Abbild und Leitbild: Biokybernetisch-philosophische Vorlesungen über Wahrheit, Moral und Kunst [Reprint 2022 ed.] 9783112617182, 9783112617175


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German Pages 168 [180] Year 1974

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Abbild und Leitbild: Biokybernetisch-philosophische Vorlesungen über Wahrheit, Moral und Kunst [Reprint 2022 ed.]
 9783112617182, 9783112617175

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ALFRED

PFEIFFER

ABBILD UND LEITBILD Biokybernetisch-philosophische Vorlesungen über Wahrheit, Moral und Kunst

ALFRED PFEIFFER

ABBILD UND LEITBILD Biokybernetisch-philosophische Vorlesungen über "Wahrheit, Moral und K u n s t

Mit

A K A D E M I E - V E R L A G



20

Abbildungen

B E R L I N 19

7 3

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1973 by Akademie-Verlag G m b H Lizenznummer: 202 • 100/506/73 Broschurumschlag: Nina Striewski Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestell-Nummer: 5947 • E S 18 G 1, 3 C 1 EDV-Nummer: 761625 9 Printed in the German Democratic Republic

Zum Geleit Mit der Vielfalt und dem Überblick, den nur jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Stoff und ein reifes Alter ermöglichen, legt hier Professor A. Pfeiffer ein Werk vor, das den Leser in vielfacher Hinsicht überraschen wird. E s ist durch ein zutiefst humanistisches Anliegen geprägt und bringt eine bedeutsame Synthese verschiedener Gebiete aus Technik, Natur- und Gesellschaftswissenschaften sowie Kultur. Unter anderen werden Gebiete wie die Kybernetik — vor allem Regelungstechnik —, Medizin — insbesondere Neurobiologie —, Psychologie, Verhaltenswissenschaft, Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Kulturgeschichte berücksichtigt. Dabei dringt der Autor stets bis zu den allgemein weltanschaulichen, philosophischen Fragen vor. Besonders hervorzuheben ist wohl der einmalige stoffliche Umfang dieses Werkes, der mit einem leicht lesbaren, d. h. überwiegend anschaulichen Stil bei induktivem Vorgehen verbunden ist. Dennoch werden hohes fachliches Niveau sowie eine einheitliche Basis der Betrachtung erreicht. Sie geht von einer prinzipiell technisch zu realisierenden Grundschaltung aus, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Perzeptron und der Lernmatrix hat. Aus dieser Grundschaltung und ihren vielfältigen Verkopplungsmöglichkeiten leitet der Autor dann alle seine Aussagen konsequent ab. Dies gibt dem Werk in der Vielfalt des Stoffes und seiner ohnehin schon zielstrebig geordneten Themenauswahl eine zusätzliche Leitlinie. Möge dieses Werk einen breiten Käuferkreis finden und seinen Lesern Wissen vermitteln, zu ihrem ethischen Handeln beitragen und ihnen Einsichten in tiefere Zusammenhänge vermitteln. Die Einteilung des Werkes in die Ideale: Wahr, Gut und Schön ist dazu angelegt. Der Autor hat hierzu in vielfältiger Weise die Voraussetzungen geschaffen. H. Völz

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Vorwort Das vorliegende Buch ist aus einer Vorlesung entstanden, die der Verfasser seit einigen Jahren vor Studenten der Ingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt hält. Jedoch setzt es, um verstanden zu werden, bei seinen Lesern keinerlei technische Spezialkenntnisse voraus. Vielmehr wendet es sich an alle, die gleich, ob sie eine besondere naturwissenschaftliche oder technische Ausbildung genossen haben oder nicht, das Bedürfnis verspüren, vom vorwiegend technisch-naturwissenschaftlich bestimmten Denken unserer Tage zu allgemeineren Einsichten vorzudringen. Es ist gerade die besondere Absicht des Verfassers, zu zeigen, daß die technischnaturwissenschaftliche Ausgangspositition dabei keineswegs verleugnet zu werden braucht, sondern daß sie im Gegenteil eine günstige Grundlage zur Gewinnung einer eigentlich philosophischen Gesamtansicht ist — freilich nicht einer beliebigen, sondern nur einer ganz bestimmten, nämlich derjenigen des von Marx und Engels begründeten und von Lenin schöpferisch weiterentwickelten Dialektischen Materialismus. Der Verfasser möchte den Leser davon überzeugen, daß wirklich keine andere Philosophie imstande ist, eine gleichwertige, in sich konsequente Einstellung zu den Grundproblemen des menschlichen Lebens zu vermitteln, ohne in Widerspruch zu gewissen Erkenntnissen der doch nun einmal aus unserem Leben nicht mehr wegzudenkenden Naturwissenschaft zu geraten. Dabei tritt"das Buch vor allem zwei Geistesrichtungen entgegen: Erstens jeder Art von mehr oder weniger verschwommener oder auch religiös bestimmter Mystik, deren Zeitalter der Verfasser für endgültig vergangen hält, wie überhaupt jedem Versuch, emotionale Befriedigung auf Kosten der intellektuellen zu erreichen, zweitens — und das nicht weniger entschieden — aber auch dem in gewisser Weise entgegengesetzten Bestreben, die vielfältigen Probleme des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft auf solche zu reduzieren, die der einseitig abstrahierenden und von Emotionen freien Behandlung durch eine Einzelwissenschaft, etwa der Soziologie, oder der Biologie, oder der Kybernetik zugänglich sind und in letzter Konsequenz womöglich gar einem Computer zur Lösung überlassen werden könnten. Allerdings bildet gerade die Kybernetik, vor allem in ihrer Anwendung auf die Funktion des lebenden Körpers als Biokybernetik, einen der wesentlichen Ausgangspunkte für die Untersuchungen des vorliegenden Buches — aber doch auch nicht mehr als nur einen Ausgangspunkt. Um den hier eigentlich interessierenden 7

allgemeinen Problemen der Wahrheit sowie den ethischen und ästhetischen Fragen auch in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit näher zu kommen, müssen selbstverständlich die abstrakten Begriffe der Kybernetik immer erneut mit konkretem Inhalt erfüllt und häufig sogar die ihr als Einzelwissenschaft zugänglichen begrenzten Bereiche überhaupt verlassen werden. Der allgemeine Überblick, der sich auf diese Weise zusammen mit dem Einblick in mancherlei sonst nicht im Zusammenhang gesehene Einzelheiten ergibt, sollte, wie der Verfasser meint, nicht nur rein intellektuelle Befriedigung gewähren können, sondern möchte zugleich auch eine gefühlsmäßige Bereicherung bewirken, die dann aber besser fundiert ist als jede von den besonderen Erkenntnissen der exakten Wissenschaften unserer Zeit losgelöste allgemeine Spekulation idealistischer Art. Doch soll damit keineswegs ein Anspruch auf Irrtumsfreiheit erhoben werden. I m Gegenteil: Das Buch will in erster Linie zum Weiterdenken anregen und der Verfasser wird für jede Kritik dankbar sein, sofern sie nur geeignet ist, die doch nun einmal erstrebenswerte allseitige (dialektische!) Annäherung an die behandelten Probleme zu ergänzen und zu verbessern. Für wertvolle Ratschläge und Hinweise ist der Verfasser Frau Doz. Dr. phil. A. GRIESE, Bereichsleiter an der Sektion MarxistischLeninistische Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin, Herrn Prof. Dr. phil. habil. H. HÖRZ, Direktor der Sektion Marxistiseh-Leninistische Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin, Herrn Prof. Dr. sc. med. W. RÜDIGER, Direktor des Physiologischen Instituts des Bereichs Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Herrn Prof. Dr. rer. nat. habil. H. VÖLZ, Direktor des Zentralinstituts für Kybernetik und Informationsprozesse der Akademie der Wissenschaften der D D R . zu besonderem Dank verpflichtet. Weitere wertvolle Hinweise verdankt der Verfasser Herrn Prof. Dr. W . HEICKING, Deutsche Hochschule für Musik „Hanns Eisler", Berlin, Herrn Dipl.-Phil. W. SCHMIDT, Direktor des Dresdner Kupferstichkabinetts, und Herrn Dr. G. KLIMASCHEWSKY, Bereichsleiter im Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der D D R . A. Pfeiffer

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Inhaltsverzeichnis 1. Zur Einführung 1- Vorlesung: Kybernetik und Philosophie,

Begriffsbestimmungen

Kybernetik als „Steuermannskunst" — Kybernetik als Wissenschaft vom Verhalten endlicher Systeme aus diskreten Elementen — Steuerkette, Regelkreis, vermaschte Systeme — Störgrößenaufschaltung, Systeme, die sich selbst umbauen. Die gesellschaftliche und die wissenschaftliche Aufgabe der Philosophie — Was ist Dialektik? — Der Begriff der Materie — Philosophischer Materialismus und Idealismus — „subjektiver" und „objektiver" Idealismus — Der Weg zur Wahrheit und das Kriterium der Praxis — Wissen und Glauben — Wissenschaft und Religion 2. Vorlesung: Philosophie und

Einzelwissenschaften

Naturwissenschaft und idealistische Philosophie — Wellen- und Korpuskelgestalt der Elementarteile — Dialektik der Natur und der Gesellschaft — Die Aufspaltung der Philosophie in Einzelwissenschaften — Die philosophische Aufgabe der Integration, die Rolle der Kybernetik — Der „Riß" zwischen experimentellen und nichtexperimentellen Wissenschaften — Die Aufspaltung der Psychologie — Die philosophische Verneinung des Lebens I I . Erkenntnistheorie 3. Vorlesung: Die Aufgabe der philosophischen Erkenntnistheorie.

Historisches

D E S C A R T E S — H T J M E — Die Überbewertung des subjektiven Moments im Erkenntnisprozeß — Das Kausalitätsproblem — Induktion und Deduktion — Mathematik und Realität — KANTS Zirkelschluß — KANT und die Quantenphysik — Der Positivismus —

PLATON — D i e i d e a l i s t i s c h e D i a l e k t i k HEGELS

4. Vorlesung:

Der Erkenntnisvorgang

als psychologisch-neurologischer

Prozeß

Zur neurokybernetischen Behandlungsweise des Problems — Mechanistische und „Feld"Vorstellungen in der Psychologie — Psychologische „Konstanz"-Phänomene und ihre neurologische Erklärung — Das Erkennen bekannter Objekte bei der Wahrnehmung — Das „pars-pro-toto"-Gesetz der Wahrnehmung — Irrtümer und Halluzinationen — Merkmalsspeicher für konkrete Gegenstände und allgemeine Merkmalsverknüpfungen — Das neurokybernetische „Modell" eines Naturgesetzes — Die Zusammenschaltung von Speichern — Symbole als Speicherausgang und -eingang, das „zweite Signalsystem" P A W L O W S — „Innere" Wahrnehmung

5. Vorlesung: Neuronale Lernmatrizen, psychologische Folgerungen Die Wiederholung als Vorbedingung des Lernens — Die STEiNBUOHSche Lernmatrix — Eine verallgemeinerte Matrix — Neuronale Geber f ü r Suchalgorithmen — Reduktion und Ergänzung des Informationsflusses in der Matrix — „pars-pro-toto"-Gesetz und Wissenschaft — Die „Eleganz" der Theorie als Wahrheitskriterium — Die Wirtschaftlichkeit des individuellen Speichersystems als Intelligenzmaß — Geistiges Schöpfertum

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6. Vorlesung: Das erkennende Bewußtsein als psychologisches Problem, Das „engere" Bewußtsein — Das „allgemeine" Bewußtsein — Unbewußtes — Das „Unter"- oder „Vor"bewußtsein — Bewußtsein und Sprache — Sprache u n d Urteil — Haupt- und Nebenurteile — Merkmalskomplexe von Begriffs- und Gestaltcharakter — „Rezeptives" Bewußtsein — Das „Präsenz"bewußtsein — Die Rolle des Gesetzes von der Erhaltung der Energie — Die Stabilität des Zentralnervensystems als kybernetisches System — Die Wirkungen des Alkohols — Die Regelung des Energieumsatzes durch die Emotionszentren

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7. Vorlesung: Ergänzungen, philosophische Auswertung der Ergebnisse Gedächtnis und Vergessen — Das Lernen als exogene Strukturveränderung des Organismus — Das rezeptive Bewußtsein als Sozialprodukt — Individuelles und kollektives Bewußtsein — Zur PREUDschen Psychoanalyse. Das Verhältnis unserer Ergebnisse zur Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus — Verhältnis zum subjektiven Idealismus — Verhältnis zum objektiven Idealismus — Das Gottes„erlebnis" 8. Vorlesung: Zum,

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Kausalitätsproblem

Quantenphysik und LAPLACEscher Determinismus — Ist das Universum endlich oder unendlich? — Der Universumsbegriff der Physik und der Philosophie — Kausalität und Naturgesetzlichkeit — Das Kausalitätsprinzip als das Prinzip der Verknüpfung von Ursache und Wirkung — Verflechtung von Ursache und Wirkung in der Kybernetik und bei Friedrich E N G E L S — M A R X und die Kybernetik — Die Abspiegelung verschiedener Kausalitätsauffassungen im Religiösen

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I I I . Ethik 9. Vorlesung: Historisches, Verhalten der Tiere Statische und dynamische Auffassungen des ethischen Ideals — Lebensbejahende und lebensverneinende Ethiken — Egozentrische und nichtegozentrische Zielsetzungen — Die amorphe Aufassung der Gesellschaft — Christentum und Antike — Der Buddhismus — P L A T O N S E t h i k — K A N T und der „kategorische Imperativ" der Pflicht — Das Handeln nach „Maximen" — K A N T und S C H I L L E R — Das Belohnungsmotiv. Bedingte Reflexe als Ergebnis einer Steuerkette oder eines Regelungsvorganges — A N O C H I N S Schema — Die Rolle der neuronalen Lernmatrizen — Die Nahrungssuche — Instinkte als Ausdruck komplexer Verhaltensprogramme 85

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10. Vorlesung:

Weiteres zum Verhalten der Tiere

Der Nest- oder Höhlenbau — Die Herden-, Schwärm- oder Rudelbildung — Die Rollenwahl — Der artspezifische Idealtyp der Gemeinschaft — Die Flexibilität des Verhaltens als Folge von Lernprozessen — Domestikation und Verwilderung — Ererbtes und faktisches Leitbild des Verhaltens — Die Analogie zum Leitbild der körperlichen Ausbildung — Die Analogie zum Verhalten selbstoptimierender technischer Regler — Die Unmöglichkeit der idealen Verwirklichung der Leitbilder

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11. Vorlesung: Das menschliche Verhalten und seine ethische Beurteilung Die „Gesellschaft, wie sie sein soll" und die Wahl der Rolle in ihr — Die modifizierenden Einflüsse der Umwelt — Die Rolle der Sprache — Das „produktive" Bewußtsein als Teil des „gegenstandsbestimmten" — Das moralische Bewußtsein — Das kollektive moralische Bewußtsein — Der Einfluß von Klasse und Nation — Der Begriff des Klassenbewußtseins — Das „Nachhinken" des Bewußtseins — Arbeiterklasse und bürgerliche Intelligenz — Das „Gesetz der Geschichte" — Ursachen moralischen Fehlverhaltens — Objektive ethische Maßstäbe — Ethische „Idealgestalten" — Sexuelle Ideale — Zum Begriff der „Idee" 102 12. Vorlesung: Ergänzungen, philosophische

Auswertung

Das „Naturrecht" in der bürgerlichen und der proletarischen Revolution — Die Gleichheit „vor Gott" — „Höhere" und „niedere" Triebe — Der Altruismus im Tierreich — Asoziale menschliche Neigungen — „Sündenknechtschaft" und „göttliche Gnade" — Die Vernunft bei KANT — Erkenntnistrieb und „Sünde" — Die ethische Stellung der Wissenschaft — „Denkende" Maschinen — Der Stoizismus — Noch einmal Sigmund F R E U D — Muß die Kultur zur Katastrophe führen? — Ethische Maßstäbe für Kollektive . . . . 115

IV. Ästhetik 13. Vorlesung: Begriffsbestimmung,

Historisches, zum Wesen des „Schönen"

Kunst und Schönheit, Kunst und Wirklichkeit — Zwei Arten des Realismus — P L A T O N — H E R A K L I T — S O K R A T E S — D O B R O L J U B O W — K A N T — Part pour l'art — A R I S T O T E L E S — Die formalen Vorbedingungen des schönen Eindrucks — Ordnung — Das Kunstwerk als formales Vorbild — Naturschönheit und Moral 127 14. Vorlesung: Kunst und Moral, der musikalische Ausdruck, die künstlerische

Aussage

Die Darstellung eines Gegenstands — Innere und äußere Gegenstände — Romantische und Barockmusik — Die unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen — Die Vieldeutigkeit des musikalischen Ausdrucks — „Musikalische" Darstellungstechnik in anderen Künsten — Feststehende Symbole — Das „Zusammenpassen" von „Form" und „Inhalt" — Wahre und falsche künstlerische Aussagen — Der häßliche Gegenstand — Technischer Zweck und Schönheit — Zweck und Aussage 136 15. Vorlesung: Das Tragische und das Komische, der Oestaltcharakter der künsterischen Aussage Innere Kontraste — Aufbau und Abbau von Spannungen — „Aufführbare" Kunstwerke — Verschiedene „Auffassungen" der Interpreten — Verschiedene Auffassungen in den

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Kunstaufnehmenden — Der historische Wandel der Auffassungen — „Ewig" gültige Werke — Die sprachliche Analyse der Aussage — Künstlerisches Bewußtsein und künstlerische Absicht — Die Vorgänge des Schaffens und Nachschaffens — Das Wesen des ästhetischen Wertes 147 16. Vorlesung:

Über einige Richtungen

der modernen

Kunst

Kunst und Kunsttheorie — Die Verfremdung — „Abstrakte" und „gegenstandsfreie" Kunst — Ein „gegenstandsfreier" Film — Der Surrealismus — Der Kubismus — Standardisierte „Zeichen" — Schematisierung — Die negative Aussage als Protest? — Dadaismus und moderne Lyrik — Das „absurde" Theater — Der „nouveau roman" — Kunst und Informationstheorie — Computerkunst? — Zusammenfassung 155 Literatur

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I. Zur Einführung 1. Vorlesung Wenn wir im folgenden versuchen wollen, uns sehr allgemeinen Problemen, Problemen eigentlich philosophischer Art, von der Kybernetik und speziell der Kybernetik der Lebensprozesse, der Biokybernetik, her zu nähern, so ist es wohl angebracht, einige Worte über Aufgabe und Wesen der Kybernetik wie auch der Philosophie vorauszuschicken, um uns über ihr grundsätzliches Verhältnis und die darin liegenden Voraussetzungen für die Durchführung unseres Vorhabens klar zu werden. Zunächst zur Kybernetik! Was stellt sie eigentlich vor? Die Definitionen dieser ja noch recht jungen Wissenschaft sind bisher noch keineswegs einheitlich. Das Wort „Kybernetik" stammt bekanntlich aus dem Griechischen und bezeichnet dort die Kunst des Steuermanns, der ein Schiff oder Boot lenkt. I n einem entsprechenden, nur wenig erweiterten Sinne, nämlich als die Wissenschaft von den bei allen möglichen Steuerungs- und Lenktätigkeiten ablaufenden Vorgängen, wollte sie auch ihr eigentlicher Begründer, Norbert W I E N E R , verstanden wissen, und so wird sie wohl auch heutzutage noch meist verstanden. Um diese Definition richtig aufzufassen, ist es aber wichtig, sich klar zu machen, daß die Worte „Steuern" und „Lenken" hier nur als mittelbare Einwirkung begriffen werden dürfen, also als eine Einwirkung, die das zu lenkende Objekt nur über ein Zwischenglied erreicht und bei der das Resultat der Lenkung aüch weit entfernt davon ist, eine einfache Kopie des Lenkvorganges darzustellen. Eben deswegen ist das Steuern oder Lenken ja auch eine „Kunst", bei der alles darauf ankommt, die im allgemeinen keineswegs leicht zu berechnenden Reaktionen des zu lenkenden Objektes richtig vorauszusehen, und nur weil diese Voraussage regelmäßig schwierig und keineswegs trivial ist, verdient die Theorie der dabei zu beobachtenden Erscheinungen den Namen einer Wissenschaft. So werden Schiffe und Flugzeuge über entsprechende Ruder, das Auto über das Lenkrad und das Pferd vor dem Wagen mit Hilfe der Zügel gelenkt, und jeder, der sich zum erstenmal in diesen Dingen versucht, merkt, daß die Sache durchaus nicht so einfach ist, wie sie aussieht, wenn auch der Schwierigkeitsgrad in den genannten Beispielen nicht derselbe ist. Im deutschen Sprachgebrauch unterscheidet man noch besonders die Begriffe des „Steuerns" und des „Regeins" voneinander und bezeichnet die entsprechenden Anordnungen dementsprechend als „Steuerkette" (Abb. l a ) oder „Regelkreis" (Abb. lb). 13

In den oben angeführten Beispielen für „Steuerung" oder „Lenkung" handelt es sich übrigens streng genommen in allen Fällen eigentlich um Regelkreise, in denen jedesmal der Mensch die Rolle des Gliedes D spielt, indem er ständig die Reaktionen des zu beeinflussenden Objekts beobachtet, mit den gewollten vergleicht und seine Einwirkungen auf das Steuerorgan nach den festgestellten Abweichungen bemißt, um sie möglichst zum Verschwinden zu bringen. In technischen Reglern wird die entsprechende Rolle aber im allgemeinen von einem besonderen Gerät übernommen, das z. B . nach elektrischem Prinzip arbeiten kann. Man spricht dann manchmal auch von einer „selbsttätigen" oder „automatischen" Regelung. Die relativ simplen Anordnungen der Steuerkette oder des dargestellten einfachen Regelkreises sind indessen in der modernen Technik gar nicht so häufig, wie es nach manchen populären Darstellungen scheinen könnte. Fast immer ist die Anzahl der miteinander in Wechselwirkung stehenden Bauteile viel größer als zwei, und die Pfeile („Signale" in der Sprache der Kybernetik), die die zwischen ihnen ausgetauschten Wirkungen symbolisieren, laufen nicht nur in einer Geraden oder im Kreis, sondern vielfach kreuz und quer durch das „Blockschema", das die Arbeitsweise des Ganzen darstellt. Man spricht dann in anschaulicher Ausdrucksweise von „vermaschten" Regelkreisen. Nicht selten handelt es sich auch darum, eine ganze Anzahl von Reaktionen gemäß vorgegebenen Führungsgrößen wu w2 ... gleichzeitig zu beherrschen. Betrachtet man die Anordnungen von Steuerkette und Regelkreis als die einfachsten kybernetischen Systeme, so wäre das allgemeinste kybernetische System symbolisch durch ein Schema gemäß Abbildung 2 (S. 37) darstellbar, in dem nun eine beliebige Anzahl von Einzelelementen („Blocks") vorhanden sein kann, zwischen denen in beliebiger Weise Wirkungen kreuz und quer und hin und zurück laufen können, und auf die auch in zunächst beliebiger Weise Einwirkungen von außen erfolgen mögen. Ebenso wollen wir zulassen, daß die Glieder des Systems in zunächst beliebiger, beabsichtigter oder nicht beabsichtigter Weise auf die Außenwelt Wirkungen ausüben, die wir durch entsprechende, nach außen weisende Pfeile symbolisieren. Auch bei den auf das System von außen ausgeübten Wirkungen kann es sich natürlich ebensowohl um beabsichtigte („Führungsgrößen") wie unbeabsichtigte („Störgrößen") handeln. Letztere, die wir bisher noch nicht erwähnt hatten, liegen natürlich stets auch bei den einfachsten kybernetischen Systemen vor: wo sie nicht vorhanden sind und auch nicht vorkommen können, wäre ja jede Regelung oder Steuerung überhaupt überflüssig. Um das einzusehen, brauchen wir nur noch einmal die Abbildung 1 b zu betrachten. Wir können hier den Block I I z. B. als das Symbol eines technischen Ofens auffassen, der durch den elektrischen Heizkörper I ständig auf einer vorgegebenen konstanten Temperatur w gehalten werden soll. Der Vergleich der Isttemperatur x des Ofens mit seiner Solltemperatur w und ein entsprechend dieser Differenz dauernd variierter Heizstrom in I ist offensichtlich überhaupt nur deswegen erforderlich, weil dauernde Störeinflüsse vorhanden sind, die die Erzielung einer konstanten Temperatur von I I bei konstanter Einstellung der Heizung unmöglich machen. Solche Störeinflüsse mögen z. B. wechselnder Luftzug, verursacht durch 14

iD-rHZDr

Abb. l a , l b , l c , i d : I Steuerorgan, II zu steuerndes Objekt,x w Einwirkung auf das Steuerorgan, y Wirkung des Steuerorgans auf das zu steuernde Objekt, x Reaktion des zu steuernden Objekts, w Sollwert („Führungsgröße") für x, D Glied, das die Differenz (w — x) bildet.

das ö f f n e n von Türen und Fenstern im Aufstellungsraum von II, wechselnde Raumtemperaturen oder auch Schwankungen der elektrischen Heizspannung sein. Bezeichnen wir derartige Störeinflüsse mit den Symbolen z 1; z2 ..., so wäre also unser Schema im vorliegenden Falle so zu ergänzen, wie in Abbildung l c dargestellt. Analoge Störeinflüsse sind, wie bereits bemerkt, tatsächlich bei allen technischen Steuerungs- oder Regelungseinrichtungen, wie einfach oder wie kompliziert sie auch aufgebaut sein mögen, immer wirksam. Zuweilen setzt man den Einfluß einer Störgröße z auch dadurch herab, daß man sie mißt und ein ihr proportionales Signal z' zusätzlich auf den Regelvorgang wirken läßt („StörgrößenaufSchaltung" Abb. ld). Entsprechend dem schon gesagten wollen wir also im folgenden unter einem „allgemeinen kybernetischen System" ein System aus einer beliebigen, aber endlichen Anzahl diskreter Elemente („Blocks") verstehen, die untereinander und mit der Außenwelt eine beliebige endliche Zahl diskreter Wirkungen („Signale") austauschen, und unter „Kybernetik" die Wissenschaft vom Verhalten solcher Systeme. Dabei soll auch die Möglichkeit ausdrücklich eingeschlossen sein, daß die „Blocks" des Systems durch die sie treffenden „Signale" Strukturänderungen erleiden, die ihre Reaktion auf später eintreffende Signale verändern können. Mit voller Absicht ist indessen in der vorliegenden Definition jeder Bezug auf die Begriffe des „Lenkens", „Steuerns" oder „Regeins" unterlassen worden, obgleich gerade diese Begriffe, wie wir gesehen haben, bei der ursprünglichen Auf15

gabenstellung der kybernetischen Wissenschaft einmal eine entscheidende Rolle gespielt haben. Tatsächlich werden wohl alle von uns später zu behandelnden kybernetischen Systeme differenzbildende Glieder enthalten und in Analogie zum einfachen Regelkreis in ihrer Wirkungsweise darauf abgestellt sein, die auftretenden Differenzen möglichst klein zu machen. Vor allem wird dies regelmäßig in stabilen Systemen der Fall sein, die sich auch nach großen Störeinwirkungen auf die Dauer nicht allzusehr von gewissen mittleren Gleichgewichtszuständen entfernen. Wir wollen indessen auch instabile Systeme nicht von vornherein aus der Betrachtung ausschließen und überhaupt von Anfang an alle Einschränkungen vermeiden, die nicht unbedingt nötig sind. Eine Einschränkung ist allerdings als wesentlich zu betrachten: die Endlichkeit der Zahl der „Blocks" wie auch der zwischen ihnen und der Außenwelt ausgetauschten Signale. Würden wir ein unbeschränktes Anwachsen der Blockzahl zulassen, so würde unsere Definition bei gleichzeitiger unbeschränkter Verringerung der Blockgröße im Grenzübergang auch das physikalische „Feld" mit umfassen, was wir vermeiden wollen. Im übrigen liegt ein weiterer grundlegender Unterschied unseres Systembegriffs zum Feldbegriff darin, daß räumlich beliebig weit voneinander entfernte Blocks unmittelbar aufeinander einwirken können ohne Vermittlung zwischen ihnen liegender anderer Blockeinheiten, während im physikalischen Feld bekanntlich das sogenannte „Nahewirkungsprinzip" gilt. Aber auch wenn wir den Gesetzen des „Feldes" gehorchende Erscheinungen ausschließen, wird der kybernetischen Wissenschaft durch unsere Definition ein außerordentlich weites Anwendungsgebiet zugewiesen, weiter als ihr Begründer ins Auge gefaßt hatte. Dies wird den Untersuchungen, die wir uns vorgenommen haben, zugute kommen. Nun zur Philosophie! Wollen wir ihr Wesen recht verstehen, so müssen wir uns vor allem klarmachen, daß sie nie eine rein akademische Angelegenheit war und nie ohne weitergehende Absicht lediglich im Interesse der reinen Wahrheitsfindung betrieben worden ist. Vor allem ist die modernste Form der materialistischen Philosophie, der dialektische Materialismus, von vornherein als ein Element des Klassenkampfes, nämlich als die Weltanschauung der proletarischen Revolution konzipiert worden, und deswegen wird der Kampf zwischen ihm und seinen Gegnern auch mit ganz besonderer Schärfe geführt: geht es in diesem Kampf doch letzten Endes um die Änderung der ungerechten Verteilung von Besitz und Macht in einem großen Teil der heutigen Welt. Kein Land, das überhaupt an der modernen Kultur teilhat, kann sich aus ihm heraushalten. E r spielt eine ausschlaggebende Rolle in der Innen- wie Außenpolitik der Staaten, und wird in gleicher Weise auch in der Brust jedes Einzelnen ausgefochten, der sich doch kaum der Notwendigkeit entziehen kann, in der einen oder anderen Art Partei zu nehmen. Auch unsere Vorlesung kann hier nicht neutral bleiben. Sie will auf ihre besondere Weise, durch Überlegungen, die von der technischen Kybernetik und den Naturwissenschaften ausgehen, ganz bestimmte Argumente für die doch nun einmal notwendige weltanschauliche Entscheidung liefern. 16

Wissenschaftlich gesehen besteht die Aufgabe der Philosophie in der Begründung einer zusammenhängenden Auffassung des Weltganzen und der Stellung des Menschen darin, insbesondere in der Behandlung der allgemeinsten, „weltanschaulichen" Probleme des Verhältnisses des Menschen zu seiner natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelt. Zu diesen Problemen gehören auch die uns in unserer Vorlesung besonders interessierenden Ideale des „Wahren", „Guten" und „Schönen", die von alters her jeweils als Richtschnur für alles Erkennen, insbesondere die Wissenschaft, für das praktische Handeln und schließlich für die Kunst gelten und von der Philosophie in ihren besonderen Sparten der Erkenntnistheorie, der Ethik und der Ästhetik behandelt werden. Unsere Vorlesung wird, um den damit zusammenhängenden Fragen näher zu kommen, ebenfalls einer entsprechenden Einteilung folgen müssen, wenngleich Wir uns von Anfang an darüber Rechenschaft geben wollen, daß sich die drei Ideale, genaugenommen, nicht trennen lassen: Auch wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit bedeuten ja eine Form des Handelns, die sogar weitreichende praktische Folgen haben kann und infolgedessen notwendig stets auch unter ethischen Gesichtspunkten zu beurteilen ist. Wenn die bisherigen Aussagen der Philosophen zu den genannten Problemen tatsächlich außerordentlich vielfältig und teilweise einander ganz entgegengesetzt sind, so hat das nach dem schon Gesagten gewiß nicht immer nur rein wissenschaftliche Gründe. Doch läßt sich eine gewisse Ordnung in die Vielfalt bringen, wenn man die einzelnen Systeme daraufhin analysiert, inwieweit sie Elemente zweier Grundrichtungen des philosophischen Denkens aufweisen: des materialistischen und des idealistischen, und ob die Art ihres Herangehens an die Probleme dialektisch oder undialektisch-metaphysisch ist. Beide Unterscheidungsmerkmale fallen nicht zusammen: So hat der dialektische Materialismus M A R X ' und E N G E L S ' gewisse Ansätze aus der älteren idealistischen Dialektik H E G E L S weiterverarbeitet und zu Folgerungen geführt, die allerdings den Absichten ihres ersten Urhebers ganz und gar zuwiderliefen. Wir kommen darauf noch einmal zurück. Was ist eigentlich „Dialektik"? Streng genommen handelt es sich um zwei Bedeutungen des Wortes, die nebeneinander herlaufen: Zunächst bezeichnet man mit „Dialektik" eine Methode der Untersuchung, bei der jeder Gegenstand nicht nur einseitig, sondern von verschiedenen Seiten und in seinem Zusammenhang mit anderen Erscheinungen betrachtet wird. Dabei wird insbesondere den stets vorhandenen gegensätzlichen Zügen, die der Gegenstand in sich vereint, und dem zeitlichen Ubergang von einem Zustand zu einem anderen, in gewisser Hinsicht entgegengesetzten, Beachtung geschenkt. Außerdem wird oft die durch die genannte Methode der Untersuchung aufzudeckende allgemeine Eigenschaft der Realität, der überall vorhandene Zusammenhang von Gegensätzlichem und der Übergang zwischen gegensätzlichen Zuständen ebenfalls als die „Dialektik" des entsprechenden Teils der Realität bezeichnet. So spricht man z. B. von der „Dialektik der Natur" oder der „Dialektik der Gesellschaft". Was die dialektische Methode anbelangt, so ist sie in der Naturwissenschaft längst die unbestritten alleinherrschende geworden und so selbstverständlich, daß 2

Pfeiffer

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sich hier kaum ein Wort darüber zu verlieren lohnt. Anders dagegen in der Philosophie ! Da, wo man idealistischen Anschauungen huldigt, kann von einem Vorherrschen dialektischen Denkens keineswegs die Rede sein, und der sich dann sehr oft ergebende Zwiespalt zwischen naturwissenschaftlicher und philosophischer Denkweise ist auch eine der Formen, in denen sich die oft beklagte Zerrissenheit des modernen Geisteszustands äußert. Auch auf diese Zerrissenheit werden wir noch zurückkommen. Sie hat freilich ihre tieferen Gründe in dem schon erwähnten krisenhaften Stand der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung in unseren Tagen. Wir wenden uns nun dem Begriff der Materie zu, von der ja der Materialismus seinen Namen hat! Er ist nicht von vornherein eindeutig und hat im Laufe der Zeit verschiedene Wandlungen durchgemacht. Im modernen dialektischen Materialismus bezeichnet dieser Begriff einfach den dem Bewußtsein gegenüberstehenden „objektiven" Teil der Realität und nicht nur spezielle ihrer Erscheinungsformen wie etwa die massebehafteten oder nichtmassebehafteten Elementarteile der Physik oder andere Einzelobjekte der Naturwissenschaft. 1 ) Es ist das erkenntnistheoretische Hauptkennzeichen des philosophischen Materialismus, daß er vom Vorhandensein dieser Realität überzeugt ist und ebenso davon, daß sie gegenüber dem Bewußtsein „primär" ist, d. h. unabhängig vom Bewußtsein existiert und auch zeitlich vor ihm, also vor dem Auftreten bewuß.tseinsbegabter Wesen vorhanden war. Eine Abhängigkeit der objektiven Realität vom Bewußtsein ist danach nur über eine (gewollte oder ungewollte) materielle Einwirkung denkbar, die von dem (selbst der materiellen Realität angehörigen) Träger des Bewußtseins ausgeht. Im Gegensatz dazu hält die idealistische Auffassung das Bewußtsein für primär, indem sie behauptet, daß die materielle Welt entweder vom menschlichen Bewußtsein abhängig oder sogar von ihm erzeugt sei — und zwar schon ohne spezielle materielle Einwirkung — („subjektiver" Idealismus), oder daß eine Abhängigkeit der materiellen Welt von einem objektiven Geistigen bestünde („objektiver" Idealismus). Meist wird dieses „Geistige" auch in undialektischer Weise als ewig unveränderliches „wahres Sein", „Gott", „Urgrund" oder ähnliche „metaphysische" Gegebenheit definiert und in unmittelbare Beziehung zu den dann ebenfalls als unveränderlich betrachteten drei Idealen des „Wahren", „Guten" und „Schönen" gebracht. Mit dem eben erläuterten Grundgegensatz zwischen Idealismus und Materialismus hängt noch ein weiterer Unterschied in den Anschauungen des Marxismus und seiner Gegner zusammen, der für uns besonders bedeutungsvoll ist. Er betrifft den Wert und die Reichweite wissenschaftlicher Betätigung überhaupt. Der dialektische Materialismus geht von der Uberzeugung aus, daß es kein allgemeines Problem gibt, das nicht grundsätzlich wissenschaftlicher Behandlung und Klärung zugänglich wäre, wenn er auch ebenso überzeugt ist, daß keine solche Klärung bis zu einem Ende geführt werden kann, das keinerlei weitere Fragen mehr Dementsprechend hat auch der Begriff der „Bewegung" der Materie in diesem Zusammenhang seine ursprüngliche enge, rein mechanische Bedeutung eingebüßt und meint nun jede Art von (kontinuierlicher oder sprunghafter) zeitlicher Veränderung.

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offen läßt. Dies gilt auch für die Lehre des wissenschaftlichen Marxismus selber. W. I. Lenin hat dazu gesagt [1]: „Wenn wir uns auf dem Wege der marxistischen Theorie fortbewegen, werden wir uns der objektiven Wahrheit immer mehr nähern (ohne sie jemals zu erschöpfen)" und weiter: „auf jedem anderen Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Unwahrheit." Es mag da freilich die Frage auftauchen, woran eigentlich zu erkennen sein soll, ob der Weg, auf dem man fortschreitet — das wird ja vorausgesetzt — der richtige oder der falsche ist? Doch auch diese Frage findet ihre Antwort: Hierüber entscheidet die praktische Bewährung der erlangten Resultate, das „Kriterium der Praxis", das in der marxistischen Theorie eine entscheidende Rolle spielt. Nicht gerade wenige Gegner des Marxismus vertreten dagegen die Meinung, daß es gewisse Problemgebiete gibt, die rationaler Einsicht und damit wissenschaftlicher Betätigung von vornherein entzogen sind, auf denen also so eine Art wissenschaftliches „Tabu" liegt. Den Anhängern einer solchen Meinung bleibt grundsätzlich nur eine Alternative: Entweder man verzichtet auf jede Aussage über die fraglichen Gegenstände — rechnet man zu ihnen die uns interessierenden drei Ideale, so ist das nicht seltene Ergebnis ein erkenntnistheoretischer Pessimismus, moralischer Zynismus und ästhetischer Primitivismus — oder aber, man kommt zum „Glauben", d. h. zur Annahme von Unbewiesenem oder gar Absurdem. Wie weit eine solche Geisteshaltung getrieben werden kann, beweist uns der alte Kirchenlehrer Tertullian, dessen denkwürdige Formulierung: „Ich glaube, weil es absurd ist", Berühmtheit erlangt hat. Im Gegensatz zum „Glauben" als dem Überzeugtsein von (wirklich vorliegenden oder auch nur eingebildeten) Sachverhalten, für die keine Beweise vorliegen, verstehen wir unter „Wissen" die auf Beweisen beruhende Kenntnis von wirklich Gegebenem. Die Wurzel des Glaubens ist oft emotionaler Natur, meist wohl nach dem Sprichwort: Was man wünscht, das glaubt man gern — manchmal läßt einen aber auch die Furcht manches annehmen, was keineswegs wünschenswert sein kann. Wir werden uns bald davon überzeugen, daß der Mensch gar nicht anders kann als zu glauben, auch wenn keine besonders starken Emotionen ihn dazu bringen, und daß eine absolut scharfe Grenze zwischen Wissen und Glauben gar nicht gezogen werden kann. So sind, wie wir erkennen werden, Elemente des „Glaubens" in dem eben definierten Sinne in jedem Denkakt, ja sogar schon in der primitivsten sinnlichen Wahrnehmung enthalten, was freilich nicht ausschließt, daß der Fortschritt der menschlichen Kultur immer mehr bis dahin Geglaubtes durch (damit je nachdem in Übereinstimmung oder Gegensatz stehendes) Wissen ersetzt, und zwar ohne daß diesem Fortschreiten des Wissens eine bestimmte Grenze gesetzt wäre, in Übereinstimmung mit der Ansicht des dialektischen Materialismus in dieser Frage. Zwei Grundsätze sollten indessen doch wohl für alles Glauben gelten: Erstens soll man sich zumindest in wichtigen Fragen nicht mit glauben begnügen, wo man auch wissen kann. Zweitens darf das Geglaubte nie in Widerspruch zu besserem 2*

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Wissen stehen. Leider ist die Nichtbefolgung dieser Grundsätze kein Vorrecht T E R T U L L I A N S geblieben, sondern auch heute noch überaus weit verbreitet: Wir werden sehen, daß es insbesondere keine Religion gibt, die nicht bezüglich wesentlicher ihrer Dogmen eben den Verstoß gegen die genannten Grundsätze von ihren Anhängern verlangte. Betrachtet man die historische Entwicklung der menschlichen Kultur, so lassen sich wohl drei Etappen im Verhältnis von Wissen und Glauben unterscheiden. Die erste ist dadurch gekennzeichnet, daß die herrschende Religion alles Gewußte und Geglaubte scheinbar widerspruchslos in sich vereinigt. Dabei ist der Priester gleichzeitig auch Arzt, Astronom und Ratgeber in allen wichtigen Fragen, so der Jagd, der Fischerei, der Landbestellung und bei der Entscheidung über Krieg und Frieden. Die alten Hochkulturen geben uns hierfür anschauliche Beispiele, doch gibt es zweifellos auch heute noch z. B. im zentralen Südamerika Stämme, deren Kultur sich in diesem urtümlichen Stadium befindet. Gewiß überwiegt da die Menge des nur Geglaubten und nur zu oft mit Irrtum Behafteten weit die des wirklich Gewußten. In der zweiten Etappe ergibt sich eine gewisse Trennung des Wissens vom Glauben durch das Auftreten unabhängigen Denkens in der Philosophie, die dabei die Rolle einer Gesamtwissenschaft spielt und nun mit ihren Aussagen nur zu leicht in Konflikt mit der herrschenden Religion gerät. Das klassische Beispiel dafür ist der Prozeß gegen S O K R A T E S , der wegen seiner Lehren verurteilt wurde, den Schierlingsbecher zu trinken. Unter anderem wurde ihm auch vorgeworfen, er habe behauptet, daß Sonne und Mond keine Götter, sondern nur Steine seien. Die letzte Etappe, inmitten derer wir uns heute noch befinden, ist durch den Zerfall der philosophischen Gesamtwissenschaft in Einzelwissenschaften gekennzeichnet. Geblieben ist aber der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion, so sehr sich beide inzwischen gewandelt haben. Auch das Mittel des Strafprozesses ist dabei nicht in Vergessenheit geraten. Seit dem Beginn der Neuzeit wird es in hohem Maße auch .gegen die Vertreter der Naturwissenschaft angewandt. Ich nenne hier nur die Namen Giordano B R U N O und G A L I L E I . Selbst in unserem Jahrhundert hat noch in Dayton, USA, ein derartiges Verfahren stattgefunden, das unter dem Namen „Affenprozeß" eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Aber auch im kaiserlichen Deutschland stand es damit nicht sehr viel besser. Ich habe als Schüler noch selbst erlebt, daß ein Naturkundelehrer — übrigens ein hervorragender Pädagoge — wenn auch nicht vor Gericht gestellt, so doch auf gemeinsames Betreiben der zuständigen Pfarrer der beiden christlichen Kirchen und des Rabbi als des Religionslehrers der Israeliten strafversetzt wurde, weil er im Unterricht die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich erwähnt hatte. Die heutige Einstellung speziell der katholischen Kirche gegenüber der Wissenschaft ist recht klar in einer Botschaft des Papstes Paul VI. an einen internationalen Kongreß niedergelegt, der vor wenigen Jahren von der päpstlichen Akademie in Rom veranstaltet wurde und dem Thema „Gehirn und bewußte Erfahrung" gewidmet war [2], Da heißt es zunächst, daß die Kirche den Fortschritt der Wissenschaft „nicht fürchtet". Dann wird von einer durch die Komplexität der zu lösen20

den Probleme hervorgerufenen Unsicherheit der modernen Wissenschaft bezüglich ihres weiteren Weges gesprochen, die das anfängliche Selbstvertrauen abgelöst habe, und eine solche' Entwicklung wird ausdrücklich als für die Kirche erfreulich bezeichnet, weil sie die Rückkehr der ungläubig gewordenen Wissenschaftler zu den Mysterien des Glaubens befördere. In Wirklichkeit liegen die Dinge freilich gerade umgekehrt. Die Unsicherheit, von der die päpstliche Botschaft spricht, kann doch nur da auftauchen, wo man sich eben noch nicht ganz von metaphysisch-religiösen Anschauungen frei gemacht hat, die mit den eigentlichen Tendenzen der Wissenschaft in Widerspruch stehen und sie hindern, gewissen wichtigen Problemen auf den Grund zu gehen. 2. Vorlesung Derselbe Gegensatz wie zwischen Naturwissenschaft und Religion (nicht nur der christlichen) besteht, wie wir bald einsehen werden, auch zwischen den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft oder naheliegenden Folgerungen, zu denen sie führt, und jeder Art von idealistischer Philosophie, so sehr man sich auch bemüht, diese Tatsache zu leugnen, und so viel Geist an manchen Stellen auch darauf verwandt wird, diesen Gegensatz zu verwischen und in eine Ubereinstimmung zu verwandeln. Tatsächlich arbeiten alle solche Versuche damit, daß sie wichtige wissenschaftliche Teilerkenntnisse zugunsten anderer einfach ignorieren oder Verschiebungen von Begriffsinhalten vornehmen oder beide Wege zugleich beschreiten. Wir werden dafür noch einige Beispiele kennen lernen und im Augenblick nur ein besonders häufig herangezogenes kurz behandeln. E s betrifft die angebliche Stützung des subjektiven Idealismus durch die Quantenphysik. Im allgemeinen wird da so argumentiert, daß es der Physiker doch in der Hand habe, die Elementarteile der Materie nach seinem Belieben entweder in Korpuskel- oder in Wellengestalt erscheinen zu lassen, so daß ihre Existenz in der einen oder anderen Form also gar nicht objektiv gegeben sei, sondern grundsätzlich von der Subjektivität des Forschers abhänge. Hier wird zunächst ein wichtiges Teilmerkmal der vom Idealismus behaupteten Subjektabhängigkeit der Naturerscheinungen unterschlagen, jenes nämlich, das das Vorhandensein dieser Abhängigkeit auch ohne materielle Einwirkung des Subjekts behauptet: Diese Einwirkung liegt im Labor des Physikers aber stets vor, so daß es sich also zweifellos überhaupt nicht um die vom Idealismus angenommene Art der Abhängigkeit handelt. Ferner wird die Tatsache ignoriert, daß z. B . das Licht sogar auch ohne jede Einwirkung des Menschen zuweilen in Korpuskelgestalt, zuweilen in Wellengestalt erscheint — nämlich immer dann, wenn sich die entsprechenden Bedingungen schon in der Natur vorfinden. So ist der Regenbogen ebenso Zeuge für die objektive Wellennatur des Lichts, wie das Nordlicht für seine ebenso objektiven Korpuskeleigenschaften. Wir kommen auch darauf noch einmal zurück. Dagegen besteht grundsätzlich voller Einklang zwischen der dialektisch-materialistischen Theorie und den Naturwissenschaften, wie überhaupt allen Einzelwissenschaften. Das will auch gerade unsere Vorlesung 21

den Probleme hervorgerufenen Unsicherheit der modernen Wissenschaft bezüglich ihres weiteren Weges gesprochen, die das anfängliche Selbstvertrauen abgelöst habe, und eine solche' Entwicklung wird ausdrücklich als für die Kirche erfreulich bezeichnet, weil sie die Rückkehr der ungläubig gewordenen Wissenschaftler zu den Mysterien des Glaubens befördere. In Wirklichkeit liegen die Dinge freilich gerade umgekehrt. Die Unsicherheit, von der die päpstliche Botschaft spricht, kann doch nur da auftauchen, wo man sich eben noch nicht ganz von metaphysisch-religiösen Anschauungen frei gemacht hat, die mit den eigentlichen Tendenzen der Wissenschaft in Widerspruch stehen und sie hindern, gewissen wichtigen Problemen auf den Grund zu gehen. 2. Vorlesung Derselbe Gegensatz wie zwischen Naturwissenschaft und Religion (nicht nur der christlichen) besteht, wie wir bald einsehen werden, auch zwischen den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft oder naheliegenden Folgerungen, zu denen sie führt, und jeder Art von idealistischer Philosophie, so sehr man sich auch bemüht, diese Tatsache zu leugnen, und so viel Geist an manchen Stellen auch darauf verwandt wird, diesen Gegensatz zu verwischen und in eine Ubereinstimmung zu verwandeln. Tatsächlich arbeiten alle solche Versuche damit, daß sie wichtige wissenschaftliche Teilerkenntnisse zugunsten anderer einfach ignorieren oder Verschiebungen von Begriffsinhalten vornehmen oder beide Wege zugleich beschreiten. Wir werden dafür noch einige Beispiele kennen lernen und im Augenblick nur ein besonders häufig herangezogenes kurz behandeln. E s betrifft die angebliche Stützung des subjektiven Idealismus durch die Quantenphysik. Im allgemeinen wird da so argumentiert, daß es der Physiker doch in der Hand habe, die Elementarteile der Materie nach seinem Belieben entweder in Korpuskel- oder in Wellengestalt erscheinen zu lassen, so daß ihre Existenz in der einen oder anderen Form also gar nicht objektiv gegeben sei, sondern grundsätzlich von der Subjektivität des Forschers abhänge. Hier wird zunächst ein wichtiges Teilmerkmal der vom Idealismus behaupteten Subjektabhängigkeit der Naturerscheinungen unterschlagen, jenes nämlich, das das Vorhandensein dieser Abhängigkeit auch ohne materielle Einwirkung des Subjekts behauptet: Diese Einwirkung liegt im Labor des Physikers aber stets vor, so daß es sich also zweifellos überhaupt nicht um die vom Idealismus angenommene Art der Abhängigkeit handelt. Ferner wird die Tatsache ignoriert, daß z. B . das Licht sogar auch ohne jede Einwirkung des Menschen zuweilen in Korpuskelgestalt, zuweilen in Wellengestalt erscheint — nämlich immer dann, wenn sich die entsprechenden Bedingungen schon in der Natur vorfinden. So ist der Regenbogen ebenso Zeuge für die objektive Wellennatur des Lichts, wie das Nordlicht für seine ebenso objektiven Korpuskeleigenschaften. Wir kommen auch darauf noch einmal zurück. Dagegen besteht grundsätzlich voller Einklang zwischen der dialektisch-materialistischen Theorie und den Naturwissenschaften, wie überhaupt allen Einzelwissenschaften. Das will auch gerade unsere Vorlesung 21

demonstrieren 1 ) Sie nimmt als Ausgangspunkt lediglich Erkenntnisse von Einzelwissenschaften, in erster Linie der Kybernetik, aber auch der Neurologie, der Verhaltensforschung, der Psychologie und der Kulturgeschichte, kombiniert mit meist recht einfachen allgemeinen Überlegungen — philosophische Voraussetzungen aber nur insoweit, als sie schon den benutzten Einzelwissenschaften als Arbeitsgrundsätze zugrunde liegen und in ihnen allgemein anerkannt werden, wie z. B. die These, daß in dem jeweiligen Arbeitsgebiet allgemeine Gesetze gelten, die der Forscher bei der nötigen Sorgfalt aus den stets wirksamen Störeinflüssen isolieren kann, wobei der Charakter der Objektivität auch lediglich statistisch nachweisbaren Zusammenhängen zugesprochen werden darf, und sie gelangt auf diese Weise sowohl auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, wie dem der E t h i k und der Lehre von der Kunst stets nur zu Schlüssen, die mit den entsprechenden Thesen des dialektischen Materialismus in voller Übereinstimmung stehen und sie nur noch im einzelnen gewissermaßen illustrieren. Freilich ist vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus auch von vornherein nichts anderes zu erwarten: stellt doch die Gesamtheit der Naturgesetze aus dieser Sicht nichts anderes dar als eben die „Dialektik der Natur" (Friedrich ENGELS), während die Probleme der Erkenntnis, des praktischen Handelns und der Kunst in ihrem eigentlichen Wesen Probleme der menschlichen Gesellschaft sind, deren Dialektik nie in Widerspruch mit der Dialektik der Natur treten kann, vielmehr mit ihr eine höhere Einheit bilden muß. Zum Abschluß unserer einleitenden Betrachtungen noch ein Wort über die besonderen Probleme, die mit der Aufspaltung der ursprünglichen philosophischen Gesamtwissenschaft in Einzelwissenschaften verbunden sind. Selbstverständlich ist diese Aufspaltung nicht nur nützlich, sondern einfach notwendig, und sie muß sogar ständig weitergehen, solange der Fortschritt der Wissenschaft andauert, weil sonst die einzelnen Sparten einen vom Einzelnen nicht mehr beherrschbaren Umfang erhalten würden. Doch bringt die damit verbundene Spezialisierung auch große Nachteile mit sich. Tatsächlich hat sie bereits dazu geführt, daß niemand mehr einen Gesamtüberblick über das Ganze des menschlichen Wissens besitzt und daß eine systematische Ordnung dieses Wissens nur in ganz groben Zügen vorliegt. Die Folge ist einesteils eine unwirtschaftliche Doppelbehandlung analoger Probleme in verschiedenen Fächern, die ohne gegenseitige Kenntnis zustande kommt, andernteils die Tatsache, daß manche Probleme, besonders solche komplexer Art, dabei ohne Bearbeitung bleiben, weil sie den Rahmen jeder Einzelwissenschaft, ja unter Umständen auch den ganzer Gruppen von Einzelwissenschaften zusammengenommen überschreiten. Man könnte das von der GesamtDaß man sich in der Vergangenheit in gewissen Einzelfällen tatsächlich von philosophischer Seite im Namen des Marxismus gegen die Anerkennung gesicherter naturwissenschaftlicher Ergebnisse oder gar einer sie tragenden Einzelwissenschaft als Ganzes gesträubt hat — die anfänglich teilweise recht heftigen Polemiken gegen die Quantenphysik und später die Kybernetik mögen als Beispiele dienen — sind kein Gegenbeweis: Hier handelt es sich stets um Fälle der Nichtbeachtung des vorhin zitierten Leninwortes, also um im Grunde unmarxistische Stellungnahmen.

