, die neben einer geringeren Vergütung auch eine längere Arbeitszeit und/oder weniger Urlaubstage bei den Entleihern vorsehen. Hier wird man daher nach weiteren Vorteilen suchen müssen, durch die auch im Rahmen einer unbefristeten Beschäftigung des Leiharbeitnehmers diese Nachteile in Bezug auf die Arbeitszeit und/oder den Urlaub gegenüber den beim Entleiher beschäftigten Arbeitnehmern ausgeglichen werden. Bei Arbeitnehmern, die durch den Verleiher im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses tätig sind, dürfte der Entgeltfortzahlungsanspruch für die verleihfreien Zeiten wohl nicht genügen. Denn hier spricht der EuGH von dem Erfordernis, einen erheblichen Vorteil zu gewähren83. (2)
Notwendigkeit eines konkreten Vergleichs
Aus Art. 5 Abs. 1 Leiharbeitsrichtlinie, der den Gleichbehandlungsgrundsatz im Rahmen eines Vergleichs mit den beim Entleiher beschäftigten Arbeitnehmern bestimmt, schlussfolgert der EuGH in seinem Urteil vom 15.12.202284, dass die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern durch einen Tarifvertrag erfüllt wird, nicht abstrakt, sondern konkret durch einen Vergleich mit den wesentlichen Arbeits- und Beschäfti83 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 Rz. 48 f., 56 – TimePartner Personalmanagement. 84 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 Rz. 46 ff. – TimePartner Personalmanagement.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
gungsbedingungen, die für vergleichbare, unmittelbar von dem Entleiher eingestellte Arbeitnehmer gelten, zu beurteilen ist. Auf dieser Grundlage seien in einem ersten Schritt die wesentlichen Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen zu bestimmen, die für den Leiharbeitnehmer gelten würden, wenn er von dem Entleiher unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre. In einem zweiten Schritt seien diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit den Bedingungen zu vergleichen, die sich aus dem Tarifvertrag ergäben, dem der Leiharbeitnehmer tatsächlich unterläge. In einem dritten Schritt sei sodann, um den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern zu achten, zu beurteilen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichten. Bei dieser Vorgehensweise gibt es grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Leiharbeitnehmern, die befristet oder unbefristet beim Verleiher angestellt sind. Zu erkennen ist lediglich, dass der EuGH bei Arbeitnehmern, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, den bloßen Entgeltfortzahlungsanspruch in den überlassungsfreien Zeiten nicht für ausreichend zu halten scheint, um eine gegenüber den vergleichbaren Arbeitnehmern des Entleihers geringere Vergütung für die Dauer des Arbeitseinsatzes beim Entleiher zu rechtfertigen85. Zwingend erscheint diese Sichtweise allerdings nicht. Denn der Umstand, dass der Arbeitsvertrag zwischen Verleiher und Entleiher befristet ist, entspricht dem allgemeinen Gestaltungsspielraum, der auch für die beim Entleiher beschäftigten Arbeitnehmer zur Anwendung kommt. In der Befristung liegt also kein Nachteil, der als Besonderheit der Arbeitnehmerüberlassung gekennzeichnet werden kann. Überzeugender dürfte es daher sein, auch bei befristet beschäftigten Leiharbeitnehmern einen Ausgleich durch die Entgeltfortzahlungsansprüche zuzulassen, ohne weitergehende Anforderungen zu stellen. Jedenfalls in Bezug auf das Entgelt erscheint daher keine über § 8 Abs. 4 AÜG hinausgehende Gleichstellung mit den Arbeitnehmern des Einsatzbetriebs geboten. (3)
Unionsrechtliche Handlungspflicht der Tarifvertragsparteien?
In seinem Urteil vom 15.12.202286 geht der EuGH zwar davon aus, dass das in Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie festgelegte Erfordernis einer Achtung des Gesamtschutzes nicht notwendig in den Wortlaut von § 8 AÜG über85 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 Rz. 51 ff., 56 – TimePartner Personalmanagement. 86 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 Rz. 58 ff. – TimePartner Personalmanagement.
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Aktuelle Rechtsprechung zur Arbeitnehmerüberlassung
nommen werden muss. Es genüge, dass die Tarifvertragsparteien bei der Ausgestaltung von Tarifverträgen diese Schranke beachteten87. Woraus der EuGH eine entsprechende Verpflichtung der Tarifvertragsparteien ableitet, unmittelbar Vorgaben des Unionsrechts anzuwenden, lässt sich den Entscheidungsgründen allerdings nicht entnehmen. Grundsätzlich wäre eine solche Bindung der Tarifvertragsparteien an die Vorgaben einer Richtlinie abzulehnen. Denkbar dürfte allein die Idee sein, § 8 Abs. 2 bis 4 AÜG unionsrechtskonform auszulegen, indem angenommen wird, dass die Tarifverträge über die dort genannten Tatbestandsvoraussetzungen hinausgehend auch den Gesamtschutz achten müssen. Schließlich wollte der Gesetzgeber mit § 8 AÜG den Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er durch Art. 5 Leiharbeitsrichtlinie bestimmt wurde, in deutsches Recht umsetzen88. Würde man hingegen den Wortlaut von § 8 Abs. 2 bis 4 AÜG für abschließend halten und deshalb auf der Grundlage des deutschen Rechts den Tarifvertragsparteien einen Gestaltungsspielraum zuerkennen, der nicht an das Erfordernis einer Achtung des Gesamtschutzes geknüpft wäre, läge zwar ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie vor. Bei diesem Auslegungsansatz wäre eine Korrektur durch die Gerichte allerdings ausgeschlossen. Der Gesetzgeber wäre gehalten, § 8 AÜG entsprechend den Vorgaben des EuGH anzupassen. Diese unterschiedliche Sichtweise in Bezug auf die Umsetzbarkeit der unionsrechtlichen Vorgaben hat für die betriebliche Praxis ganz erhebliche Bedeutung. Denn nur dann, wenn man schon heute auf der Grundlage der Entscheidung des EuGH vom 15.12.202289 eine unmittelbare Handlungspflicht der Tarifvertragsparteien anerkennt, kommt überhaupt eine Notwendigkeit in Betracht, Tarifverträge, die für Leiharbeitnehmer gelten, darauf zu überprüfen, ob bei einer Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer geachtet bleibt. Nur dann sind überhaupt Ansprüche der Leiharbeitnehmer gegenüber dem Verleiher denkbar, die auf eine Verbesserung der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gerichtet sind, damit der fehlende Gesamtschutz (wieder) gewahrt wird. Würde man hingegen die Regelungen in § 8 Abs. 2 bis 4 AÜG als abschließend und nicht auslegungsfähig betrachten, blieben die Tarifverträge auch dann wirksam, wenn der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer nicht gewahrt würde. Ihre Anpassung mit der Folge einer Anpassung der Ansprüche der Leiharbeitnehmer wäre erst dann erforderlich, wenn durch den Gesetzgeber eine Korrektur von § 8 Abs. 2 bis 4 AÜG erfolgt wäre. Zahlungsansprüche 87 Ebenso Franzen, NZA 2023, 25, 27. 88 BT-Drucks. 18/9232 S. 2 ff. 89 EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 Rz. 58 ff. – TimePartner Personalmanagement.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
von Leiharbeitnehmern kämen unabhängig von Ausschluss- bzw. Verjährungsfristen erst im Anschluss daran in Betracht. (4)
Gerichtliche Überprüfbarkeit der Tarifverträge
Erhebliche Bedeutung hat allerdings der Umstand, dass der EuGH die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, für verpflichtet hält, dafür zu sorgen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulassen, diesen Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gemäß Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie achten. Trotz des Beurteilungsspielraums, über den die Sozialpartner bei der Aushandlung und dem Abschluss von Tarifverträgen verfügten, sei das nationale Gericht daher verpflichtet, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, um die Vereinbarkeit von Tarifverträgen mit den sich aus Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie ergebenden Anforderungen sicherzustellen. Hiervon ausgehend müssten Tarifverträge, die entsprechende Ungleichbehandlungen zuließen, einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, bei der geprüft werde, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer nachgekommen seien. Angesichts der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Tarifautonomie ist dieser Grad einer gerichtlichen Überprüfung des Inhalts von Tarifverträgen bedenklich. Insofern bleibt zu wünschen, dass die Gerichte den Beurteilungsspielraum der Tarifvertragsparteien, den auch der EuGH anerkennt, weit verstehen. Nach der hier vertretenen Auffassung wird man dabei auch eine typisierende Regelung berücksichtigen müssen, wie sie durch den Anspruch auf das Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer der Einsatzbranche gewährleistet wird, ohne dass konkret auf die Vergütung beim Entleiher abgestellt wird. Denn damit kann auch eine Besserstellung des Leiharbeitnehmers verknüpft werden, die insbesondere dann ausgeglichen wird, wenn sein Einsatz bei unterschiedlichen Entleihern erfolgt. Außerdem wird man als einen ergänzenden Vorteil berücksichtigen müssen, wenn durch Tarifvertrag in der Einsatzbranche die Anzahl der in einem Betrieb beschäftigten Leiharbeitnehmer (prozentual) begrenzt wird. Denn damit wird letztendlich Druck auf den Entleiher ausgeübt, etwaigen Mehrbedarf an einer Beschäftigung durch eine Übernahme der Leiharbeitnehmer zu decken. cc)
Fazit
Es bleibt abzuwarten, wie das BAG die unionsrechtlichen Feststellungen des EuGH am 31.5.2023 umsetzen wird. Einerseits sind die Ausführungen zur Kennzeichnung des Gesamtschutzes deutlich. Andererseits bleibt unklar, unter welchen Voraussetzungen die Gerichte von ausreichenden Vorteilen zur Kompensation etwaiger Nachteile ausgehen dürfen. Weiterhin stellt sich die 104
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
Frage, auf welcher Grundlage das BAG die Tarifvertragsparteien verpflichten will, auch ohne eine Anpassung von § 8 Abs. 2 bis 4 AÜG schon heute die unionsrechtlichen Gestaltungsvorgaben aus Art. 5 Abs. 3 Leiharbeitsrichtlinie umzusetzen, obwohl diese im Wortlaut selbst keinerlei Berücksichtigung gefunden haben. (Ga)
6.
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
a)
Weitere Klarstellungen zum Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO
Gemäß Art. 15 Abs. 1 DSGVO hat die von der Verarbeitung personenbezogener Daten betroffene Person das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden; ist dies der Fall, so besteht ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf folgende Informationen: •
die Verarbeitungszwecke;
•
die Kategorien personenbezogener Daten, die verarbeitet werden;
•
die Empfänger oder Kategorien von Empfängern, gegenüber denen die personenbezogenen Daten offengelegt worden sind oder noch offengelegt werden, insbesondere bei Empfängern in Drittländern oder bei internationalen Organisationen;
•
falls möglich die geplante Dauer, für die die personenbezogenen Daten gespeichert werden, oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer;
•
das Bestehen eines Rechts auf Berichtigung oder Löschung der sie betreffenden personenbezogenen Daten oder auf Einschränkung der Verarbeitung durch den Verantwortlichen oder eines Widerspruchsrechts gegen diese Verarbeitung;
•
das Bestehen eines Beschwerderechts bei einer Aufsichtsbehörde;
•
wenn die personenbezogenen Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben werden, alle verfügbaren Informationen über die Herkunft der Daten;
•
das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung, einschließlich Profiling, gemäß Art. 22 Abs. 1, 4 DSGVO und – zumindest in diesen Fällen – aussagekräftige Informationen über die
105
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung für die betroffene Person.
Ergänzend hierzu kann die betroffene Person verlangen, dass der Verantwortliche eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung stellt (Art. 15 Abs. 3 DSGVO). Ob dies die Überlassung ganzer Kopien oder nur die Mitteilung der personenbezogenen Daten beinhaltet, dürfte einzelfallbezogen zu entscheiden sein90. Der Verantwortliche stellt der betroffenen Person auf Antrag gemäß Art. 15 DSGVO Informationen über die ergriffenen Maßnahmen unverzüglich, in jedem Fall aber innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags zur Verfügung. Diese Frist kann um zwei weitere Monate verlängert werden, wenn dies unter Berücksichtigung der Komplexität und der Anzahl von Anträgen erforderlich ist. In diesem Fall unterrichtet der Verantwortliche die betroffene Person innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags über eine Fristverlängerung, zusammen mit den Gründen für die Verzögerung. Stellt die betroffene Person den Antrag elektronisch, wird sie nach Möglichkeit auf elektronischem Weg zu unterrichten sein, sofern sie nichts anderes angibt (Art. 12 Abs. 3 DSGVO). In seinem Urteil vom 12.1.202391 hat der EuGH klargestellt, dass Art. 15 Abs. 1 lit. c DSGVO der betroffenen Person das Recht gewährt, von dem Verantwortlichen Informationen über die konkreten Empfänger zu verlangen, gegenüber denen diese Person betreffende personenbezogene Daten offengelegt worden sind oder noch offengelegt werden. Hierzu gehört auch die Verpflichtung, der betroffenen Person die Identität jedes einzelnen Empfängers mitzuteilen, sofern dieser identifiziert werden kann92. Empfänger ist insoweit eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, der personenbezogene Daten offengelegt werden, unabhängig davon, ob es sich bei ihr um einen Dritten handelt oder nicht. Behörden, die im Rahmen eines bestimmten Untersuchungsauftrags nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten möglicherweise personenbezogene Daten erhalten, gelten jedoch nicht als Empfänger; die Verarbeitung dieser Daten durch die genannten Behörden erfolgt im Einklang mit den geltenden Datenschutzvorschriften gemäß den Zwecken der Vereinbarung (Art. 4 Nr. 9 DSGVO). Alter-
90 Vgl. zu Prüfungsergebnissen und der zugrunde liegenden Bewertung einer Prüfungsarbeit BVerwG v. 30.11.2022 – 6 C 10/21, NZA 2023, 296 Rz. 24. 91 EuGH v. 12.1.2023 – C-154/21 n. v. (Rz. 43 ff.) – Österreichische Post. 92 EuGH v. 12.1.2023 – C-154/21 n. v. (Rz. 46, 48) – Österreichische Post.
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Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
nativ kann verlangt werden, nur Informationen über die Kategorien von Empfängern anzufordern. Diese Befugnis besteht allerdings nicht uneingeschränkt. Vielmehr muss der Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO, wie der EuGH bereits im Urteil vom 16.7.202093 deutlich gemacht hat, im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Daraus schlussfolgert der EuGH, dass das Auskunftsrecht auf Informationen über die Kategorien von Empfängern beschränkt werden kann, wenn es nicht möglich ist, die Identität der konkreten Empfänger mitzuteilen, insbesondere wenn diese noch nicht bekannt sind. Darüber hinaus kann der Verantwortliche auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 5 lit. b DSGVO berechtigt sein, eine Auskunft gemäß Art. 15 DSGVO zu verweigern, wenn es sich um offenkundig unbegründete oder exzessive Anträge handelt. Dabei habe aber der Verantwortliche den Nachweis für den offenkundig unbegründeten oder exzessiven Charakter der Anträge zu erbringen94. Alternativ ist der Verantwortliche berechtigt, ein angemessenes Entgelt zu verlangen, bei dem die Verwaltungskosten für die Unterrichtung oder die Mitteilung oder die Durchführung der beantragten Maßnahme berücksichtigt werden (Art. 12 Abs. 5 S. 2 lit. a DSGVO). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist einzelfallbezogen durch die nationalen Gerichte zu klären. Dabei dürfte es in der betrieblichen Praxis hilfreich sein, den entsprechenden Einwand rechtzeitig auch außergerichtlich geltend zu machen. Hierbei ist allerdings Fingerspitzengefühl gefragt. Denn eine Nicht- oder Schlechterfüllung des Auskunftsanspruchs aus Art. 15 DSGVO kann einen Schadensersatzanspruch aus Art. 82 DSGVO bzw. ein Bußgeld gemäß Art. 83 DSGVO zur Folge haben. Auf die entsprechenden Entscheidungen hatten wir bereits bei früherer Gelegenheit verwiesen95. Sie werden aktuell durch ein Urteil des ArbG Oldenburg vom 9.2.202396 ergänzt, mit dem der Arbeitgeber zur Zahlung von 10.000 EUR an den Arbeitnehmer mit der Begründung verurteilt wurde, dass die gebotene Auskunft 20 Monate zu spät erfolgt sei.
93 94 95 96
EuGH v. 16.7.2020 – C-311/18, NJW 2020, 2613 Rz. 172 – Schrems I. EuGH v. 12.1.2023 – C-154/21 n. v. (Rz. 47 ff.) – Österreichische Post. B. Gaul, AktuellAR 2021, 112 ff., 2022, 113 ff. ArbG Oldenburg v. 9.2.2023 – 3 Ca 150/21 n. v. (Rz. 111 ff.).
107
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
b)
Schranken einer datenschutzrechtlichen Rechtfertigung durch Betriebsvereinbarung
aa)
Besondere Rechtfertigung einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungsverhältnis durch Art. 88 DSGVO
Im Erwägungsgrund 155 DSGVO wird zwar ausdrücklich festgehalten, dass im Recht der Mitgliedstaaten oder in Kollektivvereinbarungen (einschließlich Betriebsvereinbarungen) spezifische Vorschriften für die Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext vorgesehen werden können, und zwar insbesondere Vorschriften über die Bedingungen, unter denen personenbezogene Daten im Beschäftigungskontext auf der Grundlage der Einwilligung des Beschäftigten verarbeitet werden dürfen, über die Verarbeitung dieser Daten zum Zwecke der Einstellung, der Erfüllung des Arbeitsvertrags, einschließlich der Erfüllung von durch Rechtsvorschriften oder durch Kollektivvereinbarungen festgelegten Pflichten, des Managements, der Planung und der Organisation der Arbeit, der Gleichheit und Diversität am Arbeitsplatz, der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie für Zwecke der Inanspruchnahme der mit der Beschäftigung zusammenhängenden individuellen oder kollektiven Rechte und Leistungen und für Zwecke der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses. Auf dieser Grundlage sieht auch Art. 88 DSGVO vor, dass die Mitgliedstaaten durch Rechtsvorschriften und durch Kollektivvereinbarungen spezifischere Vorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext vorsehen können. Diese Vorschriften müssen allerdings geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere im Hinblick auf die Transparenz der Verarbeitung, die Übermittlung personenbezogener Daten innerhalb einer Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, und die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz, vorsehen. Bereits im Herbst hatten wir über die Vorlage des VG Wiesbaden vom 21.12.202097 berichtet, mit der sich der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 22.9.202298 befasst hatte. Gegenstand war die Frage, ob das Land Hessen auf der Grundlage der in § 23 HDSIG getroffenen Regelungen be97 VG Wiesbaden v. 21.12.2020 – 23 K 1360/20.WI.PV, ZD 2021, 393. 98 Generalanwalt EuGH v. 22.9.2022 – C-34/21 n. v. – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer.
108
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
rechtigt war, Lehrern auch ohne deren Einwilligung aufzugeben, ihren Unterricht auch im Rahmen eines Livestreams durchzuführen, und damit personenbezogene Daten im Verhältnis zum Arbeitgeber und zu den Schülern zu verarbeiten. In Übereinstimmung mit dem VG Wiesbaden hatte der Generalanwalt Zweifel, ob die in § 23 HDSIG getroffene Regelung, die im Wesentlichen § 26 BDSG entspricht, eine ausreichende Grundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten bietet. Hintergrund der Zweifel war der Umstand, dass in § 23 HDSIG im Grunde nur eine Wiederholung des Wortlauts von Art. 88 DSGVO erfolgt war, ohne dass damit eine Spezifizierung verbunden oder den Schranken in Art. 88 Abs. 2 DSGVO Rechnung getragen worden war. Inzwischen liegt hierzu die EuGH-Entscheidung vom 30.3.202399 vor. Ergänzend hierzu hatten wir auch auf den Vorlagebeschluss des BAG vom 22.9.2022100 verwiesen, der damals allerdings noch ohne Entscheidungsgründe vorgelegen hatte. Mit diesem Vorlagebeschluss stellt der 8. Senat des BAG dem EuGH vergleichbare Fragen. Sie betreffen § 26 BDSG und die dort vorgesehene Möglichkeit, mit einer Betriebsvereinbarung eine Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses zu schaffen. Ergänzend hierzu bittet das BAG den EuGH um Klarstellungen in Bezug auf die Anspruchsvoraussetzungen und die Höhe eines Schadensersatzanspruchs nach Art. 82 DSGVO und ergänzt insoweit die Fragen, die bereits durch den OGH Österreich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV mit Beschluss vom 15.4.2021101 an den EuGH gerichtet worden waren. bb)
Sachverhalt und Vorlagefragen des BAG
In seiner Entscheidung vom 22.9.2022102 musste sich das BAG mit der Frage befassen, ob die Arbeitgeberin im Zusammenhang mit der Übermittlung personenbezogener Daten an die vormalige Konzernmutter der Arbeitgeberin in den USA gegen das Datenschutzrecht verstoßen und deshalb einen Schadensersatzanspruch gemäß Art. 82 DSGVO ausgelöst hatte. Die Arbeitgeberin, die den Datentransfer im Zusammenhang mit der Einführung von Workday auf § 26 BDSG, zwei ergänzende Betriebsvereinbarungen sowie Standardvertragsklauseln im Hinblick auf die transatlantische Übermittlung gestützt hatte, sah ihr Handeln insbesondere durch die Betriebsvereinbarungen gerechtfertigt. Der Kläger, der selbst Vorsitzender des Betriebsrats gewesen ist, verwies 99 EuGH v. 30.3.2023 – C-34/21 n. v. – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer. 100 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363. 101 OGH Österreich v. 15.4.2021 – 6 Ob 35/21x, ZD 2021, 631. 102 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
allerdings unter anderem darauf, dass mit der Betriebsvereinbarung nur eine Grundlage für die Verarbeitung eines Teils der von der Übermittlung betroffenen Daten zugelassen worden war. Außerdem war er der Auffassung, dass die Betriebsvereinbarung bereits als solche keine Ermächtigungsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten sein könne. Das LAG Baden-Württemberg hatte einen solchen Schadensersatzanspruch in seinem Urteil vom 25.2.2021103 noch mit der Begründung abgelehnt, dass der Arbeitgeber bei seiner Verarbeitung der personenbezogenen Daten (nur) die Schranken der Betriebsvereinbarung missachtet und daher (nur) gegen nationales Recht zum Schutz der personenbezogenen Daten verstoßen habe. Da Art. 82 DSGVO einen Verstoß gegen die Verordnung verlange, um einen Schadensersatzanspruch auszulösen, war die Klage aus Sicht des LAG BadenWürttemberg unbegründet. Das BAG hat diese Sichtweise nicht übernommen, aber Klärungsbedarf in Bezug auf die Frage gesehen, ob sich der Arbeitgeber bei der Verarbeitung der personenbezogenen Daten ausschließlich auf § 26 BDSG i. V. m. der Betriebsvereinbarung berufen durfte oder ob darüber hinaus weitere Vorschriften der DSGVO als Schranke der Datenverarbeitung zu berücksichtigen waren. Sollte dies der Fall sein, wäre zu prüfen, ob die in Rede stehende Übermittlung der personenbezogenen Daten durch den Arbeitgeber auch mit diesen Vorschriften der DSGVO vereinbar war. Falls dies nicht der Fall gewesen sein sollte, könnte dies die Grundlage für einen Schadensersatzanspruch gemäß Art. 82 Abs. 1 DSGVO bilden. Auf der Grundlage seines Beschlusses vom 22.9.2022104 hat das BAG den EuGH gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung unter anderem über folgende Fragen ersucht: 1.
Ist eine nach Art. 88 Abs. 1 DSGVO erlassene nationale Rechtsvorschrift – wie etwa § 26 Abs. 4 BDSG –, in der bestimmt ist, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten – einschließlich besonderer Kategorien personenbezogener Daten – von Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses auf der Grundlage von Kollektivvereinbarungen unter Beachtung von Art. 88 Abs. 2 DSGVO zulässig ist, dahin auszulegen, dass stets auch die sonstigen Vorgaben der DSGVO – wie etwa Art. 5, 6 Abs. 1, 9 Abs. 1, 2 DSGVO – einzuhalten sind?
103 LAG Baden-Württemberg v. 25.2.2021 – 17 Sa 37/20, ZD 2021, 436 Rz. 54 ff., 98 ff. 104 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363.
110
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
2.
Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Darf eine nach Art. 88 Abs. 1 DSGVO erlassene nationale Rechtsvorschrift – wie § 26 Abs. 4 BDSG – dahin ausgelegt werden, dass den Parteien einer Kollektivvereinbarung (hier den Parteien einer Betriebsvereinbarung) bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung i. S. d. Art. 5, 6 Abs. 1, 9 Abs. 1, 2 DSGVO ein Spielraum zusteht, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist?
3.
Sofern die Frage zu 2. bejaht wird: Worauf darf in einem solchen Fall die gerichtliche Kontrolle beschränkt werden?
cc)
Kennzeichnung des Verantwortlichen
Gemäß Art. 4 Nr. 7 DSGVO ist Verantwortlicher i. S. d. DSGVO die natürliche oder die juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. Sind die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben, so kann der Verantwortliche bzw. können die bestimmten Kriterien seiner Benennung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden. Wir hatten darüber bereits im Zusammenhang mit § 79 a BetrVG berichtet. Durch diesen hat der Gesetzgeber die zutreffende Entscheidung getroffen, den Arbeitgeber auch dann als Verantwortlichen zu qualifizieren, wenn personenbezogene Daten durch den Betriebsrat im Zusammenhang mit der Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben verarbeitet werden105. Das BAG geht in seinem hier in Rede stehenden Beschluss davon aus, dass sich an der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers auch dann nichts ändert, wenn er als Konzerntochtergesellschaft nicht oder nur bedingt mitentscheidungsbefugt über den Fortgang der Nutzung der Daten im Rahmen von Workday gewesen ist. Dies dürfte jedenfalls dann richtig sein, wenn der Arbeitgeber in die Erhebung und/oder die weitere Verarbeitung der personenbezogenen Daten eingebunden war106.
105 B. Gaul, AktuellAR 2022, 591 ff. 106 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363 Rz. 20.
111
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
dd)
Anerkennung und Schranken einer Betriebsvereinbarung als Ermächtigungsgrundlage zur Verarbeitung personenbezogener Daten
In Übereinstimmung mit den vorstehend bereits genannten Regelungen der DSGVO geht das BAG davon aus, dass die Betriebsvereinbarung grundsätzlich geeignet ist, den Arbeitgeber – ggf. unternehmensübergreifend – zur Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungsverhältnis zu berechtigen. Problematisch ist aus Sicht des 8. Senats allerdings, welche Schranken die Betriebspartner beim Abschluss solcher Betriebsvereinbarungen beachten müssen. Dabei erscheint dem BAG problematisch, dass in § 26 Abs. 4 BDSG die Verarbeitung personenbezogener Daten, einschließlich besonderer Kategorien personenbezogener Daten, von Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses auf der Grundlage von Kollektivvereinbarungen bereits dann zugelassen wird, wenn Art. 88 Abs. 2 DSGVO gewahrt wird. Denn aus Sicht des BAG könnte diese Regelung auch so verstanden werden, dass außer den Vorgaben in Art. 88 Abs. 2 DSGVO keine weiteren Maßgaben der DSGVO zu beachten seien. Dies könnte zur Folge haben, dass eine Datenverarbeitung im Arbeitsverhältnis, die eigentlich unrechtmäßig wäre, weil sie nicht den Vorgaben der Erforderlichkeit aus § 26 Abs. 1 BDSG, Art. 5, 6 Abs. 1, 9 Abs. 1, 2 DSGVO entsprechen würde und für die auch keine Einwilligung der betroffenen Personen gegeben wäre, allein wegen des Umstands, dass sie in einer Kollektivvereinbarung – wie hier einer Betriebsvereinbarung – geregelt wäre, zulässig würde. Insbesondere wäre damit die Erforderlichkeit der Datenverarbeitung nicht (mehr) zu prüfen. Führt man sich die Entscheidung des EuGH vom 30.3.2023107 vor Augen, hält der 8. Senat des BAG ein solches Verständnis der Regelungsbefugnis aus § 26 Abs. 4 BDSG aber zu Recht für nicht mit der DSGVO vereinbar. Dies gelte selbst dann, wenn in der Kollektivvereinbarung eine gegenüber Art. 88 Abs. 1 DSGVO „spezifischere Vorschrift“ getroffen werde108. Vielmehr hält es das BAG für geboten, unabhängig von Art. 88 Abs. 2 DSGVO auch die sonstigen Vorgaben der DSGVO – insbesondere Art. 5, 6 Abs. 1, 9 Abs. 1, 2 DSGVO – einzuhalten, wenn durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag die Verarbeitung personenbezogener Daten legitimiert werden soll. Diese Sichtweise habe aber zur Folge, dass ergänzend geprüft werden müsse, ob die jeweils in Rede stehende Verarbeitung auch tatsächlich als erforderlich i. S. d. § 26 Abs. 1 BDSG, Art. 5, 6 Abs. 1 DSGVO qualifiziert werden könne.
107 EuGH v. 30.3.2023 – C-34/21 n. v. – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer. 108 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363 Rz. 25 f.
112
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
Von diesem Verständnis geht jetzt auch der EuGH aus und weist darauf hin, dass jede Verarbeitung personenbezogener Daten zum einen mit den in Art. 5 DSGVO aufgestellten Grundsätzen für die Verarbeitung der Daten im Einklang stehen und zum anderen einem der in Art. 6 DSGVO aufgeführten Grundsätzen in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung entsprechen müsse. Art. 6 DSGVO enthalte insoweit eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden könne. Daher müsse auch eine solche Verarbeitung, die auf der Grundlage von Art. 88 DSGVO innerhalb eines Beschäftigungsverhältnisses erfolge, unter einen der in Art. 6 DSGVO vorgesehenen Fälle subsumierbar sein, um als rechtmäßig angesehen werden zu können109. ee)
Anforderungen an eine spezifischere Vorschrift i. S. d. Art. 88 DSGVO
Auf der Grundlage seiner vorstehenden Grundsätze hat der EuGH in seinem Urteil vom 30.3.2023110 deutlich gemacht, dass eine spezifischere Vorschrift i. S. d. Art. 88 DSGVO nicht bereits dann vorliege, wenn lediglich die in Art. 5, 6 und 88 DSGVO genannten Voraussetzungen einer Verarbeitung personenbezogener Daten wiederholt würden. Das betrifft nicht nur § 23 Abs. 1 S. 1 HDSIG, sondern – und insoweit haben seine Feststellungen weitreichende Bedeutung – auch § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG. Vielmehr setze eine spezifischere Vorschrift voraus, dass die Vorschrift selbst bereits auf den Schutz der Rechte und Freiheiten der Beschäftigten hinsichtlich der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Beschäftigungskontext gerichtet sei sowie geeignete und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Personen umfasse. Dabei sei insbesondere im Hinblick auf die Transparenz der Verarbeitung, die Übermittlung personenbezogener Daten innerhalb einer Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen und die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz vorzugehen. Auf diese Weise müssen sie also eine weitergehende und von der DSGVO unterscheidbare Regelung treffen. Diese Voraussetzungen werden in §§ 26 Abs. 1 S. 1 BDSG, 23 Abs. 1 S. 1 HDSIG nicht erfüllt, die lediglich das wiederholen, was in der DSGVO bereits steht. Von diesen Grundsätzen ausgehend hält der EuGH die nationalen Gerichte für verpflichtet, eine Vorschrift unangewandt zu lassen, wenn sie diese Anforderungen aus Art. 88 DSGVO nicht erfüllt. Die Zulässigkeit der Verarbeitung 109 EuGH v. 30.3.2023 – C-34/21 n. v. (Rz. 68 f.) – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer. 110 EuGH v. 30.3.2023 – C-34/21 n. v. (Rz. 65, 71, 74, 81) – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer.
113
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
personenbezogener Daten bestimmt sich dann ausschließlich nach den Regelungen in Art. 5, 6, 9 DSGVO111. Ob das in vielen Fällen schlussendlich zu einem abweichenden Ergebnis führt, dürfte allerdings offen sein. Denn auch Art. 6 Abs. 1 DSGVO wird in der Regel mit einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit verbunden sein, wie sie jedenfalls auch bei einer Anwendung von Art. 26 Abs. 1 S. 1 BDSG durchzuführen wäre112. Schließlich erlaubt Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO die Verarbeitung für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist. Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO erlaubt die Verarbeitung, wenn sie zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen. Ungeachtet dessen macht die Entscheidung des EuGH nicht nur deutlich, dass § 26 BDSG im Zweifel durch ein Beschäftigtendatenschutzgesetz ersetzt werden muss. BMI und BMAS bereiten offenbar bereits einen Entwurf vor. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte die betriebliche Praxis versuchen, durch Betriebs-, Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen speziellere Regelungen zu schaffen, als dies mit § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG der Fall ist. Dies dürfte auch der typischen Betriebsvereinbarung entsprechen, die beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von IT-Systemen, einem Hinweisgebersystem oder Vereinbarungen zur (unternehmensübergreifenden) Personalentwicklung deutlich weitergehende Regelungen als § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG enthält, mit denen insbesondere der Zweck der Verarbeitung, der zulässige Zugriff auf die betroffenen Daten und ihre Verwendungsdauer unternehmens- oder konzernspezifisch konkretisiert werden. Umgekehrt wird damit aber auch deutlich, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die nicht auf besondere Ermächtigungsgrundlagen außerhalb des BDSG gestützt wird, wie dies beispielsweise im Rahmen der Sozialauswahl durch § 1 Abs. 2, 3 KSchG oder im Zusammenhang mit dem betrieblichen Eingliederungsmanagement durch § 167 Abs. 2 SGB IX geschaffen worden ist113, ohne eine Einwilligung der Betroffenen oder eine konkretisierende Betriebsvereinbarung unzulässig sein kann.
111 Vgl. EuGH v. 30.3.2023 – C-34/21 n. v. (Rz. 82 ff.) – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer. 112 Vgl. Thüsing/Peisker, NZA 2023, 213. 113 Vgl. BAG v. 15.12.2022 – 2 AZR 162/22 n. v.
114
Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
ff)
Beurteilungsspielraum mit eingeschränkter gerichtlicher Überprüfbarkeit?
Ausgehend davon, dass auch die sonstigen Vorschriften der DSGVO beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen über die Verarbeitung personenbezogener Daten zu beachten sind, soll durch die Vorabentscheidung des EuGH auch geklärt werden, ob den Betriebsparteien ein Beurteilungsspielraum zusteht, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden kann. Das BAG hat Bedenken, diese Einschränkung anzuerkennen. Dafür spreche zwar der Gedanke der Sachnähe und die Erwägung, dass die Betriebsparteien in der Regel zu einem angemessenen Interessenausgleich kämen. Dagegen spricht aus Sicht des BAG allerdings nicht nur, dass den Betriebsparteien gemäß § 74 Abs. 2 S. 1 BetrVG Maßnahmen des Arbeitskampfes untersagt sind. Entscheidend sei schlussendlich, dass auch das in Art. 28 GRC proklamierte Recht auf Kollektivverhandlungen nur im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt werden dürfe. Selbst wenn man also die Betriebsparteien in den Anwendungsbereich der Vorschrift einbeziehe, müssten die Sozialpartner beim Erlass von Maßnahmen, die in den Anwendungsbereich von Bestimmungen des Unionsrechts fielen, das Unionsrecht beachten. Da die Gerichte gehalten seien, bei ihrer Rechtsprechung auch die Umsetzung des EU-Rechts zu gewährleisten, spreche dies gegen die Anerkennung einer Einschränkung der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Betriebsvereinbarungen114. Führt man sich vor Augen, dass der EuGH im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung sogar eine Einschränkung der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Tarifverträgen abgelehnt hat, damit die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben zum Equal Pay bzw. Equal Treatment gerichtlich voll überprüft werden kann115, steht nicht zu erwarten, dass der EuGH einen solchen Beurteilungsspielraum der Betriebsparteien im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes anerkennen wird. gg)
Darlegung eines Schadens nach Art. 82 DSGVO
Gemäß Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter. Eine Befreiung von dieser Haftung kann nur dann erfolgen, wenn durch den Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter nachgewie-
114 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363 Rz. 30 ff. 115 Vgl. EuGH v. 15.12.2022 – C-311/21, NZA 2023, 31 – TimePartner Personalmanagement; B. Gaul, AktuellAR 2023, 104.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
sen wird, dass sie in keinerlei Hinsicht für den Umstand, durch den der Schaden eingetreten ist, verantwortlich sind (Art. 82 Abs. 3 DSGVO). Mit seiner vierten Vorlagefrage möchte das BAG wissen, ob Art. 82 Abs. 1 DSGVO so zu verstehen ist, dass ein Recht auf Ersatz des immateriellen Schadens bereits dann bestehe, wenn personenbezogene Daten entgegen den Vorgaben der DSGVO verarbeitet würden oder ob der Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens an die weitergehende Voraussetzung geknüpft sei, dass die betroffene Person einen von ihr erlittenen immateriellen Schaden – von einigem Gewicht – darlege. Dabei geht der 8. Senat des BAG – unter Bezugnahme auf die Vorabentscheidungsersuche des OGH Österreich vom 15.4.2021116 und sein Vorabentscheidungsersuchen vom 26.8.2021117 – davon aus, dass Art. 82 Abs. 1 DSGVO zwar voraussetze, dass der Anspruchsteller in eigenen Rechten verletzt worden sei. Nicht erforderlich sei aber aus Sicht des BAG, dass die verletzte Person einen (weiteren) von ihr erlittenen immateriellen Schaden darlege. Insbesondere hält es das BAG nicht für erforderlich, dass die Verletzung von Regelungen der DSGVO bei der Verarbeitung der personenbezogenen Daten eine Konsequenz oder Folge von „zumindest einigem Gewicht“ auslösen müsse. Nach seiner Auffassung genüge bereits der Umstand, dass eine Person als Folge einer Verletzung von Bestimmungen der DSGVO bei der Verarbeitung „ihrer“ personenbezogenen Daten in ihren (subjektiven) Rechten verletzt worden sei, um einen immateriellen Schaden anzunehmen, der ausgeglichen werden müsse. Sollte diese Annahme falsch sein und damit weitere Anforderungen an das Vorliegen eines ausgleichspflichtigen Schadens gestellt werden müssen, wird der EuGH aufgefordert, Kriterien zu benennen, die bei einer weiteren Kennzeichnung des immateriellen Schadens auf nationaler Ebene berücksichtigt werden könnten. Dazu gehört auch die Frage, ob dieser Schaden „von einigem Gewicht“ sein muss oder ob konkrete Nachteile – beispielsweise die Erfolglosigkeit einer Bewerbung wegen eines Profils, das unzulässigerweise mit den personenbezogenen Daten erstellt wurde – dargelegt und ggf. bewiesen werden müssen. Dabei soll durch den EuGH aufgezeigt werden, ob die Gefahr einer missbräuchlichen Nutzung der Daten durch Dritte oder die Möglichkeit eines Profiling mit diesen Daten genügt. Im Ausgangsfall hatte der Kläger darauf verwiesen, dass er durch die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten durch die Beklagte und weitere Konzerngesellschaften die Kontrolle über diese Daten verloren habe. Dies gelte umso mehr, als die Beklagte in Bezug 116 OGH Österreich v. 15.4.2021 – 6 Ob 35/21x, ZD 2021, 631. 117 BAG v. 26.8.2021 – 8 AZR 253/20 (A), NZA 2021, 1713.
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Aktuelle Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz
auf die verarbeiteten Daten kein Löschkonzept gehabt und insgesamt unter bewusster Umgehung von datenschutz- und betriebsverfassungsrechtlichen Vorgaben gehandelt habe. hh)
Klärungsbedarf in Bezug auf die Höhe des Schadensersatzes
Ergänzend hierzu will das BAG wissen, ob Art. 82 Abs. 1 DSGVO neben seiner Ausgleichsfunktion auch spezial- bzw. generalpräventiven Charakter habe und ob der 8. Senat dies bei der Bemessung der Höhe des zu ersetzenden Schadens zu Lasten des Verantwortlichen (bzw. Auftragsverarbeiters) zu berücksichtigen habe. Dabei verweist er nicht nur auf den Erwägungsgrund 146 DSGVO, nach dem die betroffenen Personen einen vollständigen und wirksamen Schadensersatzanspruch für den erlittenen Schaden erhalten sollen. Aus Sicht des BAG könnte neben dem Grundsatz der Effektivität auch der Grundsatz der Äquivalenz zu berücksichtigen sein. Zwar enthalte Art. 82 DSGVO keine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten und müsse in der gesamten Union an sich auch eine autonome und einheitliche Auslegung erfahren. Dennoch hält es das BAG für denkbar, dass angesichts unterschiedlich hoher Entschädigungsbeträge in den Mitgliedstaaten, auf nationaler Ebene in vergleichbaren Fällen bei der Höhe eines immateriellen Schadensersatzes der Gesichtspunkt der Äquivalenz zu berücksichtigen ist118. Unabhängig davon soll durch den EuGH geklärt werden, ob der Grad des Verschuldens jedenfalls bei der Höhe des Schadensersatzes beachtet werden muss. Ausgangspunkt dabei ist, dass der objektive Tatbestand auch ohne Verschulden des Verantwortlichen bzw. Auftragsverarbeiters erfüllt wird. Insofern kommt es also nicht darauf an, ob der Verantwortliche bzw. Auftragsverarbeiter vorsätzlich oder fahrlässig gegen Vorgaben der DSGVO verstoßen hat. Hiervon ausgehend soll das Verschulden daher auch für Art. 82 Abs. 3 DSGVO keine Bedeutung haben. Eine Befreiung von der Haftung nach Art. 82 Abs. 3 DSGVO habe – so das BAG – die Beteiligung bzw. Kausalität im Auge. Insofern könne eine Befreiung von der Haftung beispielsweise anzunehmen sein, wenn der haftungsbegründende Umstand auf einem unzulässigen Zugriff eines Dritten beruhe, der trotz aller gebotenen Sicherheitsmaßnahmen Erfolg gehabt habe119.
118 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363 Rz. 39 ff. 119 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363 Rz. 42 ff.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
c)
Datenschutzrechtliche Zulässigkeit einer ständigen (digitalen) Mitarbeiterkontrolle im Logistikbetrieb
In seinem Urteil vom 9.2.2023120 musste sich das VG Hannover mit der Frage befassen, ob die dauerhafte Nutzung eines Handscanners, der den Arbeitgeber (Amazon) in die Lage versetzte, aktuelle und minutengenaue Quantitäts- und Qualitätsdaten der Beschäftigten ohne Unterbrechung zu erheben und sie zur Erstellung von Quantitäts- und Qualitätsprofilen sowie für Feedbackgespräche und Prozessanalysen zu nutzen, aus datenschutzrechtlicher Sicht zulässig war. Die Landesbeauftragte für Datenschutz in Niedersachsen hatte die Maßnahme für unzulässig erklärt und den Arbeitgeber aufgefordert, eine weitere Nutzung des Systems zu unterlassen. Zur Begründung hatte sie darauf verwiesen, dass die ununterbrochene Erhebung der entsprechenden Leistungsdaten rechtswidrig sei und gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen verstoße. Der Arbeitgeber hatte gegen diese Untersagung geklagt. Zur Begründung trug er vor, dass ein berechtigtes Interesse an der Datenerhebung und -verarbeitung gegeben sei. So würden die individuellen Leistungswerte dazu benötigt, bei der Steuerung der Logistikprozesse auf Schwankungen in einzelnen Prozessphasen reagieren zu können. Denn schlussendlich ginge es darum, die 1.700 bis 2.200 Arbeitnehmer des Logistikzentrums möglichst effektiv einzusetzen. Anhand der Leistungswerte könne der Arbeitgeber außerdem erkennen, ob die Mitarbeiter an einem Tag besonders schnell oder besonders langsam arbeiteten, und hierauf kurzfristig durch Umverteilung von Arbeit, durch Versetzung von Mitarbeitern oder durch Schulungen reagieren, wenn erkennbar werde, dass die Verzögerungen ihre Ursache in fehlender Qualifikation fänden. Mittelfristig würden die Werte benötigt, um die Stärken und Schwächen der Mitarbeiter zuverlässig erfassen und bei der flexiblen Einsatzplanung und Personalentwicklung berücksichtigen zu können. Zudem ermögliche die Vorgehensweise die Schaffung objektiver und fairer Bewertungsgrundlagen für Feedback und Personalentscheidungen. Das VG Hannover ist dieser Sichtweise des Arbeitgebers gefolgt und hat die Datenerfassung für zulässig erklärt. Dabei hat das VG Hannover die Zulässigkeit der Datenverarbeitung auf § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG gestützt und zugleich Verstöße gegen Art. 5, 6, 22 DSGVO abgelehnt. Nach Auffassung des VG Hannover soll die Verarbeitung von Arbeitnehmerdaten bei der Begründung, Durchführung und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des EuGH weiterhin auf 120 VG Hannover v. 9.2.2023 – 10 A 6199/20 n. v.
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Gleichbehandlung: Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers
§ 26 Abs. 1 S. 1 BDSG gestützt werden, der insoweit Art. 5, 6 DSGVO als spezialgesetzliche Regelung verdränge. Sollte dies im Anschluss an die Feststellungen des Generalanwalts vom 22.9.2022121 durch den EuGH anders gesehen werden, ändere sich das Ergebnis indes nicht. Denn auch dann sei von einer verhältnismäßigen Verarbeitung i. S. d. Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO auszugehen. In seiner sehr ausführlich begründeten Entscheidung hat sich das VG Hannover sodann intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob die dauerhafte Erfassung der Leistungsdaten tatsächlich geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der Interessen der hiervon betroffenen Arbeitnehmer auch angemessen ist. Diese Voraussetzungen hat das VG Hannover als gegeben gesehen und daran anknüpfend die Rechtswidrigkeit der Unterlassungsverfügung der Beklagten festgestellt. Die Anerkennung der Verhältnismäßigkeit gelte auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Umfang der zu beurteilenden Datenverarbeitung groß sei und es an einer konkreten Anlassbezogenheit fehle, da die quantitativen und qualitativen Leistungsdaten der Arbeitnehmer durchgängig erhoben und zu den vorstehend genannten Zwecken ausgewertet würden. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die weitere Nutzung und der damit verbundene Zugriff auf die personenbezogenen Daten stets nach dem „need-to-know“-Prinzip organisiert worden sei. Insgesamt ist das Urteil überzeugend, weil es berücksichtigt, dass in einer arbeitsteiligen Betriebsorganisation auch zum Schutz der Arbeitnehmer Personaldaten verarbeitet werden müssen. Ob dies auch durch die Arbeitsgerichte so zugelassen worden wäre, dürfte offen sein. Insofern dürfte erst einmal interessant sein, ob gegen das Urteil des VG Hannover Berufung, die zugelassen wurde, eingelegt wird. (Ga)
7.
Gleichbehandlung: Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers
Entgeltgleichheitsklagen werden häufig im Wege einer Stufenklage nach § 254 ZPO verfolgt, deren erste Stufe über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus ein Auskunftsbegehren jeglicher Art122 umfasst, das den Kläger in den Stand versetzen soll, einen bestimmten Leistungsantrag i. S. d. § 253 Abs. 2 121 Generalanwalt EuGH v. 22.9.2022 – C-34/21 n. v. – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer. 122 BAG v. 9.11.2021 – 1 AZR 206/20, NZA 2022, 286 Rz. 13; BAG v. 28.8.2019 – 5 AZR 425/18, NZA 2019, 1645 Rz. 20.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Nr. 2 ZPO klageweise verfolgen zu können. Der in § 254 ZPO verwendete Begriff der Rechnungslegung bezieht sich auf alle Auskünfte, die zur Anbringung eines bezifferten Zahlungsantrags erforderlich sind123. Aus der ZPO ergibt sich grundsätzlich keine Aufklärungspflicht – von der Pflicht zum substantiierten Bestreiten abgesehen – der nicht darlegungs- und beweisbelasteten Partei124. Insofern darf die Darlegungs- und Beweislast in der prozessualen Auseinandersetzung nicht durch materiell-rechtliche Auskunftsansprüche verändert werden125. Mit einem Auskunftsanspruch, der auf eine Ausforschung des Beweisgegners abzielt, dürfen nicht die allgemeinen Beweisgrundsätze unterlaufen werden126. Ob der Auskunftsanspruch der näheren Bestimmung eines noch nicht hinreichend bestimmten, in einer nachfolgenden Stufe geltend gemachten Leistungsbegehrens oder anderen Zwecken dient, lässt sich vor allem auf der Grundlage des von der klagenden Partei behaupteten Leistungsanspruchs127 beurteilen. Da eine allgemeine, nicht aus besonderen Rechtsgründen abzuleitende Auskunftspflicht dem bürgerlichen Recht nicht entnommen werden kann, setzt eine Auskunftspflicht grundsätzlich eine bereits vorhandene, besondere rechtliche Beziehung zwischen dem Berechtigten und dem Verpflichteten voraus, die bei Verträgen und gesetzlichen Schuldverhältnissen angenommen werden kann128. Bei derartigen Rechtsverhältnissen, bei denen der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, der Verpflichtete dagegen die dafür erforderlichen Auskünfte unschwer und zumutbar erteilen kann, zielt der Auskunftsanspruch darauf ab, diese Ungewissheit zu beseitigen129. Auskunftsansprüche können auf einer gesetzlichen oder vertraglichen Grundlage beruhen. So kann etwa der Leiharbeitnehmer nach § 13 AÜG im Falle der Überlassung von seinem Entleiher Auskunft über die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen, einschließlich des Arbeitsentgelts, verlangen. Zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne des Gesetzes haben Beschäftigte einen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 bis 16 EntgTranspG. Bei gesetzlichen Ansprüchen muss dargetan wer-
123 BAG v. 28.8.2019 – 5 AZR 425/18, NZA 2019, 1645 Rz. 17 ff. 124 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 25; BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 29. 125 BAG v. 24.2.2021 – 10 AZR 8/19, NZA 2021, 1581 Rz. 19. 126 BGH v. 17.4.2018 – XI ZR 446/16, NJW-RR 2018, 1067 Rz. 24. 127 BGH v. 8.12.2016 – IX ZR 257/15, NJW-RR 2017, 496 Rz. 15. 128 BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 334/89, NZA 1991, 62 Rz. 12. 129 BAG v. 25.11.2021 – 8 AZR 226/20, NZA 2022, 655 Rz. 71; BGH v. 18.2.2021 – III ZR 175/19, MDR 2021, 548 Rz. 44.
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Gleichbehandlung: Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers
den, dass der Leistungsanspruch dem Grunde nach besteht. Es genügt nicht, dass das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen wahrscheinlich ist130. Neben diesen besonderen, auf gesetzlichen Grundlagen beruhenden Auskunftsansprüchen kann nach gefestigter Rechtsprechung131 eine materiellrechtliche Auskunftspflicht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) bestehen. Danach setzt der Auskunftsanspruch nach § 242 BGB im Einzelnen voraus: das Vorliegen einer besonderen rechtlichen Beziehung, die dem Grunde nach feststehende oder (im vertraglichen Bereich) zumindest wahrscheinliche Existenz eines Leistungsanspruchs des Auskunftsfordernden gegen den Anspruchsgegner, die entschuldbare Ungewissheit des Auskunftsfordernden über Bestehen und Umfang seiner Rechte sowie die Zumutbarkeit der Auskunftserteilung durch den Anspruchsgegner132. Schließlich dürfen durch die Zuerkennung des Auskunftsanspruchs die allgemeinen Beweisgrundsätze nicht unterlaufen werden133. In prozessualer Hinsicht darf das Gericht bei einer Klage grundsätzlich zunächst nur über den Auskunftsanspruch verhandeln und durch Teilurteil entscheiden. Sobald dem Auskunftsanspruch rechtskräftig entsprochen ist, kann eine Verhandlung und Entscheidung über die nächste Stufe des Anspruchs erfolgen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits die Prüfung des Auskunftsanspruchs ergibt, dass dem Hauptanspruch die materiell-rechtliche Grundlage fehlt134. Ein derartiger, aus § 242 BGB hergeleiteter Auskunftsanspruch auf der ersten Stufe einer Stufenklage im Hinblick auf eine Verletzung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes war Gegenstand einer Entscheidung des 5. Senats des BAG vom 12.10.2022135. Der Kläger, der nach seinem Anstellungsvertrag zum Kreis der „leitenden Führungskräfte“ gehörte, war bei der Beklagten Leiter des Bereichs Finanzen und Controlling. Sein Jahresgehalt belief sich 2017 auf 172.550 EUR. In den Jahren 2017 bis 2020 erhöhte die Beklagte bei leitenden Führungskräften das Gehalt, ohne den Kläger zu be130 BGH v. 18.2.2021 – III ZR 175/19, MDR 2021, 548 Rz. 44. 131 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 23; BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 32; BGH v. 22.1.1957 – VI ZR 334/55, NJW 1957, 679; bereits RG v. 19.11.1938 – II 69/38 n. v.; RG v. 4.5.1923 – II 310/23 n. v. 132 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 23; BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 32. 133 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 32; BGH v. 17.4.2018 – XI ZR 446/16, NJW-RR 2018, 1067 Rz. 24. 134 BAG v. 9.11.2021 – 1 AZR 206/20, NZA 2022, 286 Rz. 16; BGH v. 16.6.2010 – VIII ZR 62/09, NJW-RR 2011, 189 Rz. 24. 135 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225.
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rücksichtigen. In diesem Zeitraum war der Kläger wegen mehreren unwirksamen Kündigungen der Beklagten von der Arbeit freigestellt. Mit seiner Klage vom 29.5.2020 hat der Kläger geltend gemacht, die Beklagte habe das Gehalt bei nahezu allen leitenden Führungskräften als Inflationsausgleich erhöht und ihn zu Unrecht davon ausgenommen. Aus dieser Gruppe hat er 13 nach seinem Vortrag vergleichbare Personen benannt, die im streitgegenständlichen Zeitraum von 2017 bis 2019 Gehaltserhöhungen erhalten haben. Er hat im Wege der Stufenklage beantragt, ihm Auskunft über die bei leitenden Angestellten in den Jahren 2017 bis 2019 erfolgten Anpassungen des Jahreszielgehalts zu erteilen. Die Beklagte hat sich unter anderem damit verteidigt, ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung läge nicht vor, weil die vorgenommenen Gehaltserhöhungen nach keinem generalisierenden Prinzip erfolgt seien und auf individuellen Entscheidungen und Verhandlungen beruhten. Das ArbG Celle hat die Klage abgewiesen, das LAG Niedersachsen136 hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen, weil sein auf Entgelterhöhung gerichteter Anspruch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht käme. Das BAG hat das Urteil des LAG Niedersachsen aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG Niedersachsen zurückverwiesen. Zunächst ist das BAG davon ausgegangen, dass der Auskunfts- und der noch nicht bezifferte Leistungsantrag des Klägers in zulässiger Weise als Stufenklage nach § 254 ZPO erhoben worden sind. Hierzu war ausreichend, dass der Kläger mit seinem Auskunftsantrag auf Informationen angewiesen ist, mit denen er die möglicherweise zustehenden Gehaltsdifferenzen aus den Jahren 2017 bis 2019 beziffern möchte. Da der Auskunftsanspruch die wahrscheinliche Existenz eines Leistungsanspruchs des Auskunftsfordernden gegen den Anspruchsgegner voraussetzt, wendet sich das BAG der Frage zu, ob der auf der zweiten Stufe verfolgte Leistungsanspruch des Klägers auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt werden kann. Dieser verlangt vom Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gesetzten Regel gleich zu behandeln. Der inhaltlich durch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bestimmte Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nicht nur die willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb einer Gruppe, sondern auch eine sachfremde Gruppenbildung137. Nach gefestigter Rechtspre136 LAG Niedersachsen v. 9.11.2021 – 10 Sa 176/21 n. v. 137 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 25; BAG v. 3.6.2020 – 3 AZR 730/19, NZA 2021, 347 Rz. 42; BAG v. 27.4.2016 – 5 AZR 311/15 n. v. (Rz. 35).
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Gleichbehandlung: Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers
chung des BAG138 setzt die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes eine verteilende Entscheidung des Arbeitgebers voraus, die im Bereich der Vergütung anwendbar ist, wenn Arbeitsentgelte durch eine betriebliche Einheitsregelung generell angehoben werden und der Arbeitgeber die Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt, indem er bestimmte Voraussetzungen oder Zwecke festlegt. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs auf Gleichbehandlung hat der anspruchstellende Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen. Dabei gilt eine abgestufte Darlegungslast. Zur Darlegungslast des Arbeitnehmers gehört es zunächst, vergleichbare Arbeitnehmer zu benennen, die vom Arbeitgeber vorteilhafter behandelt worden sind. Gelingt dies, ist es Sache des Arbeitgebers, darzulegen, wie groß der begünstigte Personenkreis ist, wie er sich zusammensetzt, wie er abgegrenzt ist und warum der Anspruchsteller nicht dazugehört. Die Gründe für die vom Arbeitgeber vorgenommene Differenzierung sind so weitgehend zu konkretisieren, dass das Gericht beurteilen kann, ob die Gruppenbildung auf sachlichen Kriterien beruht139. Im Hinblick auf die Verteilung der vorgeschriebenen Darlegungslast ist das BAG im Streitfall davon ausgegangen, dass der Kläger im Gegensatz zur Annahme des LAG Niedersachsen das Vorhandensein einer Gruppe mit ihm vergleichbarer Arbeitnehmer dargelegt hat, die im Verhältnis zu ihm durch Gehaltserhöhungen günstiger behandelt worden sind. Der Kläger habe nicht nur behauptet, zu den „leitenden Angestellten“ zu zählen, sondern aus dieser Gruppe 13 vergleichbare Personen benannt, die in dem Zeitraum von 2017 bis 2019 Gehaltserhöhungen bekommen hätten. Dabei bilde das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis als besondere rechtliche Beziehung die Grundlage für einen wahrscheinlichen Leistungsanspruch des Klägers. Dieser sei auch in einer entschuldbaren Ungewissheit über Bestehen und Umfang seiner Rechte, weil ihm die genaue Kenntnis der Gehaltserhöhungen fehle und für ihn keine Möglichkeit bestünde, sich diese notwendigen Informationen selbst auf zumutbare und rechtmäßige Weise beschaffen zu können. Demgegenüber sei die entsprechende Auskunftserteilung der Beklagten mangels anderweitigen Vortrags zumutbar. Abgesehen davon sei nicht auszuschließen, dass die Gehaltserhöhungen nicht nach einem erkennbaren und generalisierenden Prinzip mit festgelegten Voraussetzungen oder Zwecken gewährt worden seien.
138 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 25; BAG v. 27.4.2016 – 5 AZR 311/15 n. v. (Rz. 35); BAG v. 3.9.2014 – 5 AZR 109/13 n. v. (Rz. 22). 139 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 26.
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Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
Im Lichte dieser Erwägungen hat das BAG den Rechtsstreit an das LAG Niedersachsen zurückverwiesen, um zunächst der Beklagten Gelegenheit zu geben, zu den Einzelheiten der Gruppenbildung und der Frage einer einheitlichen Regelung bei der Gehaltserhöhung sowie etwaiger Sachgründe für eine differenzierte Behandlung der betroffenen Arbeitnehmer Stellung zu nehmen. Leistet die Beklagte einen entsprechenden Vortrag, ist es sodann nach Auffassung des BAG Sache des Arbeitnehmers, vorzutragen, dass er die Voraussetzungen der Gehaltserhöhung nach den vorgegebenen Kriterien erfüllt oder warum eine sachfremde Gruppenbildung vorliegt. Erst im Anschluss an die auf der Grundlage des zu erwartenden Vortrags der Parteien zu treffenden tatsächlichen Feststellungen kann die abschließende Prüfung stattfinden, ob ein Anspruch des Klägers auf Erhöhung seiner Bezüge aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz hinreichend wahrscheinlich hergeleitet werden kann. Ist dies der Fall, wäre dem Auskunftsanspruch des Klägers zu entsprechen. Die Entscheidung des BAG führt der Praxis vor Augen, dass bei Gehaltsanhebungen innerhalb von spezifischen Arbeitnehmergruppen oder nach generellen Maßstäben darauf Bedacht zu nehmen ist, keinen Konflikt mit den allgemeinen Grundsätzen der Gleichbehandlung auszulösen. Da die in vergleichbarer Lage befindlichen Arbeitnehmer, denen eine entsprechende Leistung zu Unrecht vorenthalten wurde, gleichbehandelt werden müssen, erhöht sich andernfalls die wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers140. Die hierfür erforderlichen Auskünfte können im Wege der Stufenklage geltend gemacht werden141. Daher sollte bereits im Vorfeld freiwilliger Leistungen – etwa in Gestalt von Vergütungsanhebungen – eine genaue Analyse etwaiger Gruppenbildungen und sachlicher Kriterien für gewünschte Differenzierungen erfolgen. Wenn der Arbeitgeber mit einer Gehaltserhöhung einen Inflationsausgleich bewirken will, darf er bei dieser Zweckbestimmung leistungsschwache Arbeitnehmer von der Zahlung nicht ausnehmen. Da der Arbeitgeber im Rechtsstreit mit einem benachteiligten Arbeitnehmer die Gründe für die von ihm vorgenommene Differenzierung offenzulegen und darzulegen hat, wie er den begünstigten Personenkreis abgegrenzt hat und warum der klagende Arbeitnehmer nicht dazugehört, müssen die notwendigen Abgrenzungen der Leistungsvoraussetzungen bereits vor der Erbringung von Leistungen ermittelt werden, um zu vermeiden, dass Arbeitnehmer nicht aus sachfremden oder willkürlichen Gründen ausgeschlossen werden. Der Arbeitgeber missachtet
140 BAG v. 27.4.2021 – 9 AZR 662/19, NZA 2021, 1176 Rz. 17. 141 Vgl. zur Gehaltserhöhung im AT-Bereich auch LAG Rheinland-Pfalz v. 8.6.2022 – 7 Sa 333/21 n. v.
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Workation: Außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtiger Tätigkeit im Ausland
den Gleichbehandlungsgrundsatz auch dann, wenn er nach Gutdünken und damit nach nicht sachgerechten oder nicht bestimmbaren Kriterien freiwillige Leistungen in unterschiedlicher Höhe bezahlt, ohne in einer allgemeinen Ordnung die Voraussetzungen festzulegen, nach denen sich die Verteilung richten soll142. (Boe)
8.
Workation: Außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtiger Tätigkeit im Ausland
In der Vergangenheit haben wir uns bereits mehrfach mit den arbeits-, steuerund sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer mobilen Arbeit aus dem Ausland befasst143. In diesem Zusammenhang sei auch auf den Bitcom-Leitfaden „Remote Work aus dem Ausland“ hingewiesen, der sich in einer sehr praxistauglichen Weise nicht nur mit den arbeits-, steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Fragen, sondern auch mit dem Datenschutz, der ITSicherheit und grundsätzlichen Aspekten einer Umsetzung solcher Tätigkeitsformen in der Unternehmenspraxis befasst. Den bislang in Rede stehenden Fragestellungen lagen jeweils Sachverhalte zugrunde, in denen die Rahmenbedingungen für eine Tätigkeit im Ausland zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter einvernehmlich abgestimmt wurden. Das war in dem Sachverhalt, mit dem sich das LAG Hessen in seinem Urteil vom 26.8.2020144 zu befassen hatte, nicht der Fall. Hier stritten die Parteien nämlich über die Frage, ob die eigenmächtige Inanspruchnahme einer Workation – also das mit dem Arbeitgeber unabgestimmte Tätigwerden im Ausland – eine außerordentliche (fristlose) Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt. Gerade weil die Inanspruchnahme einer Workation nach wie vor mit durchaus relevanten Risiken, insbesondere in Bezug auf die steuerrechtlichen Folgen, verknüpft ist145, hat diese Thematik praktische Relevanz. Denn es gibt immer wieder Fälle, in denen eine ausdrückliche oder eine erwartete Ablehnung der gewünschten Arbeit im Ausland durch Arbeitnehmer zum Anlass genommen wird, ohne weitere Absprache mit dem Arbeitgeber vorübergehend – ggf. im Zusammenhang mit einem Urlaub – einige Tage oder Wochen im Ausland zu
142 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 25; BAG v. 27.4.2021 – 9 AZR 662/19, NZA 2021, 1176 Rz. 17. 143 Bonanni/Rindone, AktuellAR 2021, 404 ff. 144 LAG Hessen v. 26.8.2020 – 6 Sa 707/19 n. v. 145 Vgl. zur Workation auch B. Gaul/Pingen, AuA 2023, 8; von Steinau-Steinrück, NJWSpezial 2021, 626.
125
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
arbeiten. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass es „sowieso“ nicht auffällt, von welchem Ort aus der Arbeitnehmer seine mobile Arbeit verrichtet. Wie die Entscheidung des LAG Hessen deutlich macht, ist mit einer solchen Vorgehensweise, falls sie bekannt wird, durchaus das Risiko einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung des Arbeitsverhältnisses verbunden. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der 1961 geborene Kläger (ledig, keine Unterhaltspflichten), der bei der Beklagten drei Jahre beschäftigt war, im November 2017 Urlaub für die Zeit vom 30.4.2018 bis zum 11.5.2018 sowie vom 22.5.2018 bis zum 1.6.2018 beantragt. In der Zeit zwischen den Urlauben, am 16.5.2018, traf der Vorgesetzte des Klägers diesen an seinem Arbeitsplatz nicht an. Über sein Mobiltelefon war der Kläger nicht erreichbar. Der Vorgesetzte stellte daraufhin fest, dass der Festnetzanschluss am Arbeitsplatz des Klägers eine eingerichtete Rufumschaltung auf eine thailändische Telefonnummer hatte. Auch auf konkrete Nachfrage des Vorgesetzten legte der Kläger zunächst einmal nicht offen, dass er sich weder zu Hause noch in Deutschland, sondern in Thailand befand. Eine vorangehende Absprache mit der Beklagten über seine Arbeit in Thailand war nicht getroffen worden. Im Gegenteil: Nach dem zwischen den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrag war der Kläger „als Senior Project Manager Implementation im Organisationsbereich unseres National Head Office/Implementation & Support mit Dienstsitz im NHO in B zum 23.3.2015 angestellt“ worden. Ergänzend hierzu hatten die Parteien im Arbeitsvertrag festgehalten, dass Vertragsänderungen, insbesondere mit Blick auf den Dienstsitz, der vorherigen Zustimmung der Geschäftsleitung und einer schriftlichen Abrede der Parteien bedurften. Eine solche Vereinbarung hatten die Parteien nicht getroffen, obwohl es grundsätzlich die Möglichkeit gab, auf der Grundlage entsprechender Muster Regelungen über die Arbeit im Homeoffice zu treffen. Lediglich in konkreten Einzelfällen (z. B. zur Begleitung eines sterbenden Elternteils) wurde dabei allerdings eine vorübergehende Tätigkeit im Ausland zugestanden. Durch die heimliche Arbeit des Klägers im Ausland und die zunächst vorgenommene Erklärung, er arbeite wegen einer Erkrankung im Homeoffice, sah sich die Beklagte, nachdem die Tätigkeit in Thailand erkannt wurde, getäuscht und erklärte nach Anhörung des Betriebsrats eine außerordentliche (fristlose), hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. In Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Sichtweise hat das LAG Hessen die Wirksamkeit der außerordentlichen (fristlosen) Kündigung des Klä-
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Workation: Außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtiger Tätigkeit im Ausland
gers in seinem Urteil vom 26.8.2020146 bestätigt. Da die Kündigung durch einen wichtigen Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt sei, spiele es auch keine Rolle, dass der Kläger als Wahlbewerber im Anschluss an die Bekanntgabe des Wahlergebnisses noch den nachwirkenden Sonderkündigungsschutz aus § 15 Abs. 3 S. 2 KSchG genösse. Das Vorliegen eines wichtigen Grundes i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB setzt nach ständiger Rechtsprechung nicht nur voraus, dass Umstände gegeben sind, die „an sich“ eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Vielmehr muss in einem weiteren Schritt festgestellt werden, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zumutbar ist147. Von diesen Voraussetzungen ist das LAG Hessen vorliegend ausgegangen. Denn der Kläger habe „an sich“ einen wichtigen Grund bereits dadurch herbeigeführt, dass er die von ihm geschuldete Arbeitsleistung wissentlich und willentlich nicht erbracht habe. Er habe damit die Arbeitsleistung beharrlich verweigert. Die beharrliche Weigerung eines Arbeitnehmers, seine vertragsgeschuldete Arbeitsleitung zu erbringen, sei – so das LAG Hessen – „an sich“ geeignet, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Ein Arbeitnehmer verweigere die ihm angewiesene Arbeit beharrlich, wenn er sie bewusst und nachdrücklich nicht leisten wolle. Ob er zur Arbeitsleistung verpflichtet gewesen sei, entscheide sich nach der objektiven Rechtslage. Verweigere der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung in der Annahme, er handele rechtmäßig, habe grundsätzlich er selbst das Risiko zu tragen, dass sich seine Rechtsauffassung als unzutreffend erweise148. Darauf hatte bereits das BAG im Urteil vom 29.8.2013149 hingewiesen. Selbst wenn man – so das LAG Hessen – das Verhalten des Klägers nicht als beharrliche Arbeitsverweigerung, sondern als unentschuldigtes Fehlen bzw. als eigenmächtige Urlaubsnahme werte, stelle dies im Übrigen einen wichtigen Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB dar. Dass der Kläger – wie er behauptet hatte – in Thailand Arbeitsleistung erbracht habe bzw. für Arbeitsanweisungen der Beklagten erreichbar gewesen wäre, stehe der Anerkennung eines wichtigen Grundes nicht entgegen. Denn der Kläger sei arbeitsvertraglich verpflichtet gewesen, seine Arbeitsleistung 146 LAG Hessen v. 26.8.2020 – 6 Sa 707/19 n. v. (Rz. 53 ff.). 147 Vgl. BAG v. 25.1.2018– 2 AZR 382/17, NZA 2018, 845 Rz. 26; HWK/Thies, BGB § 626 Rz. 16. 148 LAG Hessen v. 26.8.2020 – 6 Sa 707/19 n. v. (Rz. 56 f.). 149 BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 273/12, NJW 2014, 1325 Rz. 29 ff., 32.
127
Fragen zu Einstellung und Arbeitsvertrag
am Betriebssitz in B zu erbringen. Außerhalb konkreter Homeoffice-Vereinbarungen waren bei der Beklagten Tätigkeiten im Homeoffice nur im Zusammenhang mit Arztbesuchen bzw. vor/nach einer Dienstreise zulässig. Selbst wenn bei der Beklagten deshalb keine generelle „Präsenzpflicht“ bestünde, habe der Kläger nicht davon ausgehen können, dass er unter der Voraussetzung der Erreichbarkeit von jedem beliebigen Ort innerhalb und außerhalb Deutschlands hätte arbeiten dürfen. Im Gegenteil: Durch seine Arbeit in Thailand habe er seine behauptete bzw. zum Teil unstreitige Arbeitsleistung nicht am rechten Arbeitsort erbracht. Diesen Sachverhalt könne man als unentschuldigtes Fehlen, eigenmächtige Urlaubsnahme oder Arbeitsverweigerung werten, die – weil der Kläger auch bewusst und nachhaltig handelte – auch beharrlicher Natur war150. Nach Auffassung des LAG Hessen befand sich der Kläger auch nicht in einem entschuldbaren Rechtsirrtum. Der Kläger habe sich nicht fachlich beraten lassen. Darüber hinaus hätte er ganz einfach bei der Beklagten um eine Genehmigung seiner Tätigkeit aus Thailand ersuchen können. Ob die Beklagte bei einer solchen Anfrage in der Tätigkeit von einem Arbeitsort in Thailand keine Probleme gesehen hätte, sei zu bezweifeln, könne jedoch dahinstehen, da es keine solche Kontaktaufnahme durch den Kläger bezüglich der beabsichtigten Tätigkeit in Thailand gegeben habe151. Auch unter Berücksichtigung des Lebensalters und der jedenfalls dreijährigen Betriebszugehörigkeit hat das LAG Hessen eine außerordentliche Kündigung für angemessen gehalten. Dabei ist es davon ausgegangen, dass eine Abmahnung als milderes Mittel nicht geboten war. Denn es liege ein besonders schwerwiegender Verstoß vor, der eine Abmahnung entbehrlich mache. Dabei verweist das LAG Hessen zu Recht nicht nur darauf, dass der Kläger davon ausgehen konnte, dass die Beklagte eine einwöchige Abwesenheit mit gelegentlicher Aufgabenerledigung aus Thailand heraus nicht hinnehmen werde. Entscheidend für das LAG Hessen war schlussendlich, dass der Kläger seine örtliche Abwesenheit zunächst einmal bewusst verschleiert und sich dadurch eine weitere Woche Anwesenheit an seinem Urlaubsort verschafft habe. Dabei könne dahinstehen, ob und in welchem Umfang er Arbeitsleistungen erbracht habe152. Da § 15 Abs. 3 S. 1 KSchG nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses die Kündigung von Wahlbewerbern zulässt, wenn ein wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB gegeben ist, stand der gesetzliche Sonderkündigungsschutz der 150 LAG Hessen v. 26.8.2020 – 6 Sa 707/19 n. v. (Rz. 59 ff). 151 LAG Hessen v. 26.8.2020 – 6 Sa 707/19 n. v. (Rz. 62). 152 LAG Hessen v. 26.8.2020 – 6 Sa 707/19 n. v. (Rz. 63 ff.).
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Workation: Außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtiger Tätigkeit im Ausland
Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung nicht entgegen. Ein Verfahren nach § 103 BetrVG war zum Zeitpunkt der Kündigung nicht mehr erforderlich. Insgesamt ist der Entscheidung zuzustimmen. Sie zeigt noch einmal, dass die Arbeit im Ausland nicht eigenmächtig erfolgen sollte. Soweit arbeitnehmerseitig die Zurückhaltung der Arbeitgeberseite in Bezug auf eine solche Workation kritisiert wird, ist dies zwar insoweit nachvollziehbar, als arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Herausforderungen einer Arbeit im Ausland durchaus gelöst werden können. In diesem Bereich können sich allenfalls Fragen im Hinblick auf arbeitsschutzrechtliche Handlungspflichten des Arbeitgebers153 oder die weitere Anwendbarkeit der gesetzlichen Unfallversicherung154 ergeben. Außerordentlich problematisch sind allerdings die unternehmenssteuerrechtlichen Konsequenzen, die insbesondere dann relevant werden, wenn durch die Tätigkeit im Ausland eine ausländische Betriebsstätte begründet wird155. Erst wenn die damit verbundenen Fragestellungen gelöst sind, sollten daher Arbeitgeber und Arbeitnehmer an den Abschluss individual- oder kollektivvertraglicher Regelungen über die Arbeit im Ausland denken. (Ga)
153 Vgl. hierzu B. Gaul/Pingen, AuA 2023, 8. 154 Vgl. hierzu Schlamp, SPA 2022, 1; von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2021, 626. 155 Vgl. hierzu Hördt, ArbR 2022, 273, 276; von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2021, 626.
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D. Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub 1.
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
Auch wenn das BMAS jetzt endlich einen ersten Referentenentwurf zur Dokumentation der Arbeitszeit vorgelegt hat, durch den die Vorgaben des EuGH in seinem Urteil vom 14.5.20191 umgesetzt werden sollen2, steht die Praxis bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens in einem Zwiespalt. Einerseits ist nach den Feststellungen des BAG im Beschluss vom 13.9.2022 davon auszugehen, dass Unternehmen schon heute aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG heraus verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Diese Vorgabe will die Bundesregierung durch eine grundsätzliche Verpflichtung zur elektronischen Arbeitszeiterfassung umsetzen. Andererseits hat die Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt, Regelungen zu schaffen, auf deren Grundlage Arbeitnehmer weiterhin in Vertrauensarbeitszeit tätig werden dürfen. Verbindet man Vertrauensarbeitszeit nicht nur mit der Berechtigung, Beginn, Ende und Lage der Arbeitszeit ebenso wie die Dauer als Arbeitnehmer eigenständig festzulegen, sofern die arbeitsvertraglich geschuldeten Aufgaben erfüllt werden, sondern sieht man darin gleichzeitig ein Modell, in dem die tatsächliche Arbeitszeit selbst nicht dokumentiert wird, sind die Aussagen von EuGH und BAG auf der einen Seite und des Koalitionsvertrags auf der anderen Seite nicht vereinbar. Das gilt auch unter Berücksichtigung des neuen Gesetzentwurfs. Denn dieser lässt Vertrauensarbeitszeit nur durch Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags durch Dienst- oder Betriebsvereinbarung zu. Ohne eine entsprechende Tarifbindung wäre damit ein Verzicht auf die Dokumentation der Arbeitszeit unzulässig, sofern davon nicht leitende Angestellte i. S. d. § 5 Abs. 3 BetrVG betroffen wären. Ein weitergehender Personenkreis könnte zukünftig nur dann (in rechtmäßiger Weise) ohne eine Dokumentation der Arbeitszeit in Vertrauensarbeitszeit tätig werden, wenn § 16 Abs. 7 ArbZG-Entwurf auch individualvertragliche Regelungen zuließe oder die in § 18 ArbZG geregelten Ausnahmen entsprechend angepasst würden. Um diesen Gestaltungsspielraum aufzuzeigen, sollen nachfolgend noch einmal die wesentlichen Grundsätze der Entscheidung des BAG sowie der unionsrechtliche Gestaltungsspielraum, der für den Gesetzgeber maßgeblich ist, dargelegt werden.