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heit der Einzelwissenschaften gebotene Bild der Realität also in gewisser Weise mit einem auseinandergenommenen Mosaikbild vergleichen, in dem die Zuordnung der einzelnen Teile zueinander nur unzureichend bekannt ist und zudem ganze Partien fehlen. Was den Einzelwissenschaftler als Person anbelangt, so gerät er in die Gefahr, sich zum sogenannten „gelehrten Idioten" zu entwickeln, der außerhalb seines engeren Faches, dessen Beherrschung bereits seine ganze K r a f t verlangt, eine beschämende Unwissenheit zur Schau trägt. Die in den Einzelwissenschaften unbearbeitet bleibenden Probleme bieten sich freilich der Philosophie als Gegenstände an und werden von ihr, gleich welcher Richtung sie angehört, vielfach auch als solche akzeptiert. Das trifft z. B. für die drei Ideale zu, die uns in unserer Vorlesung besonders beschäftigen sollen. Dabei tritt aber auch für die Philosophie eine nicht geringe Gefahr auf, nämlich die, daß sie in die Rolle einer Einzelwissenschaft wie alle andern und damit in eine Isolierung gedrängt wird, die ihre Ergebnisse für die Außenstehenden unverständlich oder jedenfalls nur schwer zugänglich macht. Vor allem jede Art von idealistischer Philosophie wird dem kaum entgehen können, da ihr doch jede innere Verbindung insbesondere mit den Naturwissenschaften fehlt. Auch der Ausweg, den hier die „Existentialphilosophie" JASPERS' [ 3 ] versucht, kann dabei nicht helfen. Sie will sich zwar den Ergebnissen der Einzelwissenschaften gegenüber nicht verschließen. Andernteils sieht sie ihren eigentlichen Gegenstand in einem „wahren Sein", das überhaupt nicht verstandesmäßig erfaßt, sondern nur „erlebt" werden kann. Wir werden das Zustandekommen eines solchen „Erlebens" noch einmal näher betrachten müssen. Einstweilen wollen wir nur feststellen, daß JASPERS selbst durchaus folgerichtig seiner Philosophie den Charakter einer Wissenschaft überhaupt abspricht, und damit die Kluft zu den Einzelwissenschaften nur noch vergrößert. Dazu kommt, daß, wie die Geschichte der Philosophie zeigt, im Laufe der Zeit immer mehr ursprünglich als Domäne der Philosophie betrachtete Fragen den ständig erstarkenden Einzelwissenschaften zugänglich werden, so daß die Philosophie, ähnlich wie die Religion, zu einer dauernden Zurücknahme ihrer Positionen gezwungen wird — es sei denn, daß sie ihre Aufgabe nicht allein in der Bearbeitung der von den Einzelwissenschaften übriggelassenen Restprobleme sieht, sondern ebenso in der Integration aller von allen Einzelwissenschaften erarbeiteten Einzelerkenntnisse zu einem zusammenhängenden Ganzen. Diese Aufgabe muß ja unbedingt gelöst werden, wenn das Bild des Weltganzen, das die Philosophie bieten will, auch wissenschaftlich fundiert sein soll. Sie kann aber natürlich keiner der Einzelwissenschaften überlassen bleiben, da jede von ihnen sich doch nur mit einer begrenzten Klasse von Eigenschaften beliebiger Gegenstände oder den Gesamteigenschaften — oder auch nur gewissen Teileigenschaften — einer begrenzten Klasse von Gegenständen befaßt, während allein die Philosophie als Erbin der ehemaligen Gesamtwissenschaft von jeder gegenständlichen Beschränkung dieser Art frei ist. Freilich kann die genannte Aufgabe zufriedenstellend nur von einer Philosophie gelöst werden, die an keinem Punkte mit den Ergebnissen, die sie zusammenfassen soll, kollidiert, sondern sich im Gegenteil 23

methodisch und inhaltlich mit allen Einzelwissenschaften und vor allem den Naturwissenschaften in innerer Übereinstimmung befindet — und diese Forderung erfüllt eben nur der dialektische Materialismus. Man muß sich natürlich im klaren darüber sein, daß die Arbeit der Integration, solange der Fortschritt der Einzelwissenschaften andauert, nie zu einem Ende gebracht werden wird. Doch ist dies, wie wir schon gesehen haben, kein Argument gegen den Sinn dieser wie jeder wissenschaftlichen Bemühung. Sie wird auch dadurch erleichtert, daß schon innerhalb der Einzelwissenschaften selber ein zunehmender Zwang zum Zusammenschluß benachbarter Disziplinen spürbar wird, ausgelöst durch den komplexen Charakter mancher ihrer Probleme, die sich bereits dem Zugriff des beschränkten einzelwissenschaftlichen Denkens zu entziehen beginnen. Dazu kommt, daß, wie wir schon angedeutet haben, keine Einzelwissenschaft ohne gewisse sehr allgemeine Grundsätze ihrer Arbeit auskommt, die eigentlich philosophischer Art sind. Eine solche, meist nicht explizit, aber implizit vorausgesetzte Grundthese, nämlich die der Nachweisbarkeit von im jeweiligen Arbeitsbereich objektiv gültigen allgemeinen Gesetzen, haben wir bereits erwähnt. Bei dieser Sachlage ist die direkte Konfrontation mit der Philosophie eigentlich nur eine Frage dessen, wie weit die betreffende Disziplin die ja ohnehin unentbehrliche kritische Betrachtung der eigenen Arbeitsmethoden treibt. Werden aber philosophische Grundsätze von außen in eine Einzelwissenschaft hineingetragen, so kann daraus sowohl eine Förderung wie eine Hemmung hervorgehen — letztere dann, wenn die von außen kommenden Grundsätze mit den implizit vorausgesetzten in Widerspruch stehen. Da die impliziten Voraussetzungen speziell in den Naturwissenschaften regelmäßig materialistischer und sogar dialektisch-materialistischer Art sind, tritt dieser Fall hier notwendig ein, wenn eine Auseinandersetzung mit idealistisch-philosophischen Anschauungen versucht wird. In solchen Fällen ist ein Lösungsversuch typisch, der gleichzeitig die Unentbehrlichkeit der materialistischen Grundanschauungen beweist: man gibt die entsprechenden Grundsätze nicht auf, aber man erklärt sie, um das philosophische „Gesicht" nicht zu verlieren, einfach zu einer Art von „Arbeitshypothese", der keine tiefere Bedeutung zukomme. Ein derartiges Dilemma kann nach allem, was wir bereits über die wissenschaftliche Grundposition der Philosophie des dialektischen Materialismus gesagt haben, bei der einzelwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr offenbar von vornherein nicht auftreten — im Gegenteil wird stets nur eine Befruchtung zu erwarten sein, und sei es auch nur durch die Beseitigung der bei andersartiger Orientierung unvermeidlichen Hemmnisse für den Fortschritt des Denkens. Indessen ist die folgerichtige Auseinandersetzung jeder Einzelwissenschaft mit ihren philosophischen Grundlagen und der nur von Fall zu Fall erfolgende Zusammenschluß mit Nachbardisziplinen selbstverständlich allein nicht ausreichend, um die Trennung der eben im Großen und Ganzen immer noch isoliert voneinander arbeitenden Einzelwissenschaften wirklich zu überwinden. Soll diese Tren24

nung nicht nur an einzelnen Punkten aufgehoben werden, so wäre dazu vor allem die endgültige Überbrückung des „Risses" notwendig, der sich im Laufe der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den „Geistes"-1) oder Gesellschaftswissenschaften andererseits gebildet hat und ein ganz besonderes Hindernis dafür darstellt, daß das wissenschaftliche „Mosaikbild" der Realität, von dem wir schon sprachen, seine Einheit zurückgewinnt. Diesem heute vielleicht wichtigsten Teil der Aufgäbe der Integration der Einzelwissenschaften wird auch tatsächlich speziell von Seiten der marxistischen Philosophie und Wissenschaft überhaupt besondere Aufmerksamkeit geschenkt [4], [5], [6]. Wie konnte es überhaupt zu diesem „Riß" kommen? Hier spielt jedenfalls der Eintritt experimenteller Methoden in die Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Als „Experiment" bezeichnen wir bekanntlich jede speziell zum Zwecke der Erlangung von Erkenntnissen erfolgende Herbeiführung äußerer Situationen, in denen wir bisher noch nicht gemachte oder nicht genügend erhärtete Erfahrungen sammeln oder bestätigen können. Für uns ist ein derartiges Vorgehen schon fast selbstverständlich geworden. Als reine Instinkthandlung ist es sogar schon in der Tierwelt heimisch, und zwar in Gestalt der aus der Verhaltensforschung wohlbekannten Methode des „trial and error", die darin besteht, daß das einer neuen Situation ausgesetzte Versuchstier nacheinander alle möglichen Verhaltensweisen durchprobiert, so lange, bis eine von ihnen zum gewünschten Erfolg und damit zur Beherrschung der Situation führt. Um so mehr muß es eigentlich wundernehmen, daß seine bewußte systematische Anwendung als Mittel zur Erlangung wissenschaftlicher Einsichten noch gar nicht sehr alt, nämlich erst eine Errungenschaft der Neuzeit ist. Weder das Mittelalter noch gar die Antike scheinen das wissenschaftliche Experiment gekannt zu haben. Sie sind tatsächlich auch ohne dieses Hilfsmittel auf vielen Gebieten zu beachtlichen, ja genialen wissenschaftlichen Leistungen gelangt, die uns auch heute noch zur Bewunderung zwingen. Die tieferen, natürlich in der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung liegenden Gründe für die langdauernde Enthaltsamkeit auf experimentellem Gebiet aufzuzeigen, dürfte eine interessante Aufgabe sein. Sie braucht uns aber hier nicht zu beschäftigen. Tatsache bleibt, daß der Einbruch experimenteller Methoden in einer großen Anzahl wissenschaftlicher Betätigungsgebiete zu einer wahren Revolution in den bis dahin herrschenden Anschauungen geführt hat — aber vorerst doch nur in einem Teil dieser Gebiete, nicht in allen. Der Grund dafür ist nun leicht anzugeben. Er liegt in einer eigentümlichen Beschränkung für die Benutzung des experimentellen Verfahrens. Es läßt sich nämlich grundsätzlich nur auf „geschlossene" Systeme anwenden, d. h. auf solche, die während der Versuchszeit keinen unkontrollierbaren störenden Einflüssen von außen unterliegen, oder Wir brauchen diesen Ausdruck nur mit Vorbehalt, da er zu oft mit der (wie wir noch sehen werden: nicht vertretbaren) idealistischen Vorstellung der Existenz eines von der materiellen Welt unabhängigen „rein" Geistigen verbunden wird.

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bei denen die etwa vorliegenden unvermeidbaren und unkorrigierbaren Störeinflüsse wenigstens keine ins Gewicht fallende fälschende Wirkung auf das zu erwartende Resultat ausüben können. Tatsächlich besteht das A und O der Experimentierkunst in der Isolierung bestimmter zu suchender Effekte und der Ausschaltung aller Nebeneffekte, die der jeweiligen Problemstellung nicht zugehören. Wo eine solche Isolierung unmöglich bleibt, ist kein Ansatzpunkt für die experimentelle Forschung gegeben. In den entsprechenden Forschungsgebieten — hier handelt es sich im wesentlichen eben um die auf eine sehr lange Tradition zurückblickenden „Geisteswissenschaften" — mußte die Revolution, die wir im Auge haben, ausbleiben, und hierin hat man denn auch, glaube ich, den tiefern, historischen Grund für das Entstehen der oft beklagten Kluft zu sehen, die heute das stärkste Hindernis für die Wiederherstellung einer in sich geschlossenen Einheit alles wissenschaftlichen Bemühens bildet. Aber auch in denjenigen Teilgebieten, in denen das Experiment sehr schnell zur beherrschenden Arbeitsmethode werden konnte, ist die Situation nicht einheitlich, und zwar deswegen, weil die die Grundlage jedes experimentellen Vorgehens bildende Trennung verschiedener Effekte voneinander und die Ausschaltung der diese Trennung verhindernden Störeinflüsse an verschiedenen Stellen doch immer noch recht verschieden großen Schwierigkeiten begegnet. Im Prinzip am leichtesten ist sie regelmäßig in der anorganischen Natur durchzuführen. Davon zeugen eindrucksvoll genug die großen Erfolge der physikalischen und chemischen Wissenschaften in unseren Tagen. Aber auch da gibt es Einzelgebiete, in denen das Tempo des Fortschritts sich nicht so gesteigert hat wie an anderen Stellen. Beispielsweise gilt das für die Meteorologie, und der Grund dafür ist auch klar: das Wetter ist ja geradezu das Muster einer Naturerscheinung, deren Ablauf das Resultat des Zusammenwirkens einer Vielheit verschiedenartigster, darunter auch kosmischer Einflüsse ist, die im Einzelfall bisher nicht exakt getrennt und wenn überhaupt, dann nur in summarischer Weise durch den Einsatz statistischer Methoden erfaßt werden können. Durchweg schwierig und nur an relativ wenigen Stellen ohne weiteres durchführbar ist die Trennung einzelner Effekte im Reich des Lebens. Auch da, wo direkte Eingriffe möglich und die Resultate z. B. mit Hilfe anatomischer, photographischer, chemischer oder elektrischer Methoden exakt fixierbar sind, leidet die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse nur zu oft unter einer Vielfalt von nicht ausschaltbaren Nebeneinflüssen, die dazu noch häufig rein individuell durch die besondere Eigenart des gerade untersuchten Lebewesens bedingt sind, so daß eindeutige Resultate wieder nur durch die Anstellung einer Großzahl von Einzelversuchen und deren statistische Auswertung erzielbar werden. Diese Schwierigkeiten machen sich besonders bemerkbar, sobald es um die Funktion des Nervensystems und seinen Einfluß auf die Funktion der übrigen Organe des Körpers geht, und da, wo höhere psychische Funktionen ins Spiel geraten, entfallen schließlich sogar so gut wie alle Voraussetzungen für die Durchführung auswertbarer Experimente — nicht etwa, weil diese Funktionen von grundsätzlich anderer Art wären als andere Körperfunktionen, sondern einfach wegen 26

der zur Unmöglichkeit gewordenen Ausschaltung aller im Sinne des jeweiligen Experiments störenden Nebeneinflüsse, und weil keine Körperfunktion so weitgehende individuelle Abweichungen von einer angenommenen „Norm" zuläßt, wie die Funktion des Zentralnervensystems. Daher ist es nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß der „Riß", der das Zustandekommen einer in sich geschlossenen Gesamtwissenschaft verhindert, sogar mitten durch die Medizin als im wesentlichen experimentell orientierte Einzelwissenschaft hindurchgeht, besonders fühlbar in den Teilgebieten der Psychotherapie und der Psychiatrie, aber auch in der Tätigkeit jedes praktischen Arztes, der seine Aufgabe ernst nimmt, und ebenso in der allgemeinen Psychologie, auch da, wo sie reine Forschungszwecke verfolgt und keine „Behandlung" von Individuen zum Ziel hat. Speziell die Psychologie leidet seit langem an dem immer noch nicht befriedigend vollzogenen Ausgleich zwischen der experimentellen Richtung, die naturgemäß ihre Erfolge im wesentlichen auf dem Felde der Erforschung elementarer Vorgänge aufzuweisen hat, und der älteren, die mehr an die geisteswissenschaftliche Tradition der „Introspektion", der Selbstbeobachtung, anschließt, aber naturgemäß über alle die Vorgänge psychischer Art gar keine Resultate erbringen kann, die sich der Selbstbeobachtung ein für alle Mal entziehen. Es ist nun schon vielfach bemerkt worden, daß die Kybernetik, obgleich sie zweifellos nur eine Einzelwissenschaft darstellt, bereits einen Teil der Integrationsaufgabe übernommen hat, die wir als eigentlich der Philosophie vorbehalten erkannt haben. Tatsächlich hat die Anwendung kybernetischer Gedankengänge nicht nur innerhalb vieler Einzelwissenschaften die Auffindung neuer Gesetzmäßigkeiten ermöglicht, sondern auch vielfache Verbindungen zwischen Wissenschaften geschaffen, die bis dahin recht entfernt voneinander schienen. So sind die Biologie, die Medizin, aber auch die ökonomischen mit den technischen Wissenschaften eben durch die Kybernetik alle untereinander in teilweise sehr nahe Beziehungen getreten, und es scheint, daß dieser Annäherungsprozeß noch längst nicht zu Ende ist und auch noch andere Einzelwissenschaften ergreifen wird. Der allgemeine Grund dafür liegt gewiß darin, daß die Kybernetik, ähnlich wie die Mathematik, mit der sie ja in recht engem Bunde steht, als „Querschnittswissenschaft" die Untersuchung sehr allgemeiner Eigenschaften zum Ziele hat, die sich eben an einer großen Reihe sonst ganz und gar verschiedener Gegenstände auffinden lassen und ihre Behandlung unter einheitlichen Gesichtspunkten ermöglichen. Für die Überwindung des uns interessierenden besonderen „Risses" ist aber darüber hinaus noch der weitere Umstand von Bedeutung, daß sie nicht selten an experimentell und quantitativ untersuchbaren, relativ einfachen Sachverhalten zu Resultaten führt, die sich zwanglos auch auf Gebiete übertragen lassen, wo das Experiment kaum oder nicht mehr möglich ist und die quantitative Erfassung der Aussagen mehr oder weniger große Schwierigkeiten bereitet. Trotzdem dürfen wir uns nicht darüber täuschen, daß auch die Kybernetik als Einzelwissenschaft ihre Aufmerksamkeit eben doch nur bestimmten Klassen allgemeiner Merkmale zuwendet und dementsprechend auch nicht alle objektiv vorhandenen Beziehungen zwischen den Gegenständen anderer Wissenschaften auf27

zudecken vermag, sondern schließlich nur solche, die sich durch die erfaßten Merkmalsgruppen bezeichnen lassen. Die Kybernetik kann also der Philosophie bei der von uns skizzierten Integrationsaufgabe wohl in erheblichem Maße behilflich sein, aber sie kann weder hier noch bei der Lösung anderer Aufgaben die Philosophie ersetzen. Auch das Vorhaben unserer Vorlesung wäre nicht durchführbar, wenn wir uns auf die Kybernetik allein verlassen wollten. Historisch betrachtet, ist die Kybernetik übrigens keineswegs die einzige Einzelwissenschaft, die im Laufe der Entwicklung auf die Erfüllung philosophischer Aufgaben Einfluß gewinnt. In der Vergangenheit hat z. B . die Mathematik und später die Mechanik eine ähnliche Bedeutung gehabt, und es ist gewiß zu erwarten, daß auch die Kybernetik, wenn sie gegeben haben wird, was sie vermag, von ihrer augenblicklichen Sonderstellung im Reiche der Wissenschaft wieder zurücktreten wird. Außer dem „Riß" zwischen experimentellen und nicht experimentellen Wissenschaften gibt es im modernen Geistesleben noch einen zweiten Gegensatz, der tiefer ins Weltanschauliche reicht und vielleicht die Hauptschuld daran trägt, daß sich die Uneinheitlichkeit des modernen Denkens manchmal geradezu zu einer Art von Bewußtseinsspaltung steigert, zur „Zeitkrankheit" einer freilich nicht im medizinischen Sinne zu verstehenden „Schizophrenie": Es ist der „Riß" zwischen grundsätzlicher Bejahung des Lebens und Lebensverneinung. Auch er hat historische Ursachen und erklärt sich aus dem Gegeneinanderwirken verschiedener kultureller Einflüsse bei der Herausbildung des Ideenschatzes der modernen Menschheit. Spätestens seit dem Beginn der „Renaissance" genannten Kulturepoche, die gleichzeitig den Beginn der „Neuzeit" bezeichnet, läßt sich ein intensiver Einfluß der Geisteswelt der griechisch-römischen Antike auf das Denken der europäischen Völker nachweisen. Es handelt sich hier um eine ausgesprochen weltoffene und zugleich aktive innere Haltung, die übrigens gewiß auch der ursprünglichen, uns freilich nur in Bruchstücken bekannten Weltanschauung der Hauptstämme entspricht, aus deren Vermischung die heutigen Europäer entstanden sind. So gleicht z. B . die griechisch-römische Götterwelt weitgehend der germanischen. Dem gegenüber steht eine im wesentlichen passive Grundeinstellung, die gleichzeitig den Wert des Lebens überhaupt anzweifelt oder direkt verneint. Ihre wohl älteste systematische Ausbildung hat sie bereits im alten Indien erhalten. In unseren Kulturkreis ist sie durch das Christentum hereingetragen worden, das ja in seiner Urform den Unwert des „diesseitigen" Lebens sehr stark betont und ihm eigentlich nur die Aufgabe der würdigen Vorbereitung auf ein nach dem Tode in Aussicht stehendes besseres Leben zuweist. Auch das Prinzip des passiven Verhaltens hat dabei in der Aufforderung, „dem Übel nicht zu widerstehen" und alles Gott zu überlassen, seinen Niederschlag gefunden. Dabei hat das Christentum im Laufe der Jahrhunderte freilich selber wieder viele aktive und durchaus lebensbejahende Züge angenommen. Doch tritt auch der lebensverneinende Grundzug, wie ersieh z. B. im Ideal des Mönchtums bis heute erhalten hat, gelegentlich sogar überkonfessionell wieder sehr stark hervor und 28

vermag dann auch politische Bedeutung zu erhalten: so, wenn in den kapitalistischen Ländern lange Zeit immer wieder versucht worden ist, die Atombombe als eine „Zuchtrute Gottes" für die sündige Menschheit hinzustellen, deren Anwendung man sich nicht widersetzen dürfe. Der Zwiespalt zwischen grundsätzlicher Lebensbejahung und Lebensverneinung geht also sogar mitten durch das Christentum hindurch. In der Weltanschauung des Marxismus ist er freilich überwunden, und zwar zu Gunsten der Bejahung des Lebens in allen seinen positiven Äußerungen. Auch die Überlegungen, die wir anstellen werden, führen zu demselben Resultat. Dagegen kann der philosophische Idealismus das Prinzip der Lebensverneinung durchaus in sich aufnehmen und hat dies in charakteristischen seiner Formen auch getan. Die Annahme eines gewissermaßen über allem Materiellen stehenden Geistigen (subjektiver oder objektiver Art) führt ja nur zu leicht zu einer Abwertung der materiellen Realität. Hand in Hand damit mag dann auch zuweilen eine Überbewertung der „Geistes"-Wissenschaften und die verstärkte Tendenz ihrer Isolierung von den Naturwissenschaften einhergehen, wodurch die beiden von uns behandelten, das moderne Geistesleben spaltenden „Risse" zum praktischen Zusammenfallen kommen.

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II. Erkenntnistheorie 3. Vorlesung Wir haben in der Einleitung unserer Vorlesung die Erkenntnistheorie als diejenige Sparte der Philosophie erwähnt, der die Behandlung des Problems der Wahrheit zufällt. Umfassender wäre sie als die philosophische Lehre von den allgemeinen Gesetzen der Erkenntnis zu definieren, der insbesondere die Untersuchung des Verhältnisses des Inhalts einer Aussage zu ihrem Gegenstand und der Wege zur Erlangung wahrer Aussagen obliegt. Ebenso haben wir schon erwähnt, daß auch in den Fragen der Erkenntnistheorie verschiedene philosophische Systeme zu sehr verschiedenen Aussagen gelangen und auch bereits die erkenntnistheoretischen Grundanschauungen einerseits des philosophischen Idealismus und andererseits des dialektischen Materialismus skizziert. Wir haben festgestellt, daß der letztere an der Existenz einer gegenüber dem Bewußtsein primären, objektiv gegebenen Realität festhält, deren Widerspiegelung im Bewußtsein grundsätzlich unbegrenzt vervollkommnet werden kann, und daß er als alleinigen letzten Prüfstein aller Theorie die Praxis anerkennt. Wir wollen dem hier noch eine Bemerkung anfügen, die für unsere folgenden Untersuchungen von Bedeutung sein wird: Da die den Kulturmenschen umgebende Realität zum großen Teil ein Ergebnis seiner Arbeit, und zwar der kollektiven Arbeit vieler Geschlechter ist, bedeutet die Anerkennung der Widerspiegelungsfunktion des Bewußtseins zugleich die Anerkennung der Abhängigkeit des Bewußtseinsinhaltes von der Arbeit als der gesellschaftlichen Produktion materieller Güter. Wir werden bald sehen, daß diese Abhängigkeit noch viel weiter geht, wodurch die Erkenntnistheorie eigentlich zur Theorie eines sozialen Prozesses wird. Dieser Umstand liegt freilich gänzlich außerhalb des Blickfelds jeder idealistischen Theorie der Erkenntnis. Es kann nun nicht die Aufgabe unserer Vorlesung sein, eine auch nur annähernd vollständige Geschichte der Erkenntnistheorie und insbesondere ihrer idealistischen Richtung zu geben. Doch müssen wir, ehe wir unsere eigenen Überlegungen beginnen, doch wenigstens einige ihrer markantesten und für die folgende Entwicklung wichtigsten Ausprägungen kurz umreißen, schon deswegen, weil gewisse Grundgedanken solcher historischen Systeme auch im Bewußtsein eines großen Teils der heutigen Menschheit noch eine erhebliche Rolle spielen und wir nicht an einer Auseinandersetzung mit ihnen vorbeigehen dürfen. Zunächst haben wir zwei Denker zu nennen, die von besonders großem Einfluß 30

auf ihre Nachfolger gewesen sind: den Franzosen D E S C A R T E S ( C A R T E S I U S ) und den Engländer H U M E . D E S C A R T E S versuchte das logische Verfahren der Mathematik, für deren Fortschritt er sich übrigens unvergängliche Verdienste erworben hat, für die Philosophie nutzbar zu machen. Er forderte von ihr, daß sie nach Art der Geometrie (lateinisch: „more geometrico") von nur ganz wenigen, an sich schon einleuchtenden Axiomen auszugehen habe, um aus ihnen auf rein logisch-deduktivem Wege alle ihre übrigen Aussagen unwiderleglich abzuleiten. Als Ausgangspunkt seiner eigenen Philosophie wählte er den berühmt gewordenen Satz: „cogito, ergo sum", zu deutsch: „Ich denke, also bin ich", der bei oberflächlicher Betrachtung als Schlußfolgerung vielleicht zunächst durchaus einleuchtend erscheinen könnte. Leider erweist er sich bei näherem Zusehen aber nur als ganz gewöhnlicher, zu nichts Neuem führender Zirkelschluß, denn die erst zu erschließende Existenz des Ich ist natürlich in dem Vordersatz: „Ich denke" bereits vorausgesetzt, wenn dies auch in der lateinischen Fassung, die das Personalpronomen unterdrückt, formal nicht hervortritt. Charakteristisch für D E S C A R T E S und auch nicht weniger fehlerhaft ist noch ein zweiter Grundsatz, dem er in seinem Denken folgt. Er läßt sich etwa wie folgt ausdrücken: „Was klar und deutlich erscheint, ist auch wahr." Daß dieser Grundsatz weit davon entfernt ist, allgemein richtig zu sein, mag ein Beispiel aus der Physik zeigen. So läßt etwa die Vorstellung einer den eingenommenen Raum gleichmäßig erfüllenden Materie, der übrigens auch D E S C A R T E S anhängt, gewiß nichts an Klarheit und Deutlichkeit zu wünschen übrig, um so mehr, als sie durch unsere Sinne unmittelbar bestätigt zu werden scheint. Trotzdem ist sie aber falsch, wie wir alle wissen. Bei den eben dargelegten Grundirrtümern der cartesianischen Philosophie liegt offensichtlich eine einseitige Überbewertung des subjektiven Moments im Erkenntnisprozeß zugrunde, die mit der idealistischen Grundeinstellung ihres Autors zusammenhängt. Einen in gewisser Weise entgegengesetzten Standpunkt, der aber in den Folgerungen, zu denen er geführt hat, doch wieder auf ebendieselbe Überbewertung hinausläuft, nimmt David H U M E ein. Dem Rationalismus D E S C A R T E S ' , der alles auf die „ratio", den analysierenden Verstand gründet, stellt er den extremen, sich nur auf die „Empirie", die Erfahrung stützenden Empirismus entgegen. Das einzig Verläßliche sind nach ihm die Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen („impressions"), alles übrige bezeichnet er als bloße Vorstellungen („ideas"). Insbesondere ist das „Ich" des D E S C A R T E S für H U M E nur „ein Bündel von Vorstellungen". Charakteristisch für den Gegensatz zwischen beiden ist auch ihre Einstellung zum Kausalitätsgesetz. Für D E S C A R T E S besteht kein Zweifel daran, daß es wirklich gilt, einfach deswegen, weil es eine klare und deutliche Konzeption bedeutet. Dagegen gehört die Kausalität in den Augen H U M E S selbstverständlich zu den bloßen „Vorstellungen". -So, wie wir die Aufgabe der Philosophie als der allgemeinsten aller Wissenschaften festgelegt haben, kann für uns natürlich kein Zweifel daran bestehen, daß sie bei 31

der Lösung dieser ihrer Aufgabe grundsätzlich keine andere Methode anwenden kann als die Einzelwissenschaften, deren Ergebnisse sie zu koordinieren und zu ergänzen berufen ist, nämlich eine kombinierte induktiv-deduktive Methode. Insbesondere die Naturwissenschaften gehen ja stets von Einzelerfahrungen aus, von denen sie induktiv zu allgemeinen Aussagen aufsteigen, um darauf logischdeduktiv vom Allgemeinen ins Besondere zurückzufinden — sei es, um zu nützlichen Anwendungen z. B. in der industriellen Praxis zu kommen, sei es, um die Richtigkeit der allgemeinen Erkenntnisse immer wieder von neuem zu prüfen. Wir können wohl gar nicht anders, als die — im Experiment oder der praktischen Anwendung gewonnene — Erfahrung in dieser Weise sowohl als eigentlichen Ausgangspunkt wie als letzten Prüfstein aller wissenschaftlichen Erkenntnis anzuerkennen. Das ist sogar für die Mathematik richtig, deren Wesen D E S C A R T E S zweifellos ganz und gar verkannt hat. Schon rein historisch betrachtet leiten sich ihre Grundkonzeptionen regelmäßig aus der Erfahrung und den Bedürfnissen des praktischen Lebens ab: so die Geometrie, wie schon ihr Name sagt, der ja einfach „Landvermessung" bedeutet, aus den Erfordernissen der Landwirtschaft, während das Zahlenrechnen als die Grundlage der Algebra gewiß schon vor dem Seßhaftwerden der Ackerbauer zu den ersten geistigen Errungenschaften der Jäger, Sammler, Viehzüchter und Händler gehört hat, die schon sehr früh das Bedürfnis nach einem Maße für verschiedene Mengen jeweils gleichartiger Objekte fühlen mußten. Auch daß die Mathematik mit Gebilden und Regeln zu arbeiten vermag, die keine unmittelbare Entsprechung in der Wirklichkeit besitzen, ist kein Gegenbeweis gegen den grundsätzlichen Erfahrungscharakter der mathematischen Wissenschaft. Sicher sind die Möglichkeiten der mathematischen Begriffsbildung letzten Endes nur durch die Möglichkeiten unseres Verstandes, nicht durch die tatsächliche Struktur der uns umgebenden Wirklichkeit begrenzt. Indessen ist die Struktur unseres Verstandes im Laufe der Entwicklung der Art „homo sapiens" natürlich ständig im Sinne einer immer besseren Anpassung an die Struktur der äußeren Welt vervollkommnet worden, die der Verstand ja möglichst umfassend begreifen mußte, um seiner eigentlichen Aufgabe gerecht zu werden. Seine heutige Ausbildung ist also in gewisser Weise nur die Frucht der Erfahrungen unserer früh- und vormenschlichen Ahnen. Da aber schon die natürliche Umwelt ständig Veränderungen unterliegt, die nicht im einzelnen voraussehbar sind, war zur Lösung der gestellten Aufgaben stets eine gewisse über das jeweilige Augenblicksbedürfnis hinausgehende Universalität des aufzubauenden Erkenntnisapparats erforderlich. Wir wissen alle, in wie hohem Grade diese Universalität tatsächlich erreicht worden ist. Zweifellos ist die Fähigkeit unseres Denkvermögens, sich speziell in der mathematischen Begriffsbildung weitgehend unabhängig von der erfahrungsmäßig belegbaren Struktur der materiellen Wirklichkeit zu machen, eine der Folgen dieser Universalität. In diesem Zusammenhang erscheint es aber auch keineswegs als Zufall, wenn immer wieder in der Geschichte der Naturwissenschaften mathematische Konstruktionen, die zunächst nur ein müßiges „Spiel" der Phantasie zu sein schienen, sich nachträglich zur durchaus adäquaten 32

Beschreibung von Naturvorgängen brauchbar gezeigt haben. Das bekannteste, aber keineswegs einzige Beispiel hierfür ist wohl die RiEMANNSche Geometrie der gekrümmten Räume mit ihrer Anwendung in der allgemeinen Relativitätstheorie. Als weiteres, ebenso eindrucksvolles Beispiel mag die Eignung der komplexen Zahlen und der mit ihrer Hilfe aufgebauten Funktionentheorie zur Beschreibung elektrischer Wechselstromvorgänge sowie gewisser grundlegender Erscheinungen in kybernetischen Systemen genannt werden. Derartige Erfahrungen enthalten gewiß einen doppelten Hinweis: einmal auf die außerordentliche Universalität der strukturellen Grundprinzipien des Aufbaus der materiellen Welt und der sie beherrschenden Naturgesetze, und zum anderen auf die hervorragende Anpassung der Struktur unseres Erkenntnisapparates an diese universellen Prinzipien. Nun noch einmal zurück zu H U M E : Seine Grundgedanken haben ihre größte Wirkung auf die Nachwelt eigentlich erst durch das Werk Immanuel K A N T S erreicht, der sie mit größter Kühnheit weitergeführt hat. Leider unterläuft ihm dabei, wie schon seinem Vorgänger D E S C A B T E S , wieder ein folgenschwerer Zirkelschluß. Seine Argumentation ist sehr einfach: Weil alles, so wie wir es erkennen, notwendigerweise den doch rein subjektiv vorgegebenen Formen unseres Denkens und unserer Anschauung entsprechen muß — sonst könnte es unserer Erkenntnis ja gar nicht zugänglich werden — kann es unmöglich mit den Dingen, wie sie an sich beschaffen sind, übereinstimmen. Demnach erklärt K A N T — ebenso wie H U M E — nicht nur z. B. die Kausalität als eine den Dingen an sich fremde, lediglich durch die notwendigen Formen unseres Denkens bedingte subjektive Vorstellung, sondern er billigt im Gegensatz zu HXJME auch den unmittelbaren Empfindungen und Wahrnehmungen nur einen ähnlich subjektiven Charakter zu, schon allein deswegen, weil sie uns doch stets nur in Raum und Zeit begegnen können. Diese beiden Begriffe bedeuten nach K A N T eben auch nur rein subjektive Formen der Anschauung, die „a priori", d. h. von vornherein, vor aller Erfahrung, fest gegeben sind und den Dingen an sich nicht gemäß sein können. Natürlich hat K A N T recht, wenn er meint, daß alles, was wir wahrnehmen und erkennen, den vorgegebenen Möglichkeiten unseres Wahrnehmungs- und Denkapparates entsprechen muß. Aber warum sollen eigentlich diese Möglichkeiten den objektiven Notwendigkeiten des richtigen Erkennens der „Dinge an sich" nicht wenigstens ebenso gut angepaßt sein, wie z. B. die Möglichkeiten unseres Magenund Darmtraktes zur Verdauung der Nahrung den objektiven Anforderungen dieser Aufgabe? Offenbar hat K A N T , was das Erkennen betrifft, die Unmöglichkeit einer solchen Anpassung und damit das doch erst zu Erschließende in seiner oben wiedergegebenen Argumentation schon stillschweigend vorausgesetzt und ihr damit natürlich auch jede logische Beweiskraft genommen [16]. Man mag zu K A N T S Entschuldigung vielleicht anführen, daß zu seiner Zeit die Tatsache der Entwicklung der Arten und die dabei erfolgte Anpassung der Lebewesen an die gegebene Umwelt und die Erfordernisse des Daseinskampfes in ihr noch völlig unbekannt waren. Schwer verständlich scheint es aber, wenn heutzutage, da unsere naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sich wesentlich erweitert 3

Pfeiffer

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haben, nicht wenige Menschen immer noch kritiklos der Argumentation KANTS oder ihr ähnlichen folgen. Allerdings muß man, wenn man das nicht will, nicht nur KAUT, sondern den Standpunkt der sogenannten „idealistischen" Philosophie überhaupt fallen lassen, oder doch wenigstens, wie z. B . JASPERS, auf jede rationale Begründung für diesen Standpunkt verzichten. Das letztere entspricht aber gewiß nicht dem Bedürfnis nach unvoreingenommener Wahrheitsfindung. Im übrigen vergißt KANT in seiner rein auf das Subjektive gerichteten Betrachtungsweise völlig das, was der Marxismus als „Kriterium der Praxis" bezeichnet. E r hätte sich doch eigentlich die Frage vorlegen müssen, wie es denn kommt, daß Annahmen über die reale Welt, die den a priori gegebenen Formen der Anschauung und des Denkens durchaus entsprechen, manchmal wohl durch die Erfahrung, z. B . durch ein zu ihrer Prüfung angestelltes Experiment, bestätigt werden, manchmal aber auch nicht. Da müssen sich doch offenbar die „Dinge an sich" bemerkbar machen! Außerdem richtet sich die Realität, wie wir inzwischen erkannt haben, keineswegs immer nach den KANTschen aprioristischen Formen der Erkenntnis. Ein unwiderlegliches Beispiel ist die inzwischen experimentell einwandfrei bewiesene Yierdimensionalität des raumzeitlichen Kontinuums, die die Zeitkoordinate ihrer Unabhängigkeit von den drei andern beraubt und den KANTschen Behauptungen glatt ins Gesicht schlägt. Nicht viel besser steht es mit der durch die moderne Quantenphysik stark ins Schwanken gekommenen Kausalitätsvorstellung KANTscher Prägung. Damit werden wir uns noch eingehender beschäftigen. Es wäre noch zu bemerken, daß es in der Folge auch nicht an Versuchen gefehlt hat, die Gedankengänge HUMES und KANTS weiter zu treiben — meist in recht wenig glücklicher Weise. Ich erwähne hierzu als erste die Richtung des Solipsismus. Sie geht von der Überlegung aus, daß jeder von uns auch seine Mitmenschen nur durch die Sinne als Teile der Außenwelt wahrzunehmen vermag und ihr Vorhandensein folglich ebensowenig wie das der toten Dinge als an sich und unabhängig von der eigenen Subjektivität bestehend annehmen dürfte, so daß jeder letztlich nur das eigene Ich als unzweifelhafte Gegebenheit zu akzeptieren hätte. Die Absurdität dieser Schlußfolgerung hat natürlich nicht gerade dazu beigetragen, ihr Anhänger zu erwerben. Noch weiter ist in der Folge der sogenannte „Positivismus" gegangen (Ernst MACH). Hiernach sind nicht nur die „Dinge an sich", von denen ja schon KANT behauptete, daß wir gar nichts über sie aussagen können, eine bloße Fiktion, sondern ebenso auch das eigene Ich als subjektiver Träger der Empfindung und Wahrnehmung, welch letztere nun wieder, wie schon bei HUME, als das einzig unzweifelhaft Gegebene betrachtet werden. Natürlich hat auch diese extreme Ansicht auf die Dauer keine Anhänger anziehen können. Eher ist das einer oft ebenfalls als „Positivismus" bezeichneten gemilderten Form dieser Denkweise gelungen, die in der Naturwissenschaft und speziell der Physik nur die jeweils „unmittelbar" gegebenen Meßresultate als reell anzuerkennen bereit ist, jeder Bearbeitung oder „Deutung" des Gegebenen aber schon den Charakter der gesicherten Erkenntnis abspricht. E s ist freilich nicht schwer zu

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sehen, daß es sich hier nur um eine höchst unbefriedigende Kompromißlösung für die bei Verfolgung der KANTschen Grundgedanken ja unweigerlich in der einen oder andern Form auftretenden Schwierigkeiten handelt: Denn wer will entscheiden, wo im Einzelfall das „unmittelbar Gegebene" aufhört und die „Deutung" anfängt? Wir werden uns bei Heranziehung der modernen Kenntnisse über die Struktur unseres Zentralnervensystems vielmehr bald davon überzeugen, daß schon die elementarsten Wahrnehmungen weit davon entfernt sind, ein „unmittelbar", ohne jede „subjektive" Zutat Gegebenes darzustellen. Viel ernster zu nehmen und vor allem von viel weiterreichendem Einfluß auf den ferneren Fortschritt des philosophischen Denkens als die Fortführung der von K A N T wohl am klarsten entwickelten Grundgedanken des „subjektiven" Idealismus ist die zweite idealistische Grundrichtung, die des „objektiven" Idealismus geworden. Sie findet einen konsequenten Ausdruck bereits in der Lehre des großen griechischen Philosophen PLATON, der übrigens ähnlich wie K A N T davon ausging, daß das eigentliche Wesen der Dinge unserer Erkenntnis nicht unverfälscht zugänglich sei. Wie wohl alle alten Philosophen drückte PLATON seine Meinung allerdings nur in poetischer Form aus. Das wahre Sein erblickte er in ewigen, rein geistigen Ideen, denen gegenüber die wirklichen, unseren Sinnen und unserer Erkenntnis unmittelbar zugänglichen vergänglichen Dinge nur den Charakter unvollkommener Abbilder besitzen sollten. Es sei, sagte er, so als ob wir dazu verurteilt wären, in einer finsteren Höhle zu verharren, an deren Wänden wir nur die Schatten der vor ihrem Eingange vorüberziehenden Ideen wahrzunehmen vermögen. Das wahre Sein der Welt wird also in einem objektiv existierenden Geistigen erblickt. Der weitaus bedeutendste Vertreter des modernen objektiven Idealismus ist nun H E G E L . Der außerordentliche Forschritt, den das philosophische Denken durch ihn gemacht hat, besteht darin, daß er, sehr im Gegensatz zu PLATON, das Wesen des geistigen Seins nicht mehr als statisch-unveränderlich, sondern als dynamisch und in ständiger Entwicklung begriffen auffaßte, nämlich so, daß eine jede Idee durch einen dialektischen Vorgang eine ihr entgegengesetzte hervorbringt, worauf durch die Vereinigung der entgegengesetzten Elemente („Thesis" und „Antithesis") eine dritte Idee (die „Synthesis") neu entsteht und so fort. H E G E L selbst huldigte persönlich durchaus reaktionären Ansichten. In seiner philosophischen Lehre ist indessen eine wahrhaft revolutionäre Sprengkraft verborgen. Sie frei zu setzen, war seinen großen Schülern M A B X und E N G E L S vorbehalten, die ausgehend von der sozialen Bewegung ihrer Zeit die HEGELsche Dialektik schließlich zur lenkenden Kraft dieser Bewegung machten, unter gleichzeitiger Aufgabe ihrer dem Ansturm der sich entwickelnden Naturwissenschaften ohnehin nicht mehr gewachsenen idealistischen Einkleidung.

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4. Vorlesung Nach den Überlegungen, die wir bereits angestellt haben, besitzt der Erkenntnisvorgang beim Menschen eine jedenfalls sehr wesentliche soziale Seite, und die Aufgabe der Erkenntnistheorie besteht auch nicht nur in der bloßen Beschreibung seines jeweiligen Zustandekommens im Einzelnen. Diese Beschreibung gehört vielmehr zu den Obliegenheiten der Psychologie oder — je nachdem, von welcher Seite man an das Problem herantritt — der Neurologie. Um einen Ansatzpunkt für die kybernetische Betrachtung zu erhalten, werden wir indessen trotzdem nicht umhin können, von neurologisch-psychologischen Tatbeständen auszugehen und uns zunächst auch auf das einzelne Individuum als erkennendes Subjekt zu beschränken. Es wird sich dabei im Laufe unserer Untersuchungen ganz von selbst ergeben, daß wir den anfänglichen engen Rahmen der Betrachtung verlassen müssen, um die angeschnittenen Probleme weiter verfolgen zu können. Was die Psychologie anbelangt, so haben wir bereits davon gesprochen, daß der „Riß" zwischen experimenteller und nichtexperimenteller Forschung sich schon innerhalb dieser Wissenschaft bemerkbar macht. Unsere kybernetische Betrachtungsweise wird uns dazu verhelfen, diesen „Riß" an mehr als einer Stelle dadurch zu überbrücken, daß sie neurologische und experimentalpsychologische Befunde zwanglos zu kombinieren gestattet und dabei zu Folgerungen führt, die nun eine plausible Erklärung für gewisse rein introspektive Befunde liefern. Dabei mag die introspektive Bestätigung dieser Folgerungen wiederum zur Rechtfertigung der angewandten Behandlungsweise der Probleme dienen. Besonders in ihren Anfängen hat die experimentalpsychologische Methode einer „mechanistischen" Auffassung der Naturgesetzlichkeit gehuldigt, die jede beobachtbare Wirkung auf eine ganz bestimmte, isolierte, ihr allein zugeordnete Ursache zurückzuführen bestrebt war. Diese Auffassung hat sich inzwischen als unzulänglich erwiesen, aber zweifellos zunächst doch gewisse grundsätzlich bedeutsame Erfolge zeitigen können. Dagegen schied ein derartiges Verursachungsprinzip auf dem im wesentlichen nur der introspektiven Betrachtung zugänglichen Felde der höheren Geistestätigkeit, wo alles und jedes auf alles und jedes zu wirken und rückzuwirken scheint, zur Erklärung der Befunde von vornherein aus. Es scheint, daß dieser Umstand erheblich zur Trennung der beiden Forschungsrichtungen in der Psychologie beigetragen hat. Die höheren geistigen Funktionen, wie sie sich bereits im Gehirn höherer Tiere anbahnen, scheinen auf den ersten Blick eher Gesetzen zu gehorchen, die denen eines klassischen elektromagnetischen „Feldes" ähneln, wo ja auch jeder Teilvorgang auf jeden anderen einwirkt, und es ist denn auch (in den zwanziger Jahren durch KÖHLER) versucht worden, die Feldvorstellung in die Psychologie einzuführen. Ein überzeugender Erfolg war diesem Versuch allerdings nicht beschieden. Der Grund dafür ist auch leicht zu nennen: Die vielfältige gegenseitige Beeinflussung aller Einzelvorgänge im Zentralnervensystem strahlt nämlich nicht diffus nach allen Seiten aus, wie es das im klassischen physikalischen „Feld" gültige „Nahewirkungsprinzip" verlangt, und ordnet sich auch nicht den dafür gültigen Gesetzen 36

unter, sondern sie folgt weitgehend bestimmten, durch die Nervenfasern repräsentierten diskreten Bahnen, durch deren Verknüpfung räumlich entfernte Teile des Systems zu wirkungsmäßig benachbarten werden können und umgekehrt. Diese Art der Wirkungsverknüpfung ist nun aber genau diejenige, die den Gegenstand der kybernetischen Wissenschaft bildet — wir brauchen, um uns davon zu überzeugen, nur noch einmal unsere Abbildung 2 zu betrachten, in der ja die Verbindung zweier Blocks durch einen Pfeil nichts über ihre räumliche Lage zueinander aussagt — und das ist nun der rein in der Sache liegende Grund dafür, daß die kybernetische Betrachtung psychologischer Probleme grundsätzlich weit mehr Erfolgsaussichten mit sich bringt als der feldtheoretische Ausgangspunkt.

Abb. 2

Begonnen hat die kybernetische Betrachtungsweise, wie jede systematische wissenschaftliche Untersuchung, natürlich erst einmal mit relativ Einfachem, und das ist für die Theorie der Erkenntnis die sinnliche Wahrnehmung. Einen Markstein bildet hier die Entdeckung des sogenannten „Reafferenzprinzips" (v. H O L S T und M I T T E L S T A E D T 1 9 5 0 ) , das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Prinzip der Störgrößenaufschaltung im Regelkreis hat. Es findet sich an verschiedenen Stellen im Zentralnervensystem angewandt, beispielsweise um den fälschenden Einfluß zu kompensieren, den sonst eine Bewegung des Augapfels auf die Erkennung des wahren Bewegungszustandes der uns umgebenden Objekte ausüben müßte. Augenbewegungen rufen ja nicht anders als Objektbewegungen eine Relativbewegung des von der Linse entworfenen Bildes auf der Netzhaut hervor, und es bedarf offensichtlich besonderer Vorkehrungen, um fortwährende Täuschungen zu vermeiden. In Abbildung 3 a ist das hierzu dienende Schema so wiedergegeben, wie es durch V. H O L S T und M I T T E L S T A E D T zuerst veröffentlicht worden ist. Abbildung 3 b ist dasselbe Schema, lediglich umgezeichnet in die übliche Form des kybernetischen Blockschemas. In der letzten Darstellung wird auf den ersten Blick deutlich, wie die Kompensation des Augenbewegungseffektes auf die Wahrnehmung der Objektbewegung vonstatten geht. Das Wesentliche besteht einfach darin, daß in dem als „Niederes Nervenzentrum" bezeichneten Differenzbildner das Nervensignal der scheinbaren Objektbewegung dem nervösen Drehimpuls für die Augenbewegung gegen37

geschaltet ist, so daß das abgehende Signal f im Gegensatz zu f keinen von der Augenbewegung herrührenden Anteil mehr enthält. Vorausgesetzt ist hierbei allerdings, daß die wirkliche Augendrehung dem dazu ausgesandten Impuls genau entspricht, was an sich nicht selbstverständlich ist. Neuere Forschungen haben denn auch ergeben, daß hier, wie übrigens bei allen willkürlichen Muskelbetätigungen, eine „Rückführung" im regeltechnischen Sinne dieses Wortes stattfindet, die von besonderen Spannungsrezeptoren an den Muskelenden ausgeht und eine genaue Entsprechung zwischen der Innervation des Muskels und der tatsächlich stattfindenden Muskelbetätigung garantiert. Abbildung 4 bringt die entsprechende Änderung des Schemas Abbildung 3 b zur An-

HZ •

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Abb. 3a, 3b: HZ „höheres" Nervenzentrum, NZ „niederes" Nervenzentrum, A Auge, L Linse, B Retina, O bewegtes Objekt, i Drehimpuls für das Auge („Efferenz"), x Vektor der Objektgeschwindigkeit, f Nervensignal der wahren Objektgeschwindigkeit, f Nervensignal der scheinbaren Objektgeschwindigkeit („Afferenz").

schauung. Hier ist r das von den Spannungsrezeptoren des Augenmuskels M ausgesandte Rückführsignal, das mit dem Drehimpuls i verglichen wird. Auf den Augenmuskel gelangt infolgedessen nur das Differenzsignal {i—r). Am Prinzip der in Abbildung 3 dargestellten Kompensationswirkung wird damit ersichtlich nichts geändert. Im übrigen läßt sich voraussehen, daß der Fortgang der Forschung auch noch zu weiteren Ergänzungen des zunächst gefundenen Schemas führen wird. Bei dem heutigen Stande der Erkenntnis werden wir ja überhaupt gut daran tun, wenn wir uns klarmachen, daß alle derartigen Schemata, auch die weiteren, die wir bald kennenlernen werden, nur als Prinzipdarstellungen aufgefaßt werden dürfen, die einstweilen noch stets mehr oder weniger starke Idealisierungen und Vereinfachungen enthalten werden. Ein den Abbildungen 3 a, 3 b und 4 in gewisser Weise analoges Schema muß z. B. angenommen werden, um die Tatsache zu erklären, 38

daß wir einigermaßen unabhängig von der wechselnden spektralen Zusammensetzung der Beleuchtung an ein und demselben Gegenstand immer dieselbe Farbe wahrzunehmen pflegen, insbesondere sowohl in der Sonne als auch im Schatten weiß immer als weiß erkennen (Phänomen der „Farbkonstanz"), obgleich doch in diesen beiden Fällen unsere Netzhaut Licht von jeweils ganz verschiedener spektraler Zusammensetzung erhält (Abb. 5). Der Integrator bildet ein Signal ?', das die mittlere Farbe der im gesamten Gesichtsfeld erscheinenden Gegenstände kennzeichnet. Es wird natürlich ebenso von r

Abb. 4 und 5: Ol spezielles anvisiertes Objekt, AW Außenwelt, A Auge, I als Integrator, wirkendes Nervenzentrum, d Differenzbildendes Element, xv x2, x3 ... farbige Lichtstrahlen, f j . ... Nervensignale der scheinbaren Körperfarben, Nervensignal der mittleren scheinbaren Farbe, f x Nervensignal der wahren Farbe des Objekts 0L.

der Beleuchtung abhängig sein wie das die scheinbare Farbe des Objektes anzeigende Signal f Durch den Abzug des einen Signals vom andern entsteht offenbar eine weitgehend von der Beleuchtung unabhängige Information über die Eigenfarbe des speziell anvisierten Objekts. Das gezeigte Schema hat den Vorzug, daß es zwanglos die Entstehung der bekannten „Nachbilder" von jeweils komplementärer Farbe aus der unvermeidlichen Zeitkonstanten des angenommenen Integrators erklärt. Beim Anvisieren eines sehr hellen Objekts auf relativ dunklem Grunde, dem einzigen Fall, der zu Nachbildern führt, gilt ja zunächst £ 2 ' sa f 3 ' ••• 0, also J ss K^/ mit 0 < K < 1. Wird nun das Auge plötzlich geschlossen, so wird auch sehr schnell zu Null — nicht aber f ' , das nur relativ langsam, etwa nach einer e-Funktion mit der Zeit t schwächer werden kann, eben wegen der Zeitkonstanten des Integrators. Während dieser Zeit haben wir also ph —Kj'e~* t , was offenbar gleichbedeutend mit dem Erscheinen des farbkomplementären Nachbildes ist. 39

Im übrigen darf auch Abbildung 5 gewiß nur als ein vereinfachtes Prinzipschema betrachtet werden. Zum Beispiel sind die Signale ; fg! "• fi sicherlich als mindestens dreidimensionale (oder mit Rücksicht auf die Erscheinungen des sogenannten „Farbkreises" sogar vierdimensionale) Größen aufzufassen, von denen also jede aus wenigstens drei bzw. vier Nervensignalen zusammengesetzt sein muß, damit eine eindeutige Farbsignalisierung überhaupt erfolgen kann. Hierüber wird die neurologische Forschung in Zukunft gewiß noch näheren Aufschluß im Einzelnen verschaffen. Auf dem Wege der Introspektion ist über diese Vorgänge indessen keinerlei Aufklärung zu erhoffen, sowenig wie über die in den Abbildungen 3 a, 3b und 4 dargestellten Kompensationsvorgänge, aus dem einfachen Grunde, weil sie, obgleich sie einen nicht wegzudenkenden Bestandteil des psychologischen Wahrnehmungsvorgangs darstellen, offenbar in Teilen des Zentralnervensystems verlaufen, die ein für alle Mal außerhalb der Reichweite unseres Bewußtseins liegen. Auf diesen Punkt werden wir bald noch ausführlicher zurückkommen müssen. Einstweilen wollen wir nur feststellen, daß andere, für das Zustandekommen der Wahrnehmung nicht weniger wesentliche Teilvorgänge sich der Selbstbeobachtung durchaus nicht ganz entziehen. Das gilt z. B. für einen guten Teil dessen, was sich in unserem Zentralnervensystem abspielt, wenn wir in unserer Umgebung auf einen uns bekannten Gegenstand treffen und ihn wiedererkennen. Das dafür wahrscheinlich maßgebende kybernetische Schema ist in Abbildung 6 wiedergegeben.

Abb. 6: A Objekt, « Nervensignal des Vorliegens von A, S1; S2; S3 Sinnesorgane, x1; x2; xa physikalische Wirkungen auf die Sinnesorgane, £3 Nervensignale von Objekteigenschaften, 8p Speicher von Erwartungswerten eL, e2, e 3 , Schw Schwellwertelemente mit Summenbildung, Sit summierendes Element („Und — Oder"-Element).

In diesem Schema stellen die f j; f 2 ; f 3 Nervensignale dar, die bestimmte charakteristische Eigenschaften des wahrzunehmenden Gegenstandes bezeichnen. Sie werden zum Teil bereits durch besondere neurologische Schaltungen, z. B. solche nach Abbildung 4 oder Abbildung 5, von gewissen Störeinflüssen befreit und damit „objektiviert" sein. Die entsprechenden Schemata sind indessen in Abbildung 6 zur Erhöhung der Übersichtlichkeit, und um das Wesentliche besser hervortreten zu lassen, unterdrückt worden. Dieses Wesentliche wird hier nun durch den Speicher Sp gebildet, der mit bestimmten Erwartungswerten für charakteri40

stische Eigenschaften des wahrzunehmenden Objekts ausgestattet ist und damit als eine Art „Modell" des Objekts fungiert. Für jedes zu erkennende bestimmte Objekt muß also ein ihm entsprechender besonderer Speicher vorhanden sein. Die Vorerregung der mit einer Reizschwelle ausgestatteten Schwellwertelemente Schw geht dabei von den sogenannten „unspezifischen" Zentren des Gehirns aus und hat den Zweck, die Empfindlichkeit für schwache Sinnesreize zu erhöhen. Sie kann in besonderen Fällen, etwa bei drohender Gefahr, noch besonders erhöht werden (sogenannte „Energisator"-Wirkung). Wesentlich für die Funktion des Ganzen ist noch der Umstand, daß der Speicher sein Ausgangssignal «, das das Vorhandensein des wahrzunehmenden Objekts anzeigt, regelmäßig schon abgibt, wenn nur ein Teil der Erwartungswerte durch die von den Sinnesorganen eintreffenden Signale bestätigt wird. Man könnte diesen Umstand vielleicht treffend als das „pars-pro-toto"-Gesetz der Wahrnehmung bezeichnen. Es trägt der einfachen Tatsache Rechnung, daß ja in Wirklichkeit kaum je ein Gegenstand alle für ihn charakteristischen Wirkungen auf die Sinnesorgane gleichzeitig ausüben wird. Natürlich liegt darin bereits ein Element des „Glaubens" in dem schon früher von uns definierten Sinne. Es ist nach Lage der Dinge offenbar unerläßlich, damit die Wahrnehmung in praktisch wichtigen Fällen überhaupt zustande kommt. Andernteils gibt es aber auch Veranlassung für das nicht seltene Auftreten von Irrtümern und sogenannten „Sinnestäuschungen", wie wir alle wissen und auch häufig durch Selbstbeobachtung im Einzelnen verfolgen können — so etwa, wenn wir auf der Straße in einiger Entfernung an irgendwelchen Merkmalen einen Bekannten zu erkennen glauben, beim Näherkommen, sobald wir weitere Merkmale ausmachen können, aber feststellen müssen, daß es sich um eine ganz andere, uns unbekannte Person handelt. Die Struktur der in Abbildung 6 dargestellten Prinzipschaltung läßt aber noch eine weitere Möglichkeit der Täuschung erwarten. Das Signal, das das Vorhandensein des Objektes A anzeigt, muß ja auch dann erfolgen, wenn die Reizschwelle eines oder mehrerer Schwellwertelemente Schw durch eine aus irgendwelchen Gründen besonders starke Vorerregung überschritten wird, ohne daß das Objekt überhaupt vorhanden ist. Tatsächlich ist dieser Fall gar nicht einmal so selten und unter dem Namen der „Halluzination" wohlbekannt. Da die die Vorerregung bewirkenden „unspezifischen" Zentren zugleich Emotionszentren darstellen, sind Halluzinationen vor allem in Erregungszuständen des Gemüts zu erwarten, was auch durch die Erfahrung vollauf bestätigt wird. Speicher für konkrete, in der Wirklichkeit auftretende Gegenstände sind im allgemeinen im Zentralnervensystem nicht von vornherein vorhanden, sondern werden vielmehr erst durch die Erfahrung der wiederholten Koinzidenz der betreffenden speziellen Sinneseindrücke gebildet. Auch da, wo eine ererbte Anlage für sie vorhanden ist, scheint sie stets durch die Erfahrung in entscheidender Weise vervollkommnet zu werden. Ein gutes Beispiel dafür ist jedenfalls die in jüngster Zeit erst genauer erforschte „Prägung" von Jungtieren auf das individuelle Muttertier, die aber ebensogut auf einen Ersatzgegenstand erfolgen kann, sofern dieser in der entsprechenden Lebensperiode auftritt und dabei nur einem äußerst be41

scheidenen Bestand an erbmäßig festgelegten Erwartungswerten entspricht. Zum Beispiel kann, wie Experimente zeigen, von Junggänsen bereits ein Besen als „Mutter" akzeptiert werden, sofern er nur vom Experimentator in geeigneter Weise bewegt wird. Hier, wie in allen Fällen der Bildung oder Ergänzung von Erwartungswertspeichern, handelt es sichersichtlich um eine Form des „Lernens", und zwar sogar schon um eine recht fortgeschrittene Ausprägung dieser, wie es scheint, allen Lebewesen in höherem oder geringerem Grade eigenen Fähigkeit. Wir werden auf das Lernproblem bald noch einmal im Zusammenhang mit den Problemen des Bewußtseins und des Gedächtnisses zurückkommen. Durch die Erfahrung bildbar oder zumindest umbildbar ist auch eine Art von „Modellen" der Wirklichkeit, die sich von dem Schema der Abbildung 6 zunächst nur dadurch unterscheidet, daß das abgegebene Ausgangssignal keinen durch einen ganzen Komplex von Merkmalen gekennzeichneten Gegenstand, sondern nur ein einzelnes mehr oder weniger allgemeines Merkmal anzeigt, ohne Rücksicht darauf, an welchem Gegenstand es erscheint. Als Erwartungswerte fungieren dann andere gleichartige Merkmale, deren objektives Vorhandensein durch die Eingangssignale bestätigt sein muß, damit das Ausgangssignal erfolgt (Abb. 7). Die Eingangssignale wiederum können dabei entweder, ebenso wie in Abbildung 6, von Schw

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Abb. 7: ; f 2 ; £3; | 4 Nervensignale für das Vorhandensein objektiver Einzelmerkmale, Sp Speicher mit Erwartungswerten

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elemente mit Summenbildung, 8 summierendes Element (,,Und"-Element).

den Sinnesorganen geliefert werden oder auch Ausgangssignale analoger Schaltungen darstellen, die auf diese Weise zu sogar recht komplizierten hierarchischen Systemen zusammentreten können. Insbesondere kann eine solche Schaltung, die das Vorhandensein eines sehr allgemeinen Merkmals in der Wirklichkeit an das Vorhandensein einer beschränkten Anzahl anderer ebenso allgemeiner Merkmale knüpft, zum vollgültigen Ausdruck eines Naturgesetzes werden, dessen Kenntnis aus der Erfahrung geschöpft ist, und der Vorgang des Innewerdens des Inhalts und der objektiven Gültigkeit des Gesetzes ist offenbar gleichbedeutend mit dem Vorgang der Bildung der genannten neurologischen Struktur im Gehirn des erkennenden Menschen. Wir erhalten so einen Einblick grundsätzlicher Art in die neurologischen Prozesse, die jeder wissenschaftlichen Betätigung zugrunde liegen. Im Falle, daß das in Abbildung 7 wiedergegebene allgemeine Schema ein Naturgesetz richtig wiedergeben soll, darf das Summierglied am Speicherausgang natürlich nicht den Charakter eines „Und-Oder"-Glieds besitzen. Es darf ja sein Signal nur abgeben, wenn alle Erwartungswerte durch die Eingangssignale als

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erfüllt gemeldet werden, muß also ebenso arbeiten, wie die „Sowohl-Als-auch"Glieder logischer Schaltungen der Technik. Möglicherweise ist diese Forderung mit den gegebenen Bausteinen des neurologischen Systems überhaupt nur durch Hilfsschaltungen erfüllbar, deren Fehlen oder Nichtansprechen im Einzelfall zu Irrtümern führen kann. Auch darauf werden wir bald noch einmal kurz zurückkommen müssen. Die Speicher nach Abbildung 7 stimmen mit den Schaltungen nach Abbildung 3 a, 3b, 4 und 5 darin überein, daß ihre Ausgangssignale Einzeleigenschaften jeweils einer ganzen Klasse von Objekten bezeichnen. Zwei entscheidende Unterschiede bestehen aber darin, daß die Speicher nach Abbildung 7 ebenso wie die nach 6 ihre Entstehung oder zumindest endgültige Durchbildung stets der Erfahrung des Individuums verdanken, und daß wenigstens beim Menschen die in ihnen ablaufenden Prozesse grundsätzlich zugänglich für die Introspektion sind. Wahrscheinlich hängt beides eng miteinander zusammen. Von ganz ausschlaggebender Wichtigkeit für die Funktion speziell des menschlichen Intellekts ist nun die Möglichkeit, alle Signale, die aus Speichern nach Abbildung 6 oder 7 stammen oder in solche Speicher eintreten, mit Signalen zu koppeln, die reinen Symbolcharakter besitzen, z. B. Worte der Sprache darstellen („zweites" PAWL0Wsches Signalsystem). An sich bedeutet das Zustandekommen des Ausgangssignals an irgendeinem Speicher nach Art der Abbildungen 6 oder 7 immer schon ein (richtiges oder falsches!) Urteil. Wenn aber andere vom Zustandekommen dieses Urteils verständigt werden sollen, so bedarf es hierzu eben irgendwelcher Symbole, die seinen Inhalt bezeichnen. Dabei ist die menschliche Sprache dadurch ganz grundlegend von allen sogenannten Tier-„Sprachen" unterschieden, daß die Bedeutung ihrer Symbole nicht wie bei den Tieren durch Vererbung ein für alle Mal festliegt, sondern einen grundsätzlich willkürlichen Charakter trägt, der es erlaubt, sie beliebigen neuen Sachverhalten anzupassen und die Zahl der durch ihre Symbole erfaßbaren Bedeutungen beliebig zu vermehren. Diese Eigenschaft unserer Sprache ist natürlich eine der unbedingt notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung dessen, was wir „Kultur" im weitesten Sinne dieses Wortes nennen: Sie beruht ja letzten Endes auf der schöpferischen Arbeit der Gesellschaft, und ihr hervorragendstes Merkmal ist die ständige Erneuerung aus sich selbst heraus und damit die Auseinandersetzung mit immer neuen Gegebenheiten materieller wie geistiger Art. Kultur kann also ohne Sprache nicht entstehen und gewiß auch die menschliche Sprache nicht ohne die Anforderungen, die eben die Entwicklung der Kultur stellt. Ferner müssen wir aus dem hierarchischen Charakter des allgemeinen Baus aller Sprachen, wie er sich vor allem in ihren Grammatiken und syntaktischen Regeln verrät, unbedingt auf das Vorhandensein einer Hierarchie von Speichern analog Abbildung 6 und 7 auch im neuronalen System des Sprachzentrums schließen. Das Fehlen dieses Zentrums im Tiergehirn ist offenbar die Ursache für das Fehlen einer unserer Grammatik oder Syntax entsprechenden Ordnung zwischen den Elementen der tierischen Verständigung, die doch wohl alle selbständig und grundsätzlich beziehungslos nebeneinander stehen. 43

Dagegen dürfen wir natürlich nicht daran zweifeln, daß an definierte Klassen konkreter Gegenstände gebundene und miteinander vielfältig verknüpfte Speicher nach Art von Abbildung 6 jedenfalls bei höheren Tieren bereits vorliegen. Solche Speicher sind auch ausreichend, um das ja häufig an Haustieren zu beobachtende bloße Verstehen der menschlichen Sprache zu erklären. Dieses Verstehen bezieht sich ja stets auf die Bezeichnung äußerer Gegenstände und bestimmter äußerer Situationen oder Verhaltensweisen, und es ist wohl recht plausibel, daß zunächst einmal Speicher mit bestimmten Erwartungswerten für das Erkennen bestimmter akustisch wahrgenommener Worte gebildet werden können, Speicher, deren Ausgangssignal dann das betreffende Wort bezeichnet. Nicht weniger plausibel ist es, daß Speicher, die bestimmten äußeren Gegenständen, Situationen usw. entsprechen, mit Erwartungswerten für Eingangssignale versehen werden können, die Worte bezeichnen. Auf diese Weise können also bestimmte Worte an bestimmte äußere Gegebenheiten gekoppelt werden, und mehr ist auch nicht nötig, um das passive Verstehen der menschlichen Sprache in der Form, wie wir es an Tieren beobachten, zu erklären. Dabei kann die Neubildung der in Frage kommenden Speicher auf genau dieselbe Weise vor sich gehen, wie die aller anderen: nämlich einfach durch genügend häufige zeitliche Koinzidenz der aneinander zu koppelnden Signale. Hiernach sollte es eigentlich keinen allzu großen Schritt bedeuten, wenn es gelänge, höhere Tiere durch eine entsprechende Dressur auch zu einem beschränkten eigenen Sprachgebrauch zu bringen, der sich freilich — eben wegen des Fehlens des Sprachzentrums — lediglich darin äußern dürfte, daß das Tier einzelne Worte bzw. einzelne stereotype Satzformen oder ihnen äquivalente Einzelzeichen, zu deren Hervorbringung es natürlich physisch imstande sein muß, etwa zur Kennzeichnung bestimmter Wünsche oder Bedürfnisse spontan produziert. Interessanterweise hat bereits Friedrich E N G E L S die Vermutung dieser Möglichkeit ausgesprochen — entscheidend wäre dabei natürlich, daß als Zeichen nicht Gesten gewählt werden, deren Benutzung dem Tier schon natürlicherweise naheliegt, wie etwa die als „Betteln" bekannte Gebärde, oder gar solche, die der natürlichen „Sprache" seiner Art angehören. Ein weiterer, ebenfalls ganz grundlegender Unterschied zwischen Mensch und Tier, der jedenfalls in gewisser Weise mit dem Vorhandensein bzw. Fehlen des Sprachzentrums zusammenhängt, ist die zweifellos dem Menschen eigene Fähigkeit, Speicher mit Modellcharakter nicht nur von äußeren, sondern ebenso von inneren Gegebenheiten zu bilden und sie dadurch der kritischen Selbstbeurteilung und sprachlichen Benennung zugänglich zu machen. Jeder Psychologe weiß, daß Etwas-erleben und Sich-darüber-klarwerden, was man erlebt hat, so daß man darüber Auskunft geben kann, grundsätzlich zweierlei ist. Wenn wir aber von bestimmten Erlebnissen, z. B. des Denkens oder des Sichentschließens oder von Gefühlen wie Freude oder Schmerz usw. sprechen, so wollen wir damit in keinem Falle sagen, daß das mit einem dieser Worte gekennzeichnete Einzelerlebnis mit allen anderen ebenso bezeichneten vollständig übereinstimmen müsse. Im Gegenteil schließen wir im allgemeinen durch die überein44

stimmende Bezeichnung eine große Mannigfaltigkeit des Bezeichneten in keiner Weise aus. Die gemeinsame Benennung weist nur darauf hin, daß alle in ihr zusammengefaßten Einzelerlebnisse in gewissen, für ihre Benennung maßgebenden Teilmerkmalen übereinstimmen, im Grunde geradeso, wie etwa die Bezeichnung „Stuhl" oder „Hund" keineswegs eine große Verschiedenheit der mit demselben Namen bezeichneten Objekte ausschließt und nur eine Übereinstimmung in einem gewissen charakteristischen Teil ihrer Merkmale feststellt. Wenn wir im Falle der äußeren Wahrnehmung diese Fähigkeit zu klassifizieren auf das Vorhandensein von Erwartungswerten in entsprechenden neuronalen Speichern zurückgeführt haben, so können wir wohl kaum umhin, analoge neuronale Speicherbildungen auch für bestimmte Klassen von inneren Erlebnissen anzunehmen. Wir können sie uns zwanglos wieder nach dem Schema von Abbildung 6 aufgebaut denken. Der dort dargestellte Speicher wäre nun lediglich mit Erwartungswerten für gewisse charakteristische Merkmale jeweils einer bestimmten typischen, durch einen bestimmten Komplex von Teilmerkmalen gekennzeichneten Erlebnisart ausgestattet, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein durch das Eintreffen oder Fehlen der entsprechenden Eingangssignale gekennzeichnet ist, und zur sprachlichen Benennung des Erlebnisses wäre genau dasselbe erforderlich wie zur Benennung eines erblickten äußern Objekts — nämlich die Kopplung des Speicherausgangssignals mit einem passenden Signal aus dem „zweiten" PAWLOWSchen Signalsystem, das natürlich zur Verfügung stehen muß, wenn die Benennung möglich sein soll. Damit ergäbe sich auch eine Möglichkeit zur Erklärung der Selbsttäuschungen, denen wir nicht selten unterliegen: Wir brauchen ja nur anzunehmen, daß die hypothetischen Speicher für innere Sachverhalte ebenso wie die für äußere Dinge ihr Ausgangssignal im allgemeinen schon abgeben, wenn nur ein Teil der in ihnen enthaltenen Erwartungswerte durch entsprechende Eingangssignale bestätigt wird. Die eben skizzierten Vorstellungen bedeuten offenbar, daß wir dem von jeher in der Psychologie bekannten „inneren Sinn" eine „innere Wahrnehmung" oder „innere Perzeption" zur Seite stellen, die der äußeren Wahrnehmung oder Perzeption in ähnlicher Weise entspricht, wie der innere „Sinn" den äußeren Sinnen. Die Einführung des Begriffs der „inneren Wahrnehmung" hat große Bedeutung für eine neurokybernetisch begründete Theorie des Bewußtseins, wie wir in der übernächsten Vorlesung sehen werden.

5. Vorlesung Ehe wir uns näher mit dem Bewußtseinsproblem beschäftigen, dem tatsächlich eine zentrale Bedeutung nicht nur für die Theorie der Erkenntnis zukommt, wollen wir noch einige allgemeinere Bemerkungen anfügen, die sich auf die Funktion der in den Abbildungen 6 und 7 dargestellten Speicher, ihre Verknüpfung und die Art ihrer Entstehung beziehen. 45

stimmende Bezeichnung eine große Mannigfaltigkeit des Bezeichneten in keiner Weise aus. Die gemeinsame Benennung weist nur darauf hin, daß alle in ihr zusammengefaßten Einzelerlebnisse in gewissen, für ihre Benennung maßgebenden Teilmerkmalen übereinstimmen, im Grunde geradeso, wie etwa die Bezeichnung „Stuhl" oder „Hund" keineswegs eine große Verschiedenheit der mit demselben Namen bezeichneten Objekte ausschließt und nur eine Übereinstimmung in einem gewissen charakteristischen Teil ihrer Merkmale feststellt. Wenn wir im Falle der äußeren Wahrnehmung diese Fähigkeit zu klassifizieren auf das Vorhandensein von Erwartungswerten in entsprechenden neuronalen Speichern zurückgeführt haben, so können wir wohl kaum umhin, analoge neuronale Speicherbildungen auch für bestimmte Klassen von inneren Erlebnissen anzunehmen. Wir können sie uns zwanglos wieder nach dem Schema von Abbildung 6 aufgebaut denken. Der dort dargestellte Speicher wäre nun lediglich mit Erwartungswerten für gewisse charakteristische Merkmale jeweils einer bestimmten typischen, durch einen bestimmten Komplex von Teilmerkmalen gekennzeichneten Erlebnisart ausgestattet, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein durch das Eintreffen oder Fehlen der entsprechenden Eingangssignale gekennzeichnet ist, und zur sprachlichen Benennung des Erlebnisses wäre genau dasselbe erforderlich wie zur Benennung eines erblickten äußern Objekts — nämlich die Kopplung des Speicherausgangssignals mit einem passenden Signal aus dem „zweiten" PAWLOWSchen Signalsystem, das natürlich zur Verfügung stehen muß, wenn die Benennung möglich sein soll. Damit ergäbe sich auch eine Möglichkeit zur Erklärung der Selbsttäuschungen, denen wir nicht selten unterliegen: Wir brauchen ja nur anzunehmen, daß die hypothetischen Speicher für innere Sachverhalte ebenso wie die für äußere Dinge ihr Ausgangssignal im allgemeinen schon abgeben, wenn nur ein Teil der in ihnen enthaltenen Erwartungswerte durch entsprechende Eingangssignale bestätigt wird. Die eben skizzierten Vorstellungen bedeuten offenbar, daß wir dem von jeher in der Psychologie bekannten „inneren Sinn" eine „innere Wahrnehmung" oder „innere Perzeption" zur Seite stellen, die der äußeren Wahrnehmung oder Perzeption in ähnlicher Weise entspricht, wie der innere „Sinn" den äußeren Sinnen. Die Einführung des Begriffs der „inneren Wahrnehmung" hat große Bedeutung für eine neurokybernetisch begründete Theorie des Bewußtseins, wie wir in der übernächsten Vorlesung sehen werden.

5. Vorlesung Ehe wir uns näher mit dem Bewußtseinsproblem beschäftigen, dem tatsächlich eine zentrale Bedeutung nicht nur für die Theorie der Erkenntnis zukommt, wollen wir noch einige allgemeinere Bemerkungen anfügen, die sich auf die Funktion der in den Abbildungen 6 und 7 dargestellten Speicher, ihre Verknüpfung und die Art ihrer Entstehung beziehen. 45

Sie sind jedenfalls in dauernder Neubildung und Umbildung begriffen, in Auawirkung zahlreicher Lernprozesse, die sich fortwährend wiederholen und von denen jeder einzelne durch die mehr oder weniger häufige Gleichzeitigkeit gewisser von außen kommender Signale ausgelöst wird. Bei Speichern, die Modelle äußerer Dinge darstellen, wird es sich dabei, wie wir schon gesehen haben, im allgemeinen um Signale handeln, die von den verschiedenen Sinnesorganen ausgesandt werden.. Andere Speicher, die einen höheren Rang in der Hierarchie des Speichersystems einnehmen, empfangen indessen in der Hauptsache an ihrem Eingang die Ausgangssignale anderer ähnlicher Speicher, und hier wird die Neubildung von Erwartungswerten offenbar von der Erfahrung der regelmäßigen Koinzidenz solcher Signale ausgehen. Zum Beispiel werden beim schulmäßigen Lernen die von den Worten des Lehrenden ausgehenden akustischen Signale oder beim Lesen eines Lehrbuchs die beim Anblick der Schriftzeichen entstehenden optischen Signale über das Ohr bzw. das Auge unter Vermittlung des Sprachzentrums neue Signale hervorrufen, deren besondere Verknüpfung zur Bildung neuer Speichermodelle für Teile der Wirklichkeit im neuronalen System der Lernenden zu führen *7 h

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y4y> ys Abb. 8 vermag. Auch hier gilt gewiß das Gesetz, daß Signalkoinzidenzen — und auf deren Auftreten beruht ja auch jetzt die Speicherbildung — im allgemeinen erst bei wiederholtem Auftreten wirksam werden. Daher die Notwendigkeit der Wiederholung des zu Lernenden als unerläßliche Vorbedingung alles Lernens! Das Gesetz, das im biologischen Bereich für den Lebenskampf des Individuums, wie wir schon gesehen haben, äußerst nützlich ist, weil es den einzig möglichen Weg zur Trennung der bloß zufälligen von den gesetzmäßigen Signal-Koinzidenzen darstellt, die allein dazu dienen können, richtige Reaktionen des Individuums auch in zukünftigen Situationen sicherzustellen — dieses selbe Gesetz wirkt sich jetzt leider nachteilig aus, weil es den Lernprozeß stark verlangsamt. Zu ändern ist daran indessen einstweilen jedenfalls nichts. Lassen sich die neuronalen Vorgänge bei der Speicherentstehung und speziell der Bildung neuer Erwartungswerte in schon vorhandenen Speichern nicht vielleicht durch ein technisches Schema abbilden, das im Prinzip dasselbe leistet und uns vielleicht einen Zugang zum Verständnis auch der neuronalen Schaltungen eröffnet, die uns interessieren? Die Frage ist zu bejahen. Wahrscheinlich haben 46

Sie bereits etwas von der STEiNBUCHschen „Lernmatrix" gehört (Abb. 8). In ihr kreuzen sich zwei Systeme von je n Signalleitungen (in Abb. 8 sind es je sechs Leitungen). Die n 2 Kreuzungspunkte werden von magnetisierbaren Ringen umschlossen, die nach dem Durchlauf eines Einzelsignals nöch keine merkliche Dauermagnetisierung aufweisen. Werden aber beide sich kreuzende Leitungen gleichzeitig stromführend, so bleibt ein Rest von Magnetisierung in dem betreffenden Ring zurück, der von da ab, sobald nur eine der beiden Leitungen stromführend wird, auch in der anderen ein Signal induziert. Der Kreuzungspunkt ist damit gewissermaßen „leitend" geworden. Wir dürfen es wohl als sicher annehmen, daß analoge Effekte an Kreuzungspunkten gewisser, der Signalfortleitung dienender Fortsätze der Nervenzellen tatsächlich auftreten, wenn auch nicht auf magnetischer, sondern auf elektrochemischer Basis. Es ist wohl auch nicht schwer, sich vorzustellen, daß der gesuchte Effekt sich hier bei normaler Signalstärke im allgemeinen erst nach mehrmaliger Signalkoinzidenz in voller Ausbildung einzustellen braucht. Damit ist aber noch nicht ganz das erreicht, was zur Erklärung der uns interessierenden neurologischen Vorgänge nötig wäre. Freilich läßt uns das S T E I N B U C H s c h e Schema verstehen, daß nach ein- oder mehrmaligem gleichzeitigem Auftreten sagen wir der Signale x2 und y3 nun beide Leitungen signalführend werden, sobald danach nur in x2 oder nur in y3 ein Signal ankommt. Wie ist es aber, wenn regelmäßig xx und x2 gleichzeitig gespeist werden? Dann geschieht offenbar gar nichts: Aus einer solchen Koinzidenz vermag unser Schema nichts zu „lernen". Der Mangel läßt sich indessen beheben, wenn wir es so abändern, wie in Abbildung 9 dargestellt. Hier kreuzt sich nun jede Leitung mit jeder genau einmal, so daß jede beliebige Signalkoinzidenz „gemerkt" werden kann. Wir erzielen im Ganzen jetzt n(n — l)/2 mögliche Lernprozesse, gegenüber n1 • n2 Prozessen in der STEiNBUCHschen Matrix, wenn wir da dem einen Signalsystem n1 und dem andern n2 = n — nx Signalleitungen zuordnen. Ein solches Schema kann in verschiedener Weise in die neuronale Wirklichkeit umgesetzt gedacht werden. Abbildung 11 (S. 89) gibt hierfür ein Beispiel. Hierbedeuten die kleinenKreisedieeinzelnenNeuronen, die von ihnen ausgehendengekrümmtenLinien die sogenannten Dendritenfortsätze des neuronalen Zellkörpers, während die der Signalfortleitung vom Neuron dienenden Axonen durch gerade Linien symbolisiert sind. Die möglichen Fortpflanzungsrichtungen der Signale in Dendriten und Axonen sind durch das Pfeilsymbol angedeutet. Wir nehmen nun an, daß die durch verdickte Punkte besonders gekennzeichneten Berührungsstellen zwischen Axonen und Dendriten erst nach wiederholter gleichzeitiger Signalführung des betreffenden Axons und des Neurons, zu dem der fragliche Dendritenfortsatz gehört, für einen Signaldurchgang leitend werden. Dann arbeitet die dargestellte neuronale Schaltung im Effekt genauso, wie unser Schema (Abb. 9). Nun brauchen wir unser Schema nur noch mit zwei relativ einfachen Elementen zu koppeln, deren Existenz im System der Neuronen schon lange sichergestellt 47

ist, um gerade das zu erhalten, was wir haben wollten, und, wie wir gleich sehen werden, sogar noch etwas mehr. Es sind dies synaptische Verbindungen zwischen zwei Neuronen, wie wir sie bereits in den Abbildungen 6 und 7 vorausgesetzt haben, d. h. solche mit Schwellwerteigenschaft, die sich darin äußert, daß normalerweise zwei Eingangssignale gleichzeitig eintreffen müssen, damit ein Ausgangssignal erfolgt, sowie „inhibitorische" Synapsen mit gerade umgekehrter Funktion. Bei ihnen wird das Ausgangs-

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Abb. 9

signal beim Eintreffen des normalen Eingangssignals nur abgegeben, wenn ein zweites „inhibitorisch", d. h. verhindernd wirkendes Signal nicht vorliegt. Zwei Beispielschaltungen, die die genannten Elemente verwenden, sind in den Abbildungen 10 a und 10 b wiedergegeben. Hier sind die in der verallgemeinerten STEiNBUOHschen Lernmatrix jeweils „leitend" gewordenen Kreuzungspunkte durch kleine Kreuze gekennzeichnet. Ersichtlich liefert die Schaltung nach Abbildung 10 a ein Ausgangssignal stets dann, wenn wenigstens eines der drei Si1 o—

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Abb. 10a und 10b

gnale 2, 5, 6 zugleich mit wenigstens einem der Signale 3, 4 vorliegt. I n der Schaltung nach Abbildung 10b dagegen erfolgt das Ausgangssignal, sobald wenigstens eines der Signale 1, 3 zusammen mit wenigstens einem der Signale 2, 4, 5 eintrifft — aber nur, wenn nicht gleichzeitig das Signal 6 gegeben wird. I n diesem Fall verhindert die in Abbildung 6 durch das Subtraktionssymbol wiedergegebene inhibitorische Synapse die Abgabe des Ausgangssignals. Nehmen wir uns zunächst Abbildung 10a vor! Es dürfte einleuchten, daß Schaltungen nach diesem Muster wohl in jedem Fall gerade so ausgebildet werden können, daß sie das leisten, was 48

bei der sinnlichen Wahrnehmung notwendig ist, um auch bei lückenhafter Information durch die Sinne ein im allgemeinen richtiges Erkennen der die Umwelt bildenden materiellen Gegenstände zu erreichen: nämlich daß alle praktisch in Betracht kommenden Kombinationen von Teilsignalen der jeweils angesprochenen Sinne ausreichen, um das den wahrgenommenen Gegenstand anzeigende Ausgangssignal des angesprochenen Modellspeichers hervorzurufen. Das Wichtigste ist aber wohl, daß die hier gezeigten Schemata demonstrieren, wie die in einem ererbten Speicher fest vorgegebenen Erwartungswerte durch wiederholte Signalkoinzidenzen, also durch die Lebenserfahrung des Individuums, vermehrt werden können, ohne daß an der ererbten Speicherstruktur etwas geändert zu werden braucht. Es ist ja nur nötig, den Eingang eines für einen bestimmten Erwartungswert vorerregten Schwellwertelements nach Abbildung 6 mit dem Ausgangssignal einer zu Abbildung 10 a analogen Schaltung zu speisen, um zu erreichen, daß dieses Element nunmehr auf grundsätzlich beliebige Kombinationen neuer Signale ebenso anspricht wie auf das Signal, das ihm von vornherein erbmäßig zugeordnet war. Dasselbe wird gelten, wenn der ererbte „Speicher" nur einen einzigen Erwartungswert enthalten hat oder überhaupt nicht vorgebildet war. Auch dann können offenbar auf dem angegebenen Wege rein durch die Erfahrung wiederholter Signalkoinzidenzen Neuronenschaltungen entstehen, die die volle Funktion von Modellspeichern für bestimmte Gegenstände der Außenwelt besitzen. Entsprechendes gilt natürlich für Speicher höherer Ordnung, die nicht mehr sinnlich direkt wahrnehmbare Dinge, sondern Zusammenhänge höherer Art modellieren, insbesondere auch für solche, die aus dem Sprachzentrum kommende Signale verarbeiten oder Signale dorthin entsenden. Wenn wir nun weiterhin auch Schaltungen mit inhibitorischen Synapsen nach Art von Abbildung 10 b zulassen, so wird darüber hinaus aber noch eine weitere Erscheinung verständlich, auf die wir bisher noch nicht näher eingegangen sind. Ich meine den Umstand, daß das pars-pro-toto-Gesetz der Wahrnehmung unter einer bestimmten Bedingung aufhört zu gelten, nämlich sobald außer Signalen, die an sieh ausreichen würden, um das einem bestimmten Gegenstand entsprechende Ausgangssignal an dem zugehörigen Speichermodell hervorzurufen, von den Sinnen noch weitere Signale vermittelt werden, die zeigen, daß es sich eben doch nicht um den fraglichen Gegenstand handelt. Wir müssen dazu nur voraussetzen, daß solche zusätzliche Signale über geeignete Verknüpfungen eine das Ausgangssignal sperrende inhibitorische Synapse erregen. Auf demselben Wege wird offenbar auch eine bereits eingetretene Täuschung wieder rückgängig gemacht werden können. Ferner können wir nun auch Vermutungen darüber anstellen, wie wohl Modellschaltungen beschaffen sein müssen, die Gegenständen wissenschaftlicher Betätigung zugeordnet sind. Im Gegensatz zu den direkt sinnlich wahrnehmbaren Dingen des täglichen Lebens dürfen sie ja regelmäßig nur dann als gegeben betrachtet werden und der sie modellierende Speicher darf nur dann ein Ausgangssignal liefern, wenn nicht nur ein Teil der sie bezeichnenden Signale am Speicher4

Pfeiffer

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eingang eintrifft, sondern gewisse jeweils charakteristische Signale in Vollständigkeit vorliegen. Wahrscheinlich wird dies im Zentralnervensystem durch einen dem entsprechenden Speicher zugeordneten besonderen „Programmgeber" bewerkstelligt, der sich ebenfalls durch Lernvorgänge bildet und prinzipiell ähnlich wie die Programmgeber arbeitet, die bestimmte äußere Verhaltensweisen von Lebewesen steuern. Derartige Programmgeber werden uns noch mehrfach begegnen. I m vorliegenden Falle bestünde die Funktion dieses Gebers im Speichern der Impulse für die Verwirklichung eines bestimmten Algorithmus, der nacheinander das Vorhandensein der notwendigen Eingangssignale „abtastet". Noch einmal zurück zur sinnlichen Wahrnehmung! Es ist sicher, daß kein von den Sinnen ausgehendes Signal irgendwelche weitere Folgen im Zentralnervensystem nach sich ziehen kann, sofern es nicht über irgendwelche synaptische Verbindungen auf weitere Nervenleitungen einwirkt. Zur Herstellung solcher Verbindungen stehen eben gerade die mit konkreten Erwartungswerten ausgestatteten Modellspeicher bereit, von denen jeder einer bestimmten Klasse von Gegenständen zugeordnet ist. Signale, die von einem Gegenstand ausgehen, ohne daß ihnen feste Erwartungswerte entsprechen, werden aber von dem entsprechenden Speicher nicht aufgenommen. Sie gehen gewissermaßen an ihm vorbei, es sei denn, sie treten nicht nur einmal, sondern wiederholt in Verbindung mit anderen Signalen auf, für die bereits Erwartungswerte existieren. Dann entsteht eine Verknüpfung zwischen den beteiligten Leitungen, die im Effekt auf dasselbe hinauskommt, als ob Erwartungswerte auch für die neuen Signale entstanden wären. Das Ganze bedeutet indessen eine gewisse Siebung, eine Reduktion des ankommenden Informationsflusses! Sie ist, wie wir schon gesehen haben, äußerst zweckmäßig, weil sie verhindert, daß Zufallskoinzidenzen zu Leitungsverknüpfungen führen, die beim Eintreffen weiterer Informationen doch gleich wieder abgebaut werden müßten und also für das Zurechtfinden in der Umwelt ohne Wert sein würden. Das bezieht sich beim Menschen natürlich nicht nur auf das Erkennen der Außenwelt, sondern auch der ja doch ebenso objektiv und real existierenden Welt des eigenen Innern. Im übrigen tritt zu der genannten Informationsreduktion automatisch ein fortwährender Informationsfluß hinzu, der daher rührt, daß der Speicherausgang, wie gesagt, im allgemeinen schon anspricht, wenn nur ein Teil der Eingangssignale vorliegt. Dieser zusätzliche Informationsfluß stellt offenbar nichts anderes dar als eine Mobilisierung von in der Vergangenheit erhaltenen Informationen. Er geht aber über sie weit hinaus und spielt gewiß eine ebenso wichtige Rolle für die Lebensbehauptung des Individuums in einer oft feindlichen Umwelt, wie die erwähnte Informationsreduktion — auch wenn sein Inhalt sich das eine oder andere Mal als irrtümlich erweisen sollte. Wir haben bereits davon gesprochen, daß die Wissenschaft in viel höherem Grade als das tägliche Leben bestrebt sein muß, solchen letzten Endes nur aus dem psychologisch-neurologischen Gesetz des „pars-pro-toto" entspringenden Irrtümern zu entgehen, und auch entsprechende neuronale Schaltungen skizziert. Trotzdem ist das Element des „Glaubens", das sich überall da manifestiert, wo das genannte 50

Gesetz wirksam wird, auch in der wissenschaftlichen Arbeit von größtem Nutzen. Ja es ist vielleicht nicht zu kühn, wenn man behauptet, daß ein wissenschaftlicher Fortschritt ohne dieses Element kaum möglich wäre. Zweifellos ist es doch gerade das Ansprechen von neurologischen Speichern bei nur unvollständigem Vorliegen der zugehörigen Eingangssignale, das den Forscher befähigt, neue Ergebnisse extrapolierend vorauszuahnen", und das ihm nicht selten wie eine Fackel auf dem Weg ins Dunkel des noch Unbekannten voranleuchtet. Dabei schadet es in vielen Fällen nicht einmal, wenn die ersten Vermutungen nicht ganz bestätigt werden: Ihre Berichtigung kann, wie die Erfahrung zeigt, sich manchmal als noch fruchtbarer erweisen, als ihre Bekräftigung hätte sein können. Dazu kommt, daß auch in der Wissenschaft ohne den (stets stark emotional bedingten!) Glauben an den Erfolg niemand die Energie aufbringen kann, die zum Beschreiten neuer Wege und zur Überwindung der auf ihnen stets auftretenden Schwierigkeiten nun einmal notwendig ist. Auch die Reduktion der Information beim Fehlen von zu ihrer Aufnahme bereiten Speichern spielt in der Wissenschaft eine Rolle — allerdings eine negative. Wir haben schon gesehen, daß das Begreifen eines Naturgesetzes neurologisch die Bildung eines entsprechenden Speichermodells im Gehirn des Begreifenden voraussetzt — manchmal vielleicht sogar eines ganzen Systems von Speichern, die das neurologische Äquivalent einer ganzen Theorie ausmachen. So ist es eigentlich selbstverständlich, daß experimentelle Ergebnisse noch so entscheidender Art keine neue Erkenntnis vermitteln können, solange die zu ihrer Verarbeitung nötige Theorie fehlt. Ich bin als Student selbst Zeuge gewesen, wie ein junger Doktorand, der auf Veranlassung W E H N E L T S die Reflexion von Elektronenstrahlen an Halbleitern untersuchte, dabei ganz ausgeprägte Interferenzen, also den schlagenden Beweis für die Wellennatur der Elektronen erhielt. Niemand aber, auch W E H N E L T selbst nicht, der im übrigen ein ganz hervorragender Experimentator war, vermochte auch nur den geringsten Nutzen aus dieser in Wirklichkeit epochalen Beobachtung zu ziehen, die vollkommen rätselhaft blieb und als Folge eines unkontrollierbaren Störeinflusses gedeutet wurde — einfach weil die DE BKOGLiEsche Theorie, die das Auftreten von Elektroneninterferenzen voraussagte und im Rahmen eines größeren Zusammenhanges verständlich machte, noch nicht veröffentlicht war. Wenn ich mich recht erinnere, erfolgte diese Veröffentlichung, die sogleich großes Aufsehen erregte, schon wenige Monate nach dem WEHNELTSchen unverstanden gebliebenen Experiment. Es ist eine alte wissenschaftliche Erfahrung, daß ein und dieselben Erscheinungen oft auf verschiedene Weise in einen nachweisbaren, realen, gesetzmäßigen Zusammenhang untereinander und mit anderen Erscheinungen gebracht werden können, je nach den theoretischen Voraussetzungen, von denen ausgegangen wird. Je umfassender die Ausgangsgesichtspunkte sind, um so vielbedeutender, um so allgemeiner werden die Resultate und damit um so kleiner der theoretische Aufwand im Verhältnis zu der Menge der erfaßten Einzelfälle. Offenbar ist die Anpassung einer Theorie an die Wirklichkeit um so besser — und in diesem Sinne darf man wohl sagen ihr „Wahrheitsgehalt" um so größer — je kleiner dieser Aufwand 4*

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wird. Man macht nun speziell den theoretischen Physikern manchmal zum Vorwurf, daß sie die sogenannte „Eleganz" der gewonnenen Formulierungen zu einer Art Götzen erheben und tatsächlich nicht selten an Stelle fehlender experimenteller Bestätigung als eine Art Wahrheitskriterium betrachten. Unsere Überlegungen zeigen demgegenüber, daß sie damit keineswegs so ganz im Unrecht sind, jedenfalls nicht mehr als die Astronomen, die mangels direkter Entfernungsmessungen die Fluchtgeschwindigkeit der Himmelskörper als Entfernungsmaß benutzen. Eine andere Frage ist die, wie es überhaupt kommt, daß tatsächlich — wie die wissenschaftliche Erfahrung zeigt — die in der relativen Verringerung des theoretischen Aufwands sich zeigende „innere Vollkommenheit" (EINSTEIN) der Theorie fortwährend immer weiter und weiter gebracht werden kann. Die Antwort kann natürlich nur lauten, daß sich hierin eben die objektiv gegebene Universalität und innere Vollkommenheit der Struktur der Naturgesetze selber verrät. Sie muß sich ja um so vollständiger in der Struktur der sie beschreibenden Theorie widerspiegeln, je besser diese das wahre Wesen ihres Gegenstandes erfaßt. Die Wirtschaftlichkeit des Systems der neuronalen Speicher in Hinsicht auf die von ihm zu lösenden Aufgaben scheint mir aber nicht nur ein gewisses Maß für den Wahrheitsgehalt der Theorien zu sein, die in ihm ihren Niederschlag gefunden haben, sondern, wenn man das einzelne Individuum ins Auge faßt, auch ein Intelligenzmaß. Ich möchte jedenfalls behaupten, daß ein Mensch um so intelligenter ist, je größer die Vielfalt der Aufgaben, die sein Erkenntnisapparat bei gegebenem Energieverbrauch für die einzelne Aufgabe (z. B. ohne besondere Anstrengung) zu lösen vermag, oder, was auf dasselbe hinauskommt, je kleiner die mittlere Anstrengung für die Lösung der einzelnen Aufgabe aus einer nicht zu kleinen Vielfalt verschiedenartiger Aufgaben. Dasselbe muß für Tiere gelten. Dagegen scheint mir der Gedanke ganz verfehlt zu sein, die Möglichkeit der Lösung bestimmter Aufgaben oder die dazu benötigte Zeit als Intelligenzmaß zu erklären, wie es nur zu oft geschieht. Man kommt dann erfahrungsgemäß zu teilweise ganz schiefen Urteilen. Als Beispiel möchte ich nur anführen, daß nach dem Ergebnis systematischer Labyrinthversuche Mäuse im Durchschnitt intelligenter sein müßten als amerikanische Studenten, was natürlich auch die eifrigsten Verfechter solcher Versuche nicht glauben. Wohl aber betrachten sie es anscheinend als gesichert, daß hiernach Esel intelligenter sind als Pferde, welcher Schluß in Wahrheit natürlich grundsätzlich ebenso unberechtigt ist wie der erstgenannte. Ein anderes als Intelligenz ist das geistige Schöpfertum, das sich offenbar in der Initiative beim Aufbau neuer Speicher und Speichersysteme zeigt, die die in den Gehirnen der Mitmenschen bereits vorhandenen an Wirtschaftlichkeit in dem eben erläuterten Sinn übertreffen. Den Grad dieser Initiative exakt zu messen dürfte aber noch weiter außerhalb der Grenzen des Möglichen liegen als die Messung der durch die Wirtschaftlichkeit des neuronalen Speichersystems definierten Intelligenz. Reduktion und Ergänzung des unmittelbar gegebenen Informationsflusses durch das neuronale Speichersystem sowie die Wirtschaftlichkeit des aufzubauenden 52

Systems spielen übrigens für die Schaffung von Kunstwerken und ihr Verständnis eine fast noch größere Rolle als in der Wissenschaft. Hierauf können wir aber erst später eingehen. Zunächst müssen wir, wie bereits angekündigt, uns etwas näher mit dem Problem des Bewußtseins befassen, um eine Grundlage für weitere Schlußfolgerungen zu erhalten. 6. Vorlesung Wie wir schon zu Anfang unserer Vorlesung gesehen haben, gehört der Bewußtseinsbegriff zu den allerwichtigsten philosophischen Grundbegriffen: Die beiden Grundrichtungen philosophischen Denkens, die idealistische und die materialistische, unterscheiden sich ja wesentlich gerade durch die verschiedene Auffassung des Verhältnisses von Bewußtsein und objektiver Realität. Wir wollen uns im Augenblick mit dem Bewußtsein nur so weit befassen, als seine Erkenntnisfunktion berührt wird und, wie bereits angekündigt, zunächst auch nur vom Standpunkt der Psychologie des Einzelindividuums aus. Da ist es wohl angebracht, zuerst einmal zu fragen, was die offizielle Psychologie in ihren beiden Richtungen, über die wir ja schon gesprochen haben, zum Bewußtseinsproblem zu sagen hat. Die Auskunft, die wir von dieser Seite erhalten, ist allerdings wenig befriedigend. Von der experimentellen Psychologie ist in dieser Frage natürlich von vornherein kaum etwas zu erwarten. Aber auch die introspektive Richtung der Psychologie, solange sie sich auch schon mit dem Problem des Bewußtseins befaßt, scheint dabei noch zu keinem rechten Schluß gekommen zu sein. Die Situation ist offenbar vor allem dadurch kompliziert, daß das Wort „Bewußtsein" auch in wissenschaftlichem Zusammenhang in mehreren Bedeutungen gebraucht wird. Als Beispiel will ich jetzt nur kurz wiedergeben, was JASPEES, der ja nicht nur Philosoph, sondern vor allem ein anerkannter Psychiater ist, in seiner „Allgemeinen Psychopathologie" [7] dazu ausführt. Nach seiner Meinung kann man von „Bewußtsein" in dreierlei Bedeutung des Wortes reden. Erstens: als „Innerlichkeit des Erlebens" (Gegensatz: Bewußtlosigkeit und Außerbewußtes); zweitens: als „Wissen von Etwas" (Gegenständliches Bewußtsein); drittens: als „Selbstreflexion" (Bewußtsein seiner selbst). Tatsächlich sind das längst nicht alle Bedeutungen, die man in der Geschichte des Geistes allgemein und speziell in der Psychologie mit dem Worte „Bewußtsein" verbunden hat, wenn auch häufig eine gewisse Überdeckung besonders mit der dritten jASPEESschen Begriffsbestimmung zu finden ist. Wir können es uns ersparen, auf die verschiedenen Auffassungen weiter einzugehen, von denen sich doch schließlich keine allgemein hat durchsetzen können. Was ihnen allen fehlt, ist unter anderem auch eine rechte Beziehung zu den neueren Erkenntnissen, die die Psychologie der Neurokybernetik verdankt und die zu vertiefen und zu vermehren auch eine Aufgabe unserer Vorlesung sein soll. Tritt man vom Standpunkt der Kybernetik an das Problem heran und bemüht man 53

Systems spielen übrigens für die Schaffung von Kunstwerken und ihr Verständnis eine fast noch größere Rolle als in der Wissenschaft. Hierauf können wir aber erst später eingehen. Zunächst müssen wir, wie bereits angekündigt, uns etwas näher mit dem Problem des Bewußtseins befassen, um eine Grundlage für weitere Schlußfolgerungen zu erhalten. 6. Vorlesung Wie wir schon zu Anfang unserer Vorlesung gesehen haben, gehört der Bewußtseinsbegriff zu den allerwichtigsten philosophischen Grundbegriffen: Die beiden Grundrichtungen philosophischen Denkens, die idealistische und die materialistische, unterscheiden sich ja wesentlich gerade durch die verschiedene Auffassung des Verhältnisses von Bewußtsein und objektiver Realität. Wir wollen uns im Augenblick mit dem Bewußtsein nur so weit befassen, als seine Erkenntnisfunktion berührt wird und, wie bereits angekündigt, zunächst auch nur vom Standpunkt der Psychologie des Einzelindividuums aus. Da ist es wohl angebracht, zuerst einmal zu fragen, was die offizielle Psychologie in ihren beiden Richtungen, über die wir ja schon gesprochen haben, zum Bewußtseinsproblem zu sagen hat. Die Auskunft, die wir von dieser Seite erhalten, ist allerdings wenig befriedigend. Von der experimentellen Psychologie ist in dieser Frage natürlich von vornherein kaum etwas zu erwarten. Aber auch die introspektive Richtung der Psychologie, solange sie sich auch schon mit dem Problem des Bewußtseins befaßt, scheint dabei noch zu keinem rechten Schluß gekommen zu sein. Die Situation ist offenbar vor allem dadurch kompliziert, daß das Wort „Bewußtsein" auch in wissenschaftlichem Zusammenhang in mehreren Bedeutungen gebraucht wird. Als Beispiel will ich jetzt nur kurz wiedergeben, was JASPEES, der ja nicht nur Philosoph, sondern vor allem ein anerkannter Psychiater ist, in seiner „Allgemeinen Psychopathologie" [7] dazu ausführt. Nach seiner Meinung kann man von „Bewußtsein" in dreierlei Bedeutung des Wortes reden. Erstens: als „Innerlichkeit des Erlebens" (Gegensatz: Bewußtlosigkeit und Außerbewußtes); zweitens: als „Wissen von Etwas" (Gegenständliches Bewußtsein); drittens: als „Selbstreflexion" (Bewußtsein seiner selbst). Tatsächlich sind das längst nicht alle Bedeutungen, die man in der Geschichte des Geistes allgemein und speziell in der Psychologie mit dem Worte „Bewußtsein" verbunden hat, wenn auch häufig eine gewisse Überdeckung besonders mit der dritten jASPEESschen Begriffsbestimmung zu finden ist. Wir können es uns ersparen, auf die verschiedenen Auffassungen weiter einzugehen, von denen sich doch schließlich keine allgemein hat durchsetzen können. Was ihnen allen fehlt, ist unter anderem auch eine rechte Beziehung zu den neueren Erkenntnissen, die die Psychologie der Neurokybernetik verdankt und die zu vertiefen und zu vermehren auch eine Aufgabe unserer Vorlesung sein soll. Tritt man vom Standpunkt der Kybernetik an das Problem heran und bemüht man 53

sich im Rahmen der Aufgabe, die wir uns im Augenblick gestellt haben, gleichzeitig um eine auch im mathematischen Sinne exakte Begriffsfassung, so kommt man, glaube ich, wohl mehr oder weniger zwangsläufig zunächst ebenfalls zu drei oder sogar vier grundlegenden Definitionen des die Erkenntnisfunktion betreffenden psychologischen Bewußtseinsbegriffs, von denen sich aber keine mit einer der jASPERSschen deckt und die auch voneinander scharf unterschieden werden müssen, wenn keine Konfusion entstehen soll. Ich möchte sogar meinen, daß ein großer Teil der bisherigen Verwirrung in dieser Frage einfach daher rührt, daß es an einer ohne Rückgriff auf kybernetische Einsichten freilich schwer erzielbaren klaren Unterscheidung zwischen den verschiedenen möglichen Definitionen gefehlt hat. Nun zu den hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmungen! Bei der ersten gehen wir zweckmäßig von dem aus, was wir bereits über die „innere Wahrnehmung" gesagt haben, die auf der Bildung von neuronalen Speichern mit Erwartungswerten für bestimmte Klassen von inneren Erlebnissen beruht. Zunächst müssen wir uns klar machen, daß gewiß niemals alle inneren Vorgänge durch derartige .Speicherbildungen vollständig erfaßt sein können. Deren Entstehung beginnt ja regelmäßig schon in der Kindheit auf ganz dieselbe Weise, in der auch die Bildung von Speichermodellen für Gegenstände der äußeren Wahrnehmung erfolgt: nämlich dadurch, daß dem Kinde zugleich mit dem Wort für das Bezeichnete dessen Begriff als die Gesamtheit der dem Bezeichneten zugeordneten Erwartungswerte vermittelt wird. So erwirbt das Kind einige Zeit nach den Begriffen des Eßbaren und Trinkbaren auch die des Hungers und Durstes, um zunächst einmal vom Primitivsten auszugehen. Bei diesem Primitivsten bleibt aber der Prozeß der Speicherbildung nicht stehen, weder in bezug auf äußere Gegenstände, noch auf innere. Im Gegenteil, kein Mensch wird, solange er überhaupt noch fähig bleibt, sich mit neuen Sachverhalten auseinanderzusetzen, hier jemals zu einem Ende gelangen können. Es werden ihm also immer wieder Erscheinungen gegenübertreten, mit denen diese Auseinandersetzung noch nicht erfolgt ist, und das wird ganz besonders bezüglich der inneren Erlebnisse gelten, die ja eine außerordentliche, sich zudem während der ganzen Lebensdauer des Individuums Ständig verändernde Mannigfaltigkeit aufweisen. Faktisch wird das in einem bestimmten Augenblick gegebene innere Gesamterlebnis, das ja durchweg recht komplexer Natur ist, neben gewissen typischen Komponenten, für die Speichermodelle vorliegen, wohl immer auch solche enthalten, für die das nicht oder noch nicht der Fall ist. Damit haben wir nun schon die Grundlage für unsere erste, von neurokybernetischen Vorstellungen ausgehende Definition des Bewußtseinsbegriffs gewonnen: wir definieren als das „engere" oder „kontemplative" Bewußtsein die Menge aller derjenigen im Zentralnervensystem, vor sich gehenden typischen Teilprozesse, für die neuronale Speicher von Erwartungswerten als Grundlage für ihre innere Wahrnehmung vorhanden sind. Nach dieser Definition kann das engere Bewußtsein „mehrschichtig" werden, dann nämlich, wenn die „sekundären" Prozesse, die in einem für gewisse „primäre" 54

Prozesse gebildeten Speicher ablaufen, ihrerseits ebenfalls durch eine innere Speicherbildung modelliert werden und so fort. Natürlich braucht die innere Wahrnehmung gerade wie die äußere nicht in jedem Falle fehlerfrei zu sein. Die Speichermodelle, auf denen sie beruht, werden ebenso wie die für äußere Gegenstände zuweilen schon ansprechen, wenn nur ein Teil ihrer Erwartungswerte durch reale Komponenten der modellierten Vorgänge erfüllt ist. Wir unterliegen dann einer Selbsttäuschung, die den ja nicht seltenen Täuschungen der äußeren Wahrnehmung ganz analog ist. Davon haben wir ja schon gesprochen. Aber auch wenn solche Täuschungen nicht vorliegen, kann das neuronale Modell eines perzipierten inneren Vorganges niemals vollständig sein, ähnlich wie ja auch das Modell eines äußeren Objektes niemals den Anspruch auf vollständige Wiedergabe aller objektiv vorhandenen Merkmale dieses Objekts erfüllen kann: sonst müßte es ja mit dem modellierten Objekt schlechterdings identisch werden. Im Falle der inneren Perzeption kommt noch hinzu, daß sie im allgemeinen kaum ohne Rückwirkung auf den perzipierten Vorgang bleiben wird. Die Aufgabe, diese Modifikation in der Perzeption zu berücksichtigen, und ebenso die weitere Modifikation, die durch diese Berücksichtigung hervorgerufen wird usf., würde offenbar einen unendlichen Umfang annehmen, der in einem Gehirn von endlicher Masse nicht bewältigt werden kann. Wichtig ist auch die Feststellung, daß gewisse im Zentralnervensystem ablaufende Vorgänge vom inneren Sinn überhaupt nicht als „erlebt" gemeldet werden können und sich deshalb auch der inneren Wahrnehmung ein für alle Mal entziehen. Hierzu gehören z. B. die schon erwähnten KompensationsVorgänge bei der Wahrnehmung bewegter Objekte, die Korrektion der von der Retina des Auges empfangenen Farbeindrücke zur Beseitigung des fälschenden Einflusses wechselnder Beleuchtung und überhaupt alle nach feststehenden Schemata ablaufenden, auf die Erfassung objektiv gegebener Umweltmerkmale zielenden Berichtigungen der unmittelbaren Sinneseindrücke, die man in der Psychologie unter dem Begriff der „Konstanz"-Phänomene faßt und von denen es noch eine ganze Anzahl gibt, auf die hier einzugehen wir uns versagen müssen. Ebenso zählen hierzu die nervösen Einzelimpulse zur Ausführung eingeübter Bewegungen — z. B. des Gehens und Schreibens, die von gewissenals Geber von Zeitprogrammen arbeitenden neuronalen „Divergenz"-Gliedern ausgesandt werden. Derartige Vorgänge müssen jedenfalls als grundsätzlich „unbewußt" bezeichnet werden. Nicht ganz so steht es mit der A r t von inneren Erlebnissen, die zwar faktisch von der inneren Wahrnehmung noch nicht erfaßt wurden, ihr aber gleichwohl grundsätzlich durchaus zugänglich sind. Die Menge dieser Prozesse mag mit dem Namen des „Unterbewußtseins" oder auch des „Vorbewußtseins" belegt werden, mit Rücksicht auf ihre nahe Beziehung zum (engeren) Bewußtsein, in das sie doch jederzeit übertreten könnten. Sie unterscheiden sich im übrigen auch in keiner Weise von denen, die wir dem Bestand des „engeren" Bewußtseins zugeordnet hatten. E s erscheint daher sinnvoll, sie mit den letzteren in einem Oberbegriff zusammenzufassen, dem wir den Namen des „allgemeinen" Bewußtseins geben

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wollen. Damit wären wir bereits zu unserer zweiten Bewußtseinsdefinition ge langt, die wir wie folgt formulieren: Als „allgemeines" Bewußtsein sei die Menge aller der inneren Wahrnehmung grundsätzlich zugänglichen, im Zentralnervensystem ablaufenden typischen Teilprozesse bezeichnet ohne Rücksicht darauf, ob die hierzu erforderlichen inneren Modelle dieser Prozesse tatsächlich vorliegen oder nicht. Hiernach ist das „engere" oder „kontemplative" Bewußtsein ein Teil des „allgemeinen". Wie groß oder wie klein dieser Teil ist, wird sehr vom Grad und von der Art der geistigen Ausbildung des Einzelmenschen abhängen. Wir müssen wohl annehmen, daß er den Tieren, auch den geistig höchstentwickelten, ganz fehlt, so daß bei ihnen der Umfang des „allgemeinen" Bewußtseins mit dem des „Unterbewußtseins" zusammenfallen dürfte. Sicher besitzen alle Tiere, die über ein nur einigermaßen ausgebildetes Zentralnervensystem verfügen, darin auch neuronale Speicher mit Erwartungswerten für gewisse materielle Dinge ihrer Umgebung. Während aber der Mensch außer solchen Speichern stets noch zusätzliche Speicher besitzt, mit deren Hilfe z. B. auch die Vorgänge der sinnlichen Wahrnehmung als solche klassifiziert werden können — sonst wäre es ja nicht möglich, daß doch alle menschlichen Sprachen Worte für „sehen", „hören" usw. enthalten — dürfen wir wohl kaum annehmen, daß irgendeinem Tier eine solche zusätzliche, das eigene innere Erleben erfassende Klassifizierung gelingt. Wahrscheinlich hängt dies mit dem Fehlen des Sprachzentrums im Tierhirn zusammen. Wenn das menschliche Gehirn auch zweifellos imstande ist, Speicher zu bilden, die (innere oder äußere) Sachverhalte modellieren, ohne daß ein sprachlicher Ausdruck zur Ankopplung an den Speicherausgang zur Verfügung zu stehen braucht — wir werden uns mit diesem Umstand noch näher beschäftigen müssen, wenn wir zur Behandlung des Problems der Kunst gelangen —, so spielt die Sprache gewiß trotzdem eine ganz entscheidende Rolle für die Bildung der meisten in den Hirnen einer menschlichen Gemeinschaft vorhandenen Speicher wegen der Leichtigkeit und Schnelligkeit der Belehrung weniger Erfahrener durch Erfahrenere, die sie ermöglicht. Tatsächlich wird doch die Zahl der Begriffe, zu denen ein Individuum ohne die sprachliche Hilfe anderer gelangen kann, stets relativ bescheiden sein, und sogar die Bereicherung, die die gesamte menschliche Begriffswelt während der Lebenszeit einer ganzen Generation erfährt, wird immer noch unbedeutend gegenüber dem Begriffsschatz bleiben müssen, den frühere Generationen angehäuft und wiederum vorzugsweise durch die Sprache an die nachfolgenden weitergegeben haben. Wir werden hierauf bald noch einmal zurückkommen. Jedenfalls wird beim Einzelmenschen der Inhalt seines „engeren" Bewußtseins praktisch sehr weitgehend von dem individuellen Umfang des speziellen Speichersystems bestimmt sein, das den ihm persönlich zugänglichen Begriffsvorrat der Sprache bedingt, und ebenso natürlich von der Art der angelegten Speicher, die sich je nach der Ausbildung, die der betreffende Mensch genossen hat, doch auf teilweise recht verschiedene Gegenstände beziehen können. Vielleicht ist es angebracht, hier ein Wort über den psychologischen Vorgang des 56

Urteilens einzuflechten. Im logischen Sinne spricht man von einem „Urteil" nur, wenn eine sachliche Feststellung in sprachlicher Einkleidung vorliegt. Dem entspricht, wie wir schon gesehen haben, die Erzeugung eines wortbedeutenden Signals in einer Nervenleitung, die einesteils mit dem Sprachzentrum, andernteils mit dem Ausgang eines Speichers in Verbindung steht, der dem beurteilten Gegenstand als sein neuronales „Modell" zugeordnet ist. Worin liegt aber nun eigentlich das Wesentliche des ganzen Vorgangs, in der Erregung des letztgenannten sachbezogenen Speichers oder in der Erzeugung des Signals, das den äquivalenten sprachlichen Ausdruck auslöst? Die Beantwortung dieser Frage wird uns nicht allzu schwer fallen, wenn wir an das Beispiel eines zweisprachigen Menschen denken, der in gleicher Weise daran gewöhnt ist, etwa das Deutsche und das Englische als Denkhilfe zu benutzen. Er sieht vielleicht auf einem Spaziergange vor sich auf dem Wege etwas sich bewegen. Auf einmal erkennt er darin eine Katze, und schon formen sich in seinem Bewußtsein die Worte: ja welche denn? (Ob er sie laut ausspricht oder nicht, soll uns dabei weniger interessieren). Er denkt entweder: „Es ist eine Katze!" oder „It's a cat!". Obgleich der sprachliche Ausdruck verschieden ist, handelt es sich doch jedesmal sachlich gesehen um das gleiche Urteil, das eben mit der Erregung des angesprochenen gegenstandsbezogenen Speichers schon vollständig festgelegt ist. Im genannten Beispiel liegt der sachliche Inhalt des Urteils in der Zuordnung des wahrgenommenen Gegenstands zu einem allgemeinen Begriff, nämlich demjenigen, der sowohl durch das deutsche Wort „Katze" wie durch das äquivalente englische Wort „cat" wiedergegeben wird, und diesem allgemeinen Begriff ist der angesprochene neuronale Speicher direkt zugeordnet. Wir müssen uns aber klar machen, daß neuronale Modellspeicher wohl sehr häufig Begriffen zugeordnet sein werden, dies aber nicht müssen. Ihrer eigentlichen Natur nach ist dies sogar ganz gewiß nicht der Fall. Wir haben ja schon gesehen, daß der Bestand an Merkmalen, den sie repräsentieren, im allgemeinen durch Lernprozesse aneinandergeknüpft ist, die grundsätzlich nie ihr Ende zu finden brauchen, so daß dieser Komplex seiner Natur nach eigentlich kein fixer, sondern eher ein sich ständig weiter entwickelnder ist, wobei ebensowohl Teilmerkmale hinzukommen wie auch verloren gehen können, während doch jeder Begriff, wenn er seine logische Funktion richtig ausüben soll, durch eine feststehende, beschränkte Zahl von Merkmalen gekennzeichnet sein muß. Außerdem führt das Prinzip der zeitlichen Koinzidenz von Signalen, das dem Aufbau der neuronalen Speichermodelle im Lernprozeß zugrunde liegt, dazu, daß auch einander ausschließende Teilmerkmale, die also nie gleichzeitig an ein und demselben Gegenstand zu konstatieren sein werden, gleichwohl zu den Erwartungswerten ein und desselben Modells gehören können. Es genügt dazu offenbar, daß die solche Merkmale anzeigenden Signale regelmäßig in verschiedenen, sich im übrigen aber teilweise überdeckenden Signalgruppen auftauchen. Auch das bewirkt natürlich, daß das fragliche Modell nicht als neuronale Repräsentanz eines Begriffs gelten kann, dessen Merkmalsbestand doch stets in sich widerspruchsfrei zu sein hat. 57'