1 2
EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 – CCOO. Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2023, 28 ff.
131
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
a)
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auch ohne Änderung des ArbZG
aa)
Das grundsätzliche Verständnis des BAG
In seinem Beschluss vom 13.9.20223 hat das BAG zunächst einmal bestätigt, dass der Arbeitgeber aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG heraus bereits heute verpflichtet sei, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden könne. Eine Änderung von § 16 Abs. 2 ArbZG, die von einem großen Teil der Literatur für eine Umsetzung der Vorgaben des EuGH noch für erforderlich gehalten worden war4, ist bei dieser Betrachtungsweise nicht geboten. Auch wenn es vielfältige Kritik an dieser Begründung seiner Entscheidung in der Literatur gibt5, ist dieser Auslegung der arbeitsschutzrechtlichen Regelungen zuzustimmen6. Wie bei früherer Gelegenheit bereits ausgeführt wurde7, kann die entsprechende Verpflichtung unmittelbar aus §§ 241 Abs. 2, 611, 618 BGB, 3 ff. ArbSchG i. V. m. den Regelungen der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) bzw. der Richtlinie 89/391/EWG (Arbeitsschutzrahmenrichtlinie) abgeleitet werden. Ob es dabei am Ende überzeugend ist, nur § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG zu nennen, oder ob es nicht einfacher und überzeugender gewesen wäre, auf die allgemeinen Pflichten aus §§ 3 Abs. 1 ArbSchG, 241 Abs. 2, 618 BGB i. V. m. den unionsrechtlichen Handlungsvorgaben in der Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrahmenrichtlinie zu verweisen, kann offenbleiben. Den entsprechenden Weg einer unionsrechtskonformen Auslegung und Anwendung von Regelungen des Arbeitsschutzrechts zur Durchsetzung unionsrechtlicher Pflichten des Arbeitszeitrechts hatte das BAG schon in seinem Urteil vom 2.4.19968 in Bezug auf die Unterbrechung von Bildschirmarbeit durch andere Tätigkeiten oder Pausen nach Maßgabe von Richtlinie 90/270/EWG (Bildschirmarbeitsrichtlinie) aufgezeigt. Wichtig ist allerdings, bis zu einer Anpassung der gesetzlichen Regelungen zu berücksichtigen, dass sich die unionsrechtlichen Pflichten ausschließlich auf das materielle Arbeitsschutzrecht beziehen. Auswirkungen auf den Bereich der Vergütung sind damit nicht verbunden. Wie der 5. Senat des BAG in 3 4 5 6 7 8
BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616. So Baeck/Winzer/Launer, NZG 2019, 858, 859; Fuhlrott, NZA-RR 2019, 343; Heuschmid, NJW 2019, 1853; Kaufmann, ArbR 2019, 277; Reinhard, NZA 2019, 1313. Barrein, ARP 2023, 71; Gröne, NZA-RR 2023, 116; Stück, ARP 2023, 94. Ebenso ArbG Emden v. 9.11.2020 – 2 Ca 399/18 n. v. (Rz. 8 f.). Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2019, 113 ff., 417 ff., 2021, 139 ff.; ders./Pitzer, AktuellAR 2020, 466 ff. BAG v. 2.4.1996 – 1 ABR 47/95, NZA 1996, 998.
132
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
den Urteilen vom 4.5.20229 deutlich gemacht hat, geben die Feststellungen des EuGH deshalb weder Anlass noch Legitimation, entgegen nationalen prozessrechtlichen Grundsätzen die Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess abzuändern. bb)
Keine unmittelbare Handlungspflicht aus Art. 31 Abs. 2 GRC
Dabei geht das BAG davon aus, dass sich eine Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit nicht schon unmittelbar aus Art. 31 Abs. 2 GRC ergebe. Vielmehr folge eine solche Verpflichtung auch nach den Feststellungen des EuGH im Urteil vom 14.5.201910 aus den Vorgaben der Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, die im Lichte des durch Art. 31 Abs. 2 GRC verbürgten Grundrechts auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten ausgelegt werden müssten11. cc)
Keine Verpflichtungen – aber auch keine Privilegien – aus § 16 Abs. 2 ArbZG
Nach den Feststellungen des BAG lässt sich auch § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG keine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers entnehmen, die gesamten Arbeitszeiten der Beschäftigten im Betrieb zu erfassen. Vielmehr werde damit nur bestimmt, dass der Arbeitgeber die „über“ die werktägliche Arbeitszeit nach § 3 S. 1 ArbZG „hinausgehende“ Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzeichnen müsse. Ausdrücklich lehnt es das BAG ab, eine vom Wortlaut des § 16 Abs. 2 ArbZG abweichende Auslegung vorzunehmen. Zwar seien die sich aus der Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrahmenrichtlinie ergebenden Vorgaben bei der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts zu beachten. Diese Auslegung finde aber ihre Grenzen an dem nach der innerstaatlichen Rechtsordnung methodisch Erlaubten. Die Verpflichtung zur Verwirklichung eines Richtlinienziels dürfe daher nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts „contra legem“ dienen12. Eine Auslegung, nach der sämtliche Arbeitszeiten der Arbeitnehmer aufgezeichnet werden müssten, stünde aber in einem solchen Widerspruch zum eindeutigen Wortlaut, zur Systematik und zum Re-
BAG v. 4.5.2022 – 5 AZR 474/21, NZA 2022, 1271 Rz. 31; BAG v. 4.5.2022 – 5 AZR 359/21, NZA 2022, 1267 Rz. 22. 10 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 – CCOO. 11 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 20 ff., 24. 12 EuGH v. 12.5.2022 – C-426/20, NZA 2022, 1041 Rz. 57 – Luso Temp; BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 25 ff., 30. 9
133
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
gelungszusammenhang der in § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG normierten Aufzeichnungspflicht13. Auch eine analoge Anwendung von § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG auf Zeiten, die vom Gesetzeswortlaut nicht erfasst sind, sei ausgeschlossen. Denn es fehle bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Schließlich sei schon im Gesetzgebungsverfahren diskutiert worden, die Wörter „über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 hinausgehende“ in § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG zu streichen14. Dieser Vorschlag, den die Bundesregierung im weiteren Gesetzgebungsverfahren prüfen wollte15, sei aber nicht aufgegriffen worden16. Ungeachtet dieses Ergebnisses lehnte es das BAG ab, in § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG eine gesetzgeberische Vorgabe zu sehen, die einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG entgegenstünde. Zum einen ergebe sich aus dem Gesetzgebungsverfahren lediglich, dass der Gesetzgeber offenbar angenommen habe, dass die Regelungen im ArbZG den unionsrechtlichen Vorgaben aus der Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrahmenrichtlinie entsprächen. Losgelöst davon lasse sich – so das BAG – den Gesetzesmaterialien zu § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG und seiner Entstehungsgeschichte kein klar erkennbarer Wille des Gesetzgebers entnehmen, der bei einem entsprechenden unionsrechtskonformen Verständnis des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG übergangen oder verfälscht würde17. Darin liege eine Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung18. Denn es handele sich nur um eine konstatierende Bemerkung, wenn in der Begründung des Gesetzentwurfs vom 13.10.1993 durch die Bundesregierung ausgeführt werde, mit der Beschränkung der Nachweispflicht auf die „über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 hinausgehende[n] Arbeitszeiten“ werde unnötiger Aufwand vermieden19. Gleiches gelte – so das BAG – für die nach Inkrafttreten des § 3 ArbSchG zum 21.8.1996 erlassenen Bestimmungen in §§ 6 Abs. 1 GSA Fleisch, 17 Abs. 1 MiLoG, 19 Abs. 1 AEntG, 17 c Abs. 1 AÜG. Soweit diese Vorschriften für spezifische Situationen eine den Beginn und das Ende sowie die Dauer der täglichen Arbeitszeit erfassende Aufzeichnungspflicht anordneten, lasse das nicht zwingend den Umkehrschluss zu, der Gesetzgeber habe für die Norm des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG die Grundentscheidung getroffen, sie könne – anders als von ihm hierzu ausdrücklich verlautbart – nicht im Sinne einer nach den Vorgaben des 13 14 15 16 17 18 19
BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 32 ff. BT-Drucks. 12/5888 S. 37, 45. BT-Drucks. 12/5888 S. 50, 54. BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 38 ff. BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 51 ff. Vgl. BVerfG v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774 Rz. 75. BT-Drucks. 12/5888 S. 31.
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Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
Art. 6 Abs. 1 Arbeitsschutzrahmenrichtlinie für alle Arbeitnehmer erforderlichen Arbeitszeiterfassung verstanden werden. Auch dieses Verständnis der bestehenden gesetzgeberischen Vorgaben erscheint zutreffend. Es macht noch einmal deutlich, dass mit den spezialgesetzlichen Regelungen auch kein Privileg für die Arbeitgeberseite geschaffen wird, von einer Umsetzung arbeitsschutzrechtlicher Vorgaben abzusehen. Dies wäre nur dann möglich, wenn – wie noch auszuführen sein wird – der Gesetzgeber die Verbindlichkeit der unionsrechtlichen Regelungen auf der Grundlage von Art. 17 Arbeitszeitrichtlinie für einen größeren Personenkreis beseitigen würde, als derzeit noch in § 18 ArbZG genannt wird. dd)
Unionsrechtskonforme Auslegung des Arbeitsschutzrechts
Grundlage der Annahme einer bereits heute bestehenden Verpflichtung des Arbeitgebers, ein System einzuführen, mit dem „sämtliche Arbeitszeiten“ erfasst werden, bildet aus Sicht des BAG § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG20. Danach habe der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine „geeignete Organisation“ zu sorgen und die „erforderlichen Mittel“ bereitzustellen. Bei unionsrechtskonformem Verständnis beinhalte die gesetzliche Regelung auch die – grundsätzliche – Verpflichtung des Arbeitgebers, ein System zur Erfassung der von seinen Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das den Beginn und das Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit, einschließlich der Überstunden, erfasse. Diese Auslegung sei nicht nur mit Wortlaut und Systematik der gesetzlichen Regelung vereinbar. Ausschlaggebend für ein solches Verständnis von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sei – so das BAG – der in den Gesetzesmaterialien ausgedrückte Wille des Gesetzgebers21. Danach habe er mit § 3 Abs. 2 ArbSchG die Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 Arbeitsschutzrahmenrichtlinie umsetzen wollen. Dort sei unter anderem vorgesehen, dass der Arbeitgeber die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Bereitstellung einer geeigneten Organisation und der erforderlichen Mittel, treffe. Da sich § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sprachlich weitgehend an dieser unionsrechtlichen Vorgabe ausrichte, solle ihm derselbe Bedeutungsgehalt wie der unionsrechtlichen Vorgabe zukommen. Da diese Vorgabe nach der Rechtsprechung des EuGH indes auch die Verpflichtung eines Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zu20 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 42 ff. 21 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 47.
135
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
gänglichen Systems für die Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten beinhalte, sei auch § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG entsprechend auszulegen und anzuwenden. Schließlich habe der EuGH seine Auslegung nicht nur auf Art. 3, 5, 6 lit. b Arbeitszeitrichtlinie i. V. m. Art. 31 Abs. 2 GRC gestützt. Er habe die Verpflichtung zur Einführung und Verwendung eines entsprechenden Arbeitszeiterfassungssystems im Betrieb vielmehr auch aus der in Art. 6 Abs. 1 Arbeitsschutzrahmenrichtlinie verankerten allgemeinen arbeitsschutzrechtlichen Organisationspflicht des Arbeitgebers abgeleitet22. Ergänzend hat das BAG auch darauf verwiesen, dass die parallele Anwendung des ArbZG und des ArbSchG bei arbeitszeitrechtlichen Fragestellungen bereits unionsrechtlich vorgegeben sei. Denn die den beiden Gesetzen zugrunde liegende Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrahmenrichtlinie schlössen einander nicht aus. Nach dem Erwägungsgrund 3 Arbeitszeitrichtlinie blieben die Bestimmungen der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie auf die durch die Arbeitszeitrichtlinie geregelte Materie der Arbeitszeit – unbeschadet darin enthaltener strengerer und/oder spezifischer Vorschriften – in vollem Umfang anwendbar. Das bestätigt im Übrigen auch Art. 1 Abs. 4 Arbeitszeitrichtlinie. Da § 3 ArbSchG bereits heute unmittelbar anwendbares Recht ist und – folgt man dem BAG – im Lichte der Arbeitszeit- und Arbeitschutzrahmenrichtlinie ausgelegt werden muss, besteht auf der Grundlage des Arbeitsschutzrechts bereits heute eine Pflicht des Arbeitgebers, für die Arbeitnehmer, die nicht gemäß § 18 ArbZG von dessen materiell-rechtlichen Vorgaben ausgenommen worden sind, eine Dokumentation der täglichen Arbeitszeit einzuführen.
b)
Inhaltliche und formale Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Arbeitszeiterfassung
aa)
Objektive, verlässliche und zugängliche Erfassung der Arbeitszeit
Nach den Feststellungen des EuGH muss das System zur Arbeitszeiterfassung objektiv, verlässlich und zugänglich sein. Das hat das BAG in seinem Beschluss vom 13.9.202223 übernommen. Wann diese Voraussetzungen erfüllt sind, haben EuGH und BAG indes nicht konkretisiert. Auch unter Berücksichtigung des Referentenentwurfs, der hierzu schweigt, dürfte es im Ergebnis den nationalen Gerichten obliegen, im Einzelfall zu überprüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Bestehen grundsätzliche Zweifel, müsste der EuGH erneut mit der Bitte um Vorabentscheidung angerufen werden.
22 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 Rz. 62 – CCOO. 23 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 65.
136
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
„Objektiv“ ist eine Dokumentation nach der hier vertretenen Auffassung dann, wenn das System geeignet ist, die Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne ohne Rücksicht auf subjektiv abweichende Einschätzungen von Arbeitgeber und/oder Arbeitnehmer zu erfassen. Entscheidend ist also die objektive Kennzeichnung der Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne, wie sie durch das Unionsrecht und seine Interpretation durch den EuGH bestimmt wird. Hier dürften in der Praxis die größten Probleme entstehen, zumal dann auch jede Form der Pause (z. B. Raucherpause, soziale Gespräche im Pausenraum oder an der Kaffeemaschine) nicht erfasst werden darf. „Verlässlich“ ist ein System dann, wenn es zuverlässig und manipulationsgesichert die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers erfasst. Sofern hierfür eine bestimmte Technik (Elektronik/Zugangskontrolleinrichtung) verwendet wird, dürfte diese Voraussetzung erfüllt sein, wenn die Identität des jeweils erfassten Arbeitnehmers und der Umstand seiner Arbeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne durch die Technik zuverlässig erkannt werden können. Wenn auf händische Zeiterfassungssysteme zurückgegriffen wird, dürfte das Kriterium der Verlässlichkeit verlangen, dass die Erfassung zeitnah und mit einem Schutz vor nachträglicher Veränderung durchgeführt wird. Die Erfassung muss auch so erfolgen, dass Kopierprozesse, die zur Vereinfachung ohne Rücksicht auf tägliche Unterschiede erfolgen, ausgeschlossen sind. Jedenfalls wird man hier einen Korrekturmechanismus einfügen müssen, der die Arbeitnehmer verpflichtet, einen automatischen Eintrag zu prüfen und freizugeben. „Zugänglich“ ist ein System nach der hier vertretenen Auffassung dann, wenn der Arbeitnehmer mit diesem System nicht nur seine Arbeitszeit einfach erfassen kann. Die Zugänglichkeit setzt auch voraus, dass der Arbeitnehmer – ebenso wie Arbeitnehmervertreter und zuständige Behörden – die Möglichkeit hat, die bereits erfasste Arbeitszeit einzusehen. bb)
Keine (technischen) Formvorgaben für die Art der Arbeitszeiterfassung
In Übereinstimmung mit den Ausführungen des EuGH hatte das BAG klargestellt, dass – solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen worden seien – ein Spielraum bestehe, in dessen Rahmen die (technische) Form des Systems der Arbeitszeiterfassung festzulegen sei. Vielmehr seien bei der Auswahl des Systems vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen. Wie der Verweis des EuGH auf die Schlussanträge des Generalanwalts erkennen lasse, müsse die Arbeitszeiterfassung nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr könnten beispielsweise – je nach Tätigkeit und 137
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen. Bei der Auswahl und der näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems sei jedoch zu beachten, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit eine Zielsetzung darstelle, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfe24. Ungeachtet dessen wird man in der betrieblichen Praxis insbesondere dann, wenn die Arbeitszeiterfassung durch ein technisches System erfolgt, sicherstellen müssen, dass die damit verbundene Verarbeitung personenbezogener Daten datenschutzrechtlich zulässig ist. Dabei dürfte es vor allem auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ankommen, ausgehend davon, dass dieser auch bei entsprechenden Regelungen durch Betriebsvereinbarung zu berücksichtigen ist. Schließlich hatte der EuGH in seinem Urteil vom 2.3.202325 deutlich gemacht, dass die Art. 5, 6 ff. DSGVO bei jeder Verarbeitung personenbezogener Daten – und damit auch im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses – zu beachten sind. Zu erwarten ist, dass dies auch für Regelungen durch eine Betriebsvereinbarung auf der Grundlage des Vorlagebeschlusses des BAG vom 22.9.202226, auf den wir an anderer Stelle hingewiesen haben27, bestätigt wird. Lediglich beispielhaft sei insoweit auf die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg zur Unzulässigkeit einer biometrischen Erfassung von Arbeitnehmern im Rahmen einer Zugangskontrolleinrichtung verwiesen, die der Arbeitgeber auch mit dem Ziel gerechtfertigt hatte, dass damit unionsrechtliche Dokumentationserfordernisse in Bezug auf die Arbeitszeit erfüllt würden28. Ähnliche Feststellungen hatte das LAG Niedersachsen im Urteil vom 6.7.202229 im Hinblick auf eine Videoüberwachung getroffen, die ebenfalls mit dem Ziel einer Arbeitszeiterfassung begründet worden war. cc)
Zulässigkeit einer Delegation
Die Pflicht zur Erfüllung der Dokumentation kann, wie das BAG im Beschluss vom 13.9.202230 zu Recht bestätigt hat, an die hiervon betroffenen Arbeitnehmer delegiert werden31. Diese Sichtweise entspricht den allgemeinen Handlungsvorgaben im Arbeitsschutzrecht, die sich zwar jeweils an den Arbeitgeber richten, aber in allen Bereichen auch durch (sachkundige) Ver-
24 25 26 27 28 29 30 31
BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 65. EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. – Norra Stockholm Bygg. BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363. B. Gaul, AktuellAR 2023, 109 ff. LAG Berlin-Brandenburg v. 4.6.2020 – 10 Sa 2130/19, NZA-RR 2020, 457 Rz. 62 ff. LAG Niedersachsen v. 6.7.2022 – 8 Sa 1148/20, NZA-RR 2023, 632. BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 65. Eingehend schon B. Gaul, FS Schmidt S. 739, 743 ff.
138
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
treter umgesetzt werden können. Eine Delegation ist auch im Referentenentwurf vorgesehen. Voraussetzung für eine Delegation ist natürlich, dass Technik und Betroffene, die durch den Arbeitgeber eingesetzt werden, so „eingestellt“ sind, dass sie wissen, was zu tun ist. Darüber hinaus ist der Arbeitgeber gehalten, die Einhaltung der übertragenen Verpflichtungen auch in geeigneter Weise, z. B. durch stichprobenartige Kontrollen, zu überprüfen und ggf. erforderliche Anpassungen vorzunehmen. Das folgt aus den allgemeinen Grundsätzen zur Übertragung von Unternehmerpflichten, die in Organisations-, Auswahl-, Übertragungs- und Überwachungsverantwortung erkennbar werden.
c)
Zulässigkeit einer Opt-in- bzw. Opt-out-Regelung
Obwohl der EuGH in seinem Urteil vom 14.5.201932 nur davon spricht, dass der Arbeitgeber durch die Mitgliedstaaten verpflichtet werden müsse, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden „kann“33, hält das BAG in seinem Beschluss vom 13.9.202234 eine tatsächliche Anwendung des Systems auch für erforderlich. Das geforderte System dürfe sich – trotz des vom EuGH verwendeten Begriffs der „Messung“ – nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu „erheben“. Diese Daten müssten vielmehr auch erfasst und damit aufgezeichnet werden35. Andernfalls wäre weder die Lage der täglichen Arbeitszeit noch die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar. Auch eine Kontrolle durch die zuständigen Behörden wäre sonst nicht gewährleistet. Nach Auffassung des BAG beschränke sich die Pflicht zur Einführung daher nicht nur darauf, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern ein solches System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stelle36. Vielmehr schlussfolgert das BAG aus der Rechtsprechung des EuGH, dass der Arbeitgeber hiervon auch tatsächlich Gebrauch machen und es damit verwenden müsse37. Diese Sichtweise erscheint – anders als die vorangehenden Überlegungen zur unionsrechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 ArbSchG – allerdings nicht 32 33 34 35 36 37
EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 Rz. 60 – CCOO. EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 Rz. 60 – CCOO. BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 23. A. A. Hanau, ZFA 2020, 129, 133. A. A. Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019, 456, 468 ff. Ebenso Bayreuther, NZA 2020, 1, 7.
139
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
zwingend. Für die Richtigkeit dieses Verständnisses spricht zwar, dass eine Entscheidung des Arbeitnehmers, ein bereitgestelltes System nicht zu nutzen, gleichzeitig Arbeitnehmervertretern und Behörden die Möglichkeit nehmen würde, die Einhaltung der materiell-rechtlichen Schranken des ArbZG durch Einsichtnahme in die Dokumentation zu überprüfen. Dagegen spricht allerdings, dass ein schutzwürdiges Interesse an einer solchen Kontrolle auch durch Arbeitnehmervertreter und Behörden gerade dann nicht besteht, wenn Arbeitnehmer freiwillig auf eine entsprechende Dokumentation verzichtet haben. Voraussetzung wäre allerdings, dass das System im Betrieb zur Verfügung gestellt wird und die Freiwilligkeit der arbeitnehmerseitigen Entscheidung gegen seine Nutzung im Streitfall durch den Arbeitgeber dargelegt und ggf. bewiesen werden kann. Schließlich spricht auch der EuGH nur davon, dass mit dem eingeführten System die Arbeitszeit erfasst werden „kann“. Eine entsprechende Umsetzung der Opt-in/Opt-out-Regelung setzte aber voraus, dass in § 16 Abs. 7 ArbZG, der nach der aktuellen Fassung des Referentenentwurfs38 derzeit Ausnahmen nur durch Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags durch Dienst- oder Betriebsvereinbarung zulässt, auch einzelvertragliche Regelungen vorgesehen werden. Die durch den Entwurf in § 16 Abs. 4 ArbZG vorgesehene Möglichkeit, dass der Arbeitgeber grundsätzlich auf die Vorlage der Aufzeichnungen verzichtet, genügt nicht.
d)
Gesetzgeberischer Spielraum in Bezug auf die Vertrauensarbeitszeit
Folgt man der unionsrechtlichen Auslegung und Anwendung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, ist davon auszugehen, dass hiervon alle Arbeitnehmer erfasst sind, die nicht durch den Gesetzgeber von den Schranken des Arbeitszeitrechts befreit worden sind. Maßgeblich ist also § 18 ArbZG. Darauf hat das BAG im Beschluss vom 13.9.202239 hingewiesen. Hiervon ausgehend betrifft die Pflicht eines Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeiten daher alle Arbeitnehmer, für die der nationale Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 Arbeitszeitrichtlinie von den Vorgaben in Art. 3, 5, 6 lit. b Arbeitszeitrichtlinie abgewichen ist. Darauf hat schon der EuGH mit der Feststellung hingewiesen, dass die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung „unbeschadet von Art. 17 Abs. 1“ Arbeitszeitrichtlinie gelte40. Dies bedeute, dass sich die Arbeitszeiterfassung nicht auf Arbeitnehmer erstrecken müsse, für die ein Mitgliedstaat Ausnahmen vorgesehen habe, weil 38 Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2023, 28 ff. 39 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 56 f. 40 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 Rz. 63 – CCOO.
140
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt sei oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden könne. Überträgt man diesen Grundsatz auf die Regelung zur Vertrauensarbeitszeit, folgt daraus die Notwendigkeit, Arbeitnehmer, die im Rahmen von Vertrauensarbeitszeit tätig werden, ganz oder teilweise aus dem Geltungsbereich des ArbZG herauszunehmen. Abweichend von den Regelungen des aktuellen Referentenentwurfs sollte dies aber nicht nur durch Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung zugelassen werden. Denn damit würden Arbeitsverhältnisse nicht erfasst, die nicht in den Geltungs- oder Anwendungsbereich solcher Kollektivvereinbarungen fallen. Auch wären Betriebe nicht erfasst, in denen kein Betriebsrat besteht. Eine solche Herausnahme von Arbeitnehmern in Vertrauensarbeitszeit durch § 18 ArbZG, der derzeit noch auf leitende Angestellte i. S. d. § 5 Abs. 3 BetrVG und Chefärzte begrenzt ist, wäre unionsrechtlich zulässig und sinnvoll. Denn Art. 17 Abs. 1 Arbeitszeitrichtlinie erlaubt ausdrücklich, unter Beachtung des allgemeinen Grundsatzes eines Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit, bei der Umsetzung der Richtlinie von Art. 3 bis 6, 8 und 16 Arbeitszeitrichtlinie abzuweichen, wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. Das ist bei Vertrauensarbeitszeit der Fall und im Streitfall durch den Arbeitgeber nachzuweisen. Alternativ denkbar – im Zweifel aber nicht ausreichend – wäre es, einen von § 5 Abs. 3 BetrVG abweichenden Begriff der Führungskraft in § 18 ArbZG aufzunehmen. Folgt man den Überlegungen des BMAS in § 16 Abs. 4 ArbZG-Entwurf41, soll eine Fortführung der Regelungen zur Vertrauensarbeitszeit auch dadurch gewährleistet werden, dass der Arbeitgeber auf die Kontrolle der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verzichtet. Dieser Vorschlag ist allerdings unzureichend. Denn er lässt die Verpflichtung unberührt, die materiell-rechtlichen Schranken des Arbeitszeitrechts einzuhalten. Folgerichtig muss der Arbeitgeber deshalb auch sicherstellen, dass ihm etwaige Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zur Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden. Dies gilt selbst dann, wenn hiervon Arbeitnehmer betroffen wären, die ihre Arbeitszeit frei einteilen können und deshalb auch aus unionsrechtlicher Sicht nicht in der gleichen Weise schutzwürdig sind. Darüber hinaus bleiben die Gewerbeaufsichtsämter berechtigt, die Einhaltung der Schranken des
41 Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2023, 28 ff.
141
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Arbeitszeitrechts zu überprüfen, die Vorlage der Nachweise zu verlangen und etwaige Verstöße zu sanktionieren. Außerdem bestehen die Auskunftsansprüche des Betriebsrats aus § 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BetrVG i. V. m. §§ 3 ff. ArbSchG fort. Auch der Betriebsrat könnte vom Arbeitgeber also Auskunft über die Einhaltung der Schranken der Arbeitszeit auch in Bezug auf Arbeitnehmer in Vertrauensarbeitszeit verlangen. Diesen Anspruch kann der Arbeitgeber nur erfüllen, wenn der Arbeitnehmer die Arbeitszeit vollständig erfasst hat und dem Arbeitgeber diese Dokumentation zur Verfügung stellt.
e)
Unternehmerische Risiken bei einer (vorübergehenden) Fortführung des Verzichts auf Arbeitszeiterfassung
aa)
Fehlende Strafbarkeit
Solange im Betrieb keine Arbeitszeiterfassung für Arbeitnehmer eingeführt ist, bei denen das ArbZG gilt, liegt zwar ein Verstoß gegen gesetzliche Pflichten aus § 3 Abs. 2 ArbSchG vor. Die Missachtung der arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit kann aber, soweit es nicht um die Umsetzung von § 16 Abs. 2 ArbZG oder spezialgesetzlichen Regelungen (z. B. §§ 6 GSA Fleisch, 16, 17 MiLoG) geht, bislang nicht als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Trotz der klaren Feststellungen des BAG zur materiell-rechtlichen Rechtslage erscheint es daher aktuell (noch) gerechtfertigt, wenn unternehmensseitig abgewartet wird, welche Regelungen der Gesetzgeber zur Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung trifft. Schließlich ist derzeit offen, welche Veränderungen der jetzt vorliegende Referentenentwurf noch erfahren wird. Ausgangspunkt dabei ist, dass die Bundesregierung im Koalitionsvertrag ausdrücklich festgehalten hatte, dass flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein „müssen“. Diese Zusage wird mit dem aktuellen Referentenentwurf nur unvollkommen umgesetzt, weil ein großer Teil der Arbeitnehmer, die derzeit in Vertrauensarbeitszeit tätig sind, danach auch in Zukunft zur Dokumentation der Arbeitszeit verpflichtet sein würde. Denn eine Herausnahme aus der Arbeitszeiterfassung soll nur durch Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung erlaubt werden. Abzuwarten bleibt auch, ob und mit welchen Modifikationen sich die Idee des BMAS durchsetzen wird, Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit kalendertäglich zu erfassen, falls nicht durch Kollektivvereinbarung eine abweichende Regelung getroffen wird. Da eine technische Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben unter Berücksichtigung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats einen nicht unerheblichen Aufwand zur Folge hat, sollte Klarheit bestehen, wenn entsprechende Regelungen auf betrieblicher Ebene geschaffen werden. 142
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
Hinzu kommt, dass noch offen ist, ob der Gesetzgeber auch Klarstellungen vornehmen wird, was aus seiner Sicht zum Begriff der dokumentationspflichtigen Arbeitszeit gehört. Die dokumentationspflichtige Arbeitszeit muss nicht notwendig zugleich auch Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne sein, wie die Regelungen in § 6 GSA Fleisch deutlich machen. Dort wird nicht nur bestimmt, dass Arbeitgeber und Entleiher verpflichtet sind, den Beginn der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer sowie Leiharbeitnehmer jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und diese Aufzeichnung elektronisch aufzubewahren. Es wird auch festgelegt, dass die tägliche Arbeitszeit in diesem Sinne ebenfalls Zeiten umfasst, die für Vor- und Nachbereitungshandlungen im Betrieb benötigt werden, soweit diese fremdnützig sind und nicht zugleich der Befriedigung eines eigenen Bedürfnisses des Arbeitnehmers dienen, insbesondere Zeiten, die der Arbeitnehmer, jeweils einschließlich der hierfür erforderlichen innerbetrieblichen Wegezeiten, benötigt für •
das Auf- und Abrüsten von Arbeitsmitteln, einschließlich der Entgegennahme und des Abgebens der Arbeitsmittel (Rüstzeiten),
•
das An- oder Ablegen der Arbeitskleidung, einschließlich der Entgegennahme und des Abgebens der Arbeitskleidung (Umkleidezeiten), wenn das Tragen einer bestimmten Arbeitskleidung vom Arbeitgeber angeordnet wird oder gesetzlich vorgeschrieben ist und das Umkleiden im Betrieb erfolgt, und
•
das Waschen vor Beginn oder nach Beendigung der Arbeit (Waschzeiten), wenn das Waschen aus hygienischen oder gesundheitlichen Gründen notwendig ist.
Dass diese Zeiten durch die Rechtsprechung bislang wohl nur vergütungsrechtlich als Arbeitszeit behandelt worden sind42, war bei der Ergänzung der GSA Fleisch nicht berücksichtigt worden. Dass jetzt vergleichbare Gleichsetzungen auch außerhalb der Fleischindustrie erfolgen, ist nicht ausgeschlossen. Schließlich gibt es auch an anderen Stellen Klarstellungsbedarf über die arbeitsschutzrechtliche Kennzeichnung von Tätigkeiten. Beispielsweise sei nur auf die Abgrenzung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst hingewiesen43. 42 Vgl. hierzu BAG v. 13.10.2021 – 5 AZR 291/20 n. v. (Rz. 11 ff.); BAG v. 13.12.2016 – 9 AZR 574/15, NZA 2017, 459 Rz. 17 ff. 43 Vgl. nur EuGH v. 9.3.2021 – C-580/19, NZA 2021, 489 – Stadt Offenbach am Main; Aligbe, ARP 2023, 78; B. Gaul, AktuellAR 2020, 481 ff., 2021, 144 ff.
143
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
bb)
Möglichkeiten einer behördlichen Anordnung (ggf. auf Veranlassung des Betriebsrats)
Grundsätzlich kann die zuständige Behörde (auch) eine Dokumentation der Arbeitszeit anordnen. Grundlage dafür ist § 17 Abs. 4 S. 2 ArbZG. Es genügt, wenn ein berechtigter Anlass besteht. Dieser kann durch eine Anregung des Betriebsrats im Rahmen von § 89 BetrVG, Erkenntnisse aus einer Betriebsprüfung oder einen – ggf. anonymen – Hinweis auf mögliche Verstöße gegen das Arbeitszeitrecht geschaffen werden44. Zu einer entsprechenden Anordnung der Aufsichtsbehörde kann auch gehören zu verlangen, Arbeitszeitnachweise oder Geschäftsunterlagen, die mittelbar oder unmittelbar Auskunft über die Einhaltung des ArbZG geben, vorzulegen oder zur Einsicht einzusenden. Die Nichtbeachtung entsprechender Vorgaben kann als Ordnungswidrigkeit nach § 22 ArbZG verfolgt werden. cc)
Auskunftsansprüche des Betriebsrats
Unabhängig von etwaigen Auskunftsansprüchen des Betriebsrats aus § 89 BetrVG, die ihn auch zu entsprechenden Hinweisen gegenüber der zuständigen Behörde veranlassen können, wird die betriebliche Praxis auch und insbesondere mit Blick auf die Vertrauensarbeitszeit weiterhin Auskunftsansprüche des Betriebsrats aus § 80 Abs. 1 Nrn. 1, 2 BetrVG im Auge behalten müssen. Die Sensibilität dieser Auskunftsansprüche macht deutlich, dass es erforderlich ist, das weitere Vorgehen bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers nach Möglichkeit gemeinsam auf der Betriebsebene abzustimmen. Das macht auch der Beschluss des LAG München vom 11.7.202245 deutlich. Mit diesem Beschluss hat das LAG München den Arbeitgeber verpflichtet, dem Betriebsrat bis zum 15. Des Folgemonats folgende Auskünfte über die Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers im Vertriebsaußendienst – ausschließlich der leitenden Angestellten – zu erteilen: •
Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit an jedem Arbeitstag des Vormonats;
•
jede Über- bzw. Unterschreitung der regelmäßigen betrieblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden, bezogen auf jede Woche, die im Vormonat endet;
•
jede an Sonn- und Feiertagen des Vormonats geleistete Arbeitsstunde.
44 Vgl. OVG Sachsen-Anhalt v. 17.11.2022 – 1 L 100/20.Z n. v. 45 LAG München v. 11.7.2022 – 4 TaBV 9/22 n. v.
144
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
Darüber hinaus hat das LAG München den Arbeitgeber verpflichtet, dem Betriebsrat die gemäß § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG erforderlichen Aufzeichnungen über die über acht Stunden pro Tag hinausgehende Arbeitszeit für jeden Monat spätestens zum 15. Des Folgemonats zur Verfügung zu stellen. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist nicht die grundsätzliche Anerkennung eines entsprechenden Auskunftsanspruchs aus § 80 Abs. 1 Nrn. 1, 2 BetrVG. Schließlich kann der Betriebsrat vom Arbeitgeber verlangen, dass dieser ihm die erforderlichen Informationen zur Verfügung stellt, damit er überprüfen kann, ob die zu Gunsten der Arbeitnehmer geltenden Vorschriften des Arbeitsschutzrechts im Betrieb zur Anwendung gebracht werden. Beachtlich an dem Beschluss ist, dass der entsprechende Auskunftsanspruch durch das LAG München anerkannt wurde, obwohl für die Arbeitnehmer eine Gesamtbetriebsvereinbarung galt, nach der sie in Vertrauensarbeitszeit tätig wurden. Dabei sah die Betriebsvereinbarung zwar vor, dass die Mitarbeiter verpflichtet waren, alle Arbeitstage aufzuschreiben, an denen sie mehr als acht Stunden – ausschließlich Pausen – gearbeitet haben. Der Betriebsrat sollte vom Arbeitgeber auch verlangen können, dass der Arbeitgeber ihm diese Aufzeichnungen zur Verfügung stellte. Weitergehende Aufzeichnungspflichten sah die Betriebsvereinbarung nicht vor. In den Entscheidungsgründen hat das LAG München darauf verwiesen, dass die Gesamtbetriebsvereinbarung mit diesen Regelungen keine Aussage in Bezug auf die Pflicht des Arbeitgebers zur Auskunft gegenüber dem Betriebsrat getroffen habe. Zwar sei eine Information grundsätzlich nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn der Schuldner tatsächlich über sie verfüge. Doch gelte dann etwas anderes, wenn der Arbeitgeber die notwendigen Daten nur deshalb nicht habe, weil er sie nicht erheben wolle. Die Zurückhaltung der Erhebung im Zusammenhang mit der Vertrauensarbeitszeit sei ein Zugeständnis des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitnehmern, das nicht das betriebsverfassungsrechtliche Verhältnis zum Betriebsrat beeinflussen könne. Dies gelte umso mehr, als die Informationen jedenfalls bei den Arbeitnehmern lägen und vom Arbeitgeber unschwer beschafft werden könnten46. In einem solchen Fall könne – so das LAG München – die den Arbeitnehmern versprochene Zurückhaltung dadurch eingehalten werden, dass eine inhaltliche Kontrolle der Angaben durch den Arbeitgeber nicht erfolge. Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH vom 14.5.201947 sei ein entsprechender Auskunftsanspruch des Betriebsrats daher auch in Anbetracht der Gesamtbetriebsvereinbarung nicht ausgeschlossen. 46 Vgl. BAG v. 6.5.2003 – 1 ABR 13/02, NZA 2003, 1248 Rz. 63 ff. 47 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 – CCOO.
145
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
dd)
Verbleibendes Initiativrecht des Betriebsrats im Rahmen von § 87 BetrVG
Zu Recht hat es der 1. Senat des BAG in seinem Beschluss vom 13.9.202248 indes abgelehnt, dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung zuzugestehen. Folgerichtig ist auch die Einsetzung einer Einigungsstelle unzulässig und auch durch Entscheidung des Arbeitsgerichts nach § 100 ArbGG nicht durchsetzbar, sofern nicht der Arbeitgeber zuvor die Entscheidung getroffen hat, eine solche Form der Arbeitszeiterfassung einzuführen und diesbezügliche Verhandlungen mit dem Betriebsrat gescheitert sind. Dass der Betriebsrat mitzubestimmen hat, wenn Maßnahmen des Arbeitgebers zur Dokumentation der Arbeitszeit eingeführt werden, dürfte nicht ernstzunehmend im Streit stehen. Anknüpfungspunkt sind dabei die Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 Nrn. 1, 6, 7 BetrVG. Die Frage der Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb ist beispielsweise betroffen, wenn die Arbeitnehmer verpflichtet werden, ihre Arbeitszeit in bestimmten Formularen anzugeben. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG kommt zur Anwendung, wenn eine elektronische Arbeitszeiterfassung in Rede steht49. Unabhängig von der Art der Erfassung dürfte ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG gegeben sein, weil die Arbeitszeiterfassung immer auch als Maßnahme des Arbeitsschutzes zu qualifizieren ist, deren weitere Konkretisierung Gestaltungsspielraum eröffnet, dessen Ausübung an eine Zustimmung des Betriebsrats geknüpft ist50. In den Gründen seiner Entscheidung lehnt das BAG gleichwohl ein Initiativrecht des Betriebsrats, den Arbeitgeber auf der Grundlage eines Mitbestimmungsrechts aus § 87 BetrVG zu einer bestimmten Form der Arbeitszeiterfassung zu veranlassen, mit der Begründung ab, dass bereits eine gesetzliche Regelung bestehe, die eine Dokumentationspflicht begründe. Damit sei ein Mitbestimmungsrecht bereits nach § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG ausgeschlossen, was zur Folge hätte, dass der Betriebsrat den Arbeitgeber auch nicht über § 87 BetrVG zwingen könne, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Diese Sichtweise ist konsequent, weil sie den Unterschieden aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG und § 87 BetrVG Rechnung trägt. Sie berücksichtigt, dass die
48 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616. 49 Vgl. B. Gaul/Pitzer, AktuellAR 2020, 475 ff. 50 So Brors, NZA 2019, 1176, 1180; Hanau, ZFA 2020, 129, 138; Schipp, ArbRB 2019, 282; abl. Bayreuther, NZA 2019, 1, 4.
146
Arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit
fehlende Einhaltung der für den Arbeitnehmer im Betrieb geltenden Vorschriften auf der Grundlage von § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG immer nur die Möglichkeit eröffnet, den Arbeitgeber darauf hinzuweisen und ihn aufzufordern, diese Vorschriften zu erfüllen51. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn durch § 16 ArbZG eine Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung festgeschrieben wird. Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 BetrVG erwachsen erst dann, wenn eine Umsetzung erfolgt, die Gestaltungsspielraum eröffnet. In entsprechender Weise hat das BAG einen Unterlassungsanspruch aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG abgelehnt, wenn gesetzliche Verpflichtungen zum Schutz der Arbeitnehmer verletzt werden52. Dass das BAG in einer früheren Entscheidung vom 28.11.198953 ein Initiativrecht des Betriebsrats noch mit der Begründung abgelehnt hatte, dass es nicht zur Folge haben könne, dass die Arbeitnehmer durch die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung den Gefahren einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ausgesetzt würden, hat das BAG im Beschluss vom 13.9.202254 nicht thematisiert. Schlussendlich dürfte diese Sichtweise auch nicht (mehr) überzeugen. Problematisch an einer Übertragung dieser Begründung auf die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung mit dem Ziel der Arbeitszeiterfassung ist nämlich nicht nur, dass mit der Arbeitszeiterfassung unionsrechtlichen Vorgaben aus der Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrahmenrichtlinie Rechnung getragen werden soll. Folgt man den Feststellungen des EuGH im Urteil vom 14.5.201955, bezweckt die damit einhergehende Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer. Hiervon ausgehend wird man daher in der Einführung und Anwendung einer technischen Kontrolleinrichtung zur Arbeitszeiterfassung auch eine Maßnahme sehen müssen, die dem Schutz der Arbeitnehmer zu dienen bestimmt ist. Wichtig für die betriebliche Praxis ist allerdings, dass das BAG das Initiativrecht des Betriebsrats schlussendlich nur abgelehnt hat, weil es auf eine bestimmte Form der Arbeitszeiterfassung (hier: elektronische Erfassung) gerichtet war. Wegen des unionsrechtlichen Gestaltungsspielraums kann auch § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG keinen solchen Anspruch begründen56. Es bedarf 51 Vgl. BAG v. 10.6.1968 – 1 ABR 59/84, NZA 1987, 28; HWK/Sittard, BetrVG § 80 Rz. 30. 52 BAG v. 28.5.2002 – 1 ABR 40/01, NZA 2003, 1352 Rz. 39. 53 BAG v. 28.11.1989 – 1 ABR 97/88, NZA 1990, 406. 54 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616. 55 EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683 Rz. 37 ff. – CCOO. 56 Vgl. BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 71.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
einer Entscheidung des Gesetzgebers, diesen Gestaltungsspielraum auf die elektronische Erfassung zu beschränken. Unabhängig von der bevorstehenden Entscheidung des Gesetzgebers über die Art und Weise der Arbeitszeiterfassung, kann der Betriebsrat aber durchaus initiativ tätig werden und im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG geltend machen, dass die Arbeitszeit in einer Weise erfasst wird, die den unionsrechtlichen Vorgaben Rechnung trägt, ohne dabei bereits eine bestimmte Form (z. B. elektronische Arbeitszeiterfassung) zu verlangen. Dass das „Ob“ schlussendlich bereits durch das Gesetz bestimmt wird (§ 3 Abs. 1 ArbSchG) und Mitbestimmungsrechte allenfalls in Bezug auf das „Wie“ bestehen können, was aber an eine grundsätzliche Entscheidung des Arbeitgebers über die Form der Arbeitszeiterfassung gebunden ist, scheint das BAG insoweit nicht für maßgeblich zu halten, wenn es ausführt, dass sich der Betriebsrat bei der Wahrnehmung seines Initiativrechts nicht lediglich auf ein bestimmtes Arbeitszeiterfassungssystem beschränken könne57. Scheitert eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, obliegt es der Einigungsstelle, im Rahmen dieser allgemeinen Vorgaben des Arbeitsschutzrechts eine angemessene Regelung zu finden58.
f)
Fazit
Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum nutzt, um seine Ankündigung im Koalitionsvertrag zu verwirklichen, damit im Zusammenhang mit der Umsetzung der EuGH-Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung die notwendige Flexibilität auf Betriebsebene gewahrt bleibt. Das setzte aber Veränderungen gegenüber dem aktuellen Referentenentwurf voraus. Nur dann wären aber nicht nur die arbeitgeberseitigen Interessen gewährleistet. Vielmehr würde zugleich berücksichtigt, dass auch auf Arbeitnehmerseite vielfach der Wunsch besteht, ohne eine strikte Erfassung der gesamten Arbeitszeit tätig zu werden. (Ga)
2.
Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
a)
Ausgangssituation
In der betrieblichen Praxis kann es viele Gründe geben, die eine Änderung der ursprünglich geplanten Arbeitszeit von Mitarbeitern erforderlich machen. Beispielhaft sei nur auf die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit anderer
57 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 60, 66 f. 58 BAG v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, NZA 2022, 1616 Rz. 69.
148
Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
Arbeitnehmer, kurzfristige Probleme mit Technik oder IT, Wetteränderungen oder extern bestimmte Veränderungen der Arbeitsauslastung verwiesen. Die Rufbereitschaft und/oder der Bereitschaftsdienst sind durchaus geeignete Arbeitszeitmodelle, um flexibel auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Wie die Entscheidungen des LAG Thüringen vom 16.5.201859 und des LAG SchleswigHolstein vom 27.9.202260 deutlich machen, kann es außerhalb dieser Arbeitszeitmodelle allerdings schwierig werden, Arbeitnehmer, die sich in dieser Zeit in ihrer Freizeit befinden, durch Telefon, E-Mail oder SMS aufzufordern, ihre Arbeit zu einer gegenüber der bisherigen Planung geänderten Zeit aufzunehmen.
b)
Sachverhalte der Entscheidungen des LAG Thüringen und des LAG Schleswig-Holstein
Gegenstand der Entscheidung des LAG Thüringen vom 16.5.201861 war eine Klage auf Rücknahme einer Abmahnung und ihre Entfernung aus der Personalakte. Die Abmahnung hatte der beklagte Landkreis gegenüber dem Kläger, der als Sachbearbeiter Hygiene-/Infektionsschutz im Gesundheitsamt beschäftigt war, ausgesprochen, weil dieser dem Landkreis als Arbeitgeber die private Mobiltelefonnummer nicht innerhalb der geforderten Frist mitgeteilt hatte. Die Mobiltelefonnummer sollte den Arbeitgeber in die Lage versetzen, an den Werktagen, die nicht zugleich Brückentage waren, Mitarbeiter in ihrer Freizeit anzurufen, um nachzufragen, ob sie wegen aktueller Gefährdungslagen im Hygiene-/Infektionsschutz auch außerhalb der geplanten Dienstzeiten zur Arbeit bereit und in der Lage seien. Dabei sollte es dem Zufall bzw. der Willkür des für diese Anrufe zuständigen Mitarbeiters im Rettungsdienst überlassen sein, zu welchem der sieben denkbar geeigneten Mitarbeiter versucht wurde, Kontakt aufzunehmen. Die Rufbereitschaft, die bis dahin solche Einsätze abgedeckt hatte, war aus Kostengründen auf Samstage, Sonn- und Feiertage sowie sog. Brückentage beschränkt worden. Für die Rufbereitschaft an diesen Tagen stellte die Beklagte den Mitarbeitern auch ein Diensthandy zur Verfügung, über das sie erreicht werden konnten. In dem der Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein vom 27.9.202262 zugrunde liegenden Fall stritten die Parteien über den Stand des Arbeitszeitkontos des Klägers sowie die Entfernung einer Abmahnung, die die Beklagte dem als Notfallsanitäter in Vollzeit im Rahmen des Rettungsdienstes tätigen Klä-
59 60 61 62
LAG Thüringen v. 16.5.2018 – 6 Sa 442/17, MDR 2018, 1194 Rz. 44. LAG Schleswig-Holstein v. 27.9.2022 – 1 Sa 39 öD/22, NZA-RR 2022, 624. LAG Thüringen v. 16.5.2018 – 6 Sa 442/17, MDR 2018, 1194. LAG Schleswig-Holstein v. 27.9.2022 – 1 Sa 39 öD/22, NZA-RR 2022, 624.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
ger wegen unentschuldigten Fehlens erteilt hatte. Hintergrund war, dass der Kläger auf eine Änderung seines Dienstplans, die die Beklagte während seiner Freizeit vorgenommen hatte, nicht reagiert und die Arbeit deshalb nicht oder verspätet aufgenommen hatte. Zur Begründung hatte er darauf verwiesen, dass er die Veränderungen des Dienstplans im Internet nicht eingesehen und ihn Anrufe bzw. SMS auf dem privaten Mobiltelefon nicht erreicht hätten. Die Beklagte wiederum berief sich auf eine Betriebsvereinbarung, in der Regelungen zur späteren Anpassung von Dienstplänen für den Einsatzdienst getroffen worden waren. Diese lauteten auszugsweise wie folgt: Zur Umsetzung von Dienstplänen sind Springerdienste und Rufbereitschaften zur Kompensation von Ausfallzeiten des Einsatzdienstes notwendig. Ferner werden auf Wunsch von Mitarbeitern Änderungen/Aktualisierungen des DP notwendig. Die folgende Vereinbarung dient der Gleichbehandlung aller Mitarbeiter in der Verteilung der oben genannten Dienste und Möglichkeiten. § 4 a Aktualisierungen des Dienstplans (1) Aus dringenden betrieblichen Gründen können schichtgleiche Änderungen im Dienstplan vorgenommen werden. (...) (3) Diese Aktualisierungen müssen dem Betriebsrat spätestens bis zum 15. des Vor-Vormonats (z. B. bis zum 15.1. Vorlage für den DP März) vorgelegt werden. Dieser hat die Änderungen bis zum jeweils 1. des Vormonats zu genehmigen. Dringende betriebliche Gründe sind: (...) (4) Spätere Änderungen sind für den Mitarbeiter immer freiwillig. (...) § 4 f Springerdienste (1) Springerdienste dienen der Kompensation aller an diesem Tag möglichen Dienstformen und werden in der Jahresplanung einem Wochentag der Vertreterwoche verbindlich zugewiesen. (...) (4) Um die Planungssicherheit der Mitarbeiter zu steigern, hat die konkrete Schichtzuteilung in verblockten Springerdiensten Vorrang vor Zuweisung von einzelnen Springerdiensten. Die konkrete Schichtzuteilung in verblockten Springerdiensten ist spätestens im Rahmen der Dienstplanaktualisierung (vgl. § 4 a) am 15. des Vor-Vormonats (z. B bis zum 15.1. Vorlage für den DP März) erfolgt. Andernfalls erfolgt zu diesem Zeitpunkt die Zuteilung von unkonkreten Tag-, Spät- und Nachtdiensten. (...) (6) Einzelne Springerdienste werden (bezogen auf den Dienstbeginn um 7 Uhr) spätestens vier Tage (...) vorher durch konkrete Schichtzu-
150
Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
teilung verbindlich. Sollte zu diesem Zeitpunkt keine konkrete Schichtzuteilung möglich sein, erfolgt die Zuteilung von unkonkreten Tag-, Spät- und Nachtdiensten. (...) (7) In unkonkret zugeteilten Springerdiensten als Tag-, Spät- und Nachtdienst können nach der Zuteilung weitere Konkretisierungen vorgenommen werden. Hierfür sind folgende Zeitkorridore verbindlich: −
Tagdienst: spätester Beginn 6 – 9 Uhr, spätestes Ende 21 Uhr
−
Spätdienst: spätester Beginn 9 – 15 Uhr, spätestes Ende 23 Uhr
−
Nachtdienst: spätester Beginn 18 – 21 Uhr, spätestes Ende 7 Uhr
(8) Unkonkret zugeteilte Springerdienste können für Tag- und Spätdienste bis 20 Uhr des Vortags vor Dienstbeginn im Dienstplan weiter konkretisiert werden. Für Nachtdienste gilt diese Regelung bis 16 Uhr am Vertretungstag. Geschieht dies nicht, findet sich der Mitarbeiter zu Dienstbeginn am vom Arbeitgeber zugewiesenen Dienstort ein. (...)
Weitergehende Regelungen zur Rufbereitschaft, die ebenfalls in der Betriebsvereinbarung festgehalten waren, nutzte die Beklagte nicht. Vielmehr konkretisierte die Beklagte einen im Dienstplan des Klägers eingetragenen unkonkreten Springerdienst bzw. einen Tagdienst am Tag vor Dienstbeginn um 13:20 Uhr bzw. 9:15 Uhr. Als Folge der Konkretisierung war für den Kläger Dienstbeginn um 6 Uhr bzw. 6:30 Uhr vorgesehen. Versuche, den Kläger telefonisch oder per SMS noch am gleichen Tag zu erreichen, schlugen fehl. Da der Kläger geltend machte, den im Internet einsehbaren Ist-Dienstplan in seiner Freizeit nicht angeschaut zu haben, teilte er jeweils erst um 7:30 Uhr des Einsatztages telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsleistung mit. Ein solches Telefonat war in der Betriebsvereinbarung vorgesehen für Fälle, in denen bei Mitarbeitern im unkonkreten Springerdienst keine weitere Konkretisierung des Dienstes erfolgt war. In dem ersten Fall bewertete die Beklagte das Verhalten des Klägers insgesamt als unentschuldigte Fehlzeit, ohne den Kläger einzusetzen. Sie hatte zwischenzeitlich einen anderen Mitarbeiter aus der Rufbereitschaft herangezogen. Ergänzend hierzu sprach sie dem Kläger eine Ermahnung aus. In dem zweiten Fall forderte sie den Mitarbeiter auf, doch noch – wenn auch verspätet – in einer Rettungswache anzutreten. Die Zeit vom 6:30 Uhr bis 8:26 Uhr – als er dort erschien – behandelte sie als unentschuldigtes Fehlen und sprach deshalb eine Abmahnung aus. Der Kläger machte nunmehr geltend, dass die Abmahnung aus der Personalakte entfernt wird und ihm die streitgegenständlichen Zeiten als Arbeitszeit auf dem Zeitkonto gutgeschrieben werden.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Ausgehend davon, dass die Festlegung des Dienstbeginns von Arbeitnehmern im Rahmen des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts nach § 106 S. 1 GewO erfolgt, muss die entsprechende Anordnung des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer jeweils tatsächlich zugehen. Dieser Umstand führt nicht nur zu der Frage, ob der Arbeitnehmer verpflichtet ist, dem Arbeitgeber zu diesem Zweck seine private Mobiltelefonnummer verfügbar zu machen. Vielmehr entsteht daraus auch die Frage, ob der Arbeitnehmer auf individual- oder kollektivrechtlicher Grundlage verpflichtet ist oder werden kann, auch in der Freizeit seine Erreichbarkeit sicherzustellen bzw. – falls diese auch ohne besondere Maßnahmen gegeben ist – eine entsprechende Mitteilung des Arbeitgebers entgegenzunehmen. Falls eine solche Verpflichtung besteht und der Arbeitnehmer dieser Verpflichtung Folge leistet, wird man die weitergehende Frage zu beantworten haben, ob das entsprechende Handeln als Arbeitszeit im arbeitsschutzbzw. vergütungsrechtlichen Sinne zu qualifizieren ist.
c)
Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Herausgabe der privaten Mobiltelefonnummer
In seinem Urteil vom 16.5.201863 hat das LAG Thüringen einen Anspruch des Arbeitgebers auf Herausgabe der privaten Mobiltelefonnummer abgelehnt und deshalb auch die Rechtswidrigkeit der Abmahnung angenommen. Eine solche Verpflichtung sei weder auf der Grundlage der landesrechtlichen Regelungen zum Arbeitnehmerdatenschutz noch auf der Grundlage von § 242 BGB gerechtfertigt. Insofern verhalte sich der Kläger, der eine Einwilligung in die Erhebung dieser Daten und ihre weitere Verarbeitung verweigert habe, nicht treuwidrig, wenn er sich gegen die Weitergabe seiner Mobiltelefonnummer wehre. Die Herausgabe der Mobiltelefonnummer sei weder zur Durchführung des Arbeitsverhältnisses noch zum Zwecke des Personaleinsatzes erforderlich. In der weiteren Begründung hat das LAG Thüringen darauf verwiesen, dass von einer Erforderlichkeit der Datenerhebung zwar bereits dann auszugehen sei, wenn der Arbeitgeber ohne die Kenntnis oder Nutzung der Daten im konkreten Einzelfall eine legitime Aufgabe nicht, nicht vollständig oder nicht in rechtmäßiger Weise erfüllen könne. Da mit der Herausgabe der privaten Mobiltelefonnummer allerdings ein eigenes Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden sei, müsse eine Abwägung der beiderseitigen Interessen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Dies entspricht auch den zu § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG entwickelten Grundsätzen, da das Datenschutzrecht als eine Konkretisierung der insoweit relevanten Rechte, 63 LAG Thüringen v. 16.5.2018 – 6 Sa 442/17, MDR 2018, 1194 Rz. 33 ff.
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Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
Rechtsgüter und Interessen zu qualifizieren ist und man somit das Ergebnis dieser Abwägung auch auf die Interessenabwägung im Rahmen von § 241 Abs. 2 BGB wird übertragen können. Von diesen Grundsätzen ausgehend hat das LAG Thüringen angenommen, dass es nicht zulässig sei, die Mobiltelefonnummer des Klägers zu fordern. Der in der Herausgabe der Telefonnummer liegende Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht wiege außerordentlich schwer und stehe außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen. Dabei geht das LAG Thüringen davon aus, dass der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht nicht erst in der Kontaktaufnahme als solcher liege. Der Eingriff liege bereits darin, dass die Mobiltelefonnummer erfasst werde und damit die Möglichkeit bestehe, den Kläger jederzeit und an jedem Ort zu kontaktieren. Dies gelte umso mehr, als die Beklagte die Nummer gerade und ausschließlich deshalb haben wollte, um den Kläger außerhalb der Dienstzeiten und außerhalb angeordneter Rufbereitschaft, mithin in seiner Freizeit, kontaktieren zu können. Freizeit zeichne sich – so das LAG Thüringen – gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer in diesem Zeitraum den Arbeitgebern nicht zur Verfügung stehen müssten und selbstbestimmt entscheiden könnten, wie und wo sie diese Freizeit verbrächten. Insofern gehöre es zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheide, für wen er in dieser Zeit erreichbar sein wolle und für wen nicht. Hinzu komme, dass der Kläger bei einer Weitergabe der Mobiltelefonnummer keine Möglichkeit mehr habe, sich dem Zugriff seines Arbeitgebers zu entziehen, ohne gleichzeitig auch allen anderen jegliche Kontaktmöglichkeiten zu nehmen64. Dass der Arbeitgeber ausdrücklich erklärt hatte, dass keine Verpflichtung des Klägers bestünde, bei einer Kontaktaufnahme dem Wunsch zur Aufnahme der Arbeitsleistung nachzukommen, rechtfertigte aus Sicht des LAG Thüringen keinen Anspruch auf Herausgabe der Mobiltelefonnummer. Denn die Beeinträchtigung läge für den Kläger schon darin, dass er im Falle einer Kontaktaufnahme in die Lage gebracht wäre, sich für sein Freizeitverhalten zu rechtfertigen. Schließlich habe die Beklagte ausdrücklich erwartet, dass die Kontaktaufnahme nicht illoyal verhindert werde, indem die erkannte und gesendete Telefonnummer „weggedrückt” werde oder der Kläger eine „Unpässlichkeit” nur vorgebe65. Grundsätzlich erscheint es zwar überzeugend, wenn das LAG Thüringen eine Beeinträchtigung der Freizeit des Arbeitnehmers nur dann für gerechtfertigt hält, wenn die betrieblichen Interessen an dem damit verbundenen Eingriff in 64 LAG Thüringen v. 16.5.2018 – 6 Sa 442/17, MDR 2018, 1194 Rz. 42. 65 LAG Thüringen v. 16.5.2018 – 6 Sa 442/17, MDR 2018, 1194 Rz. 47.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
die Privatsphäre des Arbeitnehmers diesen überwiegen. Dabei kann offenbleiben, ob insofern die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen von § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG oder eine Ausübung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts im Rahmen von §§ 106 S. 1 GewO, 315 BGB in Rede steht. Denn in beiden Fällen muss eine einzelfallbezogene Abwägung der jeweils relevanten Rechte und Interessen vorgenommen werden. Das Ergebnis der Entscheidung und ihre Begründung sind gleichwohl in der Gesamtheit nicht überzeugend. Zum einen begründet das LAG Thüringen die Unzulässigkeit des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht als Folge der Herausgabe der Telefonnummer mit den Folgen, die sich erst bei ihrem Gebrauch ergeben würden. Die bloße Möglichkeit – anders: die Gefahr – eines unberechtigten Anrufs durch den Arbeitgeber stellt nach der hier vertretenen Auffassung allerdings keinen so gewichtigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar, dass sie einem Anspruch auf Herausgabe der Telefonnummer entgegensteht. Denn diese Gefahr besteht auch dann, wenn der Arbeitgeber die Herausgabe der Telefonnummer mit der Begründung verlangt, dass hiervon zum Zwecke der Rufbereitschaft und/oder bei echten Not- oder Gefahrfällen Gebrauch gemacht werden soll. Auch in diesem Fall wird damit die Gefahr begründet, dass der Arbeitgeber die Telefonnummer auch in anderen Fällen benutzt. Überzeugender wäre daher gewesen, die Folgen eines etwaigen Anrufs erst bei der Frage zu erörtern, ob die damit verbundene Nutzung der Telefonnummer mit datenschutzrechtlichen Anforderungen bzw. dem durch §§ 106 S. 1 GewO, 315 BGB oder § 241 Abs. 2 BGB statuierten Gebot der Rücksichtnahme vereinbar ist. Zum anderen lässt das LAG Thüringen in seinen Ausführungen zu den Möglichkeiten eines milderen Mittels unberücksichtigt, dass eine Festnetztelefonnummer – die als milderes Mittel genannt wird – in vielen Fällen gar nicht mehr vorhanden ist. Unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer sich während seiner Freizeit zu Hause oder an einem anderen Ort aufhält, ist die Erreichbarkeit daher faktisch nur durch eine Mobiltelefonnummer gewährleistet. Hiervon ausgehend erscheint es insgesamt überzeugender, dem Arbeitgeber auf der Grundlage einer am Einzelfall ausgerichteten Interessenabwägung das Recht zuzugestehen, die private Mobiltelefonnummer des Arbeitnehmers zu erhalten, um diesen auch außerhalb der konkreten Arbeitszeit zu erreichen. Ob der konkrete Anruf dann unter datenschutzrechtlichen oder arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten zulässig ist, muss – auch unter Berücksichtigung des sog. „Rechts auf Unerreichbarkeit” – einzelfallbezogen im konkreten Fall einer Nutzung entschieden werden.
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Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
d)
Pflicht des Arbeitnehmers zur Entgegennahme von Nachrichten des Arbeitgebers während der Freizeit
Unterstellt man eine Kenntnis des Arbeitgebers von der Mobiltelefonnummer des Arbeitnehmers, seiner privaten E-Mail-Adresse oder einem Festnetztelefon, stellt sich die Frage, ob der Arbeitnehmer in seiner Freizeit verpflichtet ist, Nachrichten entgegenzunehmen, die ihm während der Freizeit in Wort oder Schrift auf dem Telefon bzw. als E-Mail zugehen. Von einer solchen Verpflichtung wird man jedenfalls dann ausgehen können, wenn dies im Rahmen einer Betriebsvereinbarung ausdrücklich bestimmt wird. Das gilt aber nicht einschränkungslos. Voraussetzung für die Wirksamkeit einer entsprechenden Verpflichtung ist, dass die Betriebsvereinbarung durch eine konkrete Ausgestaltung der dafür relevanten Fallkonstellationen eine Regelung trifft, die einem angemessenen Ausgleich zwischen den betrieblichen Bedürfnissen an einer Korrektur bestehender Arbeitsanweisungen auf der einen Seite und dem Interesse des Arbeitnehmers an einer ungestörten Freizeit auf der anderen Seite Rechnung trägt. Im Zweifel muss die Betriebsvereinbarung entsprechende Kontaktaufnahmen deshalb auf Sachverhalte beschränken, die erst während der Freizeit des Arbeitnehmers erkennbar werden, und auch unter Berücksichtigung der Interessen des Arbeitnehmers wegen ihrer Bedeutung einen weiteren Aufschub nicht erlauben. Dabei werden sich die Betriebsparteien auch mit der Frage befassen müssen, ob es andere – gleich geeignete – Möglichkeiten gibt, den damit verbundenen Eingriff in die Freizeit des Arbeitnehmers zu vermeiden. Hierzu gehören – und insofern ist den Ausführungen des LAG Thüringen und des LAG Schleswig-Holstein zuzustimmen – auch Möglichkeiten einer Rufbereitschaft oder eines Bereitschaftsdienstes. Bei der Rufbereitschaft weiß der Arbeitnehmer, dass seine Freizeit unterbrochen werden kann. Beim Bereitschaftsdienst liegt gar keine Freizeit vor; Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne. Bedauerlicherweise hat das LAG Schleswig-Holstein in seinem Urteil vom 27.9.202266 nicht geprüft, ob der Arbeitnehmer als Folge der Betriebsvereinbarung, in der konkrete Regelungen zur Veränderung bestehender Schichten getroffen worden waren, verpflichtet war, arbeitgeberseitige Weisungen, mit denen diese Veränderungen umgesetzt wurden, auch in seiner Freizeit entgegenzunehmen. Vielmehr hat das LAG Schleswig-Holstein nur geprüft, ob der Arbeitnehmer auf individualvertraglicher Ebene zur Entgegennahme und Einsichtnahme in entsprechende Nachrichten des Arbeitgebers verpflichtet war. 66 LAG Schleswig-Holstein v. 27.9.2022 – 1 Sa 39 öD/22, NZA-RR 2022, 624 Rz. 53 ff.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Eine solche Verpflichtung hat das LAG Schleswig-Holstein abgelehnt und zugleich angenommen, dass die Nachrichten des Arbeitgebers dem Kläger in der Freizeit (noch) nicht zugegangen waren. In den Gründen seiner Entscheidung hat das LAG Schleswig-Holstein zwar angenommen, dass die SMS auf dem Mobiltelefon des Klägers eingegangen war. Die Beklagte habe jedoch mit einer Kenntnisnahme der SMS durch den Kläger erst am Folgetag um 7:30 Uhr rechnen dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Kläger seine Arbeit ohne die nachträgliche Veränderung des Dienstbeginns ursprünglich antreten sollen. Denn der Kläger sei – so das LAG Schleswig-Holstein – nicht verpflichtet gewesen, während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren, und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen. Diese Verpflichtung nimmt das LAG Schleswig-Holstein erst mit Dienstbeginn an. Beim Lesen einer SMS, mit der der Arbeitgeber sein Direktionsrecht im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung konkretisiere, handele es sich – so das LAG Schleswig-Holstein – um Arbeitszeit. Denn zur Arbeitsleistung i. S. d. § 611 a Abs. 1 BGB zähle nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede im Synallagma stehende und vom Arbeitgeber verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die unmittelbar mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung zusammenhänge. Insofern verspreche der Arbeitgeber die Vergütung aller Dienste, die er dem Arbeitnehmer aus Gründen seines vertraglich vermittelten Weisungsrechts abverlange. „Arbeit“ im Sinne dieser Bestimmungen sei jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses diene67. Soweit die Beklagte vom Kläger erwarte, eine dienstliche SMS zu lesen oder sich über Zeit und Ort seiner Arbeitsleistung im Internet zu informieren, verlange sie daher eine Arbeitsleistung. Dies aber stehe im Widerspruch zu dem Recht auf Unerreichbarkeit, das dem Kläger während seiner Freizeit zustehe68. Freizeit – so das LAG Schleswig-Holstein – zeichne sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer in diesem Zeitraum dem Arbeitgeber nicht zur Verfügung stehen müssten und selbstbestimmt entscheiden könnten, wie und wo sie diese Freizeit verbrächten. Insoweit übernimmt das LAG Schleswig-Holstein also die entsprechenden Feststellungen des LAG Thüringen im Urteil vom 16.5.201869. Dabei komme es nicht darauf an, dass das Lesen einer SMS nur einen zeitlich minimalen Aufwand erfordere. Arbeit werde nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich geringfügigem Umfang anfalle. Das Recht auf Unerreichbarkeit diene neben der 67 Vgl. bereits BAG v. 18.3.2020 – 5 AZR 36/19, NZA 2022, 869 Rz. 15. 68 Vgl. Bayreuther, NZA-Beil. 2018/4, 103, 107. 69 LAG Thüringen v. 16.5.2018 – 6 Sa 442/17, MDR 2018, 1194 Rz. 43.
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Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
Gewährleistung des Gesundheitsschutzes des Arbeitnehmers durch Sicherstellung ausreichender Ruhezeiten auch dem Persönlichkeitsschutz. Es sei also auch dann zu beachten, wenn – was vorliegend der Fall war – die Ruhezeiten nach § 5 Abs. 1 ArbZG durch die Arbeitsaufnahme nicht unterbrochen werden, weil diese zum Zeitpunkt der Dienstplanänderung bereits abgelaufen war70. Auf dieser Grundlage geht das LAG Schleswig-Holstein auch davon aus, dass sich der Kläger nicht treuwidrig verhalten habe, als er darauf bestand, in seiner Freizeit keiner dienstlichen Tätigkeit nachzugehen. Im Gegenteil: Die Beklagte verhalte sich widersprüchlich, wenn sie einerseits dem Kläger Freizeit gewähre und andererseits von ihm verlange, Arbeitsleistung zu erbringen. Die von der Beklagten angenommene Nebenpflicht des Klägers, sich in seiner Freizeit nach seinen Dienstzeiten zu erkundigen, bestehe nicht. Insofern sei auch die Abmahnung, die auf dieser Annahme beruhte, rechtswidrig gewesen. Da der Kläger – so das LAG Schleswig-Holstein – damit auch seine Arbeitsleistung zum ursprünglich vorgegebenen Zeitpunkt ordnungsgemäß angeboten hatte, habe sich die Beklagte außerdem im Annahmeverzug befunden und sei verpflichtet gewesen, eine entsprechende Zeitgutschrift auf dem Arbeitszeitkonto zu erteilen. Soweit der Kläger die Arbeitszeitänderung auf diese Weise verspätet erfahren und den Dienst deshalb auch verspätet angetreten hatte, lag – so das LAG Schleswig-Holstein – somit auch ein Verzugsschadensersatzanspruch vor. Dieser verpflichte die Beklagte, auf dem Arbeitszeitkonto eine Gutschrift für die Zeit zwischen der verspäteten Mitteilung der geänderten Dienstzeiten und dem tatsächlichen Dienstantritt zu erteilen. Denn die Beklagte habe mit ihrem Verhalten die aus § 242 Abs. 2 BGB resultierende Pflicht verletzt, dem Kläger den Beginn seiner Dienstzeit so rechtzeitig mitzuteilen, dass er den Arbeitsort noch pünktlich aufsuchen könne, um dort seine Arbeitsleistung aufzunehmen und damit „sein Geld zu verdienen”. Da ihr diese Mitteilung im konkreten Fall auch zu einem früheren Zeitpunkt, als der Kläger noch bei ihr arbeitete, möglich gewesen wäre, sei auch von Verschulden auszugehen. Auch in diesem Fall erscheint das Ergebnis der Entscheidung zwar insbesondere deshalb nicht zwingend, weil die Vorgaben der entsprechenden Betriebsvereinbarung keine ausreichende Berücksichtigung gefunden haben. Schlussendlich dürfte es aber richtig sein, dem Arbeitgeber das Risiko aufzuerlegen, dass Weisungen in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsort, die den Arbeitnehmer während seiner Freizeit erreichen sollen, nicht zugehen. Dies gilt jeden-
70 LAG Schleswig-Holstein v. 27.9.2022 – 1 Sa 39 öD/22, NZA-RR 2022, 624 Rz. 64 f.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
falls dann, wenn der Arbeitnehmer keine Möglichkeit zu ihrer Kenntnisnahme gehabt hat. Bestand die Möglichkeit der Kenntnisnahme und hat der Arbeitnehmer den Eingang einer Nachricht zur Kenntnis genommen, wird man allerdings – abweichend von den Feststellungen des LAG Schleswig-Holstein – von einer Pflicht zur Durchsicht der Nachricht des Arbeitgebers ausgehen müssen, die ihre Grundlage in § 241 Abs. 2 BGB findet. Da wegen der Notwendigkeit einer Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls aber durchaus Zweifel bestehen können, dürfte es hilfreich sein, diese Verpflichtung in einer Betriebsvereinbarung, die entsprechende Veränderungen eines Dienstplans behandelt, noch einmal ausdrücklich festzuschreiben. Wenn und soweit die erforderlichen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung der Angemessenheit berücksichtigt werden, ist dies auch mit § 75 BetrVG vereinbar. Geht die Nachricht des Arbeitgebers zwar auf einem Endgerät des Arbeitnehmers ein, nimmt dieser von dem Eingang der Nachricht allerdings keine Kenntnis, wird man in Übereinstimmung mit den Feststellungen des LAG Schleswig-Holstein aber keinen Zugang der Nachricht des Arbeitgebers annehmen können. Es muss für den Arbeitnehmer möglich sein, sein Recht auf Unerreichbarkeit während der Freizeit so wahrzunehmen, dass er mobile Endgeräte – unabhängig von etwaigen Nachrichten Dritter – generell nicht benutzt und/oder Nachrichten zur Kenntnis nimmt71.
e)
Entgegennahme von Weisungen des Arbeitgebers als Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne
Wenn man – in Übereinstimmung mit dem LAG Schleswig-Holstein – die Entgegennahme und Durchsicht einer Nachricht des Arbeitgebers, durch die Veränderungen in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsort bewirkt werden, als Arbeit i. S. d. § 611 a BGB qualifiziert, stellt sich die Folgefrage, ob darin auch Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne zu sehen ist. Folgt man einem Teil der Literatur, ist jedenfalls bei kurzfristigen Unterbrechungen der Freizeit nicht von einer solchen Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne auszugehen, die dann auch eine Unterbrechung der Ruhezeit zur Folge hätte. Zur Begründung wird insoweit auf den Gesetzeszweck verwiesen, der den Rückschluss erlaube, dass der Erholungszweck durch derart kurzzeitige Unterbrechungen nicht gefährdet sei72.
71 Dohrmann, BB 2022, 2229; Falder, NZA 2010, 1150; Maier/Ossoinig, DB 2015, 2392. 72 So Baeck/Deutsch/Winzer, ArbZG § 5 Rz. 14; Besselt/Domke/Wisskirchen, DB 2010, 2052, 2054; Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025, 1028.