Der durch einen bestimmten neuronalen Speicher repräsentierte Merkmalskomplex wird wohl nur dann den Ansprüchen genügen können, die an die Merkmale eines logischen Begriffs zu stellen sind, wenn der zugehörige Modellspeicher mit dem Programmgeber für einen Suchalgorithmus gekoppelt ist, der die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit des Merkmalsbestands in jedem konkreten Falle gesondert prüft — wir haben diese sehr wahrscheinlich richtige Hypothese schon erwähnt, als es um die Frage der neuronalen Repräsentation von Naturgesetzen ging. Dabei wird jeder solche Suchgeber wie ja im allgemeinen auch der Modellspeicher, dem er zugeordnet ist, nur durch besondere Lernprozesse gebildet werden können, die hier in der Übung der Tätigkeit, die er steuern soll, vor sich gehen. Den durchaus nicht fest gegebenen und nicht notwendig in sich widerspruchsfreien Merkmalsbestand, den irgendein Modellspeicher ohne einen solchen Suchprogramm-Geber darstellt, könnte man vielleicht zutreffend mit dem Worte „Gestalt" bezeichnen. Mit der Rolle, die derartige grundsätzlich als dynamisch aufzufassende „Gestalten" sowohl als moralische Vorbilder als auch in der Kunst spielen, werden wir uns später noch eingehend beschäftigen müssen. Gestalthafte Bedeutungen machen sich aber fast immer nebenbei auch bemerkbar, wenn begriffliche Urteile ausgesprochen werden, und zwar in dem, was man gewöhnlich die besondere „Färbung" der benutzten Worte nennt. Die Gesamtheit der wortbedeutenden Signalleitungen im Sprachzentrum bildet ja ein zweifellos untereinander und mit anderen Teilen des Gehirns sehr stark vermaschtes kybernetisches System, dessen Verknüpfungspunkte, wie gesagt, einfach durch die Häufigkeit zeitlicher Koinzidenzen in den Signalen der sich vielfach kreuzenden Leitungen bestimmt werden. So kann praktisch kaum eine Leitung erregt werden, ohne daß gleichzeitig auch noch eine Reihe anderer signalführend wird. Welche dies sind, wird bei der Erregung des Signals für ein bestimmtes Wort hauptsächlich von dem Zusammenhang abhängen, in dem es am meisten auftaucht und keineswegs ein für alle Mal feststehen. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in solchen Zusatzerregungen jedesmal die Aktivierung von das Haupturteil begleitenden Nebenurteilen sehen, denen nun ein ausgesprochener Gestaltcharakter im SinneunsererebengegebenenDefinition zukommt, und deren Inhalt eben die „Färbung" der benutzten Ausdrücke ausmacht. Wenn wir uns erlauben, im folgenden das Wort „Urteil" in einem entsprechend erweiterten Sinne zu benutzen, so dürfen wir hiernach feststellen, daß es offenbar drei Arten der Urteilsfällung gibt: Erstens: Urteilen, ohne daß das Urteil überhaupt ins engere Bewußtsein tritt (insbesondere: ohne daß es einen sprachlichen Ausdruck findet). Zweitens: Urteilen im logischen Sinne des Wortes mit sprachlichem Ausdruck des Urteils, wobei regelmäßig zu dem eigentlichen Inhalt des Urteils noch in der „Färbung" der gebrauchten Worte liegende Nebenurteile hinzutreten, die von der Gestalteigenschaft der entsprechenden Nebenbedeutungen bestimmt werden. Drittens: Urteilen mit Ankopplung des urteiltragenden Speicherausgangs an andere nichtsprachliche Speicherhierarchien, deren Erregung im allgemeinen ebenfalls zusätzliche gestalthafte Urteile bedeuten wird. Mit dem dritten Fall werden wir uns wiederum im Zusammenhang mit den Pro58

blemen der Kunst noch einmal befassen müssen. Er kann übrigens mit dem zweiten gleichzeitig gegeben sein. Die Aneinanderkopplung von gegenständlichen Merkmalskomplexen — denen sowohl Begriffs- wie Gestaltcharakter zukommen kann — in untereinander vielfach verknüpften neuronalen Speichern mag uns nun als Grundlage für die Definition einer weiteren Variante des Bewußtseinsbegriffs dienen: Als „rezeptives" Bewußtsein sei die Menge aller jeweils in neuronalen Speichern zusammengekoppelten Merkmalskomplexe bezeichnet, die im einzelnen entweder statischen („Begriffs-")Charakter oder dynamischen („Gestalt"-)Charakter besitzen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Definitionen (und auch einer weiteren, zu der uns unsere Überlegungen sogleich führen werden) ist die eben gegebene die erste, bei der die Elemente der ihr zugrunde liegenden Menge nicht Prozesse oder Zustände im Zentralnervensystem sind, sondern Merkmale irgendwelcher Gegenstände, die in diesen Prozessen oder Zuständen modelliert werden, wobei als solche Gegenstände allerdings zuweilen auch dem „engeren" Bewußtsein zugehörige Vorgänge dienen können, wie wir schon früher gesehen haben. Weitere, durch Elemente von gegenständlichem Charakter gebildete Bewußtseinsformen werden wir später noch im „moralischen" und „künstlerischen" Bewußtsein kennen lernen, und — ohne den Ehrgeiz, die entsprechenden philosophischen Probleme vollständig lösen zu wollen — dabei versuchen, die von uns gefundenen Begriffsbestimmungen in Beziehung zu dem Bewußtseinsbegriff speziell der marxistischen Philosophie zu setzen. Was die allgemeine gegenseitige Verknüpfung der Speicher im neuronalen kybernetischen System angeht, so ist es freilich wichtig, sich klar zu machen, daß die leitend gewordene Verbindung zweier Nervenleitungen und die Überleitung eines Signals von der einen in die andere noch keineswegs immer bedeutet, daß nun auch alle weiteren angeschlossenen Leitungen entsprechend miterregt werden müssen. Wäre dem so, so müßte bei der ungeheuren Vielzahl der wechselseitigen Verbindungen praktisch das gesamte Zentralnervensystem ständig in gleicher Intensität signaltragend sein, was in Wirklichkeit niemals der Fall sein kann. Vielmehr ist, wie wir genau wissen, zu einem gegebenen Zeitpunkt stets nur ein gewisser Teil des Systems „in Betrieb" und der Rest in relativer Ruhe. Auf die Ursachen und die Bedeutung dieser Erscheinung, die in gleicher Weise die Vorgänge des „engeren" und des „allgemeinen" Bewußtseins wie die unbewußten Vorgänge betrifft und stets auch nur eine Teilmobilisierung der das rezeptive Bewußtsein tragenden Speicher zuläßt, werden wir bald zu sprechen kommen. Vorerst wollen wir sie benutzen, um unsere dritte Bewußtseinsdefinition zu formulieren: Als „aktuelles" oder „Präsenz"-Bewußtsein bezeichnen wir die Menge aller derjenigen dem „allgemeinen" Bewußtsein zuzuzählenden Vorgänge, die in einem gegebenen Augenblick in dem gerade erregten Teil des Gehirns ablaufen. Die Menge der hiermit erfaßten Prozesse ist also ebenso wie diejenige, die das „engere" Bewußtsein bildet, eine Teilmenge aus der Menge der Prozesse, die das „allgemeine" Bewußtsein konstituieren. Indessen sind die beiden Teilmengen selbstverständlich nicht identisch. 59

Außerdem bilden die dem „aktuellen" Bewußtsein zuzurechnenden inneren Vorgänge eine Teilmenge der größeren Menge der im gerade erregten Teil des Gehirns überhaupt ablaufenden Prozesse: ein Teil der letzteren gehört ja nicht zum „allgemeinen" und damit auch nicht zum „aktuellen" Bewußtsein. Das „aktuelle" Bewußtsein besitzt nun eine entscheidende Bedeutung für die Wahrung der Stabilität und damit der Arbeitsfähigkeit des Zentralnervensystems und für die Aufrechterhaltung der Existenz des Gesamtorganismus, von dem es einen Teil bildet im Lebenskampf überhaupt. Um diese Zusammenhänge einzusehen, müssen wir uns aber vorher noch kurz mit dem Stabilitätsbegriff der Kybernetik auseinandersetzen. Man hört oft sagen, daß die Betrachtung des in einem System vor sich gehenden Energieumsatzes nicht zu den Aufgaben der Kybernetik gehört. Diese Meinung ist sogar schon von Norbert W I E N E B , dem eigentlichen geistigen Vater der kybernetischen Wissenschaft, geäußert worden und hat in den Augen vieler Kybernetiker fast die Bedeutung eines Axioms angenommen. Trotzdem kann man ihr bei dem heutigen Stande der Erkenntnis nicht mehr uneingeschränkt zustimmen. Freilich gibt es eine große Klasse von Systemen, nämlich die linearen Regelungssysteme, bei denen man, speziell wenn es sich um die mathematische Prüfung ihrer Stabilitätseigenschaften handelt, durchaus ohne Rückgriff auf den Energiebegriff auskommt, obgleich physikalisch betrachtet auch bei ihnen das Stabiloder Nichtstabilsein ganz entscheidend davon abhängt, in welchem Maß und zu welchem Zeitpunkt dem sogenannten „Stellglied" Energie zugeführt wird. Mathematisch klar wird die Sache, wenn man auch nichtlineare Systeme in Betracht zieht, für deren Untersuchung die sogenannte „direkte" Methode L J A P U NOWS immer mehr an Bedeutung gewinnt. Das Hauptproblem bei diesem im übrigen ganz universellen Verfahren der Stabilitätsprüfung besteht bekanntlich darin, einen geeigneten Ausdruck für die gewöhnlich mit dem Buchstaben V bezeichnete stabilitätsbestimmende Funktion zu finden. Es ist nun keineswegs zufällig, daß sich als eine solche Funktion in vielen Fällen eben die im System umgesetzte Energie anbietet, deren ständige Abnahme bis auf beliebig kleine Beträge nach jeder Störung sich stets als hinreichend erweist, um die Systemstabilität sicherzustellen. Aber auch wenn wir die nicht ganz einfach zu handhabende L j A P U N O W S c h e Theorie beiseite lassen und uns fragen, wonach denn eigentlich der praktisch arbeitende Ingenieur die Stabilität eines ihm zum Entwurf oder zum Betrieb anvertrauten Regelgeräts zu beurteilen pflegt, erhalten wir im Grunde dasselbe Bild. Auch er wird nämlich verlangen, daß die Größe der im Regler laufenden Signale und damit die in ihnen umgesetzte Energie nach jeder Störung in einer angemessenen Zeit wieder möglichst genau auf ihren dem ungestörten Zustand entsprechenden Normalbetrag zurückgeht. Weiter wird er erwarten, daß bei den praktisch in Betracht zu ziehenden Störungen der Regler seinen normalen Arbeitsbereich nicht verläßt, innerhalb dessen im allgemeinen die in den Signalen des Reglers umgesetzte Energie etwa proportional der Störenergie zu sein hat. I m Gegensatz dazu wird ein instabiles und damit arbeitsunfähiges System regelmäßig daran erkannt, 60

daß bei Störungen, von betriebsmäßiger Größe oder sogar schon spontan die Signalgrößen rasch auf nicht mehr tragbare Werte ansteigen. Diese praktischen Maßstäbe werden, und zwar mit vollem Recht, auch auf selbstoptimierende Systeme angewandt, also auf solche, die imstande sind, ihre eigenen Parameter und damit die Art ihrer Reaktion auf Störungen selbsttätig einem Wechsel der äußeren Umstände anzupassen. Nun zurück zum Zentralnervensystem, das ja schließlich eben ein solches selbstoptimierendes System darstellt, und der Rolle, die das Phänomen des „aktuellen" Bewußtseins für die Lösung der ihm obliegenden Aufgaben spielt! Wir vermerken hier ein wichtiges hirnphysiologisches Gesetz. Es besagt, daß die mittlere Intensität der Erregung und der Umfang des von ihr erfaßten Gehirngebietes einander stets ungefähr umgekehrt proportional sein müssen. Wahrscheinlich gilt dieses Gesetz sogar genau, wenn wir nicht nur den Teil des Gehirns betrachten, in dem die Vorgänge des „aktuellen" Bewußtseins ablaufen, sondern den gesamten im gegebenen Augenblick „aktiven" Teil des Zentralnervensystems. Die Auswirkungen des genannten Gesetzes sind äußerst vielfältig und bei Mensch und Tier in den mannigfachsten Lebensumständen für das gesamte Verhalten entscheidend. Die scheinbare Blindheit und Taubheit mancher Tiere während des Liebesspiels gehört z. B. zweifellos hierher, aber auch die menschliche Unfähigkeit zur ruhigen Überlegung im Zorn und überhaupt bei stärkeren Gemütsbewegungen, aus der die berechtigte Forderung entspringt, in schwierigen Situationen „kaltes Blut" zu bewahren. Unter anderem lassen sich auch die bekannten Wirkungen des Alkohols in allen ihren Stadien zum großen Teil mit Hilfe dieses Gesetzes erklären, wenn man nur von der einen, durch objektive Messungen einwandfrei nachgewiesenen Tatsache der Verlängerung der Reaktionszeiten unter Alkoholeinfluß ausgeht, die jedenfalls auf eine allgemeine Erschwerung in der Fortleitung der Signale in den Nervenleitungen hinweist. Damit ist offenbar zunächst einmal die Ausbreitung der Erregung von einem primär (z. B. durch Signale von den Sinnesorganen) erregten Zentrum aus in gewisser Weise behindert. Folglich wird das von der Erregung insgesamt erfaßte Gebiet kleiner und die Intensität der Erregung darin größer werden müssen, wie es sich ja auch tatsächlich in den ersten Stadien der Alkoholeinwirkung beobachten läßt. Bei stärkerer Dosis wird es sogar dahin kommen können, daß alle im gegebenen Augenblick nicht direkt erregten Gehirnteile so gut wie völlig inaktiv bleiben, insbesondere auch diejenigen, die normalerweise einem gerade wirksamen Primärimpuls entgegenwirken würden: man spricht dann von einem Wegfall der sonst vorhandenen „Hemmungen". Auf dieselbe Weise erklärt sich der oft rasche Stimmungswechsel des Berauschten. Schließlich, bei noch stärkerer Alkoholgabe, erreichen selbst die stärksten unmittelbar von der Außenwelt ausgehenden Primärimpulse die Hirnrinde überhaupt nicht mehr, es kommt zur Bewußtlosigkeit und allgemeinen Lähmung. Was uns im Zusammenhang mit der Stabilitätsfrage besonders interessieren muß, ist der Umstand, daß unser Gesetz offenbar die Konstanz der insgesamt im Zentralnervensystem in der Zeiteinheit umgesetzten Energie nach sich zieht. Hierin 61

liegt kybernetisch betrachtet jedenfalls schon eine erste Sicherung gegen das an instabilen technischen Systemen regelmäßig zu beobachtende exzessive Ansteigen des Energieumsatzes und das damit verbundene Heraustreten der Signalgrößen aus dem Bereich, in dem eine ordnungsgemäße Arbeit des Systems garantiert ist. (Wir sehen jetzt von Störungen des normalen Ablaufs durch Gifte wie Alkohol und krankhaften Erscheinungen ab.) Doch ist mit der Beschränkung des Energieumsatzes — im Zentralnervensystem handelt es sich jedenfalls um einen elektrochemischen Umsatz — die stabilitätssichernde Funktion, die die Begrenztheit des jeweils erregten Gehirnteils und insbesondere auch die Begrenztheit des „aktuellen" Bewußtseins ausübt, noch nicht erschöpft. Um diese Funktion richtig zu beurteilen, ist es vielmehr unerläßlich, die enge Wechselwirkung zwischen dem Zentralnervensystem und dem gesamten übrigen Organismus und darüber hinaus ebenso auch die entsprechende Wechselwirkung zwischen dem Organismus als Ganzem und seiner Umwelt zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: Wir müssen die Funktion des Zentralnervensystems innerhalb des größeren kybernetischen Systems Organismus—Umwelt ins Auge fassen. In diesem System kommt es nun in erster Linie auf die Wirkungen an, die einesteils von der Umwelt auf den Organismus und andernteils umgekehrt vom Organismus auf die Umwelt ausgeübt werden. Das „Überleben" des Organismus ist schon rein biologisch nur möglich, wenn die von der Umwelt ausgehenden Wirkungen ihn nicht allzusehr über seinen normalen Arbeitsbereich hinaus beanspruchen, oder anders ausgedrückt, wenn das System Organismus—Umwelt als Ganzes sich niemals allzuweit von einem mittleren Gleichgewichtszustand entfernt und somit im Sinne der schon gegebenen Erläuterungen „stabil" bleibt. Nun hängen aber die Wirkungen, die die Umwelt auf den Organismus auszuüben vermag, ganz entscheidend von den Reaktionen des Organismus selbst ab. E r kann sie in vielen Fällen dadurch abschwächen oder auch umgekehrt verstärken, daß er seine Empfindlichkeit ihnen gegenüber je nachdem verringert oder steigert — letzteres kann z. B. erwünscht sein, wenn es sich darum handelt, durch die Sinnesorgane rechtzeitig Meldungen über gefahrdrohende Veränderungen in der Umwelt zu erhalten. Weiter kann er von der Umwelt ausgehende Wirkungen sehr oft durch geeignete motorische Reaktionen, etwa durch gezielte Einwirkung auf störende Umweltfaktoren oder auch einfach durch eine Orts Veränderung, nämlich entweder Annäherung oder Flucht, stark beeinflussen. Die meisten dieser Reaktionen werden aber durch zweckentsprechende, von den gerade erregten Teilen des Gehirns ausgehende spezifische Impulse ausgelöst! Hier kommt es also letzten Endes nur darauf an, die für die Erregung des Zentralnervensystems insgesamt zur Verfügung, stehende Energie in jedem Augenblick so zu verteilen, daß Ort, Umfang und Intensität der Erregung ständig den fortwährend wechselnden äußeren Ansprüchen optimal gerecht werden. Das bezieht sich natürlich nicht nur auf die Aktivierung desjenigen Teils des allgemeinen Bewußtseins, den wir als das „aktuelle" Bewußtsein bezeichnet haben, sondern ebenso auch auf die „unbewußten" Vorgänge, die grundsätzlich stets außerhalb 62

des allgemeinen Bewußtseins bleiben. Immerhin läßt uns unsere kybernetische Betrachtung die wichtige Rolle erkennen, die die eigentümliche Beschränktheit des aktuellen Bewußtseins zusammen mit der dauernden Veränderung seines Inhalts für die Lebensbehauptung des gesamten Organismus spielt. Übrigens sind wir auch nicht ganz unwissend über die Art und Weise, wie die fortwährende Steuerung des „aktuellen" Bewußtseins in ständiger Anpassung an die wechselnden äußeren Umstände zustande kommt. Sie wird jedenfalls von den tiefer unter der Hirnrinde liegenden sogenannten „unspezifischen" Teilen des Gehirns ausgeübt, die als Aktivierungs- und Hemmungszentren wirken und zugleich Träger der Emotionen zu sein scheinen. Sie sind demnach von größter Bedeutung für den Ablauf aller Bewußtseinsprozesse, insbesondere auch für die höheren und niederen Formen des Erkennens, angefangen bei der sinnlichen Wahrnehmung und sogar schon ihrer ersten Vorstufe, der bloßen Empfindung: Wir haben ja schon erwähnt, daß die Empfindlichkeit der Sinne grundsätzlich durch eine erhöhte Vorerregung der Schwellwertelemente gesteigert werden kann, die die von den Sinnen ausgehenden Signale empfangen, und bereits festgestellt, daß auch diese Erhöhung von den genannten Aktivierungszentren bewirkt wird — sicherlich bei Mensch und Tier in gleicher Weise. Die rein biologisch-naturgesetzlich begründete Beschränkung der für die Aktivierung des „aktuellen" Bewußtseins zur Verfügung stehenden Energie bringt aber auch gewisse Nachteile mit sich, die beim Menschen auf eine Erschwerung der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Aufgaben hinauslaufen können. So haben wir schon davon gesprochen, daß im Zorn — und dasselbe gilt für jede starke Erregung — die an einer Stelle konzentrierte Energie nicht mehr ausreicht, um gleichzeitig noch andere Zonen genügend zu aktivieren, so daß das sonst vor einem Willensentschluß geübte Abwägen des Für und Wider zuweilen wegfällt. Dieses Nichtausreichen der in einem gegebenen Moment zur Verfügung stehenden Energie kann aber auch ohne besondere Erregung eintreten, wenn das zur Bewältigung etwa eines wissenschaftlichen Problems zu mobilisierende Areal wegen der Kompliziertheit der zu lösenden Fragen ungewöhnlich groß ist. Seine nicht vollständige Aktivierung würde jedesmal das Außerachtlassen von Umständen bedeuten, die eigentlich hätten berücksichtigt werden müssen, und damit die Irrtumswahrscheinlichkeit stark erhöhen. Dann hilft nur stärkste Konzentration, d. h. möglichste Stillegung aller nicht unmittelbar mit der gerade aktuellen Aufgabe befaßten Teile des Gehirns, und wenn das noch nicht ausreicht, die etappenweise Erledigung der Aufgabe unter Inkaufnahme eines größeren Zeitbedarfs. Es ist wohl sehr wahrscheinlich, daß die von einem bestimmten Zentrum ausgehende Erregung im Mittel etwa nach einer e-Funktion nach außen abfällt, wobei indessen die Entfernung zwischen zwei Punkten natürlich nicht an ihrer räumlichen Lage zueinander, sondern an der Länge der sie verbindenden Nervenleitungen oder vielleicht noch besser durch die Zahl der zwischengeschalteten Synapsen zu messen ist. Dabei können gewiß auch mehrere solche Erregungszentren nebeneinander bestehen. Das wird sogar fast immer der Fall sein, weil 63

nämlich Leitungen nicht nur von den Aktivierungszentren zur Hirnrinde führen, deren äußerer Teil hauptsächlich der Verknüpfung von Nervenfasern dient, wie wir beim Studium des Lernprozesses gesehen haben, sondern ebenso auch von dort zurück zu den verschiedenen Zentren der Aktivierung. Eben wegen der mannigfachen und im einzelnen auch nicht voraussagbaren Leitungsverknüpfungen in der Hirnrinde wird daher sehr häufig die Erregung eines Zentrums gewissermaßen ansteckend auf andere Zentren wirken, um so eher, je „näher" sie im eben präzisierten Sinne dieses Wortes aneinanderliegen. Dabei wird diese Entfernung aber wegen der ständig stattfindenden „Lern"-Prozesse im allgemeinen keine konstante Größe darstellen, und ihre Variabilität wird wiederum beim Menschen wegen seiner um ein Vielfaches größeren Lernfähigkeit unvergleichlich viel stärker ausgeprägt sein als selbst beim intelligentesten Tier.

7. Vorlesung Bevor wir unsere Untersuchung fortführen, wollen wir noch eine Bemerkung über das Gedächtnis und das Vergessen anschließen, welche beiden Erscheinungen in engem Zusammenhang mit den zuletzt erörterten stehen. Das Vergessen tritt bekanntlich ein, wenn bestimmte Vorstellungen oder Erinnerungen lange Zeit nicht mehr ins „aktuelle" Bewußtsein gelangt sind — sei es, weil der letzten Endes immer durch Sinneseindrücke gegebene äußere Anlaß dazu fehlte, sei es, weil gewisse Hemmungen es verhindert haben (auf die letztere Erscheinung werden wir bald im Zusammenhang mit der „Psychoanalyse" F R E U D S noch einmal zurückkommen; sie spielt dort unter dem Namen „Verdrängung" eine große Rolle). Im Rahmen der hier entwickelten Anschauungen ist nun die Fähigkeit, längst vergangene Vorstellungen und Eindrücke von neuem ins „aktuelle" Bewußtsein treten zu lassen, und ebenso der Verlust dieser Fähigkeit leicht verständlich. Jede Nervenleitung, die über synaptische Zwischenglieder mit der in irgendeinem Augenblick erregten Gehirnzone verbunden ist, kann ja grundsätzlich über diese Glieder in die Erregung einbezogen werden und wird dies im allgemeinen auch, sofern die (kybernetisch definierte) Entfernung nicht zu groß ist. Die Einbeziehung wird allerdings auch bei unmittelbarer Nachbarschaft aus zwei Gfünden ausbleiben können: einmal, wenn die Intensität der Erregung in der Zone des „aktuellen" Bewußtseins sehr hoch ist, so daß die im gegebenen Augenblick zur Verfügung stehende Erregungsenergie dazu nicht ausreicht — oder aber, wenn von einem Motivationszentrum abhängige, den Verbindungsweg blockierende inhibitorische Synapsen in Aktion treten. Nun werden aber durch irgendwelche Lernprozesse leitend gewordene Synapsen oder äquivalente andere Veränderungen in der Empfangsbereitschaft von Nervenzellen jedenfalls mit der Zeit wieder zurückgebildet, wenn sie längere Zeit infolge Abwesenheit entsprechender Signale nicht benutzt worden sind. Daher führt ein dauerndes Ausbleiben der Einbeziehung in die Erregungszone des aktuellen 64

nämlich Leitungen nicht nur von den Aktivierungszentren zur Hirnrinde führen, deren äußerer Teil hauptsächlich der Verknüpfung von Nervenfasern dient, wie wir beim Studium des Lernprozesses gesehen haben, sondern ebenso auch von dort zurück zu den verschiedenen Zentren der Aktivierung. Eben wegen der mannigfachen und im einzelnen auch nicht voraussagbaren Leitungsverknüpfungen in der Hirnrinde wird daher sehr häufig die Erregung eines Zentrums gewissermaßen ansteckend auf andere Zentren wirken, um so eher, je „näher" sie im eben präzisierten Sinne dieses Wortes aneinanderliegen. Dabei wird diese Entfernung aber wegen der ständig stattfindenden „Lern"-Prozesse im allgemeinen keine konstante Größe darstellen, und ihre Variabilität wird wiederum beim Menschen wegen seiner um ein Vielfaches größeren Lernfähigkeit unvergleichlich viel stärker ausgeprägt sein als selbst beim intelligentesten Tier.

7. Vorlesung Bevor wir unsere Untersuchung fortführen, wollen wir noch eine Bemerkung über das Gedächtnis und das Vergessen anschließen, welche beiden Erscheinungen in engem Zusammenhang mit den zuletzt erörterten stehen. Das Vergessen tritt bekanntlich ein, wenn bestimmte Vorstellungen oder Erinnerungen lange Zeit nicht mehr ins „aktuelle" Bewußtsein gelangt sind — sei es, weil der letzten Endes immer durch Sinneseindrücke gegebene äußere Anlaß dazu fehlte, sei es, weil gewisse Hemmungen es verhindert haben (auf die letztere Erscheinung werden wir bald im Zusammenhang mit der „Psychoanalyse" F R E U D S noch einmal zurückkommen; sie spielt dort unter dem Namen „Verdrängung" eine große Rolle). Im Rahmen der hier entwickelten Anschauungen ist nun die Fähigkeit, längst vergangene Vorstellungen und Eindrücke von neuem ins „aktuelle" Bewußtsein treten zu lassen, und ebenso der Verlust dieser Fähigkeit leicht verständlich. Jede Nervenleitung, die über synaptische Zwischenglieder mit der in irgendeinem Augenblick erregten Gehirnzone verbunden ist, kann ja grundsätzlich über diese Glieder in die Erregung einbezogen werden und wird dies im allgemeinen auch, sofern die (kybernetisch definierte) Entfernung nicht zu groß ist. Die Einbeziehung wird allerdings auch bei unmittelbarer Nachbarschaft aus zwei Gfünden ausbleiben können: einmal, wenn die Intensität der Erregung in der Zone des „aktuellen" Bewußtseins sehr hoch ist, so daß die im gegebenen Augenblick zur Verfügung stehende Erregungsenergie dazu nicht ausreicht — oder aber, wenn von einem Motivationszentrum abhängige, den Verbindungsweg blockierende inhibitorische Synapsen in Aktion treten. Nun werden aber durch irgendwelche Lernprozesse leitend gewordene Synapsen oder äquivalente andere Veränderungen in der Empfangsbereitschaft von Nervenzellen jedenfalls mit der Zeit wieder zurückgebildet, wenn sie längere Zeit infolge Abwesenheit entsprechender Signale nicht benutzt worden sind. Daher führt ein dauerndes Ausbleiben der Einbeziehung in die Erregungszone des aktuellen 64

Bewußtseins zur Schwächung der synaptischen Verbindungen, über die die Einbeziehung erfolgen müßte. Die Erinnerung wird erschwert oder unmöglich, was auf das „Vergessen" der fraglichen Bewußtseinsinhalte hinauskommt. Von dem eben behandelten „Langzeitgedächtnis" streng zu unterscheiden ist das sogenannte „Kurzzeitgedächtnis", das nur über Zeitspannen reicht, die mit der normalen Signallaufzeit innerhalb der jeweils erregten Gehirnzone zusammenfallen. Diese Laufzeit macht ja, daß der Inhalt des „aktuellen" Bewußtseins nicht beliebig schnell wechseln kann. Dazu kommt, daß sich bei der dem neuronalen kybernetischen System eigenen komplizierten vielfachen Verknüpfung der Nervenbahnen in jeder aktuell erregten Gehirnzone gewiß eine ganze Anzahl in sich geschlossener Bahnen finden wird, in denen, ähnlich wie in schwach gedämpften technischen Systemen, sich selbst aufrechterhaltende Signale für eine Zeitspanne bestehen können, die einesteils von der Laufzeit der Signale, andernteils von der Dämpfung abhängt, die sie auf ihrem Wege erfahren. Alle Eindrücke und Vorstellungen werden daher eine gewisse Mindestdauer besitzen, die sich subjektiv eben als „Kurzzeitgedächtnis" bemerkbar macht. Wir gehen nun einen Schritt weiter und versuchen, uns zunächst von der Beschränkung unserer psychologischen Betrachtungen auf das Einzelindividuum freizumachen, um sodann aus unseren Ergebnissen auch gewisse philosophische Folgerungen zu ziehen. Dabei knüpfen wir am besten wieder an die Lernprozesse im Zentralnervensystem an. Sie scheinen auf den ersten Blick insofern ein sehr merkwürdiges und ganz eigenartiges Phänomen darzustellen, als bei jedem einzelnen von ihnen eine dauernde, nicht ohne weiteres rückgängig zu machende Änderung der materiellen Struktur des Körpers eintritt, die aber keine endogenen, in der Anlage des Körpers selbst liegenden Ursachen hat, sondern rein exogen, von der Außenwelt her bestimmt ist. Indessen gehen analoge, von außen verursachte Veränderungen in den Konstitutionselementen des Körpers nicht nur im Zentralnervensystem, sondern ebenso auch an vielen anderen Stellen des Körpers vor sich, und auch dort dienen sie stets der Aufgabe der immer besseren Adaptierung des Organismus an den im einzelnen nicht voraussagbaren Wechsel der äußeren Umstände. So werden bei vielen Krankheiten Antistoffe gebildet, die nach Überstehen der Krankheit nicht verschwinden und so die chemische Konstitution des Körpers auf die Dauer verändern, und dies hat auch denselben Zweck wie die Bildung dauernder Nervenverknüpfungen im Zentralnervensystem: nämlich den Organismus bei einer etwaigen Wiederholung derEreignisse,die den ersten Anlaß zu der eingetretenen Veränderung abgegeben haben, zu ihrer Begegnung besser zu rüsten, als es das erste Mal der Fall sein konnte. Dabei liefert der Bestand an AntiStoffen in irgendeinem Körper in ganz derselben Weise ein „Bild" der überstandenen Krankheiten, wie die im Zentralnervensystem gebildeten Speichermodelle ein Bild der Gegenstände darstellen, mit denen der betreffende Mensch im Laufe seines Lebens Bekanntschaft hat machen können, nur daß eben die betreffenden Vorgänge im Zentralnervensystem im allgemeinen einen Bestandteil des allgemeinen Bewußtseins bilden, die im übrigen Körper aber nicht. 5

Pfeiffer

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Auf derselben Linie liegen die Veränderungen, die durch Training in der Ausbildung bestimmter besonders beanspruchter Muskelgruppen darunter auch am Herzen bewirkt werden können. Auch der Phototropismus höherer Pflanzen (d. h. die vorzugsweise Ausrichtung des Wachstums dem einfallenden Lichte entgegen) sowie der Geotropismus (das Wachsen der Wurzeln in Richtung der Schwerkraft, der übrigen Teile in entgegengesetzter Richtung) dürfen wohl in diesem Zusammenhang genannt werden, bedeuten diese Erscheinungen doch ebenfalls ein jeweiliges Bestimmtsein gewisser Strukturmerkmale des lebenden Organismus durch äußere Gegebenheiten. Nun ist aber die normale Umwelt des Menschen keine rein natürliche mehr, sondern zu wesentlichen Teilen gesellschaftlich bestimmt, und ebenso gesellschaftlich bestimmt ist daher auch ein entsprechender Teil des Einflusses, den sie auf den menschlichen Organismus ausübt. I m besonderen gilt dies für die Ausbildung des Zentralnervensystems und damit aller Formen des Bewußtseins, speziell auch des rezeptiven: Wir haben ja schon gesehen, welche Rolle die Sprache als gesellschaftliches Kommunikationsmittel bei der Bildung nahezu aller dem Erkennen der Realität dienenden neuronalen Speicher spielt, gleich welcher Art die Gegenstände sind, auf die sie sich beziehen. Ebenso haben wir davon gesprochen, daß ein sehr großer Teil dieser Gegenstände ihrerseits ein unmittelbares Produkt der gesellschaftlichen Arbeit darstellt, was allein schon genügt, um einen entsprechenden Teil des rezeptiven Bewußtseins automatisch zu einem ebensolchen Produkt zu machen. Natürlich kann das nicht bedeuten, daß damit etwa alle individuellen Unterschiede im erkennenden Erfassen der Realität ausgeschlossen wären. I m großen und ganzen gesehen, wird aber der Einfluß der gesellschaftlichen Umwelt doch eine sehr stark ausgleichende Wirkung auf das Denken der einzelnen ausüben, und es erscheint daher durchaus berechtigt, wenn nicht sogar unumgänglich, die Definitionen des Bewußtseinsbegriffs, die wir bisher kennengelernt haben, vom Individuum auf das Kollektiv zu erweitern. So mag zunächst das rezeptive Bewußtsein eines Kollektivs von Personen, die unter vergleichbaren Bedingungen leben und untereinander in geistigem Austausch stehen, definiert werden als die Menge der begrifflichen und gestalthaften, in individuellen neuronalen Einzelspeichern aneinandergekoppelten gegenständlichen Merkmalskomplexe, die den Einzelmitgliedem des Kollektivs gemeinsam und für diese Mitgliedschaft typisch sind, so daß sie also die den Mitgliedern des Kollektivs gemeinsame Grundlage zum Verstehen der Realität bilden. Offenbar lassen sich auch die früher gegebenen individuellen Definitionen des „allgemeinen", des „engeren" oder „kontemplativen", aber auch des „Unter"oder „Vor"-Bewußtseins und des „aktuellen" oder „Präsenz"-Bewußtseins in analoger Weise auf das Kollektiv übertragen. Wir können wohl darauf verzichten, diese Umformulierungen jetzt im einzelnen durchzuführen. Zu bemerken wäre nur, daß das kollektive Präsenzbewußtsein wohl zweckmäßig nicht mehr auf einen beliebig kurzen Augenblick, sondern auf einen je nach den Umständen zu wählenden nicht zu kurzen Zeitraum zu beziehen sein wird. 66

Für alle Arten des Einzelbewußtseins gilt aber gewiß nicht weniger als für das „rezeptive" Bewußtsein, daß sie sämtlich notwendig einer sehr starken Beeinflussung durch das entsprechende kollektive Bewußtsein unterliegen müssen — unbeschadet dessen, daß jeder einzelne zu seinem Teil an der Bildung des kollektiven Bewußtseins beiträgt, wobei dieser Anteil manchmal sogar auch sehr bedeutend sein kann. Man könnte wohl versuchen, diese Wirkungen und Rückwirkungen wieder in einem kybernetischen Schema darzustellen. Dies würde uns aber weiter keine neuen Einsichten mehr vermitteln können, so daß wir Uns damit nicht aufhalten wollen. I m übrigen wird die Lage auch noch dadurch erheblich kompliziert, daß doch jeder einzelne regelmäßig einer ganzen Anzahl verschiedener Kollektive in dem Sinne, in dem wir das Wort eingeführt haben, angehört: der Familie, einem Betriebs- oder Arbeitskollektiv, einer politischen Partei, einer Sportvereinigung und was da sonst noch alles in Frage kommen mag, jedenfalls aber auch einer bestimmten sozialen Klasse und — nicht zuletzt — einer Nation. Alle diese Kollektive können gar nicht anders, als auf sein Bewußtsein in all den Formen, die wir kennengelernt haben, in irgendeiner Weise Einfluß zu nehmen, und der tatsächliche Zustand keines Einzelbewußtseins wird sich hinreichend ohne Berücksichtigung dieser untereinander gewiß nicht immer übereinstimmenden Einwirkungen verstehen lassen. Selbstverständlich kann die neurologische und neurokybernetische Betrachtungsweise, die wir bisher verfolgt haben, ohnehin nie etwa den Anspruch erheben, andere Arten der Untersuchung wie etwa die herkömmlichen psychologischen zu ersetzen. Sie wird immer nur in Kombination mit ihnen zum eigentlichen Erfolge führen können. Was aber nun den kollektiven Einfluß auf das Einzelbewußtsein im einzelnen und konkreten anbelangt, so hört sie jedenfalls an diesem Punkte überhaupt auf, anwendbar zu sein. Wie übrigens alle spezialisierten wissenschaftlichen Methoden führt sie in der letzten Konsequenz über ihren eigenen Rahmen hinaus. Was weiter anwendbar bleiben dürfte, sind allerdings allgemeine kybernetischeÜberlegungen, aus denen vielleicht die Sozialpsychologie nicht weniger Nutzen ziehen könnte als die Psychologie des Individuums. Wir wollen aber unsere Überlegungen, um uns nicht allzu sehr von unserem eigentlichen Thema zu entfernen, in dieser Richtung nicht weiter treiben und nur noch kurz auf die schon erwähnte Psychoanalyse Sigmund FBEUDS eingehen, die bei uns in Deutschland in den zwanziger Jahren einen sehr großen Einfluß auf das allgemeine Denken ausgeübt hat, und nunmehr, wie es scheint, beginnt, mit einer Verspätung von fast einem halben. Jahrhundert eine ähnliche, oder vielleicht sogar noch größere Rolle in den angelsächsischen Ländern zu spielen. FREUD, ein zweifellos genialer Kopf, war insofern im Grunde seines Herzens Materialist, als er nie daran gezweifelt hat, daß alle geistigen und seelischen Vorgänge ihre materielle Grundlage und sogar ihren bestimmten Ort im Zentralnervensystem haben. Eine hervorragende Rolle in seinen Gedankengängen spielen die Begriffe des „Bewußten", des „Unbewußten" und des „Unterbewußten", für 5*

das er den sinnfälligen Namen des „Vorbewußten" einführte, eben um seine sehr klar erkannte Fähigkeit anzudeuten, früher oder später ins Bewußtsein (wir würden sagen: ins „engere" Bewußtsein) zu treten. Tatsächlich stimmt sein Bewußtseinsbegriff recht nahe mit dem überein, was wir hier als das „engere" Bewußtsein bezeichnet haben, wenn auch manchmal Kennzeichen unseres „aktuellen" Bewußtseinsbegriffs hineinzuspielen scheinen. Dagegen nimmt er von denjenigen Vorgängen, die wir „unbewußt" genannt haben, gar keine Notiz — und das kann bei seiner rein introspektiv orientierten Weise des Herangehens an die behandelten psychologischen Fragen natürlich auch gar nicht anders sein. Was bei F B E T J D „unbewußt" heißt, ist tatsächlich nur graduell, nicht prinzipiell von dem verschieden, was er unter dem Begriff des „Vorbewußten" zusammengefaßt hat, ja, das eigentliche Wesen seiner „psychoanalytischen" Methode der Heilung von Neurosen besteht gerade darin, daß der Arzt dem Patienten hilft, durch „Verdrängung" entstandene seelische Störungen, die im Bezirk des von F R E U D SO genannten „Unbewußten" wirken, ins („engere") Bewußtsein zu heben und damit unter Umständen schon unschädlich zu machen. Jedenfalls liegt ein bleibendes Verdienst F R E U D S darin, daß er als erster nachdrücklich und mit überzeugenden Argumenten die große Bedeutung von inneren Vorgängen nachgewiesen hat, über die ihr Träger selbst zunächst keine klare Auskunft geben kann, die aber trotzdem für das gesamte Seelenleben und die Entwicklung der Persönlichkeit vom frühen Kindesalter an in mancher Hinsicht entscheidend werden können. Andere, von ihm selbst stark hervorgehobene Züge seiner Lehre erweisen sich bei näherer Prüfung indessen als lediglich zeitbedingte und zu Unrecht verabsolutierte Reaktionen auf gewisse Verfallserscheinungen in der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende. Das gilt gewiß für die außerordentliche Hervorhebung der Rolle des Sexuellen, die nur als Reaktion auf das bis dahin weithin übliche und besonders für die Erziehung der Jugend sehr nachteilige Totschweigen dieses Komplexes verstanden werden kann. Ähnlich erklärt sich die FREUDSche Verabsolutierung der Gegensätze zwischen dem Triebhaften und dem Verstandesmäßigen in der menschlichen Psyche sowie zwischen den mehr gegenwartsgebundenen Interessen des „Ich" und den stets in gewisser Weise traditionsgebundenen Ansprüchen der Gemeinschaft an das Individuum. Zweifellos war es die innere Zerrissenheit und seelische Unfreiheit des bürgerlichen Menschen seiner Zeit, die F R E U D dahin brachte, das Innere des Menschen in erster Linie als Kampffeld dreier voneinander unabhängiger autonomer Mächte anzusehen, von denen er sogar vermutete, daß sie ihren Sitz an verschiedenen Stellen des Gehirns hätten: des eigentlichen „Ich", des „Es" als der Zusammenfassung der „unbewußten", vor allem sexuell bestimmten Triebe und des „Über-ich" als des Repräsentanten der hauptsächlich im Kindesalter durch den Einfluß der Eltern eingepflanzten Regeln und Vorschriften für das soziale Verhalten. Im ganzen bewertet F R E U D indessen die rein biologischen Faktoren viel stärker als die gesellschaftlichen. Die Konzeption eines gesellschaftlichen Bewußtseins und die Würdigung des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem sich das besondere Be68

wußfcsein jedes Individuums von ihm befindet, lag F K E U D noch ganz fern, und darin muß wohl auch der Hauptmangel seiner Lehre gesehen werden. Dieser Mangel ist wohl auch daran schuld, daß er zu einer gewissen Vernachlässigung ethischer Gesichtspunkte neigt, die ihm teilweise schon von seinen eigenen Schülern zum Vorwurf gemacht worden ist. Wir werden darauf bei der Behandlung des ethischen Problemkreises noch einmal kurz zu sprechen kommen. Nun aber zur Frage der philosophischen Auswertung unserer bisherigen Betrachtungen! Es geht darum, inwieweit unsere Ergebnisse uns schon zu entsprechenden Schlußfolgerungen zu führen imstande sind, und wenn ja, welcher Art diese Folgerungen sein könnten. Erweisen sie sich, wie zu Anfang unserer Vorlesung angekündigt, tatsächlich alle als im Rahmen der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus liegend? Und in welchem Verhältnis stehen sie im einzelnen zu den Hauptannahmen der beiden Formen des philosophischen Idealismus? Wenden wir uns zunächst den Grundthesen der marxistischen Erkenntnistheorie der „Widerspiegelung" der Realität im Bewußtsein zu, so finden wir mindestens vier wesentliche Merkmale dieses Widerspiegelungsbegriffs in der von uns erarbeiteten Auffassung wieder, wonach die Erkenntnis der Wirklichkeit stets durch neuronale „Modelle" der realen Objekte der Erkenntnis zustande kommt: Erstens sind diese Modelle grundsätzlich sowohl von den Eigenschaften ihres subjektiven Trägers als des widerspiegelnden Mediums wie von den Merkmalen des jeweils widergespiegelten Teils der Realität abhängig. Sie entstehen durch eine sowohl naturgesetzlich wie gesellschaftlich bestimmte Einwirkung auf den subjektiven Träger des Modells. Zweitens: Das neuronale Modell kann grundsätzlich nicht alle Merkmale des widergespiegelten Objekts wiedergeben. Drittens: Der Vervollkommnung und Vervollständigung der Widerspiegelung des Objekts in seinem neuronalen Modell durch entsprechende Lernprozesse ist grundsätzlich keine Grenze gesetzt. Viertens: Jedes Modell kann nur insoweit als richtig betrachtet werden, als es richtige Voraussagen erlaubt, d. h. solche, die durch die Erfahrung bestätigt werden und damit zur Grundlage erfolgversprechender praktischer Maßnahmen dienen können. Im letzten und vorletzten Punkt erkennen wir insbesondere die LENiNsche These von der Möglichkeit der unbegrenzten Annäherung an die „absolute" Wahrheit bzw. das in der marxistischen Erkenntnistheorie eine entscheidende Rolle spielende „Kriterium der Praxis" wieder. Was die Frage der „Richtigkeit" der neuronalen Modelle und des Wahrheitsgehalts der mit ihrer Hilfe erlangten Aussagen über die Realität anbelangt, so kann es offenbar auch nur teilweise richtige Modelle geben. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die schon früher erwähnte doppelte Korpuskular- und Welleneigenschaft der sogenannten Elementar-„Teilchen". Tatsächlich spiegelt sowohl das Korpuskularmodell wie das Wellenmodell die Wirklichkeit jedesmal nur teilweise richtig wieder, und das kommt zweifellos daher, daß diese Modelle beide an Hand von Erfahrungen aus unserem täglichen Umgang mit Erscheinungen der „makro-

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skopischen" Welt der gewöhnlichen „Dinge" gebildet worden sind, deren Gesetze eben mit den Gesetzen der „Mikroweit" der Elementarbausteine der Materie nicht übereinstimmen. "Übrigens dürfen wir es als so gut wie sicher betrachten, daß strenggenommen sogar alle neuronalen Modelle nur teilweise richtig sein können: bei dem größten Teil von ihnen bemerken wir dies nur nicht, weil und solange wir noch nicht Erfahrungen gemacht haben, die ihnen widersprechen („relative" Wahrheit der mit ihnen gewonnenen Aussagen im Sinne L E N I N S ) . Zusammenfassend dürfen wir wohl feststellen, daß unsere Betrachtungen nicht nur in keinem Punkte zu Widersprüchen mit der marxistischen Widerspiegelungstheorie der Erkenntnis führen, sondern uns im Gegenteil in einer Reihe recht wesentlicher Punkte sehr konkrete Vorstellungen darüber vermitteln, wie diese Widerspiegelung im einzelnen zustande kommt. Ein ganz anderes Resultat erhalten wir, wenn wir uns mit den Grundthesen des philosophischen Idealismus auseinandersetzen. Um mit dem subjektiven Idealismus zu beginnen: Wir überzeugen uns sofort, daß unsere letzten Ergebnisse uns noch ein neues Argument gegen die im KANTSchen Zirkelschluß liegende stillschweigende Voraussetzung der Nichtangepaßtheit der Struktur unseres Erkenntnisapparates an die objektiv gegebenen „Dinge an sich" geliefert haben. Die nun erlangte Einsicht in die Natur der in unserem Zentralnervensystem vor sich gehenden Lernprozesse hat uns ja gezeigt, daß diese Angepaßtheit gar nicht einmal nur, wie schon nach D A R W I N ZU erwarten, auf dem Vorhandensein von Erbfaktoren beruht, die im Laufe der Entwicklung der biologischen Art homo sapiens entstehen mußten, sondern daß darüber hinaus in der Ausbildung und Schulung jedes einzelnen Individuums unter dem Einfluß seiner gesellschaftlichen Umgebung eine weitere, recht einschneidende Verbesserung dieser Anpassung erfolgt, die die K A N T S c h e Voraussetzung des Fehlens dieser Anpassung noch haltloser erscheinen läßt, als sie es vorher schon war. Wollte man trotzdem weiter an der Effektivität der Lernprozesse in bezug auf die Ermöglichung einer richtigen Erkenntnis der Außenwelt zweifeln, so müßte man nach allem, was wir über die Natur dieser Prozesse erkannt haben, konsequenterweise auch nicht weniger an der Zuverlässigkeit der Auskünfte zweifeln, die unser „engeres" Bewußtsein uns über unsere inneren Erlebnisse verschafft. Sie hätten dann, da sie doch gewiß in grundsätzlich gleicher Weise mit Hilfe neuronaler Modelle der zu erkennenden Gegebenheiten gewonnen werden, genau so wenig mit dem wahren Wesen unseres Innern zu tun, wie die unseren Sinnen zugängliche Natur nach den Vorstellungen des subjektiven Idealismus mit den äußeren „Dingen an sich". Unser eigenes Inneres müßte also konsequenterweise ebenfalls den grundsätzlich unerkennbaren „Dingen an sich" zugezählt werden. Was wäre aber durch eine solche Vorstellung für das Verständnis der uns umgebenden Welt und unseres Selbst gewonnen? Offenbar nichts! Es fehlte dann nur noch, daß man den positivistischen Gedankengang aufgreift, demzufolge die „Dinge an sich" überhaupt nur eine Fiktion darstellen, um schlechterdings jede positive Erkenntnis der Realität in Frage zu stellen. 70

Wir wenden uns nun den speziellen Thesen des objektiven Idealismus zu. Alle seine Spielarten stimmen darin überein, daß die Existenz eines „rein" Geistigen, den Gesetzen der Natur, wie sie die Naturwissenschaft erforscht, nicht Unterworfenen angenommen wird, das aber doch in gewisser Weise artgleich mit dem menschlichen Geiste sein soll — sonst hätte ja seine Bezeichnung als „Geistiges" keinen Sinn. Zudem wird stets nicht nur eine prinzipielle Unabhängigkeit dieses „Geistigen" von der materiellen Realität, sondern auch ein irgendwie gearteter Einfluß auf sie angenommen, der freilich in recht verschiedener Weise aufgefaßt wird. Im folgenden wollen wir uns mit zwei dieser Auffassungen auseinandersetzen, die wohl als die wichtigsten anzusehen sind. Einmal wird dieser Einfluß als eine durchaus materielle Einwirkung betrachtet, die jedoch außerhalb der sonst gültigen Naturgesetze vor sich gehen soll. Beispiele hierfür sind die verschiedenen religiösen Schöpfungsgeschichten, die Annahme der gelegentlichen Eingriffe göttlicher oder überhaupt übersinnlicher Mächte in das natürliche Geschehen, insbesondere in Form sogenannter „Wunder" oder auch der allgemeinen „Lenkung" des Ablaufs der Dinge durch einen göttlichen „Willen". Die zweite, weniger primitive Auffassung sieht die angenommene Abhängigkeit des Materiellen vom Geistigen in einer mehr abstrakten Form, indemdies „Geistige" in allgemeinen Prinzipien — z. B. den Naturgesetzen — gesehen wird, die als organisierendes und formendes Prinzip der an sich als formlos und unorganisiert gedachten Materie gegenübergestellt werden. Um mit dieser letzten Auffassung zu beginnen: Offensichtlich steht und fällt sie mit der Berechtigung der in ihr enthaltenen Auffassung der Materie. Diese hält aber heutiger wissenschaftlicher Einsicht gegenüber zweifellos nicht mehr stand. Insbesondere ist in der heutigen Physik für sie kein Platz mehr. Nach allem, was wir nunmehr wissen, müssen ja selbst den letzten uns zugänglichen Elementarbausteinen der Materie immer noch ausgesprochene Struktureigenschaften zuerkannt werden. Es bleibt kaum etwas anderes übrig, als das Merkmal der Organisiertheit schon zu den Merkmalen des Materiebegriffs selbst zu zählen, so daß also der Begriff einer „formlosen" unorgansierten Materie den Charakter einer „contradictio inter se", eines inneren Widerspruchs erhalten würde. Zumindest gibt es keine einzige Erscheinung, die durch eine derartige Konzeption besser erklärt werden könnte, als es schon ohne sie der Fall ist. Was ein solcher Sachverhalt aber für den Wahrheitsgehalt einer Theorie bedeutet, haben wir uns schon früher klar gemacht. Nun zur Frage der grobmateriellen Einwirkung eines „rein" Geistigen auf die materielle Realität! In der Sprache der Kybernetik gesprochen handelt es sich dabei einfach darum, daß innerhalb dieses „Geistigen" Signale entstehen sollen, die ihrerseits materielle Wirkungen auszulösen vermögen. Wie sollen sie dies aber tun, ohne selbst einen materiellen Träger zu besitzen, der jedenfalls den Naturgesetzen unterworfen sein müßte? Damit würde aber auch die Entstehung der Signale, die doch innerhalb des Geistigen erfolgen soll, den Naturgesetzen unterliegen und zumindest der damit befaßte Teil dieses „Geistigen" eben doch auf71

hören, ein „rein" Geistiges zu sein. Offensichtlich führt auch diese Auffassung zu inneren Widersprüchen — es sei denn, man glaubt an die Existenz rein „geistiger" Signale, die keinen materiellen Träger besitzen, aber dennoch von Teilen der materiellen Realität empfangen und mit gewöhnlichen, den Naturgesetzen unterliegenden Signalen beantwortet werdenkönnen. Damit hätten wir aber schon wieder eine reine ad-hoc-Annahme vor uns, die sonst nichts erklärt, ja, stattdessen nur zu neuen ihrerseits unverständlichen Folgerungen führt und gewiß noch weniger als die Konzeption der „formlosen" Materie verdient, daß man ihr einen Wahrheitsgehalt zuschreibt. Es versteht sich, daß sich diese unsere Argumentation nicht nur gegen die verschiedenen Arten des religiösen Gottesbegriffs und die Annahme der Existenz von „Geistern" und Dämonen, sondern in gleicher Weise auch gegen die des Vorhandenseins einer immateriellen, den Naturgesetzen nicht unterworfenen und des Weiterlebens nach dem Tode fähigen „Seele" und damit praktisch wohl gegen alle in der heutigen Welt existierenden wie historischen menschlichen Religionen richtet. Gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Körper und Geist oder „Seele" sind für uns auch die Überlegungen von besonderem Interesse, die die namhaften englischen Physiologen S H E R K I N G T O N [8] und, auf ihn sich stützend, E C C L E S [2] angestellt haben, weil sie ein Musterbeispiel für die fehlerhafte Art des Argumentierens darstellen, die sich regelmäßig einstellt, wenn versucht wird, idealistische Vorstellungen mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinen. Die genannten beiden Gelehrten begründen ihre Meinung, daß es ein den Naturgesetzen nicht unterworfenes Reich des Geistigen geben müsse, im wesentlichen durch drei Behauptungen: Erstens: Die menschliche Geistestätigkeit sei grundsätzlich an keiner Stelle quantitativ faßbar, wie doch alle Vorgänge in der materiellen Welt. Zweitens: Sie sei dem Gesetz von der Erhaltung der Energie nicht unterworfen, woraus sich das Nichtunterworfensein unter die Naturgesetze überhaupt ergebe, und Drittens: Es ließen sich wohl Muskelbewegungen, aber nicht das dazugehörige geistige Erlebnis des Entschlusses zu diesen Bewegungen durch elektrische Reizung des Nervensystems hervorrufen. Die Erklärung könne nur darin liegen, daß eben das angenommene Reich des Geistigen im Zentralnervensystem des Menschen und auch nur an dieser einzigen Stelle in Kontakt mit dem Reiche der Natur trete, und dort durch die Naturgesetze nicht faßbare und durch ihre Anwendung auch nicht erzielbare Wirkungen hervorrufe. Hier mischen sich offensichtlich falsche Angaben mit falschen Schlüssen. Um mit dem letzten Argument anzufangen: Selbstverständlich sind bei elektrischer Reizung des motorischen Traktes nur Reaktionen der nachgeordneten Glieder, aber nicht der vorgeschalteten zu erwarten, in denen Willensentschlüsse zustande kommen und als solche erlebt werden. Nun ist man aber beim Menschen — anders als in Tierversuchen — noch nicht zur künstlichen Reizung der entsprechenden 72

Zentren vorgedrungen. Das Fehlen des Willenserlebnisses bei den angeführten Versuchen bedarf also zur Erklärung keiner irgendwie gearteten idealistischen Annahme. Was aber die angebliche Unmöglichkeit quantitativer Aussagen über Geistiges anbelangt, so genügt es wohl, auf das schon sehr lange bekannte W E B E R FECHNERSche Gesetz von der logarithmischen Abhängigkeit der Stärke der Sinnesempfindungen von der Stärke des physikalischen Reizes hinzuweisen, das sich von Anfang an auf die Empfindung als Erlebnis bezogen hat und noch bezieht — erst in neuerer Zeit ist es gelungen, nachzuweisen, daß dieselbe Abhängigkeit auch in einem weiten Bereich für die Stärke der z. B . im Seh- oder Hörnerv provozierten elektrischen Ströme gilt. E s kann also gar keine Rede von einer grundsätzlichen Unmöglichkeit der quantitativen Erfassung der Erlebnisseite sein. Schließlich, was das Gesetz von der Erhaltung der Energie betrifft, so haben wir uns bereits davon überzeugt, welch entscheidende Rolle es für das Zustandekommen des aktuellen Bewußtseins spielt, also gerade derjenigen Bewußtseinsform, an die S H E R R I N G T O N und E C C L E S jedenfalls vorzugsweise denken, wenn sie von „Geist" (englisch: „mind") sprechen. Damit sind wohl alle von den genannten Autoren zugunsten idealistischer Auffassungen ins Feld geführten Argumente entkräftet. Nun gibt es freilich auch idealistische Philosophen — der modernste von ihnen ist J A S P E R S — und ebenso ehrlich überzeugte Anhänger religiösen Glaubens, die meinen, daß eine verstandesmäßige Begründung für die Existenz des angenommenen rein geistigen „wahren Seins" oder „Gottes" gar nicht nötig sei, weil doch seine Existenz unmittelbar „erlebt" werden könnte. Was bedeutet aber ein solches, zur Grundlage einer Aussage gemachtes inneres „Erleben"? Doch weiter nichts, als daß der Erlebende über ein neuronales Modell verfügt, in dem Merkmale gewisser innerer Vorgänge mit den Merkmalen des Gottesbegriffs oder eines ihm äquivalenten philosophischen Begriffs verknüpft sind und das nach dem pars-pro-toto-Gesetz anspricht, sobald nur ein Teil der Eingangssignale eintrifft — nämlich der, der die fraglichen inneren Vorgänge signalisiert. Wo liegt aber die Garantie dafür, daß es sich bei diesem Modell nicht um ein nur teilweise richtiges handelt, das real fundierte Merkmale mit nicht real fundierten verbindet? Oder tritt auch der dem Gottesbegriff zugeordnete Teil der Signale zuweilen tatsächlich auf? Gewiß ist das, wenn auch nicht allzu häufig, der Fall — nur daß er dann keine reale Bedeutung haben wird. Wir wissen ja, daß bei genügend gesteigerter und emotionell betonter Erwartung Halluzinationen eintreten können oder sogar müssen, was im gegebenen Fall ohne weiteres zum Vernehmen einer Gott oder einer anderen „höheren" Macht, auch Verstorbenen, zugeschriebenen Stimme, ebensogut aber auch zu entsprechenden visuellen oder Tastempfindungen zu führen vermag. Sehen wir davon aber ab, so bleibt jedenfalls von dem ganzen Erleben nichts weiter übrig als ein inneres Phänomen, das auch nicht religiös Gläubigen vielfach bekannt ist: nämlich das zuweilen recht plötzliche und unerwartete Auftauchen von 73

Gedanken, Gemütsregungen oder Entschlüssen aus dem Unter- oder Vorbewußtsein, das dann ganz richtig als „von außen" (nämlich von außerhalb des engeren Bewußtseins!) kommend empfunden wird, und die seelische Erschütterung, die möglicherweise den Eintritt dieses „von außen" Kommenden ins engere Bewußtsein begleitet. Solche Phänomene lassen sich aber ausgezeichnet ohne jede Annahme idealistisch-philosophischen oder religiösen Charakters verstehen, wie wir schon wissen. Damit haben wir wohl unsere Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Thesen der idealistischen Philosophie so weit geführt, wie es unser Ausgangspunkt zuläßt. Ehe wir aber zu unserem nächsten Thema, der Ethik, übergehen, wollen wir noch einige spezielle Bemerkungen zum Kausalitätsproblem einschalten, das uns ja schon wiederholt begegnet ist.

8. Vorlesung Wie wir schon an charakteristischen Beispielen gesehen haben, bestehen recht tiefgreifende Unterschiede in der Auffassung des Kausalitätsproblems zwischen verschiedenen historischen philosophischen Systemen. Allerdings würde es den Rahmen unserer Vorlesung weit überschreiten, wollten wir versuchen, auf diese Unterschiede und auf das Verhältnis der jeweiligen Auffassungen zur Anschauung des dialektischen Materialismus im einzelnen näher einzugehen. Deswegen wollen wir uns im folgenden in der Hauptsache auf die direkten Folgerungen beschränken, zu denen uns unser kybernetisch-naturwissenschaftlicher Ausgangspunkt befähigt, und auf eine weiterreichende philosophische Auseinandersetzung mit abweichenden Anschauungen verzichten. Wir können das um so eher tun, als entsprechende auch für den Nichtphilosophen gut lesbare Literatur zur Verfügung steht [9] [10]. Will man sich dem Kausalitätsproblem vom Standpunkt der Naturwissenschaft her nähern, so kann man wohl nicht umhin, zunächst einmal von der Physik auszugehen, die ja hier in erster Linie als zuständig zu betrachten ist. Da zeigt sich indessen, daß der Umschwung in der Denkweise, der mit dem Übergang von der klassischen „Kontinuumsphysik" zur Quantenphysik- vor sich gegangen ist, starke Wirkungen auch auf die Stellungnahme der Physiker — und schließlich der Naturwissenschaft überhaupt — zum Kausalitätsproblem gehabt hat. Vor diesem Umschwung hatte wohl kein Naturwissenschaftler mehr daran gezweifelt, daß das eigentliche Wesen der Naturgesetze in der absolut eindeutigen Determinierung allen Geschehens besteht, und daß eben diese Determinierung auch den Inhalt des Kausalitätsprinzips ausmacht, dessen Gültigkeit mit der immer wieder verifizierten Determiniertheit und grundsätzlichen Vorausberechenbarkeit alles Naturgeschehens als endgültig bewiesen angesehen wurde. Jetzt schien es auf einmal, daß die gewohnte Determiniertheit aufhört, sobald man in die „Mikroweit" der Elementarprozesse eintritt. Es erwies sich jedenfalls als 74

Gedanken, Gemütsregungen oder Entschlüssen aus dem Unter- oder Vorbewußtsein, das dann ganz richtig als „von außen" (nämlich von außerhalb des engeren Bewußtseins!) kommend empfunden wird, und die seelische Erschütterung, die möglicherweise den Eintritt dieses „von außen" Kommenden ins engere Bewußtsein begleitet. Solche Phänomene lassen sich aber ausgezeichnet ohne jede Annahme idealistisch-philosophischen oder religiösen Charakters verstehen, wie wir schon wissen. Damit haben wir wohl unsere Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Thesen der idealistischen Philosophie so weit geführt, wie es unser Ausgangspunkt zuläßt. Ehe wir aber zu unserem nächsten Thema, der Ethik, übergehen, wollen wir noch einige spezielle Bemerkungen zum Kausalitätsproblem einschalten, das uns ja schon wiederholt begegnet ist.

8. Vorlesung Wie wir schon an charakteristischen Beispielen gesehen haben, bestehen recht tiefgreifende Unterschiede in der Auffassung des Kausalitätsproblems zwischen verschiedenen historischen philosophischen Systemen. Allerdings würde es den Rahmen unserer Vorlesung weit überschreiten, wollten wir versuchen, auf diese Unterschiede und auf das Verhältnis der jeweiligen Auffassungen zur Anschauung des dialektischen Materialismus im einzelnen näher einzugehen. Deswegen wollen wir uns im folgenden in der Hauptsache auf die direkten Folgerungen beschränken, zu denen uns unser kybernetisch-naturwissenschaftlicher Ausgangspunkt befähigt, und auf eine weiterreichende philosophische Auseinandersetzung mit abweichenden Anschauungen verzichten. Wir können das um so eher tun, als entsprechende auch für den Nichtphilosophen gut lesbare Literatur zur Verfügung steht [9] [10]. Will man sich dem Kausalitätsproblem vom Standpunkt der Naturwissenschaft her nähern, so kann man wohl nicht umhin, zunächst einmal von der Physik auszugehen, die ja hier in erster Linie als zuständig zu betrachten ist. Da zeigt sich indessen, daß der Umschwung in der Denkweise, der mit dem Übergang von der klassischen „Kontinuumsphysik" zur Quantenphysik- vor sich gegangen ist, starke Wirkungen auch auf die Stellungnahme der Physiker — und schließlich der Naturwissenschaft überhaupt — zum Kausalitätsproblem gehabt hat. Vor diesem Umschwung hatte wohl kein Naturwissenschaftler mehr daran gezweifelt, daß das eigentliche Wesen der Naturgesetze in der absolut eindeutigen Determinierung allen Geschehens besteht, und daß eben diese Determinierung auch den Inhalt des Kausalitätsprinzips ausmacht, dessen Gültigkeit mit der immer wieder verifizierten Determiniertheit und grundsätzlichen Vorausberechenbarkeit alles Naturgeschehens als endgültig bewiesen angesehen wurde. Jetzt schien es auf einmal, daß die gewohnte Determiniertheit aufhört, sobald man in die „Mikroweit" der Elementarprozesse eintritt. Es erwies sich jedenfalls als 74

einstweilen unmöglich, über gewisse Merkmale solcher Prozesse andere als statistische Aussagen zu machen. Eklatanter Ausdruck dieser Unmöglichkeit ist die berühmte HEiSENBERGsche Unbestimmtheitsrelation, die aussagt, daß, je genauer gewisse Teilaussagen über einen solchen Prozeß werden, um so unbestimmter andere, die zu seiner eindeutigen Charakterisierung im Sinne der klassischen Physik nicht weniger notwendig wären. Nun stellen aber die Vorgänge in der „Makroweit" der gewöhnlichen „Dinge", die vor der Beschäftigung mit den Elementarprozessen den einzigen Gegenstand der Naturwissenschaft gebildet hatten, in Wirklichkeit auch nichts anderes dar als Anhäufungen von sehr zahlreichen Elementarprozessen! Es ergab sich also der zwingende Schluß, daß auch hier in Wirklichkeit keine Rede von der bisher angenommenen eindeutigen Bestimmtheit und quantitativen Berechenbarkeit sein kann, und daß die entsprechenden Annahmen nur das Produkt einer Täuschung gewesen sein können, hervorgerufen durch die außerordentlich große Zahl der in jedem „makroskopischen" Ereignis zusammentretenden Elementarereignisse. Ist diese Zahl groß genug, so kann ja nach den Gesetzen der Statistik die Wahrscheinlichkeit zutreffender Voraussagen bekanntlich so nahe an den Wert Eins heranrücken, daß sie von der absoluten Sicherheit der Vorhersage praktisch nicht mehr zu unterscheiden ist. Kurz: man schloß, daß das Kausalprinzip — wenigstens in der Form, in der es die Naturwissenschaft bisher aufzufassen pflegte — überhaupt nicht gilt, weder im einen noch im anderen Bereich des Naturgeschehens. Freilich blieb diese Schlußfolgerung auch nicht unwidersprochen. Um ihr zu entgehen, wurde die Theorie — oder besser gesagt: Hypothese — der sogenannten „verborgenen Parameter" aufgestellt. Hiernach ist die für uns gegebene Unmöglichkeit der eindeutigen Vorausberechnung der Elementarprozesse lediglich „subjektiv" durch unser (derzeitiges) Unvermögen bedingt, gewisse unserer bisherigen Kenntnis noch verborgene Parameter zu bestimmen, deren Beherrschung die Unbestimmtheit des Geschehens sofort in die gewohnte Bestimmtheit verwandeln würde. Ob diese Hypothese richtig ist oder nicht, würde sich endgültig wohl erst entscheiden lassen, wenn es eines Tages gelänge, solche bisher verborgenen Parameter zu entdecken. So lange wird sie aber vermutlich unbewiesen bleiben. Die Zahl ihrer Anhänger scheint auch nicht gerade im Wachsen zu sein. Möglicherweise wirkt sich hier der Umstand aus, daß ein eigentlich praktisches Bedürfnis nach Beantwortung der in ihr aufgeworfenen Frage kaum noch besteht, nachdem nämlich die Quantenmechanik in ihrer statistischen Fassung so weit ausgebildet worden ist, daß sie grundsätzlich wohl alle zur Zeit in der experimentellen Forschung auftauchenden einschlägigen Fragen befriedigend zu beantworten vermag. Die Mehrheit der Physiker dürfte heute wohl der Ansicht sein, daß die genannte Unbestimmtheit objektiven Charakter hat, und ein Suchen nach den „verborgenen Parametern" sinnlos ist. Zweierlei ist allerdings festzustellen: Einmal erweist sich das Prinzip der Natur75

gesetzlichkeit, d. h. der unbedingten und ausnahmslosen Gültigkeit der Naturgesetze, offenbar als unberührt davon, ob die Hypothese der verborgenen Parameter zutrifft oder nicht. Schließlich hat schon Max P L A N C K „dynamische", nicht mit statistischer Unsicherheit behaftete Naturgesetze und solche mit rein statistischer Aussage als prinzipiell gleichwertig betrachtet. Tut man das aber, so muß man auch anerkennen, daß mit der ausnahmslosen Gültigkeit der letzteren dem Grundprinzip der Naturgesetzlichkeit genausogut Genüge getan ist wie mit der allgemeinen Verbindlichkeit der ersteren. Zweitens: Auch wenn man die strittige Hypothese der verborgenen Parameter als richtig betrachtet, so ist das immer noch kein Grund, die dann mögliche Rückkehr zum klassischen Determiniertheitsbegriff der Kontinuumsphysik mit Folgerungen zu verbinden, die denen des religiösen Fatalismus ähneln, indem man annimmt, daß alle künftigen Zustände des Universums durch seinen heutigen Zustand (oder durch den Zustand in irgendeinem Augenblick der Vergangenheit) schon ein für alle Mal in allen Einzelheiten festgelegt seien, woraus man schließt, daß sie für jemanden, der einen solchen Ausgangszustand kennt, auch vollständig quantitativ berechenbar sein müßten. Tatsächlich hat diese Vorstellung, in der das Universum wie ein riesiges Uhrwerk erscheint, das, einmal aufgezogen, nun durch nichts und niemanden aufhaltbar einfach ablaufen muß, seit DESCARTES und L A P L A C E wohl nicht wenige Naturwissenschaftler in ihren Bann gezogen, obgleich ihre konsequente Verfolgung gewisse recht unbefriedigende Resultate ergibt, mit denen man sich schwerlich abfinden kann. Unter anderem zeigt sich, daß die Vorstellung der Freiheit unseres Willens damit den Charakter einer bloßen Illusion erhielte — denn wenn die Folgen unserer Entschlüsse auf das Geschehen in unserem Zentralnervensystem wie auch in der Außenwelt schon von vornherein unabänderlich festliegen sollten, so müßte dasselbe ja wohl auch für diese Entschlüsse selbst gelten. Warum ringen wir dann aber oft so schwer um einen Entschluß? Und mit welchem Recht bestrafen wir Verbrecher und belohnen wir das Verdienst, wenn doch jeder ohnehin gar nicht anders kann, als die ihm vorbestimmten Handlungen auszuführen und keine anderen? Derartige unbehagliche Konsequenzen wirken natürlich als ein Argument für die tatsächliche prinzipielle Unbestimmtheit der Elementarprozesse und gegen die Theorie der verborgenen Parameter. Es ist ja wohl klar: Wenn das gesamte Naturgeschehen als Ganzes, sowohl in seinem „mikroskopischen" wie im „makroskopischen" Bereich, der völligen Bestimmtheit ermangelt, so sollte auch das Zentralnervensystem keine Ausnahme davon machen. Im Gegenteil, man braucht nur zu vermuten, daß hier zuweilen an entscheidender Stelle nur relativ wenige Elementarprozesse schon „makroskopische" Folgen auslösen könnten — eine Parallele hierzu bietet z. B . schon der bekannte Vorgang des „Rauschens" in elektronischen Verstärkern — um auch in den „makroskopischen" Folgen der Willenshandlung nicht zu übersehende Abweichungen vom Vorausberechenbaren zu erhalten. Indessen erweist sich die „Uhrwerks"-Auffassung des Universums, wie gesagt, 76

auch schon ohne Zuhilfenahme quantenphysikalischer Vorstellungen und unabhängig davon, ob man die Hypothese der verborgenen Parameter als richtig ansieht oder nicht, bei genauerer Prüfung als physikalisch zumindest unbegründet, wie wir gleich sehen werden. Worauf beruht denn eigentlich die Möglichkeit, das Geschehen etwa in einer physikalischen Versuchsapparatur oder in irgendeiner Maschine der industriellen Produktion schon bei ihrem Entwurf richtig vorauszusagen? Unter anderem doch auch darauf, daß man bei ihrer Konstruktion selbstverständlich danach trachtet, sie (z. B. durch Einschluß in ein dichtes Gehäuse) soweit als möglich unempfindlich gegen mögliche Störeinflüsse zu machen, und wo das nicht gelingt, ihr äußere Arbeitsbedingungen zu schaffen, in denen die fraglichen Störungen nicht zu erwarten sind. Man erreicht das etwa, indem man sie in einem besonders geschützten Baum aufstellt oder ihr Bedienungspersonal gibt, das besonders darauf geschult ist, bestimmte Störungen unwirksam zu machen, ehe ihr Einfluß spürbar werden kann. Bei alledem handelt es sich auch nicht nur um von außen kommende Störwirkungen, sondern fast noch häufiger um solche, die ihre Ursachen im Innern der Einrichtung selbst haben. Nun scheint allerdings nichts naheliegender als der Schluß, daß äußere Störungen per definitionem wegfallen müssen, sobald man als zu berechnende „Maschine" das gesamte Universum ins Auge faßt, und innere ebenfalls, wenn man, wie nun notwendig, die Kenntnis aller Daten voraussetzt, die das Geschehen bestimmen. Freilich wäre eine solche Folgerung praktisch in gewisser Weise zu rechtfertigen, wenn wir etwa auf Grund langer Erfahrung wüßten, daß die sich der Voraussage entziehenden Störeinflüsse auf irgendeine Einrichtung regelmäßig um so kleiner würden, je umfangreicher die fragliche Einrichtung ist. Leider zeigt aber die praktische Erfahrung, daß gerade das Gegenteil der Fall ist: Wir könnten daraus allenfalls nur den entgegengesetzten Schluß, nämlich auf die jeder Vorausberechnung völlig unzugängliche Natur des Universums ziehen. Logisch ist der Schluß auf die in allen Einzelheiten vollkommene Determiniertheit und Vorausberechenbarkeit allen Geschehens im Universum, den wir zuerst skizziert hatten, aber ohnehin nicht überzeugend. Zunächst kann natürlich eine vollständige Kenntnis aller Daten des Universums niemals gegeben sein: Zur Speicherung dieser Kenntnis wäre ein Gehirn oder ein ihm äquivalentes Instrument nötig, das geradezu eine Art Doppelausgabe des Universums darzustellen hätte, um seine Aufgabe erfüllen zu können! Aber auch abgesehen von dieser Ungereimtheit wäre die fragliche Schlußfolgerung schon deswegen nicht zulässig, weil sie gleichbedeutend mit der Annahme der grundsätzlichen Integrierbarkeit der Differentialgleichungen, in denen sich die Naturgesetze im allgemeinen ausdrücken, über das gesamte Universum wäre, eine Annahme, zu der uns jedoch nichts berechtigt. Sie käme auf die völlig unbewiesene Behauptung hinaus, daß alle in Frage kommenden uneigentlichen, sich zwischen unendlichen Grenzen erstreckenden Integrale eo ipso konvergieren müßten. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man mit gewissen neueren physikalischen Hypothesen etwa annähme, daß die vierdimensionale geometrische Mannigfaltigkeit des Universums gar nicht un77

endlich, sondern, wenn auch ohne Grenzen, so doch nur endlich1) sei [14]. Auch dann müßte die Voraussetzung der über die ganze Erstreckung gegebenen Integrierbarkeit erst noch bewiesen werden. Da indessen die Frage der Endlichkeit oder Unendlichkeit des Universums nun einmal angeschnitten ist, mögen auch hierüber einige Worte gesagt werden. Ihre Beantwortung hängt sehr davon ab, was man sich eigentlich unter dem Worte „Universum" vorstellt. Die Physik jedenfalls beschäftigt sich grundsätzlich nur mit meßbaren Erscheinungen. Da jede Messung aber auf einer Wirkung beruht, die von der Umwelt auf das jeweilige Meßinstrument ausgeübt wird, und andernteils jede Art von Wirkung grundsätzlich zur Grundlage einer Messung dienen kann, könnte man mit demselben Recht auch sagen, daß die Physik sich mit der gegebenen Realität so weit und nur so weit beschäftigt, als wir von ihr ausgehende Wirkungen verspüren können. Für die Zwecke der Physik wäre es demnach wohl berechtigt, das „Universum" als den Inbegriff aller realen Gegebenheiten zu definieren, die auf uns und unsere Meßinstrumente nachweisbare Wirkungen auszuüben vermögen. Muß das aber die gesamte „Realität" sein? Ich erinnere hier an den von E D D I N G TON geprägten Begriff des „Welthorizonts", der die Annahme impliziert, daß es eben Teile der Realität gibt, von denen wir aus Gründen nichts bemerken können, die denen ganz analog sind, die es verhindern, daß Lichtstrahlen von hinter dem optischen Horizont gelegenen Gegenständen unser Auge erreichen. Zu einem ähnlichen Schluß werden wir geführt, wenn wir an die Verhältnisse im Atomkern denken, dessen Inneres normalerweise keine Auswirkungen von Vorgängen erfährt, die außerhalb seiner selbst ablaufen, wegen des „Potentialwalls", der es umgibt und von allen äußeren Einflüssen abschirmt. Stellt man sich einen entsprechenden Potentialwall um den der astronomischen Forschung zugänglichen Teil des Weltalls vor, so könnten unabhängig davon immer noch Realitäten vorhanden sein, über deren Natur wir nicht einmal zu phantasieren ein Recht hätten. Wir würden es allenfalls vielleicht erhalten, wenn es etwa gelänge, eine „Weltformel" abzuleiten, von der sich zeigen ließe, daß unsere Welt nur eine ihrer möglichen Lösungen darstellte, und zugleich, daß diese Lösung nur dann existieren kann, wenn auch andere Lösungen existieren, wobei womöglich auch noch mehr oder weniger präzise Aussagen über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lösungen abfallen könnten. So weit sind wir indessen noch nicht! Um Mißverständnisse zu vermeiden: Die hypothetischen Lösungen einer solchen „Weltformel" dürften natürlich keinesfalls mit den „metaphysischen" Welten verwechselt werden, die in religiösen Vorstellungen seit Alters her eine große Rolle spielen. Deren Hauptkennzeichen besteht ja in der Vorstellung derjenigen, die an sie glauben, gerade darin, daß sie nicht völlig abgeschlossen von unserer Welt bestehen, sondern daß eine gewisse (seltene oder häufige) gegenseitige Einflußnahme vorhanden ist, wodurch sie gemäß der Definition, von der wir ausgegangen *) Als ein zweidimensionales Analogon wird oft das Beispiel der Kugeloberfläche genannt, die bei endlichem Flächeninhalt auch keine Grenze besitzt.

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sind, natürlich zu einem Bestandteil unseres „physikalischen" Universums und legitimen Gegenstand experimenteller Forschung werden würden — sofern sie eben nur existierten! I m übrigen ist die soeben gegebene physikalische Definition des Universumbegriffs längst nicht die einzig mögliche. Ich könnte mir denken, daß sie den philosophisch Gebildeten nicht gerade befriedigt und daß es durchaus diskutabel sein könnte, der doch sehr engen physikalischen Definition eine zweite, weiter gefaßte, an die Seite zu stellen, die den allgemeineren Interessen philosophischen Denkens Rechnung trägt. Ich persönlich halte jedenfalls eine solche erweiterte Definition für sehr angebracht und möchte vorschlagen, im Gegensatz zum „physikalischen" das „philosophische" Universum einfach als die Gesamtheit aller möglichen Gegenstände unserer Tätigkeit und unserer Erkenntnis zu definieren. Es liegt auf der Hand, daß dieses „philosophische" Universum auch dann unendlich sein kann, wenn sich das „physikalische" eines Tages tatsächlich als endlich und aus nur endlich vielen Bausteinen bestehend erweisen sollte. Gegenstände der möglichen Erkenntnis bilden ja nicht nur die einzelnen Bausteine, sondern vor allem die Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, und die Gesetze, denen diese Beziehungen folgen. Daß aber wirklich schon eine beschränkte und sogar sehr beschränkte Anzahl von Grundelementen zum Vorhandensein einer unendlichen Zahl von Gegenständen der Erkenntnis führen kann, dafür bietet ein recht sinnfälliges Beispiel bereits das System der „natürlichen" Zahlen. Zu seiner Konstituierung genügen ja bekanntlich schon die zwei Grundelemente „ 0 " und „L". Andernteils wissen Sie, daß die Erforschung der Eigenschaften der aus diesen beiden Grundelementen ableitbaren unendlichen Menge von Zahlen eine besondere mathematische Disziplin, die Zahlentheorie, beschäftigt, die allem Anschein nach so wenig wie irgendein anderes Gebiet menschlichen Wissens Aussicht hat, jemals ihren Gegenstand so erschöpfend zu behandeln, daß keine weiteren Fragen übrigbleiben. Es versteht sich, daß wir, wenn wir von „Erkenntnis" sprechen, nur an die Erkenntnis realer, für das wirkliche Geschehen in der realen Welt maßgebender Faktoren denken dürfen — daß auch den Gegenständen der Mathematik die Bedeutung solcher Faktoren zukommt, davon haben wir uns ja bereits überzeugt. Nach dieser kleinen Abschweifung wollen wir uns aber wieder unserem augenblicklichen Hauptthema, der Kausalität, zuwenden, mit deren Behandlung wir nämlich noch nicht am Ende sind. Unsere letzten Überlegungen hatten uns zur Ablehnung der Auffassung des Universums als eines gigantischen „Uhrwerks" geführt, wie sie den L A P L A C E s o h e n oder „klassischen" Determinismus kennzeichnet. Ist damit aber wirklich schon das Kausalprinzip in Bausch und Bogen verurteilt oder ist das, was wir als unhaltbar erkannt haben, nicht vielleicht bloß eine falsche Auslegung einer an sich trotzdem richtigen Grundkonzeption? Ich bin allerdings dieser letzteren Meinung. Zunächst wäre es wohl nicht einmal abwegig, den eigentlichen Sinn des Kausalitätsgedankens in dem zu sehen, was wir das Prinzip der „Naturgesetzlichkeit" genannt haben. An dessen realer Gültigkeit zu zweifeln, haben wir ja keinerlei Grund. 70

Das ist aber noch nicht alles. Herkömmlicherweise wird das Kausalprinzip doch oft auch als das Prinzip der Verknüpfung von „Ursache" und „Wirkung" bezeichnet. Vom lateinischen Wort für Ursache, „causa", leitet sich ja auch sein Name ab. In der Tat ist die sich darin aussprechende Auffassung die älteste. Sie hat schon bestanden, als die Philosophie noch die Rolle der einzigen, alles Wissen zusammenfassenden Gesamtwissenschaft spielte und die Begriffe des „Naturgesetzes" und der „Naturgesetzlichkeit" noch weit davon entfernt waren, das Denken der Menschen so wie heute zu beherrschen. Erst recht ist der Gedanke der vollständigen Determiniertheit alles Naturgeschehens allein durch die Naturgesetze viel jünger als die Einsicht in das Bestehen des allgemeinen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Freilich schien es zunächst, als ob die Annahme der allgemeinen naturgesetzlichen Determiniertheit nur eine Präzisierung und Bestätigung der älteren Vorstellung sei und zu ihr in keinerlei Gegensatz stünde. Indessen läßt eine nähere Prüfung erkennen, daß die beiden Auffassungen sich durchaus nicht decken und sogar recht wesentliche Unterschiede aufweisen. Für uns ist vor allem wichtig, daß die alte „philosophische" Fassung des Kausalprinzips im Gegensatz zu seiner späteren „physikalischen" Formulierung von den schon erwähnten quantenphysikalischen Erkenntnissen noch keineswegs in Frage gestellt wird. Ja, wir werden uns sogar davon überzeugen, daß die tasächliche reale Gültigkeit des Prinzips der diskreten Verknüpfung von Ursache und Wirkung durch die modernen Einsichten in den Aufbau der Materie eigentlich erst recht verständlich wird. Worin besteht nun der tatsächliche Unterschied zwischen den fraglichen beiden Auffassungen der Kausalität? Er liegt einfach darin, daß das Prinzip der Ursache— Wirkungs-Beziehung, von dem wir uns ja in unserem täglichen Leben weitab von allen wissenschaftlichen Berechnungen ständig leiten lassen, einen viel bescheidenerenlnhalt hat als die Behauptungen der vollständigen quantitativen Determiniertheit und prinzipiell lückenlosen Vorausberechenbarkeit jedes Einzelereignisses. Nur die letztere wird ja von der Quantenphysik in Frage gestellt! Dagegen konstatiert das „alltägliche" Prinzip der Ursache—Wirkungs-Verknüpfung weiter nichts als die Tatsache des ständigen Hervorgehens gewisser Ereignisse aus gewissen andern, und wir empfinden es regelmäßig schon als voll bestätigt, wenn wir auf Grund uns bekannter spezieller Zusammenhänge dieser Art gewisse Ereignisse nur qualitativ, und, wenn auch nicht in allen ihren Einzelheiten, so doch wenigstens in gewissen uns gerade interessierenden Punkten voraussagen können. Mehr haben aber auch die alten Philosophen nicht im Auge gehabt, wenn sie von kausalen Zusammenhängen sprachen, und das Bestehen solcher Zusammenhänge steht offenbar auch in keinerlei Widerspruch zu den Ergebnissen der Quantenphysik, am allerwenigsten zur HEiSENBERGSchen Unbestimmtheitsrelation, die doch nicht die Unmöglichkeit aller Angaben über einen Elementarprozeß behauptet, sondern nur die Zahl und die Genauigkeit der jeweils möglichen Angaben beschränkt. 80

Andernteils braucht man nur etwa an das Bild zu denken, das die radioaktive Belegung eines Leuchtzifferblattes unter dem Mikroskop bietet, oder an die Nebelspur eines radioaktiven Teilchens in der Wilsonkammer, die sich in nichts von dem Kondensationsstreifen unterscheidet, den ein Höhenflugzeug hinterläßt, um sich davon zu überzeugen, daß der einzelne Elementarprozeß auch sehr wohl imstande ist, die Rolle der „Ursache" in einer weiterreichenden Kette von „makroskopischen" Wirkungen zu spielen, in ganz derselben Weise, wie wir dies von den uns vertrauten Vorgängen erwarten, die von Anfang bis zu Ende in der „Makroweit" der gewöhnlichen Dinge unserer Umgebung verlaufen. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden zur Diskussion stehenden Auffassungen des Kausalprinzips, der im übrigen mit dem eben genannten zusammenhängt, ist folgender: Dem Prinzip der vollständigen gegenseitigen Determiniertheit haftet es an, daß in keinem Teil der Welt ein Ereignis gedacht werden kann, das nicht einen wenn auch noch so kleinen Einfluß auf alle andern Weltereignisse ungeachtet ihrer räumlichen und zeitlichen Entfernung ausüben müßte. Es findet dies unter anderem seinen Ausdruck in dem bekannten Prinzip der „Nahewirkung" und dem klassischen Begriff des physikalischen „Feldes", in dem alle Einzelereignisse eben nach dem Prinzip der Nahewirkung, die immer bis ins Unendliche reicht, miteinander in einem unlösbaren Zusammenhange stehen müssen — außer wenn sie durch den bekannten, von der Lichtgeschwindigkeit bestimmten „Kausalitätskegel" der Relativitätstheorie voneinander getrennt sind. Dagegen impliziert das Prinzip der Ursache—Wirkungs-Verknüpfung einen solchen allgemeinen Zusammenhang in keiner Weise, vielmehr ordnet es offensichtlich allen als „Wirkungen" auftretenden Ereignissen stets nur eine ganz beschränkte Zahl anderer zu, die eben als seine „Ursachen" fungieren. Diese können ja auch regelmäßig nur deswegen als solche erkannt werden, weil eben andere Einflüsse, die sich ihnen überlagern und ihre Wirkungen überdecken würden, in all den Fällen zu fehlen pflegen, in denen wir das Kausalprinzip im täglichen Leben anwenden. Die Hilfsmittel der Korrelationsrechnung, mit denen man bekanntlich die Wirkungen verschiedener Ursachen voneinander trennen kann, brauchen wir dabei ja nicht anzuwenden! Es ist nun interessant, sich zu fragen, wie es eigentlich kommt, daß es praktisch tatsächlich so häufig möglich ist, diskrete, von störenden Nebeneinwirkungen wenig oder gar nicht entstellte Ursache—Wirkungs-Verknüpfungen zu verfolgen und allein auf Grund ihrer Kenntnis im allgemeinen recht verläßliche Voraussagen zu machen. Die Antwort ist sehr einfach: Sie lautet, daß wir es dabei fast immer nur mit festen Körpern zu tun haben, deren Bestand und deren Eigenschaften durch die meisten äußeren Einflüsse nicht oder wenigstens nicht merklich verändert werden, außer durch ganz wenige, die dann auch leicht als die „Ursachen" solcher Veränderungen zu identifizieren sind. Etwas abgeschwächt gilt das auch noch für Flüssigkeiten. Die relative Stabilität und Unempfindlichkeit der festen Körper und Flüssigkeiten beruht aber letzten Endes nur auf der Stabilität ihres Molekülverbandes, deren Verständnis uns wiederum erst durch die Quantenphysik eröffnet worden ist! 6

Pieiffer

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Im Lehrgebäude der klassischen Kontinuumsphysik stellten die stabilitätsbedingten Erscheinungen, die die erfolgreiche Voraussage von Ereignissen auf Grund des Prinzips der diskreten Ursache—Wirkungs-Beziehung erst möglich machen, tatsächlich einen im Grunde unverstandenen Fremdkörper dar. I n diesem Umstand ist wohl auch der tiefere Grund für das Ignorieren dieses Prinzips und seine Ersetzung durch das der vollständigen Determiniertheit in der Zeit der alleinigen Herrschaft der Kontinuumsphysik zu erblicken. Dagegen kann man wohl sagen, daß das alte „philosophische" Prinzip der Einzelverursachung in der Kybernetik gewissermaßen zu neuen Ehren gekommen ist, freilich in einer verallgemeinerten, die grundsätzlichen Mängel der ursprünglichen Konzeption vermeidenden Form. Das Wesen der die Blocks jedes kybernetischen Systems miteinander verbindenden „Signale", ihre eigentliche Funktion, besteht ja gerade darin, daß ein jedes Signal in dem Block, den es trifft, eine spezifische Wirkung hervorruft, die ihre nächste Ursache in dem Block hat, von dem es ausgeht. Der Fortschritt gegenüber der klassischen Konzeption liegt dabei darin, daß auch die Überlagerung vieler Wirkungen in beliebiger Kombination und insbesondere auch die Rückwirkung, die irgendeine von einer bestimmten Ursache ausgelöste Erscheinung auf diese ihre eigene Ursache bei entsprechendem Signalverlauf auszuüben vermag, also die gegenseitige Verflechtung von Ursache und Wirkung, die in der herkömmlichen Auffassung als eine Art Paradoxon erscheinen mußte, nunmehr legalisiert und exakter Betrachtung, ja oft sogar auch quantitativer Berechnung zugänglich wird. Von dieser Seite aus gesehen, bedeutet also die Kybernetik eigentlich nur einen konsequenten Ausbau der uralten „philosophischen" Konzeption des Kausalprinzips. An dieser Stelle mag vielleicht eine kurze Bemerkung Platz finden, die uns die enge Beziehung zeigt, in der wesentliche Gedankengänge der beiden Väter des dialektischenMaterialismuszur modernenkybernetischen AuffassungdesUrsache— Wirkungs-Verhältnisses stehen. So ist die Unzulänglichkeit der einseitigen Auffassung dieses Verhältnisses und die Notwendigkeit seiner Ersetzung durch das Prinzip der Wechselwirkung schon von Friedrich E N G E L S klar erkannt und zum Ausdruck gebracht worden, wenn er einmal sagt [14], „... daß Ursache und Wirkung... sich auflösen in der universellen Wechselwirkung, w o . . . das, was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt." Ebenso hat er den L A P L A C E S c h e n Determinismus strikt abgelehnt — unter anderem auch, weil er im Grunde eine Brücke zu religiösen Auffassungen bedeutet. Am weitesten ist aber wohl Karl M A U X selbst in der Vorwegnahme erst später Allgemeingut gewordener Einsichten gekommen, und zwar in seiner Beschreibung der Vorgänge, die im kapitalistischen System zum Wechsel von Konjunktur und Krise zu führen vermögen. Tatsächlich analysiert er dabei die für die Entstehung von Schwingungen in beliebigen kybernetischen Systemen maßgebenden typischen Verhältnisse so genau, wie dies ohne Zuhilfenahme der ihm ja noch nicht zur Verfügung stehenden speziellen mathematischen Hilfsmittel überhaupt möglich war — und das ist auch kein Zufall: vielmehr konnte er gar nicht anders, als diesen Weg zu beschreiten, wenn er nicht dem für die dialektische Methode kennzeich82

nenden Grundsatz der allseitigen Berücksichtigung aller Einflüsse und Gegeneinflüsse, die für das in Betracht kommende Phänomen eine Rolle spielen, untreu werden wollte. Im übrigen sei zur ausführlicheren Würdigung der Einstellung der Klassiker des Marxismus zum Kausalitätsproblem, wie auch zur Weiterführung ihrer Gedanken in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen moderner physikalischer Forschung auf die schon zitierte Literatur verwiesen. Wir haben vorhin schon die Verwandtschaft erwähnt, die zwischen der (wie wir gesehen haben, unberechtigten) Annahme der lückenlosen Determiniertheit allen Geschehens und dem religiösen Fatumsglauben besteht, wie er unter anderem den Islam, aber auch bestimmte Formen des Christentums beherrscht. Tatsächlich ist das nicht einmal die einzige Beziehung, die sich zwischen den verschiedenen möglichen Formen der Auffassung des Kausalprinzips und gewissen religiösen Vorstellungen aufzeigen läßt. Das darf uns, nebenbei gesagt, auch nicht weiter verwundern, da doch ihrer historischen Wurzel nach alle Religion eigentlich nur aus der Zusammenfassung alles einmal Gewußten und dazu noch (richtig oder irrtümlich) Vorausgeahnten entstanden ist. Ganz besonders gilt das auch für die verschiedenen Arten der religiösen Gottes Vorstellungen. Ihre Unvereinbarkeit mit modernen wissenschaftlichen Einsichten schließt ja selbstverständlich keineswegs aus, daß sich in ihr doch gewisse Seiten der Realität jeweils durchaus richtig abspiegeln — wie ja überhaupt nichts ungerechtfertigter wäre, als in den verschiedenen historischen Religionen weiter nichts als einen Gegenstand der Mißachtung oder gar des Spottes zu sehen. So ist das vielfache Gegeneinanderwirken verschiedener Kräfte, das in allen realen kybernetischen Systemen auftritt, ingewisser Weise vorausgeahnt und abgespiegelt in den polytheistischen Religionen, in denen ja bekanntlich die verschiedenen, mit verschiedenen Machtbefugnissen versehenen Götter nur zu oft in heftigem Widerstreit miteinander zu liegen pflegen. Insofern enthalten solche Religionen ein gut Teil zutreffender Weltbeschreibung und eine Vorausahnung erst viel später erreichbarer exakter wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dazu mag der Polytheismus in gewissen seiner Formen auch noch als ein Abbild der Wirklichkeit in einem ganz konkreten Sinne gelten. Wie schon oft bemerkt worden ist, liefert z. B. die griechische Mythologie in ihrer ausführlichen Schilderung der Eifersüchteleien und Fehden der auftretenden Götter und Göttinnen gewiß ein recht getreues Konterfei der gesellschaftlichen Zustände einer bestimmten Epoche, die durch fortwährende Kämpfe annähernd gleichstarker Feudalherren gekennzeichnet war. Dagegen kann der strenge Monotheismus, in dem der einzige Gott auch die einzige und letzte Ursache alles Seienden darstellt, sicherlich als die ganz adäquate Abspiegelung des Weltbilds des absoluten Determinismus in der Sphäre der Gottesvorstellungen angesehen werden, insbesondere in der Form, in der angenommen wird, daß der Schöpfergott nach Vollendung seiner Schöpfung keiner weiteren Eingriffe in das Geschaffene fähig oder willens ist. Eine besondere Stellung nimmt in dieser Beziehung das Christentum ein, die sich nur verstehen läßt, wenn man den Ort und die historischen Bedingungen seiner 6*

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Entstehung im vorderasiatischen R a u m berücksichtigt. Alle uns bekannten alten vorderasiatischen Religionen scheinen darin übereinzustimmen, daß sie (sehr im Gegensatz etwa zu den Religionen der Griechen und Germanen!) zu einer gewissen abstrahierenden Vereinfachung der Beobachtung neigen. So wird der Gegensatz der in der Realität überall einander widerstrebenden K r ä f t e gern als solcher verabsolutiert und als selbständiges Bauprinzip der Welt im Dualismus zweier metaphysischer Mächte symbolisiert, die beide in ihrem Mit- und Gegeneinander den Lauf der Welt bestimmen. Z u diesen Religionen gehören auch das Judentum und das in seinem Schöße entstandene Christentum mit ihrer dualistischen Vorstellung der Zweiheit von Jehova und Beelzebub, von Gott und Teufel, welche laeide einander völlig entgegengesetzt sind und in ständigem K a m p f miteinander stehen, doch so, daß keiner von beiden den Einfluß des anderen auf den Lauf der Welt ausschaltet. Interessanterweise hat nun das Christentum in dieser Beziehung einen gewissen historischen Wandel durchgemacht, insofern, als von der Zeit an, in der der naturwissenschaftliche Determinismus geboren wurde und zunehmend mit seinem Erstarken immer weniger vom Teufel gesprochen wird. So hat gewiß die Zahl der kirchlichen Teufelsaustreibungen in der Neuzeit gegenüber dem Mittelalter stark abgenommen. Sie mögen heute wohl nur noch in Gegenden stattfinden, in denen die, wie wir gesehen haben, zu einem strengen Monotheismus tendierende naturwissenschaftliche Denkweise des letzten Jahrhunderts noch keinen erheblichen Einfluß auf das Bewußtsein der Allgemeinheit hat gewinnen können. Andernteils kann natürlich auch keine der christlichen Konfessionen die Teufelsvorstellung ganz fallen lassen, ohne mit ihrer doch nun einmal als unantastbar erklärten dogmatischen Grundlage in Widerspruch zu geraten. Würde sie es dennoch tun, so würde dies jedenfalls zugleich auch das Aufgeben eines im Grunde nur realistischen Zuges bedeuten, der dem überlieferten christlichen Weltbild immer noch anhaftet. Um die letzte Betrachtung noch abzurunden: Das Weltbild einer Religion muß sich nicht notwendig in entsprechenden Gottesvorstellungen symbolisieren. So kennt der Buddhismus — soviel mir bekannt ist, immer noch die Religion, die auf unserer Erde die meisten Anhänger zählt — gar keinen Gott, weder einen, noch zwei, noch viele. Doch bedeutet dies keine Verbesserung der Glaubwürdigkeit gegenüber andern, gott- oder göttergläubigen Religionen: Ein nicht wegzudenkender Bestandteil des buddhistischen Glaubens ist ja die Lehre von der Wanderung der Seele des Sterbenden in den Körper eines zu gleicher Zeit anderswo entstehenden (menschlichen oder tierischen) Lebewesens, die wir, wie bereits ausgeführt, vom Standpunkt wissenschaftlicher Betrachtung aus ebensowenig akzeptieren können wie den Glauben an Götter.

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III. Ethik 9. Vorlesung Gemäß dem Programm, das wir uns vorgenommen haben, wollen wir als nächstes die Ethik, das Problem des „Guten" betrachten. Wir werden dabei von den neurokybernetischen Einsichten, die wir gewonnen haben, ausgehen und zunächst einmal sehen, wie weit die Schemata, die wir zur Erklärung der Vorgänge beim Erkenntnisprozeß aufgestellt haben, uns auch dazu dienen können, das Handeln des Menschen und überhaupt sein gesamtes praktisches Verhalten zu verstehen. Ähnlich, wie wir in unseren erkenntnistheoretischen Untersuchungen gleichzeitig das Zustandekommen gewisser Irrtümer untersucht und uns nicht damit begnügt hatten, die Art und Weise zu begreifen, in der unser Zentralnervensystem arbeitet, um uns richtige Erkenntnisse zu vermitteln, ebenso werden wir auch jetzt unser Augenmerk nicht nur auf das Verhalten, ivie es sein soll, richten, sondern auch darauf, wie es tatsächlich zu sein pflegt, und auch menschliches Fehlverhalten nicht aus unserer Betrachtung ausschließen. Ebenso wollen wir uns als erstes wieder einen kurzen Uberblick über gewisse Grundtendenzen in den verschiedenen historischen Auffassungen des uns interessierenden Problems verschaffen, wobei wir freilich wiederum nur solche berücksichtigen können, die entweder noch ihren Platz im Bewußtsein der modernen Menschheit behaupten, oder die doch wenigstens zu dessen Bildung wesentlich beigetragen haben. In der Zeit der Verwaltung alles Wissens, wie des Glaubens, durch die Priesterschaft existiert die Ethik natürlich nur als Bestandteil der Religion. Später, mit der Emanzipation der Philosophie, bemächtigen sich auch die Philosophen des Themas, wobei verständlicherweise recht verschiedene Meinungen zutage treten. Indessen stimmen fast alle Meinungen doch in einem Punkte überein, nämlich in der statischen Auffassung des Inhalts der Begriffe des im ethischen Sinne „Guten" und „Bösen", der als ein für alle Mal fest gegeben angesehen wird. Die einzige Ausnahme scheint hier der dialektische Materialismus zu bilden, der ja lehrt, daß sich die ethischen Begriffe stets nur in Abhängigkeit von der jeweiligen realen Gesellschaftsform konkretisieren können und sich mit deren Wandel notwendig ebenfalls ändern müssen. Das bedeutet im besonderen, daß das allgemeine moralische Bewußtsein, solange noch eine Klassengesellschaft existiert, sich niemals unabhängig von der jeweiligen Klassenstruktur ausbilden kann, und daß die klassenmäßige Bedingtheit der Begriffe von „Gut" und „Böse" grundsätzlich erst in einer klassenlosen Gesellschaft überwunden werden kann, die vorzu85

bereiten und aktiv herbeiführen zu helfen ja das erklärte Ziel der marxistischen Philosophie ist. Dabei wird aber jede der realen Grundlagen entbehrende Spekulation ausdrücklich abgelehnt: So hat Friedrich E N G E L S einmal geäußert, daß für ihn noch gar keine Möglichkeit bestünde, vorauszuahnen, wie die Ethik der sozialistischen Gesellschaft der Zukunft im einzelnen beschaffen sein würde. Für unsere Generation ist diese Zukunft freilich Gegenwart geworden. In der Sowjetunion existiert seit mehr als einem halben Jahrhundert eine sozialistische Gesellschaftsordnung, in der recht klare Vorstellungen darüber vorhanden sind, was die sozialistische Gesellschaft für konkrete ethische Forderungen an ihre Mitglieder stellt, und ich glaube, auch wir fühlen und wissen das einigermaßen, obgleich der gesellschaftliche Umschwung bei uns noch nicht so weit zurückliegt und gerade in dieser Hinsicht noch mehr als sonstwo das Wort gilt: „Gut Ding will Weile haben". Freilich ist der Gegensatz zwischen einer statischen Interpretation der ethischen Ideale und der dynamischen des Marxismus nicht der einzige, der sich in der Vergangenheit herausgestellt hat. Auch der Widerstreit zwischen lebensbejahenden und lebensverneinenden Weltanschauungen muß sich natürlich auf dem Gebiet der Ethik bemerkbar machen, und dort sogar in erster Linie: Wir haben ja bereits von der lebensbejahenden Grundtendenz des Marxismus und der in gewisser Weise zwiespältigen Haltung des Christentums gesprochen, denen beiden die konsequente Lebensverneinung des Buddhismus gegenübersteht. Ein weiteres Gegensatzpaar, das uns interessieren muß, wird von einer egozentrischen, in erster Linie auf die Person des einzelnen bezogenen ethischen Zielsetzung (die merkwürdigerweise überaus verbreitet ist) auf der einen Seite und einer nicht egozentrischen auf der anderen Seite gebildet, die dem Individuum außerhalb und über ihm stehende Ziele seines Handelns zuweist. Musterbeispiele für die egozentrische Zielsetzung bieten die meisten philosophischen Ethiken der griechisch-römischen Spätantike, die als höchstes Ziel für jeden nur die Sicherung eines möglichst großen Glücksanteils für die eigene Person sehen, und sich nur in der Art des in Aussicht gestellten Glückes und den Wegen unterscheiden, auf denen es im praktischen Leben erreicht werden soll. Charakteristisch für diese Lehren ist auch die Auffassung der Gesellschaft: sie erscheint dort regelmäßig als eine im Prinzip amorphe Masse von Individuen, von denen jedes für sich nur seine persönlichen Ziele verfolgt. Dieselbe Anschauung vertritt auch das Christentum, so verschieden seine Lebensauffassung auch sonst von der der Antike sein mag. Auch hier gilt als letztes und höchstes Ziel für jeden einzelnen die eigene Glückseligkeit, nur daß sie nicht im Leben, sondern erst nach dem Tode in einem neuen „ewigen" Leben als Lohn für Wohlverhalten im „irdischen" Leben erwartet wird — wobei indessen nach der Auffassung des Urchristentums zur Erlangung dieses Lohnes nicht einmal der Tod erforderlich sein sollte: Die ersten Christen waren vielmehr der einhelligen Überzeugung, daß Christus als der große Weltenrichter noch zu ihren Lebzeiten wiedererscheinen würde, um sie für ihren Glauben zu belohnen und ihre Wider86

sacher zu bestrafen. Die christliche Liebe zum „Nächsten" spielte dabei neben Armut, Demut und Widerstandslosigkeit gegen Unrecht grundsätzlich nur die Rolle eines Mittels zur Erreichung des höchsten Daseinszieles, und das Wohl der Gesellschaft als Ganzes wird dabei ebensowenig in Betracht gezogen wie in den genannten spätantiken Ethiken. Die meisten der auf die Erreichung der persönlichen Glückseligkeit ausgerichteten Ethiken stimmen auch darin überein, daß in ihnen nie oder fast nie von der Notwendigkeit gesprochen wird, dem anderen nicht nur freundlich, sondern auch feindlich gegenüberzutreten, nämlich dann, wenn die Ziele, die er verfolgt, es in einem höheren Interesse erfordern. Es scheint, daß nur der Ur-Islam hier eine Ausnahme darstellt: In ihm erhält ja der Kampf, gegen die „Ungläubigen" im Interesse der Verbreitung der Lehre des Propheten den Charakter eines ethischen Gebots. Einer ganz besonderen, absurden Logik folgt übrigens der Buddhismus: Da alles Leben als eine Qual betrachtet wird, kann das höchste Glück nur in der vollständigen Vernichtung bestehen. Anders als der Christ glaubt der Buddhist nicht an die Fortsetzung des persönlichen Lebens in einem „Jenseits". Wie bereits erwähnt, geht nach dem Glauben des Buddhismus die Seele im Augenblick des Todes im allgemeinen vielmehr in einen anderen Körper über, der gerade sein Leben beginnt. Es kann dies auch der Körper eines Tieres sein. Nur wenn ein Mensch es erreicht hat, sich während seines Lebens vollständig von allen Leidenschaften, die es Sonst beherrschen, zu befreien, kann er hoffen, daß seine Seele, vom Zwang der Wiedergeburt erlöst, mit seinem Tode der ersehnten Vernichtung im Nichts (dem „Nirwana") würdig wird. Das bekannte Symbol des idealen, vom Schmutz der Umwelt unberührten „reinen" Lebens ist die auf dem Morast blühende Lotosblume. Im rein persönlichen Charakter des letztlich zu Erstrebenden, wie auch in der Auffassung der menschlichen Gesellschaft als einer bloßen Summe einzelner, in den letzten Fragen allein auf sich selbst gestellter Individuen unterscheidet sich aber der Buddhismus nicht vom Christentum. Aufs schärfste hebt sich davon die Ethik des dialektischen Materialismus ab, die ja nicht nur die jeweilige ethische Zielsetzung für den einzelnen grundsätzlich von der Organisation der Gesellschaft abhängig macht, in der er lebt, sondern auch die größtmögliche Mitwirkung an deren Verbesserung in die vornehmsten Pflichten jedes Einzelmitglieds einschließt. Es mag sich hier die Frage aufdrängen, in welchem Verhältnis eigentlich der früher behandelte Antagonismus zwischen philosophischem Materialismus und Idealismus zu den jetzt aufgezeigten Gegensätzen auf dem ethischen Gebiete steht. Die Antwort muß lauten, daß fast alle idealistischen Philosophen (wie übrigens auch die Anhänger des primitiven nichtdialektischen Materialismus) im Gegensatz zum Marxismus sowohl in der Annahme der ewigen Gültigkeit bestimmter ethischer Forderungen als auch im rein persönlichen Charakter des jeweils herausgestellten ethischen Ideals und in der amorphen Auffassung der menschlichen Gesellschaft den gleichen Standpunkt wie die spätantiken Glückseligkeitsethiken und das Christentum einnehmen. Doch fallen, speziell was die amorphe 87

Gesellschaftsauffassung anbelangt, zwei idealistische Philosophen aus diesem allgemeinen Rahmen heraus. Der eine ist PLATON, dessen im „Staat" dargelegte Ethik zudem auch keineswegs egozentrisch orientiert ist. Dennoch bleiben zwei entscheidende Unterschiede gegenüber der Ethik des dialektischen Materialismus. Einmal betrachtet PLATON die ethischen Ideale, seiner ganzen Denkweise entsprechend, wieder als ein für alle Mal festliegend, und zweitens sind sie für ihn nicht von der jeweiligen realen Form der Gesellschaft bestimmt, sondern vom Ideal einer lediglich utopischen Gesellschaft, die er als einen Klassenstaat besonderer Art definiert. Dessen oberste, regierende Klasse wird von den Gelehrten gebildet. Als ihre beherrschende Tugend nennt PLATON die Weisheit. Die zweithöchste Klasse sollen die Krieger sein mit der Tapferkeit als oberster Tugend, während die letzte, dienende Klasse aus den Bauern und Handwerkern besteht, die sich in erster Linie im Gehorsam als der ihnen zukommenden Tugend zu üben haben. Übrigens hat es (in den griechischen Kolonien Siziliens) den Versuch zur praktischen Verwirklichung des platonischen Staates gegeben. Er ist freilich bald gescheitert, wie es bei seinem wirklichkeitsfremden, alle praktischen Gegebenheiten außer acht lassenden Charakter ja wohl auch nicht anders sein konnte. Mehr praktische Wirksamkeit dürfte von der die zweite Ausnahme innerhalb des Idealismus bildenden sehr viel jüngeren Ethik Immanuel K A N T S ausgegangen sein, die er selber äußerst prägnant in dem berühmten „kategorischen Imperativ der Pflicht" zusammengefaßt hat: „Handle stets so, daß die Maxime deines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden könnte!" Die Konzeption der amorphen Gesellschaft ist damit fraglos in gewisser Weise überwunden: Sie wird ja als beherrscht von allgemeinen Gesetzen vorgestellt. Doch geschieht dies im Gegensatz zur Ethik des dialektischen Materialismus nur in einer abstrakten Form, die jede konkrete Bestimmtheit vermeidet und damit den Inhalt des „kategorischen Imperativs" auch im konkreten Einzelfall grundsätzlich offenläßt. Im übrigen ist die KANTSche Ethik aber auch noch in anderer Hinsicht recht anfechtbar. So liegt ein schwacher Punkt darin, daß ihr zufolge als im ethischen Sinne „gut" offenbar zu Handlungen gelten können, die auf Grund einer mehr oder weniger abstrakten „Maxime" beschlossen worden sind, nicht aber solche, die rein impulsiv aus einer entsprechend gerichteten Gefühlsregung heraus erfolgen, was dem natürlichen Empfinden für „gut" und „böse" sicherlich nicht entspricht. Über diesen Punkt hat sich bereits S C H I L L E R in recht sarkastischer Weise lustig gemacht. Ferner ist K A N T sehr im Gegensatz zu PLATON nicht so weit gegangen, daß er ganz auf das letzten Endes an den menschlichen Egoismus appellierende Belohnungsmotiv verzichtet hätte. Im Gegenteil, er postuliert eine ganz individuell verstandene Unsterblichkeit der Seele und das Dasein eines nach dem Tode alle Taten gerecht richtenden Gottes, eigens damit die auf Erden unbelohnt gebliebenen guten Werke in der ewigen Seligkeit ihre von ihm eben als unerläßlich betrachtete Belohnung finden sollten. Dabei war er sich darüber im klaren, daß das Dasein eines Gottes grundsätzlich unbeweisbar ist, und er sprach diese Überzeugung auch aus, wozu zu seiner Zeit 88

Mut gehörte. Durch die genannten „Postulate" (d. h. „Forderungen") Schwächte er diese Überzeugung aber wieder ab und drückte gleichzeitig das stolze Niveau seiner Ethik der reinen Pflichterfüllung auf das anderer glückseligkeitsorientierter Sittenlehren hinunter. Nun aber zur Anwendung unserer kybernetischen Erkenntnisse auf das ethische Problem! Wieder, ebenso wie bei der Behandlung des erkenntnistheoretischen Fragenkomplexes, wollen wir versuchen, von den einfachsten, (wenn möglich) experimentell verifizierbaren Sachverhalten auszugehen, um danach zu sehen, wie wir auf dieser Grundlage zu höheren Erkenntnissen aufsteigen können. Dieses Einfachste ist in unserem Falle aber nicht das Verhalten des Menschen, sondern das der Tiere, und davon wiederum das Besterforschte die Reihe der Erscheinungen, die man seit PAWLOW als die Äußerungen „bedingter" und „unbedingter" Reflexe des Tiers bezeichnet. Wahrscheinlich haben Sie alle schon von

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Abb. 11. den PAWLOWschen Hundeversuchen gehört. Hält man einem Hunde ein Stück Wurst vor, so erfolgt als Reaktion auf den Geruch und den Anblick der Nahrung sofort als „unbedingter", ererbter Reflex eine vermehrte Speichelabsonderung. Läßt man aber wiederholt mit dem Vorzeigen der Nahrung auch einen Gong ertönen, so erfolgt nach einiger Zeit des Trainings die Speichelabsonderung als „bedingter", nicht mehr vererbter, sondern erlernter Reflex bereits, wenn lediglich der Gongschlag ertönt, ohne daß einstweilen die Nahrung wahrzunehmen wäre. Man hat lange Zeit den Mechanismus, der dazu führt, als reine Steuerkette aufgefaßt, in der, nachdem einmal der bedingte Reflex gebildet ist, der akustische Reiz ebenso zur direkten Ursache des als Wirkung beobachteten Speichelflusses wird, wie vorher der optische und der Geruchsreiz. Eine entsprechende neuronale Schaltung könnten wir uns etwa so vorstellen, daß sie wie in Abbildung 12 dargestellt wirkt: Man braucht nur anzunehmen, daß die Leitung, die das vom Ohr kommende Signal des Gongtons führt, mit den entsprechenden von Auge und Nase

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herkommenden Leitungen in eine synaptische Verbindung tritt, die grundsätzlich unserem Schema der Lernmatrix Abb. 9 (oder auch der Neuronenschaltung Abb. 11) entspricht, um zu erreichen, daß bei mehrmaliger zeitlicher Koinzidenz derfraglichen Sinnesreize der Gongton das neuronale Speichermodell für „Nahrung" ebenso zum Ansprechen bringt, wie vorher der Anblick und der Geruch der Nahrung. Die durch die Reizkoinzidenz „leitend" gewordenen Kreuzungspunkte der Matrix sind in Abbildung 12 durch kleine Kreise markiert. Das Speichermodell Sp sollte dabei ebenso wie andere solche Modelle mit summierenden Schwellwertelementen ausgestattet sein, die in diesem Falle ihre Vorerregung natürlich von dem im Hirninnern gelegenen „Hungerzentrum" empfangen müßten. Indessen wäre ein solches Schema doch ällzu stark vereinfacht. Wir dürfen es heute wohl als gesichert ansehen, daß hier in Wirklichkeit nicht nur eine einfache Steuerkette, sondern sogar mehrere miteinander „vermaschte" Regelkreise in Aktion treten. Dazu führen gewisse Beobachtungen, z. B. die, daß der klassische

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Abb. 12: JVNahrung, O Gong, 4 Auge, Ne Nase, 0 Ohr, Sp Modellspeicher für Nahrung, 8 Signal für das Vorhandensein von Nahrung, H Hungerzentrum.