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Schranken einer Dienstplanänderung durch das Recht auf Unerreichbarkeit
Folgt man allerdings der Gegenauffassung, kommt es auf die Dauer der Inanspruchnahme durch das Lesen einer SMS oder einer E-Mail bzw. die Entgegennahme eines Anrufs nicht an. Dies folge bereits daraus, dass sich der Begriff einer „geringfügigen Inanspruchnahme” nicht rechtssicher definieren lasse. Hinzu komme, dass letztlich nicht nur die Dauer eines solchen Lesevorgangs entscheidend sei. Vielmehr könne es auch auf den Inhalt des Kommunikationsvorgangs ankommen, wenn daraus auf eine Belastung des Arbeitnehmers während seiner Freizeit geschlossen werden müsse73. Abweichend von der erstgenannten Auffassung komme es deshalb auf den Grad der körperlichen Beanspruchung, der auch im Zusammenhang mit der Kennzeichnung von Reisezeit als arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit maßgeblich ist74, nicht an. Konsequenz der Kennzeichnung solcher Unterbrechungen als Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne ist allerdings nicht nur, dass als Folge entsprechender Kontaktaufnahmen möglicherweise die Einhaltung der Ruhezeit nach § 5 ArbZG nicht mehr gewährleistet ist. Wenn eine diesbezügliche Nachricht den Arbeitnehmer an einem Urlaubstag erreicht, stellt sich weitergehend die Frage, ob dies dem Urlaubszweck entgegensteht, so dass als Folge des Lesens der Nachricht der Urlaubstag nicht verbraucht wird75.
f)
Fazit
Die beiden Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte zeigen noch einmal sehr deutlich, dass die Kommunikation mit Arbeitnehmern während ihrer Freizeit keine Selbstverständlichkeit ist. Grundsätze, die der BGH mit Blick auf den Zugang von E-Mails entwickelt hat76, über die wir berichtet hatten77, sind auf entsprechende E-Mails, Textnachrichten oder Anrufe nicht übertragbar. Dies dürfte erst dann gelten, wenn der Arbeitgeber eine solche Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Denn es dürfte schwierig sein, den Arbeitnehmer in angemessener Weise zu verpflichten, auch in seiner Freizeit für den Arbeitgeber jederzeit erreichbar zu sein. Vertretbar erscheint allerdings, den Arbeitnehmer auf individual- oder kollektivrechtlicher Ebene zu verpflichten, Nachrichten, deren Eingang er in seiner 73 So Buschmann/Ulber, ArbZG § 5 Rz. 2; Bayreuther, NZA-Beil. 2018/4, 103, 107; Falder, NZA 2010, 1150, 1152; Wiebauer, NZA 2016, 1430, 1433. 74 B. Gaul, AktuellAR 2022, 136 ff. 75 Hierzu vgl. BAG v. 19.5.2009 – 9 AZR 433/08, NZA 2009, 1211 Rz. 17; HWK/Gäntgen, ArbZG § 5 Rz. 2 a ff.; Maier/Ossoinig, DB 2015, 2392. 76 Vgl. BGH v. 6.10.2022 – VII ZR 895/21, NJW 2022, 3791. 77 B. Gaul, AktuellAR 2022, 483 ff.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Freizeit zur Kenntnis genommen hat, auch inhaltlich zu lesen. In diesen Fällen wird man insoweit auch von einem Zugang ausgehen können, selbst wenn der Anlass für die entsprechende Erklärung des Arbeitgebers eigentlich den Eingriff in die Freizeit und das damit verbundene Recht auf Unerreichbarkeit nicht rechtfertige. Dies sei aber eine Frage des Schadensersatzes, nicht des Zugangs der Willenserklärung und der damit verbundenen Gestaltung der arbeitnehmerseitigen Pflichten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses gemäß § 106 S. 1 GewO. (Ga)
3.
Geschlechtsbezogene Entgeltdiskriminierung: Gleichbehandlung und Entschädigung
Art. 157 Abs. 1 AEUV verpflichtet jeden Mitgliedstaat, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicherzustellen, der auch in Art. 23 GRC seinen Niederschlag gefunden hat. Danach ist die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. Diesem Gebot trägt außerdem die Richtlinie 2006/54/EG (Gleichbehandlungsrichtlinie) Rechnung, die vorsieht, dass bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit eine mittelbare und unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts in Bezug auf sämtliche Entgeltbestandteile zu beseitigen ist (Art. 14 Abs. 1 lit. c78). Die erforderliche Umsetzung von Art. 2 Abs. 1 lit. e, Art. 4 Gleichbehandlungsrichtlinie in das innerstaatliche Recht wurde in Deutschland mit §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 4, 5 Abs. 1, 7 EntgTranspG79 vollzogen, das am 6.7.2017 in Kraft getreten ist80. Entsprechend Art. 4 Abs. 1 Gleichbehandlungsrichtlinie ist nach § 3 Abs. 1 EntgTranspG bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts im Hinblick auf sämtliche Entgeltbestandteile und Entgeltbedingungen verboten. § 5 Abs. 1 EntgTranspG bezeichnet in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 1 lit. e Gleichbehandlungsrichtlinie als Entgelt alle Grund- oder Mindestarbeitsentgelte sowie alle sonstigen Vergütungen, die unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden81. Eine unmittelbare Entgeltbenachteiligung liegt vor, wenn ein Beschäftigter 78 Vgl. dazu ausf. BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 19; BAG v. 25.6.2020 – 8 AZR 145/19, NZA 2020, 1613 Rz. 63 ff. 79 BGBl. I 2017, 2152. 80 BT-Drucks. 18/11133 S. 28, 45. 81 BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 20; BAG v. 25.6.2020 – 8 AZR 145/19, NZA 2020, 1613 Rz. 52, 67.
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Geschlechtsbezogene Entgeltdiskriminierung: Gleichbehandlung und Entschädigung
wegen des Geschlechts bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit ein geringeres Entgelt erhält, als ein Beschäftigter des jeweils anderen Geschlechts erhält, erhalten hat oder erhalten würde (§ 3 Abs. 2 EntgTranspG). Das in § 7 EntgTranspG vorgesehene Entgeltgleichheitsgebot bestimmt, dass bei Beschäftigungsverhältnissen für gleiche oder gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechts des Beschäftigten ein geringeres Entgelt vereinbart oder gezahlt werden darf als bei einem Beschäftigten des anderen Geschlechts. Von gleicher Arbeit ist auszugehen, wenn Beschäftigte an verschiedenen Arbeitsplätzen oder nacheinander an demselben Arbeitsplatz eine identische oder gleichartige Tätigkeit ausführen (§ 4 Abs. 1 EntgTranspG). Gleichwertige Arbeit liegt nach § 4 Abs. 2 EntgTranspG vor, wenn weibliche und männliche Beschäftigte unter Zugrundelegung einer Gesamtheit von Faktoren als in einer vergleichbaren Situation befindlich angesehen werden können. Zu den zu berücksichtigenden Faktoren gehören unter anderem die Art der Arbeit, die Ausbildungsanforderungen und die Arbeitsbedingungen. Es ist von den tatsächlichen, für die jeweilige Tätigkeit wesentlichen Anforderungen auszugehen, die von den ausübenden Beschäftigten und deren Leistungen unabhängig sind. Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts bildet unmittelbar Art. 157 AEUV82, aber auch § 3 Abs. 1 i. V. m. § 7 EntgTranspG. Eine auf diese Vorschriften gestützte Klage ist auf Zahlung gleichheitswidrig vorenthaltener Vergütung gerichtet, womit die Gleichbehandlung hergestellt wird83. In der prozessualen Auseinandersetzung über die gleichheitswidrig vorenthaltene Vergütung trägt die klagende Partei grundsätzlich die Beweislast dafür, dass ein Arbeitgeber ihr ein niedrigeres Entgelt zahlt als ihren zum Vergleich herangezogenen Kollegen und dass sie tatsächlich die gleiche oder gleichwertige, mit deren Arbeit vergleichbare Arbeit verrichtet, so dass sie dem ersten Anschein nach Opfer einer nur mit dem unterschiedlichen Geschlecht erklärbaren Diskriminierung ist84. In Übereinstimmung mit Art. 19 Abs. 1 Gleichbehandlungsrichtlinie85 enthält dazu § 22 AGG für den Rechtsschutz bei Dis-
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EuGH v. 8.5.2019 – C-486/18, NZA 2019, 1131 Rz. 67 – Praxair MRC. BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 75. EuGH v. 28.2.2013 – C-427/11, NZA 2013, 315 Rz. 19 – Kenny. Vgl. dazu auch Erwägungsgrund 30 Gleichbehandlungsrichtlinie: Der Erlass von Bestimmungen zur Beweislast ist wesentlich, um sicherzustellen, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung wirksam durchgesetzt werden kann. Wie der EuGH entschieden hat, sollten daher Bestimmungen vorgesehen werden, die sicherstellen, dass die Beweislast – außer im Zusammenhang mit Verfahren, in denen die Ermittlung des Sachverhalts
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
kriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast. Da das EntgTranspG – von § 15 Abs. 5 EntgTranspG bei Nichterfüllung der Auskunftspflicht abgesehen – zur Darlegungs- und Beweislast schweigt und in § 2 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG auf das AGG verwiesen wird, schlussfolgert das BAG86 zur gebotenen Umsetzung von Art. 19 Abs. 4 Gleichbehandlungsrichtlinie in nationales Recht, dass § 22 AGG im Rechtsstreit um gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit auch für § 3 Abs. 1 i. V. m. § 7 EntgTranspG anwendbar ist87. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes – etwa wegen des Geschlechts – vermuten lassen, trägt nach § 22 AGG die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Demgemäß ist es zunächst Sache des Anspruchstellers, nachzuweisen, dass der Arbeitgeber ihm ein niedrigeres Entgelt zahlt als seinen zum Vergleich herangezogenen Kollegen, obwohl er die gleiche oder gleichwertige Arbeit wie diese verrichtet, um damit die (widerlegbare) Vermutung einer Benachteiligung wegen des Geschlechts zu begründen88, wobei bereits die Mitursächlichkeit für eine entsprechende Kausalitätsvermutung genügt89. Gelingt dies, trägt der Arbeitgeber die Beweislast mit dem Beweismaß des Vollbeweises dafür, dass die Ungleichbehandlung ausschließlich auf anderen Gründen als dem unterschiedlichen Geschlecht der Arbeitnehmer beruht. Die fragliche Praxis muss durch objektive Faktoren gerechtfertigt sein, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben90. Die vorgebrachte Rechtfertigung muss auf einem legitimen Ziel beruhen. Die zu dessen Erreichung gewählten Mittel müssen hierzu geeignet und erforderlich sein91.
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dem Gericht oder der zuständigen nationalen Stelle obliegt – auf die beklagte Partei verlagert wird, wenn der Anschein einer Diskriminierung besteht. BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 24 ff. Vgl. auch BT-Drucks. 18/11133 S. 48: Für entgeltbezogene Benachteiligungen wegen des Geschlechts geht das EntgTranspG dem AGG dann als lex specialis vor, wenn es eine abschließende Regelung trifft. EuGH v. 28.2.2013 – C-427/11, NZA 2013, 315 Rz. 19 – Kenny; BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 28. St. Rspr. BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 50; BAG v. 26.6.2020 – 8 AZR 75/19, NZA 2020, 1626 Rz. 24. So bereits EuGH v. 3.10.2006 – C-17/05, NZA 2006, 1205 Rz. 31 – Cadman; BAG v. 21.1.2021 – 8 AZR 488/19, NZA 2021, 1011 Rz. 31. EuGH v. 3.10.2006 – C-17/05, NZA 2006, 1205 Rz. 32 – Cadman.
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Geschlechtsbezogene Entgeltdiskriminierung: Gleichbehandlung und Entschädigung
Die Entgeltgleichheit von Männern und Frauen war erneut Gegenstand einer Entscheidung des 8. Senats des BAG vom 16.2.202392. Die Klägerin war seit dem 1.3.2017 bei der Beklagten als Außendienstmitarbeiterin im Vertrieb beschäftigt. Ihr einzelvertraglich vereinbartes Grundentgelt betrug anfangs 3.500 EUR (brutto) monatlich. Neben der Klägerin war zum 1.1.2017 ein männlicher Außendienstmitarbeiter P eingestellt worden. Diesem hatte die Beklagte ebenfalls ein Grundentgelt von 3.500 EUR (brutto) monatlich angeboten, das dieser ablehnte und für die Zeit bis zum Einsetzen einer zusätzlichen leistungsabhängigen Vergütung ab dem 1.11.2017 ein Grundentgelt von 4.500 EUR verlangte. Dem stimmte die Beklagte zu. Den vertraglichen Vereinbarungen entsprechend zahlte die Beklagte P vom 1.1.2017 bis zum 31.10.2017 ein monatliches Grundgehalt von 4.500 EUR (brutto), ab dem 1.11.2017 ein monatliches Grundgehalt wie der Klägerin von 3.500 EUR nebst der ab diesem Zeitpunkt wirksam werdenden erfolgsabhängigen Entgeltkomponente. Die Beklagte vereinbarte mit P zum 1.7.2018 eine Erhöhung des monatlichen Grundentgelts auf 4.000 EUR (brutto) mit der Begründung, dieser habe die Nachfolge einer ausgeschiedenen, besser vergüteten Vertriebsmitarbeiterin angetreten. Ab dem 1.8.2018 richtete sich die Vergütung der Klägerin und des Mitarbeiters P nach einem von der Beklagten abgeschlossenen Haustarifvertrag, der nach der für die Klägerin und den Mitarbeiter P maßgebenden Entgeltgruppe ein Grundentgelt i. H. v. 4.140 EUR (brutto) monatlich vorsah. Aufgrund einer tarifvertraglichen Deckelungsregelung bis 2020 erhielt die Klägerin ein Grundentgelt i. H. v. 3.620 EUR (brutto) monatlich, während der Mitarbeiter P in der gleichen Entgeltgruppe des Haustarifvertrags monatlich 4.120 EUR (brutto) bezog. Mit ihrer Klage hat die Klägerin aufgrund einer Benachteiligung wegen des Geschlechts für die Zeit von März bis Oktober 2017 monatlich 1.000 EUR (brutto), für den Monat Juli 2017 500 EUR (brutto) sowie für die Zeit von August 2018 bis Juli 2019 monatlich 500 EUR (brutto) rückständige Vergütung von der Beklagten beansprucht und außerdem eine angemessene Entschädigung von mindestens 6.000 EUR wegen ihrer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts verlangt. Das ArbG Dresden und das LAG Sachsen93 haben die Klage abgewiesen. Das BAG94 hat der Zahlungsklage entsprochen und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG i. H. v. 2.000 EUR zu zahlen und die weitergehende Entschädigungsklage abgewiesen. Als An-
92 BAG v. 16.2.2023 – 8 AZR 450/21 n. v. 93 LAG Sachsen v. 3.9.2021 – 1 Sa 358/19 n. v. 94 BAG v. 16.2.2023 – 8 AZR 450/21 n. v.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
spruchsgrundlage für die Zahlung der rückständigen Vergütung unter dem Gesichtspunkt der Benachteiligung wegen des Geschlechts zieht das BAG Art. 157 AEUV95, aber auch § 3 Abs. 1 und § 7 EntgTranspG heran. Dem Ziel des EntgTranspG entsprechend, das Gebot des gleichen Entgelts für Frauen und Männer bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durchzusetzen, bestimmt § 7 EntgTranspG, dass bei Beschäftigungsverhältnissen für gleiche oder gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechts des Beschäftigten ein geringeres Entgelt vereinbart oder gezahlt werden darf als bei einem Beschäftigten des anderen Geschlechts. Dabei geht das BAG von der zwischen den Parteien unstreitigen Tatsache aus, dass die Klägerin und der mit ihr vergleichbare männliche Kollege eine gleichwertige Arbeit während der Nachzahlungszeiträume geleistet haben. Da zudem unbestritten war, dass der männliche Kollege im Gegensatz zur Klägerin über den Zeitraum von acht Monaten ein um 1.000 EUR höheres Grundentgelt und danach ein um 500 EUR höheres Grundentgelt von der Beklagten bezogen hat, hat die Klägerin damit nach dem im Rechtsstreit um gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit anwendbaren § 22 AGG Indizien bewiesen, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechts (widerlegbar) vermuten ließen. Die Beklagte musste daher den Nachweis erbringen, dass die Ungleichbehandlung ausschließlich auf anderen Gründen als dem unterschiedlichen Geschlecht der Arbeitnehmer basiert, d. h. Rechtfertigungsgründe vortragen, die auf einem legitimen Ziel beruhen und die zu dessen Erreichung gewählten Mittel als geeignet und erforderlich begründen96. Soweit sich die Beklagte damit rechtfertigen wollte, dass bezüglich des höheren Grundentgelts der männliche Kollege der Klägerin besser verhandelt habe und später einer besser vergüteten ausgeschiedenen Arbeitnehmerin nachgefolgt sei, hat das BAG diese Begründungen nicht als Rechtfertigungsgründe gelten lassen. Dieser Bewertung ist uneingeschränkt beizutreten. Die gesetzliche Anordnung aus § 7 EntgTranspG, für gleiche oder gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechtes ein geringeres Entgelt zu vereinbaren oder zu gewähren, stellt eine legitime Einschränkung der Vertragsfreiheit und auch der Tarifautonomie als Teil der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG dar97. Angesichts dessen kann sich der Arbeitgeber nicht auf die Vertragsfreiheit und das darauf beruhende Verhandlungsgeschick als Rechtfertigungsgrund 95 EuGH v. 8.5.2019 – C-486/18, NZA 2019, 1131 Rz. 67 – Praxair MRC. 96 EuGH v. 3.10.2006 – C-17/05, NZA 2006, 1205 Rz. 32 – Cadman. 97 Dazu BT-Drucks. 18/11133 S. 49: Das Verbot der Entgeltungleichbehandlung wegen des Geschlechts gilt daher umfassend, d. h. der einzelne privatrechtliche Arbeitsvertrag oder öffentlich-rechtliche Dienstvertrag unterliegt ebenso dem Entgeltgleichheitsgebot wie etwa ein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung.
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Geschlechtsbezogene Entgeltdiskriminierung: Gleichbehandlung und Entschädigung
berufen. Ebenso wenig geeignet als Rechtfertigungsgrund erweist sich damit der Hinweis, der Vorgänger des männlichen Kollegen habe eine höhere Grundvergütung bezogen. Das hat objektiv mit dem Arbeitswert und der damit verbundenen Wertschöpfung des Arbeitnehmers, die mit der Vergütung entlohnt werden soll, nichts zu tun. Da die Beklagte nach § 22 AGG die Ungleichbehandlung der Klägerin wegen des Geschlechts nicht widerlegen konnte, waren zugleich die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG erfüllt, so dass die Beklagte eine entsprechende Verurteilung zur Entschädigungszahlung nicht abweisen konnte. Die Geltung der Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche nach § 15 AGG bleibt neben dem EntgTranspG unberührt, soweit das AGG nicht durch speziellere Regelungen des EntgTranspG verdrängt wird98. Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt werden, wozu Benachteiligungen wegen des Geschlechts gehören. Gerade auf vertraglicher Ebene der Vergütungsregelung – und das gilt für sämtliche Entgeltbestandteile (§ 5 Abs. 1 EntgTranspG) – wird die betriebliche Praxis bei Entgeltdifferenzierungen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit, die sich objektiv nachteilig auf weibliche oder männliche Beschäftigte auswirken, aufgrund der Entscheidung des BAG sehr genau überprüfen müssen, ob dafür legitime objektive und damit nachprüfbare Kriterien bestehen, die nichts mit einer Diskriminierung wegen des Geschlechts zu tun haben. In diesem Zusammenhang hat bereits der EuGH99 den Rückgriff auf das Kriterium des Dienstalters (Anciennität) als entgeltbestimmenden Faktor als Rechtfertigungsgrund anerkannt, wenn die Anwendung dieses Faktors Ungleichheiten bei der Vergütung zwischen zu vergleichenden männlichen und weiblichen Arbeitnehmern nach sich zieht. Es sei ein legitimes Ziel der Entgeltpolitik, unter anderem die Berufserfahrung zu honorieren, die den Arbeitnehmer befähigt, seine Arbeit besser zu verrichten. Daher stünde es dem Arbeitgeber frei, das Dienstalter bei der Vergütung zu berücksichtigen, ohne dass er dessen Bedeutung für die Ausführung der dem Arbeitnehmer übertragenen spezifischen Aufgaben darlegen müsse. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der Arbeitnehmer Anhaltspunkte dafür liefert, ernstliche Zweifel in dieser Hinsicht aufkommen zu lassen.
98 BT-Drucks. 18/11133 S. 48 zu § 2 Abs. 2 EntgTranspG: Für entgeltbezogene Benachteiligungen wegen des Geschlechts geht das EntgTranspG dem AGG dann als lex specialis vor, wenn es eine abschließende Regelung trifft. 99 EuGH v. 3.10.2006 – C-17/05, NZA 2006, 1205 Rz. 33 ff. – Cadman.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Zu denken ist auch daran, dass die in § 3 Abs. 3 EntgTranspG als rechtmäßige Ziele vom Gesetzgeber selbst bezeichneten arbeitsmarkt-, leistungs- und arbeitsergebnisbezogenen Kriterien ein unterschiedliches Entgelt rechtfertigen können, sofern die dafür eingesetzten Mittel angemessen und erforderlich sind. (Boe)
4.
Anspruch auf Lohngleichheit bei geringfügiger Beschäftigung
Nach der zwingenden Regelung (§ 22 TzBfG) des § 4 Abs. 1 TzBfG darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Mit dieser Regelung wird § 4 Nrn. 1, 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (Teilzeitrichtlinie)100 in deutsches Recht umgesetzt101. Der Präambel der Rahmenvereinbarung gemäß soll diese einen allgemeinen Rahmen für die Beseitigung von Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten schaffen und einen Beitrag zur Entwicklung der Teilzeitarbeitsmöglichkeiten auf einer für Arbeitgeber und Arbeitnehmer akzeptablen Grundlage leisten. Dabei wird durch § 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG für den Bereich des Entgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung konkretisiert, mit der Rechtsfolge, dass Teilzeitbeschäftigten Arbeitsentgelt mindestens in dem Umfang zu gewähren ist, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht102. Der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG führt dazu, dass die diskriminierende Regelung nach § 134 BGB nichtig ist. Für die Vergangenheit kann die Diskriminierung allein durch eine Anpassung nach oben beseitigt werden, weil die begünstigende Regelung das einzig gültige Bezugssystem für eine Kompensation der Benachteiligung bleibt103. Den Angehörigen der benachteiligten
100 101 102 103
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ABl. EG 1998, L 14, 9. BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57 Rz. 39. BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57 Rz. 49. BAG v. 22.10.2019 – 9 AZR 71/19, NZA 2020, 255 Rz. 39; BAG v. 27.4.2017 – 6 AZR 119/16, NZA 2017, 1116 Rz. 44 ff.
Anspruch auf Lohngleichheit bei geringfügiger Beschäftigung
Gruppe müssen daher die gleichen Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der privilegierten Gruppe104. Ausgangspunkt der Prüfung eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ist zunächst, ob Teilzeitbeschäftigte wegen der Teilzeitarbeit gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten benachteiligt werden, was voraussetzt, dass die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft105. Vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer i. S. v. § 4 Abs. 1 TzBfG sind nach § 2 Abs. 1 S. 3 TzBfG Arbeitnehmer mit derselben Art des Arbeitsverhältnisses und der gleichen oder einer ähnlichen Tätigkeit. Ob Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts benachteiligt werden, hat das BAG106 in jüngerer Rechtsprechung unter Bezugnahme auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Elsner-Lakeberg107 nicht auf die Gesamtvergütung, sondern vielmehr gesondert auf die jeweiligen einzelnen Vergütungsbestandteile bezogen108. Ist eine Benachteiligung i. S. v. § 4 Abs. 1 TzBfG zu bejahen, muss in einem weiteren Schritt untersucht werden, ob diese unterschiedliche Behandlung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist, die es erlauben, vom pro-rata-temporis-Grundsatz abzuweichen. So sieht auch § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit eine Ausnahme vom Benachteiligungsverbot Teilzeitbeschäftigter dann vor, wenn die unterschiedliche Behandlung aus objektiven Gründen gerechtfertigt ist. Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, ob ein mit der Vergütung verfolgter legitimer Zweck erlaubt, den pro-rata-temporis-Grundsatz aufzugeben. Eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten kann nach Ansicht des BAG109 nur gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt, was häufig erst durch Auslegung der zugrunde liegenden Vergütungsregelung zu ermitteln ist. In unionskonformer Auslegung ist der Begriff „objektive Gründe“ i. S. v. § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über 104 EuGH v. 28.1.2015 – C-417/13, NZA 2015, 217 Rz. 46 m. w. N. – Starjakob. 105 BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57 Rz. 49; BAG v. 29.1.2020 – 4 ABR 26/19, NZA 2020, 813 Rz. 30. 106 BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790 Rz. 51 ff.; BAG v. 23.3.2017 – 6 AZR 161/16, NZA-RR 2018, 45 Rz. 53. 107 EuGH v. 27.5.2004 – C-285/02, NZA 2004, 783 Rz. 15, 17 – Elsner-Lakeberg. 108 Siehe aber das Vorabentscheidungsersuchen BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57. 109 Vgl. etwa BAG v. 22.10.2019 – 9 AZR 71/19, NZA 2020, 255 Rz. 32; BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790 Rz. 66; BAG v. 23.3.2017 – 6 AZR 161/16, NZA-RR 2018, 45 Rz. 55.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Teilzeitarbeit so zu verstehen, dass die in Rede stehende Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entsprechen und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sein muss110. Eine entsprechende Interpretation von § 4 Abs. 1 TzBfG ist dem Umstand geschuldet, dass die Gerichte das nationale Recht bei seiner Anwendung so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen müssen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen111. Die Lohngleichheit bei Teilzeitbeschäftigung war erneut Gegenstand einer Entscheidung des 5. Senats des BAG vom 18.1.2023112. Der Fall betrifft einen Kläger, der als sog. nebenamtlicher Rettungsassistent im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses mit durchschnittlich 16 Stunden im Monat bei der Beklagten gegen eine Stundenvergütung von 12 EUR (brutto) tätig war. WhatsApp-Anfragen bezüglich zu besetzender Dienste mussten nicht angenommen werden. Sog. hauptamtlichen Rettungsassistenten in Vollzeit und Teilzeit zahlt die Beklagte eine Stundenvergütung von 17 EUR (brutto). Im Gegensatz zu den hauptamtlichen Rettungsassistenten konnten die nebenamtlichen Rettungsassistenten Wunschtermine für Einsätze benennen, denen die Beklagte versuchte zu entsprechen. Mit seiner Klage hat der Kläger unter Berufung auf das Benachteiligungsverbot aus § 4 TzBfG die Differenzvergütung zwischen 12 EUR und 17 EUR i. H. v. 3.285,88 EUR (brutto) für die Zeit von Januar 2020 bis April 2021 verlangt. Die Beklagte hat die Vergütungsdifferenz mit größerer Planungssicherheit und weniger Planungsaufwand begründet. Das ArbG München113 hat die Klage abgewiesen. Das LAG München114 hat die Beklagte zur Zahlung der geforderten Vergütung verurteilt. Die Revision der Beklagten blieb ohne Erfolg. Das BAG stellt zunächst die Vergleichbarkeit der bei der Beklagten beschäftigten nebenamtlichen und hauptamtlichen Rettungsassistenten fest, weil sie mit derselben Art von Tätigkeiten bei gleicher Qualifikation betraut waren. Da sämtliche in Vollzeit beschäftigten Rettungsassistenten von der Beklagten eine um 5 EUR höhere Stundenvergütung erhielten, differenzierte die Beklagte die Höhe der Vergütung nach der Dauer der Arbeitszeit, so dass der Kläger i. S. v. § 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG benachteiligt wurde. Dass die Beklagte auch den in Teilzeit tätigen hauptamtlichen Rettungsassistenten einen Stundensatz von 17 EUR bezahlte, ändert an der Be-
110 111 112 113 114
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EuGH v. 1.3.2012 – C-393/10, NZA 2012, 313 Rz. 64 – O’Brien. EuGH v. 24.1.2012 – C-282/10, NZA 2012, 139 Rz. 24 – Dominguez. BAG v. 18.1.2023 – 5 AZR 108/22 n. v. ArbG München v. 28.7.2021 – 36 Ca 9963/20 n. v. LAG München v. 19.1.2022 – 10 Sa 582/21, ZTR 2022, 386.
Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter bei Überstunden- und Mehrarbeitszuschlägen
nachteiligung des nebenamtlich als Rettungsassistent geringfügig beschäftigten Klägers nichts, weil die unterschiedliche Behandlung einer Gruppe teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer gegenüber den vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern nicht dadurch entfällt, dass der Arbeitgeber eine andere Gruppe teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer nicht benachteiligt115. Damit stellte sich für das BAG die weitere Frage, ob die Vergütungsdifferenzierung zwischen dem nebenamtlich teilzeitbeschäftigten Kläger und den hauptamtlichen vollzeitbeschäftigten Rettungsassistenten sachlich gerechtfertigt war, mithin die Ungleichbehandlung aus objektiven Gründen einem echten Bedürfnis entsprach und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich war. Die hierfür von der Beklagten angeführten Gründe der größeren Planungssicherheit und eines geringeren Planungsaufwands für die Vollzeitkräfte sowie die den nebenamtlichen Teilzeitkräften eingeräumte höhere Flexibilität in der Wahl der konkreten Arbeitszeiten hat das BAG als Sachgründe für die Ungleichbehandlung bei der Vergütung nicht überzeugen können. Die reklamierte Planungssicherheit und der Planungsaufwand des Arbeitseinsatzes der Arbeitnehmer beruhen auf dem im Rahmen gesetzlicher Vorgaben auszuübenden Direktionsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO) und sind Ausdruck einer normalen Betriebsorganisation, ohne die Art oder den Arbeitswert der Arbeitsleistung und damit die Vergütung zu beeinflussen. Insoweit weist das BAG darauf hin, dass die nebenamtlichen Rettungsassistenten zudem weder nach der Lage noch nach zeitlichem Umfang Anspruch auf Zuweisung der gewünschten Dienste hatten. Dass sich ein Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers zu bestimmten Dienstzeiten einfinden muss, rechtfertigt nach überzeugender Ansicht des BAG keine höhere Stundenvergütung gegenüber einem Arbeitnehmer, der darin frei ist, Dienste anzunehmen oder abzulehnen. Angesichts dieser Bewertung war die diskriminierende Vergütungsregelung des Klägers gemäß § 134 BGB nichtig und an die für hauptamtlich vollzeitbeschäftigte Rettungsassistenten geltende Vergütung anzupassen. (Boe)
5.
Nochmals: Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter bei Überstunden- und Mehrarbeitszuschlägen
Nach § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine 115 BAG v. 19.1.2016 – 9 AZR 564/14, NZA 2016, 776 Rz. 15; BAG v. 10.2.2015 – 9 AZR 53/14, NZA 2015, 1005 Rz. 17.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Mit § 4 Abs. 1 TzBfG hat der Gesetzgeber § 4 Nrn. 1, 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (Teilzeitrichtlinie)116 umgesetzt, so dass § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG unionsrechtskonform auszulegen ist (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Nach § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit dürfen Teilzeitbeschäftigte in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt. Ob tarifvertragliche Bestimmungen, die eine zusätzliche Vergütung – etwa Überstundenzuschläge bei vergleichbaren Arbeitnehmern – davon abhängig machen, dass dieselbe Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird, ohne zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu differenzieren, gegen das Benachteiligungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG mit der Folge der Rechtsunwirksamkeit verstoßen, wenn darin eine nicht gerechtfertigte schlechtere Behandlung von Teilzeit- gegenüber Vollzeitbeschäftigten liegt, hat das BAG117 in jüngerer Zeit wiederholt beschäftigt. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die Gesamtvergütung oder der einzelne Entgeltbestandteil der zusätzlichen Vergütung den methodischen Ansatz nach § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit bei der Feststellung einer ungünstigeren Behandlung von Teilzeitbeschäftigten bildet. Der 10. Senat des BAG118 hat ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH119 gerichtet, mit dem geklärt werden soll, nach welcher Methodik zu ermitteln ist, ob eine nationale Vorschrift zu einer schlechteren Behandlung von Teilzeitbeschäftigten i. S. v. § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit hinsichtlich des Entgelts führt. Veranlasst ist dieses Ersuchen durch die Zahlungsklage eines Flugkapitäns, der bei der beklagten Fluggesellschaft mit 90 % der vollen Arbeitszeit gegen ein um 10 % ermäßigtes monatliches Bruttogehalt arbeitete und nach dem maßgebenden Tarifvertrag für das Cockpitpersonal bei Überschreiten bestimmter fester Arbeitsstunden eines Vollzeitbeschäftigten pro Monat eine höhere Mehrflugdienststundenvergütung erhielt. Die Beklagte zahlte dem Kläger erst dann eine Mehrflugdienststundenvergütung, wenn seine Flugdienstzeit die für Vollzeitbeschäftigte bestimmte Zahl von Flugdienststunden überschritt. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass ihm eine Mehrflugdienststunden116 ABl. EG 1998, L 14, 9. 117 BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57; BAG v. 19.12.2018 – 10 AZR 231/18, NZA 2019, 790 Rz. 50 f.; BAG v. 23.3.2017 – 6 AZR 161/16, NZA-RR 2018, 45 Rz. 55, 57 m. w. N. 118 BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57. 119 EuGH v. 4.12.2020 – C-660/20 n. v. – Lufthansa CityLine.
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Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter bei Überstunden- und Mehrarbeitszuschlägen
vergütung bereits dann zustünde, wenn er die entsprechend seinem Teilzeitfaktor abgesenkten Flugdienststunden überschreite, und dass die fehlende proportionale Absenkung der Auslösegrenzen zu einer Ungleichbehandlung führe. Das BAG will in dem Vorlagebeschluss danach differenzieren, ob bei der Beurteilung der Benachteiligung eines teilzeitbeschäftigten gegenüber einem vollzeitbeschäftigten Piloten auf die Gesamtvergütung oder isoliert auf die Mehrflugdienststundenvergütung abzustellen ist. Käme es auf die Gesamtvergütung an, erhielten teilzeitbeschäftigte und vollzeitbeschäftigte Flugzeugführer bei gleicher Flugstundenzahl die gleiche Vergütung, so dass die Klage schon mangels eines Nachteils des teilzeitbeschäftigten Flugzeugführers abzuweisen wäre. Bei isolierter Betrachtung der Mehrflugdienststundenvergütung wäre indes nach Ansicht des BAG eine Ungleichbehandlung anzunehmen, weshalb sich die Prüfung anzuschließen hätte, ob sachliche Gründe diese unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Zwischenzeitlich liegen die Schlussanträge des Generalanwalts vom 1.12.2022120 vor, der dem EuGH vorschlägt, die erste Vorlagefrage des BAG insofern zu beantworten, dass § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit dahin auszulegen ist, dass er einer tarifvertraglichen Bestimmung, nach der eine zusätzliche Vergütung für teilzeitbeschäftigte und vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer einheitlich daran gebunden ist, dass die gleiche Anzahl von Arbeitsstunden überschritten wird, nicht entgegensteht, wenn die gleiche von den teilzeitbeschäftigten und vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern geleistete Stundenzahl für die gleiche Arbeit identisch vergütet wird. Dieses Ergebnis beruht auf einer Analyse der EuGH-Urteile Helmig121, Elsner-Lakeberg122 und Voß123, die im vorliegenden Zusammenhang als einschlägige Rechtsprechung heranzuziehen sind, wovon auch das BAG124 ausgegangen ist. Aus diesen Entscheidungen schlussfolgert der Generalanwalt, dass der EuGH die in der Entscheidung Helmig angewandte Methode unter Berücksichtigung der einzelnen Bestandteile der Vergütung erneut in der letzten Entscheidung Voß herangezogen hat, so dass darauf abzustellen ist, ob der Teilzeitbeschäftigte für die gleiche Anzahl von Stunden geleisteter (gleicher) Arbeit die identische Vergütung erhält wie ein Vollzeitbeschäftigter. Bei dieser Beurteilung sind nach Ansicht des Generalanwalts auch etwaige Bestand120 121 122 123 124
Generalanwalt EuGH v. 1.12.2022 – C-660/20 n. v. – Lufthansa CityLine. EuGH v. 15.12.1994 – C-399/92 u. a., NZA 1995, 218 Rz. 26 ff. – Helmig. EuGH v. 27.5.2004 – C-285/02, NZA 2004, 783 Rz. 15, 17 – Elsner-Lakeberg. EuGH v. 6.12.2007 – C-300/06, NZA 2008, 31 Rz. 36 – Voß. BAG v. 11.11.2020 – 10 AZR 185/20 (A), NZA 2021, 57 Rz. 25 ff.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
teile der Vergütung – wie die Grundvergütung und die Überstundenvergütung – zu untersuchen, was aber nur der Überprüfung dient, ob die Vergütung für die gleiche geleistete Stundenzahl identisch ist. In der Sache Helmig ging es um Teilzeitbeschäftigte, die für die über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus erbrachten Überstunden Gehaltszuschläge forderten, obgleich ein solcher Zuschlag Arbeitnehmern erst zustand, wenn diese die Vollarbeitszeit überschritten hatten. Der EuGH verneinte eine Ungleichbehandlung, wenn die Teilzeitbeschäftigten für die gleiche Anzahl geleisteter Arbeitsstunden die gleiche Vergütung erhielten wie die Vollzeitbeschäftigten. In dem Rechtsstreit Elsner-Lakeberg125 war sowohl für teilzeitbeschäftigte als auch für vollzeitbeschäftigte Lehrer vorgesehen, dass die ersten drei Überstunden nicht als Mehrarbeit vergütet wurden. Die mit 15 Wochenstunden teilzeitbeschäftigte Klägerin beklagte sich darüber, dass zweieinhalb Stunden angeordneter zusätzlicher Arbeit unvergütet blieben. Die Ungleichbehandlung der Klägerin sah der EuGH darin, dass die in Rede stehende Regelung für Teilzeitbeschäftigte eine größere Belastung gegenüber Vollzeitbeschäftigten darstellte, weil die Zahl der zusätzlichen Unterrichtsstunden, ab der ein Anspruch auf Vergütung der Mehrarbeit entstand, nicht proportional zu ihrer Arbeitszeit vermindert worden sei. Der Generalanwalt weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass es überzeugender gewesen wäre, nach den in der Rechtssache Helmig angestellten Erwägungen der Klägerin eine Vergütung für die zweieinhalb Stunden Mehrarbeit zuzusprechen, anstatt eine isolierte Betrachtung der nicht zu vergütenden Überstunden anzustellen. In dem (letzten) Urteil Voß ging es um die Klage einer in Teilzeit beschäftigten Lehrerin, die mehrere Stunden über ihren Teilzeitvertrag hinaus arbeitete, für diese Mehrarbeit aber einen geringeren Stundensatz vergütet erhielt als den für die entsprechende Regelarbeitszeit, was gleichermaßen für die Mehrarbeit von Vollzeitbeschäftigten galt. Nach Ansicht des EuGH wurde die Klägerin allein deshalb benachteiligt, weil ihre Vergütung bei gleicher Anzahl geleisteter Stunden niedriger ausfiel als die eines vollzeitbeschäftigten Lehrers. Aus dieser Rechtsprechungsentwicklung schlussfolgert der Generalanwalt für den vom EuGH noch zu entscheidenden Fall, dass die Vergütung der Flugdienststunden für die unterhalb der einheitlichen Auslösegrenzen geleisteten Dienststunden für beide Kategorien von Arbeitnehmern die gleiche ist. Die Vergütung erhöht sich auch für die oberhalb dieser Grenzen geleisteten Stunden in gleicher Weise. Im Hinblick darauf ergibt sich für die beiden Entgelt-
125 EuGH v. 27.5.2004 – C-285/02, NZA 2004, 783 Rz. 15, 17 – Elsner-Lakeberg.
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Unzulässigkeit eines „Hypotax-Verfahrens“ bei Auslandsentsendungen
bestandteile, dass die gleiche Anzahl von Flugdienststunden auf identische Weise vergütet wird. Es lässt sich natürlich nicht seriös prognostizieren, wie sich der EuGH positionieren wird. Die Argumentation des Generalanwalts überzeugt aber schon deswegen, weil die Tarifvertragsparteien grundsätzlich die Schwelle der Belastung festlegen dürfen, bei deren Überschreitung eine höhere Vergütung angesetzt werden kann. Wenn sich der EuGH dem Votum des Generalanwalts nicht anschließt und der Argumentation des Klägers folgen sollte, wäre der weiteren vom BAG vorgelegten Frage nachzugehen, ob der Ausgleich einer besonderen Arbeitsbelastung eine Abweichung vom pro-rata-temporisGrundsatz rechtfertigen kann. (Boe)
6.
Unzulässigkeit eines „Hypotax-Verfahrens“ bei Auslandsentsendungen im tarifgebundenen Unternehmen
Im Herbst des vergangenen Jahres hatten wir über die Entscheidung des LAG Hamburg vom 3.2.2022126 berichtet127. Darin hatte das LAG Hamburg zunächst einmal angenommen, dass bei einer vorübergehenden Tätigkeit eines Arbeitnehmers im Ausland auch die Regelungen eines Tarifvertrags weiterhin zur Anwendung kommen, wenn und soweit das Arbeitsverhältnis nach wie vor deutschem Arbeitsrecht unterfällt. Konsequenz der weiteren Geltung des Tarifvertrags ist, dass auch der darin geregelte Vergütungsanspruch weiterhin zu erfüllen ist. Dieser Anspruch werde – so das LAG Hamburg – allerdings dann nicht erfüllt, wenn der Arbeitnehmer im Rahmen eines sog. „HypotaxVerfahrens“ für die Dauer der Auslandstätigkeit eine Nettovergütung erhält, die auf der Grundlage einer (fiktiven) Anwendbarkeit des deutschen Steuerrechts berechnet wird, sofern der Arbeitnehmer auf diese Weise nicht (immer) günstiger als bei einer Besteuerung im Einsatzland gestellt wird. Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Tarifvertrag kraft gesetzlicher Tarifbindung zur Anwendung komme, so dass auch das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG zu beachten sei. In den beiden Entscheidungen vom 7.9.2022128 hat der 5. Senat des BAG diese Auffassung bestätigt und die Revision zurückgewiesen.
126 LAG Hamburg v. 3.12.2022 – 3 Sa 29/21, NZA-RR 2022, 475. 127 Vgl. B. Gaul, AktuellAR 2022, 491 ff. 128 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240; BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 502/21, NZA 2023, 249.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Ausgangspunkt der Entscheidungen des BAG ist die Annahme, dass auch während der jeweils etwa zwei bzw. dreieinhalb Jahre dauernden Auslandstätigkeit weiterhin deutsches Arbeitsrecht zur Anwendung kam. Dies hatten die Parteien auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 S. 1, 8 Abs. 1 S. 1 Rom I-VO vereinbart. Da der Einsatz ohnehin nur vorübergehender Natur sein sollte, was auch ohne Rechtswahl zur Anwendbarkeit des deutschen Steuerrechts geführt hätte, stand der Wirksamkeit der Rechtswahl aus Art. 8 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO nicht entgegen. Danach darf die Rechtswahl nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch zwingende Bestimmungen desjenigen Rechts gewährt wird, das ohne Rechtswahl anzuwenden wäre. Eine Höchstgrenze ist dafür nicht vorgesehen. Insofern kommt ein Wechsel des Arbeitsvertragsstatuts grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn das Arbeitsverhältnis während des Auslandsaufenthalts durch besondere Umstände eine stärkere Verbindung zu einem anderen Land gewonnen hat (vgl. Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO)129. Grundsätzlich findet ein Tarifvertrag auch während der vorübergehenden Auslandstätigkeit weiterhin Anwendung. Für den Fall einer gesetzlichen Tarifbindung folgt dies – so das BAG – daraus, dass der Schwerpunkt für das Arbeitsverhältnis grundsätzlich (weiterhin) an dem Ort des Betriebs oder des Betriebsteils zu sehen ist, in dem der Arbeitgeber beschäftigt ist, also dort, wo der Arbeitnehmer seine Arbeitspflicht – zumindest überwiegend – zu erfüllen hat130. Eine nur vorübergehende Entsendung an einen anderen Arbeitsort – auch im Ausland – berühre – so das BAG – im Regelfall den Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses nicht. Hiervon ausgehend sei erst dann eine nicht mehr vorübergehende Entsendung anzunehmen, wenn sie auf Dauer angelegt bzw. die Rückkehr des Arbeitnehmers nicht mehr beabsichtigt sei131. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Tarifvertrag selbst bestimmt, dass Arbeitnehmer, die im Ausland tätig sind, nicht mehr vom Geltungsbereich erfasst werden. In diesem Fall wäre eine weitere Anwendung des Tarifvertrags nur dann möglich, wenn die Arbeitsvertragsparteien dies vereinbaren. Denn durch arbeitsvertragliche Bezugnahme kann die Anwendung eines Tarifvertrags auch dann bewirkt werden, wenn das Arbeitsverhältnis an sich nicht in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fällt.
129 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 502/21, NZA 2023, 249 Rz. 27 ff. 130 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240 Rz. 61 f.; BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 319/04, AiB 2006, 246 Rz. 16. 131 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240 Rz. 62; DKW/Trümmer, TVG § 4 Rz. 245; Löwisch/Rieble, TVG § 4 Rz. 206.
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Unzulässigkeit eines „Hypotax-Verfahrens“ bei Auslandsentsendungen
Bedeutung hat der Rechtsgrund einer Anwendbarkeit des Tarifvertrags allerdings in Bezug auf die Frage, ob die Arbeitsvertragsparteien eine von den tarifvertraglichen Regelungen abweichende Vereinbarung treffen können. Dies gilt dann auch im Hinblick auf die Frage, ob die tarifvertraglichen Vorgaben zur Vergütung durch eine Regelung zum Hypotax-Verfahren geändert werden können. Wie das BAG deutlich gemacht hat, kann bei einer nur arbeitsvertraglichen Tarifbindung eine entsprechende Abrede in Bezug auf das Brutto- bzw. Nettoentgelt getroffen werden. Es genügt, dass die allgemeinen Schranken der Arbeitsvertragsgestaltung – insbesondere also das MiLoG und die AGB-Kontrolle – beachtet werden132. In den seinen Entscheidungen zugrunde liegenden Fällen hatten die Parteien im Rahmen des für die Zeit der Auslandsentsendung vereinbarten Entsendungsvertrags auszugsweise Folgendes beschlossen: Steuer und Sozialversicherung Zur Erfüllung der Steuerpflicht des Arbeitnehmers im Gastland wird für die Dauer der Entsendung das „Tax Equalization“ genannte Prinzip eines Steuerausgleichs (KBV über Auslandsentsendungen Anhang B Entsendungsbedingungen) angewandt. Hierzu wird über den Weg einer hypothetischen Besteuerung das deutsche Steuerniveau beibehalten. Die tatsächlichen Steuern im Gastland trägt das Unternehmen. Der Arbeitnehmer wird durch das Unternehmen über dieses Prinzip und die tatsächliche Anwendung im Gastland informiert und über die jeweilige Rolle des Unternehmens, des Arbeitnehmers und des Steuerberaters aufgeklärt. Die für den Arbeitnehmer anzuwendenden Berechnungen sind diesem in der Anlage zu diesem Vertrag mitzuteilen. Mit der Unterzeichnung dieses Entsendungsvertrags erklärt sich der Arbeitnehmer mit der Anwendung des Steuerausgleichsprinzips einverstanden.
Zunächst einmal hat das BAG klargestellt, dass es sich bei einer solchen Regelung um eine konstitutive Vereinbarung handele. Dass die Konzernbetriebsvereinbarung über Auslandsentsendungen, auf die im Entsendungsvertrag verwiesen worden war, durch das LAG München mit Beschluss vom 25.9.2019133 rechtskräftig für unwirksam befunden worden war, spielte daher keine Rolle. Denn auch die Anwendung einer unwirksamen Konzernbetriebsvereinbarung kann im Rahmen des Arbeitsvertrags vereinbart werden. Vor-
132 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240 Rz. 33 ff. 133 LAG München v. 25.9.2019 – 4 TaBV 52/18 n. v. (Rz. 84 ff.).
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
aussetzung ist lediglich, dass – ggf. im Wege der Auslegung – erkennbar wird, dass durch den Entsendungsvertrag konstitutiv eine Anwendbarkeit der Regelungen zum Steuerausgleich vereinbart wird. Das war vorliegend aus Sicht des BAG gegeben. Nach Auffassung des BAG war die Vereinbarung auch mit den Grundsätzen der AGB-Kontrolle vereinbar. Sie war transparent und nicht überraschend. Dass die Berechnung des Nettoentgeltsanspruchs der Kläger auf der Grundlage des deutschen Steuerrechts zu einer Schlechterstellung führen konnte, stand der Vereinbarkeit dieser Regelung mit § 307 Abs. 1 BGB nicht entgegen. Denn in der entsprechenden Regelung war eine Vereinbarung über die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers zu sehen, die nach allgemeinen Grundsätzen keiner Inhaltskontrolle nach § 307 BGB unterworfen werden könne134. Die vorstehende Bewertung ändert sich allerdings dann, wenn der Tarifvertrag während der Auslandstätigkeit kraft Gesetzes zur Anwendung kommt. In der einen Entscheidung des BAG war dies für die gesamte Dauer der Fall, weil der Kläger schon zu Beginn der Entsendung Mitglied der IG Metall war. In dem zweiten Fall wurde der Kläger erst während der Auslandstätigkeit Gewerkschaftsmitglied, so dass erst für die anschließende Zeitspanne die Frage erörtert werden musste, ob durch Vereinbarung eines Steuerausgleichs das Günstigkeitsprinzip aus § 4 Abs. 3 TVG verletzt wurde. Von einem solchen Eingriff in § 4 Abs. 3 TVG ist das BAG – in Übereinstimmung mit dem LAG Hamburg135 – für den Fall einer gesetzlichen Tarifbindung ausgegangen. Ausgangspunkt für das BAG ist dabei die Annahme, dass der Arbeitgeber einen Bruttolohnanspruch in einem Fall mit Auslandsbezug durch die Abführung der gesetzlichen bzw. der nach den anwendbaren Doppelbesteuerungsabkommen einschlägigen Steuern, der einschlägigen (Sozialversicherungs-)Abgaben und durch die Auszahlung des restlichen (Netto-) Betrags an den Arbeitnehmer erfülle. Die arbeitsrechtliche Vergütungspflicht beinhalte bei einer Bruttolohnvereinbarung insoweit nicht nur die Nettoauszahlung, sondern umfasse auch die Leistungen, die nicht in einer unmittelbaren Auszahlung an den Arbeitnehmer bestünden. Materiell handele es sich dann auch hinsichtlich des Steuerabzugs um eine Leistung an den Arbeitnehmer, die nur aus formellen Gründen des deutschen Steuerrechts vom Arbeit-
134 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240 Rz. 40 ff., 49 ff., 57. 135 LAG Hamburg v. 29.9.2021 – 7 Sa 8/21 n. v.
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Unzulässigkeit eines „Hypotax-Verfahrens“ bei Auslandsentsendungen
geber unmittelbar an das Finanzamt erbracht werde, ohne dass sich hierdurch der materielle Charakter der Zahlung an den Arbeitnehmer ändere136. Daran anknüpfend hatte die Beklagte den tariflichen Vergütungsanspruch nicht erfüllt, als sie das Entgelt auf der Grundlage der hypothetisch in Deutschland zu zahlenden Steuern zur Auszahlung brachte, obwohl dieser Abzug größer als der während der Auslandstätigkeit nach der individuellen Steuerpflicht des jeweiligen Klägers maßgebliche Abzug gewesen wäre. Beide Kläger konnten daher den Differenzanspruch geltend machen. Eine Erfüllungswirkung hätte der Arbeitgeber nur dadurch bewirken können, dass (nur) die günstigeren (französischen) Steuern abgezogen worden wären oder dem Kläger bei der jährlichen Nachberechnung ein entsprechender Nachschlag gezahlt worden wäre. Soweit die ausgezahlten Nettobeträge, etwaige Erstattungsleistungen der Beklagten sowie die tatsächlich abgeführten Sozialversicherungsbeiträge und die in Frankreich für den Kläger entrichtete Lohnsteuer als Summe nicht das Bruttoentgelt erreichten, konnten die Kläger von der Beklagten daher weitere Zahlungen verlangen137. Soweit die Beklagte geltend gemacht hatte, dass sie – ohne tarifvertragliche Verpflichtung – an die Kläger während des Auslandseinsatzes (stattdessen) Sonderleistungen erbracht hatte (z. B. Umzugskosten, Schulgeld, Kaufkraftausgleich, Mobilitätszulage), konnte dies keine Erfüllung des tarifvertraglichen Vergütungsanspruchs bewirken. Denn bei diesen Leistungen handelte es sich um selbständige Ansprüche, die – so das BAG – nicht in einem Zusammenhang mit dem für die „bloße“ Arbeitsleistung geschuldeten Tariflohn gestanden hatten. Im Kern ging es bei diesen Sonderleistungen nämlich um eine Honorierung der Bereitschaft, im Ausland zu arbeiten. Darüber hinaus sollten mit diesen Sonderleistungen besondere Aufwendungen, die für die Kläger mit dieser Auslandstätigkeit verbunden waren, ausgeglichen werden. Für die betriebliche Praxis haben die beiden Entscheidungen des BAG erhebliche Bedeutung. Sie machen deutlich, dass Vereinbarungen über einen fiktiven Steuerausgleich schlussendlich nur im Rahmen von Arbeitsverhältnissen ohne gesetzliche Tarifbindung getroffen werden können. Findet ein Tarifvertrag während einer Auslandstätigkeit weiterhin kraft Gesetzes Anwendung, müssen die Tarifvertragsparteien selbst durch eine entsprechende Öffnungsklausel ein Verfahren zulassen. Andernfalls liegt ein Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 TVG vor, wenn der Steuerausgleich nicht – wo136 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 502/21, NZA 2023, 249 Rz. 40; BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240 Rz. 67. 137 BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 502/21, NZA 2023, 249 Rz. 41; BAG v. 7.9.2022 – 5 AZR 128/22, NZA 2023, 240 Rz. 68.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
von auszugehen ist – zu jedem Zeitpunkt während der Auslandstätigkeit eine Besserstellung des Arbeitnehmers bewirkt. Konsequenz ist, dass bei entsprechenden Abreden spätestens mit Ablauf des Kalenderjahres ein Vergleich der Steuerbelastungen im Herkunfts- und Einsatzland erfolgen muss, um sodann eine (etwaige) zu Gunsten des Arbeitnehmers erkennbare Differenz – ggf. verzinst – auszuzahlen. In der betrieblichen Praxis wird dies vielfach nicht gemacht. (Ga)
7.
Verjährung oder Verfall des Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruchs
a)
Verjährung des Urlaubsanspruchs
Nachdem der EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen des BAG138 in seinem Urteil vom 22.9.2022139 in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen des Generalanwalts140 entschieden hat, dass Art. 7 Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) und Art. 31 Abs. 2 GRC dahin auszulegen sind, dass ein erworbener Urlaubsanspruch nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nur unter der Prämisse verjähren kann, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, liegt inzwischen die Schlussentscheidung des 9. Senats des BAG vom 20.12.2022141 vor. Auf der Grundlage der Entscheidung des EuGH vom 22.9.2022142 geht nunmehr der 9. Senat des BAG143 davon aus, dass zwar die Vorschriften über die Verjährung (§§ 214 Abs. 1, 194 Abs. 1 BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub anwendbar sind, die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren jedoch bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB nicht zwangsläufig mit Ende des Urlaubsjahres, sondern erst mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat144.
138 139 140 141 142 143 144
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BAG v. 29.9.2020 – 9 AZR 266/20 (A), NZA 2021, 413. EuGH v. 22.9.2022 – C-120/21, NZA 2022, 1326 – LB. Generalanwalt EuGH v. 5.5.2022 – C-120/21 n. v. – LB. BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 266/20 n. v. EuGH v. 22.9.2022 – C-120/21, NZA 2022, 1326 Rz. 57 – LB. Ebenso BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 456/20 n. v. Vgl. dazu EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft; EuGH v. 29.11.2017 – C-214/16, NZA 2017, 1591 – King.
Verjährung oder Verfall des Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruchs
Wenn der Beginn der Verjährungsfrist des Urlaubsanspruchs im fortbestehenden Arbeitsverhältnis davon abhängt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, und diese Belehrung auf die Verfallfristen des § 7 Abs. 3 BUrlG gerichtet ist, spielt die Frage der Einrede der Verjährung keine Rolle mehr. Denn eine rechtzeitige Belehrung über die Verfallfristen des § 7 Abs. 3 BUrlG, die am Jahresende oder mit dem Ablauf des Übertragungszeitraums eintreten, bringt bereits den Urlaubsanspruch im Sinne einer gesetzlichen Ausschlussfrist zum Erlöschen. Deshalb überrascht der Obersatz des BAG, dass die Vorschriften über die Verjährung (§§ 214 Abs. 1, 194 Abs. 1 BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub anwendbar sind. Es ist jedoch nicht eindeutig der Entscheidung des EuGH zu entnehmen, ob der darin enthaltene Hinweis möglicherweise als eine Belehrung des Arbeitnehmers über die Rechtswirkungen der Verjährung für den Urlaubsanspruch zu verstehen ist. Im Urteil des EuGH145 heißt es wie folgt: In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass es, wenn ein Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen in einem Bezugszeitraum erworbenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, über dasjenige hinausgeht, was zur Gewährleistung der Rechtssicherheit erforderlich ist, wenn auf die Ausübung dieses in Art. 31 Abs. 2 GRC verankerten Anspruchs die in § 195 BGB vorgesehene regelmäßige Verjährung Anwendung findet.
Diese Formulierung scheint die Anwendung der Verjährungsvorschriften im Gegensatz zur Auffassung des BAG gänzlich auszuschließen, wenn der Arbeitgeber seinen vom EuGH146 entwickelten Mitwirkungsobliegenheiten nicht genügt. Entspricht der Arbeitgeber dieser Mitwirkungsobliegenheit nicht, tritt nach der Rechtsprechung des BAG147 der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht, mit der Maßgabe, dass für ihn, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 BUrlG gelten. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren nur dadurch vermeiden, dass er seine
145 EuGH v. 22.9.2022 – C-120/21, NZA 2022, 1326 Rz. 56 – LB. 146 EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft. 147 BAG v. 29.9.2020 – 9 AZR 266/20 (A), NZA 2021, 413 Rz. 19; BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 423/16, NZA 2019, 977 Rz. 44.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt148. Da die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) mit dem Schluss des jeweiligen Jahres zu laufen beginnt, in dem der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB), d. h. erstmals geltend gemacht und notfalls klageweise durchgesetzt werden kann, bezieht sich der Verjährungsbeginn des Urlaubsanspruchs grundsätzlich auf das jeweilige Kalenderjahr und tritt neben die in § 7 Abs. 3 BUrlG geregelte Ausschlussfrist, so dass für die Verjährung die bei verletzter Mitwirkungsobliegenheit stattfindende Urlaubskumulierung nicht eintritt. Angesichts dessen war das Vorabentscheidungsersuchen des BAG auf die Klärung gerichtet, ob im Fall der unterlassenen Mitwirkung des Arbeitgebers die Durchsetzbarkeit der kumulierten Urlaubsansprüche aus mehreren Jahren nach nationalem Recht möglicherweise dann zeitlich begrenzbar ist, wenn die allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB neben den Regelungen in § 7 BUrlG anwendbar sein können. Die Antwort des EuGH149, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für einen Bezugszeitraum erworben hat, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, nur dann verjährt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, könnte auch dahin verstanden werden, dass die Belehrung bezüglich der Verjährung des Urlaubsanspruchs ausreicht. Für die betriebliche Praxis hat sich jedenfalls das Problem der Verjährung von Urlaubsansprüchen erledigt, weil die Verjährung ohne Wahrnehmung der Mitwirkungsobliegenheiten nicht anlaufen kann.
b)
Verjährung des Urlaubsabgeltungsanspruchs
Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten150. Der Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs (§ 7 Abs. 4 BUrlG) des aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmers ist ein reiner Geldan-
148 BAG v. 29.9.2020 – 9 AZR 266/20 (A), NZA 2021, 413 Rz. 19. 149 EuGH v. 22.9.2022 – C-120/21, NZA 2022, 1326 Rz. 57 – LB. 150 Siehe aber § 64 Abs. 1 SeeArbG, wonach sich das Heuerverhältnis – von Ausnahmen eines neuen Rechtsverhältnisses oder Unmöglichkeit abgesehen – um die Dauer des nicht gewährten Urlaubs verlängern kann und der Urlaub im Zeitraum der Verlängerung zu gewähren ist.
180
Verjährung oder Verfall des Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruchs
spruch151, dessen Erfüllbarkeit weder von der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers abhängt noch dem Fristenregime des BUrlG unterliegt. Diese auf eine finanzielle Vergütung i. S. d. Art. 7 Abs. 2 Arbeitszeitrichtlinie gerichtete Forderung entsteht mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, ohne dass der Urlaubsabgeltungsanspruch vom Arbeitnehmer besonders geltend gemacht werden muss. Er wird grundsätzlich gleichzeitig fällig. Da die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers152 bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs vom Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und damit von der Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs abhängen, fällt es in die Risikosphäre des Arbeitnehmers, den Abgeltungsanspruch nach der Beendigung der arbeitsvertraglichen Beziehungen rechtzeitig geltend zu machen. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BAG153 wird der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf Urlaubsabgeltung als reiner Geldanspruch, wie andere Zahlungsansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, von tariflichen und vertraglichen Ausschlussfristen erfasst. Dem steht weder der unabdingbare Schutz des gesetzlichen Mindesturlaubs nach §§ 1, 3 Abs. 1, 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG noch Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 GRC entgegen, weil das Unionsrecht den Abgeltungsanspruch nur von der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und davon abhängig macht, dass ein noch nicht erfüllter Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers besteht154. Gleichermaßen unterliegt der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Urlaubsabgeltung für nicht verbrauchten Urlaub nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 7 Abs. 4 BUrlG der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren (§§ 195, 199 BGB). Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt in der Regel mit dem Ende des Jahres, in dem der Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet (§ 199 Abs. 1 BGB), ohne dass es auf die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ankommt155.
151 BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087 Rz. 15 unter vollständiger Aufgabe der früheren Surrogatstheorie; BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011 Rz. 21. 152 EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft; BAG v. 27.10.2020 – 9 AZR 531/19, NZA 2021, 504 Rz. 36. 153 Vgl. die Nachweise bei BAG v. 9.3.2021 – 9 AZR 323/20, NZA 2021, 1257 Rz. 10; zu tarifvertraglichen Ausschlussfristen BAG v. 27.10.2020 – 9 AZR 531/19, NZA 2021, 504 Rz. 17 ff.; BAG v. 7.7.2020 – 9 AZR 323/19, NZA 2020, 1713 Rz. 25; zu arbeitsvertraglichen Ausschlussfristen BAG v. 24.5.2022 – 9 AZR 461/21, NZA 2022, 1328; BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 162/18, NZA 2018, 1619 Rz. 29. 154 EuGH v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06, NZA 2009, 135 Rz. 56 – Schultz-Hoff. 155 BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 456/20 n. v.
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Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
In der Entscheidung vom 31.1.2023156 hat der 9. Senat des BAG die Frage der Verjährung eines Urlaubsabgeltungsanspruchs behandeln müssen, der bei einem im Oktober 2015 beendeten Arbeitsverhältnis aus den Jahren 2010 bis 2014 stammte. Die Beklagte betrieb eine Flugschule. Sie beschäftigte den Kläger seit dem 9.6.2010 als Ausbildungsleiter, ohne ihm seinen jährlichen Urlaub von 30 Arbeitstagen zu gewähren. Am 19.10.2015 verständigten sich die Parteien darauf, dass der Kläger in der Folgezeit als selbständiger Dienstnehmer für die Beklagte tätig werden sollte. Mit der im August 2019 erhobenen Klage verlangte der Kläger unter anderem Abgeltung von Urlaub aus seiner Beschäftigungszeit vor der Vertragsänderung. Die Beklagte erhob die Einrede der Verjährung. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte beim BAG Erfolg, soweit er die Beklagte auf Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2010 bis 2014 i. H. v. 37.416,50 EUR in Anspruch genommen hat. Bezogen auf Urlaubsabgeltung für das Jahr 2015 blieb sie erfolglos. Zunächst weist das BAG unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 20.12.2022157 darauf hin, dass Urlaubsansprüche verjähren können, die dreijährige Verjährungsfrist jedoch erst am Ende des Kalenderjahres beginnt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch informiert und ihn im Hinblick auf Verfallfristen aufgefordert hat, den Urlaub tatsächlich zu nehmen. Habe der Arbeitgeber diesen Mitwirkungsobliegenheiten nicht genügt, könne der nicht erfüllte gesetzliche Urlaub aus möglicherweise mehreren Jahren im laufenden Arbeitsverhältnis weder nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen noch nach § 195 BGB verjähren, so dass er bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten sei. Dieser Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegt dann seinerseits als finanzielle Leistung, wie jeder sonstige gegen den Arbeitgeber gerichtete Zahlungsanspruch, soweit keine Ausschlussfristen relevant sind, ohne Weiteres der Verjährung, wie das BAG in Anknüpfung an seine bisherige Rechtsprechung158 ausführt. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen berücksichtigt das BAG im Streitfall jedoch, dass die Verjährungsfrist für die vom Kläger geforderte Urlaubsabgeltung für die Jahre 2010 bis 2014 nicht anlaufen konnte, solange dem Kläger
156 BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 456/20 n. v. 157 BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 266/20 n. v. 158 BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 266/20 n. v.; grundsätzlich unter vollständiger Aufgabe der Surrogatstheorie BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087 Rz. 15 ff. in Reaktion auf EuGH v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06, NZA 2009, 135 – SchultzHoff.
182
Verjährung oder Verfall des Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruchs
eine Klageerhebung aufgrund einer gegenteiligen höchstrichterlichen Rechtsprechung des BAG nicht zumutbar gewesen ist. Dies sei deshalb der Fall, weil der 9. Senat des BAG bis zur Entscheidung des EuGH vom 6.11.2018159 noch davon ausgegangen sei, dass Urlaubsansprüche mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums unabhängig von der Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten automatisch verfielen, so dass bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 19.10.2015 jedenfalls für die Jahre 2010 bis 2014 wegen des Untergangs der Urlaubsansprüche zum jeweiligen Jahresende nichts mehr abzugelten war. Im Anschluss an die Max-Planck-Gesellschaft-Entscheidung des EuGH hat der 9. Senat des BAG in einer Grundsatzentscheidung vom 19.2.2019160 seine bisherige Rechtsprechung161 aufgegeben, wonach nicht genommener Urlaub unabhängig davon, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, den Urlaub zu nehmen, nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahres, sofern kein Übertragungsgrund i. S. v. § 7 Abs. 3 S. 2, 4 BUrlG gegeben war, verfiel. In einer mit Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie konformen Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG ist das BAG162 nunmehr davon ausgegangen, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 S. 3, 4 BUrlG) erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Dabei sind die für den gesetzlichen Urlaubsanspruch geltenden Grundsätze auch auf einen vertraglichen oder tarifvertraglichen Mehrurlaub des Arbeitnehmers anzuwenden, wenn im Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag die jeweiligen Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Mehrurlaubs und die Voraussetzungen seiner Befristung nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt sind163. Da der EuGH in der Max-Planck-Gesellschaft-Entscheidung vom 6.11.2018 die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung von Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 GRC nicht aus Gründen eines unionsrechtlichen 159 EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft. 160 BAG v. 9.2.2019 – 9 AZR 321/16, NZA 2019, 1043: Der Kläger machte im Jahre 2019 gegen seinen Arbeitgeber nicht gewährten Urlaub aus dem Jahre 2013 klageweise geltend. 161 BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 321/16, NZA 2019, 1043 Rz. 28; BAG v. 19.6.2018 – 9 AZR 615/17, NZA 2018, 1480 Rz. 14. 162 BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 321/16, NZA 2019, 1043 Rz. 38. 163 BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 321/16, NZA 2019, 1043 Rz. 51.
183
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Vertrauensschutzes in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt hat und diese Entscheidung demgemäß mit ex-tunc-Wirkung ausgestattet ist, hätte im hier zu beurteilenden Streitfall der Kläger die mit Beendigung seines Arbeitsverhältnisses am 19.10.2015 für die Jahre 2010 bis 2014 noch ausstehenden Urlaubsansprüche als Urlaubsabgeltungsanspruch innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist bis zum 31.12.2018 und nicht erst 2019 klageweise gegen die Beklagte verfolgen müssen, so dass die Einrede der Beklagten nach § 214 BGB zu einer Klageabweisung hätte führen müssen. Dieses Ergebnis korrigiert das BAG mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes in eine gefestigte Rechtsprechung. Das BVerfG164 zählt zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips die Rechtssicherheit. Der rechtsunterworfene Bürger soll nicht durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte in seinem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht werden. Der aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitete Grundsatz des Vertrauensschutzes kann es demgemäß gebieten, einem durch gefestigte Rechtsprechung begründeten Vertrauenstatbestand erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit einer geänderten Rechtsprechung im Einzelfall Rechnung zu tragen165. Diesen Rückwirkungsschutz wendet das BAG auf den Streitfall an, weil die Änderung der Rechtsprechung zum Erlöschen des Urlaubsanspruchs dem Kläger rückwirkend Handlungspflichten auferlegen würde, die er nachträglich nicht mehr erfüllen kann. Erst nachdem der EuGH mit Urteil vom 6.11.2018166 neue Regeln für den Verfall von Urlaub vorgegeben hatte, wäre der Kläger gehalten gewesen, eine Abgeltung für die Urlaubsjahre von 2010 bis 2014 gerichtlich geltend zu machen. Im Lichte des Vertrauensschutzes hat das BAG daher den Beginn der Verjährungsfrist für die Urlaubsabgeltungsansprüche des Klägers, die Urlaube aus den Jahren 2010 bis 2014 betreffend, auf den Schluss des Jahres 2018 (§ 199 Abs. 1 BGB) verlegt, so dass die Einrede der Verjährung kein Leistungsverweigerungsrecht der Beklagten bewirken konnte (§ 214 Abs. 1 BGB). Soweit allerdings der Urlaubsabgeltungsanspruch für den nicht gewährten Naturalurlaub im Jahre 2015 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 19.10.2015 in Rede stand, war dieser bei der Klageerhebung im Jahre 2019 bereits verjährt und abzuweisen, weil die dreijährige Verjährungsfrist bereits nach der damals maßgebenden Rechtsprechung des BAG am Ende des Jahres 2015 begann und mit Ablauf des Jahres 2018 endete. Diese Bewertung des 164 BVerfG v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07, NZA 2015, 375 Rz. 24. 165 BAG v. 1.2.2007 – 2 AZR 15/06 n. v. (Rz. 9). 166 EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft.
184
Verjährung oder Verfall des Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruchs
9. Senats des BAG resultiert offenbar aus einer Entscheidung vom 19.6.2012167, mit der die sog. Surrogatstheorie aufgegeben worden ist, wonach der Urlaubsabgeltungsanspruch als Erfüllungssurrogat des Urlaubsanspruchs voraussetzte, dass der Urlaub noch gewährt werden könne, wenn das Arbeitsverhältnis noch bestände und, wie der Urlaubsanspruch, bis zum Ende des Kalenderjahres geltend gemacht und erfüllt werden musste, um nicht ersatzlos zu erlöschen. Veranlasst durch die Schultz-Hoff-Entscheidung des EuGH vom 20.1.2009168 hat das BAG den Urlaubsabgeltungsanspruch als reinen Geldanspruch qualifiziert und dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG entzogen. Seitdem unterlag der Urlaubsabgeltungsanspruch, wie jeder Zahlungsanspruch des Arbeitnehmers, der Einrede der Verjährung.
c)
Urlaubsabgeltung – tarifvertragliche Ausschlussfrist
In einer weiteren Entscheidung vom 31.1.2023169 hat der 9. Senat des BAG die in der Entscheidung vom gleichen Tag170 entwickelten Grundsätze zur Verjährung eines Urlaubsabgeltungsanspruchs vor der Verkündung der Entscheidung des EuGH vom 6.11.2018171 auf tarifvertragliche Ausschlussfristen übertragen. Der Kläger war bei dem beklagten Zeitungsverlag in der Zeit vom 1.4.2007 bis zum 30.6.2010 als freiberuflicher Journalist (Pauschalist), sodann als angestellter Online-Redakteur beschäftigt. Nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren MTV für Redakteurinnen und Redakteure waren nicht erfüllte Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit geltend zu machen. Während seiner Tätigkeit als Pauschalist vom 1.4.2007 bis zum 30.6.2010 erhielt er keinen Urlaub. Das Arbeitsverhältnis endete am 30.9.2014. Im August 2018 forderte der Kläger die Beklagte auf, insgesamt 65 Arbeitstage Urlaub aus den Jahren 2007 bis 2010 abzugelten. Die am 27.12.2018 beim ArbG Wuppertal eingegangene Klage über eine Forderung i. H. v. 14.391,50 EUR (brutto), die der Beklagten am 14.1.2019 zugestellt worden ist, wies die Beklagte mit der Begründung zurück, ein etwaiger Anspruch des Klägers aus der Zeit seiner Tätigkeit als Pauschalist sei verfallen und verjährt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte beim 9. Senat des BAG Erfolg und führte zur Zurückverweisung an das LAG Düsseldorf, um zu klären, ob der
167 168 169 170 171
BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087 Rz. 15 ff. EuGH v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06, NZA 2009, 135 – Schultz-Hoff. BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 244/20 n. v. BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 456/20 n. v. EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft.
185
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
Kläger als Pauschalist im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses tätig geworden war. Das BAG bestätigt zunächst seine ständige Rechtsprechung172, dass der Anspruch auf Abgeltung nicht genommenen Urlaubs tarifvertraglichen Ausschlussfristen unterfällt. Damit ging es bei der Entscheidung um die Frage, ob der Kläger bei seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis am 30.9.2014 gehalten war, seinen Anspruch auf Abgeltung des bis dahin nicht gewährten Urlaubs aus den Jahren 2007 bis 2010 der Beklagten gegenüber im Sinne der Ausschlussfristenregelung geltend zu machen. Dies verneint das BAG im Hinblick auf den durch die gefestigte Rechtsprechung begründeten Vertrauenstatbestand unter Hinweis darauf, dass der 9. Senat zu diesem Zeitpunkt noch davon ausging, dass Urlaubsansprüche mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums unabhängig von der Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten automatisch verfielen. Erst nachdem der EuGH mit Urteil vom 6.11.2018173 neue Regeln für den Verfall von Urlaub vorgegeben hatte, oblag es dem Kläger, Urlaubsabgeltung zu verlangen. Da der jeweilige Urlaubsanspruch aus den Jahren 2007 bis 2010 mangels Wahrnehmung der Mitwirkungsobliegenheiten der Beklagten bis zum Ausscheiden des Klägers aus dem Arbeitsverhältnis am 30.9.2014 in Gestalt von 65 Urlaubstagen fortbestanden hatte, war er nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Das Abgeltungsverlangen wäre jedoch nach der seinerzeit geltenden Rechtsprechung des BAG aussichtslos gewesen, weil die Urlaubsansprüche jeweils am Jahresende der Jahre 2007 bis 2010 untergegangen waren und deshalb nicht mehr bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30.9.2014 abgegolten werden konnten. Diese Rechtsfolge änderte sich erst durch das Urteil des EuGH vom 6.11.2018, so dass der Kläger erst ab diesem Zeitpunkt die Ausschlussfrist für den noch bestehenden Urlaubsabgeltungsanspruch von 65 Urlaubstagen zu wahren hatte, was durch seine Geltendmachung gegenüber der Beklagten im August 2018 rechtzeitig geschehen ist. Aus den gleichen Gründen hat das BAG auch die Verjährung des Urlaubsabgeltungsanspruchs verneint174, weil die Verjährungsfrist nicht vor dem Ende des Jahres 2018 anlaufen konnte. Der Kläger wahrte die gesetzliche Verjährungsfrist mit der bereits im Jahre 2018 erhobenen Klage auf Zahlung der Urlaubsabgeltung. (Boe)
172 Vgl. BAG v. 9.3.2021 – 9 AZR 323/20, NZA 2021, 1257 Rz. 10; BAG v. 27.10.2020 – 9 AZR 531/19, NZA 2021, 504 Rz. 17 ff. 173 EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, NZA 2018, 1474 – Max-Planck-Gesellschaft. 174 So BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 456/20 n. v.
186
Verfall des Urlaubsanspruchs bei langandauernder Erkrankung
8.