Gongversuch PAWLOWS mißlingt, wenn die Begleitumstände gewechselt werden, indem etwa als Versuchsort ein anderer als der sonst benutzte Laboratoriumsraum gewählt wird. Erst recht versagt die Vorstellung der Steuerkette, wenn der ausgelöste „Reflex" nicht nur aus einer unwillkürlichen Reaktion nach Art der Speichelabsonderung besteht, sondern auch koordinierte Bewegungen einschließt. Ein dementsprechend erweitertes Schema für die Ausführung bedingter Reflexe ist wohl zuerst von ANOCHEST, einem Schüler PAWLOWS, entworfen worden (Abb. 13). Die entscheidenden neuen Bestandteile dieses Schemas sind die „Afferenzsynthese", der „Programmgeber" und der „Wirkungsakzeptor", der die Wirkungen des erfolgten Reflexes prüft. (Zur Erklärung der Benennungen: Mit „Afferenz" werden alle das Zentralnervensystem von außen treffenden Impulse, mit „Efferenz" dagegen die von ihm ausgehenden bezeichnet). Nach Ansicht ANOCHINS ist der unmittelbare Erfolg der Afferenz-„synthese" ein „Entscheid" über den auszuführenden Reflex, der als nächste Folge die „Formierung" des „Programmgebers" und des „Wirkungsakzeptors" nach sich zieht. Nähere An90

gaben über den B a u dieser wesentlichen Teile des Schemas scheint allerdings ANOOHIN nicht gemacht zu haben. E s stellt sich nun heraus, daß es an Hand der schon früher von uns eingeführten Schemata der verallgemeinerten Lernmatrix und der neuronalen Modellspeicher nicht allzu schwer ist, auch hier zu einigermaßen konkreten Vorstellungen zu gelangen. Zunächst kann das, was bei der „Afferenzsynthese" verlangt wird, nämlich die Transformation einer grundsätzlich beliebigen Zahl von Signalen verschiedener Herkunft in ein Ensemble veränderter Signale, die geeignet sind, ihrerseits wieder neue, ererbte oder durch Lernprozesse erworbene neuronale Schaltungen zu erregen, offensichtlich ohne weiteres durch Kombinationen von Schaltungen geleistet werden, die analog den in den Abbildungen 10 a und 10 b dargestellten aufgebaut sind. E s ist klar, daß auf diese Weise auch ererbte Programmspeicher, die, sobald sie erregt sind, ein Stereotypes Programm von Im,Rückafferenz"

Abb.13: A —SAfferenzsynthese, W—A Wirkungsakzeptor, E Entscheid, P Programmgeber, V Vollzug des Aktes, B Resultate, PB Parameter der Resultate, MZ Motivationszentrum, G Gedächtnis, BR bedingt wirkender Reiz.

pulsen zur Realisation eines ebenso stereotypen Verhaltens ablaufen lassen, sehr wohl durch Signale, die erbmäßig dafür nicht vorgesehen sind, aktiviert werden können, so daß das in Gang gesetzte Verhalten den Charakter eines (nun mehr oder weniger komplexen) „bedingten" Reflexes erhält. Ebenso einleuchtend dürfte es sein, daß ohne Änderungen in der Struktur des Programmgebers selbst vorauszusetzen, auch beliebige Variationen des von ihm ausgelösten Verhaltens erzielt werden können, wenn nur die ihn verlassenden Impulse einer ähnlichen Transformation unterzogen werden, wie seine Eingangssignale. E s entfällt damit wohl die Notwendigkeit, in jeder neuen Situation einen besonderen Entscheid zur Formierung eines ihr entsprechenden neuen Programmgebers im ANOOHiNSchen Schema zu fordern. Genauso leicht ergibt sich der Aufbau eines den Ansprüchen des ANOCTiiNSchen Schemas voll entsprechenden „Wirkungsakzeptors" mit Hilfe der uns bereits vertrauten neurologischen Grundschemata. Wir brauchen dazu nur anzunehmen, daß dem jeweils aktivierten Programmgeber ein bestimmtes Speicherglied beigeordnet ist, das bei zusätzlichem Signaleinfall auf durch „Er91

wartungswerte" vorerregte Schwellwertelemente ein Ausgangssignal liefert, das den fraglichen Programmgeber wieder stillsetzt, und ferner, daß auch die dieses Speicherglied treffenden Eingangssignale vorher einer der nun schon mehrfach erwähnten Transformationen unterzogen werden. Auch die Signale, die im AnocHiNSchen Schema als aus dem „Gedächtnis" stammend bezeichnet sind, lassen sich zwanglos als die Ausgangssignale entsprechender Speicher deuten, die in früheren Lernprozessen gebildet wurden und deren Schwellwertelemente durch Zusatzsignale vorerregt werden, die wiederum aus den verschiedenen Motivationszentren herrühren. Vielleicht ist es instruktiv und auch in Hinblick auf die spätere Erweiterung unserer Überlegungen auf das Problem des menschlichen Verhaltens recht nützlich, sich einmal im einzelnen klarzumachen, wie hiernach die koordinierten Bewe-

Abb. 14: H Hungerzentrum, i Inhibitorische Synapse, 8a Stereotype Signale, Sm modifizierende Signale, 8t transformierte Signale, Pa Programmgeber für Nahrungssuche, M Muskel, N Nahrung, 8p Modellspeicher für „Nahrung", SN Signal für „Nahrung", P)ck Programmgeber für (Töten und) Verschlingen.

gungen eines Tieres z. B. bei der Suche und Aufnahme von Nahrung ablaufen müssen. Auch hier wird sich ja regelmäßig nicht nur bei domestizierten Tieren, wo dies selbstverständlich ist, sondern auch in der Freiheit eine ganze Anzahl nicht ererbter, sondern erworbener, mehr oder weniger komplizierter Verhaltensweisen realisieren, die in der herkömmlichen Terminologie als „bedingte Reflexe" anzusprechen wären. In Abbildung 14 ist ein solches Schema wiedergegeben, wobei die wiederholt benutzten, aus verallgemeinerten Lernmatrizen und summierenden sowie inhibitorischen Synapsen zusammengesetzten Transformationsschaltungen schematisch durch geschweifte Klammern angedeutet sind, an deren linker offener Seite die Eingangssignale, an deren rechter aber die sämtlich oder zum Teil transformierten Ausgangssignale erscheinen. So kann das vom Hungerzentrum ausgehende, normalerweise einen Programmgeber für die Nahrungssuche erregende Signal beim Vorliegen modifizierender Signale, die 92

etwa eine unmittelbar drohende Gefahr anzeigen, am Erreichen des fraglichen Programmgebers gehindert werden, sofern diese modifizierenden Signale nicht etwa schon am Eingang des Hungerzentrums wirksam werden und die Abgabe seines normalen Ausgangssignals von vornherein unterbinden sollten, was etwa unter Vermittlung des bei gewissen Tieren bereits nachgewiesenen Verteidigungszentrums geschehen könnte. Die Erregung des Programmgebers für die Nahrungssuche wird im übrigen durch eine inhibitorische Synapse unterbrochen, sobald Nahrung gefunden ist. Die von diesem Programmgeber ausgehenden Impulse brauchen indessen nicht unbedingt immer dasselbe stereotype ererbte Verhalten zu veranlassen. Auch hier können modifizierende Signale zu einer Signaltransformation und damit zu (erlernten) Abänderungen des Verhaltens führen. In jedem Fall wird eine gute Proportionalität zwischen den einzelnen Muskelkontraktionen und den sie veranlassenden Impulsen, wie bekannt, durch besondere Regelkreise bewirkt, in denen von Spannungsmeldern an den Muskelenden ausgehende Signale als Rückführungen wirken. Hat die Suchaktion Erfolg, so werden die vom Hungerzentrum bereits vorerregten Schwellwertsynapsen des Modellspeichers für „Nahrung" zur Signalabgabe veranlaßt, und damit erfolgt auch das nahrungsmeldende Ausgangssignal dieses Speichers, das einesteils, wie bereits erwähnt, die Erregung des Programmgebers für die Nahrungssuche unterbricht, andernteils aber sofort einen weiteren Programmgeber für das eventuell nötige Fangen und Töten sowie das Verschlingen der Nahrung in Tätigkeit versetzt. Doch ist sicher, daß sowohl die Eingangssignale der Schwellwertsynapsen wie auch deren Ausgangssignale regelmäßig erst noch eine gewisse unter Mitwirkung modifizierender Signale erfolgende Transformation erfahren werden, ehe sie an den Ort ihrer Wirksamkeit gelangen. So können beim Erkennen der Nahrungsanwesenheit Hilfssignale mitwirken, deren Bedeutung durch frühere Lernprozesse fixiert worden ist. (PAWLOWS Hundeversuch!) Ferner können Zusatzsignale, z. B. über die außergewöhnliche Größe oder die drohende Haltung der Beute veranlassen, daß sie trotz anderer positiver Merkmale nicht als „Nahrung" angesprochen wird und dementsprechend die Aktivierung des das Fangen und Verschlingen veranlassenden Programmgebers unterbleibt. Dessen Funktion erfolgt im übrigen sinngemäß ebenso wie die des Gebers für die Nahrungssuche. Mit dem Verschwinden der Nahrung im Akte des Verschlingens erlöschen natürlich die von ihr ausgehenden Sinnesreize. Dies ist in Abbildung 14 schematisch durch ein gestrichelt eingezeichnetes Rückführsignal und symbolische Subtraktionsglieder angedeutet, die in die Signalpfeile für die Sinnesreize eingeschaltet sind. Ebenso wird die vom Signal „Nahrung" über die entsprechende inhibitorische Synapse veranlaßte Sperrung des Suchgebers aufgehoben. Falls das Hungerzentrum noch nicht aufgehört haben sollte, sein Ausgangssignal abzugeben, wird also die Suchaktion von neuem beginnen. Bei ausreichender Menge der aufgenommenen Nahrung — deren Wirkung ist in Abbildung 14 durch einen ebenfalls gestrichelten, das Hungerzentrum treffenden Rückführpfeil symbolisiert — 93

wird dagegen der Erregungszustand dieses Zentrums natürlich aufhören und der gesamte Vorgang sein vorläufiges Ende finden. Um noch einmal auf das ursprüngliche AsrocHiNsche Schema Bezug zu nehmen: Überall, wo die in Abbildung 14 mit S m bezeichneten Signale beteiligt sind, erhalten die unter ihrer Mitwirkung ausgelösten Reaktionen offenbar den Charakter „bedingter" Reflexe, und wenn diese Signale, die ja regelmäßig aus der Umwelt stammen werden, dabei mit Signalen ähnlicher Herkunft zusammentreten, handelt es sich jedenfalls um eine „Afferenzsynthese" im AirocHiNSchen Sinne. Dieser Fall ist im Schema Abbildung 14 gewiß bei der Signaltransformation gegeben, die zwischen dem Block N und dem Speicher Sp stattfindet. Als „Wirkungsakzeptoren" dagegen wirken in unserem Schema der Speicher Sp und die inhibitorische Synapse i. Eine weitere Bemerkung: Der Begriff des „instinktiven" Verhaltens von Tieren, das ja stets eine mehr oder weniger komplizierte Struktur aufweist, war in der Zeit der Alleinherrschaft der Auffassung des bedingten Reflexes als Ergebnis einer einfachen Steuerkette (des sogenannten „Reflexbogens") als nicht recht erklärbar in der wissenschaftlichen Psychologie ein wenig in Mißkredit gekommen. Im Zusammenhang damit mochte das entsprechende tierische Verhalten wohl gar im Sinne des philosophischen Idealismus als ein Hinweis auf das Wirken naturwissenschaftlich prinzipiell nicht faßbarer Mächte selbst innerhalb der Natur aufgefaßt werden. Es scheint, daß Schemata, wie die hier gezeigten, geeignet sind, dem bisher sicherlich etwas vagen Instinktbegriff einen neuen greifbareren Inhalt zu geben, ihn damit naturwissenschaftlich in gewisser Weise zu rehabilitieren und zugleich allen mit ihm verbundenen idealistischen Spekulationen den Boden zu entziehen. Es wäre wohl sinnvoll, von „instinktivem" Verhalten von Tieren jedesmal dann zu sprechen, wenn eine ganze Anzahl von Reflexen, bedingten und unbedingten, in einer gleichermaßen von Erb- und Umwelteinflüssen abhängigen Weise gesetzmäßig zusammentreten, um einen bestimmten Verhaltenstyp zu realisieren.

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10. Vorlesung Ein weiteres, für uns besonders interessantes Beispiel für „instinktives" tierisches Verhalten ist der Nest- oder Höhlenbau, allgemein gesprochen: der Wohnungsbau, der bei den dazu befähigten Tieren stets nach einem bestimmten artbedingten Schema abläuft, aber doch auch nicht, ohne daß umweltabhängige Einflüsse sich gleichzeitig mehr oder weniger stark bemerkbar machen. Ein ganz analog Abbildung 14 aufgebautes Schema dafür ist in Abbildung 15 wiedergegeben, das wohl ohne Erklärung im einzelnen verständlich ist. Bemerkenswert ist hier nur zweierlei : Einmal fungiert als Eingangssignal am Anfang des ganzen Schemas hier eine HormonWirkung, die also nicht nervöser, sondern chemischer Natur ist — ähnlich wie übrigens schon in Abbildung 14 das auf das Hungerzentrum bei ausreichender Nahrungsaufnahme einwirkende Rückführsignal. Ferner wollen wir feststellen, daß der Speicher Sp in Abbildung 15 im Unterschied zu Abbildung 14 Erwartungs- oder Sollwerte für ein Gebilde enthält, das im allgemeinen noch gar nicht existiert, sondern vielmehr vom jeweiligen Instinkt-

n Hormon

p %

Ne. JN*

Abb. 15: PNe Programmgeber für Nestbau, Sa Signale für stereotypes Verhalten, Sm modifizierende Signale, M Muskel, Ne Nest, Sp Modellspeicher für das „ideale" Nest, Sjfe Signal für „Nest", i inhibitorische Synapse.

träger erst geschaffen werden muß. Sollte sich allerdings zufällig eine geeignete fertige Wohnung vorfinden, ehe der Eigenbau begonnen hat, so wird sehr oft infolge Ansprechens der inhibitorischen Synapse i gar nicht gebaut, sondern stattdessen gleich die schon vorhandene Behausung bezogen. In jedem Falle aber sind die Merkmale, die die zu beziehende Wohnung aufweisen muß, damit die dafür gültigen Sollwerte als befriedigt gemeldet werden können, nicht absolut feststehend. Wie groß diese Variabilität zuweilen sein kann, demonstrieren uns sehr augenfällig die domestizierten Tiere, die sehr häufig nach einer gewissen „Eingewöhnungszeit" — die durch die für alle Lernprozesse notwendige Wiederholung der maßgebenden Reizkoinzidenzen bedingt ist — das vom Menschen gebotene Obdach jedem anderen vorziehen. In unserem Schema findet dies seinen Ausdruck in der Signaltransformation zwischen den Blocks Ne und Sp, 95

die ganz der Signaltransformation zwischen den Blocks N und Sp in Abbildung 14 entspricht. Im übrigen liefern ja auch in puncto Nahrungswahl die domestizierten Tiere wieder Schulbeispiele für die Flexibilität alles instinktiven Verhaltens. Als zweites Beispiel für ein Instinkt verhalten, das auf die Schaffung von Umweltgebilden durch den Instinktträger selbst hinzielt, mag die Herden-, Schwarmoder Rudelbildung durch gesellige Tiere dienen. Auch hierfür läßt sich ein ganz analoges Schema aufstellen (Abb. 16). Im Unterschied zum Schema für den Nestbau müssen jetzt aber wieder, ähnlich wie im Falle der Nahrungssuche und -aufnahme, zwei Programmgeber angenommen werden, die jeder ein an sich stereo-

Abb. 16: PRa Programmgeber für Bollenwähl, S3 Signale für stereotypes Verhalten, St Signale für tatsächliches Verhalten, 8m modifizierende Signale, PR Programmgeber für Rollenverhalten, Sp Modellspeicher für die „ideale" Form der Gemeinschaft, SB Signal „Gemeinschaft gebildet", i inhibitorische Synapse. (Der Übersichtlichkeit halber ist hier auf die Andeutung der den Programmgebern nachgeschalteten untergeordneten Regelkreise für die Betätigung der Einzelmuskeln verzichtet worden.)

types, doch durch das Dazwischentreten von Signaltransformationen variabel gemachtes Verhalten bewirken: nämlich einer für die Wahl der innerhalb der Gemeinschaft einzunehmenden Position oder der in ihr zu spielenden „Rolle" und einer für die Durchführung des Verhaltens gemäß der einmal gewählten Rolle. Viele Beobachtungen beweisen ja, daß Tiergemeinschaften im allgemeinen eine gewisse artspezifische Struktur aufweisen, die auf einer bestimmten Rollenverteilung beruht. So gibt es sehr oft außer der Position des Leittiers auch die der „Wachtposten", die unbedingt ebenfalls besetzt sein müssen, damit die Gemeinschaft als in befriedigender Weise formiert empfunden wird. In anderen Fällen mag die „Soll"-struktur der Gemeinschaft in einer einfachen eindimensionalen Rangordnung bestehen, in der nur jedes Tier den ihm zukommenden Platz kennen 96

muß, damit das Ordnungsprinzip verwirklicht ist („Hackordnung" bei Hühnern und anderen Vögeln). Stets aber führt ein ganz bestimmtes, mehr oder weniger stereotypes Verhalten jedes Einzeltieres zum Auffinden des ihm gemäßen Platzes. Manchmal kommt es da zu Kämpfen — manchmal aber auch nur zu solchen mehr symbolischer Art, die mehr das Maß der Kampfbereitschaft demonstrieren, als daß sie eine physische Entscheidung bedeuteten. Für uns entscheidend wichtig ist aber der Umstand, daß die Rollenwahl für das Einzeltier immer erst dann abgeschlossen sein kann, wenn das gleiche für alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft gilt. Nur wenn sie ebenfalls die ihren Rollen entsprechenden Aufgaben erfüllen, kann die Gemeinschaft als in befriedigender Weise realisiert und damit die eigene Position als bestätigt empfunden werden. Wird aber eine schon konstituierte Ordnung gestört, etwa durch Ausfall des Leittieres oder durch das Hinzukommen eines neuen Mitglieds, so beginnt grundsätzlich für alle Mitglieder das Stadium der Rollenwahl von neuem, was sich z. B. im Hühnerhof sogar schon nach nur zeitweiser Herausnahme eines Huhnes sehr drastisch zu zeigen pflegt, sobald es das erste Mal wieder zu sehen ist. Wir können schließlich gar nicht anders, als wenigstens bei höher organisierten Tiergemeinschaften im Zentralnervensystem aller Einzelmitglieder nicht nur verschiedene Modellspeicher für das den verschiedenen möglichen Rollen entsprechende eigene Verhalten anzunehmen, sondern ebenso auch für das Verhalten der anderen und damit auch für das Gesamtbild der jeweiligen „Gemeinschaft, wie sie sein soll", also für den artspezifischen Idealtyp der Gemeinschaft als eines Ganzen! Auf die grundlegende Bedeutung, die diese Erkenntnis auch für das Verständnis der menschlichen Gesellschaft und für die Begründung einer auf alle metaphysischen Voraussetzungen verzichtenden Ethik hat, werden wir bald zurückkommen und dabei auch die besonderen Gründe zu analysieren versuchen, die zu der weitverbreiteten falschen Meinung von der außer auf die Sicherung der Fortpflanzung nur auf die Erhaltung des Individuums gerichteten Zielsetzung aller tierischen Instinkte geführt haben. Einstweilen wollen wir nur wieder feststellen, daß selbstverständlich alle Verhaltensprogramme durch Signaltransformationen, die den Programmgebern nachgeschaltet sind, mehr oder weniger flexibel werden können, zweifellos in um so höherem Grade, je höher organisiert das Zentralnervensystem der betreffenden Lebewesen ist. Und wieder zeigen uns die domestizierten Tiere, Haustiere wie auch gezähmte Angehörige „wilder" Arten, wie außerordentlich groß diese Flexibilität werden kann. So „liebt" der Haushund gewiß nur deswegen seinen Herrn und dessen Familie und versucht, so viel als möglich mit ihnen zusammenzusein, weil das Verhalten der Familienmitglieder und insbesondere auch das des Herrn in befriedigender Weise die Erwartungswerte seines ererbten Modellspeichers für das „Rudel" und das „Leittier" erfüllt, so wie er selbst die ihm zufallende Rolle des „Wachtpostens" mehr oder weniger gut auszufüllen versucht. Ganz allgemein wird ein lustbetontes Verhalten im Dienste des Menschen nur bei solchen domestizierten Tieren zu konstatieren sein, deren freilebende Eltern 7

Pfeiffer

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oder Voreltern ein geselliges Leben geführt und den Gesellschaftstrieb auf sie vererbt haben, so daß dieser Trieb nach einer entsprechenden Signaltransformation durch die Gemeinschaft mit dem Menschen befriedigt und die Ausführung der vom Menschen verlangten Dienste als Durchführung einer natürlichen Rolle empfunden werden kann. Das Gegenbeispiel ist die Katze — einfach weil Wildkatzen nicht gesellig leben. Verständlicherweise treten wohl alle Tiere, selbst wild eingefangene, in der Jugend leicht in ein unmittelbares Verhältnis zum Menschen, den sie als Ersatz für das verlorene Elternpaar akzeptieren. Auch das wechselseitige Verhältnis zu den natürlichen Eltern muß ja durch mit Sollwerten ausgestattete neuronale Modellspeicher geregelt werden, vor deren Eingang Signaltransformationen möglich, wenn nicht gar notwendig sind (sogenannte „Prägung" auf das Muttertier). Dagegen können nur sehr intelligente, in erwachsenem Zustande ihrer Freiheit beraubte Tiere, die über eine besonders hohe Lernfähigkeit verfügen, den Menschen und die Arbeit für ihn als vollgültigen Ersatz für die natürliche Gemeinschaft und das Leben in ihr annehmen und schließlich sogar der ursprünglichen Lebensweise vorziehen, wie das Beispiel der indischen Arbeitselefanten zeigt. Umgekehrt „verwildern" bekanntlich viele Haustiere, wie Pferde, Rinder, Hunde und Katzen ohne weiteres, wenn ihnen der Schutz der Menschen entzogen wird. Das interessanteste Beispiel für die Flexibilität des gesamten Verhaltens liefern aber wohl die im sechzehnten Jahrhundert noch nicht ausgestorbenen Wildpferde der Vogesen, die damals regelmäßig im Frühling von den Bauern eingefangen und bis zur Erntezeit zur Feldarbeit benutzt wurden, im Winter aber, wenn der Bauer sie nicht brauchte, sich selbst überlassen blieben und unter den erschwerenden Umständen dieser Jahreszeit ihr Leben als Wildtiere selbst zu erhalten hatten. Bezeichnet man die Gesamtheit der Merkmale der Umwelt oder des eigenen umweltverändernden Verhaltens, die ohne vorgängige Lernprozesse die Erwartungs- oder „Soll"werte der Modellspeicher in den Abbildungen 15, 16 oder ähnlichen Schemata befriedigen und in verschiedener Kombination das Speicherausgangssignal hervorrufen würden, als das „ererbte Leitbild" des jeweiligen Verhaltens, die Gesamtheit der Merkmale aber, die denselben Dienst faktisch tun, nachdem sich Lernprozesse ausgewirkt haben, als das „faktische Leitbild", und beachtet, daß die „modifizierenden" Signale der genannten Schemata stets direkt oder indirekt aus der Umwelt des Tieres stammen, so läßt sich die Abhängigkeit des faktischen Verhaltens von den so definierten Leitbildern zugleich mit der Abhängigkeit des faktischen Leitbildes von der Umwelt — und damit grundsätzlich auch von den ihr angehörenden Resultaten des faktischen Verhaltens — in einem allgemeinen Prinzipschema darstellen, das in Abbildung 17 für den Fall des Nestbaus wiedergegeben ist. Das Schema enthält gemäß dem Gesagten zwei Regelkreise, die miteinander „vermascht" sind. Der erste regelt das Verhalten nach Maßgabe seiner Ergebnisse, die hier also in den verschiedenen Baustadien des Nestes bestehen. Der dabei stattfindende Vergleich zwischen dem faktisch Erzielten und seinen Sollwerten, 98

die im „faktischen Leitbild" zusammengefaßt sind, ist in der übli.chen Weise durch ein Subtraktionsglied symbolisiert. Der andere regelt den Bestand des faktischen Leitbildes unter der gemeinsamen Einwirkung des ererbten Leitbildes und der Umwelt, von der die Ergebnisse des Verhaltens wiederum einen Teil bilden. Der Block, der das Zusammentreten der beiden Wirkungen symbolisiert, stellt allerdings kein einfaches Subtraktionsglied dar. Die Änderungen, durch die das faktische Leitbild aus dem ererbten hervorgeht, bestehen ja im allgemeinen ebensowohl im Weglassen gewisser Merkmale aus dem Bestand des letzteren wie im Zufügen neuer, ihm an sich fremder Einzelzüge. Das Schema läßt sich ohne Änderung auch auf den Fall der Herden- oder Rudelbildung anwenden, nur daß an diei Stelle des Nestes als Ergebnis des Verhaltens nun die Herde bzw. das Rudel tritt. Ebenso gut erfaßt es natürlich den Dammbau der Biber oder irgendein anderes, die Umwelt des Tieres nach einem bestimmten

Ziel veränderndes Verhalten. Schließlich wäre es auch möglich, die Gesamtheit aller Merkmale des Verhaltens oder seiner Ergebnisse in der Umwelt, die ohne vorgängige Lernprozesse irgendwelche neuronalen Speicher mit Erwartungswerten von Sollwertcharakter zur Abgabe ihres Ausgangssignals zu bringen vermögen, als das ererbte „Gesamtleitbild" zu bezeichnen und in analoger Weise auch ein „faktisches Gesamtleitbild" des Verhaltens zu definieren. Die Abhängigkeit des einen der beiden Gesamtleitbilder vom anderen und ihr Einfluß auf das faktische Gesamtverhalten drückt sich dann in einem analog zu Abbildung 17 gebauten Schema aus, das in Abbildung 18 wiedergegeben ist. I n Wirklichkeit wird der Fall, daß keinerlei Lernprozesse im Spiele sind, so gut wie nie vorliegen. Die „ererbten" Leitbilder in den Schemata der Abbildungen 17 und 18, wie auch andere in ähnlicher Weise definierte, stellen also reine Abstraktionen dar. Die bis jetzt ausgebildeten Untersuchungsmethoden reichen einstweilen auch noch nicht aus, um die Existenz der hier behaupteten ihnen zugrunde liegenden neuronalen Speicherschaltungen direkt nachzuweisen. Für ein tieferes Verständnis der Vorgänge scheint die Annahme ihres Vorhandenseins aber unentbehrlich zu sein. Es ist im übrigen wohl nicht ohne Interesse zu bemerken, daß die Definitionen des „ererbten" und des „faktischen" Leitbildes sich ohne weiteres auch auf die körperliche Entwicklung nicht nur der Tiere, sondern der Lebewesen überhaupt, einschließlich der Pflanzen, übertragen lassen. Von „Lernprozessen" im eigentlichen Sinne dieses Wortes wird hier natürlich keine Rede sein können. Indessen 7*

99

haben wir uns bereits in früheren Betrachtungen davon überzeugen können, daß auch die körperliche Ausbildung der Tiere und Pflanzen an nicht wenigen Stellen Merkmale aufzuweisen pflegt, die nicht direkt auf entsprechende Erbfaktoren zurückgeführt werden können und vielmehr als Manifestationen der allgemeinen Fähigkeit der Organismen zur Anpassung an die jeweilige Umwelt gedeutet werden müssen, mit demselben allgemeinen Ziel, dem auch die im Zentralnervensystem vor sich gehenden Lernprozesse dienen: nämlich der Erhöhung der Lebenstüchtigkeit. Eine Anzahl relativ auffallender Beispiele für solche Adaptionen im Körperbau haben wir schon kennengelernt. Der Gedanke ist aber auch

nicht von der Hand zu weisen, daß in Wirklichkeit nicht nur an solchen Stellen, wie wir sie früher schon genannt haben, sondern sogar in der Ausbildung jedes einzelnen Körperorgans äußere, im Sinne des Erbgangs zufällige Einflüsse zu den Erbfaktoren hinzutreten müssen, damit das Organ überhaupt ausgebildet werden kann. Bekanntlich stellt ja die faktische Ausbildung jedes Lebewesens immer nur eine der vielen Möglichkeiten dar, die gemäß der von den Eltern übernommenen und auch an die Nachkommen weiterreichbaren Erbmasse gegeben wären (Unterschied zwischen „Phänotyp" und „Genotyp"). Im Sinne der Informationstheorie heißt

Ererbtes Strukturleitbild

Abb. 19 das, daß die Erbinformation allein zur eindeutigen Reproduktion nicht ausreicht. Zum Teil widersprechen sich die Erbanlagen gegenseitig. Hier werden sich die von vornherein stärkeren „dominanten" durchsetzen. Auch die Existenz ausgleichend wirkender Organisatoren, die das Gegenstück zu gewissen kontrastverstärkenden Mechanismen bei der Sinneswahrnehmung bilden könnten, ist nicht undenkbar. An vielen Stellen aber werden äußere Faktoren zur Entscheidung beitragen müssen und damit die notwendige Zusatzinformation liefern. Zeichnen wir also ein entsprechendes Schema für die Ausbildung der allgemeinen Körperstruktur oder auch bestimmter Teile des Körpers (Abb. 19), so müssen 100

wir uns klar sein, daß das lediglich durch die wirkenden Erbfaktoren zu definierende „ererbte Leitbild" für sich überhaupt noch keine eindeutige faktische Ausbildung der von ihm mitbestimmten Körperstruktur festlegt und insofern vielleicht sogar in noch höherem Grade als die ererbten Leitbilder des Verhaltens eine bloße Abstraktion bedeutet. Trotzdem ist nicht zu bezweifeln, daß diese Abstraktion einen sehr realen Sachverhalt wiedergibt. Im Sinne der Kybernetik und insbesondere der Theorie der Regelung ist jedes Lebewesen ein sogenanntes „selbstoptimierendes" System. Tatsächlich entsprechen die jetzt von uns benutzten Schemata für die körperliche Ausbildung und das Verhalten von Lebewesen gemäß bestimmten „Leitbildern" auch ganz dem allgemeinen Schema, das die grundsätzliche Arbeitsweise derartiger Regler wiedergibt (Abb. 20). Hier tritt lediglich an die Stelle des „Leitbildes" das ganz ähnlich definierte „Arbeitsgesetz" für den Regler und an die Stelle des zu regelnden Verhaltens oder der zu entwickelnden Körperstruktur das technische Objekt der Regelung, Allgem. Arbeitsbedingungen Au&enwelt

Arbeiisgesetz

Speicherfärspei. Arbeiisgesetz

Objekt der Regelung

Abb. 20 das herkömmlich, wenn auch wenig glücklich, als „Regelstrecke" bezeichnet zu werden pflegt. Bei den in Frage kommenden Reglern gibt es nun meist ein allgemeines Arbeitsgesetz, das noch verschiedene Möglichkeiten für die Arbeitsweise des Reglers offenläßt, sowie ein von variablen äußeren Bedingungen abhängiges spezielles Gesetz, das eine Präzisierung des allgemeinen Arbeitsgesetzes eben in Anpassung an die wechselnden Arbeitsbedingungen darstellt. Dabei sind diese Bedingungen im allgemeinen ebenso durch den Zustand der Regelstrecke selbst wie den der Außenwelt bestimmt. Die sich ergebenden Übereinstimmungen mit den vorher entwickelten Schemata und besonders mit Abbildung 18 ist jedenfalls in die Augen fallend. Sie wird auch dadurch nicht gestört, daß in Abbildung 20 statt der Arbeitsgesetze selbst die ja Stets vorhandenen materiellen Speicher für sie figurieren, in Übereinstimmung mit der technischen Gepflogenheit, wenn möglich, das Blocksymbol nur für materielle Gegebenheiten einzusetzen. Bei fast allen Reglern der Technik geschieht der Vergleich der Istwerte am Ausgang der Regelstrecke mit den dafür gültigen Sollwerten durch ein Subtraktionsglied, das in Abbildung 20 mit dem Buchstaben S bezeichnet ist. Dagegen pflegt das spezielle Arbeitsgesetz aus dem allgemeinen bei selbstoptimierenden Regeln auf recht vielfältige Weise gebildet zu werden. Für alle Regler der Technik, auch die selbstoptimierenden, gilt aber, daß überall da, wo durch Subtraktion „Fehlersignale" gebildet werden, wie in Abbildung 20 in dem mit S bezeichneten Block, 101

diese Fehlersignale nicht identisch verschwinden dürfen, wenn der Regler überhaupt in Funktion treten soll. Jeder Regler „lebt" also gewissermaßen von den Fehlern, die er bekämpfen soll. Sind sie nicht mehr vorhanden, so ist er stillgelegt und überhaupt überflüssig. Wir wollen uns klarmachen, daß unsere Auffassung des lebenden Organismus als eines Reglungssystems — und an der Berechtigung dieser Auffassung kann nicht mehr gezweifelt werden — auch hier zu einer entsprechenden Annahme zwingt. Es ist ganz allgemein unmöglich, daß die Verwirklichung der faktischen Leitbilder mit diesen Leitbildern selbst fehlerfrei übereinstimmt. Hierher gehört jedenfalls die bekannte Tatsache, daß alle Körperorgane eine gewisse Variationsbreite in ihrer Funktion aufweisen, die so weit geht, daß niemand eine scharfe Grenze zwischen den noch physiologischen und den bereits als pathologisch zu wertenden Abweichungen von der mittleren Funktionsweise ziehen kann. Ebenso muß das faktische Verhalten aller Tiere notwendig nicht nur von seinem ererbten, sondern auch von dem jeweils wirksamen umweltbeeinflußten Leitbild mehr oder weniger abweichen. Es scheint, daß dies ebenfalls durch die Beobachtung bestätigt wird. Um auch hier wieder einmal die Haustiere als Beispiel anzuführen: Wir wissen j a alle, daß, soweit auch die Anpassung an die Gemeinschaft mit dem Menschen gehen mag, dabei doch immer kleinere oder größere Versager vorkommen, die bedeuten, daß die dem Tier grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten der Umstellung seines Verhaltens nicht ideal verwirklicht werden.

11. Vorlesung Wenn wir von den vorbereitenden Betrachtungen, die wir über das Verhalten der Tiere angestellt haben, nunmehr zu unserem eigentlichen, das Handeln des Menschen betreffenden Thema übergehen wollen, so ist es vielleicht nicht ganz überflüssig, sich noch einmal den allgemeinen Weg ins Gedächtnis zurückzurufen, den wir in unseren Untersuchungen zu verfolgen uns vorgenommen und bei unserem Eindringen in das Gebiet der Erkenntnistheorie auch schon beschritten haben. Wir wollen in der Hauptsache also wieder von naturwissenschaftlichen Grundlagen ausgehen, die wir im Lichte der Kybernetik betrachten, und abgesehen von einigen allgemeinen Überlegungen meist recht einfacher Art keine philosophischen Voraussetzungen benutzen außer solchen, die implizite schon in den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stecken, die wir heranziehen. Wir werden dann nachsehen, wie weit unsere so erhaltenen Ergebnisse uns auch zu weitergehenden Folgerungen philosophischer Art berechtigen, von denen festzustellen wäre, in den Rahmen welcher philosophischer Grundrichtungen sie einzuordnen sind: in den des dialektischen Materialismus oder anderer, etwa idealistischer Lehren. Die Ethik untersucht in erster Linie das soziale Handeln des Menschen. Wir werden daher wohl den besten Übergang von unseren bisherigen Betrachtungen finden, wenn wir zunächst einmal prüfen, wie weit sich die kybernetischen Schemata, die 102

diese Fehlersignale nicht identisch verschwinden dürfen, wenn der Regler überhaupt in Funktion treten soll. Jeder Regler „lebt" also gewissermaßen von den Fehlern, die er bekämpfen soll. Sind sie nicht mehr vorhanden, so ist er stillgelegt und überhaupt überflüssig. Wir wollen uns klarmachen, daß unsere Auffassung des lebenden Organismus als eines Reglungssystems — und an der Berechtigung dieser Auffassung kann nicht mehr gezweifelt werden — auch hier zu einer entsprechenden Annahme zwingt. Es ist ganz allgemein unmöglich, daß die Verwirklichung der faktischen Leitbilder mit diesen Leitbildern selbst fehlerfrei übereinstimmt. Hierher gehört jedenfalls die bekannte Tatsache, daß alle Körperorgane eine gewisse Variationsbreite in ihrer Funktion aufweisen, die so weit geht, daß niemand eine scharfe Grenze zwischen den noch physiologischen und den bereits als pathologisch zu wertenden Abweichungen von der mittleren Funktionsweise ziehen kann. Ebenso muß das faktische Verhalten aller Tiere notwendig nicht nur von seinem ererbten, sondern auch von dem jeweils wirksamen umweltbeeinflußten Leitbild mehr oder weniger abweichen. Es scheint, daß dies ebenfalls durch die Beobachtung bestätigt wird. Um auch hier wieder einmal die Haustiere als Beispiel anzuführen: Wir wissen j a alle, daß, soweit auch die Anpassung an die Gemeinschaft mit dem Menschen gehen mag, dabei doch immer kleinere oder größere Versager vorkommen, die bedeuten, daß die dem Tier grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten der Umstellung seines Verhaltens nicht ideal verwirklicht werden.

11. Vorlesung Wenn wir von den vorbereitenden Betrachtungen, die wir über das Verhalten der Tiere angestellt haben, nunmehr zu unserem eigentlichen, das Handeln des Menschen betreffenden Thema übergehen wollen, so ist es vielleicht nicht ganz überflüssig, sich noch einmal den allgemeinen Weg ins Gedächtnis zurückzurufen, den wir in unseren Untersuchungen zu verfolgen uns vorgenommen und bei unserem Eindringen in das Gebiet der Erkenntnistheorie auch schon beschritten haben. Wir wollen in der Hauptsache also wieder von naturwissenschaftlichen Grundlagen ausgehen, die wir im Lichte der Kybernetik betrachten, und abgesehen von einigen allgemeinen Überlegungen meist recht einfacher Art keine philosophischen Voraussetzungen benutzen außer solchen, die implizite schon in den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stecken, die wir heranziehen. Wir werden dann nachsehen, wie weit unsere so erhaltenen Ergebnisse uns auch zu weitergehenden Folgerungen philosophischer Art berechtigen, von denen festzustellen wäre, in den Rahmen welcher philosophischer Grundrichtungen sie einzuordnen sind: in den des dialektischen Materialismus oder anderer, etwa idealistischer Lehren. Die Ethik untersucht in erster Linie das soziale Handeln des Menschen. Wir werden daher wohl den besten Übergang von unseren bisherigen Betrachtungen finden, wenn wir zunächst einmal prüfen, wie weit sich die kybernetischen Schemata, die 102

wir inabesondere für das soziale Verhalten von Tieren gültig gefunden haben, auch auf den Menschen übertragen lassen. Tatsächlich ist das ohne weiteres möglich. Nehmen wir z. B. unsere Abbildung 16 noch einmal vor und vergleichen damit das Verhalten, wie es an einer Schulklasse von Jungen eines bestimmten Alters zu beobachten ist! Auch da finden wir regelmäßig eine gewisse Rangordnung, die aber keineswegs mit der durch die Lernleistung gegebenen übereinzustimmen braucht, vielmehr häufig, wie auch bei manchen Tieren, durch im übrigen nicht gerade sehr ernst gemeinte körperliche Auseinandersetzungen festgelegt wird. Auch hier werden die einzelnen in ihrem Verhalten von einer bestimmten Vorstellung davon beherrscht, wie ihre Gemeinschaft beschaffen sein soll, und derjenige, der dieser Vorstellung etwa zuwiderhandelt, wird unweigerlich zur Ordnung gerufen. Genau wie in Abbildung 16 dargestellt, enthält also das Leben in der Gemeinschaft für alle ihre Mitglieder zwei aufeinanderfolgende Etappen: Die Auffindung des Platzes, der innerhalb des Ganzen einzunehmen ist, und das sich daraus ergebende besondere Verhalten. Natürlich setzt das voraus, daß die Vorstellung von der „Gemeinschaft, wie sie sein soll", in den Köpfen der Einzelmitglieder wenigstens annähernd dieselbe ist. Dasselbe Problem besteht in den Tiergemeinschaften und löst sich im allgemeinen dadurch, daß die in den Einzeltieren wirksamen Leitbilder eben so weit übereinstimmen müssen, wie die Faktoren, die sie festlegen, nämlich Erbmasse und Umwelt, für die verschiedenen Tiere übereinstimmen. Dazu kommt noch der ausgleichende Einfluß des Nachahmungstriebes, den wir bei allen geselligen Tieren stark ausgeprägt finden und der also eine für die Gemeinschaftsbildung im ganzen sehr nützliche Rolle spielt. Auch für unsere Schulklasse wird gelten, daß die Art der sich bildenden Gemeinschaft nicht unbeeinflußt von äußeren Umständen, in diesem Falle z. B. von den Faktoren „Elternhaus" und „Lehrerschaft" bleiben wird. In Abbildung 16 finden diese äußeren Einflüsse wieder ihren Ausdruck in den verschiedenen „modifizierenden" Signalen, die am Ausgang der beiden Programmgeber und am Eingang des Modellspeichers für die ideale Form der Gemeinschaft erscheinen. Auch hier darf ferner mit einer gewissen Übereinstimmung der Erbmassen gerechnet werden, die in den Einzelmitgliedern durch die gesellige Eigenart der Spezies „homo sapiens" gegeben ist, und schließlich wird auch der Nachahmungstrieb sich für die Gemeinschaftsbildung fördernd bemerkbar machen. Bis zu einem gewissen Maße werden sich die hier zwischen der Schulklasse und einer Gemeinschaft geselliger Tiere festgestellten Gemeinsamkeiten sogar auch noch verfolgen lassen, wenn wir höher organisierte von Erwachsenen gebildete menschliche Gemeinschaften ins Auge fassen. Allerdings wird in allen menschlichen Gemeinschaften, den primitivsten wie den höchstentwickelten, noch ein das Gemeinschaftsleben ganz entscheidend unterstützender Faktor wirksam, der den Tiergemeinschaften in seiner besonderen Leistungsfähigkeit noch völlig fremd bleibt: die menschliche Sprache. Wir haben ja schon gesehen, daß sie als Produkt und gleichzeitig Voraussetzung der gesellschaftlichen Arbeit und also der menschlichen Kultur überhaupt imstande ist, beliebige Vorstellungen und Sachverhalte und damit natürlich auch die in Frage 103

stehenden Vorstellungen von der „Gemeinschaft, wie sie sein soll" und des richtigen Verhaltens in ihr begrifflich zu fassen, um sie von einem Individuum auf das andere direkt zu übertragen und so den angleichenden Einfluß der vorgenannten Faktoren wesentlich zu verstärken. Indessen macht das keine Änderung unseres Schemas Abbildung 16 nötig. Um die uns interessierende Rolle der Sprache zu berücksichtigen, genügt es vollauf, wenn wir nur unter die „modifizierenden" Signale des Schemas auch solche aufnehmen, die aus dem „zweiten" Signalsystem P A W L O W S stammen, also unter Vermittlung des Sprachzentrums gebildet worden sind. Nun sind die beiden Leitbilder, die nach Abbildung 16 das Sozialverhalten bestimmen, das der „Gemeinschaft, wie sie sein soll", und das der persönlichen in ihr zu spielenden Rolle, Teile des faktischen Gesamtleitbildes des Verhaltens, das wir jedenfalls für den Menschen nicht anders als für das Tier als die Menge der in neuronalen Speichern fixierten allgemeinen Merkmalskomplexe definieren können, deren Verwirklichung in der Realität ein Ziel des Strebens bildet. Es führt uns dies zu einer wesentlichen Ergänzung unserer bisherigen Bewußtseinsdefinitionen. Zunächst wäre es wohl sinnvoll, das so bestimmte Gesamtleitbild des Verhaltens als „produktives Bewußtsein" dem „rezeptiven" Bewußtsein gegenüberzustellen, das wir ja als die Menge der entsprechenden, jedoch stets irgendwie auf real vorhandene Gegenstände des Erkennens bezogene Komplexe definiert hatten. Wir begreifen damit gleichzeitig rezeptives und produktives Bewußtsein als eine höhere Einheit, die sich von denjenigen Bewußtseinsformen abhebt, die wir als Mengen von psychischen Prozessen und Zuständen und nicht von allgemeinen Merkmalskomplexen irgendwelcher Gegenstände definiert hatten. Wir könnten sie vielleicht mit dem Namen des „gegenstandsbestimmten" Bewußtseins belegen, wobei diese Bezeichnung uns allerdings nicht vergessen lassen darf, daß beim Menschen, anders als beim Tier, auch innere, psychische Gegebenheiten als Träger der in der fraglichen Bewußtseinsform gespeicherten Merkmalskomplexe auftreten können. Das bezieht sich auch auf den produktiven Teil des „gegenstandsbestimmten" Bewußtseins: Ohne Zweifel kann ja der Mensch außer nach bestimmten äußeren Verhaltensweisen und ihren Ergebnissen auch z . B . nach der Aneignung gewisser Denkweisen oder Arten des Fühlens streben. Unsere nächste Definition, mit der wir zugleich zu dem engeren uns augenblicklich interessierenden Thema zurückkehren, betrifft das moralische Bewußtsein des Menschen: Wir fassen es nunmehr zwanglos begrifflich als eine Teilmenge der das produktive Bewußtsein bildenden Merkmalskomplexe, nämlich als die Menge aller derjenigen in neuronalen Speichern fixierten Komplexe von allgemeinen Merkmalen, deren erstrebte reale Verwirklichung prinzipielle Bedeutung für die gesamte Lebensführung seines Trägers und besonders auch für sein Verhältnis zur Gesellschaft besitzt. Wir bemerken dazu, daß diese prinzipielle Bedeutung ja gewiß nicht allen Elementen des produktiven Bewußtseins zukommen wird, unter denen sich doch viele befinden werden, die nur eine begrenzte Rolle etwa für die Berufsausübung des betreffenden Individuums spielen, oder die überhaupt nur mehr oder weniger belanglose äußere Umgangsformen oder Gewohnheiten festlegen. 104

Mit der Auffassung des moralischen Bewußtseins als Teil des faktischen Leitbildes des Gesamtverhaltens wird auch unsere Abbildung 18 auf diesen Bewußtseinsteil anwendbar, der demnach eine doppelte Wurzel einesteils in der Erbmasse des Menschen, andernteils in den Umweltbedingungen besitzt. Gleichzeitig erinnern wir uns an unsere früheren Feststellungen, wonach die Existenz des ererbten Leitbilds als realer Faktor zwar nicht in Frage steht, sein konkreter Inhalt aber gleichwohl grundsätzlich niemals unbeeinflußt von äußeren Umständen erfaßt werden kann, während der Einfluß der letzteren stets um so deutlicher nachweisbar ist. Da ein wesentlicher Teil der Umwelt deä Kulturmenschen gesellschaftlich bedingt ist, führt uns unsere Definition des moralischen Bewußtseins automatisch dazu, in seinem konkreten Inhalt vor allem eine Frucht der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse zu sehen. Diese Erkenntnis, mit der wir ein grundsätzliches Verständnis für den fortwährenden Wechsel der moralischen Anschauungen gewinnen, wie ihn die Kulturgeschichte aufweist, steht jedenfalls bereits in voller Übereinstimmung mit den Grundlagen der ethischen Lehre des dialektischen Materialismus. Ehe wir aus ihr weitere Folgerungen ziehen, gehen wir aber erst noch einen Schritt weiter, indem wir, ähnlich wie im Falle des rezeptiven Bewußtseins, der auf das Individuum bezogenen Definition eine das Kollektiv betreffende zufügen. Wir definieren also als „kollektives moralisches Bewußtsein" die Menge aller derjenigen Merkmalskomplexe aus den individuellen InhaUendesmoralischenBewußtseins der Mitglieder des Kollektivs, die für diese Mitgliedschaft typisch sind. Offenbar besteht zwischen dem kollektiven moralischen Bewußtsein und dem individuellen jedes Mitglieds des Kollektivs genau dieselbe gegenseitige Abhängigkeit, wie wir sie Schon im Falle des rezeptiven Bewußtseins konstatiert hatten. Dabei erscheint der Einfluß des kollektiven auf das individuelle Bewußtsein in Abbildung 18 natürlich als ein Teil des Einflusses der Umwelt, und zwar des gesellschaftlichen Umweltteils auf das faktische Leitbild des Individuums. Außerdem steht das moralische Bewußtsein des einzelnen wie jedes Kollektivs jedenfalls stets auch in einem gewissen — und sogar gegenseitigen — Abhängigkeitsverhältnis zum entsprechenden rezeptiven Bewußtsein, was wohl im einzelnen nicht näher ausgeführt zu werden braucht. Ebenso wie die Bildung des rezeptiven Bewußtseins wird auch die des produktiven und insbesondere des moralischen Bewußtseins des Einzelmenschen dadurch kompliziert, daß er stets einer ganzen Reihe von Kollektiven anzugehören pflegt, die alle ihren Einfluß in irgendeiner Weise geltend machen. Das geht von der Familie, deren Einfluß besonders in der Jugend überwiegen wird, über den Betrieb, in dem der Mensch arbeitet, und über Sport- und andere Vereinigungen, denen er vielleicht angehört, bis zur gesellschaftlichen Klasse und zum Volk, und es wird nie der Fall eintreten, daß diese kleinen und großen Einflüsse etwa alle in die gleiche Richtung weisen. Gewiß wird aber doch zweien, und zwar den größten der beteiligten Kollektive, ein besonderes Gewicht einzuräumen sein: der Klasse und der Nation. Welches dieser beiden hat hier die grundsätzlich größere Bedeutung? 105

Bei der Beantwortung dieser Frage kann leicht eine gewisse Verwirrung dadurch eintreten, daß manche Völker nahezu als Ganzes nur einer einzigen Klasse angehören, etwa einer besonders niedrigen Stufe der Klasse der Ausgebeuteten, wie dies für viele koloniale oder halbkoloniale Völker zutrifft: Eigentümlichkeiten der Klassenzugehörigkeit mögen dann fälschlicherweise der Nation oder Rasse zugeschrieben werden — dieser Fehler wird tatsächlich nur allzu oft gemacht. Ein richtiges Urteil gewinnen wir, wenn wir einesteils Menschen gleicher oder ähnlicher ökonomischer Lage, aber verschiedener Nationalität und anderenteils solche gleicher Nationalität, aber verschiedener Klassenzugehörigkeit nebeneinanderstellen. Da sehen wir zum Beispiel, daß die Inhalte des Bewußtseins des französischen und deutschen oder italienischen oder japanischen Industriearbeiters sicher nicht allzu stark voneinander unterschieden sind — jedenfalls viel weniger als von denjenigen der Großindustriellen der entsprechenden Länder, die sich indessen untereinander auch wieder recht nahe kommen dürften. Ein ähnliches Ergebnis werden wir erhalten, wenn wir die inneren Verfassungen von Einzelbauern oder Kleingewerbetreibenden verschiedener Nationen zum Vergleich heranziehen. Es wird sich stets eine deutliche Prävalenz der sozialen Lage gegenüber der Nationalität erweisen. Auch diese Feststellung enthält gewiß wiederum nur eine Bekräftigung marxistisch-materialistischer Anschauungen der Dinge. I m übrigen werden wir auf den besonderen marxistischen Begriff des „Klassenbewußtseins" gleich noch einmal zurückkommen. Selbstverständlich ist der Inhalt des kollektiven Bewußtseins eines jeden Teils der menschlichen Gesellschaft, der als solcher über die Lebensdauer des Einzelindividuums hinaus besteht, ein Produkt nicht nur gegenwärtiger, sondern auch vergangener historischer Umstände und kann deswegen auch nur unter historischen Gesichtspunkten richtig verstanden werden, wobei als maßgebend sowohl der allmähliche oder plötzliche Wechsel der materiellen Lage als auch der Wechsel der von außen in der Kommunikation mit andern Kollektiven herangetragenen Ideen in Betracht zu ziehen ist — in genauer Analogie zu den Vorgängen, die den Inhalt des Einzelbewußtseins prägen helfen. Hier, wo es um den Zeitfaktor geht, vermag nun aber die kybernetische Betrachtungsweise wieder in ganz besonderem Maße nützlich zu werden. I n allen kybernetischen Systemen — um ein solches handelt es sich ja auch jetzt wieder — und keineswegs nur in denen der Technik, wo diese Erkenntnis bereits zu den Binsenweisheiten gehört, ist ja für das Schicksal des ganzen Systems in hohem Grade bestimmend der zeitliche Charakter der Reaktionen der einzelnen „Blocks" auf die sie treffenden „Signale". In der Technik handelt es sich dabei meist um mehr oder weniger große Verzögerungen. Nun muß uns klar sein, daß bereits das Einzelindividuum zu jeder Aufnahme neuer Tatbestände in sein Bewußtsein, gleich ob es sich um das rezeptive oder produktive und insbesondere auch moralische Bewußtsein handelt, immer Zeit braucht, schon einfach wegen der notwendigen Wiederholung, die die Grundlage allen „Lernens" bildet. Dieser Zeitbedarf steigert sich unter Umständen sogar ganz außerordentlich, wenn ein großes Kollektiv 106

als Ganzes sein Bewußtsein umzustellen hat, schon allein wegen der für die Kommunikation der Mitglieder untereinander benötigten zusätzlichen Zeit, ganz besonders aber, wenn Kräfte vorhanden sind, die ein materielles Interesse daran haben, die notwendig gewordene Änderung der Bewußtseinsinhalte zu verhindern oder doch soweit wie möglich hinauszuzögern. Ein solches Interesse besteht aber sogut wie immer, weil eben individuelle wie kollektive Bewußtseinsinhalte sich keineswegs nach „rein geistigen" Gesetzen herauszubilden pflegen, sondern nur in engstem Zusammenhang mit äußeren, insbesondere politisch-ökonomischen Umständen — dies sagt ja auch unser Schema Abbildung 18 aus, wenn man es nur den gegebenen Umständen entsprechend richtig interpretiert — und weil vor allem Änderungen des produktiven Bewußtseins ihrer eigentlichen Natur nach ja unmittelbar auch auf diese äußeren Umstände zurückwirken werden, wenn auch freilich nur mit mehr oder weniger großen Verzögerungen. Eine notwendige Folge der vermeidbaren und unvermeidbaren Verzögerungen ist, daß auch Völker und Klassen in ihrem kollektiven Bewußtsein stets mehr oder weniger hinter den real gegebenen Bedingungen ihrer Existenz hinterherhinken müssen. Dieses Nachhinken kann katastrophale Folgen haben, in genauer Analogie zu den Zerstörungen, die beim Auftreten von Reaktionsverzögerungen in technischen Systemen auftreten können: Zwei schreckliche Beispiele dafür sind die beiden letzten Weltkriege, die nicht möglich gewesen wären, wenn nicht die notwendige Entwicklung des rezeptiven wie produktiven kollektiven Bewußtseins fast aller europäischen Völker und ganz besonders des deutschen künstlich zurückgehalten worden wäre — von wem, und in wessen Interesse, wissen wir wohl heute alle ganz genau. Eine entscheidende Rolle spielte dabei speziell im Falle des ersten der beiden Kriege auch ein Zurückbleiben des Bewußtseins eines sehr großen Teils der Arbeiterschaft der beteiligten Länder, ganz besonders wiederum in Deutschland. Dazu kam teilweise auch Mangel an Organisiertheit sowie Versagen oder Ausfall der Führung der sozialistischen Parteien. Wir können auf diese Umstände hier freilich nicht im einzelnen eingehen. Auch die Geschichte liefert eklatante Beispiele für das Zurückbleiben des Bewußtseins ganzer Klassen. Es macht sich besonders bemerkbar, wenn die Epoche, in der eine bestimmte Klasse eine mehr oder weniger berechtigte Führungsrolle gespielt hat, zu Ende geht. Dann treten regelmäßig auch moralisch zu wertende Verfallserscheinungen auf. So ist das Raubrittertum, das den edlen Ritter ohne Furcht und Tadel von einst zum Wegelagerer herabsinken läßt, nur eine Folge des unangebrachten Konservatismus eines Teils der Ritterschaft, die den durch die inzwischen eingetretene ökonomisch-politische Entwicklung bewirkten Verlust ihrer alten Bedeutung nicht zu verstehen vermag. Dem steht freilich ein gewisser anderer Teil dieser selben Ritterschaft gegenüber, der die Zeichen der neuen Zeit sehr wohl begreift und sich sogar zu ihren Vorkämpfern aufschwingt. Eine moderne Parallele hierzu ist der heute zu beobachtende moralische Verfall eines Teils des der alten kapitalistischen Gesellschaftsordnung noch verhafteten Bürgertums — derselben Klasse, aus der seinerzeit die ersten großen Führer der neu erstarkenden Klasse des Proletariats hervor 107

gegangen sind, und die sich auch heute noch in nicht kleinen Teilen dem Proletariat in seinem Kampfe um den Sieg der Idee der klassenlosen Gesellschaft in der einen oder anderen Weise verbunden fühlt. Warum ist eigentlich gerade die Arbeiterklasse zur Führung in diesem Kampf berufen? Hierfür gibt es gewiß viele Gründe, die auch schon oft behandelt worden sind. Wir wollen nur die in der Sphäre des Bewußtseins und besonders in der Entwicklung des moralischen Bewußtseins liegenden Gründe wenigstens kurz andeuten. Die moderne technische Entwicklung macht den Zusammenschluß auf ökonomischem, politischem und nicht zuletzt auch auf dem Gebiet dessen, was man „zwischenmenschliche Beziehungen" nennt, zur unausweichlichen Forderung, die sich auch im kapitalistischen Bereich vernehmlich macht. Man kann ihr dort aber nicht konsequent folgen, ohne das Grundprinzip dieser Wirtschaftsform, das sogenannte „freie Spiel der Kräfte", das im übrigen längst zum Prinzip der rücksichtslosen Vergewaltigung der Schwachen herabgesunken ist, aufzugeben. Es ist wohl nicht ganz abwegig, in dieser Inkonsequenz heute die eigentliche Schwäche des kapitalistischen Systems zu sehen, und auch den Grund für die moralische Schwäche des Bürgertums, das dieses System trägt, und das sich auch innerlich nicht von einer Idee der Freiheit lösen kann, die kaum noch etwas mit den idealen Freiheitsvorstellungen der Zeit seines Aufstrebens zu tun hat. Im Verhältnis hierzu ist die Arbeiterklasse gerade in moralischer Hinsicht dem Bürgertum um eine ganze Epoche voraus: Dieselbe ökonomische Entwicklung, die das Bürgertum auf den Höhepunkt seiner Macht und schließlich in seine heutige, im ganzen gesehen eindeutig reaktionäre Position geführt hat, hat in der Arbeiterklasse der Idee des freiwilligen disziplinierten Zusammenschlusses schon zu einer Zeit zum Sieg verholfen, als das Bürgertum sie noch einigermaßen entbehren konnte. Damit ist aber eben die Arbeiterklasse zum eigentlichen Träger und Vorkämpfer dieser Ideegeworden, der im gesamten Bereich menschlichenLebens und Strebens die Zukunft gehört, während das Bürgertum mit der vorbehaltlosen Anerkennung dieser Idee sich letzten Endes seiner eben im Kapitalismus liegenden ökonomischen Grundlage berauben würde. Vielleicht ist hier ein Wort über die Stellung der bürgerlichen Intelligenz angebracht. Es ist klar, von welcher Seite auch heute wieder die Versuche zur Hemmung der notwendigen Weiterentwicklung des kollektiven Bewußtseins ausgehen: nämlich von denjenigen, die von dieser Entwicklung mit Recht materielle Einbußen und den Verlust ihrer jetzigen führenden Position befürchten. Die hauptsächlichsten Mittel, die dabei angewandt werden, sind bekanntlich die Ablenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit von den zur richtigen Urteilsbildung wesentlichen Momenten und die ständige Wiederholung von in Wirklichkeit nicht mehr aktuellen Argumenten. Eine solche „Manipulation" der kollektiven Urteilsbildung ließe sich natürlich nicht durchführen, wenn sich nicht ein gewisser Teil der Intelligenz dazu mißbrauchen ließe — obgleich doch dem Einsichtigen klar sein sollte, daß ein voller Erfolg dieser Bewußtseinsbeeinflussung nur dazu führen könnte, daß die Erfahrung der beiden Weltkriege in potenzierter Form wiederholt wird, und sogar in 108

so krasser Form, daß der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft, den heute schon ein großer Teil dieser Gesellschaft selbst für unabwendbar hält, wahrscheinlich die gesamte Menschheit mit sich reißen müßte. Die tiefere Einsicht in das Wesen der modernen gesellschaftlichen Umwälzungen dürfte der Intelligenz tatsächlich nur einen Weg offenlassen: den des Übergangs zur Sache der Arbeiterklasse, die allein im Namen der internationalen Solidarität der Klasse die notwendige Kraft zur Durchführung der nunmehr in der Logik der Geschichte liegenden Einigung der ganzen Menschheit aufbringen kann. Wer sich zu einem solchen Entschluß durchringt, wiederholt damit eigentlich nur den Schritt, den zuerst M A R X und E N G E L S und danach L E N I N als erste bewußt vollzogen haben. Ganz kann sich natürlich kein Einzelmensch und erst recht kein Kollektiv von gewissen Verzögerungen und überholten Vorstellungen bei der Bildung des eigenen Bewußtseins freihalten. Solche Erscheinungen mögen sich innerhalb der Arbeiterklasse z. B. in einer gewissen Aufnahmebereitschaft gegenüber der schon erwähnten Meinungsmanipulation verraten, oder auch in Hemmungen bei der Durchsetzung der sozialistischen Wirtschaftsordnung, die ihre Wurzel etwa in dem sogenannten „Betriebsegoismus" haben — dieser ist ja zweifellos ein Rest kapitalistischen ökonomischen Denkens — oder schließlich auch einfach darin, daß Verhaltensweisen, die gegenüber dem persönlichen oder anonymen kapitalistischen Unternehmer wohl angebracht waren, als Anachronismus auf die Einstellung zum längst Eigentum der Gesamtgesellschaft gewordenen Betrieb übertragen werden. Von den nun gewonnenen Einsichten aus muß nun auch der marxistische Begriff des „Klassenbewußtseins" von uns verstanden werden: In seinem allgemeinsten Sinne können wir ihn einfach als gleichbedeutend mit der Summe von kollektivem rezeptiven und kollektivem moralischen Bewußtsein der fraglichen Klasse ansehen. Doch besitzt der Begriff des Klassenbewußtseins noch einen zweiten, spezielleren Sinn, der sich auf diejenige Klasse bezieht, die in der gegebenen Epoche die Rolle des Trägers des gesellschaftlichen Fortschritts spielt — in der Gegenwart ist das offenbar die Arbeiterklasse. Er ist ebenfalls von den Begriffen des rezeptiven und des moralischen Bewußtseins ableitbar, wenn dabei nur von den in Wirklichkeit stets vorhandenen Anachronismen im Bestand des Bewußtseins abgesehen wird. Mit anderen Worten: Wir definieren das „Klassenbewußtsein" in diesem besonderen Sinne als denjenigen Teil der Summe von kollektivem rezeptiven und kollektivem moralischen Bewußtsein der Klasse, der seine Träger zu Kämpfern für den durch den gesetzmäßigen Gang der Geschichte bestimmten Fortschritt macht. Dabei läßt auch das in dieser Definition erscheinende „Gesetz der Geschichte" eine kybernetische Deutung zu. Wir können es als das Arbeitsgesetz des selbstoptimierenden kybernetischen Systems der menschlichen Gesamtgesellschaft deuten, dem sie nicht aufhören kann, zu gehorchen, ohne sich selbst zu vernichten. Wir wenden uns nun noch einer näheren Betrachtung des moralischen Einzelbewußtseins zu. Unter den Bedingungen, die wir soeben behandelt haben, wird zwar sein Inhalt während der Lebenszeit seines Trägers nie derselbe bleiben können 109

und sich vielmehr bald langsam, bald rascher dauernd ändern müssen. In jedem Abschnitt des Lebens werden sich daraus aber doch stets ganz bestimmte Forderungen an das praktische Verhalten seines Trägers ergeben. Wie steht es nun um deren Erfüllung? Die Antwort ist von vornherein klar: Wir wissen alle sehr gut, daß niemand imstande ist, sich immer so zu verhalten, wie er es selbst wünschen möchte, und daß es letzten Endes keinem erspart bleibt, zuweilen auch solche Handlungen zu begehen, die er nachträglich selbst moralisch verurteilen und bereuen muß. Vom kybernetischen Standpunkt aus betrachtet, kann uns diese Erfahrung natürlich in keiner Weise wundernehmen: Er lehrt uns ja auch im menschlichen Handeln das Ergebnis eines Regelungsprozesses zu sehen, der wie alle Prozesse dieser Art grundsätzlich nicht fehlerfrei verlaufen kann. Es ist aber doch von Interesse zu fragen, wodurch diese Fehler im einzelnen verursacht werden. Da stoßen wir vor allem auf drei Punkte. Zunächst wird das „moralische Bewußtsein", so wie wir es definiert haben, nie ganz frei von inneren Widersprüchen sein können. Das ergibt sich schon allein aus den verschiedenartigen Einflüssen, unter denen seine Bildung erfolgt und die untereinander keineswegs übereinzustimmen brauchen, wie wir schon gesehen haben. Dazu kommt, daß die einzelne konkrete Handlung ebenfalls gleichzeitig widersprüchliche Merkmale aufweisen kann, von denen ein Teil ethisch positiv, ein anderer aber negativ beurteilt werden muß, auch wenn der Teilkomplex von Merkmalen, der zu ihrer Beurteilung herangezogen wird, in sich keine inneren Widersprüche enthält. So entsteht oft ein auch emotionell empfundener Konflikt verschiedener Pflichten, der nicht zu lösen ist, ohne daß ein Teil verletzt wird. Eine zweite Ursache ist einfach neurologischer Art und eine Folge desGesetzes der Erhaltung der Energie, nämlich der mit der Gültigkeit dieses Gesetzes zusammenhängenden „Enge" des Präsenzbewußtseins, von der wir schon früher gesprochen haben. Sie wirkt sich, wie wir wissen, vor allem in starker Erregung aus, und macht, daß nicht immer alle zur Beurteilung einer beabsichtigten Handlung notwendigen Umstände berücksichtigt werden, einfach, weil die entsprechenden Teile des Gehirns nicht aktiviert worden sind. Schließlich kann diese Aktivierung auch durch inhibitorische Synapsen verhindert werden, die von bestimmten Emotionszentren aus erregt worden sind, etwa im Rahmen einer psychologisch begründeten „Verdrängung": Auch diese Möglichkeit haben wir schon erwähnt. Gleich aus welchen Gründen es aber zu einer Vernachlässigung oder nicht genügenden Würdigung irgendwelcher Argumente gekommen ist, die zu einem anderen als dem tatsächlichen Verhalten hätten führen müssen — sollten die übergangenen Argumente nachträglich doch noch zur Geltung gelangen, so wird sich das einstellen, was wir „Reue" nennen und damit verbunden der Wunsch, Geschehenes ungeschehen zu machen bzw. Ungeschehenes nachzuholen. Kybernetisch betrachtet, bedeutet eine solche Reue natürlich nichts anderes als das Auftreten von Fehlersignalen im zentralnervösen Regelungssystem für das Verhalten, die gemäß der Aufgabe dieses Systems eigentlich nicht hätten entstehen sollen. Sind 110

sie aber einmal entstanden, so ist es nur selbstverständlich, daß dies auch schon die neue Aufgabe impliziert, sie wieder zum Verschwinden zu bringen, wie ja überhaupt jedes arbeitsfähige Regelungssystem ständig auf die Annullierung der in ihm entstehenden Fehlersignale hinwirken muß. Technische Regler werden nun bekanntlich trotz derartiger — im Prinzip ja auch unvermeidlicher — Unvollkommenheiten immer noch als „gut" beurteilt, wenn sie ihre Aufgabe nur im ganzen genommen zufriedenstellend erfüllen. Als bequemes mathematisches Maß dafür sind bekanntlich im allgemeinen Integralausdrücke gebräuchlich, die die auftretenden Fehler über einen nicht zu kleinen Zeitabschnitt summieren und nur keinen zu großen Wert annehmen dürfen — das bekannteste dieser integralen „Gütekriterien" ist wohl das der „quadratischen Regelfläche". Läßt sich nun eine entsprechende Art der Beurteilung auch auf unser ethisches Problem übertragen? Sicher ist dies insofern möglich, als ja auch das Verhalten von Menschen es verdient, nicht nach einzelnen Verfehlungen, sondern im ganzen nach dem Grade der Erfüllung der Gesamtaufgabe beurteilt zu werden, die den Inhalt der ethischen Forderung bildet. Hier stoßen wir aber auch schon auf eine Prinzipfrage. Subjektiv ist dieser Inhalt durch das individuelle moralische Bewußtsein definiert. Ist aber nicht zur Beurteilung dessen, was als „gut" und „böse" zu gelten hat, ein objektiver Maßstab erforderlich? Ganz gewiß ist das der Fall, und das individuelle Bewußtsein kann ihn ganz gewiß nicht abgeben. Wir haben ja schon gesehen, welch verschiedenartige Faktoren, von denen auch manche rein zufälliger Art sein können, bei der Bildung des moralischen, wie überhaupt des produktiven und ebenso des rezeptiven Bewußtseins des einzelnen zusammenzutreten pflegen. Dazu kommt, daß unter gewissen gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte Deformationen insbesondere auch des moralischen Bewußtseins nicht nur bei einzelnen Individuen, sondern auch gruppenweise auftreten können. Ein Beispiel dafür ist die Bildung von Verbrecherbanden, deren Mitglieder einer Art von „Moral" zu folgen gewöhnt sind, die unmöglich als gültiger Maßstab für die Beurteilung ihres Tuns angewandt werden darf und erst recht nicht als allgemein gültiger moralischer Maßstab. Sogar das moralische Bewußtsein ganzer Völker kann weitgehend mißgeleitet werden, wie wir schon gesehen haben. Daher ist auch das kollektive moralische Bewußtsein, wie es irgendeine kleine oder große Gesamtheit von Menschen tatsächlich beherrscht, nicht ohne weiteres geeignet, den notwendigen Ausgangspunkt zur Bildung gültiger ethischer Urteile zu liefern. Trotzdem gelingt es mit seiner Hilfe, zu diesem Ausgangspunkt zu kommen, wenn wir uns nur an die bereits gewonnenen Erkenntnisse über die historische Bedingtheit aller Formen des gegenstandsbestimmten Bewußtseins erinnern und als objektiven Maßstab für die moralische Berurteilung des Individuums das von allen historischen Anachronismen befreite moralische Gesamtbewußtsein der für seine Lebensführung entscheidenden Kollektive wählen, oder, wie wir es auch ausdrücken könnten, das kollektive moralische Bewußtsein, wie es unter den gegebenen historischen Bedingungen sein sollte, um dem gesetzmäßigen Fortschritt der Menschheitskultur am besten zu dienen. 111

Dieselbe Abstraktion hatte uns schon zusammen mit einer kybernetischen Deutung des Begriffs der objektiven Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts zum marxistischen Begriff des „Klassenbewußtseins" in seinem speziellen Sinnegeführt. Es ergibt sich also, daß wir insbesondere in der Klassengesellschaft den moralischen Gehalt eben dieses Klassenbewußtseins der in der gegebenen Epoche den Fortschritt tragenden Klasse als entscheidend für die Beurteilung der Handlungen jedes einzelnen ihrer Mitglieder anzusetzen haben. Betrachten wir noch einmal unsere Abbildung 18: Da wir das moralische Bewußtsein ja als einen Teil des faktischen Leitbildes des Gesamtverhaltens definiert haben, steht es uns natürlich frei, dieses unser Schema auch speziell auf den moralischen Teil dieses Leitbildes, und zwar auf seine kollektive Ausprägung zu beziehen. Der Schritt, mit dem wir vom kollektiven moralischen Bewußtsein, wie es tatsächlich ist, zu dem gelangen, wie es sein sollte, ist offenbar einfach gleichbedeutend damit, daß wir von den (praktisch allerdings nie .vermeidbaren) Fehlern und UnVollkommenheiten der im Block AS des Schemas vor sich gehenden Bildungsprozesse abstrahieren. Von erheblichem Interesse ist noch die Frage nach der Art der Merkmalskomplexe, die Aufnahme in das moralische Bewußtsein — das individuelle wie das kollektive — finden können. Wir haben ja schon früher davon gesprochen, daß die Eigenart der neuronalen Speicherbildung durch Lernprozesse hier zwei verschiedene Charaktere zuläßt, die sich in ihrer logischen Geschlossenheit stark voneinander unterscheiden, und die wir als „Begriffs"- und „Gestalt"-Charakter bezeichnet haben. Es ist nun offensichtlich, daß im moralischen Bereich jedenfalls beide Charaktere eine Rolle spielen. So sind die jüdisch-christlichen „Zehn Gebote" zweifellos begrifflicher Art. Es gibt aber auch nicht weniger wirksame ethische Ideen, deren begriffliche Fassung nicht ohne weiteres gelingt, weil der Bestand an Merkmalen des Verhaltens, der in ihnen entweder als erstrebenswert oder als verwerflich erscheint, weder feststeht, noch unbedingt in sich widerspruchsfrei zu sein braucht, so daß wir diesen Ideen eben deswegen Gestaltcharakter in dem früher von uns festgelegten Sinne dieses Wortes zusprechen müssen. Auch Beispiele dafür sind nicht schwer beizubringen: Es sei nur an die Rolle erinnert, die in aufeinanderfolgenden Epochen der Kulturentwicklung bestimmte Personifikationen des ethischen Ideals gespielt haben, denen als Vorbildgestalten nachzueifern als Ziel besonders für die Angehörigen jeweils bestimmter Klassen gegolten hat oder noch gilt: so in alter Zeit der „tapfere Held" und als sein Gegenspieler der „Weise", wobei sich die beiden Ideale manchmal auch einander nähern und gegenseitig durchdringen, später das schon erwähnte Idealbild des „Ritters ohne Furcht und Tadel", dann das des „redlichen Kaufmanns", des „Gentleman", des „echten Sportsmanns" und schließlich des „klassenbewußten Kämpfers für den Sozialismus", der wiederum in recht verschiedener nationaler Ausprägung erscheint: Im Rußland der Zarenzeit wird er gern mit asketischen, beinahe mönchischen Zügen ausgestattet, wogegen ihm z. B. die Franzosen eher die Kraft alles besiegender und alles mitreißender Lebensfreude zu verleihen geneigt sind. Nicht selten werden als Vorbildgestalten auch einzelne historische oder legen112

däre Personen gewählt. Beispiele wären das freilich nie ganz wörtlich genommene Ideal der „Nachfolge Christi" oder das in der hellenistischen Spätzeit der Antike zu großer moralischer Wirksamkeit gelangte Bild des Herkules, der vielerorts als Halbgott verehrt wurde und vor allem als Symbol der beharrlichen, durch nichts zu entmutigenden, keine Mühe scheuenden Arbeit galt. Auch wenn sich heute besonders Jugendliche gern eine bekannte, noch lebende Persönlichkeit, vorzugsweise einen Sportsmann, als Vorbild wählen, so gehört das hierher. Dabei braucht die wirkliche Person dem Ideal, das sie repräsentiert, nicht einmal in allen Stücken zu entsprechen: Ihre moralische Wirkung beruht ja stets darauf, daß sich im Zentralnervensystem derjenigen, die dem fraglichen Ideal zu folgen bereit sind, neuronale Speicher befinden, für die das schon wiederholt erwähnte „pars-pro-toto"-Gesetz gilt, so daß sie ihr Ausgangssignal schon abgeben, wenn nur ein Teil der Eingangssignale vorliegt. Es läuft dies darauf hinaus, daß das Vollkommene regelmäßig auch im Unvollkommenen erkannt wird — was jedenfalls nur von Nutzen für die Wirksamkeit des Ideals ist. Dazu kommt, daß dieses Ideal sehr wohl auch zum Leitbild einer gesellschaftlichen Rolle werden kann, die der noch lebende Repräsentant des Ideals selber so vollkommen wie möglich zu spielen bestrebt sein muß: Auch auf ihn vermag also die Idealvorstellung eine Wirkung auszuüben, die um so stärker sein wird, je stärker der Glaube anderer an die faktisch befriedigende Erfüllung der in dieser Rolle liegenden Aufgabe durch ihn ist. Um noch einmal unser Schema Abbildung 16 heranzuziehen: Überhaupt gehört ja zur befriedigenden Funktion der Gemeinschaft als Ganzes auch die Anerkennung der Rolle des einzelnen durch die Gemeinschaft. Durch sie wird in gewissem Maße sogar jeder einzelne zum Träger des Ideals der Rolle, die er übernommen hat und damit zum allgemeinen Vorbild. Wir werden ihm um so mehr „Charakter" zubilligen, je konsequenter er die in der übernommenen Rolle liegenden Verpflichtungen erfüllt und um so vorbehaltloser wird auch die Anerkennung und Bestätigung der Ausfüllung der Rolle durch die Allgemeinheit ausfallen, in der wir jedenfalls den Inhalt dessen erblicken müssen, was man als die „Ehre" des einzelnen bezeichnet. Unser Schema Abbildung 16 läßt übrigens eine Anwendung auch noch auf eine ganz spezielle Form der Beziehung zwischen den Individuen zu: die sexuelle. In Liebe entbrennen heißt doch für den Menschen tatsächlich gar nichts anderes, als im Partner nach dem psychologischen „pars-pro-toto"-Gesetz ein sexuelles Idealbild von ausgesprochenem Gestaltcharakter zu erkennen, dem ein bestimmtes ihm zugeordnetes gleichartiges Ideal des eigenen Verhaltens entspricht. Wieder wird die Idealvorstellung auf beide Partner nur im Sinne einer Verbesserung der stets unvollkommenen Verwirklichung ihres jeweiligen Inhalts wirken können, und eine Liebesenttäuschung wird nur dann eintreten, wenn der Prozeß der Annäherung an das Ideal bei einem der Partner oder beiden ins Stocken gerät oder überhaupt nicht in Gang kommt. Dabei ist aber überaus wesentlich, daß auch das sexuelle Ideal niemals statischen Charakter haben kann, in voller Übereinstimmung mit unserer Abildung 16, wonach ja die das faktisch wirksame Leitbild oder „Ideal" des Verhaltens defi8

Pfeiffer

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nierenden Erwartungswerte ständig durch modifizierende aus der „Umwelt" stammende Signale veränderbar sein müssen. Dementsprechend müssen sich auch die geschlechtlichen Ideale immer wieder ändern, und keineswegs nur in Abhängigkeit vom Wechsel der persönlichen Verhältnisse, sondern wie alle ethischen Ideen, denen sie doch zuzurechnen sind, auch mit dem allgemeinen Wandel der gesellschaftlichen Kultur. Hierauf im einzelnen einzugehen, würde uns indessen zu weit führen. Es sei nur angedeutet, daß die Durchsetzung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Frau in unseren Tagen auch eine tiefgreifende Umwandlung der Leitbilder des Verhaltens beider Geschlechter zueinander nach sich zieht, die mehr oder weniger jeden einzelnen betrifft und im ganzen noch keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden kann. Gerade dieses Beispiel zeigt uns sehr deutlich, wie stark doch auch Fragen des Verhaltens, die oberflächlich betrachtet, rein persönlich-privater Art zu sein scheinen, in Wirklichkeit durch gesellschaftliche Umstände bestimmt sein können. Vielleicht ist es angebracht, jetzt noch ein Wort über den allgemeinen Begriff der „Idee" einzuschalten, dessen Inhalt nämlich im Laufe der Zeit erhebliche Änderungen erlitten hat. Heutzutage wird das Wort „Idee" besonders in der Umgangssprache oft als ein einfaches Synonym für „Gedanke" benutzt. In der Schriftsprache verwendet man es dagegen vorzugsweise, um die das eigentliche Wesen einer Sache kennzeichnenden Merkmale zusammenfassend zu bezeichnen, insbesondere wenn der Gesamtkomplex dieser Merkmale „Gestalt"-Charakter in dem von uns präzisierten Sinne dieses Wortes besitzt und dazu ihre Verwirklichung ein besonderes Ziel menschlichen Strebens bildet. I n diesem Sinne spricht man z. B. von der „Idee" der Freiheit oder des Sozialismus oder der Gleichheit aller Menschen ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe — hier handelt es sich ja stets um viel mehr als nur um die Durchsetzung einiger leicht zu definierender juristischer oder ökonomischer Maßnahmen — und in genau dieser Bedeutung ist das Wort „Idee" ja auch von uns gebraucht worden, wenn von ethischen Ideen die Rede war. Vom Begriff des „Leitbildes", der in unseren Betrachtungen bisher schon eine beherrschende Rolle gespielt hat, unterscheidet sich dieser Ideenbegriff eigentlich nur dadurch, daß seine Benützung strenggenommen immer das Vorhandensein einer entsprechenden Vorstellung im (allgemeinen) Bewußtsein derjenigen voraussetzt, die die Idee zu verwirklichen suchen, während diese Voraussetzung für das „Leitbild" durchaus nicht immer gegeben zu sein braucht, z. B., sicher nicht, wenn es sich um Merkmale körperlicher Art handelt, die der Organismus in seiner Entwicklung ohne jede Beteiligung des Bewußtseins zu realisieren bestrebt ist. Dem in diesem Sinne aufgefaßten Begriff der Idee haftet natürlich noch recht deutlich der Stempel seiner Herkunft von der Konzeption P L A T O N S an, der ja, wie Sie wissen, unter der „Idee" eines Dinges sein „wahres" Wesen verstand, das sich in der tatsächlichen Erscheinung nur unvollkommen ausprägen sollte, ganz ähnlich, wie sich die von uns definierten „Leitbilder" immer nur unvollkommen in der von ihnen beherrschten Struktur manifestieren können. Doch besteht ein entscheidender Unterschied darin, daß nach der Meinung P L A T O N S die Ideen eine von der vergänglichen Welt der Erscheinungen unabhängige, dem Menschen114

geist nicht einmal voll zugängliche und zudem ewige und unveränderliche immaterielle Existenz besitzen, während die Komplexe von Sollmerkmalen für das Verhalten von Menschen, die wir als „Ideen" bezeichnen, in ihrer Auswahl und Zusammenstellung Produkte des menschlichen Geistes darstellen und stets ihre Grundlage in bestimmten neuronalen Schaltungen des menschlichen Zentralnervensystems haben müssen, die keineswegs ewig und unveränderlich, sondern im Gegenteil als Teil der Körperlichkeit ihrer Träger mit diesen vergänglich und auch während deren Lebenszeit in dauerndem Umbau begriffen sind, in fortwährender Anpassung an die Veränderungen der natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelt, denen jeder einzelne dieser Träger ständig ausgesetzt ist.

12. Vorlesung Wir wollen nun noch einige weitere Bemerkungen anfügen, die in engem Zusammenhang mit unserem ethischen Thema stehen, und dabei auch den Vergleich unserer Ergebnisse mit den Grundaussagen des dialektischen Materialismus sowie anderer philosophischer oder religiöser Lehren fortführen. Wir hatten bereits festgestellt, daß eine erste grundsätzliche Übereinstimmung mit der ethischen Lehre des dialektischen Materialismus schon durch die Erkenntnis der besonderen Rolle erzielt worden ist, die die Umwelt beim Zustandekommen des jeweiligen konkreten Inhalts des subjektiven moralischen Bewußtseins des Individuums spielt. Wenn wir in der Folge einen Ausgangspunkt für die objektive ethische Beurteilung der individuellen Handlung in den Forderungen gefunden haben, die der gesetzmäßige historische Fortschritt der Menschheitskultur an jeden einzelnen gemäß seiner besonderen Lage stellt, so ist diese Übereinstimmung dadurch gewiß nur noch verstärkt und weiter präzisiert worden. Dasselbe gilt für die daraus abgeleitete Erkenntnis der notwendigen Wandlung des Inhalts der ethischen Forderung in Abhängigkeit von der dauernden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach Ort und Zeit. Offenbar liegt in der Einsicht in die Notwendigkeit dieser fortwährenden Anpassung des Moralischen an die jeweilige historische gesellschaftliche Situation, wie sie sich insbesondere im Kampf der einander als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ablösenden Klassen ergibt, gleichzeitig eine Absage an alle diejenigen religiösen oder nichtreligiösen ethischen Lehren, die eine vom Wechsel der faktischen Lebensverhältnisse unabhängige „metaphysische" und womöglich gar übersinnliche Quelle des Moralischen und damit auch eine ebensolche Unabhängigkeit des konkreten Inhalts der moralischen Forderung annehmen. Zu diesen Lehren gehört jedenfalls auch das Christentum. Die gleiche Absage müssen wir aber auch dem von der Philosophie der Aufklärung geschaffenen Begriff der angeblich rein auf die Vernunft gegründeten „eingeborenen" Ideen und insbesondere dem Begriff des „Naturrechts" erteilen, das unbeeinflußt vom Wechsel der realen Umstände des Lebens die Beziehungen der Menschen zueinander auf der Grundlage der Gleichheit aller regeln sollte. 8*

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geist nicht einmal voll zugängliche und zudem ewige und unveränderliche immaterielle Existenz besitzen, während die Komplexe von Sollmerkmalen für das Verhalten von Menschen, die wir als „Ideen" bezeichnen, in ihrer Auswahl und Zusammenstellung Produkte des menschlichen Geistes darstellen und stets ihre Grundlage in bestimmten neuronalen Schaltungen des menschlichen Zentralnervensystems haben müssen, die keineswegs ewig und unveränderlich, sondern im Gegenteil als Teil der Körperlichkeit ihrer Träger mit diesen vergänglich und auch während deren Lebenszeit in dauerndem Umbau begriffen sind, in fortwährender Anpassung an die Veränderungen der natürlichen wie gesellschaftlichen Umwelt, denen jeder einzelne dieser Träger ständig ausgesetzt ist.

12. Vorlesung Wir wollen nun noch einige weitere Bemerkungen anfügen, die in engem Zusammenhang mit unserem ethischen Thema stehen, und dabei auch den Vergleich unserer Ergebnisse mit den Grundaussagen des dialektischen Materialismus sowie anderer philosophischer oder religiöser Lehren fortführen. Wir hatten bereits festgestellt, daß eine erste grundsätzliche Übereinstimmung mit der ethischen Lehre des dialektischen Materialismus schon durch die Erkenntnis der besonderen Rolle erzielt worden ist, die die Umwelt beim Zustandekommen des jeweiligen konkreten Inhalts des subjektiven moralischen Bewußtseins des Individuums spielt. Wenn wir in der Folge einen Ausgangspunkt für die objektive ethische Beurteilung der individuellen Handlung in den Forderungen gefunden haben, die der gesetzmäßige historische Fortschritt der Menschheitskultur an jeden einzelnen gemäß seiner besonderen Lage stellt, so ist diese Übereinstimmung dadurch gewiß nur noch verstärkt und weiter präzisiert worden. Dasselbe gilt für die daraus abgeleitete Erkenntnis der notwendigen Wandlung des Inhalts der ethischen Forderung in Abhängigkeit von der dauernden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach Ort und Zeit. Offenbar liegt in der Einsicht in die Notwendigkeit dieser fortwährenden Anpassung des Moralischen an die jeweilige historische gesellschaftliche Situation, wie sie sich insbesondere im Kampf der einander als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ablösenden Klassen ergibt, gleichzeitig eine Absage an alle diejenigen religiösen oder nichtreligiösen ethischen Lehren, die eine vom Wechsel der faktischen Lebensverhältnisse unabhängige „metaphysische" und womöglich gar übersinnliche Quelle des Moralischen und damit auch eine ebensolche Unabhängigkeit des konkreten Inhalts der moralischen Forderung annehmen. Zu diesen Lehren gehört jedenfalls auch das Christentum. Die gleiche Absage müssen wir aber auch dem von der Philosophie der Aufklärung geschaffenen Begriff der angeblich rein auf die Vernunft gegründeten „eingeborenen" Ideen und insbesondere dem Begriff des „Naturrechts" erteilen, das unbeeinflußt vom Wechsel der realen Umstände des Lebens die Beziehungen der Menschen zueinander auf der Grundlage der Gleichheit aller regeln sollte. 8*

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Freilich besteht heute ohne Zweifel ein gleiches Recht aller Menschen auf die Erlangung ausreichender und sogar mehr als nur ausreichender Sicherung der materiellen Grundlagen des Lebens, auf Bildung und Teilnahme an allen Kulturgütern der Menschheit, sowie auf unbedingte Achtung ihrer persönlichen wie nationalen Würde. Dieses Recht hat jedoch sehr handfeste materielle Grundlagen, die machen, daß es in unseren Tagen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit proklamiert werden kann, ohne daß damit gleichzeitig die Erhaltung und der Fortschritt der Kultur in Gefahr gerieten. Hierin liegt ein entscheidender Unterschied gegenüber der Vergangenheit. Solange nämlich die Technik der Erzeugung von Verbrauchsgütern noch nicht so weit vorgeschritten war, wie es jetzt der Fall ist, war tatsächlich eine aktive Teilnahme an der Entwicklung der Kultur stets nur für eine relativ kleine privilegierte Schicht möglich, die andere für sich arbeiten ließ und damit der Sorge um das tägliche Brot enthoben war. So hätte die Aufhebung der Sklaverei im Altertum oder der Leibeigenschaft im Mittelalter — sofern eine solche Maßnahme sich überhaupt hätte durchführen lassen — ohne Zweifel die Rückkehr aller zu recht rohen Lebensverhältnissen nach sich ziehen müssen. Es wäre niemand mehr dazu gekommen, sich höherer geistiger Beschäftigung zu widmen. Die großen Bauwerke, Paläste, Tempel und Kathedralen, deren Reste wir heute noch bewundern, hätten nie entstehen können, und überhaupt wäre jede entwickelte Kunstausübung außer vielleicht Gesang und Tanz unmöglich geworden. Selbstverständlich wäre auch niemandem Zeit und Kraft verblieben, die Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens zu schaffen, die wir heute noch benutzen, und insbesondere auch nicht die der mathematischen Begriffsbildungen, ohne die unsere Technik nicht existieren würde und ohne die wir gar nicht in die Lage gekommen wären, die Gewährung gleicher Rechte an alle Menschen auch nur entfernt ins Auge zu fassen. In alten Zeiten konnte an eine solche Rechtsgleichheit ohne Gefahr für die schon erreichte Kulturhöhe nur in ganz „platonischer", weiterreichende praktische Folgen von vornherein ausschließender Form gedacht werden, so wie es etwa das Christentum getan hat, als es die Gleichheit aller „vor Gott", aber beileibe nicht in den „irdischen" Rechten des einzelnen verkündete. Mehr wäre eben auch wirklich nicht zu verantworten gewesen! Bekanntlich hat die bürgerliche französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts sich zum ersten Male anheischig gemacht, die idealen Forderungen der Philosophie der Aufklärung und insbesondere auch das „Naturrecht" des Menschen mit der Devise der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" zu verwirklichen. Wenn die Verwirklichung, wie wir alle wissen, tatsächlich nur in einem äußerst bescheidenen Maße geglückt ist, so hat das gewiß eine ganze Anzahl von Gründen, zu denen aber sicherlich auch der damals noch nicht ausreichende Stand der technischen Entwicklung zu zählen ist. In dieser Hinsicht hat die proletarische Revolution unserer Tage freilich eine unvergleichlich günstigere Ausgangsposition, die sie zudem ganz bewußt noch ständig weiter zu verbessern bestrebt ist. Um aber noch einmal auf das Christentum zurückzukommen: Als charakteristisch 116

für das ja doch nun einmal in ihm enthaltene lebensverneinende Element kann auch die grundsätzliche ethische Minderbewertung der biologisch begründbaren inneren Antriebe des Menschen gelten, die der elementaren Lebenserhaltung dienen und jedenfalls auch Tieren eigen eind, und ihre Unterscheidung von angeblich „höheren", ethisch grundsätzlich positiv zu wertenden, die dem Tiere fremd sein sollen. Wir können dieser Unterscheidung nicht folgen. Die Anwendung unserer Grundschemata für das Verhalten von Mensch und Tier ist jedenfalls unabhängig von einer solchen Unterscheidung, und wir haben sie auch nicht benötigt, um einen Maßstab für die ethische Beurteilung menschlicher Handlungen zu finden. Sicherlich ist nicht daran zu zweifeln, daß die das Verhalten regelnden neuronalen Schaltungen in ihren Grundzügen im Zentralnervensystem des Menschen und der höheren Tiere dieselben sind, wie ja auch andere Teile des menschlichen Organismus in den Grundlinien ihres Aufbaus mit den entsprechenden Teilen tierischer Organismen übereinstimmen. Diese Übereinstimmung geht zwar gewiß nicht bis in alle Einzelheiten — schon das Vorhandensein des Sprachzentrums beim Menschen bedeutet eine sogar recht große anatomische Verschiedenheit — und gewisse Verschiedenheiten mögen sich u. a. auch darin äußern, daß der Mensch innere Antriebe kennt, die dem Tiere fremd sind, wie auch umgekehrt. Was aber sicher falsch ist, das ist die Gleichsetzung solcher „höherer", als rein menschlich betrachteter Antriebe mit dem Streben nach dem im ethischen Sinne „Guten" und die sich daraus ergebende Behauptung, daß das Ziel dieses Strebens im Grunde nur in der Bekämpfung der „niederen", nicht nur dem Menschen eigenen Triebe zu suchen sei. Ist etwa die Mutterliebe als schon rein biologisch durchaus verständlicher und im Tierreich weithin ausgeprägter Trieb deswegen als eine ethisch minderwertige und im Dienste des „Guten" zu bekämpfende Regung zu betrachten? Und wie steht es in dieser Hinsicht mit der Kindesliebe und der Gattenliebe? Oder mit solchen allgemein als Tugenden betrachteten Regungen wie Tapferkeit und Todesverachtung? Oder auch sozialen Regungen wje Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft? Es ist doch nicht zu leugnen, daß ein Verhalten, das den Äußerungensolcher menschlichen Tugenden zum Verwechseln gleicht, auch im Tierreich zu beobachten ist und dort stets auch seinen nachweisbaren biologischen Sinn besitzt. Ich möchte hier nur erwähnen, daß nach glaubwürdigen Angaben Stiere Bären und ebenso Hengste Wölfe attakiert haben, die versuchten, in ihre Herde einzubrechen, und ich selbst habe gesehen, wie ein Huhn auf einen Hund losging, der den Küken zu nahe gekommen war. Weniger auffallende Äußerungen dieser Art gehören gewiß zum normalen Verhalten aller gesellig lebenden Tiere. Auch gegenseitige Rücksichtnahme und, wo sie nötig ist, Hilfe läßt sich nicht selten beobachten. Wie will man nun beim Menschen die biologische Bedeutung analoger Handlungen, die da ja gewiß ebenfalls vorhanden ist, sauber von der ethischen, nur dem Menschen eigentümlichen, trennen und zwischen beiden eine scharfe Grenze ziehen? Ich glaube, man muß feststellen, daß dies nicht einmal prinzipiell, in 117

Gedanken, möglich ist, geschweige denn in der Praxis. Es bleibt doch wohl gar nichts anderes übrig, als in den einander entsprechenden psychologischen Vorgängen im Tier- wie Menscheninnern den gleichen biologisch verständlichen Kern zu sehen, der nur beim Menschen regelmäßig unvergleichlich viel stärkeren und vielfältigeren Modifikationen unterliegt als beim Tier. Diese Modifikationen werden aber gewiß durch die grundsätzlich gleichen Prinzipien der Signaltransformation bewirkt, für die schon die Abbildung 10a und 10b einfache Beispiele zeigen und die wir auch in den Schemata der Abbildungen 14, 15 und 16 benutzt haben, um die Wirksamkeit „modifizierender" Signale zu erklären. Daran ändert im Prinzip auch der Unterschied in der Herkunft dieser Signale nichts, die beim Menschen eben zu wesentlichen Teilen aus seiner dem Tiere fremden gesellschaftlichen Umwelt stammen, worauf wir ja schon mehr als einmal hingewiesen haben. Die schon früher erwähnte falsche Meinung, daß Tiere überhaupt nur unmittelbar auf Erhaltung des eigenen Lebens oder der Art gerichtete Instinkte besäßen und im Gegensatz zum Menschen kein „altruistisches", dem eigenen Wohl unter Umständen abträgliches Verhalten zeigen könnten, ist jedenfalls nur als eine Folgerung aus dem falschen Dogma vom „höheren" Charakter eines solchen Verhaltens zu verstehen. Zuweilen mag sie vielleicht auch nur aus dem Bestreben heraus verfochten werden, das kapitalistische Prinzip der rücksichtslosen Konkurrenz mit dem angeblich durchgängigen „Kampf aller gegen alle" in der Natur zu identifizieren und damit als eine Art Naturprinzip zu rechtfertigen. Daß indessen zumindest das Leben der geselligen Tiere nicht von einem solchen Prinzip beherrscht wird, davon sind wir ja eben gerade ausgegangen! Unserer Ablehnung der Erteilung fixer ethischer Zensuren an bestimmte innere Antriebe des Menschen mag nun vielleicht der Einwand entgegengebracht werden, daß es trotz alledem doch wenigstens einige menschliche Regungen zu geben scheint, die unter allen Umständen verurteilt werden müssen, wie z. B. Geiz, Mißgunst und andere eine asoziale Grundeinstellung ihres Trägers verratende Neigungen. Die Antwort darauf ist sehr einfach: die genannten Regungen werden mit den angeführten Namen eben nur dann belegt, wenn sie unter den besonderen Umständen des Falles, oder vielleicht auch einfach wegen ihrer allzu großen Intensität und einseitigen Vorherrschaft über andere innere Antriebe tatsächlich zu einer negativen ethischen Bedeutung gelangt sind, während man sie, wenn dies nicht der Fall ist, anders nennt. So heißt derselbe Antrieb, den man in einem Falle mit dem Worte „Geiz" bezeichnet, im anderen, wenn wir seine Äußerungen als berechtigt betrachten, „Sparsamkeit", und was uns zuweilen als Neid und Mißgunst tadelnswert erscheint, nennen wir ein andermal „Ehrgeiz" und loben es, weil seine Äußerungen lobenswerte Folgen haben. Zu bedenken ist auch, daß die Antriebe zum Handeln, die wir in irgendeinem Augenblicke verspüren, fast immer mehr oder weniger komplexer Natur sind, einfach weil die normalen Situationen des Lebens regelmäßig mehr als nur eines der in unserem Subcortex gelegenen Emotionszentren zum Ansprechen bringen. Daß die dabei resultierenden Antriebe sich sehr oft widersprechen müssen, ist eigentlich selbstverständlich und von uns auch schon im Zusammenhang mit dem 118

Auftreten von ethischen Konflikten gestreift worden. Emotionelle Konflikte sind aber auch Tieren gewiß nicht fremd. So hat das Huhn, das dem Hunde entgegenflattert, um ihn vom Angriff auf die Küken abzuschrecken, bestimmt nicht etwa die Furcht um das eigene Leben eingebüßt — ihre Auswirkung wird nur von der des stärkeren Antriebs, der vom Mutterinstinkt ausgeht, unterbunden. Umgekehrt wird der Fluchtinstinkt, der sich regt, wenn ein zur Tränke gehendes Steppentier ein größeres Raubtier wittert, regelmäßig stärker sein als der Durst und es zur Umkehr veranlassen. Übrigens liegt es recht nahe, anzunehmen, daß die Zahl der Grundemotionen, deren irgendein Lebewesen und auch der Mensch fähig ist, nur beschränkt ist. Sie kann ja nicht größer sein als die Zahl der Emotionszentren, von denen doch sicherlich nur eine beschränkte Zahl existiert. Der unendliche Reichtum unserer Gefühlswelt wäre dann nur durch die unendlichen Möglichkeiten des Zusammentretens und der Abwechslung der in verschiedener Intensität erscheinenden Elementaremotionen bedingt, so wie die unendliche Möglichkeit des musikalischen Ausdrucks durch das Zusammentreten einer beschränkten Anzahl von Tönen in nur immer variierter Zusammenstellung, Reihenfolge und Stärke. Gestützt wird diese Annahme jedenfalls durch gewisse physiologische Parallelerscheinungen: So gibt es ja bekanntlich bei aller Vielfalt des Geschmacks der Speisen doch nur sehr wenige geschmackliche Grundempfindungen wie süß, sauer usw. Analoges scheint nach neueren Forschungen für die Geruchsempfindungen zu gelten. Interessanterweise wird die These von der geringen Zahl unserer Grundemotionen neuerdings auch von dem amerikanischen Psychologen CATTELL [ 1 1 ] vertreten. Zur Bestimmung dieser Emotionen wendet er allerdings eine recht anfechtbare Methode an. Sie stützt sich nämlich letzten Endes nur auf 45 Worte der englischen Sprache für verschiedene Motive des Handelns. Zur Auswertung der mit Hilfe dieser Worte vorgenommenen Motivanalysen werden zwar höchst raffinierte mathematische Mittel eingesetzt; doch macht die teilweise Fragwürdigkeit der Voraussetzungen die Resultate natürlich ebenso fragwürdig, so daß wir nicht näher auf sie einzugehen brauchen. Ein wahrer Fortschritt wird hier sicherlich erst zu erwarten sein, wenn man wieder mit dem Tiere beginnt und näheres über Ort, Umfang und Funktion der ihm eigenen Emotionszentren zu ermitteln sucht, was mit den heutigen Methoden der gezielten Reizung bestimmter Gehirnabschnitte wohl keinen unüberwindlichen Schwierigkeiten begegnen dürfte und an manchen Stellen auch schon in Angriff genommen ist. Zu einer schematischen ethischen Verurteilung bestimmter innerer Antriebe oder Komplexe von Antrieben dürfte teilweise auch der bereits erwähnte Umstand geführt haben, daß große Intensität einer Emotion wegen der „Enge" des Präsenzbewußtseins unfähig zur Würdigung nicht unmittelbar naheliegender Argumente machen kann. Insbesondere mag die christliche Tradition der grundsätzlichen moralischen Diskriminierung des Sexuellen hierin eine ihrer tieferen Ursachen haben. In Wirklichkeit sind die sexuellen Antriebe gewiß genau wie alle anderen 119

an sich ethisch neutral und können, je nach den Umständen, ebensowohl in Richtung des „Guten" wie des „Bösen" wirken. Unsere Auffassung des menschlichen Verhaltens als Ergebnis eines Regelungsprozesses hat uns ja auch dazu geführt, die grundsätzliche Unmöglichkeit der idealen Erfüllung der ethischen Forderung in der Praxis des Lebens als eine unvermeidliche Folge aus der eigentlichen Natur dieses Prozesses zu verstehen, ohne daß wir dazu die Wirksamkeit irgendwelcher besonderen, stets nur auf das ethisch Verwerfliche gerichteten Faktoren voraussetzen müßten. Insbesondere muß uns natürlich auch die christliche Annahme der Existenz eines womöglich gar persönlich gedachten metaphysischen Prinzips des „Bösen" als absolut unbegründet erscheinen, das den Menschen seinen ethisch minderwertigen inneren Antrieben gegenüber so lange in der unwürdigen Rolle eines „Sündenknechtes" halten soll, bis er durch die göttliche „Gnade" daraus erlöst wird. Gerade die Parallele mit dem technischen Regler muß es uns völlig klar machen, daß die ethische Aufgabe im Grunde in gar nichts anderem besteht, als in der nur irgendmöglichen und dabei durchaus aus eigener Kraft zu erzielenden Verkleinerung des Abstandes zwischen dem „Soll" und dem „Ist" des Verhaltens. Die umgekehrte Folgerung aus der Einsicht in die gesetzmäßige Unvermeidlichkeit dieses Abstandes, daß es nämlich eher angebracht sei, seine Vergrößerung anzustreben, ist natürlich im Ethischen ebenso unsinnig wie im Technischen. Doch ist sie tatsächlich im Rahmen des Christentums schon gezogen worden. Ausgehend von dem Grundsatz: „Den reuigen Sünder hat Gott lieb" hält z. B. eine alte russische Volksmeinung recht handfeste Sünden für den besten Weg zur Erlangung der göttlichen Gnade. So hat noch zu Anfang unseres Jahrhunderts der berühmte Bauernmönch R A S P U T I N , der im übrigen genug Verstand besaß, um die verhängnisvollen Folgen des ersten Weltkrieges für das Zarentum im voraus zu erkennen und der deswegen auch sein Leben lassen mußte, bekanntlich diese paradoxe Lehre von der Gottwohlgefälligkeit der „Sünde" dazu benutzt, die höchste Gesellschaft des Zarenhofes besonders in ihrem weiblichen Teil moralisch zu korrumpieren und sich damit eine riesige persönliche Macht zu verschaffen. Ebenso wenig wie der schematischen Trennung zwischen „höheren" und „niederen" Trieben können wir der schon früher erwähnten Meinung K A N T S zustimmen, der glaubte, zwischen rein emotionell bestimmten Handlungen aus „Neigung" und solchen aus „Vernunft" unterscheiden zu müssen, welch' letztere er allein als im ethischen Sinne „gut" anzuerkennen bereit war. Was wir über die Rolle der Emotionszentren bei der wechselnden Verteilung der zur Verfügung stehenden Aktivierungsenergie auf die verschiedenen Zonen des Gehirns erkannt zu haben glauben, muß uns natürlich zu dem Schluß führen, daß überhaupt keine Handlung ohne eine sie initiierende Emotion beschlossen und ausgeführt werden kann und ebensowenig irgendeine Tätigkeit des Verstandes, gleich ob sie in einer äußeren Handlung mündet oder nicht. In Übereinstimmung damit hat das objektive Maß für die ethische Beurteilung jeder äußeren wie inneren menschlichen Aktivität, das wir unter Bezugnahme auf die gesetzmäßige gesellschaftliche Fortentwicklung der Menschheit definiert haben, mit der größeren oder geringeren 120

Beteiligung des Verstandes am Entschluß zu einer Handlung ebensowenig zu tun wie mit ihrer emotionellen Tönung. I n ausgesprochenem Gegensatz zu der KANTSchen einseitigen Uberbewertung der „Vernunft" steht die alte, schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte zu Tage tretende und auch einen Bestandteil der christlichen Weltanschauung bildende Meinung, die die eigentliche Wurzel der „Sünde" im menschlichen Erkenntnistrieb sucht. Die darin enthaltene grundsätzliche Diskriminierung der Verstandestätigkeit bedeutet logischerweise auch eine Minderbewertung der Wissenschaft. Sie kann sich sogar bis zur offen gezeigten Befriedigung über eine angebliche Unsicherheit der modernen Wissenschaft in der Verfolgung ihres Weges steigern, wie sie in der schon früher zitierten päpstlichen Botschaft ausgesprochen wird. Wir dagegen können gar nicht anders, als in der Wissenschaft wie in der Verstandestätigkeit überhaupt in erster Linie ein Mittel zur richtigen Erfassung der Wirklichkeit und damit die erste Voraussetzung zum richtigen Handeln zu sehen. Grundlage für ihre Bewertung kann also für uns immer nur ihr Verhältnis zu demselben praktischen ethischen Ideal sein, das wir auch für die äußeren Handlungen als maßgebend betrachten müssen, also das Ziel, das sie jeweils verfolgt, die Wirkungen, die sie hat und die Ubereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieses Ziels und dieser Wirkungen mit dem Ziel der äußeren Aktivität. Wenn hiernach Erkennen und Denken eine Tätigkeit ist, die wie jede andere im ethischen Sinne „gut" oder „böse" sein kann, wie steht es dann wohl mit den Maschinen, die heutzutage eingesetzt werden, um das menschliche Hirn von Denkfunktionen zu entlasten? Handeln sie ebenfalls „gut" oder „böse"? So zu fragen ist natürlich ganz sinnlos. Ethisch verantwortlich ist selbstverständlich immer der Mensch, der die Maschine einsetzt, geradeso, wie jemand, der einen anderen erschießt, statt ihn totzuschlagen, damit keineswegs die moralische Verantwortung auf das tötende Geschoß abwälzt. Im übrigen verdient die Behauptung, daß gewisse Maschinen, die wir besitzen oder besitzen werden, „denken" könnten, auch noch eine kritische Prüfung. Wenn wir uns allerdings entschließen, mit dem Worte „denken" jeden Prozeß zu bezeichnen, der irgendein Ergebnis zu liefern vermag, das man auch durch Nachdenken hätte erhalten können, vielleicht auch noch mit der Einschränkung, daß die Wege, die zur Ermittlung des Ergebnisses eingeschlagen werden, ebenfalls in etwa mit denen unseres Gehirns übereinstimmen sollen, so gibt es natürlich bereits „denkende" Maschinen. Richtiger möchte es mir aber scheinen, wenn man da nur von einem „Modellieren" des menschlichen Denkprozesses reden würde, der doch nur in gewissen Punkten, auf die es im Hinblick auf das Resultat technisch ankommt, vom Modell nachgeahmt wird, in anderen, die für sein Zustandekommen im menschlichen Gehirn ausschlaggebend sind, aber ganz und gar nicht. I m Modell fehlen doch gerade die vielfältigen Zusammenhänge vollständig, in denen jeder einzelne menschliche Denkakt nicht nur mit den Emotionen und sonstigen Funktionen des individuellen Zentralnervensystems, sondern auch mit der gesellschaftlichen Rolle des denkenden Individuums steht und die auch die ethische Bedeutung jeder Denktätigkeit begründen. 121

Wir haben vorhin von der Beobachtung gesprochen, daß Handlungen, die man später schmerzlich bereuen muß, nicht selten aus der starken Erregung einzelner Emotionszentren entspringen und sie mit der, von unserem Standpunkt aus betrachtet, ganz abwegigen christlichen Tendenz in Verbindung gebracht, speziell den Sexualtrieb als die Äußerung eines grundsätzlich „Bösen" zu betrachten. Eine andere falsche Folgerung aus derselben Beobachtung ist die Forderung nach ständiger Wahrung unerschütterlichen Gleichmuts, die von einer der schon erwähnten spätantiken, rein egozentrisch orientierten philosophischen Lehren, dem Stoizismus, geradezu zum obersten ethischen Gebot erhoben wird. Was dabei nur eben in Vergessenheit gerät, ist die überragende Rolle, die das Interesse der Allgemeinheit im Rahmen der ethischen Pflichten jedes einzelnen spielt. Die Anforderungen, die daraus erwachsen, erweisen sich ja immer wieder als so hoch, daß ihnen ohne Begeisterung, ja wahre Leidenschaft nicht Genüge getan werden kann. Der Stoizismus als allgemein verbindliches ethisches Prinzip könnte tatsächlich nur zum Aufhören aller Fortschritte der menschlichen Gesellschaft und zum Tode aller Kultur führen. Im übrigen ist der Wechsel zwischen Erregung und Ruhe sogar eine biologische Notwendigkeit, der sich niemand ohne schwerwiegende Folgen für die Gesundheit seines Nervensystems entziehen kann. Daher das Sensationsbedürfnis, das sich immer da regt, wo die Gesellschaft aufgehört hat, ihren Mitgliedern höhere Aufgaben zu stellen, die den Menschen wahrhaft zu erschüttern und sein Innerstes aufzurütteln vermögen. Daher auch die Flucht in den Alkohol bei vielen, die sich von ihrem täglichen Leben „angeödet" fühlen, wie der vielsagende Ausdruck lautet. Auf den untersten Stufen der menschlichen Kulturentwicklung wie im Leben der Tiere der Wildnis ist übrigens für ein ausreichendes Maß an Erregung schon allein durch die periodisch auftretende Lebensgefahr gesorgt. Der berühmte Wahlspruch MUSSOLINIS „Lebe gefährlich!" ist gleichermaßen charakteristisch für die Uberschätzung des Biologischen wie die Tendenz zum Primitiven im Faschismus. Wenn wir uns in allen zuletzt behandelten Punkten: der Ablehnung des Stoizismus wie der den Menschen entwürdigenden christlichen These seiner „Sündenknechtschaft", und ebenso in der Frage der ethischen Bewertung der Verstandestätigkeit und der elementaren inneren Antriebe des Menschen zweifellos stets auf der Seite des dialektischen Materialismus befinden, So steht es damit auch nicht anders in der schon mehrfach erwähnten Grundfrage der Bejahung oder Verneinung des Lebens überhaupt. Es ist wohl klar, daß die im ganzen gewiß immer nur auf die Erhaltung und positive Fortentwicklung der Grundlagen des Lebens gerichtete Tendenz aller nur irgendwie biologisch verständlichen Lebensfunktionen und der enge Zusammenhang, in dem wir diese Funktionen auch mit der gesellschaftlichen Kultur des Menschen sehen, allen unseren Überlegungen von vornherein eine ausdrücklich lebensbejahende Richtung erteilen muß, und diese Richtung kann durch unsere positiven Einsichten in die Funktionsweise des kybernetischen Systems der menschlichen Gesellschaft und die objektive Gesetzmäßigkeit seiner Funktionen jedenfalls nur noch verstärkt werden. 122