Verfall des Urlaubsanspruchs bei langandauernder Erkrankung
Im Hinblick auf die Auswirkungen einer Erkrankung auf den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers hat der EuGH175 zunächst entschieden, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht am Ende des Bezugszeitraums erlischt, wenn sich der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon im Krankheitsurlaub befand und nicht die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch auszuüben. Der Arbeitnehmer darf vielmehr den Anspruch auf einen Zeitraum außerhalb des Bezugszeitraums für den Jahresurlaub übertragen, der die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten muss176. Durch eine weitere Entscheidung hat der EuGH177 in Anlehnung an Art. 9 Abs. 1 IAO-Übereinkommen Nr. 132 über den bezahlten Jahresurlaub178 einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten für zulässig erachtet, mit der Maßgabe, dass der Urlaub spätestens 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, in dem der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers entstanden ist, erlischt, wenn sich seine Erkrankung durchgehend bis zu diesem Zeitpunkt fortsetzt. Im Anschluss an diese Rechtsprechung ist das BAG179 zunächst davon ausgegangen, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochenem Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres untergeht, ohne dass es darauf ankommt, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweispflichten (Mitwirkungsobliegenheiten) erfüllt hat. Diese Rechtsprechung hat das BAG auch auf Fälle einer Rente wegen voller Erwerbsminderung übertragen180. Dem für das Urlaubsrecht zuständigen 9. Senat des BAG181 kamen jedoch Zweifel, ob seine bisherige Rechtsprechung zum Untergang des Urlaubsan-
175 176 177 178 179 180 181
EuGH v. 20.1.2009 – C-350/06, C-520/06, NZA 2009, 135 Rz. 43, 49 – Schultz-Hoff. EuGH v. 22.11.2011 – C-214/10, NZA 2011, 1333 Rz. 38 – KHS. EuGH v. 22.11.2011 – C-214/10, NZA 2011, 1333 Rz. 38 ff. – KHS. Vgl. Gesetz zu dem IAO-Übereinkommen Nr. 132, BGBl. II 1975, 745. BAG v. 7.7.2020 – 9 AZR 401/19 (A), NZA 2020, 1541 Rz. 19. BAG v. 16.7.2013 – 9 AZR 914/11, NZA 2013, 1285 Rz. 25 ff. BAG v. 7.7.2020 – 9 AZR 401/19 (A), NZA 2020, 1541: Die bei der Beklagten beschäftigte Klägerin war seit ihrer Erkrankung im Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig und beanspruchte die Feststellung, dass ihr noch restliche 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 zustehen; BAG v. 7.7.2020 – 9 AZR 245/19, NZA 2020, 1547: Der schwerbehinderte Kläger, der seinen Urlaub teilweise im Verlauf des Jahres hätte nehmen können, bezog seit dem 1.12.2014 eine Rente wegen voller
187
Arbeitszeit, Vergütung und Urlaub
spruchs nach 15 Monaten auch dann mit Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) und Art. 31 Abs. 2 GRC im Einklang stünde, wenn ein Arbeitnehmer erst im Laufe des Urlaubsjahres erkrankt oder eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezieht und den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung zumindest teilweise hätte nehmen können, jedoch der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderungen und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Auf entsprechende Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV hat der EuGH mit Urteil vom 22.9.2022182 entschieden, dass Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 GRC einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben. Der Sache nach ging es unter anderem um einen Kläger mit Schwerbehinderung, der in der Zeit vom 1.12.2014 bis August 2019 wegen voller Erwerbsminderung aus gesundheitlichen Gründen seine Arbeitsleistung nicht erbringen und deshalb seinen Urlaub nicht nehmen konnte. Der Kläger wollte festgestellt wissen, dass ihm aus dem Jahr 2014 noch Urlaubsansprüche zustünden, weil die Beklagte ihrer Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen sei. Im Anschluss an die Entscheidung des EuGH183 hat der 9. Senat des BAG mit Urteil vom 20.12.2022184 seine bisherige Rechtsprechung modifiziert und nunmehr in Anpassung an die Rechtsprechung des EuGH entschieden, dass der Urlaubsanspruch mit Ablauf der 15-Monate-Frist verfällt, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert war, seinen Urlaub anzutreten, wobei unbeachtlich ist, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, weil diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können. Anders sei jedoch zu entscheiden, wenn der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet habe, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden sei. In dieser Fallkonstellation setzte die BeErwerbsminderung und machte gegenüber der Beklagten geltend, dass ihm noch 34 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2014 zustünden. 182 EuGH v. 22.9.2022 – C-518/20, C-727/20, NZA 2022, 1323 – Fraport. 183 EuGH v. 22.9.2022 – C-518/20, C-727/20, NZA 2022, 1323 – Fraport. 184 BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 n. v.
188
Verfall des Urlaubsanspruchs bei langandauernder Erkrankung
fristung des Urlaubsanspruchs in richtlinienkonformer Auslegung des § 7 Abs. 1, 3 BUrlG voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt habe, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. Da die Beklagte im Streitfall für das Jahr 2014 den im Umfang von 24 Arbeitstagen fortbestehenden Urlaub nicht erfüllt hatte, konnte dieser mit Ablauf des 31.3.2016 nicht erlöschen und blieb dem Kläger bis August 2019 erhalten, weil die Beklagte ihrer Mitwirkungsobliegenheit bis zum 1.12.2014 nicht nachgekommen war, obwohl der Kläger im Verlauf des Kalenderjahres 2014 gearbeitet hat. Angesichts dessen hat das BAG mit Urteil vom 20.12.2022 festgestellt, dass dem Kläger aus dem Jahr 2014 noch 24 Tage Urlaub zustehen. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat der 9. Senat des BAG am 20.12.2022185 ebenfalls zu Gunsten der Klägerin die Feststellung getroffen, dass ihr für 2017 noch 14 Tage Urlaub zustehen. Im Jahr 2017 erkrankte die Klägerin und konnte von dem ihr zustehenden Urlaubsanspruch im Jahr 2017 14 Tage nicht nehmen. Bis zum Eintritt ihrer Erkrankung war die Beklagte ihrer Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen. Danach war die Klägerin durchgehend erkrankt und hat mit ihrer im Jahre 2019 erhobenen Klage den Fortbestand des Resturlaubs aus 2017 geltend gemacht. Als Resümee dieser Rechtsprechung kann für die betriebliche Praxis festgehalten werden, dass im Falle einer Erkrankung des Arbeitnehmers die 15-Monate-Frist nur dann zum Verlust des Urlaubsanspruchs führt, wenn der Arbeitnehmer durchgehend bereits ab Beginn des Urlaubsjahres bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres seinen Urlaub krankheitsbedingt (§ 9 BUrlG) nicht realisieren kann. Für diese Fallkonstellation kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten zur Erfüllung des Urlaubsanspruchs nachgekommen ist. Hat der Arbeitnehmer jedoch im Urlaubsjahr tatsächlich – auch teilweise – gearbeitet, bevor die bis zum Ablauf der 15-Monate-Frist durchgehend andauernde Erkrankung eingetreten ist, ohne dass der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen, bleibt dieser dem Arbeitnehmer ungeachtet einer zeitlichen Begrenzung erhalten und muss bei Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nachgewährt oder bei seiner Beendigung abgegolten werden. (Boe)
185 BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 401/19 n. v.; BAG v. 7.7.2020 – 9 AZR 401/19 (A), NZA 2020, 1541: Vorabentscheidungsersuchen, das ebenfalls Gegenstand der Entscheidung des EuGH v. 22.9.2022 – C-518/20, C-727/20, NZA 2022, 1323 – Fraport gewesen ist.
189
.
E.
Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
1.
Weitere Klarstellungen des BAG zur Massenentlassung nach § 17 KSchG
a)
Ausgangssituation
Im Zusammenhang mit seinen Entscheidungen zu Kündigungen des Insolvenzverwalters von AirBerlin hatte das BAG im Jahre 2020 seine frühere Rechtsprechung zur Kennzeichnung des Betriebs i. S. d. § 17 KSchG aufgegeben und unter Bezugnahme auf die Vorgaben der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) – also der Richtlinie 98/59/EG – eine neue Kennzeichnung vorgenommen. Damit war nicht mehr der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff maßgeblich. Vielmehr geht das BAG von einem eigenständigen Betriebsbegriff aus, der losgelöst von §§ 1 KSchG, 1 BetrVG bestimmt wird. Weil der Insolvenzverwalter bei der Durchführung des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG und der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG die betriebsverfassungsrechtliche Organisationsstruktur zugrunde gelegt hatte, waren alle Kündigungen unwirksam1. Soweit rechtzeitig Kündigungsschutzklage erhoben und keine Beendigung im Vergleichswege erreicht werden konnte, bestanden die Arbeitsverhältnisse der hiervon betroffenen Arbeitnehmer damit über den ursprünglich geplanten Zeitpunkt der Betriebsstilllegung fort. Der Insolvenzverwalter war gezwungen, erneute Kündigungen auszusprechen. Mit einer dieser Kündigungen hatte sich das BAG jetzt im Urteil vom 8.11.20222 zu befassen. Dabei hat es nicht nur seine Rechtsprechungsänderung bestätigt, sondern für die betriebliche Praxis weitergehende Klarstellungen zur Abwicklung einer Massenentlassung i. S. d. § 17 KSchG vorgenommen.
b)
Nachkündigung ist keine Widerholungskündigung
Scheitert eine betriebsbedingte Kündigung an formalen Erfordernissen, ist der Arbeitgeber berechtigt, eine erneute (Nach-)Kündigung auszusprechen. Dies 1
2
Vgl. nur BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1092 Rz. 114 ff.; BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303 Rz. 173 ff.; BAG v. 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006 Rz. 36 ff. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166.
191
Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
gilt beispielsweise dann, wenn der Betriebsrat, das Integrationsamt oder die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt oder – so das BAG – das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG bzw. die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG fehlerhaft durchgeführt worden ist. Solange der Kündigungsgrund noch gegeben ist, was insbesondere bei einem Dauertatbestand der Fall ist, kann eine erneute Kündigung ausgesprochen werden. Dabei handelt es sich auch nicht um eine unzulässige Widerholungskündigung3. Wichtig ist allerdings, dass auch für die erneute Kündigung eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats und der Schwerbehindertenvertretung erfolgen muss. Auch müssen die Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG und die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG wiederholt werden. Zwar könne man – so das BAG – insbesondere den Sinn einer erneuten Massenentlassungsanzeige infrage stellen, wenn die Agentur für Arbeit schon aufgrund der zwischenzeitlichen Arbeitslosenmeldungen der betroffenen Arbeitnehmer ihre Vermittlungsbemühungen begonnen habe oder solche sogar nicht (mehr) erforderlich seien, weil die Arbeitnehmer wieder Arbeitsverhältnisse begründet hätten. Der Gesetzgeber habe jedoch keine entsprechenden Ausnahmen in § 17 KSchG vorgesehen4.
c)
Der Betrieb i. S. d. § 17 Abs. 1 KSchG
Ergänzend hierzu hat das BAG in seinem Urteil vom 8.11.20225 noch einmal bestätigt, dass im Zusammenhang mit einer Massenentlassung ein Betriebsbegriff maßgeblich sei, der unionsrechtlich durch Art. 1 Abs. 1 MERL determiniert werde. Daran anknüpfend sei davon auszugehen, dass der Betrieb nach Maßgabe der Umstände eine Einheit bezeichne, der die von einer Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehörten. Insoweit müsse es sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer konkreter Aufgaben bestimmt sei und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfüge. Da die MERL die sozioökonomischen Auswirkungen betreffe, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen könnten, müsse die fragliche Einheit weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle,
3 4 5
BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 37. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 44. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 45.
192
Weitere Klarstellungen des BAG zur Massenentlassung nach § 17 KSchG
verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als „Betrieb“ qualifiziert werden zu können6. Unter Berücksichtigung seiner Feststellungen in den übrigen Verfahren zu § 17 KSchG im Anschluss an die Stilllegung des Betriebs der AirBerlin macht dies noch einmal deutlich, dass die betriebsverfassungs- und kündigungsschutzrechtlichen Betriebsbegriffe für § 17 KSchG allenfalls ein erster Anknüpfungspunkt sein können. Immer dann, wenn innerhalb solcher Betriebe organisatorische Einheiten bestehen, innerhalb derer eine Führungskraft das arbeitgeberseitige Direktionsrecht ausübt, kann diese Einheit bereits als Betrieb i. S. d. § 17 Abs. 1 KSchG zu qualifizieren sein. Dies betrifft insbesondere Filialbetriebe, bei denen auf diese Weise innerhalb eines einzigen betriebsverfassungs- oder kündigungsschutzrechtlichen Betriebs eine Zersplitterung der massenentlassungsrechtlichen Betriebsstruktur erfolgen kann. Problematisch daran sind allerdings weniger solche Fälle, bei denen entsprechende Einheiten (Filialen) jeweils eigenständig einer bestimmten Agentur für Arbeit zugeordnet werden können. In diesen Fällen spricht sehr viel für die Annahme, dass solche Einheiten unabhängig von §§ 1, 4 BetrVG, 1 KSchG einen Betrieb i. S. d. § 17 Abs. 1 KSchG bilden. Problematischer sind Fallgestaltungen, bei denen mehrere solcher Einheiten (Filialen) innerhalb des Zuständigkeitsbereichs einer Agentur für Arbeit bestehen. Denn hier ist unklar, ob sie gleichwohl getrennt zu behandeln sind oder jedenfalls dann, wenn es in Bezug auf personelle Angelegenheiten eine filialübergreifende Steuerung gibt, als ein Betrieb i. S. d. § 17 Abs. 1 KSchG zu behandeln sind. Wenn deshalb in der betrieblichen Praxis Zweifel bestehen, wird man vorsorglich der Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG und der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG mehrere Alternativen eines denkbaren Betriebs zugrunde legen und daran anknüpfend die Beratungen durchführen bzw. die Anzeige vornehmen müssen. Ein solches Vorgehen, das aus Gründen der Vorsorge angesichts der Unbestimmtheit des massenentlassungsrechtlichen Betriebsbegriffs geboten ist, bewirkt keine Unwirksamkeit der späteren Kündigung. Darauf weist das BAG ausdrücklich hin7. Denn Konsultation und Massenentlassungsanzeige sind dann jedenfalls auch auf der Grundlage des zutreffend gekennzeichneten Betriebs durchgeführt worden, selbst wenn die alternative Darstellung, die aus Gründen der Vorsorge parallel erfolgt ist, den Anforderungen aus § 17 KSchG nicht entspricht.
6 7
Ebenso bereits BAG v. 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006 Rz. 33. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 70 f.
193
Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
An der vorstehend beschriebenen Kennzeichnung des massenentlassungsrechtlichen Betriebs hält das BAG auch dann fest, wenn dieser Betrieb zum Zeitpunkt einer Nachkündigung als Folge der zwischenzeitlich vollzogenen Betriebsstilllegung nicht mehr besteht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn im Anschluss daran keine weitergehende Umstrukturierung erfolgt ist und die von der ursprünglich unwirksamen Kündigung betroffenen Arbeitnehmer in der Zeit bis zur Nachkündigung keinem anderen Betrieb zugeordnet worden sind. Denn unter diesen Voraussetzungen bleibe auch der örtliche Kontext bestehen, an den die sozioökonomischen Auswirkungen anknüpften, so dass das Massenentlassungsverfahren weiterhin in der aufgelösten Struktur durchgeführt werden müsse8.
d)
Wesentliche Aspekte des Konsultationsverfahrens
In seinem Urteil vom 8.11.20229 stellt das BAG zu Recht klar, dass eine Konsultation mit dem Betriebsrat im Rahmen von § 17 Abs. 2 KSchG bei einer Nachkündigung erforderlich bleibt. Die Konsultation wird insoweit auch nicht bereits deshalb rechtsfehlerhaft, weil die Maßnahme, deretwegen der zuständige Betriebsrat einbezogen werden soll, zu diesem Zeitpunkt als Folge der ersten Kündigung bereits unumkehrbar umgesetzt wurde. Andernfalls wäre eine Nachkündigung in solchen Konstellationen unmöglich, zumal das Konsultationsverfahren mangels möglicher Einflussnahme der Arbeitnehmervertretung von niemandem mehr rechtzeitig eingeleitet werden könnte. Dann aber wäre der Arbeitgeber außerstande gesetzt, seine unternehmerische Entscheidung jemals umzusetzen, was auch durch die MERL nicht gewollt sei10. Die Einflussnahmemöglichkeit der Arbeitnehmervertretung reduziere sich dann aber auf die Abmilderung der Folgen der bereits vollzogenen Massenentlassung11. Die Informationen, die dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG zur Vorbereitung der Beratungen gegeben werden müssen, entsprechen im Wesentlichen den Muss-Angaben der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG. Allerdings können sich die Muss-Angaben der Massenentlassungsanzeige von dem Inhalt der Information des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG unterscheiden, wenn die Maßnahmen als Folge der Beratungen mit dem Betriebsrat angepasst werden oder sich sonstige Veränderungen in der
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BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 48. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 52. EuGH v. 21.12.2016 – C-201/15, NZA 2017, 167 Rz. 29 ff., 41 – AGET Iraklis. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 52.
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Weitere Klarstellungen des BAG zur Massenentlassung nach § 17 KSchG
Zeit zwischen der Information des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG und der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG ergeben. Aus diesem Unterschied zwischen dem Inhalt der Information des Betriebsrats und dem der Massenentlassungsanzeige folgt auch, dass es – so das BAG – für die Information des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 KSchG ausreichend ist, den geplanten Zeitraum der Entlassungen mitzuteilen. Damit genüge es, den Monat mitzuteilen, in dem der Arbeitgeber nach seinem aktuellen Planungsstand die Kündigungen erklären wolle12. Ob der Arbeitgeber im Laufe des Konsultationsverfahrens verpflichtet sei, den geplanten Zeitraum der Entlassungen zu präzisieren, hänge – so das BAG – vom Verlauf des Konsultationsverfahrens und des Planungsstands sowie vom Kenntnisstand der Arbeitnehmervertretung ab. Zwar sei anerkannt, dass die erforderlichen Auskünfte durch den Arbeitgeber nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultationen zu erteilen seien, er sie aber „im Verlauf des Verfahrens“ zu vervollständigen und alle einschlägigen Informationen bis zu dessen Abschluss zu erteilen habe13. Eine erneute Unterrichtung bzw. Ergänzung der bisher erteilten Informationen bezüglich des Zeitraums i. S. v. § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 KSchG sei aber nicht erforderlich, wenn der Betriebsrat bzw. die sonstige Arbeitnehmervertretung die aktuelle Planung des Zeitablaufs ohnehin kenne oder zumindest einschätzen könne. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn das Konsultationsverfahren selbst eine Verzögerung bewirkt habe, der Arbeitgeber aber erkennbar an der Massenentlassung konzeptionell unverändert festhalte wolle14.
e)
Beendigung des Konsultationsverfahrens
Für den Arbeitgeber besteht im Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG kein Einigungszwang. Insbesondere besteht kein Zwang für den Arbeitgeber, die Vorstellungen des Betriebsrats zu übernehmen. Darauf weist das BAG ausdrücklich hin15. Hiervon ausgehend reicht es aus, wenn der Arbeitgeber mit dem ernsthaften Willen zur Einigung in die Verhandlungen mit dem Betriebsrat geht und bereit ist, dessen abweichende Vorschläge ins Kalkül zu ziehen und sich mit ihnen
12 BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 55 ff.; ErfK/Kiel, KSchG § 17 Rz. 22; MünchArbR/Spelge, § 121 Rz. 140. 13 Vgl. EuGH v. 10.9.2009 – C-44/08, NZA 2009, 1083 Rz. 52 f. – Akavan Erityisalojen Keskusliitto; BAG v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, NZA 2019, 1638 Rz. 41. 14 BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 58. 15 BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 64.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
auseinanderzusetzen16. Dem stehe nicht entgegen, dass der Arbeitgeber die Vermeidung oder Einschränkung von Entlassungen von bestimmten Bedingungen abhängig mache. Auch eine absolute Verhandlungs(mindest)dauer sei weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht vorgeschrieben17. Die Konsultationen zwischen den Betriebsparteien sind – so das BAG – ohne Einigung beendet, wenn der Arbeitgeber annehmen dürfe, es bestehe kein Ansatz für weitere, zielführende Verhandlungen. In diesem Rahmen komme dem Arbeitgeber eine Beurteilungskompetenz in Bezug auf die Frage zu, wann er den Beratungsanspruch des Betriebsrats als erfüllt ansehe18. Dies hat für die betriebliche Praxis erhebliche Bedeutung. Wichtig dürfte dabei allerdings sein, den Verhandlungsverlauf und die wechselseitigen Vorstellungen in Bezug auf die Möglichkeiten einer Einigung so genau zu dokumentieren, dass im Rahmen einer prozessualen Auseinandersetzung substantiiert dargelegt und ggf. auch bewiesen werden kann, dass alle ernstzunehmenden Fragen des Betriebsrats beantwortet wurden und angesichts der verbleibenden Fragen und Forderungen keine ernstzunehmende Einigungschance mehr gegeben war. Dabei kann es genügen, dass der Arbeitgeber selbst nicht mehr bereit ist, weitere Zugeständnisse zu machen.
f)
Weiterleitung einer Kopie der Betriebsratsinformationen an die Agentur für Arbeit
Gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit gleichzeitig – also eigentlich parallel zu der Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG – eine Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Informationen zuleiten. Sie muss mindestens die in § 17 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 bis 5 KSchG vorgeschriebenen Angaben enthalten. Der betrieblichen Praxis sei dringend empfohlen, dieses formale Erfordernis im Zusammenhang mit Massenentlassungen sorgfältig einzuhalten, bis über das Vorabentscheidungsersuchen des BAG vom 27.1.202219, über das wir berichtet haben20, entschieden ist. Denn bis dahin bleibt offen, ob dieses Hand-
16 BAG v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, NZA 2019, 1638 Rz. 48; BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 Rz. 57. 17 BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 64; BAG v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, NZA 2019, 1638 Rz. 51. 18 BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 64; BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1092 Rz. 143; BAG v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, NZA 2015, 881 Rz. 29. 19 BAG v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21 (A), NZA 2022, 491 Rz. 24 ff. 20 B. Gaul, AktuellAR 2022, 190 ff.
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Weitere Klarstellungen des BAG zur Massenentlassung nach § 17 KSchG
lungserfordernis individualschützenden Charakter hat, so dass eine Missachtung zu einer Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen im Zusammenhang mit der jeweiligen Massenentlassung führen kann. Auf die Offenheit dieser Frage hat das BAG auch im Urteil vom 8.11.202221 noch einmal hingewiesen. In diesem Fall hat der Kläger im Rahmen der Tatsacheninstanz indes nicht bestritten, dass der Insolvenzverwalter diese Vorgabe – wie vorgetragen worden war – erfüllt hatte, so dass der Vortrag als zugestanden galt (§ 138 Abs. 3 ZPO).
g)
Klarstellungen zur Massenentlassungsanzeige
Bereits mit Urteil vom 13.2.202222 hatte das BAG deutlich gemacht, dass es genügt, wenn in der Massenentlassungsanzeige die sog. Muss-Angaben des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG enthalten sind23. Die Soll-Angaben (Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer) können, wie dies auch in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG bestimmt wird, im Anschluss an die Massenentlassungsanzeige und damit auch nach Ausspruch der Kündigungen an die Agentur für Arbeit übermittelt werden. Bei der Massenentlassungsanzeige kommt es nicht darauf an, dass die erforderlichen Angaben in Gänze unter Verwendung der durch die Agentur für Arbeit entwickelten Formulare übermittelt werden. Ebenso genügt es, wenn – was aus Gründen der Vereinfachung durchaus denkbar ist – diese Angaben der Agentur für Arbeit im Rahmen eines Begleitschreibens mit Anlagen übermittelt werden. Das hat das BAG zu Recht klargestellt24. Fehler, die im Rahmen der Muss-Angaben erfolgen, bewirken allerdings nicht automatisch die Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen. Vielmehr ist mit Blick auf den Zweck der Massenentlassungsanzeige zu prüfen, ob der individualschützende Charakter in Bezug auf die streitgegenständliche Kündigung als Folge des Fehlers gefährdet ist. Das zeigt auch das aktuelle Urteil des BAG vom 8.11.202225. Dort hatte der Arbeitgeber im Rahmen der Massenentlassungsanzeige den Namen eines Arbeitnehmers vergessen. Dabei handelte es sich allerdings nicht um die Klägerin. Da es sich bei 358 benannten Beschäftigten im Übrigen um eine marginale Abweichung handelte, die keinen Einfluss auf die Tätigkeit der Agentur für Arbeit gehabt hatte, stünde es – so das
21 22 23 24 25
BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 67. BAG v. 13.2.2022 – 2 AZR 467/21, NZA 2022, 1051. B. Gaul, AktuellAR 2022, 189 ff., 525 ff. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 76. BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 77.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
BAG – mit dem Zweck der Massenentlassungsanzeige nicht im Einklang, wenn die fehlende Angabe einer einzigen Anzeige die Auflösung der Arbeitsverhältnisse auch aller anderen von der Massenentlassungsanzeige erfassten Arbeitnehmer hindern würde. Vielmehr könnten sich nur die Arbeitnehmer, die von der Massenentlassungsanzeige nicht erfasst seien, auf die zu niedrige Angabe der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer berufen26. In der betrieblichen Praxis ist darauf zu achten, dass dem Betriebsrat eine Kopie der Massenentlassungsanzeige zugeleitet werden muss. Eine Nichtbeachtung dieser Vorgabe bewirkt – so das BAG – indes keine Unwirksamkeit der Kündigungen. Denn bei dieser Regelung in § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG handele sich nicht um ein Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB27.
h)
Fazit
Nach wie vor sind zwar nicht alle Fragen zu § 17 KSchG geklärt. Offen sind insbesondere weitere Kriterien zur praxisgerechten Kennzeichnung des Betriebs i. S. d. § 17 Abs. 1 KSchG und eine Antwort auf die Frage, welche Rechtsfolgen ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG hat. Dem BAG ist allerdings zugutezuhalten, dass es versucht, möglichst viele Fragen einer höchstrichterlichen Klärung zuzuführen, obwohl diese Klärung eigentlich durch eine unionsrechtskonforme Anpassung des Gesetzes bewirkt werden sollte. Dieser Aufgabe verweigert sich der Gesetzgeber, obwohl seit der JungEntscheidung des EuGH vom 27.1.200528 dringender Handlungsbedarf gegeben ist. (Ga)
2.
Berücksichtigung der Rentennähe im Rahmen der Sozialauswahl
Gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG muss der Arbeitgeber bei einer betriebsbedingten Kündigung die Auswahlentscheidung unter den vergleichbaren Arbeitnehmern unter angemessener Berücksichtigung der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung der Arbeitnehmer treffen. Mit Ausnahme der Schwerbehinderung sind diese Kriterien auch bei der Auswahlentscheidung nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO zu berücksichtigen. Dabei besteht allerdings ein Beurteilungsspielraum. Nur „deutlich schutzwürdigeren“ Arbeitnehmern, bei denen eine Vergleichbarkeit gegeben ist, darf im Rahmen von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht 26 Ebenso BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 Rz. 50. 27 BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, NZA 2023, 166 Rz. 78 ff. 28 EuGH v. 27.1.2005 – C-188/03, NZA 2005, 213 – Jung.
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Berücksichtigung der Rentennähe im Rahmen der Sozialauswahl
gekündigt werden29. Darüber hinaus kann die Überprüfbarkeit der Sozialauswahl gemäß §§ 1 Abs. 4, 5 KSchG, 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO beschränkt sein. Mit Urteil vom 8.12.202230 hat das BAG klargestellt, dass bei der Gewichtung des Lebensalters zu Lasten des Arbeitnehmers im Rahmen der Sozialauswahl berücksichtigt werden kann, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gelte, wenn der Arbeitnehmer rentennah sei, weil eine solche abschlagsfreie Rente und die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses bezogen werden könnten. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen dürfe insoweit nicht berücksichtigt werden. In dem zugrunde liegenden Fall war die im Jahre 1957 geborene Klägerin seit 1972 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah. Die Klägerin war in einer Namensliste als zu kündigende Arbeitnehmerin genannt. Nachdem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27.3.2020 zum 30.6.2020 gekündigt hatte, erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage. Sie machte geltend, dass die Sozialauswahl fehlerhaft vorgenommen worden sei. Der Insolvenzverwalter war der gegenteiligen Ansicht. Er machte geltend, dass die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigsten schutzbedürftig gewesen sei. Sie habe als einzige die Möglichkeit gehabt, ab dem 1.12.2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236 b SGB VI) zu beziehen. Noch während des laufenden Kündigungsschutzverfahrens vereinbarte der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat wegen der nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung nach Ausproduktion zum 31.5.2021 einen zweiten Interessenausgleich mit Namensliste. Auf dessen Grundlage kündigte er der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29.6.2020 zum 30.9.2020. Auch dagegen erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage. Auch wenn das BAG – insoweit in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen – die erste Kündigung für unwirksam hielt, hat es die Kündigungsschutzklage wegen der zweiten Kündigung als unbegründet abgewiesen. Nach seiner Auf-
29 BAG v. 18.9.2018 – 9 AZR 20/18 n. v. (Rz. 29). 30 BAG v. 8.12.2022 – 6 AZR 31/22 n. v.
199
Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
fassung war die Kündigung wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30.9.2020 aufgelöst. In den Gründen seiner Entscheidung hat das BAG darauf hingewiesen, dass die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl in Bezug auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen durften. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei es, unter Beachtung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig sei. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ sei dabei ambivalent. So nehme die soziale Schutzbedürftigkeit mit steigendem Lebensalter zunächst zu, weil lebensältere Arbeitnehmer typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Die Schutzbedürftigkeit nehme aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters verfügen könne oder über ein solches bereits verfüge, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters beziehe. Lediglich eine Rente wegen Schwerbehinderung dürfe dabei keine Berücksichtigung finden. Diese Umstände könnten der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ auch zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Dies entspreche dem Wertungsspielraum, der mit §§ 1 Abs. 3 KSchG, 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO verbunden sei. Dass die erste Kündigung unwirksam war, war demgegenüber nicht an dem Umstand festzumachen, dass die Rentennähe zu einer geringeren Gewichtung des Lebensalters geführt hatte. Die Kündigung vom 27.3.2020 war unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgt und deshalb grob fehlerhaft war. Bei der zweiten Kündigung hatten die betrieblichen Sozialpartner diese Kriterien mitberücksichtigt, als sie die Klägerin im Rahmen der Namensliste für eine Kündigung zum 30.9.2020 vorgesehen hatten. Der Entscheidung ist ohne Einschränkung zuzustimmen. Wichtig für die betriebliche Praxis ist, dass die entsprechende Bewertung auch auf Kriterien zur Festlegung der Höhe einer Sozialplanabfindung übertragen werden kann. Denn auch die Sozialplanabfindung soll als Folge ihrer Überbrückungsfunktion etwaige Nachteile im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgleichen bzw. mildern. Diese Nachteile steigen zwar grundsätzlich mit zunehmendem Alter, wie das BAG in seinem Urteil vom 7.12.202131 31 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 42 ff.
200
Beginn des Sonderkündigungsschutzes bei Schwangerschaft
deutlich gemacht hat. Gleichzeitig können die betrieblichen Sozialpartner aber berücksichtigen, dass dem Arbeitnehmer im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Form eines Arbeitslosengeldanspruchs (24 Monate) und einer ungekürzten gesetzlichen Altersrente andere wirtschaftliche Ausgleichsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Folgerichtig kann vereinbart werden, dass der zunächst mit zunehmendem Lebensalter ansteigende Altersfaktor in Rentennähe wieder gekürzt wird32. Auch hier darf eine Altersrente wegen Schwerbehinderung aber natürlich nicht berücksichtigt werden. (Ga)
3.
Beginn des Sonderkündigungsschutzes bei Schwangerschaft
Nach § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG in der seit dem 1.1.201833 geltenden Fassung ist die Kündigung gegenüber einer Frau während ihrer Schwangerschaft unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwangerschaft bekannt ist oder wenn sie ihm innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. Die Überschreitung dieser Frist ist unschädlich, wenn sie auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird (§ 17 Abs. 1 S. 2 MuSchG). Die Regelung dient der Umsetzung von Art. 10 Richtlinie 92/85/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (Mutterschutzrichtlinie – MuSchRL)34. Die Reform des MuSchG 2018 führte dazu, dass Deutschland das IAO-Übereinkommen Nr. 183 zum Mutterschutz am 30.9.2021 ratifiziert hat35. Deutschland verpflichtet sich damit, die im Übereinkommen festgelegten internationalen Mutterschutzstandards einzuhalten, die jedoch bereits durch das neue MuSchG erfüllt sind. Das gilt auch für das Kündigungsverbot aus Art. 8 IAO-Übereinkommen Nr. 183, das Art. 10 MuSchRL nachgezeichnet hat. Der persönliche Geltungsbereich des MuSchG betrifft gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 MuSchG zunächst Frauen in einer Beschäftigung i. S. v. § 7 Abs. 1 SGB IV. 32 Vgl. BAG v. 9.12.2014 – 1 AZR 102/13, NZA 2015, 365 Rz. 22; Gaul/Ludwig/Otto, Arbeitsrecht der Umstrukturierung § 25 Rz. 25.259 ff.; HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG § 112 Rz. 52. 33 BGBl. I 2017, 1228, geändert durch BGBl. I 2019, 2652, in Kraft getreten gemäß Art. 10 Abs. 1 S. 1 MuSchG. 34 ABl. EU 1992, L 348, 1; BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 498/19, NZA 2020, 721 Rz. 14. 35 BGBl. II 2021, 963.
201
Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
Nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV ist Beschäftigung die nicht selbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Unabhängig davon wird der Geltungsbereich nach § 1 Abs. 2 S. 2 MuSchG unter Nrn. 1 bis 8 auf weitere Frauengruppen ausgedehnt, wobei nach Nr. 7 auch Frauen erfasst werden, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind. Diese Regelung beruht auf der Rechtsprechung des EuGH im Danosa-Urteil vom 11.11.201036, in der der notwendige Schutz für Schwangere unabhängig von der Frage, ob es sich bei ihnen um Arbeitnehmerinnen oder selbständig Erwerbstätige handelt, für die Zwecke der MuSchRL angenommen wird37. § 17 Abs. 1 MuSchG enthält ein gesetzliches Verbot i. S. v. § 134 BGB. Eine Kündigung unter Verstoß gegen dieses Verbot ist gemäß § 134 BGB nichtig38. Das Kündigungsverbot gegenüber einer schwangeren Arbeitnehmerin gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG gilt bereits für eine Kündigung vor der vereinbarten Tätigkeitsaufnahme, so dass für dessen Eingreifen die Bekanntgabe einer bestehenden Schwangerschaft nach Abschluss des Arbeitsvertrags ausreichend ist39. Weder in der MuSchRL noch im MuSchG findet sich eine Regelung, wie der Zeitpunkt für den Beginn des Kündigungsverbots während einer Schwangerschaft bei natürlicher Empfängnis zu bestimmen ist40. Im Zusammenhang mit den Schutzfristen vor und nach der Entbindung ist für die Berechnung der Schutzfrist vor der Entbindung nach § 3 Abs. 1 S. 3 MuSchG der voraussichtliche Tag der Entbindung maßgeblich, wie er sich aus dem ärztlichen Zeugnis oder dem Zeugnis einer Hebamme oder eines Entbindungspflegers ergibt. Entbindet eine Frau nicht am voraussichtlichen Termin, verkürzt oder verlängert sich nach § 3 Abs. 1 S. 4 MuSchG die Schutzfrist vor der Entbindung entsprechend. Daraus schlussfolgert das BAG41, dass der werdenden Mutter und mittelbar dem Kind der Schutz des MuSchG auch dann zugutekommen
EuGH v. 11.11.2010 – C-232/09, NZA 2011, 143 – Danosa. BT-Drucks. 18/8963 S. 33 f. BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 498/19, NZA 2020, 721 Rz. 9 m. w. N. BAG v. 27.2.2020 – 2 AZR 498/19, NZA 2020, 721 Rz. 10. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 237/14, NZA 2015, 1470 Rz. 18: Aufgrund einer Befruchtung außerhalb des Körpers (in-vitro-Fertilisation) besteht das Kündigungsverbot ab dem Zeitpunkt der Einsetzung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter (Embryonentransfer); vgl. dazu auch EuGH v. 26.2.2008 – C-506/06, NZA 2008, 345 – Mayr, wenn in vitro befruchtete Eizellen existieren, diese aber noch nicht in die Gebärmutter eingesetzt worden sind. 41 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 16. 36 37 38 39 40
202
Beginn des Sonderkündigungsschutzes bei Schwangerschaft
soll, wenn die Prognose des tatsächlichen Entbindungstermins unzutreffend ist. Nach der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats des BAG42 wird der Beginn des Kündigungsverbots aus § 17 Abs. 1 S. 1 MuSchG bei natürlicher Empfängnis in entsprechender Anwendung von § 15 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 MuSchG in der Weise bestimmt, dass von dem ärztlich festgestellten mutmaßlichen Tag der Entbindung – ohne den Entbindungstag mitzuzählen – um 280 Tage zurückgerechnet wird. Der Geburtstermin wird auf der Grundlage der letzten Menstruationsblutung berechnet43. Dieser Zeitraum umfasst die mittlere Schwangerschaftsdauer, die bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus zehn Lunarmonate zu je 28 Tagen – gerechnet vom ersten Tag der letzten Regelblutung an – beträgt. Dieser vom BAG gewählte Zeitraum stellt die äußerste zeitliche Grenze und damit die günstigste Berechnungsmethode für die Arbeitnehmerin dar, innerhalb derer bei normalem Zyklus eine Schwangerschaft vorliegen kann44. Demgegenüber wird vertreten, dass ausgehend von einem typischen Geschehensablauf zur Ermittlung des Zeitpunkts der Konzeption vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin nur 266 Tage zurückgerechnet werden kann45. Die schwangere Arbeitnehmerin ist gehalten, den gesetzlichen Unwirksamkeitsgrund des § 17 Abs. 1 MuSchG innerhalb der dreiwöchigen Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG vor dem Arbeitsgericht geltend zu machen46. Die fehlende Zustimmung der Aufsichtsbehörde (§ 17 Abs. 2 S. 1 MuSchG) ändert daran nichts, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwangerschaft bei Ausspruch der Kündigung hat. War dem Arbeitgeber die Schwangerschaft bei Ausspruch der Kündigung jedoch bekannt, weil eine entsprechende Mitteilung der Arbeitnehmerin vorliegt oder die Schwangerschaft offenkundig ist, findet § 4 S. 4 KSchG Anwendung, wonach die Frist zur Anrufung des Arbeitsgerichts erst ab der Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an die Arbeitnehmerin anläuft. Wenn eine Frau von ihrer Schwangerschaft aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund erst nach Ablauf der Frist des § 4 42 Vgl. zu § 9 MuSchG in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 17; BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 237/14, NZA 2015, 734 Rz. 15 f.; BAG v. 12.5.2011 – 2 AZR 384/10, NZA 2012, 208 Rz. 33. 43 Merck, Sharp & Dohme, MSD-Manual, 7. deutsche Auflage, S. 2633. 44 Vgl. auch BVerfG v. 26.6.1995 – 1 BvR 1928/94 n. v. (Rz. 1): Eine Rückrechnung um 280 Tage vom mutmaßlichen Geburtstermin aus verstößt angesichts der bestehenden Unsicherheiten nicht gegen das Willkürverbot von Art. 3 Abs. 1 GG. 45 LAG Baden-Württemberg v. 1.12.2021 – 4 Sa 32/21, NZA-RR 2022, 78 Rz. 44 f. m. w. N.; Merck, Sharp & Dohme, MSD-Manual, 7. deutsche Auflage, S. 2633. 46 BAG v. 19.2.2009 – 2 AZR 286/07, NZA 2009, 980 Rz. 22.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
S. 1 KSchG Kenntnis erlangt hat, kommt eine nachträgliche Klagezulassung nach § 5 Abs. 1 S. 2 KSchG in Betracht. Der 2. Senat des BAG war in der Entscheidung vom 24.11.202247 erneut mit der Frage befasst, zu welchem genauen Zeitpunkt der Beginn des Kündigungsverbots nach § 17 Abs. 1 MuSchG einsetzt. Die Beklagte kündigte das seit dem 15.10.2020 bestehende Arbeitsverhältnis mit einem der Klägerin am 7.11.2020 zugegangenen Schreiben vom 6.11.2020 ordentlich. Mit einem am 12.11.2020 beim ArbG Heilbronn eingegangenen Schriftsatz erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 2.12.2020, der am Folgetag beim ArbG Heilbronn und bei der Beklagten am 7.12.2020 einging, teilte die Klägerin mit, in der sechsten Woche schwanger zu sein. Der Abschrift war eine Schwangerschaftsbestätigung ihrer Frauenärztin vom 26.11.2020 beigefügt. Nach einer weiteren im Kündigungsschutzverfahren vorgelegten Schwangerschaftsbescheinigung war der voraussichtliche Geburtstermin mit dem 5.8.2021 angegeben. Die Klägerin berief sich darauf, bereits zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 7.11.2020 schwanger gewesen zu sein, jedoch von der Schwangerschaft erst am 26.11.2020 sichere Kenntnis erhalten zu haben. Die verspätete Mitteilung an die Beklagte sei unverschuldet und unverzüglich nach ihrer – der Klägerin – Kenntnis erfolgt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das LAG Baden-Württemberg48 hat nur auf die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer von 266 Tagen abgestellt, so dass nach dieser Berechnungsmethode zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch keine Schwangerschaft der Klägerin eingetreten war. Das BAG hat den Rechtsstreit an das LAG Baden-Württemberg zurückverwiesen. Ausgehend von dem in der ärztlichen Bescheinigung genannten voraussichtlichen Entbindungstermin am 5.8.2021 führt jedoch eine Rückrechnung um 280 Tage – ohne den Entbindungstag mitzuzählen – zu einem Beginn der Schwangerschaft am 29.10.2020, so dass nach bisheriger Rechtsprechung des BAG bei Zugang der Kündigung am 7.11.2020 bereits das Kündigungsverbot nach § 17 Abs. 1 MuSchG bestand. Unter Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BAG49 daran festgehalten, dass das Kündigungsverbot aus § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG 280 Tage vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin einsetzt. Ausschlaggebend war dafür, dass sich diese Berechnungsmethode für die Bestimmung des Kündigungsverbots wegen Schwangerschaft zur Gewährleistung der Sicherheit und des verfassungs47 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291. 48 LAG Baden-Württemberg v. 1.12.2021 – 4 Sa 32/21, NZA-RR 2022, 78. 49 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 21.
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Beginn des Sonderkündigungsschutzes bei Schwangerschaft
rechtlich gebotenen Schutzes (Art. 6 Abs. 4 GG) von schwangeren Arbeitnehmerinnen an dem frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft orientiere. Mitentscheidend für diese Berechnungsmethode war außerdem ein Rückgriff auf die Rechtsprechung des EuGH50. Danach soll das in Art. 10 MuSchRL vorgesehene Kündigungsverbot verhindern, dass sich die Gefahr, aus Gründen entlassen zu werden, die mit ihrem Zustand in Verbindung stehen, schädlich auf die physische und psychische Verfassung von schwangeren Arbeitnehmerinnen auswirken kann, weshalb es unter diesen Umständen offensichtlich sei, vom frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft auszugehen, um die Sicherheit und den Schutz der schwangeren Arbeitnehmerinnen zu gewährleisten. Aufgrund dieser Rechtsprechung des EuGH konnte das BAG auch von einem Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV an den EuGH absehen. Dies gilt nach Ansicht des BAG unabhängig davon, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung in § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG über die Vorgaben des Unionsrechts hinausgegangen sei, das eine Kündigung erlaubt, wenn diese nicht mit dem Zustand der schwangeren Arbeitnehmerin im Zusammenhang steht51, weil diese Abweichung keinen Einfluss auf die Frage des Zeitpunkts des Vorliegens einer Schwangerschaft hat. Die 280-Tage-Berechnungsmethode des BAG schließt jedoch die Feststellung nicht aus, dass zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch keine Schwangerschaft der Arbeitnehmerin vorgelegen hat. Hierzu führt das BAG52 aus, dass die Arbeitnehmerin die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer Schwangerschaft und den voraussichtlichen Entbindungstermin trifft, die regelmäßig mit einer ärztlichen Bescheinigung erfüllt wird und Ausgangspunkt für die dann durchzuführende Berechnung ist. Die ärztliche Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 MuSchG über den mutmaßlichen Tag der Entbindung, die für das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 S. 1 MuSchG maßgeblich ist, hat einen hohen Beweiswert. Dieser kann jedoch erschüttert werden. Das ist etwa der Fall, wenn unterschiedliche oder irrtümliche bzw. unrichtige Angaben der schwangeren Arbeitnehmerin über den ersten Tag ihrer letzten Regelblutung vorliegen oder sich der Arzt über den voraussichtlichen Tag der Niederkunft geirrt hat oder durch diagnostische Methoden eine geänderte Bestimmung des Beginns der letzten Regelblutung getroffen wird und diese Umstände vom Arbeitgeber dargelegt und bewiesen werden. Das BAG53
50 51 52 53
EuGH v. 26.2.2008 – C-506/06, NZA 2008, 345 Rz. 39 ff. – Mayr. Ebenso Art. 8 IAO-Übereinkommen Nr. 183. BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 27. BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 27.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
verlangt bei derartigem Befund, dass die Arbeitnehmerin für ihren anderslautenden Vortrag ihren Arzt von der Schweigepflicht entbinden muss. Möglicherweise kommt auch eine Parteivernehmung der Arbeitnehmerin in Betracht. Auf den Streitfall bezogen geht das BAG davon aus, dass sich die Klägerin auf das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2 MuSchG berufen kann, weil aufgrund einer vom ArbG Heilbronn durchgeführten Beweisaufnahme von einem voraussichtlichen Entbindungstermin am 5.8.2021 auszugehen und damit das Kündigungsverbot mit dem 29.10.2020 eingetreten war. Da der Beklagten die Schwangerschaft der Klägerin bei Ausspruch der Kündigung nicht bekannt war und sie ihr auch nicht innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung am 7.11.2020 mitgeteilt worden war, sondern erst am 7.12.2020 bekanntgemacht wurde, bedurfte es nach § 17 Abs. 1 S. 2 MuSchG der Klärung, ob die Überschreitung dieser Frist für die Klägerin unschädlich war. Davon ist auszugehen, wenn die Überschreitung der Frist auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird. Den nicht zu vertretenden Grund umschreibt das BAG54 damit, dass die Fristüberschreitung von der schwangeren Frau dann zu vertreten ist, wenn sie auf einen gröblichen Verstoß gegen das von einem ordentlichen und verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten zurückzuführen ist (Verschulden gegen sich selbst). Ein derartiges Verschulden gegen sich selbst hält das BAG55 für gegeben, wenn die schwangere Arbeitnehmerin die Mitteilung innerhalb der Zwei-WochenFrist unterlässt, obwohl sie die Schwangerschaft kennt, oder zwingende Anhaltspunkte für sie gegeben sind, wonach sich das Vorliegen einer Schwangerschaft unabweisbar aufdrängt. Da sich das LAG Baden-Württemberg als Vorinstanz wegen der von ihm angewandten anderweitigen Berechnungsmethode des Beginns der Schwangerschaft der Klägerin dieser Frage nicht zugewandt hatte, hat das BAG den Rechtsstreit zu weiteren Feststellungen an das LAG Baden-Württemberg zurückverwiesen. Soweit der Klägerin die Überschreitung der Mitteilungsfrist nicht anzulasten ist, musste sie jedoch unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 BGB), die Mitteilung ihrer Schwangerschaft gegenüber dem Arbeitgeber nachholen. Soweit dies unverzüglich erfolgt, kann die Information des Arbeitgebers auch mittels eines Schriftsatzes geschehen, wobei
54 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 37. 55 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 37; so bereits zur zwingenden und unabweisbaren Schwangerschaftsvermutung BAG v. 6.10.1983 – 2 AZR 368/82, NJW 1984, 1418 Rz. 23.
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Beginn des Sonderkündigungsschutzes bei Schwangerschaft
das BAG56 den Zeitraum von einer Woche als nicht zu lang erachtet hat. Ebenso kann die Arbeitnehmerin die erforderliche Mitteilung der Schwangerschaft mit der Erhebung der Kündigungsschutzklage verbinden. Dabei eintretende Mitteilungshindernisse des rechtzeitigen Zugangs der Schwangerschaftsmitteilung, die von der Arbeitnehmerin nicht beeinflussbar sind und an deren Eintritt sie deshalb auch kein eigenes Verschulden treffen kann, fallen unter Berücksichtigung des Schutzzwecks von Art. 6 Abs. 4 GG nicht in ihre Risikosphäre57. Angesichts dessen haftet die Arbeitnehmerin nach Auffassung des BAG58 auch nicht für das Verschulden eines von ihr mit der Schwangerschaftsmitteilung beauftragten Boten oder allgemein zur Wahrnehmung ihrer Rechte gegenüber dem Arbeitgeber ermächtigten Vertreters nach § 278 BGB oder Prozessbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO. Der von ihr mit der Mitteilung beauftragte Dritte ist kein Erfüllungsgehilfe i. S. d. § 278 BGB, weil sich diese Vorschrift nur auf die Erfüllung von Verbindlichkeiten des Schuldners gegenüber dem Gläubiger bezieht und eine Obliegenheitsverletzung nicht dazugehört, was auch einer sinngemäßen Anwendung des § 278 BGB auf das Verhalten eines Vertreters im Wege steht. Die Anwendung von § 85 Abs. 2 ZPO beschränkt sich auf Prozesshandlungen, zu denen die Schwangerschaftsmitteilung nicht gehört. Die Bedeutung dieser Entscheidung des BAG für die betriebliche Praxis ist darin zu sehen, dass sich das BAG bei der Auslegung von § 17 Abs. 1 MuSchG an der bisherigen Rechtsprechung zu § 9 MuSchG orientiert und diese Rechtsprechung fortführt. Daneben ist nach Inkrafttreten des AGG stets zu beachten, dass die Kündigung einer Arbeitnehmerin, deren Schwangerschaft dem Arbeitgeber bekannt ist, ohne die dafür notwendige Zustimmung der Behörde einzuholen (§ 17 Abs. 2 MuSchG), bei bloßer Mitursächlichkeit eine unmittelbare Benachteiligung i. S. v. § 3 Abs. 1 S. 1 AGG wegen ihres Geschlechts als einem der in § 1 AGG genannten, verbotenen Merkmale darstellen kann, weil sie als Frau 56 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 40; BAG v. 27.10.1983 – 2 AZR 214/83, DB 1984, 1203 Rz. 27: Acht Tage bei Erhebung einer Kündigungsschutzklage; BAG v. 6.10.1983 – 2 AZR 368/82, NJW 1984, 1418 Rz. 26. 57 So BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 41; BAG v. 27.10.1983 – 2 AZR 214/83, DB 1984, 1203 Rz. 28. 58 BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, NZA 2023, 291 Rz. 43 ff.; BAG v. 27.10.1983 – 2 AZR 214/83, DB 1984, 1203 Rz. 29 ff: Das BAG stützt diese Auffassung zusätzlich auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz, wonach es schwangeren Arbeitnehmerinnen nicht übermäßig erschwert werden darf, ihre Rechte aus Art. 10 MuSchRL durchzusetzen.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
wegen ihrer Schwangerschaft ungünstiger behandelt worden ist (§ 3 Abs. 1 S. 2 AGG) und dafür wegen der Missachtung des besonderen Kündigungsschutzes aus § 17 Abs. 1 MuSchG ein entsprechendes Indiz nach § 22 AGG vorliegt59. Kann der Arbeitgeber nicht nachweisen, dass keinerlei Kausalzusammenhang zwischen der Kündigung und der Schwangerschaft besteht, macht er sich nach § 15 Abs. 2 AGG entschädigungspflichtig. (Boe)
4.
Betriebsratsanhörung bei Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz
Nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung anzuhören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen (§ 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam. Die Kündigung des Arbeitgebers darf gegenüber dem Arbeitnehmer nicht vor Ablauf der dem Betriebsrat nach §§ 102 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 BetrVG eingeräumten Fristen erklärt werden, wenn dieser nicht zuvor eine das Anhörungsverfahren abschließende Stellungnahme abgegeben hat60. Die mit der fehlerhaften oder unterlassenen Anhörung des Betriebsrats verknüpfte Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung wird grundsätzlich in jedem Kündigungsschutzprozess vom gekündigten Arbeitnehmer thematisiert, weil insoweit den Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast einer ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats trifft61, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess die Existenz eines Betriebsrats darlegt und ggf. nachweist sowie einen Verstoß gegen § 102 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 BetrVG rügt. Die Frage der Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung hängt häufig davon ab, ob der Umfang der Informationen des Arbeitgebers den Anhörungsvoraussetzungen genügt. Das BAG hat hierzu allgemeine Grundsätze aufgestellt, wonach zunächst für die Mitteilung der Kündigungsgründe der Grundsatz der
59 Vgl. dazu BAG v. 2.6.2022 – 8 AZR 191/21, NZA 2022, 1461 Rz. 30: Entschädigungsanspruch wegen unwirksamer Kündigung bei unterlassener Einholung der Zustimmung des Integrationsamts bei einem schwerbehinderten Arbeitnehmer; BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12, NZA 2014, 722 Rz. 14: Entschädigungsanspruch bei ungünstigerer Behandlung wegen der Schwangerschaft und damit des Geschlechts. 60 BAG v. 25.5.2016 – 2 AZR 345/15, NZA 2016, 1140 Rz. 24. 61 BAG v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, NZA 2015, 889 Rz. 32; BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 546/12, NZA 2014, 143 Rz. 45; BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, NZA 2013, 277 Rz. 43.
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Betriebsratsanhörung bei Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz
subjektiven Determinierung gilt62. Danach hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat wahrheitsgemäß die Umstände mitzuteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben. Zugleich relativiert das BAG63 diese Aussage unter Heranziehung des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Dieser gebiete dem Arbeitgeber, neben einer vollständigen und wahrheitsgemäßen Information der Kündigungsgründe den Betriebsrat auch über ihm bekannte Tatsachen unterrichten zu müssen, die den Arbeitnehmer bei objektiver Betrachtung entscheidend entlasteten und deshalb gegen eine Kündigung sprechen könnten. Das gilt etwa im Falle einer verhaltensbedingten Kündigung für die Mitteilung zu Gunsten des Arbeitnehmers sprechender persönlicher sozialer Umstände des Arbeitnehmers, auf die es dem Arbeitgeber bei seinem Kündigungsentschluss nicht ankommt. Die unterlassene Information entlastender Umstände soll nur dann für die Wirksamkeit der Anhörung unschädlich sein, wenn der Betriebsrat jedenfalls die ungefähren Daten ohnehin kennt64. Was den Umfang der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG anbelangt, gilt die vom BAG65 in ständiger Rechtsprechung angewandte Formel, dass die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers im Rahmen von § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG nicht so weit reiche wie seine Darlegungslast im Prozess, weil die Anhörung nicht darauf angelegt sei, dem Betriebsrat eine Rechtskontrolle der Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung einzuräumen, sondern eine Einflussnahme auf die Willensbildung des Arbeitgebers zu ermöglichen, so dass es insbesondere durch das Aufzeigen von Bedenken gar nicht erst zum Ausspruch einer Kündigung komme. Die Mitteilung des Arbeitgebers muss jedenfalls ausführlich genug sein, damit der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich ein Bild zu machen. Ob der Arbeitgeber im Falle einer beabsichtigten fristlosen Kündigung eines Arbeitnehmers, der im Kündigungszeitpunkt einen gesetzlichen Sonderkündigungsschutz genießt, dem Betriebsrat (Personalrat) diesen Sonderkündi62 Nur BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 417/14, NZA 2015, 1083 Rz. 45; BAG v. 23.10.2014 – 2 AZR 736/13, NZA 2015, 476 Rz. 14; BAG v. 21.11.2013 – 2 AZR 797/11, NZA 2014, 243 Rz. 24. 63 BAG v. 23.10.2014 – 2 AZR 736/13, NZA 2015, 476 Rz. 14; BAG v. 3.11.2011 – 2 AZR 748/10, NZA 2012, 607 Rz. 38. 64 BAG v. 23.10.2014 – 2 AZR 736/13, NZA 2015, 476 Rz. 15. 65 Vgl. dazu BR-Drucks. 715/70 S. 72; BAG v. 25.5.2016 – 2 AZR 345/15, NZA 2016, 1140; BAG v. 23.10.2014 – 2 AZR 736/13, NZA 2015, 476 Rz. 22; BAG v. 23.10.2008 – 2 AZR 163/07, BB 2009, 1758 Rz. 19 m. w. N.; BAG v. 22.9.1994 – 2 AZR 31/94, NZA 1995, 363 Rz. 25.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
gungsschutz zur Wahrnehmung einer ordnungsgemäßen Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG mitzuteilen hat, ist Gegenstand der Entscheidung des BAG vom 24.11.202266. Dem Kläger, der im Juni 2017 zum stellvertretenden Strahlenschutzbeauftragten der Klinik für Nuklearmedizin bestellt worden war, wurde vom Klinikum mit Schreiben vom 9.3.2018 mit Wirkung für die beklagte Universität außerordentlich fristlos gekündigt. Die zuvor durchgeführte Anhörung des Personalrats (Betriebsrats) der Beklagten enthielt nicht den Hinweis, dass ein Strahlenschutzbeauftragter in einem Arbeitsverhältnis gemäß § 70 Abs. 6 Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) nur aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden kann. Mit der rechtzeitig erhobenen Kündigungsschutzklage hat der Kläger die Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung unter anderem darauf gestützt, dass dem Personalrat (Betriebsrat) fehlerhaft nicht mitgeteilt worden sei, dass ihm als stellvertretendem Strahlenschutzbeauftragten nicht ordentlich hätte gekündigt werden dürfen. Das LAG Hessen67 ist dieser Ansicht gefolgt und hat eine unvollständige Anhörung des Personalrats (Betriebsrats) angenommen, wenn dem Personaloder Betriebsrat bei einer außerordentlichen Kündigung ein für eine ordentliche Kündigung bestehender gesetzlicher Sonderkündigungsschutz verschwiegen wird. Das BAG68 hat sich dieser Auffassung nicht anschließen können und den Rechtsstreit unter Aufhebung der Sache an eine andere Kammer des LAG Hessen zur Prüfung des wichtigen Kündigungsgrundes zurückverwiesen. Dabei hat das BAG im Ergebnis unentschieden gelassen, ob dem Kläger überhaupt der durch § 70 Abs. 6 S. 2 StrlSchG vermittelte Schutz vor einer ordentlichen Kündigung zugutegekommen ist, weil ein Arbeitgeber im Falle des gesetzlichen oder tariflichen Ausschlusses einer ordentlichen Kündigung, der eine Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist unberührt lasse, dem Personal- bzw. Betriebsrat nicht mitteilen müsse, dass dem Arbeitnehmer dieses Sonderkündigungsschutzrecht zustünde69. Insoweit setzt der 2. Senat des BAG seine bisherige Rechtsprechung70 fort. In der Entscheidung vom 7.5.202071 ging es um einen Arbeitnehmer, der auf der Grundlage des für ihn geltenden Tarifvertrags der Metall- und Elektroindu-
66 67 68 69 70 71
BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 287/22, NZA 2022, 1682. LAG Hessen v. 7.7.2022 – 8 Sa 740/20 n. v. BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 287/22, NZA 2022, 1682 Rz. 7. BAG v. 24.11.2022 – 2 AZR 287/22, NZA 2022, 1682 Rz. 11. BAG v. 7.5.2020 – 2 AZR 678/19, NZA 2020, 1110 Rz. 13. BAG v. 7.5.2020 – 2 AZR 678/19, NZA 2020, 1110.
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strie NRW ordentlich unkündbar war, die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung aber ausdrücklich unberührt blieb. Die Beklagte hatte vor Ausspruch der fristlosen Kündigung dem Betriebsrat weder den tariflichen Sonderkündigungsschutz noch die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB mitgeteilt. Unter Hinweis auf diese Unterlassungen berief sich der Kläger auf die Unwirksamkeit der Kündigung. Das BAG hat im Hinblick auf diese Unterlassungen die Anhörung des Betriebsrats nicht beanstandet, weil es bezweifelte, dass die tarifliche Unkündbarkeit und die Kündigungserklärungsfrist überhaupt zu den Gründen für die Kündigung i. S. v. § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG gehörten. Entscheidend war für das BAG jedoch des Weiteren, dass die Anhörung dem Betriebsrat im Sinne einer Kontrollfunktion nicht die selbständige objektive Überprüfung der rechtlichen Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung ermöglichen, sondern ihn nach dem Sinn und Zweck des Beteiligungsrechts in die Lage versetzen soll, sachgerecht zu Gunsten des Arbeitnehmers auf den Arbeitgeber dahingehend einzuwirken72, etwa die ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten oder ganz von der Kündigung Abstand zu nehmen. Daran wird der Betriebsrat durch die unterlassene Mitteilung der tariflichen Unkündbarkeit zweifelsfrei nicht gehindert. In dieser Entscheidung hat das BAG die Wahrung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei einer fristlosen Kündigung gleichermaßen nicht dem Anhörungsgebot nach § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG unterworfen, weil die Wahrung der Ausschlussfrist nicht zu den Gründen für die Kündigung gehörte. In diesem Zusammenhang schwächt das BAG diese Aussage jedoch ab, weil dem Arbeitgeber aufgegeben wird, dem Betriebsrat wahrheitsgemäß mitteilen zu müssen, wann sich der Kündigungssachverhalt zugetragen hat73. Damit eröffnet der Arbeitgeber dem Betriebsrat den Einwand, in seiner Stellungnahme die Verfristung der Kündigung zu reklamieren. Der ggf. sicherste Weg für die betriebliche Praxis hinsichtlich des Umfangs der Anhörung des Betriebsrats besteht wohl darin, dem Betriebsrat im Vorgriff auf einen zu führenden Kündigungsschutzprozess sämtliche Kündigungsgründe mitzuteilen, die auch zur Rechtfertigung der Kündigung in der prozessualen Auseinandersetzung herangezogen werden sollen. Dies gilt umso mehr, weil sich die Überprüfung der Kündigungsberechtigung des Arbeitgebers im Kündigungsrechtsstreit zur Absicherung der Beteiligungsrechte aus
72 BAG v. 7.5.2020 – 2 AZR 678/19, NZA 2020, 1110 Rz. 16 f. 73 BAG v. 7.5.2020 – 2 AZR 678/19, NZA 2020, 1110 Rz. 17.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
§ 102 BetrVG74 auf die dem Betriebsrat im Anhörungsverfahren mitgeteilten Kündigungsgründe beschränkt75. (Boe)
5.
Begründung eines Auflösungsantrags nach §§ 9, 10 KSchG
Nach der Grundkonzeption des KSchG führt die Sozialwidrigkeit einer Kündigung zu deren Rechtsunwirksamkeit und zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses. Das KSchG ist vorrangig ein Bestandsschutz- und kein Abfindungsgesetz76. Dieser Grundsatz wird durch § 9 KSchG unter der Voraussetzung durchbrochen, dass entweder dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann oder bezogen auf den Auflösungsantrag des Arbeitgebers eine Vertrauensgrundlage für eine sinnvolle Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr besteht. Daher bestimmt § 9 Abs. 1 S. 1 KSchG, dass im Falle der Feststellung durch das Gericht, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, jedoch dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann, das Gericht auf Antrag des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den Arbeitgeber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen hat. Nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG hat das Gericht auf Antrag des Arbeitgebers die gleiche Entscheidung zu treffen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Auflösungsentscheidung und damit der negativen Zukunftsprognose durch das Arbeitsgericht ist der Termin der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz77. Angesichts dessen können mögliche Auflösungsgründe durch Zeitablauf ihr Gewicht verlieren, weil sich die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung geändert haben78. Allerdings
74 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 546/12, NZA 2014, 143 Rz. 49. 75 So bereits BAG v. 1.4.1981 – 7 AZR 1003/78, NJW 1981, 2772 Rz. 29 und zum Nachschieben von Kündigungsgründen Rz. 30. 76 BVerfG v. 22.10.2004 – 1 BvR 1944/01, NZA 2005, 41; BAG v. 14.12.2017 – 2 AZR 86/17, NZA 2018, 646 Rz. 40; BAG v. 8.10.2009 – 2 AZR 682/08, ZTR 2010, 163 Rz. 13; vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 7 KSchG v. 23.1.1951, RdA 1951, 64; zum Ganzen MAHArbR/Boewer, § 48 Rz. 29 ff. 77 BAG v. 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, NZA 2016, 540 Rz. 60; BAG v 10.3.2002 – 2 AZR 158/01, NZA 2003, 261 Rz. 35. 78 BAG v. 27.9.2022 – 2 AZR 92/22, NZA 2022, 1670 Rz. 14; BAG v. 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, NZA 2016, 540 Rz. 61.
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Begründung eines Auflösungsantrags nach §§ 9, 10 KSchG
können sich Auflösungsgründe auch erst während des Laufs des Prozesses ergeben79. Soweit es um den Auflösungsantrag des Arbeitgebers geht (§ 9 Abs. 1 S. 2 KSchG), wird dieser durch § 13 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 KSchG in zweifacher Weise eingeschränkt. Der Antrag ist im Falle einer unbegründeten außerordentlichen Kündigung des Arbeitgebers80 sowie dann unstatthaft, wenn die ordentliche Kündigung nicht ausschließlich nach § 1 Abs. 2, 3 KSchG sozialwidrig ist und weitere Unwirksamkeitsgründe vorliegen81. In der Entscheidung vom 27.9.2022 war der 2. Senat des BAG mit der Besonderheit befasst, ob ein arbeitgeberseitiger Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG auf einen Sachverhalt gestützt werden kann, der während des Bestehens eines Sonderkündigungsschutzes als Wahlbewerber nach § 15 Abs. 3 S. 1 KSchG entstanden war. Dem bei der Beklagten als Elektroniker beschäftigten Kläger war von der Beklagten fristlos und hilfsweise ordentlich zum 31.10.2019 gekündigt worden. Da sich beide Kündigungen als unwirksam erwiesen, hat die Beklagte im Kündigungsschutzprozess vorsorglich beantragt, das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.10.2019 gegen Zahlung einer in das Ermessen des Gerichts zu stellenden Abfindung aufzulösen. Zur Begründung des Auflösungsantrags hat die Beklagte bereits abgemahnte Pflichtverletzungen sowie einen bewusst wahrheitswidrigen Prozessvortrag herangezogen und ein pflichtwidriges Verhalten des Klägers im Dezember 2020 angeführt, als der Kläger Bewerber für die Wahl eines neuen Betriebsrats war. Die Vorinstanzen haben den Auflösungsantrag abgewiesen. Das LAG Niedersachsen82 hat die Zurückweisung des Auflösungsantrags unter anderem damit begründet, dass die Beklagte die vom Kläger während der Zeit des besonderen Kündigungsschutzes als Wahlbewerber (§ 15 Abs. 2 S. 1 KSchG) begangenen Pflichtwidrigkeiten nicht zur Begründung des Auflösungsantrags heranziehen könne, weil § 15 Abs. 2 S. 1 KSchG i. V. m. § 103 BetrVG lex specialis gegenüber § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG sei. Außerdem könne
79 BAG v. 24.5.2018 – 2 AZR 73/18, NZA 2018, 1131 Rz. 38: Bewusst wahrheitswidriger Vortrag im Kündigungsrechtsstreit. 80 BAG v. 27.9.2022 – 2 AZR 92/22, NZA 2022, 1670 Rz. 9; BAG v. 30.9.2010 – 2 AZR 160/09, NZA 2011, 349 Rz. 15 f.: In Fällen, in denen das Recht des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis ordentlich zu kündigen, tariflich ausgeschlossen ist, gilt nichts anderes. 81 BAG v. 27.9.2022 – 2 AZR 92/22, NZA 2022, 1670 Rz. 14; BAG v 13.12.2018 – 2 AZR 378/18, NZA 2019, 305 Rz. 35; BAG v. 24.5.2018 – 2 AZR 73/18, NZA 2018, 1131 Rz. 37. 82 LAG Niedersachsen v. 6.10.2021 – 13 Sa 1199/20 n. v.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
die Beklagte ihren Auflösungsantrag nicht auf bereits abgemahnte Pflichtverletzungen des Klägers aus den Jahren 2010 und 2014 stützen. Das BAG ist dieser Begründung des LAG Niedersachsen nicht gefolgt und hat auf die Revision der Beklagten das Urteil im Hinblick auf die Abweisung des Auflösungsantrags aufgehoben und die Sache an das LAG Niedersachsen zurückverwiesen. Zunächst wendet sich das BAG gegen die Ansicht des LAG Niedersachsen, dass während des Bestehens eines Sonderkündigungsschutzes entstandene Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers für den arbeitgeberseitigen Auflösungsantrag unberücksichtigt bleiben müssten. § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG werde keineswegs von § 15 Abs. 3 S. 1 KSchG i. V. m. § 103 BetrVG verdrängt, weil diese Vorschriften keine Tatbestandsmerkmale für einen Auflösungsantrag des Arbeitgebers enthielten. Zur Frage, auf welche Gründe ein Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG gestützt werden kann, träfen die auf die Kündigung bezogenen §§ 15 Abs. 3 S. 1 KSchG, 103 BetrVG keine Aussage. Daher werde der Arbeitgeber nicht gehindert, den Auflösungsantrag auf arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen während des Sonderkündigungsschutzes stützen zu dürfen. Ebenso wenig konnte sich das BAG der Auffassung des LAG Niedersachsen anschließen, dass bereits abgemahnte Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers als Begründung für den Auflösungsantrag des Arbeitgebers von vornherein ausscheideten, insbesondere wenn diese zwischenzeitlich aus der Personalakte entfernt worden seien. Das BAG geht davon aus, dass die in den Abmahnungen gerügten Pflichtverletzungen durchaus im Zusammenhang mit weiteren Umständen, insbesondere dem Verhalten des Arbeitnehmers seit der Abmahnung oder ihrer Entfernung aus der Personalakte, die Prognose rechtfertigen könnten, dass eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht zu erwarten sei. Die Berücksichtigung der abgemahnten Pflichtverletzungen als mögliche Auflösungsgründe könne unabhängig davon erfolgen, dass sie durch Veränderung der Umstände ihr Gewicht wieder verlieren könnten. Der mit der Abmahnung verbundene konkludente Verzicht auf das Recht zur Kündigung83 wegen der in der Abmahnung gerügten Gründe bedeutet für das BAG nicht, dass damit das abgemahnte Verhalten gänzlich „vom Tisch“ sei. Jedenfalls schlösse der Zeitablauf allein auch längere Zeit zurückliegende Sachverhalte als Auflösungsgründe nicht aus. Die für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses negative Prognoseentscheidung kann nach Ansicht des BAG nur auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtschau
83 BAG v. 19.11.2015 – 2 AZR 217/15, NZA 2016, 540 Rz. 28 m. w. N.
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Begründung eines Auflösungsantrags nach §§ 9, 10 KSchG
sämtlicher vom Arbeitgeber geltend gemachter Gründe zum Zeitpunkt der Auflösungsentscheidung getroffen werden. Das BAG hält auch eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Parteien nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG nicht deshalb für ausgeschlossen, weil der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung des LAG Niedersachsen über den Antrag möglicherweise Betriebsratsmitglied gewesen ist und die Auflösung in entsprechender Anwendung von § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG i. V. m. § 103 BetrVG einer Zustimmung des Betriebsrats bedurft hätte. Das BAG lehnt sowohl eine unmittelbare als auch eine analoge Anwendung von § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG auf § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG ab. Diesen Schluss zieht das BAG zunächst aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG, der keiner dahingehenden Auslegung zugänglich sei, dass er auch die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG beträfe. Eine analoge Anwendung von § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG verböte sich auch deshalb, weil keine unbeabsichtigte Lücke vorliege, womit die Planwidrigkeit von § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG festgestellt werden könne. Insofern zieht das BAG die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 103 Abs. 1 BetrVG84 heran, wonach der Gesetzgeber mit dem Zustimmungserfordernis nach § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG i. V. m. § 103 BetrVG die jeweilige Arbeitnehmervertretung für die Dauer ihrer Wahlperiode in ihrer personellen Zusammensetzung möglichst unverändert habe absichern wollen. Daneben bestünden keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses eines Amtsträgers gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG, bezogen auf eine vor Beginn des Mandats erklärte ordentliche Kündigung, nur mit Zustimmung des Betriebsrats habe zulassen wollen. Ergänzend führt das BAG85 das Begünstigungsverbot aus § 78 S. 2 BetrVG gegen eine analoge Anwendung des § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG auf § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG an. Mit dieser Argumentation lehnt das BAG konsequenterweise auch eine Analogie von § 15 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 3 S. 1 KSchG dahingehend ab, dass Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG geeignet sein müssten, einen wichtigen Grund i. S. v. § 626 BGB zu bilden, sofern sie zur Zeit des Bestehens eines Sonderkündigungsschutzes entstanden seien und der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Entscheidung über den Auflösungsantrag Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG genieße. Damit gibt der 2. Senat jedoch seine früher anderslautende Auffassung aus der Entscheidung vom 7.12.197286 auf, in der es heißt: 84 BT-Drucks. VI/1786 S. 53. 85 BAG v. 27.9.2022 – 2 AZR 92/22, NZA 2022, 1670 Rz. 32. 86 BAG v. 7.12.1972 – 2 AZR 235/72, DB 1973, 1755.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
Wird ein Betriebsangehöriger, der gegen seinen Arbeitgeber einen Kündigungsschutzprozess führt, in dem der beklagte Arbeitgeber den Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG gestellt hat, zum Mitglied des Personalrats gewählt, so kann das Gericht dem Auflösungsantrag, der auf einen Sachverhalt gestützt wird, welcher nach der Wahl des Betriebsangehörigen zum Mitglied des Personalrats entstanden ist, nur dann stattgeben, wenn dieser Sachverhalt geeignet ist, einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung i. S. d. § 626 BGB abzugeben.
Entscheidend für den Meinungswechsel des BAG ist auch die Erwägung, dass keine Anhaltspunkte für eine planwidrige Regelungslücke in § 15 KSchG existieren, die eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG begründet. Ergänzend erläutert das BAG87 in diesem Zusammenhang, dass § 15 KSchG für eine bereits ausgesprochene Kündigung selbst dann keine Rückwirkung entfaltet, wenn der betroffene Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist zum Betriebsratsmitglied gewählt wird. Der Sonderkündigungsschutz behält jedoch seine Bedeutung, wie das BAG ausführt, wenn der Arbeitgeber seinen Auflösungsantrag auf ein Verhalten stützt, das mit der Amtsausübung im Zusammenhang steht, wie etwa die Verletzung ausschließlich betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten, und deshalb keinen oder nur einen bedingten Schluss auf die Erwartbarkeit einer zukünftigen gedeihlichen Zusammenarbeit im Arbeitsverhältnis erlaubt88. Das ausschließlich im anhängigen Kündigungsschutzprozess eigenständige prozessuale Institut des Auflösungsantrags nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG stellt für den Arbeitgeber eine Alternative zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses dar, wenn diese auch mit einer Abfindungsbelastung (§ 10 KSchG) verbunden ist. Da der Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 3 KSchG nicht den Voraussetzungen einer Klageänderung nach § 533 ZPO unterliegt89, ist er stets problemlos noch in der zweiten Instanz in Erwägung zu ziehen, wenn die Gründe für die soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung nicht ausreichen, aber in der Person des Arbeitnehmers angelegte Verhaltensweisen darstellen, die auch verschuldensunabhängig nach objektiver Lage die weitere Zusammenarbeit gefährden90. So können auch bewusst wahrheitswidrige Erklärungen des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess, ehrverletzende 87 88 89 90
BAG v. 27.9.2022 – 2 AZR 92/22, NZA 2022, 1670 Rz. 35. BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 419/12, NZA 2014, 660 Rz. 33. Vgl. zuletzt BAG v. 27.9.2022 – 2 AZR 5/22, NZA 2022, 1558 Rz. 91. BAG v. 16.12.2021 – 2 AZR 356/21, NZA 2022, 407 Rz. 21; BAG v. 24.5.2018 – 2 AZR 73/18, NZA 2018, 1131 Rz. 19, 26.
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Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess
Äußerungen oder persönliche Angriffe gegen den Arbeitgeber oder Vorgesetzte sowie etwa der Versuch, Zeugen zu beeinflussen, den Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG rechtfertigen. Der Arbeitgeber darf auch gegenüber dem Betriebsrat im Zuge der Anhörung unerwähnte Gründe im Rahmen seines Auflösungsantrags verwerten91. (Boe)
6.
Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess
Besteht im Kündigungsschutzprozess nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien fort und hat der Arbeitgeber bei einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung oder bei einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist den Arbeitnehmer nicht mehr tatsächlich beschäftigt, können diesem nach § 615 S. 1 BGB Vergütungsansprüche aus Annahmeverzug zustehen. Danach kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung (§ 611 a Abs. 2 BGB) verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein, wenn der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug kommt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG92 muss ein leistungswilliger und leistungsfähiger93 (§ 297 BGB) Arbeitnehmer im Falle einer vom Arbeitsgericht festgestellten unwirksamen Kündigung dem Arbeitgeber die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht in Annahmeverzug begründender Weise anbieten (§§ 293 ff. BGB). Vielmehr tritt der Annahmeverzug des Arbeitgebers nach § 296 BGB ohne erneutes Angebot ein. Zudem kann ein Angebot der Arbeitsleistung ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn offenkundig ist, dass der Arbeitgeber auf seiner Weigerung, die geschuldete Leistung anzunehmen, beharrt, insbesondere wenn er durch einseitige Freistellung des Arbeitnehmers von der Arbeit auf das Angebot der Arbeitsleistung verzichtet hat94 oder
91 BAG v. 24.5.2018 – 2 AZR 73/18, NZA 2018, 1131 Rz. 37. 92 Vgl. BAG v. 10.8.2022 – 5 AZR 144/22, NZA 2022, 1395 Rz. 15; BAG v. 8.9.2021 – 5 AZR 205/21, NZA 2022, 113 Rz. 11; BAG v. 21.10.2015 – 5 AZR 843/14, NZA 2016, 688 Rz. 19 m. w. N.; BAG v. 22.2.2012 – 5 AZR 249/11, NZA 2012, 858 Rz. 14. 93 BAG v. 13.7.2022 – 5 AZR 498/21, NZA 2022, 1465 Rz. 28 m. w. N.: Der leistungsunwillige Arbeitnehmer setzt sich selbst außerstande, die Arbeitsleistung zu bewirken. 94 BAG v. 24.9.2014 – 5 AZR 611/12, NZA 2014, 1407 Rz. 22 m. w. N.; BAG v. 26.6.2013 – 5 AZR 432/12 n. v. (Rz. 18).
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
aus offensichtlichen rechtlichen Gründen die geschuldete Leistung nicht annehmen kann95. Da § 615 S. 1 BGB dem Arbeitnehmer im Annahmeverzugszeitraum den Vergütungsanspruch aus § 611 a Abs. 2 BGB aufrechterhält, gilt das Lohnausfallprinzip mit der Folge, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich so zu stellen ist, als hätte er gearbeitet96. Kommt es im Zuge der kündigungsschutzprozessualen Auseinandersetzung zum Eintritt des Verzugs für den Arbeitgeber, gibt es im Regelfall dagegen – von der Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsunwilligkeit des Arbeitnehmers einmal abgesehen – keinen adäquaten Abwehrmechanismus. Deshalb ist der Schwerpunkt des Streits über die Höhe der Annahmeverzugsvergütung auf die Frage gerichtet, ob und inwieweit sich der Arbeitnehmer anderweitigen Verdienst anrechnen lassen muss. Daher kann die Strategie des Arbeitgebers darauf beruhen, dem Arbeitnehmer während der Dauer des Kündigungsschutzprozesses eine anderweitige zumutbare Beschäftigungsmöglichkeit anzubieten oder aufzuzeigen, deren Wahrnehmung das wirtschaftliche Verzugsrisiko deutlich reduziert, weil der tatsächliche oder fiktive Zwischenverdienst von vornherein den Anspruch auf Vergütung aus Annahmeverzug nach § 615 S. 1 BGB verringert. Da nach einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung des Arbeitsgerichts im Kündigungsschutzprozess zu Gunsten des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis fortbestanden hat, richtet sich die Anrechnung anderweitigen Verdienstes nach § 11 KSchG und nicht nach dem weitgehend inhaltsgleichen § 615 S. 2 BGB97. Besteht nach der Entscheidung des Gerichts das Arbeitsverhältnis fort, so muss sich der Arbeitnehmer nach dieser Vorschrift auf das Arbeitsentgelt, das ihm der Arbeitgeber für die Zeit nach der Entlassung schuldet, anrechnen lassen, was er durch anderweitige Arbeit verdient hat und was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen, und was ihm an öffentlich-rechtlichen Leistungen infolge der Arbeitslosigkeit aus der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II oder der Sozialhilfe für die Zwischenzeit gezahlt worden ist.
95 BAG v. 13.10.2021 – 5 AZR 211/21, NZA 2022, 182 Rz. 13: Coronabedingte Betriebsschließung. Der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers bleibt nach § 615 S. 3 BGB über eine entsprechende Anwendung von § 615 S. 1 BGB aufrechterhalten. 96 BAG v. 13.7.2022 – 5 AZR 498/21, NZA 2022, 1465 Rz. 17. 97 BAG v. 8.9.2021 – 5 AZR 205/21, NZA 2022, 113 Rz. 12; BAG v. 2.10.2018 – 5 AZR 376/17, NZA 2018, 1544 Rz. 28; BAG v. 24.2.2016 – 5 AZR 425/15, NZA 2016, 687 Rz. 13.
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Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess
Im Umfang des erzielten anderweitigen Verdienstes erfolgt die Anrechnung gemäß § 11 Nr. 1 KSchG ipso iure und bedarf keiner Erklärung des Arbeitgebers und hindert bereits die Entstehung des Anspruchs aus § 615 S. 1 BGB, ohne durch Aufrechnung realisiert werden zu müssen98. Steht daher ein anderweitiger Verdienst während der Dauer des Annahmeverzugs fest, muss der Arbeitnehmer seine Zahlungsklage um den Differenzbetrag zwischen der Annahmeverzugsvergütung nach § 615 S. 1 BGB und dem nach § 11 KSchG anzurechnenden anderweitigen Verdienst reduzieren. Allerdings können Aufwendungen des Arbeitnehmers für eine weitere Berufstätigkeit als zwischenverdienstmindernd anerkannt werden, die einem Arbeitnehmer durch die Aufnahme einer Tätigkeit an einem weit entfernt liegenden Arbeitsort in Form von Reise- und Übernachtungskosten entstehen oder dazu dienen, eine vorhandene Qualifikation zu bewahren99. Außerdem ist zu beachten, dass nur derjenige Zwischenverdienst anzurechnen ist, den der Arbeitnehmer während der ausgefallenen Arbeitszeit erzielt hat, in der er im Annahmeverzugszeitraum bei dem Arbeitgeber hätte Arbeitsleistungen erbringen müssen, d. h. es bedarf der Feststellung, ob der anderweitige Verdienst kausal durch das Freiwerden von der bisherigen Arbeitspflicht ermöglicht wurde, was vor allem bei teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern eine Rolle spielen kann100 und auch Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit betrifft101. Der anderweitige Verdienst des Arbeitnehmers ist auf die Vergütung für die gesamte Dauer des Annahmeverzugs anzurechnen und nicht nur auf die Vergütung für den Zeitabschnitt, in dem der anderweitige Erwerb erfolgte102, was allerdings nicht ausschließt, dass der Arbeitnehmer seine Ansprüche aus § 615 S. 1 BGB ratierlich geltend machen kann und in diesem Fall ein Gesamtvergütungsabgleich für den betreffenden Zeitraum erfolgt103. Die Parteien bestimmen insoweit mit ihren Anträgen und Einwendungen den Zeitraum der bei § 11 KSchG grundsätzlich vorzunehmenden Gesamtberechnung. Neben dem tatsächlichen Verdienst, der kausal durch das Freiwerden der Arbeitskraft des Arbeitnehmers erzielt worden ist, muss sich der Arbeitnehmer nach § 11 Nr. 2 KSchG böswillig unterlassenen Verdienst anrechnen lassen, mit dem Effekt, dass sich in diesem Umfang bereits die Entstehung des An98 Nur BAG v. 2.10.2018 – 5 AZR 376/17, NZA 2018, 1544 Rz. 29 m. w. N. 99 BAG v. 2.10.2018 – 5 AZR 376/17, NZA 2018, 1544 Rz. 37. 100 BAG v. 13.7.2022 – 5 AZR 498/21, NZA 2022, 1465 Rz. 37; BAG v. 24.2.2016 – 5 AZR 425/15, NZA 2016, 687 Rz. 16 m. w. N. 101 BAG v. 2.10.2018 – 5 AZR 376/17, NZA 2018, 1544 Rz. 37. 102 BAG v. 24.2.2016 – 5 AZR 425/15, NZA 2016, 687 Rz. 15. 103 Vgl. etwa BAG v. 13.7.2022 – 5 AZR 498/21, NZA 2022, 1465 Rz. 37.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
nahmeverzugsanspruchs reduziert. Böswilliges Unterlassen im Sinne der Rechtsprechung des BAG104 wird angenommen, wenn dem Arbeitnehmer ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Insofern erwartet das BAG auch eine eigene Initiative des Arbeitnehmers, der nicht nur passiv abwarten darf, bis ihn ein zumutbares Arbeitsangebot erreicht, vielmehr aktiv die Abgabe von eigenen Angeboten vorzunehmen hat, wenn sich ihm eine realistische Arbeitsmöglichkeit bietet105. Hierfür sind zwei Aspekte erforderlich und gesondert zu prüfen, die zum einen die Zumutbarkeit der anderweitigen Arbeit und zum anderen die Böswilligkeit des Arbeitnehmers betreffen. Die Unzumutbarkeit der anderweitigen Arbeit kann sich unter verschiedenen Gesichtspunkten ergeben und z. B. ihren Grund in der Person des Arbeitgebers, der Art der Arbeit oder den sonstigen Arbeitsbedingungen haben. So hat das BAG in diesem Zusammenhang entschieden, dass dem Arbeitnehmer nicht nur eine Beschäftigung bei dem bisherigen Arbeitgeber mit einer objektiv vertragswidrigen Arbeit zugemutet werden kann106, sondern auch eine Erwerbsmöglichkeit beim neuen Betriebsinhaber, selbst wenn der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses wirksam widersprochen hat107. Soweit es um die Beurteilung des Kriteriums der Böswilligkeit geht, ist nach der Rechtsprechung des BAG108 jedoch stets eine unter Bewertung der gesamten Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Interessenabwägung notwendig, so dass einem einzelnen Umstand losgelöst von allen anderen Aspekten kein absolutes Gewicht beigemessen werden darf. So hat das BAG109 den Vorwurf der Böswilligkeit verneint, wenn ein Arbeitnehmer ein vorläufig vollstreckbares Weiterbeschäftigungsurteil gegen den Arbeitgeber erstritten hat und sich anschließend weigert, neben dem gekündigten Arbeitsverhältnis ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis einzugehen.
104 BAG v. 19.5.2021 – 5 AZR 420/20, NZA 2021, 1324 Rz. 15 m. w. N.; BAG v. 23.2.2021 – 5 AZR 213/20, NZA 2021, 938 Rz. 12 m. w. N. 105 BAG v. 22.3.2017 – 5 AZR 337/16, NZA 2017, 988 Rz. 27. 106 BAG v. 23.2.2021 – 5 AZR 213/20, NZA 2021, 938 Rz. 13: In diesem Fall wird die anderweitige Beschäftigung stets eine nicht vertragsgemäße Arbeit sein. 107 BAG v. 19.5.2021 – 5 AZR 420/20, NZA 2021, 1324 Rz. 15 m. w. N. 108 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 30/22, NZA 2013, 229 Rz. 14 m. w. N.; BAG v. 23.2.2021 – 5 AZR 213/20, NZA 2021, 938 Rz. 14 m. w. N. 109 BAG v. 8.9.2021 – 5 AZR 205/21, NZA 2022, 113 Rz. 16.
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Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess
In jüngster Zeit verdienen zu dieser Problematik der Böswilligkeit zwei Entscheidungen des 5. Senats des BAG vom 27.5.2020110 und vom 12.10.2022111 die besondere Aufmerksamkeit der betrieblichen Praxis. In dem Urteil vom 27.5.2020 ging es vor allem darum, ob der Arbeitgeber gegen den Arbeitnehmer, der Vergütung wegen Annahmeverzugs fordert, einen Auskunftsanspruch über die von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter unterbreiteten Vermittlungsvorschläge hat, um darauf gestützt die böswillige Unterlassung anderweitigen Verdienstes nach § 11 Nr. 2 KSchG ausreichend begründen zu können. Die Beklagte dieses Prozesses war vom Kläger nach einer zu seinen Gunsten rechtskräftig entschiedenen Kündigungsschutzklage auf Vergütung wegen Annahmeverzugs unter Anrechnung bezogenen Arbeitslosengeldes in Anspruch genommen worden, wohingegen sie mit einer Widerklage die Verurteilung des Klägers verlangte, in Textform (§ 126 b BGB) Auskunft darüber zu erteilen, welche Vermittlungsvorschläge dem Kläger durch die Agentur für Arbeit und das Jobcenter während der Dauer des Annahmeverzugs unter Nennung der Tätigkeit, der Arbeitszeit und des Arbeitsortes sowie der Vergütung in Euro unterbreitet worden sind. Das BAG hat den Auskunftsanspruch des Arbeitgebers nach § 242 BGB für berechtigt erachtet, unabhängig davon, ob mit einer erteilten Auskunft feststeht, dass der Arbeitnehmer es böswillig unterlassen hat, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Die für den Auskunftsanspruch notwendige Sonderrechtsbeziehung hat das BAG in dem zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnis gesehen und die entschuldbare Ungewissheit des Arbeitgebers über das Bestehen und den Umfang seiner Rechte daraus hergeleitet, dass er als Vertragspartner auf die verlangten Informationen angewiesen ist, um darlegungs- und beweisbelastet112 die wahrscheinlich begründete Einwendung der Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes geltend machen zu können, und dem Arbeitnehmer die Auskunft zumutbar ist, ohne ihn unbillig zu belasten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber in Bezug auf die Vermittlungsangebote der Agentur für Arbeit aufgrund des geschützten Sozialgeheimnisses (§ 35 SGB I) ohne die entsprechenden Auskünfte des Arbeitnehmers keinen Sachvortrag zum böswillig unterlassenen Verdienst halten kann113. Dabei hat das BAG zusätzlich gewichtet, dass der Arbeitnehmer aufgrund der Regelung des § 2 Abs. 5 SGB III zur aktiven Mitarbeit bei der Vermeidung oder Beendigung von Arbeitslosigkeit unter anderem angehalten 110 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113. 111 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 30/22, NZA 2023, 229. 112 Näher zum Auskunftsanspruch BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 135/22, NZA 2023, 225 Rz. 21 m. w. N.; BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367 Rz. 56. 113 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 23, 25.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
ist, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts des Arbeitsverhältnisses persönlich bei der Agentur für Arbeit nach § 38 Abs. 1 SGB III arbeitsuchend melden zu müssen. Die erteilte Auskunft erlaubt sodann dem Arbeitgeber, Indizien für die Zumutbarkeit der Arbeit und eine mögliche Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Erwerbs vorzutragen, denen der Arbeitnehmer entgegentreten und darlegen kann, weshalb es nicht zum Vertragsabschluss gekommen ist oder weshalb dieser möglicherweise unzumutbar war. Mit dieser abgestuften Beweislastverteilung wird durch die Auskunftsverpflichtung des Arbeitnehmers die Darlegung- und Beweislast des Arbeitgebers für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 Nr. 2 KSchG nicht in unzulässiger Weise verändert. Unter prozessualen Gesichtspunkten ist allerdings nicht erforderlich, zur Durchsetzung des Auskunftsanspruchs den Weg der Widerklage beschreiten zu müssen. Vielmehr kann der Auskunftsanspruch, wie das BAG114 bereits betont hat, in die Verteilung der Darlegungslast in der Weise integriert werden, dass der Arbeitnehmer im Sinne einer sekundären Darlegungslast bei entsprechender Behauptung und fehlender Kenntnis des Arbeitgebers wahrheitsgemäß und vollständig (§ 138 Abs. 1, 2 ZPO) zu erklären hat, welche Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit und des Jobcenters ihm unter Nennung der Arbeitsplatzangebote, der Tätigkeit, der Arbeitszeit und des Arbeitsortes sowie der Vergütung während der Dauer des Annahmeverzugs zugegangen sind. Kommt der Arbeitnehmer dieser Darlegungslast nicht nach, muss er sich mangels Kenntnis des Umfangs eines böswillig unterlassenen Verdienstes gefallen lassen, dass der hypothetische Erwerb im Umfang der Annahmeverzugsvergütung gemäß § 11 Nr. 2 KSchG angerechnet wird und damit eine Vergütung aus Annahmeverzug gemäß §§ 615 S. 1, 611 a Abs. 2 BGB gänzlich entfallen kann. Die prozessualen Konsequenzen der in der Entscheidung des BAG vom 27.5.2020115 entwickelten Grundsätze hat das LAG Berlin-Brandenburg116 in einem Fall weiterentwickelt, in dem der auf Annahmeverzugsvergütung in Anspruch genommene Arbeitgeber unter Hinweis auf die Einwendung nach § 11 Nr. 2 KSchG vom Kläger Informationen darüber eingefordert hat, welche Eigenbemühungen er auf entsprechende Vermittlungsvorschläge der Arbeitsverwaltung nebst Angabe von Tätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsort und Vergütung unternommen habe und welche eigenen Erwerbsbemühungen von Seiten des Klägers ausgegangen seien. Diese von ihm geforderten Angaben 114 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 27. 115 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113. 116 LAG Berlin-Brandenburg v. 30.9.2022 – 6 Sa 280/22, ZTR 2023, 159 Rz. 144, 148 ff.
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Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess
hat der Kläger erteilt, woraus die Beklagte Indizien für die Zumutbarkeit der Arbeit und eine mögliche Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Erwerbs geschlossen hat, weil sich der Kläger unter anderem auf die ihm unterbreiteten Vermittlungsvorschläge nur teilweise beworben, auf entsprechende Vertragsangebote nicht reagiert und darüber hinaus keine näheren Angaben zu den erzielbaren Verdiensten gemacht hat. Dieser Bewertung ist das LAG Berlin-Brandenburg gefolgt und hat im Ergebnis den Zahlungsanspruch des Klägers unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Annahmeverzugs wegen böswilligen Unterlassens der Annahme zumutbarer Arbeit auf null reduziert, weil der Kläger den schlüssigen Indizien der Beklagten nicht substantiiert entgegengetreten ist. Der Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg bezüglich des Umfangs der Anrechnung böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienstes ist unter der Prämisse beizutreten, dass von der Zumutbarkeit der dem Kläger unterbreiteten Arbeitsangebote auszugehen war und der Kläger eine Auskunft über die Höhe der dafür vorgesehenen Vergütung verweigert hat. Eine weitere Entscheidung des 5. Senats des BAG vom 12.10.2022117 behandelt die Frage, ob die unterlassene Meldung des Arbeitnehmers bei der Agentur für Arbeit als arbeitsuchend (§ 38 Abs. 1 SGB III) stets das Merkmal des böswilligen Unterlassens i. S. v. § 11 Nr. 2 KSchG indiziert. Der in leitender Position im öffentlichen Auftragswesen für Rüstungsgüter bei der Beklagten gegen ein monatliches Bruttogehalt von 11.848 EUR beschäftigte Kläger hat die Beklagte im Anschluss an eine rechtskräftig festgestellte unwirksame Verbundkündigung auf Zahlung von 174.201,07 EUR (brutto) nach § 615 S. 1 BGB in Anspruch genommen. Der Kläger hat sich nach Zugang der Kündigung vom 5.3.2019 nicht arbeitsuchend gemeldet und während der Dauer der Nichtbeschäftigung bei der Beklagten keine Leistungen der Agentur für Arbeit erhalten. Die Beklagte hat sich gegen die Zahlungsklage damit verteidigt, die Verletzung der sozialversicherungsrechtlichen Meldepflicht indiziere die Böswilligkeit nach § 11 Nr. 2 KSchG, zumal die Agentur für Arbeit eine speziell auf Managerpositionen zugeschnittene Vermittlung anböte. Das ArbG Celle hat der Klage stattgegeben, während das LAG Niedersachsen mit Urteil vom 9.11.2021118 die Klage wegen der unterlassenen Meldung des Klägers nach § 38 Abs. 1 SGB III insoweit abgewiesen hat. Das BAG hat auf die Revision des Klägers das Urteil des LAG Niedersachsen aufgehoben und den Rechtsstreit an dieses zurückverwiesen. Da im Streitfall zweifelsfrei die Voraussetzungen für einen Annahmeverzug der Beklagten 117 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 30/22, NZA 2023, 229. 118 LAG Niedersachen v. 9.11.2021 – 10 Sa 15/21, AE 2023, 36.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
nach § 615 S. 1 BGB vorlagen, kam es entscheidungserheblich nur noch darauf an, ob der Kläger böswillig unterlassen hat, anderweitigen Verdienst zu erwerben, indem er davon Abstand genommen hat, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden. Davon war das LAG Niedersachsen ausgegangen und hat gemeint, bereits das Unterlassen der Meldung als arbeitsuchend erfülle das Merkmal böswilligen Unterlassens i. S. v. § 11 Nr. 2 KSchG, was unmittelbar zu einer Anrechnung hypothetischen Verdienstes in voller Höhe der Klageforderung führe, ohne unter Berücksichtigung einer Bewertung sämtlicher Umstände der Frage der Böswilligkeit nachzugehen oder die konkrete Höhe der anderweitigen hypothetisch erzielbaren Vergütung zu ermitteln. Das BAG verweist unter Wiederholung der zum Merkmal der Böswilligkeit i. S. d. § 11 Nr. 2 KSchG entwickelten Grundsätze, wonach dem Arbeitnehmer der Vorwurf gemacht werden muss, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben unter Beachtung des Grundrechts auf freie Arbeitsplatzwahl nach Art. 12 GG zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert, darauf, dass für die Beurteilung der Böswilligkeit eine für den konkreten Fall vorzunehmende Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen erforderlich ist119. Von einer derartigen Gesamtabwägung hat das LAG Niedersachsen abgesehen, obwohl nach Ansicht des BAG die Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses dazu Veranlassung gegeben hätten. Im Ergebnis stimmt das BAG allerdings dem LAG Niedersachsen insoweit zu, dass die in § 38 Abs. 1 SGB III sozialversicherungsrechtlich angelegte Meldepflicht im Rahmen der Anrechnungsvorschriften beim Annahmeverzug zu beachten ist, weil der Arbeitnehmer nach § 11 Nr. 2 KSchG nicht vorsätzlich verhindern darf, dass ihm eine zumutbare Arbeit überhaupt angeboten wird120. Dies betreffe auch Fälle, in denen sich der Arbeitnehmer typischen Informationsangeboten der Agentur für Arbeit und des Jobcenters verschließe, womit Anknüpfungspunkte für die Konkretisierung des böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienstes gesetzt werden könnten. Im Hinblick auf zusätzliche Kriterien zur Vornahme einer Gesamtabwägung für die Beurteilung etwaiger Böswilligkeit hat das BAG dem LAG Niedersachsen im fortgesetzten Verfahren den Hinweis erteilt, die leitende Position sowie die Spezialisierung als Experte im öffentlichen Auftragswesen für Rüstungsgüter ebenso berücksich119 BAG v. 19.5.2021 – 5 AZR 420/20, NZA 2021, 938 Rz. 15. 120 BAG v. 12.10.2022 – 5 AZR 30/22, NZA 2023, 229 Rz. 22; BAG v. 22.3.2017 – 5 AZR 337/16, NZA 2017, 988 Rz. 17.
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Reduzierung von Annahmeverzugsansprüchen im Kündigungsschutzprozess
tigen zu müssen wie den Verstoß der Beklagten gegen ihre sozialrechtliche Verpflichtung aus § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SGB III, den Kläger über die Verpflichtung zur Meldung nach § 38 Abs. 1 SGB III bei der Agentur für Arbeit zu informieren. Nähme das LAG Niedersachsen unter Berücksichtigung aller Umstände an, dass ein böswilliges Verhalten des Klägers i. S. v. § 11 Nr. 2 KSchG zu bejahen sei, bedürfe es hinsichtlich der Anrechnung hypothetischen Verdienstes einer Aufklärung darüber, ob die Agentur für Arbeit im Streitzeitraum zumutbare Vermittlungsangebote unterbreitet hätte, ggf. eine Bewerbung des Klägers erfolgreich gewesen wäre und welchen Verdienst der Kläger ab welchem Zeitpunkt hätte erzielen können. Dabei trage der Arbeitgeber für die Einwendung aus § 11 Nr. 2 KSchG die Beweislast, was auch für den Regelfall gelte, dass sich der Arbeitnehmer arbeitsuchend gemeldet habe und Auskunft über die ihm unterbreiteten Vermittlungsvorschläge erteilen könne. Da im Streitfall die beklagte Arbeitgeberin unter Verweis auf die Vermittlungsangebote der Agentur für Arbeit für Führungskräfte schlüssig behauptet habe, dass im Streitzeitraum Vermittlungsmöglichkeiten für den Kläger bestanden hätten, sei es nunmehr im Rahmen der abgestuften Darlegungslast Sache des Klägers, unter Ausschöpfung seiner Erkenntnismöglichkeiten so konkret wie möglich zu Vermittlungsmöglichkeiten und -chancen vorzutragen. Dann wiederum müsse der Arbeitgeber darlegen (§ 138 Abs. 2 ZPO), ob etwaige Vermittlungsvorschläge zumutbare und im Falle einer Bewerbung verwirklichbare Erwerbschancen dargestellt hätten. Die Weiterentwicklung der Rechtsprechung des BAG erleichtert für den Regelfall die Verteidigung des Arbeitgebers im Rahmen einer Inanspruchnahme aus § 615 S. 1 BGB deutlich, insbesondere deshalb, weil der 5. Senat des BAG in der Entscheidung vom 27.5.2020121 die Rechtsprechung des 9. Senats des BAG122 aufgegeben hat, dass für den Arbeitnehmer keine Obliegenheit besteht, die Vermittlung der Agentur für Arbeit in Anspruch zu nehmen, weil das Unterlassen einer Meldung beim Arbeitsamt nicht mit dem Unterlassen anderweitigen Erwerbs, etwa durch Ablehnung oder Verhinderung eines Arbeitsangebots, gleichgesetzt werden könne. Die Auskunftslast des Arbeitnehmers über die Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit und ggf. des Jobcenters unter Nennung von Tätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsort und Vergütung setzen den Arbeitgeber nunmehr in den Stand, die Zumutbarkeit der jeweiligen Arbeitsangebote sowie die mit ihrer Ausschlagung einhergehende Böswilligkeit, einschließlich des anderweitig erzielbaren Verdienstes des Ar121 BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 387/19, NZA 2020, 1113 Rz. 47. 122 BAG v. 16.10.2000 – 9 AZR 203/99, NZA 2001, 26 Rz. 21.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
beitnehmers, in der prozessualen Auseinandersetzung um den Verzugslohn ausreichend begründen zu können. (Boe)
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Arbeitnehmerdatenschutz im Kündigungsschutzprozess
Die Entscheidung des EuGH vom 2.3.2023123 dürfte für die Arbeitsgerichte Anlass sein zu überprüfen, ob an der bisherigen Rechtsprechung zum Arbeitnehmerdatenschutz im Rahmen prozessualer Auseinandersetzungen – insbesondere also etwaiger Kündigungsschutzverfahren – unverändert festgehalten werden kann. In dieser Entscheidung musste sich der EuGH mit der Frage befassen, ob die Gerichte berechtigt sein können, einen Werkunternehmer zu verpflichten, das aufgrund steuerrechtlicher Vorgaben zum Zwecke einer Bekämpfung von Schwarzarbeit geführte Personalverzeichnis im Rahmen einer prozessualen Auseinandersetzung mit dem Auftraggeber vorzulegen, wenn dieser damit geltend gemachte Ansprüche auf Vergütung für die Tätigkeit von Arbeitnehmern des Werkunternehmers abwehren will. In dem zugrunde liegenden Fall wehrte sich der Werkunternehmer gegen die Vorlagepflicht. Er machte geltend, dass die Führung des Personalverzeichnisses erfolgt sei, um gesetzliche Verpflichtungen im Bereich des Steuerrechts zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund sei es auch unter Berücksichtigung der DSGVO unzulässig, ihn zu einer Vorlage des Personalverzeichnisses zu verpflichten, mit der die personenbezogenen Daten zu einem anderen Zweck verarbeitet werden sollten. Eine solche Vorlage kann nach der schwedischen Prozessordnung jedenfalls dann durch ein Gericht angeordnet werden, wenn das Dokument als Beweis in Betracht kommt und damit kein Inhalt offenbart wird, dessentwegen der Besitzer des Dokuments von seiner Pflicht zur Aussage als Zeuge befreit wird. Bislang war bei entsprechenden Entscheidungen der schwedischen Gerichte über eine solche Vorlage aber nur eine Abwägung zwischen der Erheblichkeit der fraglichen Beweismittel und dem Interesse der Gegenpartei erfolgt, den Inhalt nicht offenzulegen. Nicht berücksichtigt worden war, ob die Rechte oder Interessen Dritter durch eine solche Offenlegung beeinträchtigt würden. Mit seinem Urteil vom 2.3.2023124 hat der EuGH nicht nur klargestellt, dass die DSGVO auch bei der Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zur Anwendung komme. Er hält das jeweils zuständige Gericht ebenso für verpflichtet, bei Entscheidungen, die eine Verarbei123 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. – Norra Stockholm Bygg. 124 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. – Norra Stockholm Bygg.
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Arbeitnehmerdatenschutz im Kündigungsschutzprozess
tung personenbezogener Daten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zur Folge haben, auch die Interessen der Betroffenen im Sinne einer umfassenden Interessenabwägung zu berücksichtigen. Ausgangspunkt dieser Feststellungen ist die Annahme des EuGH, dass die DSGVO sowohl für Verarbeitungsvorgänge gelte, die von Privatpersonen vorgenommen würden, als auch für Verarbeitungsvorgänge, die durch Behörden erfolgten, einschließlich – was Erwägungsgrund 20 DSGVO erkennbar mache – Justizbehörden, wie Gerichte. Insofern sei nicht nur die Erstellung und Führung des Personalverzeichnisses als Verarbeitung personenbezogener Daten zu qualifizieren, die in den sachlichen Anwendungsbereich der DSGVO falle. Auch die von einem Gericht im Rahmen eines Gerichtsverfahrens angeordnete Vorlegung eines digitalen oder physischen Dokuments mit personenbezogenen Daten Dritter als Beweismittel müsse die in der DSGVO festgelegten Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit – insbesondere also Art. 6 DSGVO – erfüllen. Erfolge die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem diese Daten erhoben worden seien, ergebe sich aus Art. 6 Abs. 4 i. V. m. Erwägungsgrund 50 DSGVO, dass die Verarbeitung insbesondere dann zulässig sei, wenn sie auf dem Recht eines Mitgliedstaats beruhe und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz eines der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele darstelle. Da die personenbezogenen Daten in dem hier in Rede stehenden Fall zu einem anderen Zweck als dem ihrer ursprünglichen Erhebung verwendet werden sollten, ohne dass eine Einwilligung der Betroffenen vorlag, war also nicht nur Voraussetzung für die Zulässigkeit der damit verbundenen Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen des Gerichtsverfahrens, dass es eine Regelung der schwedischen Prozessordnung gab. Geboten war auch, dass diese Vorlage als Beweismittel auch eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige und verhältnismäßige Maßnahme i. S. v. Art. 6 Abs. 4 DSGVO darstellte und eines der in Art. 23 Abs. 1 DSGVO genannten Ziele sicherstellte. Diese Voraussetzungen hat der EuGH in seinem Urteil vom 2.3.2023125 grundsätzlich anerkannt. Denn die Möglichkeit einer Anordnung zur Vorlage solcher Beweismittel diene nicht nur dem Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und dem Schutz von Gerichtsverfahren (Art. 23 Abs. 1 lit. f DSGVO). Vielmehr stelle auch die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ein Ziel dar, das eine Verarbeitung personenbezogener Daten für einen anderen Zweck
125 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. – Norra Stockholm Bygg.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
als denjenigen, zu dem sie erhoben worden seien, rechtfertigen könne (Art. 23 Abs. 1 lit. j DSGVO). Dabei sei es jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die einschlägigen Bestimmungen des jeweiligen Prozessrechts tatsächlich die vorstehend genannten Ziele verfolgten, sie hierfür notwendig seien und zu den genannten Zielen in einem angemessenen Verhältnis stünden. Wenn diese Voraussetzungen vorlägen, könne Art. 6 Abs. 3, 4 DSGVO die Anordnung der Vorlage eines Personalverzeichnisses als Beweismittel im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens rechtfertigen, selbst wenn die personenbezogenen Daten ursprünglich zum Zwecke der Steuerprüfung erhoben worden seien126. Bei seiner Entscheidung über die Vorlagepflicht darf das zuständige Gericht allerdings nicht nur die Erheblichkeit der fraglichen Beweismittel und das Interesse der Gegenpartei, diese nicht offenzulegen, abwägen. Vielmehr hält der EuGH das Gericht auf der Grundlage von Art. 5, 6 DSGVO auch für verpflichtet, die Interessen der Betroffenen, deren personenbezogene Daten in Rede stehen, zu berücksichtigen. Ausdrücklich weist der EuGH in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „jede Verarbeitung personenbezogener Daten zum einen mit den in Art. 5 DSGVO aufgestellten Grundsätzen im Einklang stehen und zum anderen die in Art. 6 DSGVO aufgezählten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllen“ müsse. Diese Feststellung hat ganz erhebliche Bedeutung, beantwortet sie nämlich im Grunde auch die Frage des BAG im Vorlagebeschluss vom 22.9.2022127, ob bei der Verarbeitung personenbezogener Daten auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung auch Art. 5, 6, 9 DSGVO als allgemeine Schranken des Arbeitnehmerdatenschutzrechts zu beachten seien. Wir hatten darauf an anderer Stelle hingewiesen128. Dass in den Regelungen des schwedischen Prozessrechts die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Interessen der von der Verarbeitung Betroffenen nicht ausdrücklich beachtet wurde, steht dieser umfassenden Interessenabwägung nach Auffassung des EuGH nicht entgegen. Die entsprechende Vorgabe folge bereits aus Art. 6 Abs. 4 DSGVO, der eine betreffende Verarbeitung nur dann legitimiere, wenn sie notwendig und verhältnismäßig sei. Im Ergebnis hängt die Berechtigung einer entsprechenden Anordnung zur Vorlage eines Beweismittels damit von den Umständen des Einzelfalls ab. Denn bei der Interessenabwägung müsse – so der EuGH – zwar das Grundrecht natürlicher Personen auf den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 Abs. 1 GRC, 16 AEUV) bei der Verarbeitung berücksichtigt werden. Entspre126 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. (Rz. 41) – Norra Stockholm Bygg. 127 BAG v. 22.9.2022 – 8 AZR 209/21 (A), NZA 2023, 363. 128 B. Gaul, AktuellAR 2023, 108 ff., 112 f.
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Arbeitnehmerdatenschutz im Kündigungsschutzprozess
chendes gelte für das in Art. 7 GRC verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens. Diese Grundrechte würden allerdings nicht uneingeschränkt gelten, sondern müssten unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte, wie das durch Art. 47 GRC garantierte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, abgewogen werden. Angesichts des hohen Ranges, den das Recht auf ein faires Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnehme, sei es dabei wesentlich, dass der Rechtsuchende die Möglichkeit habe, sein Anliegen vor einem Gericht sachgerecht zu verteidigen. Dabei müsse zwischen den Parteien Waffengleichheit bestehen. Dem Rechtsuchenden müsse insoweit ein kontradiktorisches Verfahren zur Verfügung stehen, damit er in den verschiedenen Phasen des Verfahrens die Argumente vorbringen können müsse, die er für die Verteidigung seiner Sache für erforderlich halte. Hierfür müssten die Parteien auch in der Lage sein, Zugang zu denjenigen Beweisen zu erhalten, die erforderlich seien, um ihr Vorbringen hinreichend zu begründen, selbst wenn darin auch personenbezogene Daten von Parteien oder Dritten enthalten sein könnten129. Auf dieser Grundlage verweist der EuGH nicht nur auf den Grundsatz der Datenminimierung in Art. 5 Abs. 1 lit. c DSGVO, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Ausdruck verleihe. Daher sei festzustellen, ob die Offenlegung personenbezogener Daten angemessen und erheblich sei, um das mit den anwendbaren Bestimmungen des nationalen Rechts verfolgte Ziel zu erreichen. Das sei nicht der Fall, wenn das Ziel durch die Verwendung von Beweismitteln erreicht werden könnte, die weniger in den Schutz der personenbezogenen Daten einer großen Zahl von Dritten eingriffen, wie etwa die Vernehmung ausgewählter Zeugen130. Für den Fall, dass sich die Vorlegung des Dokuments mit personenbezogenen Daten als gerechtfertigt erweise, folge aus diesem Grundsatz außerdem, dass das nationale Gericht die Ergreifung zusätzlicher Datenschutzmaßnahmen in Betracht ziehen müsse, wenn offenbar nur ein Teil dieser Daten für Beweiszwecke erforderlich sei. Dazu gehörte auch eine Pseudonymisierung oder Anonymisierung der personenbezogenen Daten. Ergänzend hierzu könnte eine Beschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu den Akten oder eine Anordnung an die Parteien gehören, nach der die personenbezogenen Daten nicht zu einem anderen Zweck als zur Beweisführung in den betreffenden Gerichtsverfahren verwendet werden dürften131.
129 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. (Rz. 42 ff., 47 ff., 53) – Norra Stockholm Bygg. 130 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. (Rz. 54 f.) – Norra Stockholm Bygg. 131 EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. (Rz. 56) – Norra Stockholm Bygg.
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Abmahnung, Kündigung und sonstige Formen der Beendigung des Arbeitsvertrags
Die Sichtweise des EuGH erscheint konsequent und datenschutzrechtlich auch geboten. Für die Arbeitgeberseite folgt daraus, dass personenbezogene Daten zur Durchsetzung einer Kündigung beispielsweise nur dann insoweit in die prozessuale Auseinandersetzung eingebracht werden dürfen, als dies geboten ist, um die Wirksamkeit der Kündigung darzulegen. Entsprechendes wird man auch mit Blick auf den Inhalt der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG annehmen müssen. Dabei geht es allerdings nicht nur um den Schutz der Daten des von einer Kündigung betroffenen Arbeitnehmers. Vielmehr wird man auch kritisch überlegen müssen, ob und ggf. in welchem Umfang personenbezogene Daten anderer Arbeitnehmer für die Berechtigung der Kündigung maßgeblich sind. So wird man darüber nachdenken müssen, ob Sozialdaten vergleichbarer Arbeitnehmer im Zusammenhang mit einer Darlegung der Sozialauswahl pseudonymisiert oder anonymisiert werden müssen. Geht es beispielsweise um die verhaltensbedingte Kündigung wegen einer sexuellen Belästigung, stellt sich die Frage, ob auch die Identität der hiervon als Opfer betroffenen Person offenbart werden muss. Möglicherweise wird man zunächst einmal abwarten müssen, ob Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmervertreter die Richtigkeit/Vollständigkeit der Angaben bestreiten und deshalb eine weitergehende Substantiierung geboten ist. In jedem Fall aber macht die Entscheidung des EuGH deutlich, dass allgemeine Grundsätze des Arbeitnehmerdatenschutzrechts – insbesondere also Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit – auch für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen prozessualer Auseinandersetzungen Geltung beanspruchen. Das BAG hat dies bislang durchaus im Rahmen einer Interessenabwägung nach § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG berücksichtigt132, aber nicht unmittelbar auf die Vorgaben der DSGVO abgestellt. Das aber ist insbesondere mit Blick auf die ergänzenden Feststellungen des EuGH im Urteil vom 30.3.2023133 erforderlich, nach dem § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG im Zweifel unangewandt bleiben muss134. (Ga)
132 Vgl. BAG v. 28.3.2019 – 8 AZR 421/17, NZA 2019, 1212; BAG v. 23.8.2018 – 2 AZR 133/18, NZA 2018, 1329. 133 EuGH v. 30.3.2023 – C-34/21 n. v. – Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer. 134 Vgl. hierzu B. Gaul, AktuellAR 2023, 108 ff., 112 ff.
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F. 1.
Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags Betriebliche Altersversorgung: Anpassungsprüfung bei Tochtergesellschaft im Konzern
Die betriebliche Altersversorgung dient nicht nur der Versorgung1 der aus Alters- oder Invaliditätsgründen in den Ruhestand getretenen Arbeitnehmer oder deren Hinterbliebenen. Vorrangig stellt sie auch eine Entgeltleistung2 des Arbeitgebers für die vom Arbeitnehmer erbrachte und zu erbringende Betriebszugehörigkeit und Betriebstreue dar. Ausdruck der Entgeltlichkeit des Ruhegeldes ist die Anpassungspflicht des Arbeitgebers nach § 16 BetrAVG. Nach § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden; dabei sind insbesondere die Belange des Versorgungsempfängers und die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Dabei gilt kraft Gesetzes (§ 16 Abs. 2 BetrAVG) die Anpassungsverpflichtung als erfüllt, wenn die Anpassung nicht geringer ausfällt als der Anstieg des Verbraucherpreisindex für Deutschland oder der Nettolöhne vergleichbarer Arbeitnehmergruppen des Unternehmens im Prüfungszeitraum. Lässt indes die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers eine Anpassung der Betriebsrenten nicht zu, ist der Arbeitgeber zur Anpassung nicht verpflichtet. Insofern haben die Gerichte für Arbeitssachen in entsprechender Anwendung des § 315 Abs. 2, 3 BGB bei einer Anpassungsklage des Betriebsrentners zu überprüfen, ob der Arbeitgeber bei seiner Anpassungsentscheidung den ihm eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat3. Insofern hat der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen, dass seine Anpassungsentscheidung bezüglich aller diese beeinflussenden Umstände billigem Ermessen entspricht und sich in den Grenzen des § 16 BetrAVG bewegt4. Eine gerichtliche Entscheidung erübrigt sich allerdings, wenn nach § 16 Abs. 4 S. 2 BetrAVG eine Anpassung als zu Recht unterblieben gilt, d. h. zu vermuten ist. Davon geht der Gesetzgeber aus, wenn der Arbeitgeber dem
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Zum Versorgungscharakter BAG v. 26.10.2010 – 3 AZR 711/08, NZA 2011, 595 Rz. 20. Zum Entgeltcharakter BAG v. 12.2.2013 – 3 AZR 100/11, NZA 2013, 733 Rz. 36; BAG v. 11.12.2012 – 3 AZR 634/10, NZA 2013, 564 Rz. 36. BAG v. 23.2.2021 – 3 AZR 15/20, NZA 2022, 42 Rz. 66 m. w. N. BAG v. 21.2.2017 – 3 AZR 455/15, NZA-RR 2018, 200 Rz. 42 m. w. N.
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Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags
Versorgungsempfänger die wirtschaftliche Lage des Unternehmens schriftlich dargelegt, der Versorgungsempfänger nicht binnen drei Kalendermonaten nach Zugang der Mitteilung schriftlich widersprochen hat und er auf die Rechtsfolgen eines nicht fristgemäßen Widerspruchs hingewiesen worden ist. In diesem Fall ist der Arbeitgeber nach § 16 Abs. 4 S. 1 BetrAVG auch nicht verpflichtet, die Anpassung zu einem späteren Zeitpunkt ganz oder teilweise nachzuholen. Die Rechtfertigung des Versorgungsschuldners, aus wirtschaftlichen Gründen die Betriebsrentenanpassung zu verweigern, orientiert sich nach der Rechtsprechung des BAG5 daran, ob die geschuldete Betriebsrentenanpassung das Unternehmen übermäßig belasten und seine Wettbewerbsfähigkeit gefährden würde. Die damit angestrebte Vermeidung der Substanzauszehrung oder Substanzgefährdung des Versorgungsschuldners beruht auf dem Gedanken, dass die Kosten der Betriebsrenten und damit auch der Teuerungsausgleich aus den Unternehmenserträgen und etwaigen Wertzuwächsen des Unternehmensvermögens erwirtschaftet werden können. Von einer Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit geht das BAG6 dann aus, wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens in den drei Jahren nach dem Anpassungsstichtag erwarten lässt, dass keine angemessene Eigenkapitalverzinsung erwirtschaftet wird, oder wenn das Unternehmen nicht mehr über genügend Eigenkapital verfügt, weil in beiden Fällen die Ertragskraft des Unternehmens nicht ausreicht, um die Anpassungen der Betriebsrenten finanzieren zu können. Für eine zuverlässige Prognose muss die bisherige wirtschaftliche Entwicklung über einen repräsentativen Zeitraum von in der Regel mindestens drei Jahren ausgewertet werden7. Die Prüfung, ob die Verweigerung der Betriebsrentenanpassung des Arbeitgebers billigem Ermessen entspricht, richtet sich demgemäß danach, wie die voraussichtliche Entwicklung der Eigenkapitalverzinsung und der Eigenkapitalausstattung des Unternehmens zum nächsten Anpassungsstichtag einzuschätzen ist. Die Bemessung der angemessenen Eigenkapitalverzinsung orientiert sich an dem Basiszinssatz der Umlaufrendite öffentlicher Anleihen und
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BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70 Rz. 26; BAG v. 23.2.2021 – 3 AZR 15/20, NZA 2022, 42 Rz. 75. BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70 Rz. 26; BAG v. 13.10.2020 – 3 AZR 246/20, NZA-RR 2021, 143 Rz. 55; BAG v. 21.2.2017 – 3 AZR 455/15, NZA-RR 2018, 200 Rz. 32. BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70 Rz. 45; BAG v. 13.10.2020 – 3 AZR 246/20, NZA-RR 2021, 143 Rz. 53 m. w. N.
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Betriebliche Altersversorgung: Anpassungsprüfung bei Tochtergesellschaft im Konzern
einem Risikozuschlag von 2 %8. Dabei kommt es zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage i. S. v. § 16 Abs. 1 BetrAVG nach der Rechtsprechung des Ruhegeldsenats9 auf die nach den handelsrechtlichen Rechnungslegungsregeln erstellten Jahresabschlüsse – als einen für alle Arbeitgeber einheitlich geltenden Maßstab – an. Besteht für den Versorgungsschuldner eine Konzernbindung, ändert diese wirtschaftliche Einheit ohne eigene Rechtspersönlichkeit grundsätzlich nichts daran, dass es für die Frage der Betriebsrentenanpassung ausschließlich auf die wirtschaftliche Situation des selbständigen Versorgungsschuldners ankommt und diesem nicht im Sinne eines Berechnungsdurchgriffs die günstigere Wirtschaftslage eines anderen in einem Konzern verbundenen Unternehmensträgers zugerechnet werden kann10. Ob ein isolierter Gewinnabführungsvertrag (§ 291 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AktG) im Rahmen der Anpassungsprüfung und -entscheidung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG einen Berechnungsdurchgriff auf die wirtschaftliche Lage der herrschenden Gesellschaft erlaubt, war Gegenstand der Entscheidung des 3. Senats des BAG vom 15.11.202211. In dem zur Entscheidung gestellten Fall verlangte der Kläger klageweise eine Anpassung seiner Betriebsrente i. H. v. 6.754,39 EUR monatlich an den Kaufkraftverlust von 5,14 % seit der letzten Anpassung zum Anpassungsstichtag des 1.1.2019, die er mit monatlich 347,18 EUR berechnete. Die Beklagte, die im Jahre 2016 mit der zum Konzern gehörenden B-GmbH einen Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen hatte, verweigerte die Betriebsrentenanpassung unter Hinweis auf wirtschaftliche Gründe. Nach den von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft geprüften und testierten Jahresabschlüssen für die Geschäftsjahre 2016 bis 2018 und 2019 erzielte die Beklagte keine angemessene Eigenkapitalverzinsung. Der Kläger war der Auffassung, dass die Ursache hierfür in dem Gewinnabführungsvertrag zu sehen sei, was zu einem Berechnungsdurchgriff auf die wirtschaftliche Lage der herrschenden Gesellschaft führen müsse.
St. Rspr., vgl. nur BAG v. 13.10.2020 – 3 AZR 246/20, NZA-RR 2021, 143 Rz. 57 m. w. N. 9 BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70 Rz. 43; BAG v. 13.10.2020 – 3 AZR 246/20, NZA-RR 2021, 143 Rz. 58. 10 BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70 Rz. 30; BAG v. 13.10.2020 – 3 AZR 246/20, NZA-RR 2021, 143 Rz. 56; BAG v. 21.2.2017 – 3 AZR 455/15, NZA-RR 2018, 200 Rz. 34. 11 BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70. 8
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Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags
Das ArbG Wiesbaden12 hat die Klage abgewiesen. Das LAG Hessen13 hat die Berufung zurückgewiesen. Die Revision des Klägers blieb ohne Erfolg. Das BAG hat nach Darstellung der allgemeinen Grundsätze für die Betriebsrentenanpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG die negative wirtschaftliche Bewertung der Beklagten geteilt, wonach diese nicht in der Lage war, in der Zeit bis zum kommenden Anpassungsstichtag nach dem 1.1.2019 die Betriebsrentenanpassung mangels angemessener Eigenkapitalverzinsung erwirtschaften zu können. Diese berechtigte negative wirtschaftliche Prognose der Beklagten ergab sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen drei Jahre vor dem Anpassungsstichtag (1.1.2019), weil die Beklagte in dieser Zeit und auch noch im Jahre 2019 keine angemessene Eigenkapitalverzinsung erwirtschaftet hatte. Angesichts dessen kam es auf die vom BAG14 bislang noch offengelassene Frage an, ob sich die Beklagte eine etwaig günstigere wirtschaftliche Lage der B-GmbH (Muttergesellschaft) wegen des Gewinnabführungsvertrags im Wege des Berechnungsdurchgriffs zurechnen lassen musste. Der Berechnungsdurchgriff hat zur Folge, dass der Versorgungsschuldner, der eigentlich selbst wirtschaftlich außerstande ist, die Betriebsrentenanpassung zu leisten, gleichwohl die entsprechende Anpassung vornehmen muss, wenn die wirtschaftliche Lage des anderen Konzernunternehmens dies erlaubt und sich der Versorgungsschuldner die geleistete Betriebsrentenanpassung von dem anderen Konzernunternehmen erstatten lassen kann. Zuletzt hat das BAG15 einen derartigen Berechnungsdurchgriff als Ausnahmeerscheinung im Falle eines Beherrschungsvertrags nicht mehr per se16, sondern nur unter der Prämisse bejaht, dass sich die durch den Beherrschungsvertrag für die Versorgungsempfänger begründete Gefahrenlage dadurch verwirklicht hat, dass durch erteilte Weisungen des herrschenden Unternehmens (§ 308 Abs. 1, 2 AktG) die Ursache für die negative wirtschaftliche Lage des Versorgungsschuldners gesetzt worden ist. Dieser Auffassung hat sich der BGH17 angeschlossen.
12 ArbG Wiesbaden v. 30.1.2020 – 5 Ca 302/19 n. v. 13 LAG Hessen v. 3.11.2021 – 6 Sa 525/20 n. v. 14 BAG v. 21.4.2015 – 3 AZR 102/14, DB 2015, 2211 Rz. 56; BAG v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, BB 2015, 190 Rz. 79 ff. 15 BAG v. 10.3.2015 – 3 AZR 739/13, NZA 2015, 1187 Rz. 29. 16 So noch BAG v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, BB 2015, 190 Rz. 79. 17 BGH v. 27.9.2016 – II ZR 57/15, NZA 2016, 1470 Rz. 14.
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Gestaltungschranken beim Personalrabatt als betriebliche Altersversorgung
Den bislang noch offengelassenen Berechnungsdurchgriff im Konzern bei einem Gewinnabführungsvertrag verneint der 3. Senat des BAG18 unter Hinweis darauf, dass die fehlende Gewinnverwendungskompetenz der gewinnabführenden Gesellschaft keinerlei Einfluss auf ihre eigenständige Leitungsmacht bewirkte und im Gegensatz zum Beherrschungsvertrag ihre wirtschaftliche Selbständigkeit nicht verloren gehe. Ein beherrschender Einfluss der von der Gewinnabführung profitierenden Gesellschaft sei nur anzunehmen, wenn diese über gesicherte rechtliche Einflussmöglichkeiten beim abhängigen Unternehmen verfüge und damit in der Lage sei, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versorgungsschuldners maßgeblich zu bestimmen. Diese Bewertung ergänzt der 3. Senat des BAG mit dem Hinweis darauf, dass für die Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens vor einer Abschöpfung der Gewinne aufgrund eines Gewinnabführungsvertrags abzustellen sei, so dass der Gewinnabführungsvertrag die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers nicht beeinflusse. Diese überzeugend begründete Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Ruhegeldsenats zu § 16 Abs. 1 BetrAVG ist zu begrüßen, weil sie für die geübte Praxis der Gewinnabführungsverträge ohne gleichzeitigen Beherrschungsvertrag im Hinblick auf die Frage der turnusmäßig anstehenden Betriebsrentenanpassungen die Rechtsunsicherheit einer Durchgriffshaftung beseitigt. (Boe)
2.
Gestaltungschranken beim Personalrabatt als betriebliche Altersversorgung
Nach § 1 Abs. 1 S. 1 BetrAVG liegt eine betriebliche Altersversorgung vor, wenn dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung zugesagt werden. Leistungen der betrieblichen Altersversorgung i. S. v. § 1 Abs. 1 S. 1 BetrAVG sind nicht nur Geldleistungen. Auch Sach- und Nutzungsleistungen sowie im Ruhestand gewährte Personalrabatte können Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sein. Es spielt dabei keine Rolle, ob derartige Leistungen auch den aktiven Mitarbeitern gewährt werden19. Auch die anteilige Erstattung der Energiekosten auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung kann eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung
18 BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 505/21, NZA 2023, 70 Rz. 52 ff. 19 BAG v. 25.6.2019 – 3 AZR 458/17, BetrAV 2019, 755 Rz. 59; BAG v. 14.12.2010 – 3 AZR 799/08 n. v. (Rz. 24); BAG v. 12.12.2006 – 3 AZR 476/05, NZA-RR 2007, 653 Rz. 43 (verbilligter Strombezug).
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Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags
darstellen20. Die Zusage muss einem Versorgungszweck dienen und die Leistungspflicht muss nach dem Inhalt der Zusage durch ein im Gesetz genanntes Ereignis, nämlich Alter, Invalidität oder Tod ausgelöst werden, wobei nach Ansicht des BAG21 erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass durch die vorgesehene Leistung ein im BetrAVG genanntes biometrisches Risiko teilweise übernommen wird. Versorgungen sind alle Leistungen, die den Lebensstandard des Arbeitnehmers oder seiner Hinterbliebenen im Versorgungsfall verbessern sollen22. In der Entscheidung des 3. Senats des BAG vom 15.11.202223 war Gegenstand des Streits der Parteien die Verpflichtung der Beklagten, die bereits im Ruhestand befindliche Klägerin auf Lebenszeit und nach ihrem Tod ihren Witwer auf Lebenszeit i. H. v. 25 % statt i. H. v. 15 % von den Kosten der Energielieferung von Gas und Strom durch die Beklagte oder ein Nachfolgeversorgungsunternehmen freizustellen. Die Klägerin des Rechtsstreits war in der Zeit vom 1.3.1975 bis zu ihrem Ausscheiden am 31.5.2015 in den Ruhestand bei der Beklagten (WSW-AG) beschäftigt. Im Anstellungsvertrag der Klägerin war neben einer Bezugnahme auf den Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) vorgesehen, dass daneben die für Angestellte des Arbeitgebers jeweils geltenden sonstigen Tarifverträge und betrieblichen Vereinbarungen Anwendung fanden. Grundlage eines gewährten Energiekostenrabatts bei der Beklagten war eine Verfügung ihres Vorstands vom 26.9.1975, die unter anderem vorsah, dass ab dem 1.1.1976 die Bezugsberechtigten unter bestimmten Voraussetzungen, die von der Klägerin erfüllt wurden, 25 % Rabatt auf die allgemeinen Tarife für die Versorgung mit elektrischer Energie und Gas erhielten. In den Genuss dieses Rabatts sollten auch ehemalige Betriebsangehörige bei einer Betriebszugehörigkeit von mindestens fünf Jahren bis zu ihrer Inruhesetzung gelangen und bei Bestand der Ehe während der aktiven Betriebszugehörigkeit ebenfalls der hinterbliebene Ehepartner. Im Zuge einer Umstrukturierung der Beklagten in Gestalt von Abspaltungen mehrerer Betriebsteile nach dem UmwG im Jahre 2006 mit einem auf den 1.1.2007 vertraglich festgelegten Spaltungsstichtag schlossen die Beklagte und die Gewerkschaft ver.di einen Tarifvertrag zur Sicherung der sozialen Rechte der 20 BAG v. 14.12.2010 – 3 AZR 799/08 n. v. (Rz. 25). 21 BAG v. 25.6.2019 – 3 AZR 458/17, BetrAV 2019, 755 Rz. 58; BAG v. 30.1.2019 – 5 AZR 442/17, NZA 2019, 1076 Rz. 84, 87; BAG v. 14.12.2010 – 3 AZR 799/08 n. v. (Rz. 23). 22 Vgl. nur BAG v. 25.6.2019 – 3 AZR 458/17, BetrAV 2019, 755 Rz. 59 ff.; BAG v. 30.1.2019 – 5 AZR 442/17, NZA 2019, 1076 Rz. 83; BAG v. 16.3.2010 – 3 AZR 594/09, NZA-RR 2011, 146 Rz. 23 m. w. N. 23 BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 457/21, BetrAV 2023, 141.
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Gestaltungschranken beim Personalrabatt als betriebliche Altersversorgung
Arbeitnehmer bei der WSW-Unternehmensgruppe (TV-SR), der in § 5 Abs. 2 vorsah, dass die zum Vortag des Stichtags bei der WSW-AG gewährten betrieblichen Sozialleistungen für damalige Arbeitnehmer in den Unternehmen der WSW-Unternehmensgruppe fortgeführt wurden. Am 24.9.2007 beschloss der Vorstand der Beklagten, dass künftig neue Mitarbeiter, die nach dem 1.10.2007 angestellt wurden, sowie alle Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnis nach dem 30.9.2007 endete und die anschließend in den Ruhestand wechselten, Energiekostenrabatte i. H. v. 15 % erhielten, soweit Energielieferungsverträge mit der WSW-Unternehmensgruppe bestanden. Am 22.10.2015 schlossen die Beklagte und weitere Unternehmen der WSW-Unternehmensgruppe mit der Gewerkschaft ver.di einen Änderungstarifvertrag zum Tarifvertrag zur Sicherung der sozialen Rechte der Arbeitnehmer bei der WSWUnternehmensgruppe (ÄTV-SR). Als Stichtag für die Regelungen des Tarifvertrags wurde der 1.1.2007 festgelegt. In § 5 ÄTV-SR war unter anderem vorgesehen, dass die zum Vortag des Stichtags bei der WAW-AG gewährten betrieblichen Sozialleistungen vorbehaltlich etwaiger Neuregelungen auf der betrieblichen Ebene für damalige Arbeitnehmer in den Unternehmen der WSW-Unternehmensgruppe fortgeführt wurden. Mit ihrer Klage hat die Klägerin einen Zahlungs- und Feststellungsantrag gestellt, der sich nach ihrem Tod auch auf ihren Witwer auf Lebenszeit beziehen sollte und mit dem die Fortgewährung des Energiekostenrabatts i. H. v. 25 % anstelle von bisher gewährten 15 % von der Beklagten geltend gemacht wurde. Die Klage war in allen Instanzen erfolgreich. Die Besonderheit der Streitsache bestand vor allem darin, dass die ursprüngliche Zusage des Energiekostenrabatts von 25 % auf einer internen Anweisung des Vorstands der Beklagten beruhte, wobei zweifelhaft sein konnte, ob sich zu Gunsten der betroffenen Arbeitnehmer der Beklagten eine betriebliche Übung entwickelt hatte oder eine Gesamtzusage vorlag. Denn der für die Klägerin maßgebliche Rechtsgrund für ihren Anspruch ist vom BAG24 aus § 5 Abs. 2 S. 1 TV-SR vom 10.11.2006 hergeleitet worden, wonach die zum 31.12.2006 bei der WAW-AG gewährten betrieblichen Sozialleistungen für damalige Arbeitnehmer fortgeführt wurden. Mit dieser Formulierung in der tarifvertraglichen Regelung hat im Ergebnis die interne Anweisung des Vorstands über betriebliche Sozialleistungen, die lediglich tatsächlich, möglicherweise ohne besonderen Rechtsgrund, von der Beklagten gewährt worden waren, zu denen nach Auffassung des BAG25 24 So zum TV-SR bereits BAG v. 26.3.2013 – 3 AZR 68/11 n. v. (Rz. 28 f.). 25 BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 457/21, BetrAV 2023, 141 Rz. 21; BAG v. 26.3.2013 – 3 AZR 68/11 n. v. (Rz. 25 ff.).
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Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags
zweifelsfrei auch die Gewährung des Energiekostenrabatts gehörte, Eingang in eine tarifvertragliche Regelung gefunden, die nunmehr den tarifgebundenen Arbeitnehmern unmittelbar nach § 4 Abs. 1 TVG und den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern durch die im Arbeitsvertrag vorhandene Bezugnahmeklausel einen Rechtsanspruch verschaffte. Daher hat das BAG in der Entscheidung auch offengelassen, ob die Verfügung des Vorstands im Ausgang möglicherweise den Charakter einer Gesamtzusage aufwies26. Diese tariflich und vertraglich entstandene Verpflichtungswirkung vermochte die Beklagte nicht mehr durch den weiteren Vorstandsbeschluss vom 24.9.2007 zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 30.9.2007 endete, zum 1.3.2008 in wirksamer Weise dahingehend zu modifizieren, dass der Energiekostenrabatt statt wie bisher 25 % nur noch 15 % für die in den Ruhestand wechselnden Arbeitnehmer betragen sollte, die zuvor tatsächlich, wie die aktiven Arbeitnehmer, in den Genuss des höheren Energiekostenrabatts gelangt waren. Die Aufhebungsmöglichkeit durch einen Beschluss des Vorstands hätte als Vorbehalt in der tarifvertraglichen Regelung, wie das BAG27 zu Recht ausführt, unmissverständlich zum Ausdruck kommen müssen, um Wirkung erzeugen zu können. Der ÄTV-SR vom 22.10.2015 weist im Hinblick auf § 5 Abs. 2 S. 1 TV-SR nach Ansicht des BAG keinen regelnden, sondern nur einen beschreibenden Charakter auf und hat damit weder zu einer Aufhebung noch Änderung dieser Vorschrift geführt. Mit weitgehend gleichlautender Begründung hat der 3. Senat des BAG28 am 15.11.2022 eine Parallelsache entschieden. In einer weiteren parallelen Entscheidung vom 15.11.2022 hat der 3. Senat des BAG29 über die gleiche Frage des Energiekostenrabatts im Hinblick darauf entscheiden müssen, dass der Kläger im Zuge der Spaltung nach § 613 a BGB i. V. m. § 324 UmwG a. F. aufgrund Betriebsübergangs zum 1.10.2007 auf einen neuen Unternehmensträger übergegangen war. Auch in diesem Fall ist das BAG davon ausgegangen, dass dem sich seit dem 31.3.2018 im Ruhestand befindlichen Kläger auf der Grundlage der Bezugnahmeklausel in seinem Arbeitsvertrag i. V. m. § 5 Abs. 2 S. 1 TV-SR ein Anspruch auf Fortgewährung eines Energiekostenrabatts i. H. v. 25 % zusteht. Mit diesem Inhalt sei die Klausel nach § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB als Bestand-
26 27 28 29
BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 457/21, BetrAV 2023, 141 Rz. 29. BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 457/21, BetrAV 2023, 141 Rz. 36. BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 211/22 n. v. BAG v. 15.11.2022 – 3 AZR 42/22 n. v.
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Zulässigkeit eines Einmalkapitalbetrags anstelle monatlicher Betriebsrente
teil des Arbeitsvertrags auf die Beklagte übergegangen. Da der TV-SR gerade auf den Betriebsübergang zugeschnitten worden sei und den Schutz der auf abgespaltene Unternehmen übergehende Arbeitsverhältnisse habe sichern sollen, sei die Beklagte als zunächst nicht tarifvertragsschließende Partei von der Regelung des § 5 Abs. 2 S. 1 TV-SR erfasst worden. (Boe)
3.
Zulässigkeit eines Einmalkapitalbetrags anstelle monatlicher Betriebsrente
Insbesondere für Versorgungszusagen der betrieblichen Altersversorgung im Durchführungsweg der Direktzusage müssen Unternehmen Pensionsrückstellungen bilden. Diese aus dem HGB folgende Verpflichtung ist vielen Gesellschaften ein Dorn im Auge. Entsprechend suchen viele Gesellschaften nach Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen die Pensionsrückstellungen aufgelöst werden können, um die Bilanzkennzahlen des Unternehmens zu verbessern. Neben den bekannten Wegen der Auslagerung, bei der auch CTA-Modelle (Contractual Trust Arrangement) zur Anwendung kommen, wird in jüngerer Zeit vermehrt ein weiteres Modell im Markt beworben. Danach versuchen viele Gesellschaften, monatliche Anwartschaften und/oder laufende monatliche Rentenleistungen durch Zahlung eines Einmalkapitalbetrags abzulösen und sich auf diesem Wege der Pensionsrückstellungen zu entledigen. Wie das BAG in seinem Urteil vom 17.1.202330 bestätigt hat, sind diesem Modell einer Bilanzverbesserung allerdings Grenzen gesetzt, die sich insbesondere aus den allgemeinen Vorgaben für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung und dem Recht der AGB-Kontrolle ergeben. In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Beklagte eine Versorgungszusage über eine Unterstützungskasse erhalten, die unter anderem folgende Regelung enthielt: Die Versorgungskasse behält sich vor, anstelle einer laufenden Rente eine einmalige Kapitalabfindung in Höhe der zehnfachen Jahresrente zu zahlen.
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis beantragte die Beklagte bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber eine Altersrentenleistung. In Abstimmung mit der Unterstützungskasse teilte der Arbeitgeber mit, dass er beabsichtige, sich auf die zuvor zitierte Klausel zu berufen und anstelle der monatlichen Rentenleistungen eine einmalige Kapitalabfindung zu erbringen. Der Arbeitgeber überwies sodann den nach der vorstehenden Regelung der Versorgungs30 BAG v. 17.1.2023 – 3 AZR 220/22, NZA 2023, 355.
239
Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags
kasse geschuldeten Einmalkapitalbetrag in Höhe der zehnfachen Jahresrente an die Beklagte. Da dieser Einmalbetrag jedoch niedriger war als der versicherungsmathematische Barwert der monatlichen Rentenleistungen, zahlte die Beklagte dem Arbeitgeber das Geld zurück und verlangte eine monatliche Rentengewährung. Der Arbeitgeber wollte an der Einmalzahlung festhalten und erhob deshalb Klage, um feststellen zu lassen, dass er durch die einmalige Kapitalleistung sämtliche Ansprüche aus der Versorgungszusage erfüllt habe. Widerklagend begehrte die Beklagte festzustellen, dass der Arbeitgeber eine monatliche Rente schulde. In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen hat das BAG die Sichtweise der Beklagten bestätigt und einen Anspruch auf die monatliche Altersrente angenommen. Die Regelung der Versorgungskasse, anstelle der vereinbarten monatlichen Rentenleistungen eine einmalige Kapitalabfindung zu erbringen, sei mit § 308 Nr. 4 BGB unvereinbar und unwirksam, wenn die Kapitalleistung nicht mindestens dem versicherungsmathematisch ermittelten Barwert der laufenden Renten entspreche31. Zu Recht ist das BAG dabei davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Regelung in den Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle fiel. Denn die Regelung, die das BAG als eine Ersetzungsbefugnis qualifiziert hat, war für eine Vielzahl von Fallgestaltungen vorbereitet. Die Abgrenzung zwischen Wahlschuld und Ersetzungsbefugnis bildete insoweit eine maßgebliche Weichenstellung für den Ausgang des Rechtsstreits, da eine Wahlschuld als kontrollfreies Hauptleistungsversprechen der AGB-Kontrolle entzogen ist. Wenn das BAG in der Regelung eine Wahlschuld gesehen hätte, wäre also nur die Ausübung an den weniger strengen Maßstäben des § 315 BGB zu messen gewesen. Richtigerweise hat der 3. Senat aber darauf verwiesen, dass eine Wahlschuld dadurch gekennzeichnet werde, dass die geschuldete Leistung bis zur Ausübung des Wahlrechts unbestimmt sei und sich erst nach der Ausübung auf eine der Leistungen konkretisiere32. Das war vorliegend nicht der Fall. Denn in dem hier in Rede stehenden Fall war bereits eine bestimmte Leistung vereinbart, nämlich die Zahlung einer monatlichen Rente. Der Vorbehalt, anstelle dieser Rente eine einmalige Kapitalabfindung leisten zu können, kennzeichnete daher keine Wahlschuld, sondern die Befugnis des Schuldners, eine andere Leistung an die Stelle der vereinbarten Leistung setzen zu dürfen. Viel31 BAG v. 17.1.2023 – 3 AZR 220/22, NZA 2023, 355 Rz. 29. 32 BAG v. 17.1.2023 – 3 AZR 220/22, NZA 2023, 355 Rz. 25.
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Zulässigkeit eines Einmalkapitalbetrags anstelle monatlicher Betriebsrente
mehr handelte es sich um eine Ersetzungsbefugnis, die insgesamt an §§ 307 Abs. 1, 308 Nr. 4 BGB zu messen war33. Mit dieser überzeugenden Einordnung des Kapitalwahlrechts hat der 3. Senat nicht nur die Auffassung der Vorinstanz des LAG Düsseldorf bestätigt34. Vielmehr ist er zugleich, ohne dies ausdrücklich klarzustellen, der abweichenden Rechtsauffassung des LAG Hamm35, das eine vergleichbare Klausel als Wahlschuld qualifiziert hatte36, entgegengetreten. Das vom BAG nach dieser Einordnung gefundene Ergebnis, wonach es sich um eine nach dem AGB-Recht unzumutbare und damit unwirksame Klausel handele, wenn der Versorgungsberechtigte durch Ausübung einer Ersetzungsbefugnis finanziell schlechter gestellt werde, da er durch diesen Einmalbetrag nicht den Barwert der monatlichen Rentenleistungen erlange, ist nicht überraschend und überzeugt. Die bei der Klauselkontrolle nach § 308 Nr. 4 BGB vorzunehmende Interessenabwägung ergeht in diesem Fall eindeutig zu Lasten des Arbeitgebers. Das Interesse des Arbeitgebers, die Versorgungsverpflichtungen durch die Zahlung eines geringerwertigen Kapitalbetrags zu reduzieren und zugleich vollständig zu erfüllen, kann das Interesse des Versorgungsberechtigten, den Barwert der zugesagten Versorgungsleistungen zu erhalten, nicht überwiegen37. Dies galt im vorliegenden Fall, im Übrigen erst recht, worauf das BAG nicht ausdrücklich hingewiesen hat, da die Versorgungsberechtigte bereits aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden war und ihre Gegenleistung für den (vollständigen) Erhalt der Versorgungsleistungen somit bereits vollständig erbracht hatte. An sich hätte das BAG es bei der Begründung der Unwirksamkeit mit einem Verstoß gegen § 308 Nr. 4 BGB belassen können. In seinem Urteil vom 17.1.2023 hat es jedoch weitergehende und für die Praxis bedeutsame Klarstellungen vorgenommen. So wurde insbesondere ausgeführt, dass das vereinbarte Kapitalwahlrecht auch dann unwirksam sei, wenn im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung unterstellt würde, dass die Ersetzung der monatlichen Altersrente durch eine einmalige Kapitalleistung in Höhe des Barwerts erfolge38. Dass in diesem Fall keine finanzielle Benachteiligung des Betriebsrentners gegeben wäre, stehe dieser Einschätzung nicht entgegen. Denn 33 34 35 36 37 38
BAG v. 17.1.2023 – 3 AZR 220/22, NZA 2023, 355 Rz. 26. LAG Düsseldorf v. 6.4.2022 – 12 Sa 1068/21 n. v. (Rz. 52). LAG Hamm v. 11.8.2021 – 4 Sa 221/21, NZA-RR 2022 87. LAG Hamm v. 11.8.2021 – 4 Sa 221/21, NZA-RR 2022, 87 Rz. 37, 41. BAG v. 17.1.2023 – 3 AZR 220/22, NZA 2023, 355 Rz. 30. BAG v. 17.1.2023 – 3 AZR 220/22, NZA 2023, 355 Rz. 23.
241
Rechte und Pflichten nach Beendigung des Arbeitsvertrags
in diesem Fall läge ein Verstoß gegen das Abfindungsverbot des § 3 BetrAVG vor. Wichtig ist, dass das BAG in diesem Zusammenhang deutlich herausgestellt hat, dass das grundsätzliche Abfindungsverbot des § 3 Abs. 1 BetrAVG uneingeschränkt auch für Kapitalwahlklauseln gelte. Entsprechende Klauseln stellen also keinen ungeschriebenen, weiteren Ausnahmetatbestand des Abfindungsverbots dar. Greift keiner der in § 3 Abs. 2 bis 4 BetrAVG geregelten Ausnahmetatbestände, kann ein Kapitalwahlrecht daher grundsätzlich nur wirksam vor dem Eintritt des Versorgungsfalls ausgeübt werden. Da vorliegend weder die Voraussetzungen eines Ausnahmetatbestands erfüllt waren noch eine rechtzeitige Ausübung des Kapitalwahlrechts erfolgte, sondern die Abfindung von bereits laufenden Rentenleistungen erklärt wurde, war die Kapitalabfindung auch ungeachtet eines Verstoßes gegen die Maßstäbe der AGB-Kontrolle nach § 3 BetrAVG unwirksam. Für die betriebliche Praxis und insbesondere für Unternehmen, die mit dem Modell der Kapitalabfindung eine Bilanzoptimierung anstreben, enthält das Urteil des BAG somit hilfreiche Klarstellungen. Zum einen hat das BAG den Streit, ob es sich bei einem Kapitalwahlrecht um eine Wahlschuld oder um eine Ersetzungsbefugnis handelt, zu Gunsten der Ersetzungsbefugnis entschieden. Klauseln zum Kapitalwahlrecht unterliegen somit in aller Regel den Maßstäben der AGB-Kontrolle. Daraus folgt nicht nur, dass eine Klausel, wie im entschiedenen Fall, aufgrund eines Verstoßes gegen § 308 Nr. 4 BGB unwirksam ist, wenn die Kapitalabfindung nicht mindestens barwertgleich zu den monatlichen Rentenleistungen ist. Vielmehr sind bei der Klauselgestaltung auch die weiteren Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der AGB-Kontrolle zu beachten. Dazu gehört z. B. das Erfordernis der transparenten Ausgestaltung (vgl. § 307 Abs. 1 S. 2 BGB). Zum anderen hat das BAG klargestellt, dass für das Kapitalwahlrecht des Arbeitgebers mit Blick auf das grundsätzliche Abfindungsverbot des § 3 Abs. 1 BetrAVG keine gesonderten Privilegien gelten. Bei einem Kapitalwahlrecht sind daher stets auch die durch § 3 BetrAVG vorgegebenen Schranken zu beachten. (Br)
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G. Tarifrecht 1.
Gewerkschaftlicher Unterlassungsanspruch im tarifpluralen Betrieb
Bereits mit seinem Urteil vom 20.4.19991 hatte das BAG einen gewerkschaftlichen Anspruch auf Unterlassung der Durchführung tarifwidriger Betriebsvereinbarungen anerkannt und diesen auf §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 9 Abs. 3 GG gestützt. Betroffen davon waren damals Betriebsvereinbarungen, mit denen im Rahmen eines betrieblichen „Bündnisses für Arbeit“ Vergütungsansprüche abgesenkt, die Dauer der Arbeitszeit angehoben und zugleich Regelungen zum Schutz vor betriebsbedingter Kündigung getroffen wurden. Da das BAG darin einen Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 TVG gesehen hatte, konnte die tarifvertragsschließende Gewerkschaft verlangen, dass entsprechende Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene nicht zur Umsetzung kamen. Mit Beschluss vom 25.1.20232 hat der 4. Senat des BAG klargestellt, dass der gewerkschaftliche Unterlassungsanspruch an eine unmittelbare und zwingende Tarifgebundenheit des in Anspruch genommenen Arbeitgebers an die Regelungen des Tarifvertrags, deren Missachtung geltend gemacht wird, geknüpft ist. Endet diese unmittelbare und zwingende Tarifbindung, könne das Recht auf koalitionsmäßige Betätigung durch von diesem Tarifvertrag abweichende betriebliche Regelungen nicht mehr beeinträchtigt werden. Das gilt auch dann, wenn die fehlende Tarifbindung durch einen Austritt aus dem Arbeitgeberverband oder den Wechsel in die OT-Mitgliedschaft ausgelöst wird. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall betrieb der Arbeitgeber ein Eisenbahnverkehrsunternehmen und war Mitglied in einem Arbeitgeberverband. Der Arbeitgeberverband hatte mit der antragstellenden und einer weiteren Gewerkschaft Tarifverträge abgeschlossen, die unter anderem Regelungen zur Dienst- und Schichtplanung mit unterschiedlich ausgestalteten Tariföffnungsklauseln enthielten. Dabei hatten die Tarifvertragsparteien auf eine Anwendung der Regelungen zur Auflösung einer Tarifpluralität in § 4 a Abs. 2 TVG bis zum 31.12.2020 verzichtet. Auch bei kollidierenden Tarifverträgen unterschiedlicher Gewerkschaften war damit ein Vorrang des Mehrheitstarifvertrags ausgeschlossen, was zur Folge hatte, dass die Tarifverträge beider Gewerkschaften ungeachtet ihrer überschneidenden Regelungsgegen-
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BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 25.1.2023 – 4 ABR 4/22 n. v.
243
Tarifrecht
stände im Betrieb zur Anwendung kamen. Damit kam es auch auf die Frage, welche der beiden Gewerkschaften in den einzelnen Betrieben des Arbeitgebers jeweils die Mehrheit der Mitglieder stellte, jedenfalls während der Laufzeit dieser Vereinbarungen nicht an. Bereits im Jahre 2019 schloss der Arbeitgeber mit dem bestehenden Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur Schicht- und Einsatzplanung ab. Die antragstellende Gewerkschaft störte sich an den dort getroffenen Regelungen und nahm den Arbeitgeber daraufhin auf Unterlassung der Durchführung dieser Betriebsvereinbarung in Anspruch. Zur Begründung machte sie geltend, dass die Betriebsvereinbarung gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstoße und ihre Koalitionsfreiheit verletze. Die Gewerkschaft beanstandete, dass alle Arbeitnehmer nach Maßgabe der Betriebsvereinbarung zwischen zwei Modellen für die Diensteinteilung wählen konnten. Diese Modelle entsprächen zwar den Regelungen ihres Tarifvertrags. Aus Sicht der Gewerkschaft würden diese Modelle und die zugrunde liegenden Regelungen des Tarifvertrags hinsichtlich der Schicht- und Einsatzplanung damit aber auch für Arbeitnehmer zur Anwendung gebracht, die nicht ihre Mitglieder seien. Eine solche (normative) Bindung Nicht- oder Andersorganisierter sei unzulässig. Dies hinderte die Gewerkschaft allerdings nicht daran, mit dem Arbeitgeber noch während des Rechtsbeschwerdeverfahrens im Februar 2022 Nachfolgetarifverträge abzuschließen. In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen hat auch das BAG den Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft nicht für gegeben gehalten. Die Tarifverträge, auf die die Gewerkschaft ihren Unterlassungsanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 9 Abs. 3 GG gestützt habe, würden aufgrund ihrer Ablösung durch die Nachfolgetarifverträge keine unmittelbare und zwingende Wirkung mehr beanspruchen. Damit aber fehle eine wesentliche Voraussetzung, die für die Anerkennung eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs erfüllt sein müsse. Ob der entsprechende Verstoß jedenfalls in Bezug auf die Nachfolgetarifverträge hätte geltend gemacht werden können, lässt sich der derzeit erst vorliegenden Pressemitteilung leider nicht entnehmen. Selbst wenn eine solche Bindung des Arbeitgebers dem Grundsatz nach denkbar wäre, dürfte dies den Unterlassungsanspruch nicht ohne Weiteres rechtfertigen. Denn für eine unmittelbare und zwingende Geltung auch der Nachfolgetarifverträge dürfte es erforderlich sein, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass die antragstellende Gewerkschaft im Betrieb die Mehrheit der Mitglieder stellte. Schließlich war jedenfalls seit dem 1.1.2021 (wieder) § 4 a Abs. 2 TVG maßgeblich, so dass eine unmittelbare und zwingende Wirkung 244
Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Differenzierung beim Nachtarbeitszuschlag
des Tarifvertrags der antragstellenden Gewerkschaft nur in Betracht kam, wenn sie zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hatte (Mehrheitstarifvertrag). Unabhängig davon hat es das BAG auch abgelehnt, den Unterlassungsanspruch auf §§ 23 Abs. 3, 77 Abs. 3 BetrVG zu stützen. Dabei hat das BAG ausdrücklich offengelassen, ob ein Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG überhaupt einen Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG begründen könne. Denn die Betriebsvereinbarung verstoße zwar gegen § 77 Abs. 3 BetrVG, da die Schicht- und Einsatzplanung bereits im Tarifvertrag der antragstellenden Gewerkschaft geregelt gewesen sei. In Anbetracht der schwierigen und ungeklärten Rechtsfragen, die sich im Falle der Anwendbarkeit kollidierender Tarifverträge mit unterschiedlichen Öffnungsklauseln für betriebliche Regelungen stellen würden, habe das LAG München aber einen groben Verstoß in nicht zu beanstandender Weise verneint. Nur bei einem groben Verstoß des Arbeitgebers gegen seine betriebsverfassungsrechtlichen Verpflichtungen sieht § 23 Abs. 3 BetrVG indes einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats oder einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft vor. Die Entscheidung des BAG überzeugt. Sie bewirkt, dass Arbeitgeber jedenfalls dann, wenn die gesetzliche Tarifbindung nicht (mehr) gegeben ist, unabhängig von einem fehlenden Einverständnis der Gewerkschaft Regelungen mit dem Betriebsrat treffen können, die gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstoßen oder mit dem Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 TVG nicht vereinbar sind. Der Erfolg solcher Vereinbarungen hängt zwar davon ab, dass der entsprechende Verstoß nicht auch durch die Arbeitnehmer geltend gemacht wird. Außerdem wird man darauf achten müssen, dass bei der Bindung an einen Verbandstarifvertrag der bloße Austritt aus dem Arbeitgeberverband bzw. der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft noch nicht genügen, um die normative Tarifbindung zu beenden. Denn der Tarifvertrag behält seine unmittelbare und zwingende Wirkung, bis er endet oder geändert wird (§§ 3 Abs. 1, 3, 4 Abs. 1 TVG). (Ga)
2.
Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Differenzierung beim Nachtarbeitszuschlag
Wir haben bereits im Herbst3 die Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Differenzierung beim Nachtarbeitszuschlag thematisiert und sind der Frage nachgegangen, ob die in der Tarifpraxis übliche geringere Bezuschlagung der Nachtschichtarbeitnehmer gegenüber Arbeitnehmern, die nur gelegentlich 3
Boewer, AktuellAR 2022, 497 ff.
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Tarifrecht
außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit ableisten, gleichheitswidrig4 ist oder möglicherweise gegen Unionsrecht verstößt5. Auf die Anfragen des 10. Senats des BAG an den EuGH nach Art. 267 AEUV, ob der MTV der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost, der für regelmäßige Nachtarbeit nur einen Zuschlag von 20 % je Stunde, aber für unregelmäßige Nachtarbeit 50 % je Stunde vorsah, mit Art. 20 GRC vereinbar war, hat der EuGH mit Urteil vom 7.7.20226 darauf hingewiesen, dass die Frage des Vergütungszuschlags der Arbeitnehmer für die in Rede stehende Nachtarbeit nicht von der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) erfasst wird und diese Vergütungsregelung insoweit nicht als Durchführung des Rechts der Union i. S. v. Art. 51 Abs. 1 GRC in Betracht kommt, so dass eine Anwendung von Art. 20 GRC ausscheidet. Da die Vorlageentscheidungen des BAG auf der Erwägung beruhten, dass ein tariflich höherer Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit als für regelmäßige Nachtarbeit jedenfalls dann mit Art. 3 Abs. 1 GG kompatibel ist, wenn damit neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden sollen, war zu erwarten, dass die vor dem BAG anhängigen Klagen auf Zahlung der höheren Zuschläge der regelmäßige Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer erfolglos bleiben7. Diese Erwartung hat der 10. Senat des BAG mit Urteilen vom 22.2.20238 bestätigt und dahin entschieden, dass eine Regelung in einem Tarifvertrag, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, dann nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, wenn ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben ist, der aus dem Tarifvertrag erkennbar hervorgeht. Ein derartiger sachlicher Grund kann nach Auffassung des BAG darin liegen, dass mit dem höheren Zuschlag neben den spezifischen Belastungen durch Nachtarbeit auch die Belastungen durch die geringere Planbarkeit eines Arbeitseinsatzes in unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden sollen.
4 5 6 7 8
Vgl. nur BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, NZA 2021, 1110 Rz. 82; BAG v. 21.3.2018 – 10 AZR 34/17, NZA 2019, 622 Rz. 45. BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), NZA 2021, 1121; BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 333/20 (A) n. v. EuGH v. 7.7.2022 – C-257/21, C-258/21, NZA 2022, 971 – Coca-Cola; vgl. dazu ausf. Creutzfeldt, NZA 2022, 1032. BAG v. 21.3.2018 – 10 AZR 34/17, NZA 2019, 622 Rz. 58 m. w. N.; Boewer, AktuellAR 2022, 500. BAG v. 22.2.2023 – 10 AZR 332/20 n. v.; BAG v. 22.3.2023 – 10 AZR 333/20 n. v.
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Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Differenzierung beim Nachtarbeitszuschlag
Wenn auch die Tarifvertragsparteien als Grundrechtsträger nach ständiger Rechtsprechung des BAG9 nicht unmittelbar an die Grundrechte des GG gebunden sind, weil sie mit ihrer Normsetzung auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG keine delegierte Staatsgewalt ausüben10, sind Tarifnormen gleichwohl am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen11. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie12. Da die Grundrechte des GG nicht nur auf die Abwehr staatlicher Eingriffe beschränkt sind, sondern darüber hinaus den grundrechtlichen Gewährleistungen Wirkung zu verleihen haben13, darf der Staat zu diesem Schutzzweck beschränkend in die Tarifautonomie eingreifen, was im Ergebnis zu einer mittelbaren Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien führt14. Da nach Art. 1 Abs. 3 GG die nachfolgenden Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden, ist es nicht nur Aufgabe des Gesetzgebers, sondern auch der Rechtsprechung Maßnahmen zum Schutz der grundrechtlich geschützten und der mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechte der Normunterworfenen zu ergreifen und etwaige Kollisionen von Tarifnormen mit dem Verfassungsrecht aufzulösen15. Dabei hat die Rechtsprechung die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit und die betroffenen Individualgrundrechte im Sinne praktischer Konkordanz in einen angemessenen Ausgleich zu bringen16. Im Rahmen dieser Prüfung hat das BAG17 nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem gewichtet, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben, und daraus einen 9
10 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. nur BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, NZA 2021, 1110 Rz. 26; BAG v. 19.11.2020 – 6 AZR 449/19, NZA-RR 2021, 380 Rz. 21 m. w. N.; BAG v. 2.9.2020 – 5 AZR 168/19, NZA 2021, 70 Rz. 21 m. w. N. Siehe dazu BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 Rz. 143. BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, NZA 2021, 1110 Rz. 27; BAG v. 19.11.2020 – 6 AZR 449/19, NZA-RR 2021, 380 Rz. 21. BAG v. 27.5.2020 – 5 AZR 258/19, ZTR 2020, 534 Rz. 37; BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rz. 25 m. w. N. BVerfG v. 9.7.2020 – 1 BvR 719/19, NZA 2020, 1118 Rz. 9, 18: Die Maßgabe praktischer Konkordanz erfordert, dass kein Recht ein anderes vollständig verdrängen darf. Nur BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rz. 24 f. Näher dazu BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), NZA 2021, 1121 Rz. 52 ff. BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), NZA 2021, 1121 Rz. 64. BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rz. 26; BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 158/18, NZA-RR 2020, 199 Rz. 34; BAG v. 11.7.2019 – 6 AZR 460/18, ZTR 2019, 599 Rz. 29.
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Tarifrecht
Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung hergeleitet. Mithin sind die Tarifvertragsparteien nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Vielmehr lässt es das BAG genügen, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt18. Mit dieser Aussage ist ein entsprechend eingeschränkter gerichtlicher Prüfungsmaßstab verbunden19. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss20. Die Regelung im MTV der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag als für regelmäßige Nachtarbeit vorsah, verstößt nach Ansicht des BAG21 nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Ausgangspunkt dieser Feststellung bildet zunächst der Hinweis, dass die beiden Arbeitnehmergruppen vergleichbar sind, wenn sie regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit erbringen, weil die jeweiligen Zuschlagstatbestände übereinstimmend an die Arbeitsleistung in der tarifvertraglich definierten Nachtzeit anknüpfen, die sich von der Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet. Insofern kann dahinstehen, ob es sich um Nachtarbeitnehmer i. S. v. § 2 Abs. 5 ArbZG handelt. Des Weiteren führen die unterschiedlich hohen Nachtzuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit auf der Grundlage der tarifvertraglichen Regelung zu einer Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen mit der Maßgabe, dass der Zuschlag für die regelmäßig Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer um 30 % geringer ausfällt. Für diese Ungleichbehandlung bedarf es eines erkennbar sachlichen Grundes. Das BAG beantwortet die Frage nach dem sachlichen Grund durch eine Bezugnahme auf die Zweckdetermination der tarifvertraglichen Regelung im Hinblick auf die unregelmäßige Nachtarbeit. Der Zweck der Zuschlagsregelung des Tarifvertrags besteht nach Ansicht des BAG zum einen in dem Ausgleich für die gesundheitlichen Belastungen, die gleichermaßen durch regelmäßige wie durch unregelmäßige Nachtarbeit hervorgerufen werden. Zum anderen soll nach dem Willen der Tarifvertragsparteien mit dem Zuschlag eine Kompensation für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben erfolgen, die jedoch für den Arbeitnehmer bei
18 BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), NZA 2021, 1121 Rz. 66 m. w. N.; BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rz. 26 m. w. N. 19 BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), NZA 2021, 1121 Rz. 67. 20 BVerfG v. 26.5.2020 – 1 BvL 5/18, NJW 2020, 2173 Rz. 94 f. m. w. N. 21 BAG v. 22.2.2023 – 10 AZR 332/20 n. v.
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Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Differenzierung beim Nachtarbeitszuschlag
unregelmäßiger Nachtarbeit wegen der schlechteren Planbarkeit eingeschränkter ausfällt als bei regelmäßiger Nachtarbeit. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmungen weist das BAG darauf hin, dass es den Tarifvertragsparteien im Rahmen der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie gestattet ist, mit einem Nachtarbeitszuschlag neben dem Gesundheitsschutz weitere Zwecke zu verfolgen. Dabei liegt es im Ermessen der Tarifvertragsparteien, in welcher Höhe sie die schlechtere Planbarkeit der unregelmäßigen Nachtarbeit als Einschränkung der Teilhabe am sozialen Leben finanziell bewerten und ausgleichen, ohne dass damit eine Angemessenheitskontrolle verbunden wäre, wie das BAG ausführt. (Boe)
249
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H. Betriebsverfassung und Mitbestimmung 1.
Klarstellungen zur Strafbarkeit bei fehlerhafter Betriebsratsvergütung
Bereits in der Vergangenheit haben wir mehrfach die vor allem durch §§ 37 Abs. 2, 4, 78 S. 2 BetrVG vorgegebenen Kriterien zur Festsetzung der Vergütung von Betriebsratsmitgliedern behandelt. Dabei ging es stets nicht nur um die arbeitsrechtlichen Grenzen für das Handeln der auf Arbeitgeberseite Verantwortlichen. Vielmehr haben wir auch die steuer- und strafrechtlichen Auswirkungen aufgezeigt1. Im vergangenen Jahr gehörte dazu auch eine Zusammenfassung der Entscheidung des LG Braunschweig vom 28.9.20212, durch das zwei Mitglieder des Vorstands der Volkswagen AG und zwei Personen leitender Funktion im Personalbereich unterhalb des Vorstands von dem Vorwurf der Untreue mit der Begründung freigesprochen wurden, dass ihnen der Vorsatz als Folge eines Tatbestandsirrtums gefehlt hätte3.
a)
Sachverhalt
Nach den tatrichterlichen Feststellungen waren die vier Angeklagten für die Bemessung der Betriebsratsvergütung zuständig. Diese Vergütung wurde bei der Volkswagen AG ganz wesentlich durch eine „Kommission Betriebsratsvergütung“ bestimmt, die paritätisch durch die vier Angeklagten und vier Betriebsratsmitglieder in leitenden Funktionen besetzt war. Die Entscheidungen der Kommission setzten die Angeklagten mit Schreiben an die Betriebsräte um, mit denen sie höhere Monatsentgelte oder „freiwillige Bonuszahlungen“ bewilligten. Auf diese Weise wurden in den Jahren 2011 bis 2016 Zahlungen an vier freigestellte Betriebsratsmitglieder veranlasst, die die Arbeitsentgeltansprüche der betriebsverfassungsrechtlich relevanten Vergleichsgruppen erheblich überstiegen. Nach den Feststellungen des LG Braunschweig entstand der Volkswagen AG hierdurch ein Schaden von mehr als 4,5 Mio. EUR. Im Mittelpunkt der Zahlungen stand der damalige Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats, dem in den Jahren 2012 bis 2015 jährlich Steigerungen des monatlichen Entgelts auf zuletzt 17.000 EUR (brutto) bewilligt wurden. Darüber
1 2 3
Vgl. nur B. Gaul, AktuellAR 2022, 254 ff., Pitzer, AktuellAR 2020, 241, 622, 2021, 242 ff. LG Braunschweig v. 28.9.2021 – 16 KLs 85/19 n. v. B. Gaul, AktuellAR 2022, 254 ff.
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Betriebsverfassung und Mitbestimmung
hinaus wurden ihm „freiwillige Bonuszahlungen“ gewährt, die jährlich zwischen 374.000 und 560.000 EUR (brutto) betrugen. Die ursprüngliche Beschäftigung des Betriebsratsmitglieds war als Montagewerker, später als Beanstandungsbeheber erfolgt. Zuvor hatte er nach dem Abschluss der Hauptschule eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert. Mit der Übernahme des Vorsitzes des Gesamtbetriebsrats wurde er allerdings in den „oberen Managementkreis“ berufen. Später absolvierte er ein unternehmensinternes „Management Assessment Center“. 2011 war er dann der Geldstufe 35 zugeordnet, die unternehmensintern dem „Top-Managementkreis“ vorbehalten war. Auch bei den übrigen Betriebsratsmitgliedern wurden deutliche Anhebungen des monatlichen Gehalts und jährliche Boni zwischen 98.000 EUR und 159.700 EUR (brutto) gewährt. Auch dort war – jeweils im Zusammenhang mit der Übernahme von Funktionen innerhalb der jeweiligen Betriebsräte – eine Zuordnung zum „oberen Managementkreis“ vorgenommen worden. Bei ihren Entscheidungen in Bezug auf die Vergütung der Betriebsratsmitglieder glaubten die Angeklagten, ihr Handeln sei pflichtgemäß. Dabei verließen sie sich auf die Einschätzung interner und externer Berater, nach deren Stellungnahmen das angewandte System rechtmäßig sei. Das LG Braunschweig leitete daraus noch ab, dass die Angeklagten zwar den objektiven Tatbestand der Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) erfüllt hätten, aber ohne Vorsatz handelten. Ihre Überzeugung, pflichtgemäß und gesetzeskonform zu handeln, stelle einen den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum i. S. v. § 16 Abs. 1 StGB dar. Der BGH ist in seinem Urteil vom 10.1.20234 dieser Bewertung nicht gefolgt. Nach seiner Auffassung begegnet das Urteil durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken. Er hat es daher auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin aufgehoben und die Sache – was bemerkenswert ist – zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des LG Braunschweig zurückverwiesen5.
b)
Wesentliche Leitsätze des BGH
Im Zusammenhang mit dem objektiven Tatbestand der Untreue hat der BGH zunächst einmal die Ansicht des LG Braunschweig bestätigt, wonach ein Vorstand oder Prokurist einer AG den objektiven Tatbestand der Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB erfüllen kann, wenn unter Verstoß gegen das betriebsver-
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BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 301. Hierzu auch Otto/Homburg, AiB 2023/4, 22.
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Klarstellungen zur Strafbarkeit bei fehlerhafter Betriebsratsvergütung
fassungsrechtliche Begünstigungsverbot einem Mitglied des Betriebsrats ein überhöhtes Arbeitsentgelt gewährt wird. Die hierzu erforderliche Vermögensbetreuungspflicht ergebe sich im Hinblick auf das Vorstandsmitglied einer AG aus § 93 Abs. 1 AktG; Prokuristen treffe eine Vermögensbetreuungspflicht bereits aus der Prokura als solcher. Eine strafrechtliche Ausfüllung dieser Vermögensbetreuungspflicht durch weitere „namentlich vermögungsschützende“ Vorschriften, Satzungsbestimmungen, vertragliche Verpflichtungen, den vom LG Braunschweig herangezogenen Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) oder hierzu abgegebene Entsprechenserklärungen sei aus Rechtsgründen nicht erforderlich6. Diese Vermögensbetreuungspflicht werde verletzt, wenn einem Betriebsratsmitglied ein Arbeitsentgelt bewilligt werde, das gegen das betriebsverfassungsrechtliche Begünstigungsverbot aus § 78 S. 2 BetrVG verstoße. Eine solche begünstigende Verfügung führe zu einem verbotenen Vermögensabfluss und sei nichtig (§ 134 BGB). Sie überschreite die in § 93 Abs. 1 AktG normierten und auch der Prokura eigenen äußersten Grenzen des (unternehmerischen) Ermessens und verletze eine Hauptpflicht gegenüber dem zu betreuenden Vermögen. Stehe fest, dass gegen § 93 Abs. 1 AktG verstoßen wurde, bleibe kein Raum für die Prüfung, ob dieser Verstoß gravierend oder evident sei7. Auch das Einverständnis des Vermögensinhabers stehe der Pflichtverletzung nicht entgegen. Ein hierdurch verursachter Vermögensnachteil sei nicht kompensiert. Dies gelte – so der BGH – selbst dann, wenn durch die Zahlungen die vertrauensvolle Zusammenarbeit zum Wohle des Unternehmens gefördert werden sollte8. In diesem Zusammenhang bestätigt der BGH dann auch die Kriterien, die das LG Braunschweig unter Berücksichtigung der BAG-Rechtsprechung für einen Verstoß gegen § 78 S. 2 BetrVG bestimmt hatte. Hiervon ausgehend schließe – so der BGH – die gesetzliche Regelung des § 37 Abs. 4 S. 1 BetrVG – wonach das einem Betriebsratsmitglied zu zahlende Arbeitsentgelt nach der Vergütung vergleichbarer Arbeitnehmer mit betriebsüblicher Entwicklung zu bemessen ist – eine Bewertung der Betriebsratstätigkeit für Ver-
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8
Ebenso BGH v. 10.10.2012 – 2 StR 591/11, NJW 2013, 401. BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 19 ff.; BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NJW 2017, 578 Rz. 27; Rönnau, NStZ 2006, 214, 220; a. A. Koch/Kudlich/Thüsing, ZIP 2022, 1, 5. BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 21; BGH v. 20.6.2018 – 4 StR 561/17, NStZ-RR 2018, 349; Rieble, CCZ 2008, 32, 35; Strauß, NZA 2018, 1372, 1377; a. A. Koch/Kudlich/Thüsing, ZIP 2022, 1, 5; Zwiehoff, FS Puppe S. 1337, 1343, 1350.
253
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
gütungszwecke aus9. Das gelte auch für etwaige im Betriebsratsamt erworbene Qualifikationen, soweit diese nicht im Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit stünden10. Denn die Betriebsratstätigkeit – so der BGH – sei unentgeltlich auszuüben, wobei im Interesse der Unabhängigkeit ein strenger Maßstab anzulegen sei. Dieser verbiete es, auf die hypothetische Gehaltsentwicklung des Betriebsratsmitglieds bei einer Sonderkarriere abzustellen. Vergleichbar sei vielmehr nur, wer im Zeitpunkt der Amtsübernahme ähnliche, im Wesentlichen gleich qualifizierte Tätigkeiten ausgeführt habe und dafür in gleicher Weise wie das Betriebsratsmitglied fachlich und persönlich qualifiziert gewesen sei11. Üblich sei eine Entwicklung, wenn die überwiegende Anzahl der vergleichbaren Arbeitnehmer eine solche typischerweise bei normaler betrieblicher und personeller Entwicklung genommen habe. Diese Regelungen würden auch für Beförderungen gelten. Insofern sei ein Aufstieg insbesondere nur dann betriebsüblich, wenn die Mehrzahl der vergleichbaren Arbeitnehmer eine höherwertigere Position erreicht habe12. Die Zahlung einer höheren Vergütung setze voraus, dass das Betriebsratsmitglied nur infolge der Amtsübernahme nicht in die entsprechend vergütete Position aufgestiegen sei13. Weitergehende Vergütungserhöhungen verstießen gegen das Begünstigungsverbot aus § 78 S. 2 BetrVG. Ausdrücklich lehnt auch das BAG damit die Auffassung ab, wonach es bei besonderen Umständen, abweichend von den vorstehend wiedergegebenen Grundsätzen, auf eine individuelle hypothetische Ausnahmekarriere des Betriebsratsmitglieds als Manager ankomme und dementsprechende Vergleichspersonen zu bestimmen seien. Ebendies war in den Fällen geschehen, die zu der Anklage geführt hatten. Im Ergebnis hatte man nämlich in Bezug auf den Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats als Vergleichspersonen Mitglieder des Markenvorstands der Volkswagen AG bestimmt, aufgrund deren Entwicklung dann auch die Gehaltsentwicklung des Gesamtbetriebsratsvorsitzenden bestimmt wurde.
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BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 22; BGH v. 17.9.2009 – 5 StR 521/08, NJW 2010, 92 Rz. 33; Dzida/Mehrens, NZA 2013, 753, 755. Ebenso Fitting, BetrVG § 37 Rz. 120; Byers, NZA 2014, 65, 66. BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 22; ebenso BAG v. 23.11.2022 – 7 AZR 122/22 n. v. (Rz. 28); BAG v. 18.1.2017 – 7 AZR 205/15, NZA 2017, 935 Rz. 16; LAG Düsseldorf v. 17.4.2019 – 7 Sa 1065/18, ZTR 2019, 534 Rz. 152. BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 22; BAG v. 22.1.2020 – 7 AZR 222/19, NZA 2020, 594 Rz. 22; BAG v. 21.2.2018 – 7 AZR 496/16, NZA 2018, 1012 Rz. 17. BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 22; BAG v. 22.1.2020 – 7 AZR 222/19, NZA 2020, 594 Rz. 30.
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Klarstellungen zur Strafbarkeit bei fehlerhafter Betriebsratsvergütung
Hieran ändere sich nach Auffassung des BGH auch dann nichts, wenn die betreffenden Betriebsratsmitglieder nach ihrer Amtsübernahme die unternehmenseigene Managementprüfung bestanden oder mit Vorständen und Managern „auf Augenhöhe verhandelt“ und als Betriebsratsmitglieder komplexe Aufgaben wahrgenommen hätten. Erst recht könne aus der Betriebsratstätigkeit als solcher nicht geschlussfolgert werden, der Betriebsrat habe „den Marschallstab im Tornister“ und könne fortan mit Führungskräften verglichen werden. Denn diese Maßstäbe knüpften in unzulässiger Weise an die Bewertung der Betriebsratstätigkeit als solcher an und fänden keine Stütze im BetrVG14. Trotz dieser auch durch das LG Braunschweig zutreffend dargestellten Grundsätze genügten die Feststellungen zu den objektiven Voraussetzungen des Untreuetatbestands aus Sicht des BGH nicht den hierzu erforderlichen Anforderungen. Denn bei einem Freispruch wegen fehlenden Vorsatzes müsse das Tatgericht die für erwiesen gehaltenen Tatsachen so darstellen, dass dem Revisionsgericht eine Überprüfung des Urteils auch im Hinblick auf Rechtsfehler möglich sei. Die hierzu erforderliche (geschlossene) Darstellung der äußeren Tatsachen habe derzeit insbesondere solche zu umfassen, die einen Rückschluss auf innere Umstände zuließen. Dem würden die Urteilsgründe im Hinblick auf das bei der Volkswagen AG im Tatzeitraum geltende Vergütungssystem, die Maßstäbe für einen Aufstieg in höhere Managementkreise und die für die Bemessung von Bonuszahlungen maßgeblichen Kriterien nicht gerecht. Insofern fehlen dem BGH Feststellungen des LG Braunschweig zu der Frage, an welchen Maßstäben sich die Angeklagten bei ihren Entscheidungen über die Anhebung der monatlichen Entgelte und die Festsetzung der „freiwilligen Bonuszahlungen“ ausgerichtet hatten. Aus Sicht des BGH wäre hierzu mitzuteilen gewesen, nach welchem System die Vergütung von Angestellten der Volkswagen AG generell geregelt war, welche Kriterien für die Einordnung in „Kostenstellen“ und „Entgeltgruppen“ gegolten hätten, nach welchen Maßstäben ein Aufstieg in höhere „Entgeltgruppen“ vorgesehen und unter welchen Voraussetzungen das Entgelt ohne Wechsel der Entgeltgruppe zu erhöhen gewesen wäre. Darüber hinaus habe sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ergeben, welche Regeln für die Aufnahme in die verschiedenen „Managementkreise“ sowie die Teilnahme am „Management
14 BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 283 Rz. 24; Fieder/Merenz, NZA 2013, 753, 755; Giesen, RdA 2020, 155, 164; Jacobs, NZA 2019, 1606, 1609; Schrader/ Klagges/Siegel/Lipski, NZA 2022, 456, 459; a. A. Annuß, NZA 2022, 247, 248; ders., NZA 2020, 20, 23; Bachner/Engesser Means, NZA 2020, 422, 425; Thüsing, NZA 2022, 831.
255
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
Assessment Center“ gegolten hätten und welche Entgelterhöhungen und Sachleistungen damit verbunden gewesen seien15. Vor diesem Hintergrund sieht sich der BGH nicht in der Lage zu beurteilen, ob – wie vom LG Braunschweig angenommen – die Bewilligung der Arbeitsentgelte den aufgezeigten betriebsverfassungsrechtlichen Grundsätzen widerspreche. Dies betreffe sowohl die Einordnung in Entgeltgruppen – zumal, wenn diese an „Managementkreise“ und den Zugang zum „Management Assessment Center“ gebunden waren – als auch die Gewährung von Boni. Zwar könnten die Boni zum Arbeitsentgelt i. S. v. § 37 Abs. 2 BetrVG zählen. Hierzu sei aber erforderlich, dass der Bonus eine (zusätzliche) Gegenleistung für die erbrachte Arbeit darstelle. Es komme darauf an, ob die Gewährung dieser Leistung als Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die Dauer der Freistellung des Betriebsratsmitglieds anzusehen sei16.
c)
Beweiswürdigung zum Vorsatz der Angeklagten
Auch die durch das LG Braunschweig vorgenommene Beweiswürdigung zum Vorsatz der Angeklagten begegnet nach Auffassung des BGH „durchgreifende[n] rechtliche[n] Bedenken“. So habe das LG Braunschweig im Hinblick auf einen Teil der Angeklagten bei seiner Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite des § 266 Abs. 1 StGB ausschließlich auf die Einstufung der Betriebsratsmitglieder in bestimmte Entgeltstufen und die damit verbundene Höhe ihrer Bezüge abgestellt. Die den Betriebsratsmitgliedern über ihre jeweiligen Grundgehälter hinaus gewährten Bonuszahlungen habe es bei der Prüfung des Vorsatzes hingegen vollständig außer Betracht gelassen. Dies erweise sich als lückenhaft, was zur Rechtsfehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung führe. Denn die sich aus der Eingruppierung in eine bestimmte (höhere) Entgeltstufe ergebende Vergütung des Betriebsratsmitglieds oder die Aufstockung seiner monatlichen Zahlungen, etwa um einen Betrag von 500 EUR, mögen zwar für sich genommen nicht außergewöhnlich hoch gewesen sein. In die erforderliche Gesamtwürdigung hätte das LG Braunschweig aber miteinfließen lassen müssen, dass die zusätzliche Gewährung eines Bonus die jährlichen Zuwendungen auf teils sehr hohe sechsstellige Beträge ansteigen ließ. Die für die Arbeitnehmer außergewöhnlichen Zahlungen hätten ein gewichtiges Indiz für den Vorsatz sein können.
15 BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 25 ff. 16 BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 30.
256
Klarstellungen zur Strafbarkeit bei fehlerhafter Betriebsratsvergütung
d)
Vorgaben des BGH für die erneute Verhandlung
Nach Auffassung des BGH können die Freistellungen der Angeklagten daher keinen Bestand haben. Vielmehr hat er die Entscheidung des LG Braunschweig aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung zurückverwiesen. Für die weiteren Verhandlungen hat der 6. Senat auf folgende Punkte hingewiesen: Sollte das neue Tatgericht wiederum die von den Ermittlungsbehörden als vergleichbar erachteten Personen berücksichtigen wollen, würde es deren berufliche Qualifikation darstellen und sorgfältig beurteilen müssen, vor allem dann, wenn diese im Gegensatz zum Betriebsratsmitglied nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügten. Zudem werde das neue Tatgericht Feststellungen dazu treffen müssen, welche arbeitsvertragliche Bedeutung die Berufung der Angeklagten in die verschiedenen Managementkreise gehabt habe. Einem damit verbundenen Statuswechsel könne initiale Wirkung beim subjektiven Tatbestand zukommen. Sofern auch das neue Tatgericht die objektiven Voraussetzungen einer Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB als gegeben erachte, werde es Gelegenheit haben, eingehender als bislang geschehen zu prüfen, ob es sich bei einer etwaigen Fehlvorstellung der Angeklagten über die Rechtmäßigkeit ihres Handelns um einen Irrtum über tatsächliche Umstände (§ 16 StGB) oder um einen Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gehandelt habe. Ggf. werde zu bedenken sein, dass ausreichende Unrechtseinsicht habe, wer bei Begehung der Tat mit der Möglichkeit rechne, Unrecht zu tun, und dies billigend in Kauf nehme17. Dies gelte insbesondere, wenn dem Handelnden bewusst gewesen sei, dass er sich in einem rechtlichen Grenzbereich bewege18. Sofern das neue Tatgericht zur Annahme eines Verbotsirrtums gelange, müsse der Frage nach dessen Vermeidbarkeit besonderes Augenmerk gewidmet werden. Das Vertrauen auf eingeholten anwaltlichen Rat – so der BGH ausdrücklich – vermöge nicht in jedem Fall einen unvermeidbaren Verbotsirrtum des Täters zu begründen. Ein Gutachten, das „rechtlichen Flankenschutz für die tatsächliche Handhabung“ bieten solle, werde einer besonders kritischen Würdigung bedürfen. Außerdem liege mit Blick auf die zahlreichen Wortmeldungen in der Fachöffentlichkeit im Vorfeld und während der verfahrensgegenständlichen Taten, die die von den Angeklagten angewandten Bemessungskriterien für die Vergütung von Betriebsratsmitgliedern – teilweise auch 17 BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 38; BGH v. 24.3.2021 – 6 StR 240/20, NStZ 2021, 549 Rz. 33. 18 BGH v. 10.1.2023 – 6 StR 133/22, NZA 2023, 383 Rz. 38.
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Betriebsverfassung und Mitbestimmung
speziell für die Volkswagen AG – für unzulässig erachteten19, die Unvermeidbarkeit jedenfalls nicht auf der Hand.
e)
Empfehlungen für die betriebspraktische Umsetzung
Die aktuelle Entscheidung des BGH macht noch einmal deutlich, dass Arbeits- und Strafgerichte die Festsetzungen und Entwicklungen der Vergütung von Betriebsratsmitgliedern in Zukunft weiterhin kritisch bewerten werden. Dies ist zwar in vielen Fällen nicht zeitgemäß, könnte aber nur durch den Gesetzgeber verändert werden. Anhaltspunkte dafür sind leider nicht erkennbar. Auch vor diesem Hintergrund hat die BGH-Entscheidung natürlich nicht zur Folge, dass die Rechtmäßigkeit der aktuellen Vergütung der Betriebsratsmitglieder durch die Unternehmensverantwortlichen generell und automatisch infrage gestellt werden muss. Dennoch dürfte Handlungs- und daraus folgender Dokumentationsbedarf aber insoweit bestehen20, als •
die mit jedem einzelnen Betriebsratsmitglied vergleichbaren Arbeitnehmer festgestellt werden sollten und das Ergebnis zu dokumentieren ist, um insbesondere bei freigestellten Betriebsratsmitgliedern auch nach mehreren Jahren noch den richtigen Anknüpfungspunkt zu behalten; Grundlage hierfür ist der Zeitpunkt der (erstmaligen) Wahl in den Betriebsrat, was gerade für 2022 neu gewählte Betriebsratsmitglieder relevant ist;
•
Sonderzahlungen oder Sachleistungen (z. B. Dienstwagen mit dem Recht zur Privatnutzung) an Betriebsratsmitglieder überprüft werden sollten, die an ihre Funktion oder die Wahrnehmung von Aufgaben innerhalb des Betriebsrats geknüpft sind (z. B. Betriebsratsvorsitz, Mitglied eines Betriebsratsausschusses);
•
etwaige Pauschalen zum Ausgleich von Mehrarbeit, Schichtarbeit oder anderen Arbeitsformen, die ein Betriebsratsmitglied wegen der Betriebsratsarbeit nicht erbringen konnte, unter Berücksichtigung der jeweils vergleichbaren Arbeitnehmer auf ihre aktuelle Angemessenheit überprüft werden sollten;
•
Betriebsratsarbeit außerhalb der individuellen Arbeitszeit (einschließlich etwaiger Reisezeiten) nicht nach Maßgabe einer Be-
19 Vgl. etwa Mertens, NZA 2013, 753, 755; Rüthers, NJW 2007, 195; Schweibert/Buse, NZA 2007, 1080. 20 So auch Rothballer, NZA 2023, 257, 259.
258
Abberufung des Datenschutzbeauftragten wegen des gleichzeitigen Betriebsratsvorsitzes
triebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung behandelt und bei etwaigen Guthaben nach Maßgabe dieser Betriebsvereinbarung ausgeglichen werden darf; •
weiterhin sichergestellt sein muss, dass zukünftige Beförderungen von Betriebsratsmitgliedern auf der Grundlage eines begünstigungsfreien Verfahrens erfolgen, in dem Betriebsratsmitglieder die gleichen Anforderungen an den ausgeschriebenen Arbeitsplatz und das daran geknüpfte Bewerbungsverfahren wie andere Bewerber erfüllen müssen.
Das zeigen auch die entsprechenden Feststellungen des BGH zur Zuordnung der Betriebsratsmitglieder zum „oberen Managementkreis“ und ihre Zulassung zu einem „Management Assessment Center“. Beförderungen in der Vergangenheit, mit denen eine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Arbeitnehmern bewirkt wurde, müssen nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine unzulässige Begünstigung überprüft werden. Gerade weil ein Teil der Betriebsratsmitglieder erst 2022 gewählt wurde, ergibt es Sinn, die vorstehenden Feststellungen zeitnah zu treffen und in den Personalakten zu dokumentieren. Da Arbeitgeber und Betriebsrat gleichermaßen Interesse an einer ordnungsgemäßen Festlegung und weiteren Entwicklung der Vergütung von Betriebsratsmitgliedern haben, kann es darüber hinaus sinnvoll sein, die gesetzlichen Anforderungen und ihre Umsetzung unter Berücksichtigung der unternehmensspezifischen Besonderheiten in einer transparenten Richtlinie mit dem Betriebsrat festzuhalten. (Ga)
2.
Abberufung des Datenschutzbeauftragten wegen des gleichzeitigen Betriebsratsvorsitzes
Bereits im Herbst des vergangenen Jahres hatten wir auf die Entscheidung des EuGH vom 22.6.202221 hingewiesen22. Darin hatte der EuGH klargestellt, dass die in §§ 6 Abs. 4, 38 Abs. 2 BDSG enthaltene Regelung, nach der die Kündigung des mit dem internen Datenschutzbeauftragten bestehenden Arbeitsverhältnisses unzulässig ist, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die gemäß § 626 BGB zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Denn das Unionsrecht verbiete nicht, einen Datenschutzbeauftragten aus arbeitsrechtlichen Überlegungen heraus in besonderer Weise vor einer Kündigung
21 EuGH v. 22.6.2022 – C-534/20, NZA 2022, 1111 – Leistritz. 22 Boewer, AktuellAR 2022, 529 ff.
259
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
zu schützen. Eine solche Regelung stünde auch nicht im Widerspruch zu Art. 38 Abs. 3 DSGVO. Denn dieser verpflichte lediglich sicherzustellen, dass der Datenschutzbeauftragte von dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht abberufen oder benachteiligt werde. Die kündigungsrechtliche Regelung, die mit §§ 6 Abs. 4, 38 Abs. 2 BDSG getroffen werde, stehe deshalb außerhalb der unionsrechtlichen Vorgaben zum Datenschutz, für die auch keine unionsrechtliche Rechtfertigung gegeben werden müsse. Mit seinen beiden Entscheidungen vom 9.2.202323 hat der EuGH diese Sichtweise bezüglich der Regelungen in §§ 6 Abs. 4, 38 Abs. 2 BDSG auf die Abberufung des Datenschutzbeauftragten übertragen. Diese Regelungen, nach denen eine Abberufung des Datenschutzbeauftragten nur in entsprechender Anwendung des § 626 BGB zulässig ist, selbst wenn diese Gründe für die Abberufung keinerlei Bezug zu den gesetzlichen Aufgaben des Datenschutzbeauftragten haben, seien mit dem Unionsrecht vereinbar. Insbesondere stünde Art. 38 Abs. 3 S. 2 DSGVO dieser Regelung nicht entgegen. In beiden Entscheidungen hat der EuGH allerdings deutlich gemacht, dass diese gesetzliche Schranke einer Abberufung des Datenschutzbeauftragten die Verwirklichung der Ziele der DSGVO nicht beeinträchtigen dürfe. Denn Art. 38 Abs. 6 DSGVO verpflichte den Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter sicherzustellen, dass derartige Aufgaben und Pflichten nicht zu einem Interessenkonflikt führten. In dem einer der beiden Entscheidungen zugrunde liegenden Fall hatte der Arbeitgeber den Datenschutzbeauftragten auf Ersuchen des Thüringer Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (TLfDI) abberufen. Hintergrund der Abberufung war der Umstand, dass der Datenschutzbeauftragte zugleich Betriebsratsvorsitzender und stellvertretender Gesamtbetriebsratsvorsitzender war. Dieser Gesamtbetriebsrat war unternehmensübergreifend durch einen Tarifvertrag nach § 3 BetrVG gebildet worden. Da der Datenschutzbeauftragte zur Gewährleistung eines konzerneinheitlichen Datenschutzstandards auch durch andere Konzernunternehmen zum (externen) Datenschutzbeauftragten bestellt worden war, hatten auch diese eine Abberufung vorgenommen. Wie wir mit Blick auf den der aktuellen Entscheidung des EuGH vorangehenden Vorlagebeschluss des BAG vom 27.4.202124 bereits berichtet hatten, hat
23 EuGH v. 9.2.2023 – C-453/21, NZA 2023, 221 – X-FAB Dresden; EuGH v. 9.2.2023 – C-560/21, NZA 2023, 223 – KISA. 24 BAG v. 27.4.2021 – 9 AZR 383/19 (A), NZA 2021, 1183.
260
Abberufung des Datenschutzbeauftragten wegen des gleichzeitigen Betriebsratsvorsitzes
das BAG in der Doppelrolle des Datenschutzbeauftragten an sich keinen wichtigen Grund gesehen, der nach § 626 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 4, 38 Abs. 2 BDSG seine Abberufung rechtfertigte. Mit Blick auf die in Art. 38 Abs. 3 S. 2 DSGVO enthaltene Vorgabe, nach der sichergestellt werden muss, dass der Datenschutzbeauftragte durch die Übernahme einer anderen Aufgabe nicht in einen Interessenkonflikt gerät, hatte das BAG den EuGH allerdings um Vorabentscheidung darüber gebeten, ob die Aufgaben des Betriebsratsvorsitzenden und des Datenschutzbeauftragten desselben Unternehmens von ein und derselben Person wahrgenommen werden könnten oder ob dies zu einem Interessenkonflikt i. S. v. Art. 38 Abs. 6 S. 2 DSGVO führe. Wir hatten über diese Vorlage berichtet25. In den Gründen seiner Entscheidung hat der EuGH zunächst einmal deutlich gemacht, dass Art. 38 Abs. 6 S. 1 DSGVO erkennen lasse, dass der Datenschutzbeauftragte im Unternehmen auch andere Aufgaben wahrnehmen könne. Gleichzeitig schreibe Art. 38 Abs. 6 S. 2 DSGVO indes vor, dass sichergestellt werden müsse, dass derartige Aufgaben und Pflichten nicht zu einem Interessenkonflikt führten. Dabei sei davon auszugehen, dass der Datenschutzbeauftragte entsprechend dem mit Art. 38 Abs. 6 DSGVO verfolgten Ziel nicht mit der Wahrnehmung von Aufgaben oder Pflichten betraut werden dürfe, die die Ausübung seiner Stellung als Datenschutzbeauftragter beeinträchtigen könnten. Dabei müsse im Auge behalten werden, dass auf diese Weise im Wesentlichen die funktionelle Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten gewahrt und damit die Wirksamkeit der Bestimmungen der DSGVO gewährleistet werden solle26. Daran anknüpfend stellt der EuGH klar, dass dem Datenschutzbeauftragten die Aufgabe einer Überwachung der Einhaltung der DSGVO, anderer Datenschutzvorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten sowie der Strategien des Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiters für den Schutz personenbezogener Daten, einschließlich der Zuweisung von Zuständigkeiten, der Sensibilisierung und Schulung der an den Verarbeitungsvorgängen beteiligten Mitarbeiter und der diesbezüglichen Überprüfungen, obliege. Daraus folge insbesondere, dass einem Datenschutzbeauftragten keine Aufgaben oder Pflichten übertragen werden dürften, die ihn dazu veranlassen würden, die Zwecke und Mittel der Verarbeitung personenbezogener Daten bei dem Verantwortlichen oder seinem Auftragsverarbeiter festzulegen. Denn nach den Datenschutzvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten müsse der Datenschutzbeauf-
25 B. Gaul, AktuellAR 2021, 127 ff.; Boewer, AktuellAR 2021, 588 ff. 26 EuGH v. 9.2.2023 – C-453/21, NZA 2023, 221 Rz. 39 ff. – X-FAB Dresden.
261
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
tragte die Überwachung dieser Zwecke und Mittel nämlich unabhängig durchführen können27. Schlussendlich wird nun das BAG zu entscheiden haben, ob es in dem konkreten Fall einen solchen Interessenkonflikt als gegeben sieht. Dass ein solcher Interessenkonflikt gegeben ist, erscheint diesseits nicht zweifelhaft. Denn der Betriebsrat legt nicht nur selbst im Rahmen der internen Organisation seiner Arbeit fest, ob und wie er im Zusammenhang mit der Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben personenbezogene Daten verarbeitet. Dabei ist er Bestandteil der verantwortlichen Stelle (§ 79 a BetrVG), also der Stelle, deren Verhalten ein Datenschutzbeauftragter in Bezug auf die Einhaltung des Datenschutzes zu überprüfen hat28. Darüber hinaus legt der Betriebsrat – gemeinsam mit dem Arbeitgeber – im Rahmen von Betriebsvereinbarungen fest, wie personenbezogene Daten verarbeitet werden. Damit setzt der Betriebsrat – anerkannt durch Art. 88 Abs. 1 DSGVO – Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung personenbezogener Daten. Diese sind, was der EuGH an anderer Stelle deutlich gemacht hat, nicht automatisch wirksam, sondern müssen ihrerseits die allgemeinen Schranken der DSGVO einhalten29. Diese Frage wiederum muss der Datenschutzbeauftragte im Rahmen seiner Tätigkeit überprüfen, was schlussendlich bedeutet, dass er als Datenschutzbeauftragter die Zulässigkeit bzw. Wirksamkeit seines eigenen Handelns als Betriebsrat überprüfen muss, durch das unmittelbar (betriebsratsinterne Datenverarbeitung) oder mittelbar (Datenverarbeitung durch den Arbeitgeber) datenschutzrechtlich relevante Entscheidungen getroffen werden. Darin liegt ein Interessenkonflikt, der nur dadurch aufgelöst werden kann, dass eine der beiden Rollen beendet wird. Der Interessenkonflikt dürfte dann weiter verstärkt werden, wenn die Rolle des Datenschutzbeauftragten genutzt wird, um betriebsverfassungsrechtliche Ziele des Betriebsrats durchzusetzen. Dies dürfte insbesondere dort relevant sein, wo bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Beurteilungsspielräume bestehen, die der Betriebsratsvorsitzende und Datenschutzbeauftragte dann in seiner Doppelrolle ausnutzen kann. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG diesen Interessenkonflikt interpretiert. Wir werden darüber berichten. Die Zahl der Fälle, in denen Datenschutzbeauftragte zugleich als Arbeitnehmervertreter im Unternehmen aktiv sind, dürfte in der betrieblichen Praxis allerdings begrenzt sein. (Ga)
27 EuGH v. 9.2.2023 – C-453/21, NZA 2023, 221 Rz. 43 f. – X-FAB Dresden. 28 Vgl. Lang, NZA 2023, 269, 273. 29 Vgl. EuGH v. 2.3.2023 – C-268/21 n. v. (Rz. 50) – Norra Stockholm Bygg.
262
Auskunftsanspruch des Betriebsrats beim Einsatz von Fremdpersonal
3.
Auskunftsanspruch des Betriebsrats beim Einsatz von Fremdpersonal
Gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG ist der Betriebsrat zur Durchführung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben rechtzeitig und umfassend vom Arbeitgeber zu unterrichten. Die Unterrichtung erstreckt sich auch auf die Beschäftigung von Personen, die nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber stehen. Sie umfasst insbesondere den zeitlichen Umfang des Einsatzes, den Einsatzort und die Arbeitsaufgaben dieser Personen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG hat das LAG BadenWürttemberg im Beschluss vom 4.10.202230 noch einmal deutlich gemacht, dass ein entsprechender Auskunftsanspruch des Betriebsrats zum einen daran geknüpft ist, dass überhaupt eine Aufgabe des Betriebsrats gegeben ist. Zum anderen muss die im Einzelfall begehrte Information zur Wahrnehmung der Aufgabe erforderlich sein. Schließlich soll die Unterrichtung den Betriebsrat in die Lage versetzen, anschließend in eigener Verantwortung zu prüfen, ob sich Aufgaben i. S. d. BetrVG ergeben und er zu ihrer Wahrnehmung tätig werden muss. Wichtig ist, dass für die Anerkennung des Auskunftsanspruchs eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Bestehen von Aufgaben ausreichend ist. Die Grenzen des Auskunftsanspruchs liegen dort, wo ein Beteiligungsrecht oder eine sonstige Aufgabe offensichtlich nicht in Betracht kommt31. Berechtigterweise nimmt das LAG Baden-Württemberg an, dass der notwendige Aufgabenbezug auch im Zusammenhang mit einer Auskunft über das im Betrieb eingesetzte Fremdpersonal gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG nicht automatisch fingiert oder vermutet werde. Vielmehr müsse der Betriebsrat auch hier erkennbar machen, welche Beteiligungsrechte in Rede stünden. Dabei könne es um die Überwachung der im Betrieb zu Gunsten der Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften gehen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG); in diesem Fall sind die Auskünfte des Arbeitgebers darauf gerichtet, dem Betriebsrat Kenntnisse darüber zu verschaffen, ob das Fremdpersonal als Arbeitnehmer in den Betrieb eingegliedert wird. Denkbar seien auch weitere Beteiligungsrechte, beispielsweise in Bezug auf die Arbeitszeit, die Nutzung technischer Einrichtungen oder den Arbeitsschutz (§ 87 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 6, 7 BetrVG). Ebenso kann die begehrte Auskunft darauf gerichtet sein, festzustellen, ob
30 LAG Baden-Württemberg v. 4.10.2022 – 4 TaBV 3/21, NZA 2023, 120 Rz. 92 ff. 31 So bereits BAG v. 9.4.2019 – 1 ABR 51/17, NZA 2019, 1059 Rz. 38 ff.; BAG v. 19.2.2008 – 1 ABR 84/06, NZA 2008, 1080 Rz. 25.
263
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
Beteiligungsrechte des Betriebsrats wegen einer Einstellung aus § 99 BetrVG gegeben sind32. In dem der Entscheidung des LAG Baden-Württemberg zugrunde liegenden Fall stritten Arbeitgeber und Betriebsrat über den Umfang der dem Betriebsrat zur Verfügung zu stellenden Informationen. Zwar hatte der Arbeitgeber zugestanden, dass sich der Betriebsrat die Rahmenverträge, die mit externen Personaldienstleistern abgeschlossen worden waren, ansehen konnte. Der Betriebsrat verlangte aber nicht nur, dass ihm der zeitliche Umfang der Beschäftigung des Fremdpersonals, der Einsatzort und die Arbeitsaufgaben dieses Personals mitgeteilt werden. Vielmehr sollte der Arbeitgeber auch verpflichtet werden, das im Betrieb eingesetzte Fremdpersonal namentlich zu benennen. Zu Recht hat das LAG Baden-Württemberg angenommen, dass es nicht genügt, dem Betriebsrat die Rahmenverträge zur Einsichtnahme zu überlassen. Zwar kann der Betriebsrat daraus erkennen, ob, wann und in welcher Weise Fremdpersonal (theoretisch) im Betrieb eingesetzt werden soll. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber – was zulässig wäre – die wirtschaftlichen Eckdaten entsprechender Rahmenverträge schwärzt. Entscheidend für die betriebsverfassungsrechtliche Bewertung des Einsatzes von Fremdpersonal ist aber nicht nur die vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und externem Dienstleister. Entscheidend ist vielmehr, wie diese Vereinbarung tatsächlich in der betrieblichen Wirklichkeit umgesetzt wird. Denn daraus lassen sich Anhaltspunkte für die Frage ableiten, ob eine Eingliederung in den Betrieb und damit auch eine Tätigkeit als Arbeitnehmer i. S. d. § 5 Abs. 1 BetrVG erfolgt. Hiervon ausgehend hat das LAG Baden-Württemberg den Anspruch des Betriebsrats bestätigt, Auskunft vom Arbeitgeber über den Umfang der Einsätze des Fremdpersonals, die Einsatzorte und die Arbeitsaufgaben – jeweils bezogen auf konkrete Personaldienstleister – zu erhalten. Dabei komme es nicht darauf an, ob die durch den Personaldienstleister eingesetzten Mitarbeiter regelmäßig oder nur gelegentlich im Betrieb tätig werden. Die namentliche Benennung der eingesetzten Personen hat das LAG BadenWürttemberg indes zu Recht abgelehnt33. Denn die Kenntnis der Namen ist für die Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben unerheblich. (Ga)
32 Vgl. BAG v. 15.12.1998 – 1 ABR 9/88, NZA 1999, 722; LAG Baden-Württemberg v. 12.10.2022 – 4 TaBV 3/21, NZA 2023, 120 Rz. 94 f. 33 LAG Baden-Württemberg v. 4.10.2022 – 4 TaBV 3/21, NZA 2023, 120 Rz. 98 ff.
264
Mitbestimmung bei der vorzeitigen Vorlage von AU-Bescheinigungen
4.
Mitbestimmung bei der vorzeitigen Vorlage von AUBescheinigungen bzw. Feststellung des Bestehens einer Arbeitsunfähigkeit
Gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG hat der Arbeitnehmer, wenn die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage dauert, eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen. Der Arbeitgeber ist allerdings berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung auch früher zu verlangen. Diese weiterhin für Arbeitnehmer mit einer privaten Krankenversicherung geltenden Regelungen sind für Arbeitnehmer, die Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse sind, mit Wirkung zum 1.1.2023 durch § 5 Abs. 1 a EFZG ersetzt worden. Wir hatten darüber berichtet34. Danach sind gesetzlich versicherte Arbeitnehmer verpflichtet, zu den vorstehend genannten Zeitpunkten das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen und sich eine ärztliche Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 S. 2 oder 4 EFZG aushändigen zu lassen. Ausgenommen hiervon sind lediglich Personen, die eine geringfügige Beschäftigung in Privathaushalten ausüben, sowie Fälle, in denen die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt festgestellt wird, der nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt. Hier bleibt es bei der Pflicht zur Vorlage einer AU-Bescheinigung. In seinem Beschluss vom 15.11.202235 hat sich das BAG noch einmal eingehend mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen bei der vorzeitigen Anordnung der Vorlage einer AU-Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG besteht. Die gleiche Frage stellt sich seit dem 1.1.2023 natürlich dann, wenn die vorzeitige Feststellung des Bestehens einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtlicher Dauer durch den Arbeitgeber gemäß § 5 Abs. 1 S. 3, Abs. 1 a S. 2 EFZG verlangt wird. In dem seiner Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der Arbeitgeber in den letzten drei Jahren vor Einleitung des Beschlussverfahrens insgesamt 17 Arbeitnehmern folgende „gleichlautende“ schriftliche Anordnungen zugeschickt: In Abstimmung zwischen Ihrem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter sind Sie ab Erhalt dieses Schreibens bis auf Widerruf dazu ver-
34 Boewer, AktuellAR 2022, 86 ff., 353 ff. 35 BAG v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22, NZA 2023, 369 Rz. 20 ff.
265
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
pflichtet, jede Krankmeldung durch ein ärztliches Attest – vom ersten Fehltag an – im Service Center Personal vorzulegen. Bitte beachten Sie, dass arbeitsrechtliche Maßnahmen eingeleitet werden, wenn Sie dieser Nachweispflicht nicht nachkommen.
Der Betriebsrat war der Auffassung, dass die mit diesen Schreiben verbundene Aufforderung an die Arbeitnehmer zur vorzeitigen Vorlage einer AUBescheinigung ohne seine Zustimmung oder einen die Zustimmung ersetzenden Spruch der Einigungsstelle nicht zulässig sei. Zur Begründung verwies er darauf, dass die Maßnahme das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer betreffe und einen kollektiven Bezug habe. Der kollektive Bezug folge schon aus dem gleichförmigen Inhalt und der Form der Anweisung sowie dem jeweils zugrunde liegenden Verfahren einer vorherigen Abstimmung zwischen dem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter. Außerdem verlange der Arbeitgeber eine AU-Bescheinigung ab dem ersten Fehltag bei häufigen Kurzerkrankungen der Arbeitnehmer und bei hohen Fehlzeiten mit vielen Einsatzfehltagen. Der Betriebsrat beantragte daher nicht nur, dem Arbeitgeber aufzugeben, es zu unterlassen, entsprechende Auflagen zu erteilen, ohne dass er diesen Auflagen zugestimmt hat oder seine Zustimmung durch Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde. Darüber hinaus sollte dem Arbeitgeber aufgegeben werden, keine formalisierten schriftlichen Erklärungen zur Beibringung einer AU-Bescheinigung an Mitarbeiter zu übermitteln, keine Abstimmung zwischen Fachvorgesetzten und Personalleitern über entsprechende Auflagen zu veranlassen, entsprechende Auflagen nicht bis auf Widerruf festzulegen und diesen Auflagen keinen Hinweis auf arbeitsrechtliche Maßnahmen für den Fall der Nichterfüllung beizufügen, ohne dass der Betriebsrat dieser Verfahrensweise zugestimmt oder der Spruch der Einigungsstelle die Zustimmung ersetzt hat. Mit überzeugender Begründung hat das BAG diese Anträge für nicht begründet gehalten. Dabei hat es zwar deutlich gemacht, dass es dem „negatorischen Rechtsschutz“ zur Sicherung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 BetrVG entspreche, dass der Betriebsrat den Arbeitgeber auf Unterlassung von Maßnahmen in Anspruch nehmen könne, die unter Missachtung eines Mitbestimmungsrechts vorgenommen würden. Dabei ziele der Unterlassungsanspruch darauf, künftige Verletzungshandlungen zu unterbinden. Die Verlet-
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Mitbestimmung bei der vorzeitigen Vorlage von AU-Bescheinigungen
zungshandlung in der Vergangenheit indiziere insoweit die für den allgemeinen Unterlassungsanspruch notwendige Wiederholungsgefahr36. Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, auf dessen Missachtung der Betriebsrat zur Begründung seiner Anträge verwiesen hatte, setzt die gesetzliche Vorgabe voraus, dass Maßnahmen des Arbeitgebers Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb betreffen. Dabei sei das Ordnungsverhalten – so das BAG – berührt, wenn die Maßnahmen des Arbeitgebers auf die Gestaltung des kollektiven Miteinanders oder die Gewährleistung und Aufrechterhaltung der vorgegebenen Ordnung des Betriebs zielten. Das Mitbestimmungsrecht beruhe im Ergebnis darauf, dass die Arbeitnehmer ihre vertragsgeschuldete Leistung innerhalb einer vom Arbeitgeber vorgegebenen Arbeitsorganisation erbrächten und deshalb seinem Weisungsrecht unterlägen. Das bestätigt auch § 106 S. 2 GewO. Daher sei der Arbeitgeber berechtigt, Regelungen vorzugeben, die das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb beeinflussen und koordinieren sollten. Solche Maßnahmen bedürften der Mitbestimmung des Betriebsrats. Auf diese Weise solle gewährleistet werden, dass die Arbeitnehmer gleichberechtigt in die Gestaltung des betrieblichen Zusammenlebens einbezogen würden37. Voraussetzung für ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ist aber – wie auch bei den übrigen Tatbeständen des § 87 BetrVG – ein kollektiver Tatbestand. Die auf das Ordnungsverhalten gerichtete Maßnahme des Arbeitgebers muss also auf einer Regel oder einer über den Einzelfall hinausgehenden Handhabung des Arbeitgebers beruhen38. Verlangt der Arbeitgeber von Arbeitnehmern auf der Grundlage von § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG – für § 5 Abs. 1 a S. 2 EFZG gilt Entsprechendes – in einer bestimmten Form oder ggf. innerhalb einer bestimmten Frist den Nachweis jeglicher Arbeitsunfähigkeit, betrifft dieses Verhalten – so das BAG – zwar grundsätzlich das Ordnungs- und nicht das – mitbestimmungsfreie – Arbeitsverhalten der Arbeitnehmer. Ein für die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG notwendiger kollektiver Sachverhalt sei aber nur gegeben, wenn die entsprechende Anordnung des Arbeitgebers regelhaft erfolge. Schließlich berühre ein Verlangen nach § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG nicht schon aus sich heraus die Interessen anderer Arbeitnehmer. Es stehe grundsätzlich im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers, im Einzelfall die 36 BAG v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22, NZA 2023, 369 Rz. 21; BAG v. 8.3.2022 – 1 ABR 19/21, NZA 2022, 1068 Rz. 36. 37 BAG v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22, NZA 2023, 369 Rz. 23. 38 BAG v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22, NZA 2023, 369 Rz. 24; BAG v. 7.2.2012 – 1 ABR 63/10, NZA 2012, 685 Rz. 18.
267
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
Vorlage einer ärztlichen AU-Bescheinigung bereits vor dem vierten Tag der Erkrankung zu verlangen. Eines sachlichen Grundes bedürfe es hierfür nicht39. Entsprechendes wird man seit dem 1.1.2023 auf ein Verlangen nach § 5 Abs. 1 a S. 2 EFZG übertragen können. Demzufolge könne – so das BAG – eine entsprechende Anweisung auch ausschließlich auf individuellen Besonderheiten des einzelnen Arbeitsverhältnisses beruhen, was der Anerkennung eines Mitbestimmungsrechts entgegenstehe. Vollziehe der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Bestimmungsrechts nach § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG hingegen eine selbstgesetzte Regel – etwa indem er das Verlangen gleichermaßen gegenüber allen Arbeitnehmern, gegenüber einer Gruppe von ihnen oder zumindest immer dann geltend mache, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien – oder läge der Ausübung dieses Rechts eine solche Regelhaftigkeit zugrunde, gestalte er die betriebliche Ordnung in kollektiver Art und Weise. Das löst dann ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG aus40. Für das BAG war ein solcher kollektiver Sachverhalt in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall indes nicht gegeben. Aus seiner Sicht war der Umstand, dass der Arbeitgeber die entsprechende Aufforderung immer mit inhaltsgleichen Schreiben erklärte, noch nicht ausreichend, um auf eine Regelhaftigkeit in Bezug auf das „Ob“ einer Geltendmachung dieses Bestimmungsrechts aus § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG schließen zu können. Dabei spiele es keine Rolle, dass dieses Vorliegen zuvor zwischen zwei verschiedenen Vorgesetzten abgestimmt würde. Denn eine entsprechende Vorgabe des Arbeitgebers zu einer Abstimmung zwischen zwei Führungskräften beträfe ausschließlich das – mitbestimmungsfreie – Arbeitsverhalten dieser Personen. Unabhängig davon legte das Erfordernis einer solchen Abstimmung aus Sicht des BAG nahe, dass die Anordnung nicht regelhaft bewirkt, sondern eine abschließende Entscheidung auf der Grundlage der jeweiligen Umstände des Einzelfalls getroffen worden sei. Unabhängig davon sprach aus Sicht des BAG auch gegen das Vorliegen eines kollektiven Sachverhalts, dass innerhalb von etwa drei Jahren nur 17 Arbeitnehmer der über 1.000 im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer von einer entsprechenden Aufforderung betroffen waren. Dabei war außerdem nicht erkennbar, ob die Aufforderung an eine bestimmte Schwelle für die Anzahl krankheitsbedingter Fehltage oder eine anderweitige Konkretisierung gebunden war. Hiervon ausgehend fehlte eine Regel oder ein regelhaftes Vorgehen 39 BAG v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22, NZA 2023, 369 Rz. 25; BAG v. 14.11.2012 – 5 AZR 886/11, NZA 2013, 322 Rz. 11, 14. 40 BAG v. 15.11.2022 – 1 ABR 5/22, NZA 2023, 369 Rz. 25.
268
Aktuelles zur Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG
des Arbeitgebers, das zu einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG führen konnte. Zu Recht hat das BAG ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Ausgestaltung entsprechender Aufforderungsschreiben abgelehnt. Ebenso wenig bestehe ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Frage, ob die AUBescheinigung bis auf Widerruf ab dem ersten Tag verlangt werde. Weiterhin könne der Arbeitgeber frei darüber entscheiden, ob entsprechende Aufforderungen mit einem Hinweis auf arbeitsrechtliche Maßnahmen für den Fall der Nichtbeachtung verknüpft würden. In allen Fällen sei § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG nicht anwendbar. Von den Grundsätzen dieser Entscheidung ausgehend führt eine Aufforderung des Arbeitgebers zur vorzeitigen Vorlage einer AU-Bescheinigung bzw. Feststellung des Bestehens einer Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtlicher Dauer nicht automatisch zu einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Auch wenn der Arbeitgeber insoweit von seinem Bestimmungsrecht aus §§ 106 S. 2 GewO, 5 Abs. 1 S. 3, Abs. 1 a S. 2 EFZG Gebrauch macht, muss zusätzlich geklärt werden, ob diese Anweisung Bestandteil eines kollektiven Sachverhalts ist und damit auch das mitbestimmungspflichtige Ordnungsverhalten im Betrieb berührt. (Ga)
5.
Aktuelles zur Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG
a)
Systematik der Beteiligung nach § 99 BetrVG
Grundsätzlich hat der Arbeitgeber in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat vor jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung zu unterrichten, ihm die erforderlichen Bewerbungsunterlagen vorzulegen und Auskunft über die beteiligte Person zu geben; er hat dem Betriebsrat unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen Auskunft über die Auswirkungen der geplanten Maßnahme zu geben und die Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Maßnahme einzuholen. Bei Einstellungen und Versetzungen hat der Arbeitgeber insbesondere den in Aussicht gestellten Arbeitsplatz und die vorgesehene Eingruppierung mitzuteilen (§ 99 Abs. 1 S. 1, 2 BetrVG). Der Betriebsrat kann die Zustimmung aus den in § 99 Abs. 2 BetrVG genannten Gründen verweigern. Geschieht dies form- und fristgerecht, kann der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht beantragen, die Zustimmung zu ersetzen (§ 99 Abs. 4 BetrVG). Dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass die personelle Maßnahme erst mit Rechtskraft einer entsprechenden Entscheidung des Arbeitsgerichts durchge269
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
führt werden kann. Vielmehr kann der Arbeitgeber nach § 100 BetrVG, wenn dies aus sachlichen Gründen dringend erforderlich ist, die personelle Maßnahme vorläufig durchführen, bevor sich der Betriebsrat dazu äußert oder wenn er die Zustimmung verweigert hat. Bestreitet der Betriebsrat allerdings, dass die Maßnahme aus sachlichen Gründen dringend erforderlich ist, darf der Arbeitgeber die vorläufige Maßnahme nur aufrechterhalten, wenn er innerhalb von drei Tagen beim Arbeitsgericht die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats und zugleich die Feststellung beantragt, dass die Maßnahme aus sachlichen Gründen dringend erforderlich war.
b)
Verpflichtung zur Rücknahme einer Personalmaßnahme bei fehlender Beteiligung nach § 99 BetrVG
Selbst wenn die Zustimmungsverweigerung durch den Betriebsrat aus Gründen erfolgt ist, die in § 99 Abs. 2 BetrVG nicht anerkannt werden, gibt es in der betrieblichen Praxis ein typisches Risiko im Zusammenhang mit Beschlussverfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG. Das Risiko liegt in der ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Denn wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß unterrichtet hat, gibt es für den Betriebsrat keine Notwendigkeit, eine etwaige Zustimmungsverweigerung innerhalb einer Woche zu erklären. Vielmehr geht das BAG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Wochenfrist bei einer fehlerhaften Unterrichtung des Betriebsrats gar nicht beginnt. Hiervon ausgehend besteht für den Arbeitgeber auch keine Möglichkeit, die verweigerte Zustimmung des Betriebsrats zu ersetzen. Vielmehr ist er gehalten, die Fehler seiner Unterrichtung zu korrigieren und im Anschluss daran den Betriebsrat erneut um Zustimmung zur personellen Maßnahme zu bitten41. Vorteilhaft für den Arbeitgeber ist allerdings, dass die erneute – jetzt ordnungsgemäße – Unterrichtung des Betriebsrats schon während des laufenden Zustimmungsersetzungsverfahrens nach § 99 Abs. 4 BetrVG erfolgen kann. Falls das Zustimmungsersetzungsverfahren mit einer vorläufigen Durchführung der Personalmaßnahme nach § 100 BetrVG verknüpft wird, kann die Personalmaßnahme auch aufrechterhalten werden42. Wie das BAG in seinem Beschluss vom 11.10.202243 deutlich gemacht hat, besteht diese Möglichkeit einer Nachbesserung allerdings dann nicht, wenn 41 Vgl. BAG v. 21.11.2018 – 7 ABR 16/17, NZA 2019, 711 Rz. 18 ff.; BAG v. 1.6.2011 – 7 ABR 18/10 n. v. (Rz. 22); Fitting, BetrVG § 99 Rz. 270 f. 42 BAG v. 11.10.2022 – 1 ABR 18/21, NZA 2023, 182 Rz. 26; HWK/Ricken, BetrVG § 100 Rz. 3. 43 BAG v. 11.10.2022 – 1 ABR 18/21, NZA 2023, 182 Rz. 22 ff., 27 f.
270
Aktuelles zur Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG
der Arbeitgeber den Betriebsrat vor Durchführung der Personalmaßnahme überhaupt nicht beteiligt hat. In diesem Fall genügt es nicht, die ordnungsgemäße Unterrichtung nachzuholen. Vielmehr ist die personelle Einzelmaßnahme zuvor aufzuheben. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der Arbeitgeber dem bisherigen Leiter der Abteilung Zielgruppenintelligenz mit Wirkung zum 25.5.2018 die Position des Leiters der neu eingerichteten Abteilung Quality Services Dialogmarketing zugewiesen. Der Betriebsrat war dabei nicht beteiligt worden und hatte deshalb beim ArbG Siegburg ein Beschlussverfahren nach § 101 BetrVG eingeleitet. Nachdem dem Arbeitgeber im Rahmen dieses Verfahrens erstinstanzlich aufgegeben worden war, die Maßnahme aufzuheben, erklärte er gegenüber dem Betriebsrat, die Versetzung zurückzunehmen. Daraufhin erklärten die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt. Der Arbeitgeber nahm die Versetzung allerdings nicht zurück. Vielmehr bat er den Betriebsrat am gleichen Tag lediglich noch einmal, der beabsichtigten (erneuten) Versetzung von Herrn N auf die Stelle des Leiters der Abteilung Quality Services Dialogmarketing zuzustimmen. Damit verbunden war der Hinweis, dass er diese Versetzung vorläufig durchführen werde. Als der Betriebsrat seine Zustimmung erneut verweigerte, beantragte der Arbeitgeber gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG, diese Zustimmung zu ersetzen. Gleichzeitig begehrte er die Feststellung gemäß § 100 Abs. 2 BetrVG, dass die vorläufige Durchführung der Versetzung aus sachlichen Gründen dringend erforderlich war. Mit diesem Begehren hatte der Arbeitgeber keinen Erfolg. Das BAG hat es abgelehnt, die verweigerte Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG zu ersetzen. Dabei hat das BAG zunächst einmal bestätigt, dass in der Personalmaßnahme eine Versetzung i. S. d. § 95 Abs. 3 S. 1 BetrVG zu sehen war. Da es sich bei Herrn N auch nicht um einen leitenden Angestellten nach § 5 Abs. 3 BetrVG handelte, war eine Zustimmung des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG notwendig. Voraussetzung für eine Zustimmungsersetzung ist allerdings – so das BAG – nicht nur, dass die Gründe, die der Betriebsrat zur Rechtfertigung seiner Zustimmungsverweigerung genannt hat, den Anforderungen aus § 99 Abs. 2 BetrVG nicht genügen. Erforderlich sei darüber hinaus, dass die Beteiligung des Betriebsrats zu einer Zeit erfolgte, zu der noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden sei oder eine solche zumindest noch ohne Schwierigkeiten revidiert werden könne. Eine Unterrichtung des Betriebsrats, die erst nach einer – zustimmungsbedürftigen – Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs 271
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
erfolge, sei nicht fristgerecht und damit nicht ordnungsgemäß i. S. d. § 99 Abs. 1 BetrVG44. In gleicher Weise hatte das BAG bereits zur verspäteten Beteiligung des Betriebsrats im Zusammenhang mit Einstellungen entschieden45. Diese Voraussetzung einer rechtzeitigen Beteiligung des Betriebsrats war vorliegend nicht erfüllt. Der Arbeitgeber hatte diese Personalmaßnahme 2018 zunächst ohne Beteiligung des Betriebsrats durchgeführt. Nachdem das ArbG Siegburg erstinstanzlich dem Antrag des Betriebsrats nach § 101 BetrVG stattgegeben hatte, hatte der Arbeitgeber den Betriebsrat im Januar 2020 lediglich gebeten, dieser – weiterhin unveränderten – Versetzung zuzustimmen. Grundsätzlich ist eine solche Wiederholung des Antrags auf Zustimmung nach § 99 BetrVG zwar zulässig. Denn der Arbeitgeber kann den Betriebsrat ggf. mehrmals hintereinander um Zustimmung zur Einstellung oder Versetzung desselben Arbeitnehmers auf denselben (neuen) Arbeitsplatz ersuchen. Davon geht auch das BAG aus. In allen Fällen sei es allerdings erforderlich, dass der Arbeitgeber von seiner ursprünglichen Maßnahme Abstand genommen und eine neue – eigenständige – Einstellung oder Versetzung eingeleitet habe46. Wenn eine Einstellung oder Versetzung ohne Beteiligung des Betriebsrats vollzogen werde, könne der Arbeitgeber – so das BAG – von der bereits durchgeführten personellen Einzelmaßnahme indes nur Abstand nehmen, indem er die Maßnahme tatsächlich aufhebe. Es genüge nicht, wenn er den Betriebsrat lediglich nachträglich um Zustimmung zur bereits (endgültig) vorgenommenen Einstellung oder Versetzung ersuche oder – wie im Entscheidungsfall – nur mitteile, er nehme die Versetzung „zurück“ und führe sie nunmehr nur noch „vorläufig“ durch. Dies folge aus § 101 BetrVG. Danach könne der Betriebsrat die Aufhebung einer personellen Maßnahme i. S. d. § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG verlangen, wenn der Arbeitgeber sie ohne seine Zustimmung durchführe. Es widerspräche – so das BAG – dem Zweck dieser Norm, wenn der Arbeitgeber den durch den endgültigen Vollzug der personellen Maßnahme begründeten betriebsverfassungswidrigen Zustand durch bloße Nachholung der Betriebsratsbeteiligung beseitigen könne. Dass eine Beschäftigung des ohne Beteiligung des Betriebsrats versetzten Arbeitnehmers auf dem früheren Arbeitsplatz als Folge einer Umorganisation
44 BAG v. 11.10.2022 – 1 ABR 18/21, NZA 2023, 182 Rz. 24. 45 BAG v. 21.11.2018 – 7 ABR 16/17, NZA 2019, 711 Rz. 18. 46 BAG v. 11.10.2022 – 1 ABR 18/21, NZA 2023, 182 Rz. 26; BAG v. 21.11.2018 – 7 ABR 16/17, NZA 2019, 711 Rz. 21.
272
Aktuelles zur Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG
ausgeschlossen ist, steht der Aufhebung dieser Personalmaßnahme nach Auffassung des BAG nicht entgegen. Denn der Vollzug einer bereits endgültig durchgeführten Versetzung könne nicht lediglich durch eine „Rückversetzung“ des betroffenen Arbeitnehmers auf seinen bisherigen Arbeitsplatz aufgehoben werden. Entscheidend ist vielmehr, dass der Einsatz des Arbeitnehmers auf der ihm zuletzt – mitbestimmungswidrig – zugewiesenen Stelle – zumindest vorübergehend bis zur Einleitung eines etwaigen neuen Beteiligungsverfahrens nach §§ 99 Abs. 1, 100 Abs. 2 BetrVG – unterbleibt47. Dieser Sichtweise des BAG ist zuzustimmen. Eine andere Betrachtungsweise hätte zur Folge, dass arbeitgeberseitig etwaige Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus § 99 BetrVG nicht nur ignoriert und entsprechende Maßnahmen bis zum Abschluss eines durch den Betriebsrat eingeleiteten Verfahrens nach § 101 BetrVG aufrechterhalten werden könnten. Vielmehr wäre der Arbeitgeber berechtigt, auch im Anschluss daran an der Personalmaßnahme festzuhalten, wenn er lediglich noch einmal den Antrag nach § 99 Abs. 1 BetrVG stellt und – falls weiterhin Widerstand des Betriebsrats besteht – ein Beschlussverfahren nach §§ 99 Abs. 4, 100 Abs. 2 BetrVG einleitet. Hat der Arbeitgeber Zweifel, ob eine Maßnahme in den Anwendungsbereich des § 99 BetrVG fällt und ist nicht ausgeschlossen, dass der Betriebsrat ein Verfahren nach § 101 BetrVG einleiten wird, empfiehlt es sich daher, den Betriebsrat jedenfalls vorsorglich um Zustimmung zu bitten. Wird die Zustimmung verweigert, würde man zwar gleichwohl aus Gründen der Vorsorge ein Verfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG einleiten und die Maßnahme auf der Grundlage von § 100 BetrVG durchführen. Die Anträge könnten dann allerdings mit dem Antrag verknüpft werden, festzustellen, dass die Maßnahme in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Sichtweise des Arbeitgebers nicht in den Anwendungsbereich von § 99 BetrVG fällt. War diese ursprüngliche Sichtweise fehlerhaft, kann an der Personalmaßnahme aber nicht nur dann festgehalten werden, wenn die Unterrichtung ordnungsgemäß erfolgt ist und kein Grund für eine Zustimmungsverweigerung vorlag. Selbst wenn die Unterrichtung fehlerhaft war, kann die Maßnahme fortgeführt werden, wenn die Unterrichtung nachgebessert und mit einem erneuten Antrag auf Zustimmung nach § 99 BetrVG und einem Verfahren nach § 100 BetrVG verknüpft wird. Es ist nicht erforderlich, die Personalmaßnahme rückgängig zu machen.
47 BAG v. 11.10.2022 – 1 ABR 18/21, NZA 2023, 182 Rz. 28; BAG v. 21.11.2018 – 7 ABR 16/17, NZA 2019, 711 Rz. 21.
273
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
c)
Digitale Übermittlung von Bewerbungsunterlagen
In Übereinstimmung mit den Feststellungen des LAG Köln im Beschluss vom 15.5.202048, über den wir berichtet hatten49, hat jetzt auch das LAG SachsenAnhalt im Beschluss vom 13.10.202250 in überzeugender Weise festgestellt, dass dem Betriebsrat die nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG erforderlichen Bewerbungsunterlagen nicht in Papierform vorgelegt werden müssen. Vielmehr könne diese Vorlage auch auf digitalem Wege erfolgen, indem die Betriebsratsmitglieder, denen Dienstlaptops zur Verfügung stünden, im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Einstellung umfassende Einsichtsmöglichkeiten in ein Bewerbermanagement-Tool erhielten. In dem zugrunde liegenden Fall hatte der Arbeitgeber eine bislang im Betrieb nicht vorhandene Stelle eines Prozess- und Projektspezialisten Technik (m/w/d) ausgeschrieben. Aus den 33 externen Bewerbungen – interne Bewerbungen gab es nicht – wählte er den Bewerber G aus und beantragte beim Betriebsrat, seiner Einstellung zum 1.10.2021 zuzustimmen. Der Betriebsrat teilte daraufhin mit, dass er noch keine abschließende Stellungnahme abgeben könne, weil ihm noch nicht alle für seine Entscheidung notwendigen Informationen und Unterlagen vorlägen. Er benötige noch das Protokoll des Bewerbungsgesprächs bzw. Vorstellungsgesprächs und die Stellenbeschreibung der neuen Stelle des Prozess- und Produktspezialisten Technik. Nachdem ihm diese Unterlagen zur Verfügung gestellt wurden, verweigerte er seine Zustimmung zur beabsichtigten Einstellung und verwies jetzt – zusammengefasst – darauf, dass eine Einstellung im Bereich Elektrik dringender benötigt werde. Denn die durch den Arbeitgeber geplante Einstellung führe dazu, dass in einer anderen Abteilung eine geplante neue Stelle verloren gehe, was zur Folge hätte, dass den dort beschäftigten Mitarbeitern eine Überlastung und damit ein schwerer Nachteil drohe. Mit der gleichen Begründung lehnte der Betriebsrat auch eine erneute Anhörung zu einer Einstellung am 1.11.2021 ab. Der Arbeitgeber beantragte daraufhin beim ArbG Halle (Saale) gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG, die fehlende Zustimmung des Betriebsrats zu ersetzen. Im Rahmen des Verfahrens verwies er darauf, dass er den Betriebsrat über die beabsichtigte Einstellung umfassend informiert habe. Spätestens im Zeitpunkt des zweiten Antrags hätte er auf sämtliche Bewerbungsunterlagen aller Bewerber Zugriff nehmen können. Er unterhalte nämlich ein Softwareprogramm zur Abbildung von Stellenausschreibungen und Bewerbungsverfahren
48 LAG Köln v. 15.5.2020 – 9 TaBV 32/19, NZA-RR 2021, 76. 49 B. Gaul, AktuellAR 2021, 256 ff. 50 LAG Sachsen-Anhalt v. 13.10.2022 – 2 TaBV 1/22, NZA-RR 2023, 136 Rz. 68 ff.
274
Aktuelles zur Beteiligung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG
(SFR). Die Modalitäten des Umgangs mit dem SFR-Tool seien in einer Rahmenkonzernbetriebsvereinbarung aus dem Jahre 2019 niedergelegt worden. Sämtliche Bewerbungsunterlagen seien dort eingepflegt. In Papierform eingehende Bewerbungen würden vollständig digitalisiert und übernommen. Insofern hätten die Betriebsratsmitglieder, denen Dienstlaptops zur Verfügung stünden, Einblick in alle Unterlagen nehmen können. Dass dem Betriebsrat diese Unterlagen nicht auch noch in Papierform vorgelegt worden seien, stehe der ordnungsgemäßen Unterrichtung nach § 99 Abs. 1 BetrVG nicht entgegen. Dieser Auffassung ist das LAG Sachsen-Anhalt gefolgt und hat eine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats über die beabsichtigte Einstellung angenommen. Dabei hat das LAG Sachsen-Anhalt offengelassen, ob der Auffassung zu folgen sei, dass dem Betriebsrat die relevanten Unterlagen (lediglich) zugänglich gemacht werden müssten, ohne dass ihm diese auch auszuhändigen seien51. Ebenso denkbar sei, dass dem Betriebsrat die Unterlagen bis zur Beschlussfassung über die beantragte Zustimmung, längstens für eine Woche, zu überlassen bzw. zur Verfügung zu stellen seien52. Denn in beiden Fällen sei die Unterrichtung dann gewahrt, wenn die Betriebsratsmitglieder – was vorliegend der Fall war – die Möglichkeit hätten, sich während der Wochenfrist des § 99 BetrVG alle relevanten Unterlagen im Rahmen des Bewerbermanagement-Tools mithilfe der Dienstlaptops anzusehen. Im „Zeitalter der Digitalisierung“ und der fortschreitenden Organisation möglichst papierfreier Büros könne es keinen Unterschied mehr machen, ob dem Betriebsrat sämtliche Unterlagen in Papierform vorgelegt bzw. überlassen würden oder ob die Betriebsratsmitglieder durch „Vorlage“ von Laptops in die Lage versetzt würden, sich die entsprechenden Kenntnisse zu verschaffen. Deshalb stellt das LAG Sachsen-Anhalt auch die Zumutbarkeit und Angemessenheit eines Ausdrucks von unter Umständen mehreren hundert Seiten infrage53. Richtigerweise lehnt es das LAG Sachsen-Anhalt im Beschluss vom 13.10.202254 hiervon ausgehend ab, den Arbeitgeber zu verpflichten, weiterhin ausnahmslos sämtliche (Bewerbungs-)Unterlagen auszudrucken und dem Betriebsrat in Papierform vorzulegen55. Hierfür fehle es an einem nachvollziehbaren Grund. Entscheidend sei die jederzeitige Möglichkeit, sich die er-
51 So GK-BetrVG/Raab, BetrVG § 99 Rz. 154; Hess u. a./Huke, BetrVG § 99 Rz. 146. 52 So BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 55/03, NZA 2005, 827 Rz. 33; Richardi/Thüsing, BetrVG § 99 Rz. 172. 53 LAG Sachsen-Anhalt v. 13.10.2022 – 2 TaBV 1/22, NZA-RR 2023, 136 Rz. 75. 54 LAG Sachsen-Anhalt v. 13.10.2022 – 2 TaBV 1/22, NZA-RR 2023, 136 Rz. 76. 55 So DKW/Bachner/Wenckelbach, BetrVG § 99 Rz. 159.
275
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
forderlichen Kenntnisse zu verschaffen, wobei es nicht darauf ankomme, ob der Betriebsrat diese durch Lesen von Papieren oder durch Lesen am Rechner erhalte. Insofern könne der Anspruch des Betriebsrats auf Vorlage von Unterlagen i. S. d. § 99 Abs. 1 BetrVG auch durch die Einräumung eines Einsichtsrechts in die im System hinterlegten Unterlagen erfüllt werden56. Datenschutzrechtliche Überlegungen stehen einer digitalen Übermittlung der Unterlagen nicht entgegen. Schließlich kann es keine Rolle spielen, ob die personenbezogenen Daten in Papierform oder auf digitalem Wege übermittelt werden. In beiden Fällen erfüllt der Arbeitgeber eine gesetzliche Verpflichtung zur Unterrichtung des Betriebsrats. Dieser ist nicht nur aus § 99 Abs. 1 S. 3 BetrVG zur Verschwiegenheit über die ihm in diesem Zusammenhang übermittelten Daten verpflichtet. Vielmehr müssen Arbeitgeber und Betriebsrat gleichermaßen auch die aus § 79 a BetrVG resultierenden Verpflichtungen zum Datenschutz einhalten, die insofern ebenfalls ein Zugriffs- und Löschkonzept innerhalb des Betriebsrats verlangen. Lediglich hier hat das LAG Sachsen-Anhalt dann allerdings auch darauf verwiesen, dass es Sache des Betriebsrats sein könne, innerhalb der Wochenfrist um eine Vervollständigung der Auskünfte zu bitten, wenn aufgrund der vorliegenden Umstände davon auszugehen sei, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht vollständig unterrichtet habe. Dies folge schon aus dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit57. Wenn der Betriebsrat – was vorliegend geschehen war – aber schon nach der ersten Unterrichtung erklärt habe, dass er bestimmte Unterlagen benötige, um abschließend entscheiden zu können, dürfe der Arbeitgeber erwarten, dass es genüge, wenn dem Betriebsrat die nicht angesprochenen Unterlagen weiterhin (nur) auf digitalem Wege zur Verfügung gestellt würden. Abschließend hat das LAG Sachsen-Anhalt im Beschluss vom 13.10.202258 noch darauf hingewiesen, dass kein Zustimmungsverweigerungsgrund nach § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG gegeben ist, wenn der Betriebsrat der Meinung ist, dass die beabsichtigte Einstellung in einer anderen Abteilung erfolgen solle. Die Entscheidung über etwaige Einstellungen obläge grundsätzlich der „unternehmerischen“ Entscheidung des Arbeitgebers. Der Betriebsrat könne Einstellungen auf bestimmten Arbeitsplätzen nicht erzwingen, insbesondere 56 Ebenso LAG Köln v. 15.5.2020 – 9 TaBV 32/19, NZA-RR 2021, 76 Rz. 57 ff.; Lützeler/Kopp, ArbR 2015, 491, 493. 57 BAG v. 13.3.2013 – 7 ABR 39/11 n. v. (Rz. 34); LAG Sachsen-Anhalt v. 13.10.2022 – 2 TaBV 1/22, NZA-RR 2023, 136 Rz. 64. 58 LAG Sachsen-Anhalt v. 13.10.2022 – 2 TaBV 1/22, NZA-RR 2023, 136 Rz. 87 ff., 110 ff.
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Arbeitnehmerlose SE – Nachverhandlungspflicht bei wirtschaftlicher Neugründung?
nicht über eine Verweigerung seiner Zustimmung zu einer Einstellung auf einem anderen Arbeitsplatz. Das überzeugt. (Ga)
6.
Arbeitnehmerlose SE – Nachverhandlungspflicht bei wirtschaftlicher Neugründung?
a)
Die Vorrats-SE
In der Praxis wird eine Societas Europaea (SE) oftmals „auf Vorrat“ gegründet (Vorrats-SE) und dann im Anschluss als „leere“ Gesellschaft an einen Dritten verkauft. Dabei erfolgt die Gründung in der Regel durch arbeitnehmerlose Gesellschaften, um die Notwendigkeit der Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens zu vermeiden. Der Erwerb und Einsatz einer solchen Vorrats-SE hat aufgrund ihrer flexiblen Einsatzmöglichkeiten im Rahmen von Transaktionen und Konzernumstrukturierungen große arbeits- und gesellschaftsrechtliche Relevanz. Denn die Gründung einer SE im Wege der Umwandlung einer eigenen bereits bestehenden Gesellschaft in eine SE oder der Eigengründung einer solchen als neue Gesellschaft erfordert nicht nur ein grenzüberschreitendes Element. Vielmehr muss (grundsätzlich) auch ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchgeführt werden, da die Gründungsgesellschaft(en) in der Regel bereits über eigene Arbeitnehmer verfügt bzw. verfügen. Die Umwandlung und Eigengründung sind damit in der Regel deutlich zeit- und kostenintensiver als der Erwerb und der Einsatz einer Vorrats-SE. Der Einsatz einer ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gegründeten SE ist in mitbestimmungsrechtlicher Hinsicht allerdings höchstumstritten. Zwar ist in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung59 inzwischen anerkannt, dass die Gründung einer arbeitnehmerlosen SE „auf Vorrat“ auch ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens grundsätzlich zulässig ist. Im Rahmen ihrer anschließenden Verwendung stellen sich jedoch weiterhin zahlreiche Fragen zum mitbestimmungsrechtlichen Schicksal der SE.
b)
Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens?
Zum mitbestimmungsrechtlichen Schicksal einer ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gegründeten SE gibt es bis heute keine gesicherte Rechtsprechung, während in der Fachliteratur hierzu mittlerweile
59 OLG Düsseldorf v. 30.3.2009 – I-3 Wx 248/08, ZIP 2009, 918.
277
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
eine kaum mehr überschaubare Bandbreite an unterschiedlichen Meinungen vertreten wird. Nach der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf60 soll das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren in analoger Anwendung der §§ 1 Abs. 4, 18 Abs. 3 SEBG zur Neuverhandlungspflicht bei strukturellen Änderungen nachzuholen sein, „sobald die Vorrats-SE wirtschaftlich neu gegründet, namentlich mit einem Unternehmen ausgestattet wird und infolgedessen über Arbeitnehmer verfügt“. Eine Konkretisierung, wann diese Voraussetzungen für die Nachholung des Beteiligungsverfahrens erfüllt sind, hat das OLG Düsseldorf jedoch leider nicht vorgenommen, da es hierauf in dem entschiedenen Fall letztlich nicht ankam. Insbesondere blieb offen, inwiefern die Tatbestandsvoraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG – trotz analoger Anwendung – für die Nachholungspflicht erfüllt sein müssen. Auch blieb ungeklärt, ob eine bestimmte Mindestzahl an Arbeitnehmern – und wenn ja, welche – gegeben sein muss oder ob schon ein einziger Arbeitnehmer für die Anerkennung einer Verpflichtung zur Nachholung eines Beteiligungsverfahrens ausreichen würde. Das OLG Düsseldorf verwendete in den Entscheidungsgründen den unbestimmten Plural.
c)
Keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bei Einsatz einer Vorrats-SE als Komplementärin einer KG
Nach der vorgenannten Entscheidung des OLG Düsseldorf61 blieb es in der Rechtsprechung lange ruhig um die Vorrats-SE, bis gut zwölf Jahre später das ArbG Bamberg62 eine überraschende Entscheidung zum Einsatz einer VorratsSE als Komplementärin einer KG gefällt hatte. Geklagt hatte der Betriebsrat einer KG, die in Deutschland mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigte. Dabei hatte der Betriebsrat zunächst ein Statusverfahren eingeleitet, um die Errichtung eines mitbestimmten Aufsichtsrats in der bisherigen Komplementärin, einer GmbH, durchzusetzen. Nachdem die Komplementär-GmbH aber gegen eine Komplementär-SE ausgetauscht wurde, verlangte der Betriebsrat, das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren in der SE nachzuholen. Hintergrund war, dass die als Komplementärin eingesetzte SE als Vorrats-SE ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gegründet, im Anschluss von der KG erworben und dann als Komplementärin eingebunden worden war. Bemerkenswert war außerdem, dass es sich insoweit um eine sog. Einheits-SE & Co. KG handelte.
60 OLG Düsseldorf v. 30.3.2009 – I-3 Wx 248/08, ZIP 2009, 918. 61 OLG Düsseldorf v. 30.3.2009 – I-3 Wx 248/08, ZIP 2009, 918. 62 ArbG Bamberg v. 8.9.2021 – 4 BV 31/20 n. v.
278
Arbeitnehmerlose SE – Nachverhandlungspflicht bei wirtschaftlicher Neugründung?
Mit einer dogmatisch fragwürdigen und stark ergebnisorientierten Begründung gab das ArbG Bamberg dem Betriebsrat Recht und vertrat – abweichend von der vorangehend veröffentlichten Entscheidung des OLG Düsseldorf – die Ansicht, dass das Beteiligungsverfahren bereits in analoger Anwendung der §§ 4 ff. SEBG (und nicht erst nach § 18 Abs. 3 SEBG analog) nachzuholen sei. Nach diesen Vorschriften bestehe die Pflicht zur Nachholung, sobald die Vorrats-SE „aktiviert“ werde und Arbeitnehmer für die Durchführung des Beteiligungsverfahrens zur Verfügung stünden. Dabei sei nicht erforderlich, dass die SE selbst Arbeitnehmer habe. Es genüge vielmehr, wenn in der KG Arbeitnehmer beschäftigt seien. Die KG sei zwar nicht an der Gründung der Vorrats-SE selbst, jedoch an ihrer „wirtschaftlichen Neugründung“ beteiligt gewesen. Ausreichend sei insofern bereits der Umstand, dass die KG die Vorrats-SE als Komplementärin aufgenommen habe. Vor diesem Hintergrund sei der Fall so zu behandeln, als sei die KG schon an der eigentlichen Gründung der Vorrats-SE beteiligt gewesen. Für die Zurechnung der Arbeitnehmer der KG zur SE sei nicht erforderlich, dass die KG als Tochtergesellschaft der SE i. S. d. SEBG zu qualifizieren sei. Auch komme es nicht darauf an, dass die Komplementär-SE kein Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung der KG habe und sie die KG deshalb nicht beherrsche. Maßgebliches Ereignis für die wirtschaftliche Neugründung der Vorrats-SE und damit entscheidend für die Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens sei die Übernahme der Komplementärstellung in der KG. Denn die Vorrats-SE nehme seit Übernahme der Stellung als Komplementär-SE in der KG erstmalig am Wirtschaftsleben teil. Mit ihrem Beitritt zu einer KG ändere die Vorrats-SE daher ihren Gesellschaftszweck in die Übernahme der Geschäftsführung und unbeschränkte Haftung für die Verbindlichkeiten der KG. Hilfsweise führte das ArbG Bamberg zur Begründung seiner Auffassung aus, dass die Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens in der der Entscheidung zugrunde liegenden Fallkonstellation auch aus einer analogen Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG (wie vom OLG Düsseldorf bevorzugt) abgeleitet werden könne. Die Übernahme der Komplementärstellung in der KG durch die Vorrats-SE stelle eine strukturelle Änderung i. S. d. § 18 Abs. 3 SEBG dar. Der Begriff der strukturellen Änderung erfasse nicht nur gesellschaftsrechtliche, insbesondere zugleich auch satzungsrelevante Änderungen innerhalb der SE, sondern auch rein wirtschaftliche Änderungen in der Betätigung der SE. Abweichend vom Wortlaut des § 18 Abs. 3 SEBG sei es auch nicht erforderlich, dass die strukturelle Änderung geeignet sei, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern. Vielmehr sei die Norm im Rahmen der analogen Anwendung entsprechend teleologisch zu reduzieren.
279
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
Mit überzeugender Begründung hat das LAG Nürnberg die Entscheidung des ArbG Bamberg in dieser Sache in seinem Beschluss vom 1.9.202263 aufgehoben und die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen. Eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bestehe in dem vorliegenden Fall nicht. Nach Auffassung des LAG Nürnberg sei das Beteiligungsverfahren bei einer wirtschaftlichen Aktivierung der SE allenfalls dann nachzuholen, wenn die SE selbst mit einem Unternehmen ausgestattet werde und wenigstens zehn Arbeitnehmer beschäftige. Der bloße Beitritt der SE als Komplementärin zur KG verpflichte jedoch noch nicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens. Insbesondere seien die Arbeitnehmer der KG auch nicht der Komplementär-SE zuzurechnen. Eine derartige Zurechnung scheide bereits deswegen aus, dass die Einheits-KG – gemessen an den Kriterien des SEBG – keine Tochtergesellschaft der SE sei. Vielmehr sei der umgekehrte Fall gegeben, d. h. die SE stelle eine Tochtergesellschaft der KG dar. Die Kriterien des SEBG für die Annahme einer Tochtergesellschaft seien abschließend. Nach Auffassung des LAG Nürnberg ist im Einsatz einer ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründeten Vorrats-SE als Komplementärin einer mit Arbeitnehmern ausgestatteten KG auch kein Missbrauch der SE zu sehen. Ein solcher komme nur dann in Betracht, wenn Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer – gemessen an dem Vorher-Nachher-Prinzip – gemindert würden. Eine solche Minderung sei bei der KG als mitbestimmungsfreie Rechtsform und bei der mitbestimmungsfrei gegründeten Vorrats-SE nicht ersichtlich. Schließlich seien auch die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG nicht erfüllt. Die Übernahme einer Komplementärstellung stelle entgegen der Ansicht des ArbG Bamberg bereits keine strukturelle Änderung im Sinne der Norm dar. Hierunter seien ausschließlich „kooperative Akte“ zu verstehen, also solche gesellschaftsrechtlichen Vorgänge, die Einfluss auf die gesellschaftsrechtliche Struktur der SE hätten. Auch fehle es – wie zum Missbrauchsverbot ausgeführt – an einer Minderung der Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer. Auf diese Tatbestandsmerkmale könne auch nicht mit der Begründung verzichtet werden, dass Art. 12 SEVO im Rahmen der Gründung der Vorrats-SE zuvor teleologisch reduziert worden sei, wodurch diese ohne das grundsätzlich vorgesehene Beteiligungsverfahren gegründet werden könnte. Denn ein Beteiligungsverfahren sei vorliegend nicht erforderlich gewesen, da die SE (weiterhin) keine eigenen oder ihr zurechenbaren Arbeitnehmer gehabt habe.
63 LAG Nürnberg v. 1.9.2022 – 3 TaBV 29/21 n. v.
280
Arbeitnehmerlose SE – Nachverhandlungspflicht bei wirtschaftlicher Neugründung?
Die Entscheidung des LAG Nürnberg ist dogmatisch überzeugend und führt entsprechende Fallkonstellationen unter konsequenter Anwendung des geltenden Rechts einer sachgerechten Lösung zu. Denn zum einen ist die KG nach geltendem Recht kein mitbestimmungsfähiger Rechtsträger. Zum anderen kommt eine Zurechnung der Arbeitnehmer der KG zu ihrer Komplementärin nur dann in Betracht, wenn die Komplementärin selbst ein nach § 1 MitbG mitbestimmungsfähiger Rechtsträger ist. Dies ist bei der SE nicht der Fall. Vielmehr gilt für die SE ein eigenes, auf Unionsrecht basierendes Mitbestimmungsregime.
d)
Unionsrechtliche Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens?
Rechtssicherheit besteht beim Einsatz einer ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründeten SE trotz der dogmatisch überzeugenden Entscheidung des LAG Nürnberg in der Praxis jedoch weiterhin nicht. Denn das LAG Nürnberg hat die Rechtsbeschwerde zum BAG zugelassen; sie wurde auch eingelegt64. Ob das BAG der Ansicht des LAG Nürnberg folgen wird, was zu begrüßen wäre, ist allerdings offen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der 6. Senat des BAG im Zusammenhang mit dem Einsatz einer ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründeten SE dem EuGH durch Beschluss vom 17.5.202265 eine Vielzahl von Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Gegenstand auch dieses Verfahrens ist im Kern die Frage, ob ein Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer SE nachzuholen ist, wenn diese bei ihrer Gründung weder eigene noch Arbeitnehmer in den Tochtergesellschaften gehabt hat. Geklagt hat der Konzernbetriebsrat einer SE & Co. KG. Er begehrte die Durchführung eines Beteiligungsverfahrens in der Muttergesellschaft. In dem der Angelegenheit zugrunde liegenden Fall war eine in Großbritannien durch Verschmelzung zweier arbeitnehmerloser Gesellschaften und ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründete SE („Holding-SE“) bislang alleinige Gesellschafterin einer mitbestimmten deutschen GmbH. Diese GmbH wurde später in eine KG umgewandelt, wobei die Komplementärfunktion durch eine weitere SE („Management-SE“) übernommen wurde. Im weiteren Verlauf verlegte die Holding-SE ihren Sitz von Großbritannien nach Deutschland. Weder die Holding-SE noch die Management-SE beschäftigte selbst Arbeitnehmer. In der KG waren aber etwa 800 Arbeitnehmer be64 Angängig beim BAG unter Az. 7 ABR 3/23. 65 BAG v. 17.5.2022 – 1 ABR 37/20 (A), NZA 2023, 44 Rz. 14 ff., 34 ff.; anhängig beim EuGH unter Az. C-706/22.
281
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
schäftigt. Darüber hinaus waren in den Tochtergesellschaften der KG insgesamt weitere 2.200 Arbeitnehmer angestellt. In seinem Vorlagebeschluss hat der 1. Senat des BAG die Ansicht vertreten, dass bei einer arbeitnehmerlosen SE, die ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründet würde, das Verfahren nachzuholen sein könne, wenn die SE nach ihrer Gründung herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften werde, in denen Arbeitnehmer beschäftigt würden. Zwar enthalte das SEBG selbst keine Regelungen zur Nachholungspflicht eines unterbliebenen Beteiligungsverfahrens. Eine Pflicht zur Nachholung könne jedoch aus unionsrechtlichen Gesichtspunkten geboten sein, was in Deutschland zur Folge haben könne, dass die in §§ 4 bis 17, 19, 20 SEBG getroffenen Regelungen im Wege einer Analogie zur Anwendung gebracht würden. Sollte das Unionsrecht eine solche Nachholung des Beteiligungsverfahrens gebieten, stelle sich für das BAG jedoch ferner die Frage, ob die nachträgliche Durchführung jederzeit möglich und geboten sei oder ob sie einer zeitlichen Begrenzung unterliege. Nach Auffassung des BAG wäre eine solche Verpflichtung der SE – das Bestehen dieser Verpflichtung insofern unterstellt – nicht fristgebunden. Sie ginge deshalb auch nicht durch bloßen Zeitablauf unter. Der Umstand, dass sich im Laufe der Zeit die Zahl der in einer Holding-SE und ihren Tochtergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer ändern könne, hätte damit nicht zur Folge, dass eine (etwaige) Pflicht zur nachträglichen Durchführung eines Verhandlungsverfahrens entfalle. Da die Frage, ob eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bestehe, nach der Ansicht des 1. Senats des BAG von der Auslegung des Unionsrechts abhänge, hat dieser den EuGH ersucht, insbesondere nachstehende Fragen zu beantworten:
282
1.
Ist Art. 12 Abs. 2 SEVO i. V m. Art. 3 bis 7 Richtlinie 2001/86/EG dahingehend auszulegen, dass bei der Gründung einer Holding-SE durch beteiligte Gesellschaften, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, sowie ihrer Eintragung in das Register eines Mitgliedstaats (arbeitnehmerlose SE) ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nach dieser Richtlinie dieses Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, wenn die SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der EU wird?
2.
Sollte der EuGH die erste Frage bejahen:
Arbeitnehmerlose SE – Nachverhandlungspflicht bei wirtschaftlicher Neugründung?
Ist die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem solchen Fall ohne zeitliche Begrenzung möglich und geboten?
Das Rechtsbeschwerdeverfahren vor dem BAG wurde bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
e)
Ausblick und Auswirkungen für die Praxis
Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH und damit auch das BAG entscheiden werden. Vor dem Hintergrund, dass der 1. Senat des BAG im „Holding-SEVerfahren“ die Auslegung des Unionsrechts für die Beantwortung der Frage zum Bestehen einer Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens für maßgeblich hält, ist zu erwarten, dass auch im Hinblick auf das durch das LAG Nürnberg entschiedene „Komplementär-SE-Verfahren“ eine Vorlage beim EuGH erfolgen wird. Denn auch hier käme eine Nachholungspflicht nur in analoger Anwendung der Regelungen des SEBG in Betracht, wobei die Analogiefähigkeit nach der Ansicht des 1. Senats von der Auslegung des Unionsrechts bestimmt wird. Bis zum Vorliegen höchstrichterlicher Rechtsprechung bestehen für die Praxis weiterhin erhebliche mitbestimmungsrechtliche Unsicherheiten beim Einsatz einer ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründeten SE66. In der Beratungspraxis ist daher erhöhte Sorgfalt geboten. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf solche Fallkonstellationen, in denen die SE – kurzoder langfristig – die Komplementärstellung einer KG einnehmen oder herrschendes Unternehmen einer oder mehrerer Tochtergesellschaft(en) werden soll. Soll die mitbestimmungsfrei gegründete SE mitbestimmungsfrei bleiben, was in der Praxis der Regelfall ist, dürfte ihr Einsatz zu den vorstehenden Zwecken zum jetzigen Zeitpunkt deshalb regelmäßig nur dann in Betracht kommen, wenn die Zahl der in der KG oder der bzw. den beherrschten Tochtergesellschaft(en) beschäftigten Arbeitnehmer die Schwellenwerte der Mitbestimmungsgesetze nicht überschreitet und auch nicht überschreiten wird. Andernfalls droht über die Zurechnung dieser Arbeitnehmer die Mitbestimmung in der SE selbst. Das ist überall dort schädlich, wo die Umwandlung in eine SE (auch) mit dem Ziel erfolgt ist, einen mitbestimmungsfreien Status des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe zu perpetuieren. (Ro)
66 Vgl. Schlosser, RdA 2022, 350, 360.
283
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
7.
Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Einführung agiler Arbeit
Bei der Einführung neuer Arbeitsformen bestehen nicht nur Unterrichtungsund Beratungsrechte des Betriebsrats aus § 90 BetrVG. Im Ausnahmefall kann daraus auch ein Mitbestimmungsrecht resultieren (§ 91 BetrVG). Im Übrigen dürfte die Einführung von agiler Arbeit aber im Wesentlichen vor allem mit Beteiligungsrechten im Zusammenhang mit der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) sowie Fragen des Arbeitsschutzes (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) verbunden sein. Wie das ArbG Bonn in seinem Beschluss vom 6.10.202267 noch einmal deutlich gemacht hat, wird man allerdings darüber hinaus auch Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in Bezug auf Grundsätze über die Durchführung von Gruppenarbeit aus § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG im Auge behalten müssen. Gruppenarbeit im Sinne der Vorschrift liegt nach der gesetzlichen Legaldefinition vor, wenn im Rahmen des betrieblichen Arbeitsablaufs eine Gruppe von Arbeitnehmern eine ihr übertragene Gesamtaufgabe im Wesentlichen eigenverantwortlich erledigt. Zu Recht macht das ArbG Bonn in seinem Beschluss allerdings zunächst einmal deutlich, dass der Betriebsrat nicht abstrakt-generell verlangen kann, dass die Einführung von agiler Arbeit an seine Zustimmung oder einen seine Zustimmung ersetzenden Spruch der Einigungsstelle geknüpft wird. Auch wenn agile Arbeit typischerweise mit einer hohen Selbständigkeit der betroffenen Arbeitnehmer verbunden ist, muss jeweils im Einzelfall geprüft werden, welche Arbeitsweise durch den Arbeitgeber in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der agilen Arbeit im Betrieb geplant ist. Die bloße Bezeichnung einer (neuen) Arbeitsweise als „agil“ lässt noch keinen Rückschluss auf die Anwendbarkeit von § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG zu. Ein entsprechender Antrag des Betriebsrats ist als Globalantrag zurückzuweisen68. In dem konkreten seiner Entscheidung zugrunde liegenden Fall ist das ArbG Bonn auf der Grundlage der Darlegungen des antragstellenden Gesamtbetriebsrats, für dessen Zuständigkeit nach § 50 BetrVG sich im Beschluss allerdings keinerlei Anhaltspunkte finden, von einer Gruppenarbeit nach § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG ausgegangen, soweit der Betriebsrat seine Anträge auf konkrete Kleingruppen von Arbeitnehmern innerhalb bestimmter Teams konkretisiert hatte. Dieser rechtlichen Einschätzung hatte der Arbeitgeber zwar widersprochen, den tatsächlichen Sachvortrag des Gesamtbetriebsrats aber 67 ArbG Bonn v. 6.10.2022 – 3 BV 116/21 n. v. 68 ArbG Bonn v. 6.10.2022 – 3 BV 116/21 n. v. (Rz. 336 ff., 348).
284
Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Einführung agiler Arbeit
nicht substantiiert in Streit gestellt. Hiervon ausgehend hatte das ArbG Bonn trotz des im Beschlussverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatzes diesen Vortrag des Gesamtbetriebsrats seiner Entscheidung zugrunde gelegt und ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG angenommen. Ob dies mit Blick auf den Sachvortrag der Beteiligten prozessual berechtigt war, lässt sich aus der veröffentlichten Entscheidung zwar nicht entnehmen. Nach den Feststellungen im Tatbestand war die agile Arbeit allerdings so organisiert, dass sich die Arbeitnehmer in Projekteinsätzen befanden, die innerhalb sog. HUBs durchgeführt wurden. Innerhalb dieser HUBs wurden Gruppen gebildet, die aus einem Scrum Master, Product Owner und dem Entwicklungsteam bestanden und gemeinsam das sog. Scrum Team bildeten. Innerhalb des Scrum Teams war der Product Owner verantwortlich für den geschäftlichen Erfolg des Produkts. Er verwaltete das sog. Product Backlog, eine dynamische Liste aller Anforderungen für das zu erstellende Produkt, und erklärte eventuell notwendige Priorisierungen. Der Scrum Master war für die Umsetzung der Scrum-Methode und für die Einhaltung der Regeln in der Gruppe zuständig. Er sorgte für möglichst gute Arbeitsbedingungen und unterstützte die Gruppe bei ihrer Organisation. Wie sich auch aus anderen Veröffentlichungen, einschließlich einer Pilot-Gesamtbetriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung agiler Arbeitsmethoden, ergab, arbeitete das Entwicklungsteam insoweit „selbstorganisiert und funktionsübergreifend, d. h. jedes Mitglied im Entwicklungssystem übernimmt anfallende Arbeiten selbständig, um die Sprint Backlogs erfolgreich abzuschließen, und ist gemeinschaftlich verantwortlich für die Ergebnisse und deren Qualität.“ Wenn man allein diese Beschreibung zugrunde legt, erscheint es nachvollziehbar, bei einer solchen Arbeitsform von einer Gruppenarbeit i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG auszugehen. Denn diese Grundsätze beschreiben, dass innerhalb der Gruppe eine Eigenverantwortlichkeit im Verhältnis zum Arbeitgeber bestand. Schließlich hatte der Arbeitgeber in ganz wesentlichen Punkten, die Art, Ort und Zeit der Tätigkeit betrafen, auf die Ausübung seines Direktionsrechts verzichtet. Daran anknüpfend hatte er den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe entsprechende Entscheidungen in Bezug auf die Erledigung ihrer täglichen Arbeit überlassen, so dass diese die ihnen übertragene Aufgabe im Wesentlichen eigenverantwortlich erledigten. Wenn und soweit eine solche Arbeitsweise in Bezug auf konkrete Teams dargelegt werden kann, kann das Arbeitsgericht nicht nur Feststellungen zu einem Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG treffen. Vielmehr kann auch ein Antrag auf Unterlassung dieser Arbeitsform begründet sein, wenn die Arbeitsweise ohne eine Zustimmung des Betriebsrats oder einen diese Zustimmung ersetzenden Spruch der Einigungsstelle durchgeführt wird. 285
Betriebsverfassung und Mitbestimmung
Soll dies vermieden werden, muss der Betriebsrat rechtzeitig eingebunden und seine Zustimmung eingeholt werden. (Ga)
286
I. 1.
Betriebsänderung und Betriebsübergang
Digitalisierung als Betriebsänderung
Die Digitalisierung, deren Auswirkungen wir im Zusammenhang mit dem aktuellen Fachkräftemangel an anderer Stelle behandelt hatten1, ist im Grunde nur ein Schlagwort, unter das eine Vielzahl von Veränderungen auf der betrieblichen Ebene subsumiert werden kann.
a)
Erscheinungsformen der Digitalisierung
Auch und insbesondere mit Blick auf etwaige Beteiligungsrechte des Betriebsrats im Zusammenhang mit §§ 111, 112 BetrVG, geht es dabei insbesondere um folgende Maßnahmen:
1
•
Einführung neuer Hard- und Software bzw. Automatisierung von Prozessen,
•
Ersetzen menschlicher Arbeitskraft durch technische Arbeitsprozesse („Algorithmen und KI statt Erfahrung aus betrieblicher Praxis“),
•
Systematisierung und Vereinheitlichung individueller Arbeitsprozesse,
•
Veränderung der Arbeitsschwerpunkte, der Arbeitsanforderungen, der physischen und psychischen Arbeitsintensität,
•
Einführung agiler Arbeitsmethoden mit einer technischen – ggf. betriebs- oder unternehmensübergreifenden – Verknüpfung der Arbeitsprozesse,
•
Anpassung der Arbeitszeit durch (globale) Vernetzung von Arbeitsprozessen,
•
Qualifizierung oder Entlassung (Re-Skilling, Up-Skilling, New Skilling vs. New Hire),
•
Veränderung der Arbeitssteuerung durch eine Ausweitung einer Verarbeitung leistungs- und verhaltensbezogener Daten,
•
Digitalisierung durch Übertragung von Arbeiten auf andere (digitalisierte) Dienstleister,
B. Gaul, AktuellAR 2023, 71 ff.
287
Betriebsänderung und Betriebsübergang
•
Digitalisierung im Rahmen flexibler Arbeitskonzepte (insbesondere Homeoffice, Shared Desk).
Ob und inwieweit die vorstehenden Veränderungen einzelne oder alle Arbeitsplätze betreffen, hat dann vor allem für die Frage Bedeutung, ob eine Betriebsänderung vorliegt. Wichtig ist auch, ob die Maßnahmen insgesamt geplant werden und damit Bestandteil einer geplanten Transformation sind, die aufgrund ihres Zusammenhangs vor allem bei §§ 111, 112 BetrVG zusammen behandelt werden.
b)
Vorliegen einer Betriebsänderung
Das Vorliegen einer Betriebsänderung mit den daraus folgenden Beteiligungsrechten des Betriebsrats bestimmt sich im Wesentlichen nach § 111 S. 3 BetrVG. Wenn die dort genannten Maßnahmen geplant sind, entstehen Unterrichtungs- und Beratungsrechte des Betriebsrats aus § 111 BetrVG. Im Anschluss daran sind Verhandlungen über einen Interessenausgleich und – soweit die Maßnahme mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden ist – einen Sozialplan zu führen. Der Sozialplan kann ggf. im Wege des Einigungsstellenverfahrens erzwungen werden, wenn nicht die Ausnahmen des § 112 a BetrVG vorliegen. Der Interessenausgleich, also die Vereinbarung über das Ob, Was, Wann, Wer und Wie der Maßnahme, muss lediglich versucht werden. Wichtig ist, bei der Unterrichtung des Betriebsrats nicht nur die Maßnahme selbst und ihre negativen Folgen zu erörtern. Aus unternehmerischer Sicht ist es ebenso wichtig, den Arbeitnehmern und Arbeitnehmervertretern auch die positiven Ziele der Digitalisierung aufzuzeigen. Dazu gehört beispielsweise der Wegfall redundanter und einfacher Arbeitsschritte, eine Steigerung der Effektivität durch bessere Verknüpfung von Arbeitsprozessen, eine Anhebung der Anforderungen an die einzelnen Arbeitsplätze, die mit einem Re- oder UpSkilling der betroffenen Arbeitnehmer verbunden ist, die Unterstützung von Arbeitnehmern durch maschinelle Bewertungen und die maschinell vorbereitete Verantwortung sowie eine Optimierung und Vereinfachung von Arbeitsprozessen mit einer Verbesserung der Kostenstruktur. Sämtliche Folgen resultieren langfristig in einer Sicherung der verbleibenden Arbeitsplätze, auch wenn die Digitalisierung kurzfristig mit einem Wegfall der bisherigen Arbeitsplätze verbunden ist. Gerade im Zusammenhang mit Digitalisierungsmaßnahmen stellt sich häufig die Frage, ob überhaupt eine Betriebsänderung vorliegt. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn zunächst einmal nur eine Veränderung der Arbeitsprozesse geplant ist, ohne dass bereits erkennbar ist, ob und ggf. wie viele Arbeitnehmer in der zukünftigen Struktur nicht mehr beschäftigt werden kön288
Digitalisierung als Betriebsänderung
nen. Lässt man deshalb die Möglichkeit einer Betriebsänderung wegen der Schließung oder Einschränkung eines Betriebs oder wesentlichen Betriebsteils nach § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG einmal außer Acht, kann eine Betriebsänderung im Zusammenhang mit einer Digitalisierung auch darin liegen, dass bestimmte Bereiche ausgegliedert und auf der Grundlage eines Dienst- oder Werkvertrags durch einen anderen Rechtsträger fortgeführt werden. Denn darin kann nicht nur die Schließung eines wesentlichen Betriebsteils (§ 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG), sondern auch eine Spaltung des Betriebs (§ 111 S. 3 Nr. 3 BetrVG) zu sehen sein. Dabei ist es wichtig, dass das BAG von einer solchen Betriebsänderung auch dann ausgeht, wenn nur eine relativ kleine Zahl von Arbeitnehmern betroffen ist (Bagatellausgliederung)2. Das erscheint richtig, führt man sich vor Augen, dass auch bei dem Zusammenschluss mehrerer Betriebe, den § 111 S. 3 Nr. 3 BetrVG gleichermaßen erfasst, keine Mindestgrößen genannt werden. Maßnahmen im Zusammenhang mit einer Digitalisierung können auch zu einer grundlegenden Änderung der Betriebsorganisation führen. Hierzu gehören alle Maßnahmen mit Auswirkungen auf den gesamten Betriebsablauf, die Arbeitsweise oder die Arbeitsbedingungen3. Auch kann damit die Einführung neuer Arbeitsmethoden verbunden sein. Davon ist auszugehen, wenn die Maßnahmen zu einer Änderung in Bezug auf die Art, eine Arbeit systematisch abzuwickeln, führen. Dabei geht es um alle denkbaren Auswirkungen, also die Strukturierung des Arbeitsablaufs einzelner Arbeitnehmer (Handgriffe, Bewegungsabläufe) und der Arbeitsabläufe zwischen mehreren Arbeitnehmern sowie den Einsatz technischer Hilfsmittel, der eine Veränderung der Aufteilung zwischen Arbeits- und Betriebsmitteln zur Folge hat4. Wichtig ist allerdings, dass solche Maßnahmen nur dann als Betriebsänderung i. S. d. § 111 S. 3 Nrn. 4, 5 BetrVG erfasst werden, wenn sie qualitativ und/oder quantitativ wesentlich bzw. „einschneidend“ für den gesamten Betrieb und die darin beschäftigten Arbeitnehmer sind5. Der Betrieb muss in Bezug auf die Arbeitsabläufe, die Fertigungsverfahren und die Arbeitsmethoden also völlig anders aussehen, wenn die Maßnahme zur Umsetzung gekommen ist. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass allein die Einführung von Shared Desk nicht als Betriebsänderung zu qualifizieren ist. Hier können jedoch an2 3 4 5
Vgl. BAG v. 8.3.2022 – 1 ABR 19/21, NZA 2022, 1068 Rz. 38. BAG v. 22.3.2016 – 1 ABR 12/14, NZA 2016, 984 Rz. 26; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 77/06, NZA 2008, 957 Rz. 22. Vgl. BAG v. 22.3.2016 – 1 ABR 12/14, NZA 2016, 894 Rz. 19; BVerwG v. 30.8.1985 – 6 P 20/83, NJW 1986, 1360 Rz. 39. Vgl. BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 77/06, NZA 2008, 957 Rz. 22; Fitting, BetrVG § 111 Rz. 91 f.; HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG § 111 Rz. 44.
289
Betriebsänderung und Betriebsübergang
dere Beteiligungsrechte, vor allem aus § 87 Abs. 1 Nrn. 6, 7 BetrVG sowie §§ 90, 91 BetrVG in Rede stehen6. Da es sich bei § 87 BetrVG aber ohnehin um eine erzwingbare Mitbestimmung handelt, bei der es einer Zustimmung des Betriebsrats oder eines diese Zustimmung ersetzenden Spruchs der Einigungsstelle bedarf, müssen auch diese Beteiligungsrechte sorgfältig und rechtzeitig vorbereitet werden.
c)
Rahmeninteressenausgleich und Rahmensozialplan als Grundlage einer langfristigen Transformation?
Die Transformation eines Unternehmens im Zusammenhang mit der Digitalisierung ist in der Regel nicht nur ein langjähriger Prozess. Es ist auch eine Entwicklung, deren einzelne Bestandteile erst im Laufe der Zeit erkennbar werden. Gerade deshalb fehlt es häufig an einer geplanten Betriebsänderung: Denn die konkrete Maßnahme, an die eine Anwendbarkeit von § 111 BetrVG geknüpft werden könnte, muss erst noch erarbeitet werden. Vielfach besteht auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite aber gleichwohl das Interesse, sich schon möglichst früh auf die Rahmenbedingungen festzulegen, um allen Beteiligten – auch den hiervon betroffenen Arbeitnehmern – Planungssicherheit zu geben. Auch wenn der Rahmeninteressenausgleich und -sozialplan in diesem Zusammenhang ein sehr häufig gewähltes Mittel sind, dürfte es wichtig sein, die Voraussetzungen und Rechtsfolgen solcher Vereinbarungen zu erkennen. aa)
Wirkungsweise eines Rahmeninteressenausgleichs
Der Rahmeninteressenausgleich, mit dem sich das BAG bereits im Urteil vom 19.1.19997 befasst hat, regelt – anders als der eigentliche Interessenausgleich – keine konkrete Betriebsänderung. Denn eine solche Betriebsänderung ist zum Zeitpunkt seines Abschlusses gar nicht geplant. Damit verliert der Betriebsrat mit Abschluss eines Rahmeninteressenausgleichs auch nicht die Befugnis, jedenfalls dann nach §§ 111, 112 BetrVG wegen des eigentlichen Interessenausgleichs beteiligt zu werden, wenn die Planungen fortgeschritten sind und die geplanten Maßnahmen nach § 111 S. 3 BetrVG erkennbar werden. Andernfalls läge in dem Abschluss des Rahmeninteressenausgleichs ein unzulässiger Verzicht auf die Mitbestimmung bei einer künftigen Betriebsänderung. Für den Arbeitgeber bedeutet dies, dass die Verhandlungen wegen eines Interessenausgleichs noch bis in eine etwaige 6 7
BAG v. 17.11.2021 – 7 ABR 18/20, NZA 2022, 501 Rz. 12 ff.; a. A. ArbG Frankfurt a. M. v. 8.1.2003 – 2 BVGa 587/02 n. v. (Rz. 17 ff.). BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 342/98, NZA 1999, 949.
290
Digitalisierung als Betriebsänderung
Einigungsstelle geführt werden müssen, bevor nach dem Abschluss der Planungen eine Betriebsänderung durchgeführt werden soll. Die daraus resultierende Verzögerung kann ein erhebliches Druckmittel zur Folge haben, das der Betriebsrat nicht nur nutzen kann, um die geplanten Maßnahmen zu Gunsten der Arbeitnehmer zu verändern. Er kann auch versuchen, den Abschluss eines Interessenausgleichs davon abhängig zu machen, dass die in einem Rahmensozialplan bereits enthaltenen Zusagen noch einmal verbessert werden. Will der Arbeitgeber diese Forderungen nicht erfüllen, müssen die Verhandlungen bis in die Einigungsstelle gebracht und dort qualifiziert werden. Andernfalls droht ein Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG. Im Ergebnis handelt es sich bei dem Rahmeninteressenausgleich somit um eine freiwillige Betriebsvereinbarung, mit der vor allem das Verfahren – also die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat – geregelt wird. Dazu gehören typischerweise die Einbeziehung von Arbeitnehmervertretern in die weiteren Planungen, Termine und Orte für Verhandlungen und deren Vorbereitung durch die Betriebsparteien, die Zulässigkeit einer Einbeziehung von Beratern, Eskalationsszenarien, insbesondere etwaiger Vorsitzender, die Anzahl der Beisitzer und die Voraussetzungen einer Einigungsstelle. Denkbar ist auch, dass im Rahmeninteressenausgleich bereits festgelegt wird, ob und wie bestimmte Maßnahmen abgewickelt werden, wenn sie das Planungsstadium erreichen. Hierzu können nicht nur Vereinbarungen über die Ausschreibung von (neuen) Arbeitsplätzen und die Auswahl von Mitarbeitern für personelle Einzelmaßnahmen oder Qualifikationsmaßnahmen geregelt werden. Es kann auch schon vorab vereinbart werden, wie beim Wegfall von Arbeitsplätzen vorgegangen werden soll. Dies kann auch ein Freiwilligenprogramm mit einem vorübergehenden Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen einbeziehen. bb)
Wirkungsweise eines Rahmensozialplans
Der Rahmensozialplan regelt, wie auch der Sozialplan, grundsätzlich einen Ausgleich bzw. die Milderung wirtschaftlicher Nachteile einer bevorstehenden Betriebsänderung. Das entspricht § 112 Abs. 1 BetrVG. Häufig werden in einen Rahmensozialplan allerdings auch solche Personalmaßnahmen während seiner Laufzeit einbezogen, die nicht notwendigerweise Bestandteil einer Betriebsänderung sind. Auf diese Weise will man vermeiden, dass bei einzelnen Personalmaßnahmen gestritten wird, ob sie noch in den Geltungsbereich eines Sozialplans fallen, der an sich nur für eine konkrete Betriebsänderung abgeschlossen wird.
291
Betriebsänderung und Betriebsübergang
Wie das BAG in seinem Beschluss vom 22.3.20168 deutlich gemacht hat, handelt es sich auch beim Rahmensozialplan allerdings (nur) um eine freiwillige Betriebsvereinbarung, die von keiner der beiden Betriebsparteien erzwungen werden kann. Dies hat einen Vorteil: Der Arbeitgeber kann die Vereinbarung davon abhängig machen, dass sie mit dem Gesamt- oder Konzernbetriebsrat abgeschlossen wird. Der Nachteil liegt auf der Hand: Der für den eigentlichen Sozialplan in Bezug auf die konkrete Betriebsänderung später jeweils zuständige Betriebsrat kann eigenständige Verhandlungen über einen Sozialplan führen, ohne – jedenfalls aus juristischer Sicht – an das Verhandlungsergebnis, wie es im Rahmensozialplan erkennbar wird, gebunden zu sein. Der Rahmensozialplan dürfte für seine Forderungen aber die untere Messlatte sein. Faktisch geht es also nur noch um eine Verbesserung der Zusagen, die im Rahmensozialplan bereits enthalten sind. Wenn diese Wirkungsweise verhindert werden soll, kann der Rahmensozialplan auch als Mustersozialplan abgeschlossen werden, der selbst noch gar keine Ansprüche begründen soll. Denkbar ist auch, seine Anwendbarkeit an die Bedingung zu knüpfen, dass die jeweils zuständigen Parteien eine Einigung über einen Interessenausgleich erzielen. Dann kommt auch für den Betriebsrat eine Durchsetzung des Sozialplans nur in Betracht, wenn er sich mit dem Arbeitgeber über das Ob, Was, Wann, Wie und Wer einer Betriebsänderung einigt und dies in einem Interessenausgleich niederlegt.
d)
Qualifizierung statt Personalabbau
Einer der wesentlichen Aspekte im Zusammenhang mit der Digitalisierung ist mit der Frage verbunden, ob und unter welchen Voraussetzungen die vorhandene Belegschaft auf den künftigen Arbeitsplätzen beschäftigt werden kann. Folgerichtig werden die Verhandlungen über Interessenausgleich und (Tarif-)Sozialplan deshalb auch mit Gesprächen der Betriebs- und Tarifvertragsparteien über Kollektivvereinbarungen verbunden, in denen die Qualifizierung (Re-Skilling/Up-Skilling) der Belegschaft geregelt wird. Dazu gehört die Forderung, einen Teil des für Personalmaßnahmen eingeplanten Budgets für die Investition in die Qualifikation von Bestandsmitarbeitern aufzuwenden. Ausgangspunkt dieser Gespräche auf Betriebsebene müssen nicht erst §§ 111, 112 BetrVG sein. Dagegen spricht bereits, dass Maßnahmen der Qualifizierung im Interessenausgleich nicht erzwingbar sind.
8
BAG v. 22.3.2016 – 1 ABR 12/14, NZA 2016, 984.
292
Digitalisierung als Betriebsänderung
Schon § 97 Abs. 2 BetrVG gibt dem Betriebsrat ein umfassendes Mitbestimmungsrecht bei Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung, wenn der Arbeitgeber Maßnahmen geplant oder durchgeführt hat, die dazu führen, dass sich die Tätigkeit der betroffenen Arbeitnehmer ändert und ihre beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr ausreichen. Kommt eine Einigung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Umstritten ist gleichwohl, ob der Betriebsrat die Durchführung von Qualifikationsmaßnahmen als Sozialplanleistung durchsetzen kann. Gegen eine solche Erzwingbarkeit eines Qualifikationssozialplans spricht allerdings bereits, dass die Qualifizierung als Mittel der Nachteilsvermeidung dem Interessenausgleich zuzuordnen ist. Denn schlussendlich geht es um das Ob und das Wer. Der Sozialplan hingegen regelt nur einen Ausgleich bzw. die Milderung wirtschaftlicher Nachteile. Er darf nur auf der wirtschaftlichen Ebene in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingreifen. Darauf hatte das BAG bereits im Beschluss vom 17.9.19919 hingewiesen. Für die Durchsetzbarkeit spricht hingegen nicht nur die Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion des Sozialplans. Auch sieht § 112 Abs. 5 Nr. 2 a BetrVG ausdrücklich vor, dass bei einer Entscheidung der Einigungsstelle etwaige Förderungsmöglichkeiten nach dem SGB III zu berücksichtigen sind. Das unterstellt, dass ein Teil der Ausgleichsmaßnahmen ebenfalls im Zusammenhang mit Qualifikationsmaßnahmen gewährt wird. Am Ende kann die Entscheidung aber offenbleiben. Denn der Betriebsrat kann die Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan nach §§ 111, 112 BetrVG auch mit parallelen Verhandlungen über Weiterbildungsmaßnahmen nach § 87 Abs. 2 BetrVG verbinden. Das Gleiche gilt für etwaige Einigungsstellen. Dann dürfte es für beide Parteien ausgeschlossen sein, Zugeständnisse der anderen Seite in Bezug auf die eine Angelegenheit ohne eigene Zugeständnisse in einer anderen Angelegenheit zu erwarten, und zugleich strikt zwischen Interessenausgleich, Sozialplan und Weiterbildung zu unterscheiden. Vielmehr werden die Angelegenheiten automatisch verknüpft. Diese Verhandlungsweise entspricht der allgemeinen Verknüpfung von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen, obwohl das Gesetz auch hier an sich von verschiedenen Angelegenheiten, ggf. sogar unterschiedlichen Zuständigkeiten auf Betriebsratsseite, ausgeht. (Ga)
9
BAG v. 17.9.1991 – 1 ABR 23/91, NZA 1992, 227 Rz. 19 ff.
293
Betriebsänderung und Betriebsübergang
2.
Höchstbegrenzungsklausel: Keine Einbeziehung eines Schwerbehindertenzuschlags
Bereits im Frühjahr des vergangenen Jahres hatten wir auf die Entscheidung des BAG vom 7.12.202110 verwiesen11. Darin hatte sich das BAG intensiv mit den Auswirkungen einer Höchstbetragsregelung im Sozialplan auf eine Klageverzichtsprämie befasst, die wegen der fehlenden Erhebung einer Kündigungsschutzklage auf der Grundlage einer gesonderten Betriebsvereinbarung gezahlt werden sollte. Hier sollte die Höchstbetragsklausel keine Anwendung finden. An diese Ausführungen hat das BAG im Urteil vom 11.10.202212 angeknüpft. Nach den aktuellen Feststellungen rechtfertigt die Höchstbetragsklausel auch keine Einschränkung in Bezug auf eine zusätzliche Abfindung, die schwerbehinderte Arbeitnehmer bei einer Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses erhalten sollen.
Zulässigkeit einer Klageverzichtsprämie
a)
Der Sozialplan dient dem Ausgleich bzw. der Milderung wirtschaftlicher Nachteile, die den Arbeitnehmern infolge der geplanten Betriebsänderung entstehen (§ 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Hiervon ausgehend dürfen die Betriebsparteien Sozialplanansprüche nicht vom Verzicht auf die Erhebung einer Kündigungsschutzklage abhängig machen. Diese Bedingung stünde im Widerspruch zu der gesetzlichen Zweckvorgabe. Wie das BAG im Urteil vom 7.12.202113 deutlich gemacht hat, steht es den Betriebsparteien jedoch frei, neben einem Sozialplan eine (freiwillige) kollektivrechtliche Regelung zu treffen, die im Interesse des Arbeitgebers an alsbaldiger Planungssicherheit die Gewährung finanzieller Leistungen für den Fall vorsieht, dass ein infolge der Betriebsänderung entlassener Arbeitnehmer nicht gerichtlich gegen seine Kündigung vorgeht. Wie bereits in § 1 a KSchG erkennbar wird, ist ein solcher Anreiz zum Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage legitim. Sie begünstigt in einer sachlich gerechtfertigten Weise Arbeitnehmer, die dem Arbeitgeber Planungssicherheit verschaffen und durch die Form (Aufhebungsvertrag) und/oder die Umstände der Vertragsbeendi-
10 11 12 13
BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281. B. Gaul, AktuellAR 2022, 293 ff. BAG v. 11.10.2022 – 1 AZR 129/21, NZA 2023, 233 Rz. 16 ff. BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 20.
294
Höchstbegrenzungsklausel: Keine Einbeziehung eines Schwerbehindertenzuschlags
gung (Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage) die Kosten und Risiken entsprechender Gerichtsverfahren vermeiden14. Zwar darf durch eine solche Betriebsvereinbarung über eine Klageverzichtsprämie nicht das Verbot umgangen werden, Sozialplanabfindungen von einem entsprechenden Verzicht abhängig zu machen. Entgegen seiner früheren Rechtsprechung geht das BAG indes nicht (mehr) davon aus, dass eine solche Umgehung bereits dann vorliegt, wenn das dem Sozialplan „an sich“ zur Verfügung stehende Finanzvolumen zum Teil zur Finanzierung eines Verzichts auf etwaige Kündigungsschutzklagen verwendet wird15. Vielmehr hat das BAG bereits im Urteil vom 7.12.202116 deutlich gemacht, dass die Betriebsparteien über einen Gestaltungsspielraum bei der Entscheidung verfügen, ob, in welchem Umfang und wie sie die von ihnen prognostizierten wirtschaftlichen Nachteile der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer ausgleichen oder abmildern wollen. Hierbei hätten sie einen weiten Ermessensspielraum, der der Annahme entgegenstünde, es gäbe ein „an sich“ für den Sozialplan zur Verfügung stehendes finanzielles Volumen, welches „funktionswidrig“ eingesetzt werden könnte. Von einer Umgehung der Zweckbestimmung aus § 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG könne daher nur dann ausgegangen werden, wenn der Sozialplan seine Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion nicht einmal „ansatzweise“ erfülle.
b)
Zulässigkeit einer Höchstbetragsklausel
Grundsätzlich rechtfertigt der Gestaltungsspielraum der Sozialpartner auch die Vereinbarung einer Höchstbetragsklausel im Sozialplan. Dass auf diese Weise mittelbar ältere Arbeitnehmer stärker benachteiligt werden, weil sie wegen ihres Alters und der längeren Betriebszugehörigkeit regelmäßig eine höhere Abfindung erhalten, sei auch unter Berücksichtigung von §§ 75 Abs. 1 BetrVG, 3 Abs. 2 AGG gerechtfertigt. In den Entscheidungen des BAG vom 7.5.202117 und vom 11.10.202218 hatten die Parteien vereinbart, dass der sich insgesamt aus dem Sozialplan ergebende Abfindungsbetrag auf einen Höchstbetrag von 75.000 EUR pro Arbeitnehmer begrenzen werde.
14 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 21; BAG v. 9.12.2014 – 1 AZR 146/13, NZA 2015, 438 Rz. 41. 15 Nur noch BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 Rz. 2. 16 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 27. 17 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 3. 18 BAG v. 11.10.2022 – 1 AZR 129/21, NZA 2023, 233 Rz. 3.
295
Betriebsänderung und Betriebsübergang
Nach Auffassung des BAG bewirke eine solche Regelung zwar, dass ältere Arbeitnehmer hiervon stärker betroffen seien und dadurch einen Nachteil erführen. Die mittelbare Benachteiligung sei allerdings durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zu dessen Erreichung auch erforderlich und angemessen. Wichtig daran sei, dass zur Rechtfertigung kein „legitimes“ Ziel i. S. d. § 10 S. 1 AGG – insbesondere aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung – vorliegen müsse. Es genüge, wenn ein objektives Ziel vorhanden sei, das selbst nichts mit einer Diskriminierung zu tun habe und auch ansonsten legal sei. Davon geht das BAG aus. Denn mit der Festlegung einer maximal zu zahlenden Abfindung soll ersichtlich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die für den Sozialplan zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel limitiert seien. Da die Abfindung für ältere Arbeitnehmer typischerweise besonders hoch ausfalle, bezwecke die Regelung die Sicherstellung von Verteilungsgerechtigkeit. Vor dem Hintergrund begrenzter Sozialplanmittel solle möglichst allen vom Arbeitsplatzverlust betroffenen Arbeitnehmern eine verteilungsgerechte Überbrückungshilfe gewährt werden19. Darin läge sogar ein legitimes Ziel i. S. d. § 10 S. 1 AGG20. Da die Höchstbetragsregelung darüber hinaus geeignet, erforderlich und auch mit Blick auf den Betrag i. H. v. 75.000 EUR angemessen sei, läge darin eine Regelung, mit der die Betriebsparteien wirksam die Höhe eines etwaigen Ausgleichs bzw. der Milderung wirtschaftlicher Nachteile einer Betriebsänderung festgelegt hätten21.
c)
Keine Einbeziehung der Klageverzichtsprämie in die Höchstbetragsklausel
Nach den Feststellungen des BAG verstößt es allerdings gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 75 Abs. 1 BetrVG, wenn die Klageverzichtsprämie bei der Berechnung des Höchstbetrags der Sozialplanleistungen Berücksichtigung findet. Denn eine Beachtung der Klageverzichtsprämie würde – so das BAG – zu einer nicht gerechtfertigten Differenzierung verschiedener Arbeitnehmergruppen führen. Arbeitnehmer, deren Sozialplanabfindung bereits ohne oder jedenfalls unter Hinzurechnung der Klageverzichtsprämie den Höchstbetrag überstiege, erhielten für einen Klageverzicht keine oder nur eine geringere finanzielle Leistung, als diejeni19 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 45 f. 20 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 47; BAG v. 7.5.2019 – 1 ABR 54/17, NZA 2019, 1295 Rz. 36. 21 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 48 ff.
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Höchstbegrenzungsklausel: Keine Einbeziehung eines Schwerbehindertenzuschlags
gen Arbeitnehmer, deren Sozialplanabfindung niedriger sei. Diese Ungleichbehandlung wäre – gemessen am Zweck der Klageverzichtsprämie – sachlich nicht gerechtfertigt. Denn der Arbeitgeber würde in allen Fällen, in denen sich die gekündigten Arbeitnehmer nicht gerichtlich gegen die Kündigung zur Wehr setzen, die mit der Prämienregelung beabsichtigte Planungssicherheit erlangen und den mit der Durchführung eines Kündigungsschutzverfahrens einhergehenden finanziellen und logistischen Aufwand sowie das damit verbundene Prozessrisiko vermeiden. Der Umstand, dass den betreffenden Arbeitnehmern nach dem Sozialplan eine unterschiedlich hohe Abfindung als Ausgleich oder Milderung für den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu zahlen sei, rechtfertige aber – bezogen auf den Zweck der Klageverzichtsprämie – keine unterschiedliche Behandlung22.
d)
Keine Einbeziehung eines Zuschlags wegen Schwerbehinderung in die Höchstbetragsklausel
In seinem jetzt vorliegenden Urteil vom 11.10.202223 erkennt das BAG zwar zunächst einmal an, dass die Betriebsparteien bei der Ausgestaltung von Sozialplänen über einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum verfügten, der Typisierungen und Pauschalierungen einschließe. Hierbei müssten sie aber den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 75 Abs. 1 BetrVG beachten. Dieser ziele darauf ab, eine Gleichstellung von Personen in vergleichbarer Lage sicherzustellen und eine gleichheitswidrige Gruppenbildung auszuschließen. Da maßgeblicher Sachgrund für eine Gruppenbildung regelmäßig der mit der jeweiligen Regelung verfolgte Zweck sei, müssten sich Gruppenbildungen in Sozialplänen an der zukunftsbezogenen Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion orientieren. Insofern sei bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz bereits dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt werde, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestünden, dass diese die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten24. Hiervon ausgehend sei es zwar grundsätzlich zulässig, schwerbehinderten Arbeitnehmern, die von einer Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses betroffen seien, eine zusätzliche Abfindung bzw. einen Zuschlag zur Abfindung zu 22 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 22, 24. 23 BAG v. 11.10.2022 – 1 AZR 129/21, NZA 2023, 233 Rz. 16. 24 BAG v. 11.10.2022 – 1 AZR 129/21, NZA 2023, 233 Rz. 16; BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281 Rz. 23, 52.
297
Betriebsänderung und Betriebsübergang
zahlen. Denn schwerbehinderte Arbeitnehmer hätten im Allgemeinen größere Schwierigkeiten, sich nach dem Verlust des Arbeitsplatzes wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern25. Dies komme auch in den gesetzlichen Regelungen zur Teilhabe und Förderung schwerbehinderter Menschen im SGB IX zum Ausdruck. Auch in tatsächlicher Hinsicht sei die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit bei schwerbehinderten Menschen erkennbar höher als bei nicht schwerbehinderten Menschen. Außerdem seien schwerbehinderte Menschen wegen ihrer spezifischen Bedürfnisse dem Risiko ausgesetzt, zum Schutz, den der Zustand erfordere, oder auch wegen der Möglichkeit seiner Verschlechterung unabweisbar finanzielle Aufwendungen tätigen zu müssen26. Mit dieser Zweckbestimmung sei es nicht vereinbar, wenn Leistungen zum Ausgleich besonderer Nachteile wegen einer Schwerbehinderung in die übergreifende Berechnung einer Höchstbetragsklausel einbezogen würden. Denn dies hätte – so das BAG – zur Folge, dass gerade diejenigen schwerbehinderten Arbeitnehmer keinen spezifischen Ausgleich für die durch ihre besondere Situation bedingten wirtschaftlichen Nachteile infolge ihres Arbeitsplatzverlustes erhielten, bei denen diese – von den Betriebsparteien grundsätzlich als ausgleichsbedürftig angesehenen – Nachteile in besonderem Maße eintreten könnten. Dies gelte gerade dann, wenn die hiervon betroffenen Arbeitnehmer als Folge ihres Alters und der längeren Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit eine höhere Abfindung erhielten. Schließlich erhöhten sich – so das BAG – in der Regel mit zunehmendem Alter auch die unabweisbaren finanziellen Aufwendungen, denen schwerbehinderte Personen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung ausgesetzt seien27.
e)
Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Der Verstoß gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz hat – nach den Feststellungen des BAG – (nur) zur Folge, dass die entsprechende Regelung des Sozialplans unwirksam ist, soweit sie die Klageverzichtsprämie bzw. den zusätzlichen Abfindungsbetrag wegen einer Schwerbehinderung einbezieht. Entsprechendes wird man im Zweifel dann annehmen müssen, wenn bei der Berechnung des Höchstbetrags auch etwaige
25 Vgl. EuGH v. 6.12.2012 – C-152/11, NZA 2012, 1435 Rz. 69 – Odar. 26 BAG v. 11.10.2022 – 1 AZR 129/21, NZA 2023, 233 Rz. 22; BAG v. 28.7.2020 – 1 AZR 590/18, BB 2021, 61 Rz. 27. 27 BAG v. 11.10.2022 – 1 AZR 129/21, NZA 2023, 233 Rz. 24 f.; BAG v. 28.7.2020 – 1 AZR 590/18, BB 2021, 61 Rz. 27.
298
Schranken der Restrukturierung durch die Strom- und Gaspreisbremse
Zuschläge wegen einer Unterhaltspflicht gegenüber Familienangehörigen aufgenommen werden. Hier dürfte Art. 6 Abs. 1 GG einer Einbeziehung entgegenstehen. Eine weitergehende Nichtigkeit der im Sozialplan enthaltenen Regelungen gebiete – so das BAG – § 75 Abs. 1 BetrVG nicht. Dem Gleichbehandlungsgebot sei bereits Genüge getan, wenn der Zusatzbetrag für schwerbehinderte Arbeitnehmer von der Kappungsgrenze ausgenommen werde. (Ga)
3.
Schranken der Restrukturierung durch die Stromund Gaspreisbremse
Mit dem Gesetz zur Einführung einer Strompreisbremse (Strompreisbremsegesetz – StromPBG), das am 24.12.202228 in Kraft getreten ist, und dem Gesetz zur Einführung von Preisbremsen für leitungsgebundenes Erdgas und Wärme (Erdgas-Wärme-Preisbremsengesetz – EWPBG), das ebenfalls am 24.12.202229 in Kraft getreten ist, sind für die hiervon begünstigten Letztverbraucher und Kunden auch arbeitsrechtlich relevante Einschränkungen in Bezug auf Restrukturierungsmaßnahmen verbunden. Auch wenn der Bundestag auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie30 am 31.3.2023 beschlossen hat, die Termine für die Berichtspflichten anzupassen, ist sicherzustellen, dass die insoweit für die Personalmaßnahmen im Unternehmen Verantwortlichen die hierfür erforderlichen Verbrauchsdaten in Bezug auf den Energieverbrauch kennen. Die entsprechenden Vorgaben gehen mit Regelungen zu Einschränkungen in Bezug auf die Vergütung von Organmitgliedern solcher Unternehmen einher, die bei der Inanspruchnahme von Leistungen im Zusammenhang mit der Strom- oder Gaspreisbremse bestimmte Schwellenwerte erreichen31.
a)
Arbeitsplatzerhaltungspflicht
Mit §§ 37 StromPBG, 29 EWPBG hat der Gesetzgeber eine Arbeitsplatzerhaltungspflicht für Letztverbraucher oder Kunden, die Unternehmen sind und Arbeitnehmer beschäftigen, eingeführt, sofern sie nach den jeweiligen Vorgaben der beiden Gesetze über die Preisbremsen im Energiebereich insgesamt Entlastungen von über 2 Mio. EUR beziehen. Denn ein Bezug solcher Entlas-
28 29 30 31
BGBl. I 2022, 2512. BGBl. I 2022, 2560. BT-Drucks. 20/6216 (vorangehend BT-Drucks. 20/5994). Hierzu vgl. auch Grimm, ArbRB 2023, S1; Kleinebrink, DB 2023, 516; Norda, BB 2023, 756.
299
Betriebsänderung und Betriebsübergang
tungen ist nach den gesetzlichen Regelungen grundsätzlich an die Voraussetzung geknüpft, dass durch Firmentarifvertrag oder (regelmäßig firmenbezogenen) Verbandstarifvertrag oder (freiwillige) Betriebsvereinbarung eine Regelung zur Beschäftigungssicherung getroffen wird, die mindestens bis zum 30.4.2025 dauert. Da § 77 Abs. 3 BetrVG nicht eingeschränkt wurde, ist bei Abschluss einer kollektivrechtlichen Beschäftigungssicherungsvereinbarung allerdings der Vorrang des Tarifvertrags zu beachten. Eine entsprechende Beschäftigungssicherungsvereinbarung kann nach der gesetzlichen Vorgabe ersetzt werden durch 1.
eine schriftliche Erklärung des Letztverbrauchers bzw. Kunden mit vorliegenden Stellungnahmen von Verhandlungsbeteiligten über die Gründe des Nichtzustandekommens einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrags und
2.
durch eine Erklärung des Letztverbrauchers, wonach er sich selbst verpflichtet, mindestens bis zum 30.4.2025 eine Belegschaft zu erhalten, die mindestens 90 % der am 1.1.2023 vorhandenen Arbeitsplatz-Vollzeitäquivalente entspricht.
Nur die einseitige Regelung zur Arbeitsplatzerhaltungspflicht ist also an eine prozentuale Arbeitsplatzquote geknüpft. Unklar ist, ob zusätzlich der Versuch von Verhandlungen dokumentiert werden muss. Dafür spricht zwar, dass das Gesetz von „Verhandlungsbeteiligten“ spricht, dagegen allerdings, dass kein gesetzlicher Druck zu Verhandlungen geschaffen werden soll32. In jedem Fall besteht allerdings keine Pflicht zu einer bestimmten Verhandlungsdauer. Auch ist – abweichend von §§ 112, 113 BetrVG – kein qualifiziertes Scheitern der Verhandlungen erforderlich. Bei dem Inhalt des Nachweises der Verhandlungen sollte man sich allerdings im Zweifel an der Erklärung des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG ausrichten, mit der die Beratungen über die Massenentlassung nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG beschrieben werden. Stellungnahmen des Betriebsrats oder der Gewerkschaft sind dabei zwar hilfreich, aber nicht notwendig33. Wenn eine Arbeitsplatzerhaltungspflicht durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung getroffen wird, sind in den Gesetzen keine inhaltlichen Vorgaben vorgesehen, wenn jedenfalls die Laufzeit bis zum 30.4.2025 bestimmt wird. Damit ist es nicht nur zulässig, auch einen niedrigeren Prozentsatz der Arbeitsplatz-Vollzeitäquivalente festzulegen, der an bestimmten Schichttagen während der Laufzeit oder zum Ende der Laufzeit dieser Kollektivverein32 Vgl. BT-Drucks. 20/4685 S. 111; BT-Drucks. 20/4683 S. 92. 33 Grimm, ArbRB 2023, S1; Kleinebrink, DB 2023, 516, 517.
300
Schranken der Restrukturierung durch die Strom- und Gaspreisbremse
barung im Unternehmen bestehen muss. Alternativ könnte vereinbart werden, dass einzelne Betriebe oder Betriebsteile von der Arbeitsplatzerhaltungspflicht ausgegrenzt werden und/oder dem Arbeitgeber gestattet wird, eine Verminderung der Arbeitsplätze auf einen oder mehrere Standorte zu konzentrieren, wenn damit der übergreifende Prozentsatz nicht unterschritten wird. Denkbar ist auch, dass die Beschäftigungssicherung dadurch bewirkt wird, dass Kündigungen von einer Zustimmung des Betriebsrats oder der Gewerkschaft abhängig gemacht werden, dass nur eine bestimmte Anzahl von Kündigungen erlaubt wird oder dass nur freiwillige Beendigungsformen (z. B. Aufhebungsvertrag, Befristung, Altersteilzeit, Altersgrenze) zugelassen werden. Ebenso zulässig ist es, bestimmte Formen oder Gründe einer Kündigung auszugrenzen (z. B. personen- und verhaltensbedingte Kündigung, außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund, Änderungskündigung). Weitergehend ist es zulässig und zugleich wichtig, die Beendigung von Arbeitsverhältnissen, die aufgrund einer Kündigung oder eines Aufhebungsvertrags vor Abschluss der Kollektivvereinbarung bewirkt wird, auszugrenzen. Die Unterschiede in der qualitativen Bewertung der verschiedenen Formen einer Gewährleistung der Arbeitsplatzerhaltung werden auch in §§ 37 Abs. 4 StromPBG, 29 Abs. 4 EWPBG erkennbar. Denn die Kollektivvereinbarung begründet jedenfalls für den jeweiligen Vertragspartner einen Durchführungsanspruch. Die Kollektivvereinbarung kann, je nach Inhalt der Zusage, auch einer Kündigung entgegenstehen oder die Wirksamkeit der Kündigung an zusätzliche Voraussetzungen knüpfen (z. B. Zustimmung des Betriebsrats). Denkbar ist ebenfalls, dass ein Verstoß mit wirtschaftlichen Ausgleichsansprüchen der betroffenen Arbeitnehmer (z. B. Abfindungsanspruch) verbunden wird. Hier besteht ein weitreichender Gestaltungsspielraum34. Eine Missachtung wird allerdings durch die Prüfbehörden nicht sanktioniert. Auch die einseitige Zusage kann als Gesamtzusage zwar einer Kündigung entgegenstehen. Das hängt indes vom Inhalt der Zusage ab. Wird nur ein bestimmter Prozentsatz der Beschäftigung versprochen, wie es der Gesetzgeber selbst verlangt, kann ein einzelner Arbeitnehmer daraus keine Unwirksamkeit einer ihm gegenüber erklärten Kündigung ableiten. Die Sanktion einer Missachtung der einseitigen Zusage erfolgt allerdings im Verhältnis zwischen Unternehmen und Staat. Denn die Prüfbehörde soll nach pflichtgemäßem Ermessen die gewährte Entlastung, die 2 Mio. EUR übersteigt, ganz oder teilweise zurückfordern, wenn der Letztverbraucher oder Kunde die Verpflichtung, die durch eine einseitige Erklärung zur Arbeitsplatzerhaltung nach §§ 37 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StromPBG, 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 EWPBG begründet wurde, nicht 34 Vgl. Kleinebrink, DB 2023, 516, 523 f.
301
Betriebsänderung und Betriebsübergang
erfüllt. Im Zweifel dürfte das bereits dann der Fall sein, wenn innerhalb der Laufzeit bis zum 30.4.2025 die notwendige Zahl der Beschäftigten vorübergehend unterschritten wird. Schließlich fehlt eine Bezugnahme auf die „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer. Bei entsprechenden Entscheidungen der Prüfbehörde sollen nach Maßgabe der derzeitigen Regelungen insbesondere folgende Grundsätze beachtet werden:
302
1.
Die Höhe der Rückforderung der erhaltenen Forderung soll prozentual der Höhe der Unterschreitung der vereinbarten oder zugesicherten Zahl an zu erhaltenen Arbeitsplatz-Vollzeitäquivalenten entsprechen, mindestens aber 20 % betragen.
2.
Bei Maßnahmen nach dem UmwG oder Übergängen von Betrieben oder Betriebsteilen nach § 613 a BGB berücksichtigt die Prüfbehörde, in welchem Umfang die zum 1.1.2023 vorhandenen Arbeitsplatz-Vollzeitäquivalente bis zum 30.4.2025 beim Rechtsnachfolger erhalten geblieben sind.
3.
Eine Unterschreitung der vereinbarten oder zugesicherten Zahl an zu erhaltenen Arbeitsplatz-Vollzeitäquivalenten um bis zu 50 % kann durch Investitionen i. H. v. mindestens 50 % des nach dem StromPBG, dem EWPBG oder dem Energiekostendämpfungsprogramm erhaltenen Förderbetrags ausgeglichen werden. Die Höhe der Investition soll zu einem Anstieg der Investitionsquote des Letztverbrauchers um mindestens 20 % im Zeitraum der Jahre 2023 bis 2026 gegenüber dem Zeitraum der Jahre 2019 bis 2021 beitragen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Investition eine der Anforderungen nach Rz. 33 des „Befristeten Krisenrahmens für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge der Aggression Russlands gegen die Ukraine“ der EU-Kommission vom 28.10.2022 erfüllt oder einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung der in Art. 9 Verordnung 2020/852/EU über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen (Taxonomieverordnung – TaxVO) genannten Ziele leistet. Hierzu gehören insbesondere Investitionen in erneuerbare Energien, Energieeffizienzen, eine Verringerung des Erdgasverbrauchs, der Klimaschutz, Anpassungen an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung und der Schutz von Wasser und Meeresressourcen, der Übergang zur Kreislaufwirtschaft, die Vermeidung bzw. Verminderung von Umweltverschmutzung oder der Schutz bzw. die Wiederherstellung von Biodiversität und Ökosystemen.
Schranken der Restrukturierung durch die Strom- und Gaspreisbremse
Soweit §§ 37 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 StromPBG, 29 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 EWPBG durch das Gesetz zur Änderung dieser beiden Gesetze und weiterer Gesetze, dessen Referentenentwurf im Bundeskabinett am 5.4.2023 beschlossen wurde, noch einmal angepasst werden, sind damit nach derzeitiger Planung aber keine inhaltlichen Veränderungen verbunden. Es wird lediglich klargestellt, dass bei der Verzinsung kein Verzicht möglich ist. Bei der Entscheidung der Prüfbehörde ist die wirtschaftliche Situation des Letztverbrauchers und seines Wirtschaftszweigs zu beachten. In der Regel fordert die Prüfbehörde den Entlastungsbetrag nicht zurück, wenn der Letztverbraucher erhebliche Investitionen nach §§ 37 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 StromPBG, 29 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 EWPBG eingegangen ist. Umgekehrt sollen Behörden die Entlastung ganz zurückfordern, wenn der Letztverbraucher bis zum 30.4.2025 den Geschäftsbetrieb vollständig einstellt oder ins Ausland verlagert. Wichtig ist, dass die von der Arbeitsplatzerhaltungspflicht betroffenen Unternehmen der Prüfbehörde zum Nachweis der Einhaltung ihrer Verpflichtungen bis zum 31.7.2023 (ursprünglich: 15.7.2023) die Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen nach §§ 37 Abs. 1 S. 1 StromPBG, 29 Abs. 1 S. 1 EWPBG oder die Erklärungen nach §§ 37 Abs. 1 S. 2 StromPBG, 29 Abs. 1 S. 2 EWPBG vorlegen müssen. Dabei sollten auch etwaige Kollektivvereinbarungen vorsorglich bereits zum 1.1.2023 in Kraft gesetzt werden, was allerdings einer Beendigung von Arbeitsverhältnissen im Anschluss an den 31.12.2022 nicht entgegensteht. Denn die Kollektivvereinbarung kann unabhängig von dem zeitlichen Geltungsbereich nicht nur solche Kündigungen oder Aufhebungsvereinbarungen aus dem sachlichen Geltungsbereich ausgrenzen, die noch vor ihrem Abschluss erklärt bzw. abgeschlossen worden sind. Weil sie kein absolutes Gebot einer Fortführung sämtlicher Arbeitsplätze beinhalten muss, können auch Entlassungen nach dem Inkrafttreten der Vereinbarung zugelassen werden. Es muss lediglich „eine Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung“ vorliegen, deren Inhalt individuell gestaltet werden kann. Die Einbeziehung der betrieblichen oder tariflichen Sozialpartner verschafft dem Ergebnis grundsätzlich eine ausreichende Richtigkeitsgewähr. Bei Kollektivvereinbarungen, die bereits vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Regelungen zur Strom- und Gaspreisbremse abgeschlossen wurden, könnten allerdings Zweifel in Bezug auf ihre Anerkennung bestehen. Hier empfiehlt sich klarzustellen, dass mit ihnen auch die Vorgaben aus §§ 37 StromPBG, 29 EWPBG erfüllt werden sollten35.
35 Kleinebrink, DB 2023, 516, 518 f.
303
Betriebsänderung und Betriebsübergang
Wird keine Kollektivvereinbarung abgeschlossen oder einseitige Erklärung ausgesprochen, ist eine Gesamtentlastung nach beiden Gesetzen auf 2 Mio. EUR begrenzt. Übersteigende Entlastungen müssen durch die Prüfbehörde zurückgefordert werden (§§ 37 Abs. 2 StromPBG, 29 Abs. 2 EWPBG). Ergänzend hierzu sehen §§ 37 Abs. 3 StromPBG, 29 Abs. 3 EWPBG vor, dass Letztverbraucher oder Kunden im Rahmen eines Abschlussberichts der Prüfbehörde einen durch Prüfer testierten Nachweis vorlegen, der die Arbeitsplatzentwicklung darstellt. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll dies bis zum 31.12.2025 (ggf. auch bis 2026) erfolgen. Für den Fall eines Arbeitsplatzabbaus sind im Abschlussbericht die Gründe dafür darzulegen. Sollten Investitionen vorgenommen werden, die ein Abweichen von der Arbeitsplatzerhaltungspflicht rechtfertigen, sind auch diese, einschließlich eines Investitionsplans, im Abschlussbericht darzulegen.
b)
Boni- und Dividendenverbot
Ergänzend hierzu wird mit §§ 37 a StromPBG, 29 a EWPBG ein Boni- und Dividendenverbot eingeführt, das die Mitglieder der Geschäftsleitung eines Unternehmens sowie Mitglieder von gesellschaftsrechtlichen Aufsichtsorganen solcher Unternehmen trifft, die eine Entlastungssumme nach dem StromPBG und dem EWPBG i. H. v. mehr als 25 Mio. EUR beziehen. Wichtig ist allerdings, dass als Folge der geplanten Änderungen durch das Gesetz zur Änderung des EWPBG, des StromPBG und weiterer Gesetze, dessen Referentenentwurf die Bundesregierung am 5.4.2023 beschlossen hat, nicht nur eine unternehmensbezogene Betrachtungsweise erfolgt. Vielmehr sollen die Entlastungssummen verbundener Unternehmen durch §§ 37 a Abs. 8 StromPBG, 29 a Abs. 8 EWPBG mit der Folge zusammengerechnet werden, dass die Schranken für jedes der verbundenen Unternehmen zur Anwendung kommen. Führungskräfte, die unterhalb von Vorstand bzw. Geschäftsführung tätig sind, werden hiervon nicht erfasst. Denn rechtstechnisch ist der Begriff der Geschäftsleitung dem Organ (Vorstand/Geschäftsführung) vorbehalten, auch wenn in der betrieblichen Praxis häufig Führungskräfte außerhalb dieser Organe dem Kreis der Geschäftsleitung zugerechnet werden. Insoweit wird man aber bei der Auslegung und Anwendung von §§ 37 a StromPBG, 29 a EWPBG an die aktienrechtliche Differenzierung, wie sie beispielsweise in § 76 BetrVG durch die Unterscheidung zwischen den Regelungen in Bezug auf den Vorstand und die Führungsebenen unter denen des Vorstands zum Ausdruck kommt, anknüpfen müssen.
304
Schranken der Restrukturierung durch die Strom- und Gaspreisbremse
Ausgenommen von der Verpflichtung zum Boni- und Dividendenverbot sind Unternehmen, die eine geringere Entlastungssumme erhalten. Dies kann durch die betroffenen Unternehmen auch einseitig klargestellt werden. Berücksichtigt man bereits die geplanten Änderungen durch das im Bundeskabinett am 5.4.2023 beschlossene Gesetz zur Änderung des EWPBG, des StromPBG und weiterer Gesetze, so sehen §§ 37 a Abs. 6 StromPBG, 29 a Abs. 6 EWPBG vor, dass Unternehmen in Textform gegenüber der Prüfbehörde bis zum 31.7.2023 erklären können, dass sie eine Förderung nach dem StromPBG und dem EWPBG mit einer Entlastungssumme von über 25 Mio. EUR nicht in Anspruch nehmen werden und deshalb nicht den Regelungen zum Boni- und Dividendenverbot unterliegen. Welche Zahlungen bei der Feststellung der Entlastungssumme zu berücksichtigen sind, wird insoweit durch §§ 37 a Abs. 7 StromPBG, 29 a Abs. 7 EWPBG klargestellt. Sollten zu diesem Zeitpunkt bereits Entlastungsbeträge gewährt worden sein, müssen diese unverzüglich erstattet werden. Im Rahmen seines Anwendungsbereichs ist das Boni- und Dividendenverbot in zwei Stufen aufgeteilt. Bezieht ein Unternehmen in der ersten Stufe eine Entlastungssumme von mehr als 25 Mio. EUR, ohne dass die Entlastungssumme zugleich 50 Mio. EUR übersteigt, dürfen Mitgliedern der Geschäftsleitung und der Aufsichtsorgane vom 1.1.2023 bis zum Ablauf des 31.12.2023 für das Kalenderjahr 2023 weder Boni noch andere variable oder vergleichbare Vergütungsbestandteile oder über das Festgehalt hinausgehende Vergütungsbestandteile i. S. d. § 87 Abs. 1 S. 1 AktG gewährt werden, die jeweils nach dem 1.12.2022 vereinbart oder beschlossen worden sind. Hierzu gehören unter anderem Gewinnbeteiligungen, pauschale Aufwandsentschädigungen, Versicherungen, Provisionen oder Aktienbezugsrechte. Wichtig dabei ist, dass auch etwaige Konzernbezüge berücksichtigt werden müssen. Soweit eine variable Vergütung an ein Mitglied des Vorstands, der Geschäftsführung oder des Aufsichtsrats an das EBITDA (earnings before interest, tax, depreciation, and amortization – Bruttogewinn) des Unternehmens im Entlastungszeitraum geknüpft wird, ist die dem Unternehmen gezahlte Entlastungssumme bei der Ermittlung des EBITDA nicht anrechnungsfähig. Dies gilt auch dann, wenn entsprechende Vergütungszahlungen für spätere Jahre berechnet werden (§§ 37 a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StromPBG, 29 a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EWPBG). Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, die in den Gesetzen nicht ausdrücklich genannt werden, wird man bei den vorstehenden Einschränkungen nicht berücksichtigen müssen. Dies folgt im Umkehrschluss aus dem Fehlen einer § 87 Abs. 1 S. 4 AktG entsprechenden Regelung, die (erst) bewirkt, dass § 87 Abs. 1 S. 1 AktG auf diese Leistungen Anwendung findet. 305
Betriebsänderung und Betriebsübergang
Ergänzend hierzu bestimmen §§ 37 a Abs. 1 StromPBG, 29 a Abs. 1 EWPBG, dass auch Erhöhungen von bereits vereinbarten oder beschlossenen Vergütungen bei Organmitgliedern vom 1.1.2023 bis zum Ablauf des 31.12.2023 für das Kalenderjahr 2023 ausgeschlossen sind. Ebenso dürfen in der Zeit vom 1.12.2022 bis zum 31.12.2023 Mitgliedern des Vorstands, der Geschäftsführung oder des Aufsichtsrats keine freiwilligen Vergütungen oder Abfindungen gewährt werden, die rechtlich nicht geboten sind. Weiterhin als Bestandteil der ersten Stufe sehen §§ 37 a Abs. 3 StromPBG, 29 a Abs. 3 EWPBG ein Einfrieren der Grundvergütung für die Mitglieder der Geschäftsleitung für die Dauer des Entlastungszeitraums vor. Zulässig ist allein ein Inflationsausgleich, ohne dass die Gesetze allerdings festlegen, wie dieser zu berechnen ist und für welchen Zeitraum er gewährt werden darf. Ob eine weitere Ausnahme dann gemacht werden darf, wenn sich die Verantwortungsbereiche eines Mitglieds der Geschäftsführung erweitern, lassen die Gesetze nicht erkennen. Möglicherweise wird man hier über eine teleologische Reduktion nachdenken müssen. Bei Personen, die nach dem 1.12.2022 Mitglied der Geschäftsleitung werden, gilt als Obergrenze die Grundvergütung von Mitgliedern der Geschäftsleitung derselben Verantwortungsstufe drei Monate vor dem 1.12.2022. Die zweite Stufe greift, wenn ein Unternehmen eine Entlastungssumme von über 50 Mio. EUR bezieht. In diesem Fall dürfen Mitgliedern der Geschäftsleitung oder des Aufsichtsorgans vom 1.1.2023 bis zum 31.12.2023 für das Kalenderjahr 2023 überhaupt keine Boni, anderen variablen oder vergleichbaren Vergütungsbestandteile unter Einbeziehung von etwaigen Konzernbezügen oder über das Festgehalt hinausgehende Vergütungsbestandteile i. S. d. § 87 Abs. 1 S. 1 AktG gewährt werden. Es spielt keine Rolle, dass diese Leistungen bereits vor dem 1.12.2022 vereinbart wurden. Insofern müssen die Unternehmen bewirken, dass ihre Organmitglieder auf entsprechende Ansprüche verzichten. (Ga)
4.
Eingruppierung durch tariflosen Erwerber nach Betriebsübergang
Tarifvertragliche Rechte und Pflichten, die bis zu einem Übergang des Arbeitsverhältnisses im Wege eines Betriebsübergangs kraft Gesetzes Geltung für das Arbeitsverhältnis beanspruchen, gelten nach § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB grundsätzlich als kollektivrechtlicher Bestandteil des Arbeitsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Erwerber fort. Sie können für die Dauer eines Jahres, auch im Einverständnis mit dem Arbeitnehmer, auf individualvertraglicher Ebene nicht geändert werden. Änderungen sind nur durch einen neuen 306
Eingruppierung durch tariflosen Erwerber nach Betriebsübergang
Tarifvertrag (§ 613 a Abs. 1 S. 3 BGB), durch Bezugnahme auf den beim Erwerber an sich geltenden Tarifvertrag (§ 613 a Abs. 1 S. 4 BGB) oder – auf individualvertraglicher Ebene – dann möglich, wenn der Tarifvertrag innerhalb der Jahresfrist unabhängig von dem Betriebsübergang geendet hätte (§ 613 a Abs. 1 S. 4 BGB). Wenn der Erwerber selbst nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist, haben die vorstehenden Vorgaben zur Folge, dass die bis zum Übergang des Arbeitsverhältnisses geltenden Tarifverträge für die vom Übertragungsvorgang betroffenen Arbeitnehmer auch im Anschluss an den Übergang des Arbeitsverhältnisses – allerdings statisch – zur Anwendung kommen. Eine dynamische Bindung an die bis zum Übergang des Arbeitsverhältnisses geltenden Tarifverträge kommt nur dann in Betracht, wenn im Arbeitsvertrag zwischen dem bisherigen Betriebsinhaber und dem Arbeitnehmer eine entsprechende Bezugnahme auf diese Tarifverträge vereinbart wurde. Denn in diese Bezugnahme tritt der Erwerber gemäß § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB ein. Neueinstellungen, die durch den Erwerber vorgenommen werden, können auf diese frühere Tarifbindung des bisherigen Betriebsinhabers an sich nicht gestützt werden. § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB findet für solche Arbeitsverhältnisse keine Anwendung. Weil damit auch die allgemeinen Voraussetzungen einer gesetzlichen Tarifbindung aus §§ 3 ff. TVG nicht erfüllt sind, können an sich auch von dem bislang beim bisherigen Betriebsinhaber geltenden Tarifvertrag abweichende Arbeitsbedingungen vereinbart werden. Insbesondere findet das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG keine Anwendung, selbst wenn der neu eingestellte Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft ist. Wie das BAG allerdings bereits bei früherer Gelegenheit deutlich gemacht hat, setzte die damit verbundene Einführung einer neuen Vergütungsordnung eine Zustimmung des beim Erwerber bestehenden Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG voraus36. Hiervon ist auch das LAG Hamm in seinem Beschluss vom 6.9.202237 ausgegangen. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen hat, wenn eine Vergütungsordnung eingeführt oder eine bestehende Vergütungsordnung geändert wird. Dabei spiele es – so das LAG Hamm – keine Rolle, woraus sich die Geltung der Vergütungsordnung ergebe38. Sie könne sowohl in einem Tarifvertrag enthalten sein, auf 36 Vgl. BAG v. 23.1.2018 – 1 AZR 65/17, NZA 2018, 871 Rz. 43; BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 Rz. 21; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 Rz. 28. 37 LAG Hamm v. 6.9.2022 – 7 TaBV 13/22, NZA-RR 2023, 32 Rz. 64 ff. 38 LAG Hamm v. 6.9.2022 – 7 TaBV 13/22, NZA-RR 2023, 32 Rz. 64 ff.
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Betriebsänderung und Betriebsübergang
einer Betriebsvereinbarung beruhen, aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung zur Anwendung kommen oder vom Arbeitgeber einseitig geschaffen worden sein. Davon war auch das BAG in seinem Beschluss vom 11.9.201339 ausgegangen. Diese Vergütungsordnung geht durch den Übergang eines Betriebs auf einen anderen Rechtsträger nicht unter. In Fällen, in denen ursprünglich kraft Tarifgebundenheit des Arbeitgebers im Betrieb eine Vergütungsordnung verbindlich war, bleibt diese betriebsverfassungsrechtlich bis zu einer Neuregelung, auch nach Wegfall der Tarifbindung, das für den Betrieb maßgebliche (kollektive) Vergütungsschema. Denn das Ende der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers, sei es auch im Falle des Betriebsübergangs nach § 613 a Abs. 1 BGB, führe – so das LAG Hamm – nicht dazu, dass mit ihm außer der Bindung an die absoluten Tariflöhne zugleich die tarifliche Vergütungsordnung als das im Betrieb geltende kollektive, abstrakte Vergütungsschema ersatzlos entfiele40. Diese kollektivrechtliche Bindungswirkung einer früheren Vergütungsordnung muss der Erwerber bei der Einschätzung seiner Gestaltungsoptionen im Anschluss an den Betriebsübergang im Auge behalten. Denn die Vereinbarung einer niedrigeren Vergütung im Zusammenhang mit Neueinstellungen kommt hiervon ausgehend nur dann in Betracht, wenn (1) das Vergütungsschema selbst unverändert bleibt, aber seine Dotierung abgesenkt wird, oder (2) der Betriebsrat seine Zustimmung zur Änderung der Vergütungsordnung erteilt hat oder die fehlende Zustimmung durch einen Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde. Eine Absenkung der Vergütung unter Aufrechterhaltung der Versorgungsordnung ist folglich ohne Zustimmung des Betriebsrats nur dann zulässig, wenn sie prozentual innerhalb der einzelnen Bestandteile des Vergütungsschemas erfolgt. Denn dann bleibt das Schema selbst unberührt, nur die – mitbestimmungsfreie – Dotierung wird abgesenkt. In diesem Fall muss der Betriebsrat nicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG beteiligt werden. Ebenso wenig ist eine Beteiligung erforderlich, wenn der abweichenden Vergütungsvereinbarung ein individueller Sachverhalt zugrunde liegt. Vorbehaltlich neuerer Feststellungen des BAG im Zusammenhang mit einer Diskriminierung wegen des Geschlechts, die wir an anderer Stelle behandeln41, kann das beispielsweise bei einer höheren Vergütung der Fall sein, die im Rahmen des Bewerbungsverfahrens ausgehandelt wurde. Besteht die Vergütungsordnung fort, bleibt der Arbeitgeber allerdings verpflichtet, bei etwaigen Neueinstellungen und/oder Versetzungen eine Ein39 BAG v. 11.9.2013 – 7 ABR 29/12, NZA 2014, 388. 40 LAG Hamm v. 6.9.2022 – 7 TaBV 13/22, NZA-RR 2023, 32 Rz. 64 ff. 41 Boewer, AktuellAR 2023, 160 ff.
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Widerspruch beim „Kettenbetriebsübergang“
bzw. Umgruppierung vorzunehmen und den Betriebsrat nach § 99 BetrVG zu beteiligen. Wie das LAG Hamm in seinem Beschluss vom 6.9.202242 deutlich gemacht hat, bleibt der Tarifvertrag, der eigentlich nur beim bisherigen Betriebsinhaber gegolten hat, insofern auch auf der kollektivvertraglichen Ebene für den an sich tarifungebundenen Erwerber die weiterhin maßgebliche (betriebliche) Vergütungsordnung. Dabei werden auch Arbeitsverhältnisse ohne jede Form der Tarifbindung einbezogen. Wird dieses Beteiligungsrecht des Betriebsrats missachtet, kann dieser beantragen, dem Arbeitgeber in entsprechender Anwendung von § 101 BetrVG aufzugeben, eine Eingruppierungsentscheidung vorzunehmen und den Betriebsrat um Zustimmung zu ersuchen43. Auch wenn damit für neu eingestellte Arbeitnehmer kein Anspruch auf eine Vergütung nach Maßgabe des Tarifvertrags besteht, weil sie innerhalb dieser Vergütungsordnung prozentual ohne Zustimmung des Betriebsrats abgesenkt werden könnte, begrenzt der Tarifvertrag damit die Gestaltungsoptionen eines an sich tarifungebundenen Erwerbers. (Ga)
5.
Widerspruch beim „Kettenbetriebsübergang“
In seinem Urteil vom 15.12.202244 hat sich das BAG zunächst einmal nicht nur mit der Kennzeichnung eines Betriebsübergangs befasst. Dieser war in dem seiner Entscheidung zugrunde liegenden Fall umstritten, weil der ursprünglich vorgesehene Erwerber den Betrieb im Anschluss an den ursprünglich geplanten Übernahmezeitpunkt nicht selbst „betrieben“ hatte. Vielmehr hatte die P Immobilien – so ihr streitiger Vortrag – lediglich das Betriebsgrundstück erworben, auf dem sich das Einrichtungshaus befand. Nach ihrem Vortrag hatte dann die P Markt den Betrieb des Einrichtungshauses übernommen und in diesem Zusammenhang auch einen neuen Arbeitsvertrag mit dem Kläger abgeschlossen. Diesen Arbeitsvertrag hatte die P Markt bereits wenige Tage später gekündigt. Obwohl sich der Kläger sodann im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs mit der P Markt auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung verständigt hatte, widersprach er jedoch noch vor der im Vergleich vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses von der Beklagten auf die P Markt und forderte die Beklagte, die den Betrieb vor dem streitgegenständlichen Übertragungsvorgang geführt hat, auf, ihn zu beschäftigen.
42 LAG Hamm v. 6.9.2022 – 7 TaBV 13/22, NZA-RR 2023, 32 Rz. 56. 43 Vgl. BAG v. 11.9.2013 – 7 ABR 29/12, NZA 2014, 388 Rz. 17; LAG Hamm v. 6.9.2022 – 7 TaBV 13/22, NZA-RR 2023, 32 Rz. 56. 44 BAG v. 15.12.2022 – 2 AZR 99/22, NZA 2023, 352.
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Betriebsänderung und Betriebsübergang
Mit seiner Klage machte der Kläger nicht nur geltend, dass sein Arbeitsverhältnis als Folge des Widerspruchs mit der Beklagten fortbestanden habe. Vielmehr beantragte er auch, die Beklagte zu verurteilen, ihm aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs heraus eine Vergütung zu zahlen. In den Gründen seiner Entscheidung, mit der das BAG die weitgehend stattgebende Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg aufgehoben und zurückverwiesen hat, hat der 2. Senat des BAG noch einmal deutlich gemacht, dass das Vorliegen eines Betriebsübergangs auf der Grundlage einer Gesamtabwägung verschiedener Teilaspekte festgestellt werden müsse. Dabei schließe eine vorübergehende Unterbrechung der Betriebstätigkeit einen Betriebsübergang nicht aus, solange sie nicht zur Annahme einer Betriebsstilllegung führe45. Unabhängig davon könne ein Betriebsübergang auch in der Form erfolgen, dass die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer zunächst auf einen ersten Erwerber und dann auf einen zweiten oder weiteren Erwerber übergingen (sog. Kettenbetriebsübergang). In einer solchen Situation könne der Arbeitnehmer ein etwa noch bestehendes Recht, dem durch den vorangegangenen Betriebsübergang eingetretenen Übergang seines Arbeitsverhältnisses zu widersprechen, allerdings nur dann noch wirksam ausüben, wenn er erfolgreich dem mit dem weiteren Betriebsübergang verbundenen Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den neuen Inhaber i. S. d. § 613 a Abs. 6 S. 2 BGB widersprochen habe. Aus Sicht des BAG genügten die Feststellungen des LAG Berlin-Brandenburg nicht, um von einem Übergang des Arbeitsverhältnisses von der Beklagten auf die P Markt auszugehen. Da der Kläger durch sein an die Beklagte gerichtetes Schreiben aber nur einem solchen Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen hatte, wäre die Klage wohl abzuweisen, wenn das Arbeitsverhältnis von der Beklagten zunächst einmal auf die P Immobilien übergegangen war. Denn in diesem Fall hätte der Kläger zunächst einmal dem Übergang von der P Immobilien auf die P Markt widersprechen müssen, um sodann durch einen Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses von der Beklagten auf die P Immobilien einen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten auszulösen. In seinen diesbezüglichen Feststellungen hatte das LAG Berlin-Brandenburg zwar angenommen, dass es in Bezug auf das Einrichtungshaus nicht zu einer Stilllegung durch die Beklagte gekommen war, die einem Betriebsübergang hätte entgegenstehen können. Denn auch eine etwaige Unterbrechung der Betriebstätigkeit sei nur vorübergehender Natur gewesen. Daran anschließend
45 BAG v. 15.12.2022 – 2 AZR 99/22, NZA 2023, 352 Rz. 21.
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Widerspruch beim „Kettenbetriebsübergang“
hatte es sodann aber angenommen, dass die P Markt das Arbeitsverhältnis als Folge ihres Betriebs des Einrichtungshauses übernommen hätte. Ein Übergang auf die P Immobilien sei ausgeschlossen, weil diese das Einrichtungshaus nicht „tatsächlich betrieben“ habe. Aus Sicht des 2. Senats des BAG genügten diese Feststellungen nicht. Denn das LAG Berlin-Brandenburg habe bei seiner Prüfung unberücksichtigt gelassen, dass während einer nur vorübergehenden Unterbrechung der Betriebstätigkeit dem Kriterium der „tatsächlichen Führung“ des Betriebs für die Frage eines Betriebsübergangs nur nachrangige Bedeutung zukommen könne. Stattdessen hätte das LAG Berlin-Brandenburg eine Prüfung aller Gesamtumstände vornehmen müssen, um festzustellen, ob, wann und auf wen ein Betriebsübergang stattgefunden habe. Dabei sei es nicht ausgeschlossen, dass ein Betriebsübergang zunächst auf die P Immobilien – als Zwischenerwerberin – stattgefunden habe und es in der Folgezeit – während der Unterbrechung der Betriebstätigkeit – zu einem weiteren Betriebsübergang auf die P Markt gekommen sei. Zu dieser durch das LAG Berlin-Brandenburg nicht durchgeführten Prüfung habe auch Veranlassung bestanden, da sich die Beklagte ausdrücklich auf einen „Kettenbetriebsübergang“ zunächst auf die P Immobilien und dann auf die P Markt berufen habe. Wenn aber ein solcher Kettenbetriebsübergang stattgefunden habe, hätte das LAG Berlin-Brandenburg in den Blick nehmen müssen, dass der Kläger mit seinem Schreiben nur gegenüber der Beklagten – und nicht gegenüber der möglichen Zwischenerwerberin – dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die P Markt widersprochen habe. Der Entscheidung ist uneingeschränkt zuzustimmen. Sie macht noch einmal deutlich, dass das Vorliegen eines Betriebs- oder Betriebsteilübergangs von einer Vielzahl von Faktoren abhängig ist, wie an anderer Stelle deutlich gemacht wurde46. Kommen mehrere Rechtsträger als potenzielle Erwerber in Betracht, ist zunächst einmal zu klären, ob nur ein Betriebsübergang erfolgt ist oder ob mehrere Betriebsübergänge gegeben sind. Ist das Arbeitsverhältnis im Rahmen eines sog. Kettenbetriebsübergangs hintereinander auf unterschiedliche Rechtsträger übergegangen, ist die Reihenfolge dieser Übergänge festzustellen. Denn davon hängt die Reihenfolge des Widerspruchs ab. Besteht Unklarheit über die Reihenfolge, müssen etwaige Widersprüche aus Gründen der Vorsorge in unterschiedlicher Reihenfolge erklärt werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Widerspruch gegen den letzten Betriebsüber-
46 Gaul/B. Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung § 4 Rz. 4.14 ff.
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Betriebsänderung und Betriebsübergang
gang, dem sodann Widersprüche gegen die jeweils davor liegenden Übergänge des Arbeitsverhältnisses gemäß § 613 a BGB nachfolgen. (Ga)
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J.
Aktuelles aus Steuer- und Sozialversicherungsrecht
1.
Praktische Umsetzung der Regelungen zur Inflationsausgleichsprämie
Im Herbst hatten wir über die Inflationsausgleichsprämie und Pläne zu weiteren steuerlichen Erleichterungen gesprochen1. Das Gesetz zum Ausgleich der Inflation durch einen fairen Einkommensteuertarif sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen (Inflationsausgleichsgesetz – InflAusG), mit dem insbesondere der in den Einkommensteuertarif integrierte Grundfreibetrag angehoben wird und Effekte der kalten Progression durch eine Anpassung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs ausgeglichen werden, ist mit einem schrittweisen Inkrafttreten am 1.1.2022, 1.1.2023 und 1.1.2024 verbunden2. Die Regelungen zur Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit der Inflationsausgleichsprämie in §§ 3 Nr. 11 c EStG, 1 Abs. 1 Nr. 7 Ag II-V, die im Gesetz zur temporären Senkung des Umsatzsteuersatzes auf Gaslieferungen über das Erdgasnetz eingebunden waren, sind am 1.10.2022 in Kraft getreten3. Gerade weil die Inflationsausgleichsprämie noch bis zum 31.12.2024 gewährt werden kann, ist es wichtig, hier insbesondere die Leitlinien zu beachten, die das BMF in seinen FAQ am 7.12.2022 veröffentlicht hat4. (Ga)
2.
Anspruch auf Entschädigung bei Quarantäne nach § 56 Abs. 1 S. 1 IfSG
Nach § 56 Abs. 1 S. 1 IfSG besteht grundsätzlich ein Anspruch auf staatliche Entschädigung, wenn der Arbeitnehmer nach den Vorgaben des IfSG als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern i. S. v. § 31 S. 2 IfSG Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet. Dies gilt auch bei Absonderungen nach anderen Vorschriften sowie bei Personen, die sich bereits vor der Anordnung einer Absonderung nach § 30 IfSG oder eines beruflichen Tätigkeitsverbots nach § 31 IfSG vorsorglich abgesondert oder vorsorglich be-
1 2 3 4
B. Gaul, AktuellAR 2022, 354 ff. BGBl. I 2022, 2230. BGBl. I 2022, 1743. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/FAQ/2022-12-07-FAQInflationsausgleichspraemie.html.
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Aktuelles aus Steuer- und Sozialversicherungsrecht
stimmte berufliche Tätigkeiten ganz oder teilweise nicht ausgeübt haben und dadurch einen Verdienstausfall erleiden, wenn eine entsprechende Absonderung oder ein berufliches Tätigkeitsverbot hätte erlassen werden können. Die Entschädigung, die durch den Arbeitgeber ausgezahlt wird, bemisst sich nach dem Verdienstausfall. Für die ersten sechs Wochen wird sie in Höhe des Verdienstausfalls gewährt. Vom Beginn der siebten Woche an wird die Entschädigung davon abweichend i. H. v. 67 % des der erwerbstätigen Person entstandenen Verdienstausfalls gewährt (maximal 2.016 EUR). Dabei gilt als Verdienstausfall das Arbeitsentgelt, das dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zusteht, vermindert um Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung sowie zur Arbeitsförderung oder entsprechende Aufwendungen zur sozialen Sicherung in angemessenem Umfang (Nettoarbeitsentgelt). Grundsätzlich werden dem Arbeitgeber die ausgezahlten Beträge auf Antrag von der zuständigen Behörde erstattet. Problematisch ist allerdings, dass durchaus unterschiedliche Auffassungen zwischen Arbeitgeber und Behörde über das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch bestehen können, was zur Folge haben kann, dass Anträge auf Erstattung ausgezahlter Entschädigungen gemäß § 56 Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 5 IfSG mit der Begründung abgelehnt werden, dass kein Entschädigungsanspruch bestanden hat. Das machen noch einmal die jetzt vorliegenden Entscheidungen des OVG NRW vom 10.3.20235 deutlich. Im Gegensatz zu den vorangehenden Entscheidungen des VG Minden und des VG Münster hat das OVG NRW die Auffassung vertreten, dass die von den Zahlungen betroffenen Arbeitnehmer gar keinen Verdienstausfallschaden erlitten hätten. Denn ihnen habe gegen ihren Arbeitgeber ein Anspruch auf Zahlung des Arbeitslohns zugestanden. Hiervon ausgehend habe auch kein Anspruch auf Entschädigung nach § 56 Abs. 1 S. 1, 2 IfSG bestanden. Schließlich habe die Entschädigung nur subsidiären Charakter und könne dann nicht verlangt werden, wenn während der Quarantäne ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegeben sei. Zur Begründung hat das OVG NRW auf § 616 BGB verwiesen. Danach besteht ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn der Arbeitnehmer für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert ist. Diese Voraussetzungen hätten für den Fall vorgelegen, dass die Arbeitnehmer – sofern nicht bereits krankheitsbedingte Arbeitsun-
5
OVG NRW v. 10.3.2023 – 18 A 563/22 n. v.; OVG NRW v. 10.3.2023 – 18 A 1460/22 n. v.
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Anspruch auf Entschädigung bei Quarantäne nach § 56 Abs. 1 S. 1 IfSG
fähigkeit bestanden hätte – als Kontaktpersonen mit einem Corona-Erkrankten oder als symptomlos an Corona erkrankte Personen in Quarantäne und dort auch an der Erfüllung ihrer Arbeitspflicht gehindert gewesen wären. Denn in diese Situation komme man grundsätzlich ohne Verschulden. Da die Ausfallzeit auch – von Beginn an erkennbar – deutlich unter sechs Wochen gelegen hätte, sei die Arbeitsleistung nicht für eine erhebliche Zeit ausgefallen. Mit entsprechender Begründung hatten andere VG einen Verdienstausfall bei einer Quarantäne von zwei Arbeitstagen6, vier Tagen7 bzw. elf Tagen (bei einem Arbeitsverhältnis von mehr als fünf Jahren8) abgelehnt. Grundlage für die Akzeptanz einer Ausfallzeit von bis zu sechs Wochen sind für das OVG NRW die durch den BGH im Urteil vom 30.11.19789 getroffenen Feststellungen. Danach soll ein erheblicher Arbeitsausfall erst bei dem Überschreiten von sechs Wochen gegeben sein, jedenfalls bei einer entsprechenden Fehlzeit im Rahmen eines länger bestehenden ungekündigten und unbefristeten Arbeitsverhältnisses. Anknüpfungspunkt für diese Einschätzung war die sechswöchige Dauer der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall10. Diese Bewertung ist allerdings keineswegs unumstritten. Zwar erscheint es gerechtfertigt, die Quarantäne in der Regel als einen in der Person des Arbeitnehmers liegenden Grund zu qualifizieren, durch den er ohne Verschulden an der Arbeitsleistung gehindert wird11. Ausnahmen dürften allenfalls bei provozierten Quarantäne-Sachverhalten gegeben sein, wie sie beispielsweise in § 56 Abs. 1 S. 4 IfSG genannt werden. Danach ist eine Entschädigung ausgeschlossen, wenn die Quarantäne bzw. das Verbot einer Ausübung der beruflichen Tätigkeit durch Inanspruchnahme einer Schutzimpfung oder anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die gesetzlich vorgeschrieben ist oder im Bereich des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Betroffenen öffentlich empfohlen wurde, oder durch Nichtantritt einer vermeidbaren Reise in ein bereits zum Zeitpunkt der Abreise eingestuftes Risikogebiet hätte vermieden werden können12. So VG Freiburg (Breisgau) v. 2.7.2021 – 10 K 547/21 n. v. (Rz. 22 f.). So OVG Lüneburg v. 2.7.2021 – 13 LA 258/21 n. v. (Rz. 11). So VG Berlin v. 16.11.2022 – 32 K 109/22 n. v. (Rz. 79, 85). BGH v. 30.11.1978 – III ZR 43/77, NJW 1979, 422. Zust. OVG Lüneburg v. 2.7.2021 – 13 LA 258/21 n. v. (Rz. 11); VG Berlin v. 1.12.2022 – 14 K 631/20 n. v. (Rz. 19); VG Berlin v. 16.11.2022 – 32 K 109/22 n. v. (Rz. 22); ErfK/Reinhard, EFZG § 3 Rz. 19 a; ArbR-HB/Linck, § 97 Rz. 24. 11 Vgl. OVG Lüneburg v. 2.7.2021 – 13 LA 258/21 n. v. (Rz. 11); VG Berlin v. 1.12.2022 – 14 K 631/20 n. v. (Rz. 27 f.); ArbG Iserlohn v. 3.5.2022 – 2 Ca 1848/21 n. v.; VG Freiburg (Breisgau) v. 2.7.2021 – 10 K 547/21 n. v. (Rz. 20 ff.). 12 Ebenso Sievers/Kruppa, jM 2022, 22. 6 7 8 9 10
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Aktuelles aus Steuer- und Sozialversicherungsrecht
Problematisch erscheint allerdings die Ausweitung des Geltungsbereichs von § 616 BGB auf Fehlzeiten bis zu sechs Wochen. So werden die Schranken einer noch verhältnismäßigen Ausfallzeit von einem großen Teil der Literatur und Rechtsprechung deutlich früher gezogen und es wird angenommen, dass bereits nach mehr als „wenigen Tagen“13, drei Tagen bei einem Arbeitsverhältnis von drei bis sechs Monaten14, einer Woche bei einem Arbeitsverhältnis von etwa sechs bis zwölf Monaten15, 14 oder 15 Tagen16 oder fünf Wochen bei einem Arbeitsverhältnis von etwa anderthalb Jahren17 von einer mehr als erheblichen Dauer der fehlenden Arbeitsleistung mit der Folge ausgegangen wird, dass kein Entgeltfortzahlungsanspruch besteht. Dabei ist es wichtig, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch nicht bereits dann entfällt, wenn die Höchstdauer überschritten wird. Vielmehr besteht von Anfang an kein Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 616 BGB, wenn die Arbeitsleistung aus einem unverschuldeten Grund für eine mehr als unerhebliche Zeitspanne nicht erbracht wird18. Ob das BVerwG im Rahmen einer Revision, die wegen grundsätzlicher Bedeutung ausdrücklich zugelassen wurde, der Auffassung des OVG NRW in Bezug auf die Dauer einer noch nicht erheblichen Zeitspanne folgt und damit einen Verdienstausfall ablehnen wird, erscheint jedenfalls offen. Für eine kürzere Zeitspanne spricht, dass § 616 Abs. 1 BGB eine Ausnahmeregelung darstellt, die einen an sich nicht bestehenden Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den besonderen Fall kurzfristiger Arbeitsverhinderung aus sozialen Gesichtspunkten innerhalb einer Vertragsbeziehung gewährt und damit der arbeitsrechtliche Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“ ausnahmsweise durchbrochen wird19. Die Quarantäne wird hingegen zum Schutz der Allgemeinheit angeordnet, ohne dass ein Bezug zum Arbeitsverhältnis und eine daraus resultierende Pflicht zur Rücksichtnahme gegeben ist. Das dürfte auch stärker der Notwendigkeit entsprechen, bei der Kennzeichnung der Verhältnismäßigkeit eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen, die nicht an festen Grenzen (hier: generell sechs Wochen), sondern an dem Verhältnis der Dauer der Fehl-
So VG Frankfurt v. 28.9.2022 – 5 K 3397/20.F n. v. (Rz. 27). Erman/Riesenhuber, BGB § 616 Rz. 51. Erman/Riesenhuber, BGB § 616 Rz. 51. So VG Münster v. 10.11.2022 – 5a K 1163/21 n. v. (Rz. 115); VG Bayreuth v. 5.5.2021 – B 7 K 21.210 n. v. (Rz. 6). 17 So VG Minden v. 26.1.2022 – 7a K 424/21 n. v. (Rz. 166, 168 f.). 18 HWK/Krause, BGB § 616 Rz. 37; Staudinger/Oetker, BGB § 616 Rz. 98. 19 Ebenso BAG v. 25.10.1973 – 5 AZR 156/73, NJW 1974, 663. 13 14 15 16
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Anspruch auf Entschädigung bei Quarantäne nach § 56 Abs. 1 S. 1 IfSG
zeit zur Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses ausgerichtet ist20. Folgerichtig wird auch die Pflege von Kindern in der Regel nur unter Berücksichtigung des jeweils in Rede stehenden Einzelfalls in den Anwendungsbereich von § 616 BGB einbezogen21, wobei hier auch Fehlzeiten ausgegrenzt werden, die mehr als fünf Tage andauern22. Dies gilt umso mehr, als eine Gleichsetzung des an Corona erkrankten Arbeitnehmers, bei dem eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit gegeben ist, mit dem Arbeitnehmer, der sich ohne diese Folgen nur in Quarantäne befindet, auch von der Systematik und dem Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen nicht geboten erscheint. Denn in diesem Fall dürfte der Anspruch auf Entschädigung in fast allen Fallgestaltungen durch § 616 BGB verdrängt werden; der gesetzlichen Regelung hätte es auch während der COVID-19-Pandemie an sich nicht bedurft. Naheliegender erscheint daher, quarantänebedingte Fehlzeiten von mehr als zwei Wochen nicht mehr in den Anwendungsbereich von § 616 BGB einzubeziehen. Unabhängig von dieser Diskussion um die Dauer der Fehlzeit dürfte allerdings in der Praxis entscheidender sein, ob die Anwendbarkeit von § 616 BGB nicht – wovon für den Regelfall auszugehen ist – durch eine individualoder kollektivrechtliche Regelung abgegolten ist. Darauf hatten schon das VG Koblenz im Urteil vom 10.5.202123 und das VG Berlin im Urteil vom 16.11.202224 ausdrücklich hingewiesen. Von einem vertraglichen Ausschluss einer Anwendbarkeit von § 616 BGB ist immer dann auszugehen, wenn – was zulässig ist25 – durch eine angemessene Regelung im Arbeitsvertrag, in einer Betriebsvereinbarung in den Grenzen von §§ 75, 77 Abs. 3 BetrVG oder in einem Tarifvertrag festgelegt wird, in welchen Fällen und für welche Dauer ein Entgeltfortzahlungsanspruch besteht, wenn der Arbeitnehmer unverschuldet an der Arbeitsleistung gehindert ist, ohne dass krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit gegeben ist. In der Regel sind dies Sachverhalte, die beispielsweise an die eigene Eheschließung, die
20 Vgl. BAG v. 11.8.1988 – 8 AZR 721/85, NZA 1989, 54; BGH v. 30.11.1978 – III ZR 43/77, NJW 1979, 422; VG Minden v. 26.1.2022 – 7a K 424/21 n. v. (Rz. 162); HWK/Krause, BGB § 616 Rz. 40; vgl. ferner BAG v. 17.12.1959 – GS 2/59, NJW 1960, 738: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Dauer von sechs Wochen nur im Ausnahmefall in den Anwendungsbereich von § 616 BGB einbezogen. 21 Vgl. BAG v. 19.4.1978 – 5 AZR 834/76, NJW 1978, 2316. 22 Vgl. BAG v. 19.4.1978 – 5 AZR 834/76, NJW 1978, 2316 Rz. 20; Erman/Riesenhuber, BGB § 616 Rz. 52; Staudinger/Oetker, BGB § 616 Rz. 107. 23 VG Koblenz v. 10.5.2021 – 3 K 107/21.KO n. v. (Rz. 31). 24 VG Berlin v. 16.11.2022 – 32 K 109/22 n. v. (Rz. 87). 25 Vgl. BAG v. 25.5.2016 – 5 AZR 298/15, NZA 2016, 1028 Rz. 15; LAG Düsseldorf v. 10.10.2022 – 3 Ta 278/22, NZA-RR 2022, 650 Rz. 19; ErfK/Preis, BGB § 616 Rz. 13.
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Aktuelles aus Steuer- und Sozialversicherungsrecht
Geburt von Kindern, Beerdigungen naher Angehöriger, Umzüge, die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten (z. B. Zeugenaussage, Tätigkeit als Schöffe oder ehrenamtlicher Richter), Ehrenämter oder die Teilnahme an Tarifvertragsverhandlungen anknüpfen. Gibt es solche Regelungen, die im Arbeitsverhältnis Geltung beanspruchen, treten diese Regelungen an die Stelle von § 616 BGB, sofern die Parteien keine abweichende Vereinbarung getroffen haben26. Ist in diesen Katalogen eine Quarantäne nicht als Sachverhalt aufgeführt, besteht für die Dauer dieser Fehlzeit kein Entgeltfortzahlungsanspruch, unabhängig davon, ob die Quarantäne für zwei, fünf oder 15 Tage angeordnet wird. Wichtig ist, gegenüber den Behörden und den jeweils zuständigen Verwaltungsgerichten diese arbeitsrechtliche Besonderheit aufzuzeigen. Denn durch die individual- oder kollektivrechtlichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung in den vorstehenden Sachverhalten, bei denen die Quarantäne nicht erfasst ist, wird ein Vergütungsanspruch ausgeschlossen. Es bleibt bei dem allgemeinen Grundsatz „ohne Arbeit kein Geld“. Hiervon ausgehend bewirkt die Quarantäne auch einen Verdienstausfall, der gemäß § 56 Abs. 1 S. 1, 2 IfSG mit einer erstattungspflichtigen Entschädigung verbunden ist. (Ga)
26 BAG v. 13.12.2001 – 6 AZR 30/01, NZA 2002, 1105 Rz. 14; HWK/Krause, BGB § 616 Rz. 49.
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Stichwortverzeichnis Die Zahlen bezeichnen die Seitenzahlen AEntG, Arbeitszeiterfassung 134 AG, Frauenquote 57 ff. AGB-Kontrolle, Betriebsrente 240 AGG, HinSchG 3 Agile Arbeit, Mitbestimmung Betriebsrat 284 ff. Amazon, Datenschutz 118 f. Anforderungsprofil, Arbeitsplatz 72 Anhörung Betriebsrat - Datenschutz 230 - Kündigung 208 ff. Annahmeverzug - anderweitige Beschäftigung 218 ff. - Anrechnung 218 ff. - Auskunftsanspruch 221 f. - Böswilligkeit 218, 223 - Einschränkung 217 ff. - Kündigung 217 ff. - Meldepflicht Agentur für Arbeit 223 - Prozessarbeitsverhältnis 220 f. - Zumutbarkeit 220 Anpassungsprüfung, Betriebsrente 231 ff. Arbeitnehmerdatenschutz - Amazon 118 f. - Auskunftsanspruch 105 ff. - Beschäftigungsverhältnis 108 ff. - Betriebsrat 111, 230 - Betriebsvereinbarung 108 ff., 112 ff. - Beurteilungsspielraum 115 - Drittstaaten 68 ff. - DSGVO 105 ff.
Arbeitnehmerdatenschutz - Eingliederungsmanagement 114 - Einwilligung 70 - EU-US Data Privacy Framework 68 ff. - Gerichtsverfahren 226 ff. - grenzüberschreitender 68 ff. - HinSchG 12 - Konzern 114 - Konzernbetriebsvereinbarung 108 ff., 112 ff. - Kündigung 226 ff. - Mitarbeiterkontrolle 118 f. - Personalentwicklung 118 - Recht auf Unerreichbarkeit 148 ff. - Rechtsgrundlage 108 ff. - Schadensersatz 115 ff. - Sozialauswahl 114 - spezifischere Vorschrift 113 f. - Standardvertragsklauseln 70 - Telefonnummer 148 ff. - Unternehmensgruppe 113 f. - Verantwortlicher 111 - Whistleblower 12 Arbeitnehmerüberlassung - Arbeitszeiterfassung 134 - Auskunftsanspruch 263 ff. - Begriff 85 ff. - Betriebsvereinbarung 93 f. - Dienstvertrag 85 ff. - Entgelt 45 f., 102 f. - Entwicklung 45 f. - Equal Pay 96 ff. - Equal Treatment 96 ff. - Fiktion Arbeitsvertrag 94 f. 319
Stichwortverzeichnis
Arbeitnehmerüberlassung - Gesamtschutz 100 f. - Höchstüberlassungsdauer 89 ff. - Indizien 88 f. - Kennzeichnung 85 ff. - Kurzarbeit 27 f. - Missbrauch 94 - Qualifikation 45 f. - Schadensersatz 96 - Tarifvertrag 89 ff. - Weisungsrecht 85 f. - Werkvertrag 85 ff. - Wet-Lease 87 Arbeitsgericht, Datenschutz 226 ff. Arbeitsort, Direktionsrecht 81 ff. Arbeitsplatz - Anforderungsprofil 43, 72 - KI 43 f. Arbeitsplatzerhaltungspflicht - Gaspreisbremse 299 ff. - Strompreisbremse 299 ff. Arbeitsschutz - Arbeitszeiterfassung 132 ff. - Corona 38 - HinSchG 3 - Personalausstattung 40 - Recht auf Unerreichbarkeit 148 ff. Arbeitsschutzverordnung, Corona 38 Arbeitsunfähigkeit - AU-Bescheinigung 265 ff. - Feststellung 265 ff. - Urlaubsanspruch 187 ff. Arbeitszeit, Änderung 148 ff. Arbeitszeiterfassung - AEntG 134 - Anordnung 144 - Arbeitsschutz 132 ff. - ArbZG 28 ff., 133 ff. - AÜG 134 320
Arbeitszeiterfassung - Auskunftsanspruch 144 f. - Betriebsrat 29 f. 144 f. - Delegation 29, 138 f. - Einigungsstelle 146 ff. - elektronische 28 ff., 137 f., 147 f. - Gesetz 28 ff., 133 ff. - Gewerbeaufsicht 29 ff., 144 - GSA Fleisch 134 - Koalitionsvertrag 30, 142 - leitende Angestellte 141 - MiLoG 134 - Mitbestimmung Betriebsrat 146 ff. - objektive 136 f. - Opt-in/Opt-out 139 f. - Papierform 138 - Referentenentwurf 28 ff. - Strafbarkeit 30 f., 142 f. - technische 28 ff., 137 f., 147 f. - Umfang 143 - Umsetzungspflicht 28 ff., 139 f. - verlässliche 137 - Vertrauensarbeitszeit 28 ff., 140 ff. - Wahlrecht 139 f. - zugängliche 137 AU-Bescheinigung, Vorlagezeit 265 ff. Auflösungsantrag - Begründung 212 ff. - Kündigung 212 ff. - Sonderkündigungsschutz 215 f. Auskunftsanspruch - Annahmeverzug 221 f. - Arbeitszeit 144 f. - Betriebsrat 144 f., 263 ff. - Gender-Pay-Gap 54 - Gleichbehandlung 119 ff. - Stufenklage 122
Stichwortverzeichnis
Ausland - Direktionsrecht 81 ff. - Workation 125 ff. Auslandsentsendung - Besteuerung 173 ff. - Hypotax 173 ff. - Tarifvertrag 173 ff. Ausschlussfrist - Erholungsurlaub 178 ff. - Gender-Pay-Gap 56 - Urlaubsabgeltung 178 ff. Beamte, HinSchG 4 BEEG - Frühgeburt 25 - Partnerfreistellung 25, 27 Beförderung, Betriebsratsmitglied 259 Begünstigungsverbot, Betriebsratsmitglied 254 Beherrschungsvertrag, Anpassung Betriebsrente 233 ff. Beitragssatz, Pflegeversicherung 40 ff. Berechnungsdurchgriff, Anpassung Betriebsrente 233 f. Beteiligungsverfahren, SE 277 ff. Betriebliche Altersversorgung → Betriebsrente Betriebsänderung - Arbeitsprozesse 288 f. - Begriff 288 ff. - Betriebsorganisation 289 - Digitalisierung 287 ff. - grundlegende Maßnahme 289 - KI 287 - Klageverzichtsprämie 294 ff. - Qualifizierungssozialplan 292 f. - Qualifizierungsmaßnahmen 287, 292 f.
Betriebsänderung - Rahmeninteressenausgleich 290 f. - Rahmensozialplan 290 ff. - Re-Skilling 292 - Sozialplan 290 ff., 294 ff. - Up-Skilling 292 - Zeitpunkt 288 ff. Betriebsbegriff, Massenentlassung 192 ff. Betriebsrat - Datenschutz 111 - Whistleblower 17 Betriebsratsmitglied - Assessment Center 256 - Beförderung 254, 259 - Begünstigung 251 ff. - Bonus 255 f. - Datenschutzbeauftragter 259 ff. - Dienstwagen 258 - Funktionszulage 254 f., 258 - Gehaltsentwicklung 254 - Mehrarbeit 258 - Reisezeiten 258 f. - Schichtarbeit 258 - Sonderleistung 258 - Strafbarkeit 251 ff. - Vergleichsperson 253 f., 258 Betriebsratsvergütung - Bonus 255 - Dokumentation 259 - Gehaltsentwicklung 254 - Strafbarkeit 251 ff. - Tatbestandsirrtum 257 - Untreue 251 ff. - Verbotsirrtum 257 Betriebsrente - Abfindung 239 ff. - AGB-Kontrolle 240 - Anpassungsprüfung 231 ff. - Beherrschungsvertrag 233 ff. 321
Stichwortverzeichnis
Betriebsrente - Berechnungsdurchgriff 233 f. - Bilanzverbesserung 239 f. - CTA-Modelle 239 - Einmalkapitalbetrag 239 ff. - Energiekostenrabatt 236 - Ersetzungsbefugnis 239 ff. - Gewinnabführungsvertrag 233 f. - Kapitalwahlrecht 240 ff. - Konzern 231 ff. - Personalrabatt 235 ff. - wirtschaftliche Lage 231 ff. Betriebsübergang - Eingruppierung 306 ff. - Tarifflucht 306 ff. Betriebsvereinbarung - Arbeitnehmerdatenschutz 108 ff., 112 ff. - Arbeitnehmerüberlassung 93 f. - Arbeitsplatzerhaltungspflicht 299 ff. - Gaspreisbremse 299 ff. - Höchstüberlassungsdauer 93 f. - Strompreisbremse 299 ff. - Vertrauensarbeitszeit 145 Beweislastumkehr, HinSchG 13 f. Bewerber - Diskriminierung 75 ff. - Fragerecht 52 - Gender-Pay-Gap 52, 161 ff. Blaue Karte EU 32 ff. Bonusverbot - Gaspreisbremse 304 ff. - Konzern 305 - Strompreisbremse 304 ff. Chancen-Aufenthaltsrecht 31 f. Chancenkarte, Fachkräfte Immigration 35 ff. ChatGPT 43 f.
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Corona - Entschädigung 313 ff. - Quarantäne 313 ff. Corona-Arbeitsschutzverordnung 38 Datenschutz → Arbeitnehmerdatenschutz Datenschutzbeauftragter - Abberufung 259 ff. - Betriebsratsvorsitzender 259 ff. - Interessenkonflikt 259 f. - Konzern 260 - Kündigung 259 Diensthandy, Erreichbarkeit 148 ff. Dienstplan - Änderung 148 ff. - Eingriff in Freizeit 148 ff. Dienstvertrag - Auskunftsanspruch 263 ff. - Indizien 88 f. - Weisungsrecht 85 f. Digitalisierung - Betriebsänderung 287 ff. - Bewerbungsunterlagen 274 ff. - Information Betriebsrat 274 ff. - Mitbestimmung Betriebsrat 274 ff. Direktionsrecht - Arbeitsort 81 ff. - Ausland 81 ff. - Ausübungskontrolle 84 - Betriebsvereinbarung 84 - Erreichbarkeit Arbeitnehmer 148 ff. - Konkretisierung 84 - Mitbestimmung Betriebsrat 269 - Sozialauswahl 84 - Tarifvertrag 84 Diskriminierung - Amicus Curiae 61
Stichwortverzeichnis
Diskriminierung - Bewerber 75 ff. - Entgelt 47 ff. - Gender-Pay-Gap 47 ff. - Geschäftsführer 50 - Geschlecht 47 ff., 75 ff. - sexuelle Ausrichtung 76 f. - Teilzeit 48, 169 ff. Dividendenverbot - Gaspreisbremse 304 ff. - Konzern 305 - Strompreisbremse 304 ff. DrittelbG - Frauenquote 60 - grenzüberschreitende Umwandlung 18 ff. Drittstaat, Datenschutz 68 ff. Eingliederungsmanagement, Arbeitnehmerdatenschutz 114 Eingruppierung - Betriebsübergang 306 ff. - Mitbestimmung Betriebsrat 269 ff. - Tarifvertrag 306 ff. Einigungsstelle, Arbeitszeiterfassung 146 ff. Einstellung - Mitbestimmung Betriebsrat 269 ff. - vorläufige Durchführung 270 ff. E-Mail, Zugang 159 EnSikuMaV 43 Entgelt - Auskunftsanspruch 119 ff. - Diskriminierung 47 ff. - Gender-Pay-Gap 47 ff., 61, 160 ff. - Geschlechtsbezug 160 ff. - Gleichbehandlung 119 ff.
Entgeltbewertung, Gender-Pay-Gap 54 Entgeltdiskriminierung → GenderPay-Gap EntgTranspG - Begriffsbestimmungen 51 ff. - Entschädigung 160 ff. - EU-Richtlinie 50 ff. - Gleichbehandlung 160 ff. Entschädigung - Gender-Pay-Gap 55 f. - Quarantäne 313 ff. Equal Pay, Arbeitnehmerüberlassung 96 ff. Erholungsurlaub - Arbeitsunfähigkeit 187 ff. - Krankheit 187 ff. - langandauernde Erkrankung 187 ff. - Mitwirkungsobliegenheit 179, 186, 188 - Verfall 178 ff. - Verjährung 178 ff. ESG - Berichtspflicht 65 ff. - EU-Richtlinie 65 ff. - Konzern 65 ff. - Lagebericht 65 ff. EU-Richtlinie - Arbeitnehmerüberlassung 94, 96 ff. - Arbeitsschutz 132 - Arbeitszeit 132 ff. - Arbeitszeiterfassung 28 ff., 131 ff. - Berichtspflichten 65 ff. - Beruf und Privatleben 24 ff. - Bildschirmarbeit 132 - EntgTranspG 50 ff. - ESG 65 ff. - Gender-Pay-Gap 50 ff. 323
Stichwortverzeichnis
EU-Richtlinie - Gleichstellungsstellen 61 - grenzüberschreitende Umwandlung 17 ff. - Hinweisgeberschutz 1 ff. - Lohntransparenz 50 ff. - Mindestlöhne 62 ff. - mobile Arbeit 24 f. - Nachhaltigkeitsberichterstattung 65 ff. - Partnerfreistellung 25 ff. - Schadensersatz 96 - Tarifbindung 62 f. - Teilzeit 166 ff. - Umsetzung 132 ff. - Umwandlung 17 ff., 21 ff. - Vaterschaftsurlaub 24 ff. - Vertrauensarbeitszeit 141 f. - Whistleblower 1 ff. EU-US Data Privacy Framework 68 ff. EWPBG 299 ff. Fachkräfteeinwanderung 31 ff. - ANABIN-Datenbank 34 - Berufsabschluss 34 - Blaue Karte EU 32 ff. - Chancen-Aufenthaltsrecht 31 f. - Chancenkarte 35 ff. - Gehaltsgrenze 33 - kurzfristige Beschäftigung 35 - MINT-Berufe 33 - Personalentwicklung 71 ff. - Westbalkan 35 Fachkräfte, ausländische 31 ff. Fachkräftemangel - Einwanderung 31 ff. - Personalentwicklung 73 ff. - Qualifikationsmaßnahme 75 - Soll-Profile 72 f. - Soll-Struktur 75 324
Fachkräftemangel - Tools 73 f. Familienstartzeit-Gesetz 25 ff. Formwechsel → Umwandlung Frauenquote - AG 57 ff. - Aufsichtsrat 57 - Berichterstattung 59 ff. - Besetzungsverfahren 58 - Führungskräfte 57 ff. - Sanktionen 60 - Transparenzgebot 58 f. - Vorstand 57 - Zielgröße 60 Freizeit, Unerreichbarkeit 148 ff. Fremdpersonal, Auskunftsanspruch 263 ff. Frühgeburt, Basiselterngeldmonat 25 Führungskräfte, Frauenquote 57 ff. Gaspreisbremse, Konzern 299 ff., 305 Gender-Pay-Gap - Abhilfe 55 - Auskunftsrecht 54 - Ausschlussfrist 56 - Begriffsbestimmungen 51 ff. - Berichterstattung 53 - Berufserfahrung 165 - Betriebszugehörigkeit 165 - Beweislast 162 - Bewerbungsverfahren 52, 161 ff. - Entgeltbewertung 54 f. - Entgelttransparenz 52 - EntgTranspG 50 ff. - Entschädigung 55, 160 ff. - Fragerecht 52 - Geldbußen 55 f. - Gender-Pay-Check 54 - Geschäftsführer 50
Stichwortverzeichnis
Gender-Pay-Gap - Gleichbehandlung 160 ff. - Kleinunternehmen 53 - Konzernbetriebsvereinbarung 52 - Schadensersatz 55, 160 ff. - Software 53 - Tarifvertrag 52 - Vergleichsperson 52 - Verhandlungsergebnis 164 f. - Verjährung 56 - Veröffentlichung 53 f. - Vertragsfreiheit 164 f. Geringfügige Beschäftigung → Teilzeit Geschäftsführer - Bonusverbot 304 ff. - Gender-Pay-Gap 50 Geschäftsgeheimnis - Offenlegung 6 f. - Whistleblower 6 f. Geschlecht, Diskriminierung 47 ff., 75 ff. Gewerbeaufsicht, Arbeitszeiterfassung 29 ff., 144 Gewerkschaft - grenzüberschreitende Umwandlung 4 - Unterlassungsanspruch 243 ff. Gleichbehandlung - Auskunftsanspruch 119 f. - Entgelterhöhung 119 ff. - Nachtarbeit 245 ff. - Sozialplan 297 ff. - Teilzeit 169 ff. Gleichheitssatz, Nachtarbeitszuschlag 245 ff. Gleichstellungsstellen, EU-Richtlinie 61 Grenzüberschreitende Umwandlung - Bekanntmachung 21 - Gewerkschaft 22 f.
Grenzüberschreitende Umwandlung - Prüfung 22 - Rechtsmissbrauch 22 - Registergericht 22 - Umwandlungsbericht 21 - Umwandlungsplan 21 Gruppenarbeit, Mitbestimmung Betriebsrat 285 f. Günstigkeitsprinzip, Tarifvertrag 173, 176 ff. Haftung, Spaltung 23 Harassment → Diskriminierung HinSchG - abweichende Vereinbarung 16 - AGG 3 - anonyme Meldung 9 f. - Arbeitsschutz 3 - Beamte 4 - Beschäftigungsgeber 5 - Betriebsrat 17 - betroffene Person 14 f. - Beweislastumkehr 13 f. - Datenschutz 12 - Ethik 7 - externe Meldung 8 ff. - Falschmeldung 14 f. - Geltungsbereich 2 ff. - Geschäftsgeheimnis 6 f. - Inkrafttreten 16 - interne Meldung 8 f. - Konzern 13 - Kündigung 14 - LkSG 3 - Lücken 16 f. - Meldestelle 8 f. - Meldung 8 ff. - Offenlegung 11 f. - Ordnungswidrigkeiten 3 - Rechtsmissbrauch 4 - Redlichkeit 7 325
Stichwortverzeichnis
HinSchG - Repressalien 13 f. - Steuerrecht 4 - Übergangsregelung 16 - Whistleblower 5 HinSchRL 1 ff. Höchstbetragsklausel - ältere Arbeitnehmer 296 - Altersdiskriminierung 296 Höchstüberlassungsdauer, Betriebsvereinbarung 93 f. Hypotax, Auslandsentsendung 173 ff. IfSG - Entschädigung 313 ff. - Quarantäne 313 ff. Immigration → Fachkräfteeinwanderung Inflationsausgleichsprämie, FAQ BMF 313 Kettenbetriebsübergang, Widerspruch 309 ff. KI - Arbeitsplatz 43 f. - Betriebsänderung 287 - ChatGPT 43 f. - ethische Schranken 43 Klageverzichtsprämie, Höchstbetragsklausel 294 ff. Koalitionsfreiheit, Nachtarbeitszuschlag 247 Konzern - Arbeitnehmerdatenschutz 114 - Bonusverbot 305 - Datenschutzbeauftragter 260 - Dividendenverbot 305 - ESG 65 ff. - HinSchG 13 - Meldestelle 13 326
Konzernbetriebsvereinbarung - Arbeitnehmerdatenschutz 108 ff., 114 - Gender-Pay-Gap 52 Krankenhaus - Personalausstattung 39 - Pflegekräfte 39 Krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit → Arbeitsunfähigkeit Kündigung - Anhörung Betriebsrat 208 ff. - Annahmeverzug 217 ff. - Auflösungsantrag 212 ff. - Mitbestimmung Betriebsrat 208 ff. - Repressalien 13 f. - Schwangerschaft 201 ff. - Sozialauswahl 230 - Whistleblower 14 - Workation 125 ff. Kündigungsschutzprozess - Annahmeverzug 217 ff. - Datenschutz 226 ff., 230 Kurzarbeit 27 f. - Entgeltminderung 27 f. - Leiharbeitnehmer 27 f. Lagebericht, Nachhaltigkeitsberichterstattung 65 ff. Leiharbeit → Arbeitnehmerüberlassung LkSG - Aufschub 37 f. - FAQ BAFA 38 - Inkrafttreten 37 f. Lohngleichheit - geringfügige Beschäftigung 166 ff. - Teilzeit 166 ff.
Stichwortverzeichnis
Massenentlassung - Agentur für Arbeit 196 f. - Betriebsbegriff 191 ff. - Insolvenz 191 ff. - Konsultationsverfahren 194 ff. - Massenentlassungsanzeige 191, 197 f. - Muss-Angaben 197 - Nachkündigung 194 - Soll-Angaben 197 f. - Wiederholungskündigung 191 f. Mehrarbeit, Betriebsratsmitglied 258 Mehrarbeitszuschlag, Teilzeit 169 ff. Meldung, HinSchG 8 ff. MgFSG 18 MiLoG - Arbeitszeiterfassung 134 - EU-Richtlinie 62 ff. Mindestlohn - Arbeitszeiterfassung 134 - EU-Richtlinie 62 ff. - gesetzlicher 63 f. - Indikatoren 64 - Inflation 64 - Kriterien 64 - MiLoG 64 Mitarbeiterkontrolle, Datenschutz 118 f. MitbEG, Frauenquote 60 Mitbestimmung Betriebsrat - agile Arbeit 284 ff. - Arbeitsunfähigkeit 265 ff. - Arbeitsverhalten 267 - Arbeitszeiterfassung 144 ff. - AU-Bescheinigung 265 ff. - Auskunftsanspruch 263 ff. - Bewerbungsunterlagen 274 ff. - Digitalisierung 274 ff. - Direktionsrecht 269
Mitbestimmung Betriebsrat - Eingruppierung 269 ff. - Einstellung 269 ff. - Entgeltbewertung 54 f. - Fremdpersonal 263 ff. - Gender-Pay-Gap 54 f. - Gruppenarbeit 285 f. - Initiativrecht 146 ff. - kollektiver Sachverhalt 267 f. - Kündigung 208 ff. - Massenentlassung 194 f. - Ordnung im Betrieb 265 ff. - Personalausstattung 40 - Personalmaßnahme 269 ff. - Scrum 285 - Sonderkündigungsschutz 208 ff. - Tarifflucht 306 ff. - Tarifwechsel 306 ff. - Umgruppierung 269 ff. - Versetzung 269 ff. - Vertrauensarbeitszeit 144 f. - vorläufige Durchführung 270 ff. MitbG - Frauenquote 60 - grenzüberschreitende Umwandlung 18 ff. Mobile Arbeit - Erörterungspflicht 24 f. - EU-Richtlinie 24 f. Mobiltelefon, Erreichbarkeit 148 ff. MontanMitbestG, Frauenquote 60 MuSchG, Partnerfreistellung 25 ff. Nachhaltigkeitsberichterstattung, EU-Richtlinie 65 ff. Nachtarbeit, unregelmäßige 245 ff. Nachtarbeitszuschlag, Tarifvertrag 245 ff. NachwG - Hinweispflichten 77 ff. 327
Stichwortverzeichnis
NachwG - Schadensersatz 77 ff. Offenlegung, HinSchG 11 f. Partnerfreistellung - BEEG 25, 27 - Dauer 26 - Familienstartzeit-Gesetz 25 ff. - MuSchG 25 ff. - U2-Verfahren 26 - Vergütung 26 Personalentwicklung - Arbeitnehmerdatenschutz 118 - interne 73 f. - Maßnahmen 73 ff. Personalrabatt, Betriebsrente 235 ff. Pflegeversicherung, Beitragssatz 40 ff. Prozessarbeitsverhältnis, Annahmeverzug 220 f. Quarantäne - Entgeltfortzahlung 314 ff. - Entschädigung 313 ff. Rahmeninteressenausgleich 290 f. Rahmensozialplan 291 f. Recht auf Unerreichbarkeit 148 ff. Rechtsmissbrauch - grenzüberschreitende Umwandlung 22 - Höchstüberlassungsdauer 94 - Leiharbeit 94 - Whistleblower 4 Reisezeit, Betriebsratsmitglied 258 Rentennähe, Sozialauswahl 198 ff. SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung → Corona-Arbeitsschutzverordnung 328
Schadensersatz - Arbeitnehmerdatenschutz 115 ff. - Gender-Pay-Gap 55 f. - Kausalität 80 f. - NachwG 77 ff. Schichtarbeit - Änderungen 148 ff. - Betriebsratsmitglied 258 Schwangerschaft, Kündigung 201 ff. Schwerbehindertenzuschlag 294 ff. SE - arbeitnehmerlose 277 ff. - Komplementärin 278 ff. - Vorrats-SE 277 ff. - Nachverhandlungspflicht 277 ff. - Neugründung 277 ff. Sexuelle Ausrichtung, Diskriminierung 76 f. SMS, Zugang 159 f. Solo-Selbständiger, Weisungsrecht 86 f. Sonderkündigungsschutz - Betriebsratsanhörung 208 ff. - Schwangerschaft 201 ff. Sonderleistung, Betriebsratsmitglied 258 Sozialauswahl - Altersrente 198 ff. - Arbeitnehmerdatenschutz 114 - Datenschutz 230 - Direktionsrecht 84 - Kündigung 230 - Rentennähe 198 ff. Sozialplan - ältere Arbeitnehmer 200 f., 296 - Altersrente 200 f. - Gleichbehandlung 297 ff. - Höchstbegrenzungsklausel 294 ff. - Rentennähe 200 f.
Stichwortverzeichnis
Sozialplan - Schwerbehindertenzuschlag 294 ff. - Unterrichtungspflichten 298 f. Spaltung → Umwandlung StromPBG 299 ff. Strompreisbremse, Konzern 299 ff., 305 Tarifflucht, Mitbestimmung Betriebsrat 306 ff. Tarifpluralität, Unterlassungsanspruch 243 ff. Tarifvertrag - Abdeckung 62 f. - Arbeitnehmerüberlassung 89 ff., 96 ff. - Arbeitsplatzerhaltungspflicht 299 ff. - Auslandsentsendung 173 ff. - Durchsetzung 243 ff. - Eingruppierung 306 ff. - Equal Pay 96 ff. - EU-Richtlinie 62 f. - Fördermaßnahme 62 ff. - Gaspreisbremse 299 ff. - Gender-Pay-Gap 52 - gerichtliche Kontrolle 104 - Gesamtschutz 100 ff. - Günstigkeitsprinzip 173, 176 ff. - Höchstüberlassungsdauer 89 ff. - Nachtarbeitszuschlag 245 ff. - Strompreisbremse 299 ff. - Tarifpluralität 243 ff. - Unterlassungsanspruch 243 ff. Tarifwechsel, Mitbestimmung Betriebsrat 306 ff. Teilzeit - Benachteiligung 167 f. - Diskriminierung 48, 169 ff. - Entgelt 166 ff.
Teilzeit - Entgeltgleichheit 166 ff. - Gleichbehandlung 169 ff. - Mehrarbeitszuschlag 169 ff. - Überstundenzuschlag 169 ff. Überstundenzuschlag, Teilzeit 169 ff. UmRUG 18 Umwandlung - Betriebsübergang 23 - DrittelbG 23 - grenzüberschreitende 17 ff. - Haftung 23 - Interessenausgleich 23 - Kündigungsschutz 23 - Mitbestimmungsbeibehaltung 23 - MitbG 23 - Tarifflucht 306 ff. - Zuordnung Arbeitnehmer 23 Unerreichbarkeit, Recht auf 148 ff. Unterlassungsanspruch - Gewerkschaft 243 ff. - Tarifpluralität 243 ff. Unternehmensmitbestimmung, grenzüberschreitende Umwandlung 18 ff. Urlaubsabgeltung - Ausschlussfrist 178 ff. - Verfall 178 ff. - Verjährung 178 ff. Urlaubsanspruch → Erholungsurlaub Vaterschaftsurlaub → Partnerfreistellung Verantwortlicher, Datenschutz 111 Verjährung, Gender-Pay-Gap 56 Verschmelzung → Umwandlung
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Stichwortverzeichnis
Versetzung - Mitbestimmung Betriebsrat 269 ff. - vorläufige Durchführung 270 ff. Vertrauensarbeitszeit - Arbeitszeiterfassung 140 ff. - Auskunftsanspruch 144 f. - Betriebsrat 144 ff. Vorstand, Bonusverbot 304 ff. Wahlbewerber, Auflösungsantrag 213 f. Weisungsrecht, Arbeitnehmerüberlassung 85 f. Werkvertrag - Auskunftsanspruch 263 ff. - Indizien 88 f. - Weisungsrecht 85 f. Whistleblowerrichtlinie 1 ff. Widerspruch - Betriebsübergang 309 ff. - Kettenbetriebsübergang 309 ff. Workation - Ausland 125 ff. - Kündigung 125 ff. Zuwanderung → Fachkräfteeinwanderung
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