Mit der Frage der Lebensbejahung oder -Verneinung hängt aber noch ein weiteres Problem zusammen, dessen Behandlung wir nicht ausweichen dürfen: das der Systemstabilität im kybernetischen Sinne dieses Wortes. Wir haben uns schon einmal mit der Stabilitätsfrage im Zusammenhang mit der Arbeit des Zentralnervensystems beschäftigt, das wir dabei als Teil des Gesamtorganismus und damit auch als Teil des umfassenderen Systems Organismus—Umwelt behandelt haben. Nun geht es um die menschliche Gesamtgesellschaft, die wir wiederum im Rahmen eines größeren Systems betrachten müssen, nämlich des Systems der Beziehungen zwischen der menschlichen Kultur und der Natur. Fassen wir zunächst einmal das Tier in der Wechselwirkung mit seiner natürlichen Umwelt ins Auge! Wie jedes Lebewesen und auch der Mensch findet es sein Ende in einer Katastrophe: dem Tod. Bis dahin aber pendelt das System Tier—Umwelt mehr oder weniger regelmäßig um einen mittleren Gleichgewichtszustand, von dem es sich nie allzuweit entfernt und auch ohne Gefahr für seine weitere Existenz nicht allzuweit entfernen kann. Anders, wenn das bisher freie Tier in die Gefangenschaft des Menschen gerät. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder führen die nun beginnenden Lernprozesse zu einer Eingewöhnung in die neuen Lebensumstände, das heißt zu einem neuen, von dem natürlichen verschiedenen Gleichgewichtszustand in der Wechselwirkung mit der Umgebung, oder aber es bleibt, wenn die Eingewöhnung nicht gelingt, als Ausweg nur die Flucht oder der Tod. Ein ähnliches Resultat erhalten wir, wenn nicht das Einzelwesen, sondern die Art betrachtet wird. Sie verändert sich zwar, wie wir heute wissen, fortlaufend in ihren körperlichen Merkmalen wie in der Weise, wie sie ihr Leben aufrechterhält. Diese Änderungen gehen jedoch im allgemeinen nur sehr langsam, in geologischen Zeiträumen vor sich, so daß in kürzeren Zeitabschnitten, wie sie etwa die menschliche Geschichte zu vermerken pflegt, sehr wohl auch jetzt wieder von einem mittleren Gleichgewichtszustand gesprochen werden kann, der sich ständig von neuem reproduziert. Ein Untergang der Art scheint nach allem, was wir wissen, unter natürlichen Umständen nur möglich zu sein, wenn die Anpassung der Erbmasse an die Änderung der äußeren Lebensbedingungen nicht mehr gelingt: sei es, weil diese Änderungen doch nicht langsam genug erfolgen, sei es, weil die Möglichkeiten der Mutation zumindest in der notwendigen Richtung bereits erschöpft sind — auch diesen Fall dürfen wir wohl nicht ganz ausschließen. Indessen kann auch die Existenz der Art vom Menschen vorzeitig beendet werden, entweder durch direkte Vernichtung aller ihrer Angehörigen, oder indirekt, durch einen Eingriff in die zu ihrem Bestehen notwendigen äußeren Bedingungen. Wir wissen, daß beide Fälle in historischer Zeit vorgekommen sind, und nicht nur einmal. Anderenteils läßt sich aber zuweilen auch eine recht rasche Anpassung an die durch den Menschen veränderten Lebensverhältnisse beobachten, vor allem, wenn die eingetretenen Änderungen keine Erschwerung, sondern zufällig eine Erleichterung der Existenz bedeuten. So sind Zugvögel in wenigen Jahrzehnten in der Stadt zu Standvögeln geworden, unter Verlust des bis dahin unwiderstehlichen herbstlichen Wandertriebs. Jedes Mal aber, wenn solche Anpassungen gelingen, ist das Resultat ein neuer Zustand des Gleichgewichts zwischen Tier 123

und Umwelt. E s mag danach wohl so scheinen, als ob es ein biologisches Gesetz gäbe, das als Antwort auf einen Wechsel der äußeren Lebensumstände nur eine Alternative läßt: die Erreichung eines neuen statischen Gleichgewichts oder die Vernichtung. E s würde dies ganz den Verhältnissen bei gewissen technischen Regelungssystemen entsprechen, die entweder ständig in der Nähe eines stabilen Gleichgewichtspunktes arbeiten oder aber, wenn sie instabil werden und der Mensch nicht eingreift, bei einer gewissen Entfernung vom Gleichgewichtszustand beginnen, sich selbst oder das von ihnen überwachte Objekt zu zerstören. Der Mensch lebt nun in einer Kulturwelt, deren hervorragendstes Merkmal, sobald erst eine gewisse Höhe der Entwicklung erreicht ist, in der fortlaufenden Veränderung besteht. Zwar gibt es dabei auch zyklische, vorübergehend rückläufig verlaufende Prozesse. Doch sind sie stets von anderen, unablässig in einer Richtung fortschreitenden überlagert, so daß kein irgendwann eingetretener Zustand sich jemals wiederholt. E s kann also weder in kürzeren noch längeren Zeiträumen auch nur annähernd vom Bestehen eines Gleichgewichtszustands gesprochen werden. Sollen wir nun hier ebenfalls die eben genannte Alternative als gegeben ansehen? Wenn ja, so würde dies bedeuten, daß das Menschengeschlecht gerade mit seiner weitgehenden Emanzipation von der Natur dem Schicksal einer unausweichlichen Katastrophe zutreibt. Indessen zeigt eine genauere Betrachtung, daß dem nicht so ist. Das, was den instabilen technischen Regler zu einer Gefahrenquelle werden läßt, ist nämlich eigentlich gar nicht die Nichteinhaltung eines beschränkten Abstands von einem mittleren Gleichgewichtspunkt, sondern vielmehr allein das unzulässige Anwachsen der entstehenden Fehlersignale und der nicht mehr normale Charakter der von ihnen ausgelösten Reaktionen des Reglers. Es gibt aber auch Regler, nämlich die schon mehrfach erwähnten selbstoptimierenden, die keineswegs darauf angewiesen sind, immer in der Nähe desselben Arbeitspunktes zu verharren. Vielmehr verfügen sie über die Fähigkeit, bei geänderten äußeren Bedingungen ihren Arbeitspunkt innerhalb gewisser Grenzen fortlaufend zu verlagern, indem sie ihre technischen Parameter selbsttätig so verändern, daß die normale Arbeitsweise auch unter Verhältnissen aufrechterhalten bleibt, unter denen sonst Instabilität hätte eintreten müssen. Kybernetisch betrachtet, stellen alle Lebewesen eben solche selbstoptimierenden Regler dar, die also nur dann instabil werden können, wenn die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit überschritten werden. Die erwähnten Katastrophen im System Tier—Umwelt treten tatsächlich immer nur als Folge solcher Grenzüberschreitungen ein. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist nun nicht nur die außerordentlich gesteigerte Fähigkeit der Anpassung durch Lernen, sondern die ebenso außerordentlich vergrößerten Möglichkeiten der eigenen aktiven Einwirkung auf die Umwelt und vor allem des vorausschauenden Erfassens der bei einer solchen Einwirkung zu erwartenden Folgen. Schließlich handelt es sich ja bei der das Wesen der menschlichen Kulturumwelt ausmachenden Veränderlichkeit gerade um solche vom Menschen selbst hervorgerufene Wirkungen! Die kulturelle 124

Aktivität des Menschen braucht also keineswegs zu katastrophalen Folgen zu führen, wenn deren Möglichkeit nur rechtzeitig erkannt wird und wenn vor allem auch der Wille zu ihrer Vermeidung vorhanden ist. An diesem Punkte kommen wir aber wieder zur Grundfrage der prinzipiellen Lebensbejahung oder -Verneinung zurück. Wenn man zum Beispiel an eine metaphysische Quelle des Ethischen glaubt und das eigentliche Ziel des Daseins in einem erst nach dem Tode erreichbaren Jenseits erblickt, so könnte eine allgemeine Menschheitskatastrophe sogar den Charakter eines in diesem Sinne beinahe Wünschbaren erhalten. Es scheint, daß mit einer solchen Denkweise gerade heute von manchen Seiten geliebäugelt wird — wir sind ihr schon einmal begegnet, als wir von der Einstellung mancher Christen zur Atombombe sprachen. Jedenfalls hängt in Wirklichkeit die Zukunft des Menschengeschlechts in erster Linie und in weit höherem Maße als die irgendeines anderen Lebewesens von ihm selbst ab. Freilich gehören zur bewußten Gestaltung dieser Zukunft entsprechende Voraussetzungen nicht nur im Bewußtsein einzelner, sondern auch im kollektiven Bewußtsein vieler. Wir kehren nun noch einmal zu Sigmund F B E U D zurück, mit dessen „Psychoanalyse" wir uns ja schon einmal im Zusammenhang mit unseren Bemühungen um eine rationelle Definition der verschiedenen Formen des Bewußtseins befaßt haben. Wenn seiner Lehre — zum Teil sogar von seinen eigenen Schülern — eine gewisse Vernachlässigung des ethischen Moments vorgeworfen wird, so hat dies seinen guten Grund in der bei F B E U D tatsächlich gegebenen Überbewertung des Individuums und des individuellen Bewußtseins gegenüber dem Kollektiv und dem kollektiven Bewußtsein und in der damit zusammenhängenden Minderbewertung des Gesellschaftlichen überhaupt im Verhältnis zum rein Biologischen. Infolgedessen kommt es bei F B E U D schließlich gerade so heraus, als ob der Sinn des Lebens ganz im Sinne der griechischen Hedoniker — die eine besondere Gruppe innerhalb der schon erwähnten spätantiken Glückseligkeitsethiker darstellen — lediglich im ganz individuell zu verstehenden „Lustgewinn" liege, wobei F B E U D wiederum das Biologische in Gestalt des Sexuellen zweifellos weit über Gebühr betont. Dagegen lehren uns alle unsere Erkenntnisse, daß der Sinn des Lebens für jeden einzelnen niemals losgelöst von der Gemeinschaft, in der er lebt, und von der Rolle, die er darin spielt, begriffen werden kann, wobei es letzten Endes nur darauf ankommt, ob und wie er zum gesetzmäßigen gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt. Bei unvoreingenommener Betrachtung dürfte es auch keinem Zweifel unterliegen, daß einer der allerstärksten und die größte innere Befriedigung vermittelnden natürlichen Antriebe des Menschen gerade der Gesellschaftstrieb ist, und zwar durchaus nicht nur in seiner speziellen, auf die Erringung einer angemessenen gesellschaftlichen Position für die eigene Person gerichteten Form, sondern nicht weniger auch in seiner allgemeinen Richtung auf das Ganze, auf die Herstellung einer menschenwürdigen Gemeinschaft und die aktive Mitwirkung an ihrer fortwährenden Verbesserung. Dieser letztere Teil des Gesellschaftstriebs ist über125

haupt in der ganzen hinter uns liegenden Epoche des einseitigen individualistischen Denkens niemals recht gewürdigt worden. In Wirklichkeit könnte sich aber kein Staat, gleich welcher Art er auch sein möge, keine Partei, kein Betrieb und überhaupt keine große oder kleine menschliche Gesellschaft halten, wenn sich nicht immer wieder in ihren Mitgliedern eine entsprechende Einstellung bemerkbar machte und sie auch zu persönlichen Opfern zugunsten des Ganzen veranlaßte. Zum Abschluß unserer ethischen Untersuchungen wollen wir nun noch einen Schritt weiter gehen. Wenn wir schon den positiven oder negativen, größeren oder kleineren Beitrag jedes einzelnen zum historischen gesellschaftlichen Fortschritt der gesamten Menschheit als den letzten Endes allein gültigen Maßstab für die ethische Beurteilung seiner Handlungen proklamiert haben, so können wir wohl kaum umhin, den Begriff des im ethischen Sinne „Guten" und „Bösen" vom Individuum nunmehr auch auf das Kollektiv zu übertragen und die Politik von Staaten, Parteien und Klassen nach demselben Maße zu messen. Wir werden das um so weniger vermeiden können, als diese Politik, wenn sie sich danach als schlecht erweist, fast unweigerlich auch den einzelnen mit herabziehen muß, der ihr direkt oder indirekt dient. Damit entfällt natürlich auch jeder Anspruch des Staates wie überhaupt jeder gesellschaftlichen Organisation, einen Selbstzweck darzustellen, der etwa im Sinne des MACCHiAVELLischen Grundsatzes: „Alles, was dem Staate nützt, ist erlaubt" jedwede Handlung seiner Diener eo ipso heiligt. Im Gegenteil dürfen wir uns gemäß der von uns formulierten ethischen Forderung jeweils nicht scheuen, auch die Beseitigung jedes Staates und jeder Klasse als gerechtfertigt anzuerkennen, Sobald sie nur beginnen, mit ihrer Existenz dem gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit im Wege zu stehen, und noch mehr: wir werden sogar das Prinzip der Aufspaltung der Menschheit in Staaten und Klassen von dem Zeitpunkt ab verwerfen, an dem es aufhört, seine in der Beförderung dieses Fortschritts liegende Aufgabe zu erfüllen. Auch damit haben uns unsere Überlegungen offensichtlich wieder auf keine andere als die bekannte Position des Marxismus geführt, mit der wir ja, wie nun wohl rückblickend festgestellt werden darf, in unseren gesamten ethischen Betrachtungen von Anfang an in ständiger Übereinstimmung geblieben sind — nicht anders, als es auch bei den vorangegangenen erkenntnistheoretischen Untersuchungen der Fall war.

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IV. Ästhetik 13. Vorlesung Das Wort „Ästhetik" hat eigentlich zwei Bedeutungen: als Lehre vom Schönen und als Theorie der Kunst. Sie werden meist nicht scharf auseinandergehalten. Offensichtlich können sie indessen nicht identisch sein, denn Schönheit ist selbstverständlich auch außerhalb der Kunst anzutreffen, z. B. in der Natur, und ihre außerkünstlerischen Erscheinungsformen dürfen von einer Untersuchung, die in die Tiefe gehen will, gewiß nicht außer acht gelassen werden. Wir werden das jedenfalls nicht tun. Eine andere Frage ist die, ob Kunst überhaupt immer „schön" sein muß. Unbedingt bejaht wird diese Frage von der klassischen, oder vielleicht besser gesagt, klassizistischen Auffassung der Kunst. Wir werden sie zunächst noch offen lassen und so vorgehen, daß wir zuerst die allgemeinere Frage der Schönheit innerhalb wie außerhalb der Kunst zu lösen versuchen und uns danach erst dem Problem der Kunst zuwenden. Dabei wird von selbst auch auf das Verhältnis beider Licht fallen. Mit diesem Verhältnis steht in einem gewissen Zusammenhang das Problem der Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit. Hier sind zwei Grundeinstellungen möglich: Entweder man betrachtet das Reich der Kunst als etwas Autonomes, von der Wirklichkeit Unabhängiges, ja vielleicht sogar zu ihr in einem grundsätzlichen Gegensatz Stehendes — so, wenn es als schöner „Schein" der als häßlich empfundenen Wirklichkeit gegenübergestellt wird —, oder man sieht sie im Gegenteil in engster Verbindung zur Wirklichkeit. Die letztere als „Realismus" bezeichnete Auffassung mag sich in verschiedener Weise äußern, sei es, indem man in der Kunst lediglich ein Mittel zur adäquaten Abbildung und damit zum besseren Erkennen der jeweils gegebenen Realität sieht, sei es, daß man ihr die weitergehende Aufgabe stellt, durch den Einfluß, den sie auf das kollektive rezeptive und produktive Bewußtsein auszuüben vermag, bei der Umgestaltung und Verbesserung des Gegebenen aktiv mitzuhelfen. Dem entsprechen zwei verschiedene Definitionen des Begriffs des „Realismus" in der Kunst, die, wie wir noch sehen werden, unbedingt auseinandergehalten werden müssen, wenn nicht Verwirrung entstehen soll. Beide Formen des Realismus — man könnte die einen als den „beschreibenden", die andere als den „produktiven" Realismus bezeichnen — spielen in der Kunstauffassung des Marxismus eine große Rolle. Offenbar läuft der „produktive" Realismus auf eine enge Verbindung zwischen dem ästhetischen und dem ethischen Ideal hinaus. Wir werden 127

uns mit der Frage dieser Verbindung noch eingehend zu beschäftigen haben und sie zu einem der zentralen Punkte unserer Untersuchung machen. Ähnlich.wie im Falle unserer erkenntnistheoretischen und ethischen Betrachtungen sei jedoch zuerst noch ein kurzer Überblick über verschiedene ästhetische Lehren der Vergangenheit vorausgeschickt, und zwar zunächst noch ohne Kommentar, den wir später nachholen werden. Wie früher werden wir uns dabei wieder äußerste Beschränkung auferlegen und nur solche Lehren anführen, die auch im heutigen Denken noch merkliche Spuren hinterlassen haben. Wir beginnen mit dem allgemeinen Begriff des „Schönen". PLATON, den wir ja schon mehrfach erwähnt haben und der überhaupt einen außerordentlichen Einfluß auf alles spätere Denken ausgeübt hat, ist der Ansicht, daß das Schöne, wo wir es auch vorfinden, stets als Ausdruck einer besonderen, ihrem Wesen nach ewigen Idee betrachtet werden müsse, wobei dieser Ausdruck gemäß den allgemeinen Anschauungen, denen er huldigt, freilich immer nur unvollkommen sein könne. Diese Anschauung hat von den Philosophen der Neuzeit vor allem H E G E L wieder aufgenommen. Eine andere Auffassung sieht in der Schönheit den Ausdruck eines formalen Ordnungsprinzips, das zur Harmonie der Teile mit dem Ganzen führt. Dazu soll jedes schöne Ding immer eine Einheit von Gegensätzen darstellen. Diese Lehre hat wohl zuerst HEBAKT,TT vertreten. Ganz anders ist die Meinung des SOKBATES. Nach ihm ist Schönheit nur ein Ausdruck der zweckmäßigen Anpassung an bestimmte Bedingungen, welche Behauptung er anhand des Beispiels der schönen und zugleich zweckmäßigen Gestaltung von Werkzeugen erläutert. Eine vierte Meinung, die allerdings kein so ehrwürdiges Alter besitzt und erst im vorigen Jahrhundert von dem russischen Denker DOBBOLJUBOW geäußert worden ist, definiert den Begriff der Schönheit einfach durch das entsprechende natürliche Empfinden des Volkes. Nun zu den Deutungen des Wesens der Kunst! Sehr im Gegensatz zur sokratischen Auffassung der Schönheit sieht K A N T das Kennzeichnende der Kunst darin, daß sie „Gefallen ohne (materielles) Interesse" hervorruft, d. h. also gerade in der Freiheit von äußeren Zwecken. Dieser Standpunkt hat sich später noch zu dem bekannten Prinzip des „l'art pour l'art" gesteigert, das die Kunst als Selbstzweck proklamiert. Wieder anders ist die Auffassung des Kunstwerks als Manifestation der Harmonie von Form und Inhalt, vertreten von arabischen Philosophen. Weiter zeigt sich schon bei verschiedenen Denkern des griechischen Altertums eine realistische Einstellung zur Kunst. Der erste und primitivste Vertreter des beschreibenden Realismus ist wohl SOKBATES. Er meint, die Aufgabe der Kunst bestehe lediglich in der möglichst getreuen Nachahmung der Dinge. Kritischer ist hier ABISTOTELES, der betont, daß die künstlerische Nachahmung sich durch die Hervorhebung des jeweils Typischen von ihrem Vorwurf zu unterscheiden habe. Schließlich erscheint die Kunst aber auch bereits im Sinne des produktiven Realismus als ein gesellschaftlicher Faktor, und zwar bei PLATON, der insbesondere 128

zwei Arten der Musik unterscheidet, von denen die eine der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten förderlich, die andere hinderlich sein soll. In der Neuzeit scheint die Einsicht in die gesellschaftliche Wirksamkeit des künstlerischen Schaffens zuerst wieder bei den russischen bürgerlichen Demokraten des vorigen Jahrhunderts aufgetaucht zu sein. Auch die marxistische Ästhetik führt zi^r Erkenntnis der primär gesellschaftlichen Aufgabe der Kunst. Ganz anders als P L A T O N sieht sie in ihr aber weniger ein Werkzeug zur Geltendmachung ewig unveränderlicher Ideale als vielmehr einen Hebel zu Beschleunigung der Anpassung des kollektiven (rezeptiven wie produktiven) Bewußtseins an die jeweiligen doch einem ständigen Wechsel unterworfenen Forderungen, die die gesetzmäßige Fortentwicklung der Gesellschaft stellt. Nach dem Ergebnis unserer früheren Untersuchungen wird es uns gewiß nicht überraschen, wenn wir auch in den nun folgenden Betrachtungen stets zur völligen Übereinstimmung mit den entsprechenden Vorstellungen der marxistischen Theorie der Kunst gelangen. Diese Ubereinstimmung wird aber natürlich nicht ausschließen, daß wir auch manchen der eben zitierten historischen Auffassungen eine gewisse beschränkte Gültigkeit werden zugestehen müssen. Ein Teil dieser Anschauungen bezieht sich übrigens offensichtlich von vornherein nicht in gleicher Weise auf alle Arten der Kunstausübung, sondern vorzugsweise auf ganz bestimmte, z. B. die sogenannten bildenden Künste, und verliert bei anderen ganz oder teilweise seinen Sinn. Dagegen sollen die Gedanken, die wir uns machen werden, gleichmäßig alle Kunstarten ohne Ausnahme, die bildenden Künste, die Musik, die Literatur, den Tanzusw. umfassen, wobei selbstverständlich auch so moderne, früher unmögliche Kunstarten wie der Film miteingeschlossen sein werden — auch wenn dies nicht jedesmal ausdrücklich erwähnt wird. Was zunächst das allgemeine Problem der Schönheit betrifft, wie es sich sowohl innerhalb wie außerhalb der Kunst stellt, so wollen wir als erstes die Frage prüfen, wie weit Faktoren formaler Art eine Bolle beim Zustandekommen des „schönen" Eindrucks zu spielen pflegen. Tatsächlich können wir uns leicht davon überzeugen, daß es wirklich gewisse formale Merkmale gibt, die an keinem Gegenstand fehlen dürfen, den wir als schön empfinden sollen. Einige davon lassen sich auch leicht nennen. Da wäre zunächst das Prinzip der Wiederholung bestimmter Formelemente. In der Kunst wird es jedenfalls ständig angewandt und prägt sich auch in den formalen Regeln aus, die in vielen Künsten existieren. Ich erinnere nur an die Vorschriften für Reim und Rhythmus in der Poesie und an den Takt, den Rhythmus, sowie die Wiederholung bestimmter Motive und Themen wie auch gewisser durch die gewählte Tonart gegebener Akkorde in jedem Musikwerk, das den Regeln der „tonalen" Musik folgt. Aber auch da, wo formale Kunstregeln nicht existieren oder nicht angewendet werden, beobachten wir ganau dasselbe: Selbst in der Prosa — freilich eben nur, wenn sie künstlerischen Ansprüchen genügt! — finden wir regelmäßig einen gewissen Rhythmus im Satzbau, ja sogar in den ausgesprochenen Gedanken. Ebenso zeigt jedes Gemälde und überhaupt jedes Werk der bildenden Kunst die mehrfache 9

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Wiederholung besonderer ihm eigentümlicher Formelemente, wenn sie hier allerdings dem naiven Betrachter, der sein Augenmerk nur auf das Gegenständliche richtet, auch leicht entgehen; mir schwebt im Augenblick als Beispiel gerade ein Bild.des berühmten „Bauern"-BREUGHEL vor, auf dem sich das formale Motiv der ausgestreckten gespreizten Beine eines im Vordergrund liegenden ruhenden Schnitters in den aufgestellten Garben und außerdem noch in einer Weggabelung verdoppelt und verdreifacht. Auffallender tritt dieses Prinzip natürlich in den Werken der sogenannten „abstrakten" Kunst hervor, über die wir übrigens noch gesondert sprechen werden, wo die Ablenkung durch das in den Vordergrund tretende Gegenständliche fehlt. Dasselbe gilt für die Architektur und alle Arten der Ornamentik. Es gilt aber ebenso auch für alle Naturgegenstände, deren Gestalt wir als „schön" empfinden: die wogende Wasseroberfläche, den Wolkenhimmel, eine Bergsilhouette, den Rand eines Waldes, nicht weniger aber auch für die meisten alleinstehenden Bäume und jedes von uns als schöngestaltet beurteilte Tier. Auch dessen Körperbau läßt ja stets die Wiederholung gewisser formaler Elemente an ihm erkennen. Oft ist die Wiederholung auch mit gleichzeitiger Vergrößerung oder Verkleinerung verbunden. In der organischen Natur bedeutet dies geradezu ein universelles Bauprinzip. Ich nenne als Beispiel nur die mehrfache Verzweigung im Bau der höheren Pflanzen, aber auch z. B. im Skelett unserer eigenen Gliedmaßen. Innerhalb der Kunst liefert besonders die Architektur viele Beispiele für die Anwendung des Prinzips der Vergrößerung oder Verkleinerung bestimmter Grundformen. Natürlich gehört auch die Symmetrie, die sich ja im Körperbau sehr vieler Lebewesen wie auch in nicht wenigen Kunsterzeugnissen, vor allem wieder in der Architektur, vielfach ausprägt, zu den Anwendungen des Wiederholungsprinzips. Ein weiteres Kennzeichen des Schönen besteht darin, daß in ihm stets gegensätzliche Elemente vereinigt zu sein pflegen, zwischen denen eine gewisse Spannung empfunden wird, worauf, wie bereits erwähnt, schon HERA KT,TT hingewiesen hat. Daß dies in der Kunst tatsächlich eine unerläßliche Vorbedingung für die ästhetische Wirkung bedeutet, ist wohl allgemein anerkannt, so daß wir auf die Anführung entsprechender Beispiele verzichten können. Bei den Naturgegenständen, die wir als schön empfinden, ist das aber auch nicht anders. Wir brauchen, um das einzusehen, nur einmal an bestimmte Tiere zu denken, deren Körperbau uns besonders ästhetisch anspricht. So wird jedenfalls ein großer Teil des Gefallens, den die Gestalt des Rehs in uns hervorruft, durch die Verbindung von äußerster Zartheit mit Vitalität und elastischer Kraft bewirkt, die sein Körper demonstriert, während es beim Tiger sicher einesteils der Gegensatz zwischen der üppigen Zeichnung des Felles und der Verhalteriheit der Bewegungen, gleichzeitig aber auch die Verbindung von elementarer -Kraft mit äußerster Geschmeidigkeit ist, die wir bewundern, eben weil sie zumindest für unsere menschlichen Begriffe eine Vereinigung von eigentlich Gegensätzlichem bedeutet. 130

Auch schöne Landschaften müssen gewisse Gegensätzlichkeiten aufweisen, ohne die wir sie leicht als langweilig und fade empfinden, während im Falle besonders starker Gegensätze der ästhetische Eindruck immer ohne weiteres gesichert ist — so, wenn sich etwa schneebedeckte Berge über grünen Wiesen oder einer offenen Wasserfläche erheben. Die Ursache dafür, daß sich die eben genannten Voraussetzungen der im ästhetischen Sinne schönen Wirkung so oft in der Natur wahrnehmen lassen, liegt natürlich in den Naturgesetzen selbst. Sie müssen ja bei gleichen Voraussetzungen immer wieder zu gleichen Folgen führen. Andererseits sorgt für das wiederholte Auftreten ein und derselben Formelemente auch die bekannte Häufigkeit periodischer Lösungen für die grundlegenden Differentialgleichungen, in denen sich diese Gesetze ausdrücken, wobei oft noch Lösungen verschiedener Periode sich überlagern können: Damit dürfte die weitgehende Herrschaft des Wiederholungsprinzips in allen Naturgestalten einigermaßen begreiflich werden. Was die organische Natur anbelangt, so spielt vermutlich auch die in der Technik wohlbekannte Symmetrieeigenschaft der meisten „optimalen" Lösungen, also solcher, die einen vorgegebenen Integralausdruck zum Minimum oder Maximum machen, eine Rolle. Wir haben ja schon festgestellt, daß das im Sinne des „faktischen Leitbilds" optimale Verhalten der Tiere wie des Menschen durch eine solche Integralbedingung definiert werden kann, die in diesem Falle auf möglichste Kleinheit der „Fehlersignale" in dem das Verhalten regelnden Teil des Zentralnervensystems zielt. Indessen müssen nicht nur die Leitbilder des Verhaltens, sondern auch der Funktion aller Organe und des Körperbaus selbst auf die Erfüllung derartiger Bedingungen gerichtet sein, um einen für die Erhaltung des Individuums wie der Art annähernd optimalen Lebensablauf zu ermöglichen. Dabei gilt gerade wie im Maschinenbau, daß alle Teile um so näher an die optimale Auslegung herankommen müssen, je komplexer die Gesamtanlage ist, weil sich die Verlustziffern in hintereinandergeschalteten Teilen z;u multiplizieren pflegen. So stellt die uns allen bekannte Grundform des Baumes mit dem starken Stamm, den immer schwächer werdenden Ästen und Zweigen als schließlichen Trägern der Laubmasse gewiß das relative Maximum eines Integralausdrucks dar, den wir zwar nicht hinschreiben können, von dem sich jedoch ohne weiteres sagen läßt, daß er eine monoton wachsende Funktion des Lichtgenusses auf der Blattoberfläche und der mechanischen Widerstandsfähigkeit gegen aerodynamische Seitenkräfte sein wird, während er mit wachsender Länge der kapillaren Wasserwege von der Wurzel bis zum Blatt und mit zunehmender Masse des die Festigkeit garantierenden Holzes notwendig abnehmen muß, damit in seinem Maximum der größtmögliche Effekt bei kleinatmöglichem Aufwand erzielt wird. Eine solche Integralbedingung wird ersichtlich bei allseitig gleichmäßigem Lichteinfall zur Axialsymmetrie führen, bei vorwiegend einseitiger Beleuchtung aber zu charakteristischen Abweichungen von ihr, wie sie uns ja die Wirklichkeit auch vorzuführen pflegt. Das gemeinsame Auftreten von Teilen verschiedenen oder sogar gegensätzlichen Charakters in allen Naturgebilden beruht indessen letzten Endes zweifellos auf 9*

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nichts anderem als auf der bekannten Elementarstruktur der Materie, wovon wir uns ja schon Rechenschaft gegeben haben, als wir uns mit dem Kausalgesetz und insbesondere auch mit seiner in der Quantenphysik nicht außer Kraft gesetzten Form, dem Prinzip der Einzelverursachung und seinem Ausbau in der kybernetischen Wissenschaft, beschäftigten. In der Kunst wiederum verdanken die eben besprochenen wie auch andere Prinzipien der Formgebung, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, ihre Verwendung im allgemeinen nicht den Naturgesetzen, sondern der künstlerischen Absicht. Zunächst würde ein Kunstwerk, das die genannten Formprinzipien in seinem Aufbau vermissen ließe, überhaupt kaum die Funktion eines „Gegenstandes" der Betrachtung ausüben können, da unser Erkenntnisapparat im Laufe der Entwicklung der Art „Mensch" doch nur auf das Erkennen von Naturgegenständen abgestimmt worden sein kann, in denen diese Prinzipien stets mehr oder weniger deutlich verwirklicht sind. Das ist aber noch nicht alles. Wir haben gerade eben von einer gewissen Gemeinsamkeit gesprochen, die zwischen den Leitbildern einesteils des Verhaltens von Tier und Mensch, andernteils des Körperbaus besteht und sich darin äußert, daß sie sämtlich letzten Endes auf die Erzielung von Extremwerten bestimmter Integrale gerichtet sein müssen. Die Gemeinsamkeit geht aber noch weiter und zeigt sich darin, daß, wenn den von den Leitbildern repräsentierten Forderungen Genüge getan sein soll, überall auch die Realisation der Strukturprinzipien erfolgen muß, die wir soeben als Vorbedingung für die Schönheit des körperlichen Eindrucks genannt haben. Wir wollen uns hier mit dem Beweis für diese Behauptung nicht lange aufhalten und nur daran denken, daß außer abrupten Sprüngen von einem Zustand in einen gegensätzlichen, wie sie sich z. B. in der Entstehung des Keims, in Geburt und Tod der Lebewesen manifestieren, jedes Leben Stets auch eine große Zahl rhythmisch verlaufender Teilvorgänge einschließt, darunter solcher, deren Periode nicht von außen durch den Wechsel der Jahreszeiten oder zwischen Tag und Nacht aufgezwungen ist. Wir wollen auch nicht versuchen festzustellen, ob die sich so ergebende Struktur der Lebensführung ebenfalls eine Folge des Strebens nach der Erreichung integraler Extremwerte ist oder ob nicht vielleicht zu ihrer Erklärung schon dieselben Umstände genügen, die auch ihre Parallelerscheinungen in der anorganischen Natur hervorrufen. Wichtig für uns ist aber die Feststellung, daß auch alle die Leitbilder, denen der Mensch, gleich ob „bewußt" im engeren Sinne dieses Wortes oder nicht, bei seiner kulturbedingten Tätigkeit folgt, offensichtlich so gut wie immer die Verwirklichung aller der vorgenannten Strukturen an dem jeweils zu schaffenden Werke fordern. Jedenfalls fühlen wir uns alle doch stets gedrängt, überall, wo wir uns betätigen, „Ordnung" zu schaffen. Was ist aber eigentlich Ordnung? Ich denke, sie bedeutet nichts anderes als die Herstellung scharfer Grenzen zwischen Verschiedenem, durch gegensätzliche Merkmale Gekennzeichnetem, und die Nebeneinanderstellung von Gleichem oder Ähnlichem sowie meist auch noch die stufenweise Unterteilung von Einheiten in wiederum einander jeweils ähnliche kleinere 132

Einheiten, also die möglichste Durchsetzung gerade der jetzt von uns behandelten Strukturen, eingeschlossen das uns aus dem Körperbau so vieler Lebewesen wohlbekannte Verkleinerungsprinzip in seiner speziellenForm der fortschreitenden Verzweigung. Es ergibt sich so, daß die möglichst vollkommene Realisation der für einen „schönen" Eindruck unerläßlichen Formprinzipien das Kunstwerk ganz von selbst zu einem Muster für alles überhaupt von Menschen zu Schaffende werden läßt. In der darin liegenden Funktion des formalen Vorbildes werden wir bald eine Aufgabe erkennen, die jedes Kunstwerk erfüllen muß, wenn es überhaupt als solches wirken soll. Um aber wieder zu unserem augenblicklichen Thema zurückzukehren, das wir ja noch nicht erschöpft haben, nämlich der Untersuchung der Bedingungen, unter denen der Eindruck des Schönen ganz allgemein entsteht: Es wäre offensichtlich ein Irrtum anzunehmen, daß die bisher behandelten formalen Voraussetzungen allein dazu schon ausreichen. Daß dem tatsächlich nicht so ist, beweisen uns schlagend gewisse Objekte, an denen die genannten Bedingungen zweifellos erfüllt sind, ohne daß wir sie jedoch als „schön" im ästhetischen Sinne zu bezeichnen vermöchten. Zunächst wären hier gewisse Tiere zu nennen. Empfinden wir z. B. die Wanze als schön? Oder die Kröte? Oder einen Menschenaffen wie etwa den Gorilla? Ich glaube, daß das im allgemeinen absolut nicht der Fall ist, obgleich die von uns schon erkannten Voraussetzungen dafür ganz gewiß gegeben sind, und keineswegs in geringerem Grade als bei anderen Tieren, die sehr wohl unser Gefallen zu erwecken vermögen. Woran liegt das? Erfüllt etwa der Körperbau dieser Tiere gewisse andere formale Ansprüche nicht, die wir noch nicht erwähnt haben, die aber ästhetisch vielleicht ebenso wichtig sind wie die schon genannten? Ich glaube, daß die Gründe der ästhetischen Ablehnung hier überhaupt nicht formaler Art sind, sondern moralischer. Nehmen wir z. B. den Gorilla! Unbestreitbar ist sein Körper den Aufgaben, die ihm gestellt sind, nicht weniger gut angepaßt als beispielsweise der Körper des Tigers den seinen. Die formalen Prinzipien der Formenwiederholung, der Vergrößerung oder Verkleinerung sowie der Verzweigung sind in ihm nicht schlechter verwirklicht. Der Symmetrieforderung und gewiß auch allen weiteren Ansprüchen, die aus Integralkriterien für die „Güte" seiner Körperfunktionen entspringen mögen, ist sicherlich ebenfalls nicht weniger Genüge getan. Ebenso ist der zu Erzeugung des ästhetischen Gefallens notwendige Eindruck des Vorhandenseins gewisser Gegensätzlichkeiten vorhanden, und sogar in recht ähnlicher Weise wie beim Tiger: auch in der Erscheinung des Gorillas ist ja außergewöhnliche Kraft mit ebenso hervorragender Gewandtheit und Geschmeidigkeit gepaart. Nur die bunte Farbe des Felles fehlt, was aber doch wohl kaum entscheidend sein kann. Mir scheint nun, was uns den Gorilla wie auch die anderen großen Affen in gewisser Weise abstoßend macht und uns hindert, sie als schön anzuerkennen, ist einfach der Vergleich mit dem Menschlichen, der bei anderen Tieren im einzelnen kaum möglich ist. Beim Gorilla, beim Schimpansen und beim Orang-Utang drängt er sich aber wegen 133

ihrer relativen Menschenähnlichkeit geradezu auf und fällt deswegen so unvorteilhaft aus, weil bei diesen Tieren gewiß sehr ausgeprägte körperliche Eigentümlichkeiten vorhanden sind, die wir, sobald sie, wenn auch in viel geringerem Grade, bei einem Menschen hervortreten, als Anzeigen nicht gerade vorteilhafter Charaktereigenschaften werten. Ich denke da vor allem an die gebückte Körperhaltung bei der Fortbewegung am Boden und die Haltung des Kopfes wie der Gliedmaßen, die bei den Tieren natürlich rein anatomisch bedingt sind und weiter nichts bedeuten als eine gelungene Anpassung an ihre Lebensweise, beim Menschen aber wahrscheinlich Mangel an Selbstbewußtsein und vielleicht auch Hinterlist und Verschlagenheit bedeuten würden. In ähnlicher Weise werden wir geneigt sein, den tiefliegenden Augen und der niedrigen Stirn rein „gefühlsmäßig" eine Bedeutung zuzuschreiben, die ihnen in Wirklichkeit nicht zukommen kann. Was uns hier interessieren muß, ist aber weniger die Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung solcher Deutungen, die im Einzelfall vielleicht auch durch besseres Wissen zurückgedrängt werden können, als die Tatsache, daß sie, wenn auch nicht immer bewußt im engeren Sinne des Wortes, im allgemeinen eben doch wahrgenommen werden und dann ohne Zweifel wesentlich dazu beitragen, ein positives ästhetisches Urteil zu verhindern, eben weil sie mit einem moralisch abwertenden „Nebenurteil" verbunden sind. Grundsätzlich ebenso liegen die Dinge bei der Kröte und der Wanze. Beider Körperbau folgt natürlich bestimmten Leitbildern und muß die sich dabei ergebenden uns bekannten formalen Eigenschaften aufweisen, deren Vorhandensein auch hier leicht festzustellen ist. Ein Vergleich mit unserem eigenen Körperbau liegt nicht so nahe wie bei den Affen — trotzdem werden wir ihn speziell bei der Kröte wohl immer unwillkürlich ziehen und die Bildung ihres Körpers als „plump" empfinden. Dasselbe Prädikat werden wir unweigerlich ihrer Bewegungsart erteilen und darin auch noch etwas Anderes, mit Worten schwer Beschreibbares fühlen, das uns abstößt, weil wir es am Menschen — und auch da vielleicht gar nicht einmal mit Recht — vermutlich als ein Zeichen „niedriger" Sinnesart, jedenfalls aber als ein moralisches Manko deuten würden. Ebenso werden wir den Körper der Wanze als plump beurteilen — freilich nicht die flinke Art ihrer Fortbewegung. Dazu kommt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt: Wir müssen dieses Insekt nicht nur als lästig, sondern geradezu als schädlich, nämlich den Geboten der Reinlichkeit und Hygiene im Wege stehend betrachten, und auch das beeinflußt doch wohl zusammen mit dem Gefühl des körperlichen Unbehagens, das schon der Gedanke daran auslöst, unser ästhetisches Urteil — wie denn gewiß überhaupt alles, was eine irgendwie biologisch verständliche Abneigung und womöglich gar körperlichen Ekel in uns hervorruft, damit auch schon ein sonst vielleicht mögliches Schönheitsempfinden im Keime erstickt. Hier wird sich vielleicht die Frage erheben, ob denn derartige Argumente als moralisch gelten können. Die Antwort darauf wird freilich ganz davon abhängen, welchen Inhalt man dem Begriff des Moralischen erteilt. Das eigentliche Prinzip alles Biologischen liegt gewiß im Streben nach Erhaltung des Lebens. Wenn uns etwas körperlich abstößt, so immer nur deshalb, weil wir es als im Zusamenhang 134

mit einem diesem Streben Feindlichen stehend, als ein Symbol für Tod und Krankheit empfinden. Und nun kommt es wieder auf die lebensbejahende oder lebensverneinende ethische Grundeinstellung an, von der wir schon mehrmals gesprochen haben: Bejaht man das Leben, so wird man seine Erhaltung auch als ein moralisches Gebot ansehen müssen und sich nicht scheuen dürfen, insbesondere auch den Grundforderungen der persönlichen wie öffentlichen Hygiene, die doch einen notwendigen Bestandteil der modernen Kultur darstellt, ein moralisches Gewicht zuzuerkennen. Damit erhält aber jedes unhygienischen Erscheinungen gegenüber auftauchende Gefühl der körperlichen Abneigung automatisch einen positiven ethischen Akzent! Das ästhetische Gewicht der kulturellen Ansprüche zeigt sich aber in anderem Zusammenhang noch viel deutlicher. Wir haben schon von dem Eindruck des Schönen gesprochen, den wir beim Anblick von Ländschaften empfangen können. Ich glaube sogar, gerade auf unser modernes Empfinden wirkt schlechterdings jede natürliche Landschaft, wenn auch sicher nicht jede in demselben Maße, als „schön", sofern sie nur nicht etwa, was ja auch vorkommt, durch unvernünftige menschliche Eingriffe „verschandelt" worden ist, wie wir uns auszudrücken pflegen. Es liegt wohl nahe anzunehmen, daß eine solche Verschandelung immer darauf hinauskommen wird, daß die für die ästhetische Wirkung unentbehrliche Struktur an irgendeinem Punkte zerstört ist, woraus man dann folgern könnte, daß wenigstens im Falle der Landschaften, anders als im Tierreich, die ungestörte Verwirklichung der nun mehrfach genannten formalen Prinzipien doch schon allein hinreichend zur Begründung eines positiven ethischen Urteils ist. Gleichwohl ist das falsch. Auch hier können nämlich im eben erläuterten Sinne „moralische" Gründe dies verhindern, und zwar erkennen wir das sehr schnell, wenn wir unseren Blick einmal in die Vergangenheit richten. Da stellen wir nämlich fest, daß noch bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Begriff der „schönen" Landschaft so gut wie gleichbedeutend mit dem der kultivierten, wohlbebauten war, und es niemandem einfiel, die „rohe" unberührte Natur mit dem Prädikate des „Schönen" zu bedenken. Wenn das aber so war, warum empfinden wir dann heute nicht mehr so? Die Antwort ist nicht schwer: weil sich eben die aus der ethischen Forderung im einzelnen ergebenden moralischen Ansichten gerade in diesem Punkte entscheidend geändert haben, und zwar als Folge der in der Zwischenzeit eingetretenen Entwicklung unserer technischen Mittel. Jahrtausendelang gelang es nämlich dem Menschen nur, einen relativ kleinen Teil der Natur seinem Willen zu unterwerfen. Ihrem oft noch als übermächtig empfundenen ungezähmten Teil gegenüber befand sich die menschliche Kultur in einem dauernden Abwehrkampf. Diesen Teil Ständig zurückzudrängen und nach Möglichkeit zu verkleinern, mußte als oberstes Gebot erscheinen. Heute dagegen ist umgekehrt die freie Natur schon an vielen Stellen ganz in die Defensive geraten, so daß wir es schon als eine moralische Pflicht ansehen müssen, ihre da und dort drohende völlige Vernichtung zu verhindern. Und dies wiederum ist eben der moralische Grund, der macht, daß wir überhaupt dahin gelangen, die objektiv natürlich von jeher vorliegende harmo135

nische Struktur der unberührten Natur zu bemerken und subjektiv als „schön" zu empfinden. Es ist also offenbar allgemein so, daß zu den formalen auch noch in dem einen oder anderen Sinn „moralische", aus der recht verstandenen ethischen Forderung entspringende Gründe hinzutreten müssen, wenn wir irgendeinem Naturgegenstand gegenüber zu einem ästhetisch positiven Urteil gelangen sollen. Auch die Tiere, die wir vorhin als Beispiele für in unseren Augen schöne Naturgestalten angeführt haben, das Reh und der Tiger, bilden hier keine Ausnahmen. Die von uns als ästhetischer Reiz empfundene Vereinigung gewisser Eigenschaften, die sie tatsächlich besitzen, oder die wir ihnen bei der Betrachtung unwillkürlich zulegen, macht nämlich gleichzeitig einen Bestandteil von praktischen ethischen Idealen aus, die für unser eigenes Leben nicht ohne Bedeutung sind. Tiere, die wir nicht als die Verkörperung derartiger Eigenschaften empfinden können, vermögen uns auch den Eindruck des Schönen nicht zu vermitteln. Wir können uns wohl ersparen, für diesen Sachverhalt noch weitere Beispiele beizubringen. Jedenfalls dürfen wir feststellen, daß die auch im heutigen Bewußtsein noch nachwirkenden historischen Lehren, wonach das Wesen der Schönheit allein im Formalen liege, zumindest im Bereich der Natur nicht zutreffen. Was uns nun interessieren muß, ist die Frage, wie es damit im Reiche der Kunst steht. 14. Vorlesung Um zunächst eine Antwort auf die am Ende der letzten Vorlesung gestellte Frage zu geben: Ich bin der Meinung, daß die Bedingungen, unter denen sich ein ästhetischer Eindruck einstellt, innerhalb und außerhalb der Kunst grundsätzlich nicht verschieden sind, oder mit anderen Worten, daß auch in der Kunst sich das ästhetische und das moralische Moment nicht trennen lassen. Wir werden diese Behauptung bald noch präzisieren und auch im einzelnen beweisen. Einstweilen wollen wir aber noch einen Unterschied näher betrachten, der die meisten Kunstwerke von allen Naturgegenständen trennt und der darin besteht, daß ihnen von Seiten des Künstlers ein mehr oder weniger deutlich erkennbarer, von ihnen selbst verschiedener Gegenstand zugeordnet erscheint, den sie „darstellen". Was hat dieser Gegenstand für das Kunstwerk zu bedeuten? Wir beginnen mit der Malerei. Als materieller Gegenstand betrachtet, ist jedes Gemälde zunächst einmal eine flächige Anordnung von Farben, die scharf voneinander abgesetzt oder ineinander übergehend, selbst flächig oder auch linienoder punktartig aufgetragen sein können. Wenn wir vorläufig noch von der sogenannten „gegenstandslosen" abstrakten Kunst absehen, geben diese Farben in ihrer Gesamtheit nun Teilmerkmale irgendwelcher uns bekannter materieller Gegenstände wieder, die wir nach dem „pars-pro-toto"-Gesetz der sinnlichen Wahrnehmung in ihrem Bilde grundsätzlich auf dieselbe Weise erkennen wie in der Wirklichkeit. Allerdings wird die bildliche Wiedergabe stets gewisse für den Originalgegenstand wesentliche Merkmale vermissen lassen müssen — z. B. das Merkmal der räumlichen Ausdehnung —, und dieser Mangel kann bei ungeübten 136

nische Struktur der unberührten Natur zu bemerken und subjektiv als „schön" zu empfinden. Es ist also offenbar allgemein so, daß zu den formalen auch noch in dem einen oder anderen Sinn „moralische", aus der recht verstandenen ethischen Forderung entspringende Gründe hinzutreten müssen, wenn wir irgendeinem Naturgegenstand gegenüber zu einem ästhetisch positiven Urteil gelangen sollen. Auch die Tiere, die wir vorhin als Beispiele für in unseren Augen schöne Naturgestalten angeführt haben, das Reh und der Tiger, bilden hier keine Ausnahmen. Die von uns als ästhetischer Reiz empfundene Vereinigung gewisser Eigenschaften, die sie tatsächlich besitzen, oder die wir ihnen bei der Betrachtung unwillkürlich zulegen, macht nämlich gleichzeitig einen Bestandteil von praktischen ethischen Idealen aus, die für unser eigenes Leben nicht ohne Bedeutung sind. Tiere, die wir nicht als die Verkörperung derartiger Eigenschaften empfinden können, vermögen uns auch den Eindruck des Schönen nicht zu vermitteln. Wir können uns wohl ersparen, für diesen Sachverhalt noch weitere Beispiele beizubringen. Jedenfalls dürfen wir feststellen, daß die auch im heutigen Bewußtsein noch nachwirkenden historischen Lehren, wonach das Wesen der Schönheit allein im Formalen liege, zumindest im Bereich der Natur nicht zutreffen. Was uns nun interessieren muß, ist die Frage, wie es damit im Reiche der Kunst steht. 14. Vorlesung Um zunächst eine Antwort auf die am Ende der letzten Vorlesung gestellte Frage zu geben: Ich bin der Meinung, daß die Bedingungen, unter denen sich ein ästhetischer Eindruck einstellt, innerhalb und außerhalb der Kunst grundsätzlich nicht verschieden sind, oder mit anderen Worten, daß auch in der Kunst sich das ästhetische und das moralische Moment nicht trennen lassen. Wir werden diese Behauptung bald noch präzisieren und auch im einzelnen beweisen. Einstweilen wollen wir aber noch einen Unterschied näher betrachten, der die meisten Kunstwerke von allen Naturgegenständen trennt und der darin besteht, daß ihnen von Seiten des Künstlers ein mehr oder weniger deutlich erkennbarer, von ihnen selbst verschiedener Gegenstand zugeordnet erscheint, den sie „darstellen". Was hat dieser Gegenstand für das Kunstwerk zu bedeuten? Wir beginnen mit der Malerei. Als materieller Gegenstand betrachtet, ist jedes Gemälde zunächst einmal eine flächige Anordnung von Farben, die scharf voneinander abgesetzt oder ineinander übergehend, selbst flächig oder auch linienoder punktartig aufgetragen sein können. Wenn wir vorläufig noch von der sogenannten „gegenstandslosen" abstrakten Kunst absehen, geben diese Farben in ihrer Gesamtheit nun Teilmerkmale irgendwelcher uns bekannter materieller Gegenstände wieder, die wir nach dem „pars-pro-toto"-Gesetz der sinnlichen Wahrnehmung in ihrem Bilde grundsätzlich auf dieselbe Weise erkennen wie in der Wirklichkeit. Allerdings wird die bildliche Wiedergabe stets gewisse für den Originalgegenstand wesentliche Merkmale vermissen lassen müssen — z. B. das Merkmal der räumlichen Ausdehnung —, und dieser Mangel kann bei ungeübten 136

Betrachtern das Erkennen sehr erschweren. So sind bekanntlich primitive Menschen, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Photographie sehen, die doch sicher die naturgetreueste aller bildlichen Wiedergaben leistet, im allgemeinen gleichwohl zunächst außerstande, auf ihr auch nur das Geringste auszumachen, und das ist auch ganz begreiflich. Diese Fähigkeit setzt ja das Bestehen einiger neuronaler Verbindungen voraus, die nicht mit denen identisch sind, die das Erkennen des Dargestellten in der Wirklichkeit ermöglichen und die in jedem Einzelhirn eben erst durch Lernprozesse gebildet werden müssen. Bleiben wir aber vorerst noch beim Gemälde, und nehmen wir an, daß es uns bezüglich des dargestellten Gegenstandes keine Rätsel aufgibt. Denken wir etwa an ein Porträt! Wir werden, wenn wir es in einer Ausstellung erblicken, vielleicht unbeteiligt an ihm vorübergehen, vielleicht wird es aber auch unsere Aufmerksamkeit erregen, es wird uns etwas „sagen", auch wenn wir die dargestellte Person nicht kennen. Was kann das eigentlich sein? Ich denke, die eigentliche künstlerische Aussage — und um eine solche, wollen wir annehmen, handelt es sich — kommt stets zu einem sehr wesentlichen Teil dadurch zustande, daß der spezielle konkrete Gegenstand, dem die Darstellung gilt, also in unserem Beispiel ein uns unbekannter Mensch, der uns als solcher gar nicht interessieren kann, auf dem Bilde als Träger gewisser Eigenschaften erscheint, die nicht nur ihm eigentümlich sind und für die er gewissermaßen nur ein Demonstrationsobjekt bildet. Im Falle, daß diese allgemeinen Züge des Dargestellten auch unsere persönlichen Interessen berühren und für unsere eigene Lebensführung von Bedeutung sind, fühlen wir uns gefesselt, sonst nicht. Unser Interesse wird aber regelmäßig nur erweckt, wenn wir in dem Betrachteten einen Appell verspüren, sei es zum Nachdenken, sei es zum Handeln, dem wir folgen oder den wir ablehnen können, der abtfr, wie gesagt, stets eine Beziehung zu den wesentlichen Inhalten unseres eigenen Lebens besitzen muß, wenn wir ihm Beachtung schenken sollen. Alles, was in dieser Weise unsere äußere oder innere Lebensführung betrifft, erhält aber damit auch schon für uns eine moralische Bedeutung, die davon abhängt, ob es uns der Gesamterfüllung des ethischen Ideals, dem wir folgen, näherbringt oder uns davon entfernt. Dabei versteht sich, daß ein jedes Bildnis, das die Mühe seiner Herstellung lohnen soll, eine solche moralische Bedeutung, und zwar eine positive, nicht nur für einen einzigen Betrachter, sondern für viele, und damit für die Allgemeinheit, die Gesellschaft als Ganzes besitzen muß. Mit anderen Worten: Es muß nicht nur auf das eine oder andere individuelle, sondern auch auf das kollektive Bewußtsein der Beschauer, an die es sich wendet, und speziell auch auf den moralischen Teil ihres Bewußtseins zu wirken imstande sein. Offenbar gilt genau dasselbe für einen Roman, in dem uns nicht einmal wirkliche, sondern nur erfundene Personen vorgestellt werden, die lediglich in der Phantasie des Autors existieren. Auch sie können ein allgemeineres Interesse nur als „Demonstrationsobjekte" für allgemeinere Zusammenhänge wachrufen, deren Erfassung für die Fortbildung des kollektiven moralischen Bewußtseins einer bedeutenden Gruppe von Menschen, z. B. einer ganzen Nation oder Klasse, wichtig ist. Der 137

Unterschied besteht nur darin, daß es jetzt nicht Farben, Flächen und Linien, sondern Worte sind, die als Mittel der Darstellung fungieren. Oder nehmen wir die Musik! Speziell in der Stilrichtung des 19. Jahrhunderts wird sie stets recht lebhafte innere Erlebnisse wachrufen, für die nunmehr der Komplex musikalischer Elemente das Darstellungsmittel bildet, und die wir ohne weiteres in demselben Sinne als „Gegenstände" der Darstellung betrachten dürfen, wie die in einem Roman oder auf der Leinwand eines Gemäldes erscheinenden Personen, und auch jetzt wird die Darstellung einen größeren Personenkreis nur fesseln können, wenn die Empfindungen, die sie zu erregen vermag, aus denselben Gründen, wie wir sie eben schon dargelegt haben, eine kollektive Bedeutung, und zwar wohlverstanden eine solche moralischer Art besitzen. Gerade die Musik liefert uns übrigens recht eindrucksvolle Beispiele für die oft enge Verknüpfung desjenigen Teils des ethischen Ideals, der die persönliche Lebensführung betrifft, mit jenem anderen, in der individualistischen Epoche unserer Kultur so gern geleugneten Teil dieses Ideals, der sich auf das Wohlergehen, die Erhaltung und die Fortentwicklung der Gesellschaft bezieht, der der einzelne angehört. Denken wir nur an die Werke B E E T H O V E N S ! Seine Begeisterung für die französische Revolution ist bekannt. Tatsächlich ist alles, was er geschrieben hat, ein einziger Aufruf zur Revolution, zur Aufrüttelung der Geister, die er auffordert, die Fesseln der Vergangenheit abzuwerfen. Das gilt aber nun, und sogar in besonderem Maße, auch für diejenigen seiner Werke, die oft rein lyrisch aufgefaßt und lediglich in ihrer Bedeutung für das persönliche Erleben des einzelnen gewürdigt werden. In Wirklichkeit bildete eben damals gerade das unmittelbare, aus der Tiefe des Herzens entspringende, vom Zwange der höfischen Etikette befreite und zur Leidenschaft gesteigerte menschliche Gefühl die stärkste revolutionäre Kraft. Charakteristisch ist die wiederholte Äußerung des Komponisten, daß er mit seiner Musik nicht „rühren", sondern „anfeuern" wolle. Erst der saturierten bürgerlichen Gesellschaft, die sich von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an bildete, war es vorbehalten, uns diesen Sinn zu verschleiern und den Vorkämpfer der Revolution als fast ausschließlich mit seinem körperlichen Leiden beschäftigt darzustellen. In dem eben dargelegten Sinne ist übrigens die Musik Franz SCHTJBEBTS kaum weniger revolutionär als die B E E T H O V E N S . Sehr im Gegensatz dazu steht die künstlerische Aussage der vorrevolutionären Musik des Barock. Obgleich sich in ihren letzten Werken auch schon Gefühlsstürme ankündigen, die bei ihrer weiteren Auswirkung das Bestehende auf keinem Gebiet der menschlichen Kultur unangetastet lassen konnten, trägt sie doch insgesamt noch weitgehend den Stempel glücklicher, durchaus harmonischer Empfindungen, in denen sich die Befriedigung über den Bestand einer innerlich wie äußerlich scheinbar noch wohlgeordneten Welt ausdrückt. Sehr deutlich zeigt sich das vor allem in den kultisch oder höfisch bestimmten Werken, wo die polyphonische Satzart mit ihren bald gegeneinander, bald einträchtig miteinander laufenden Stimmen im ganzen stets eine Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit verkörpert, wie wir sie uns nicht vollkommener vorstellen 138

können. Man kann wohl sagen, daß auf diese Weise dem Hörer nicht nur bestimmte seelische Empfindungen vermittelt werden, sondern daß die Struktur dieser Musik ihm gleichzeitig ein Abbild der Welt liefert, wie sie damals zu sein schien. Sie demonstriert das Weltbild, das die Veranlassung zu den wiedergegebenen Empfindungen war, und der Appell, den sie enthält, kann nur der zur Einordnung in das Bestehende und zu seiner Erhaltung sein. Doppeldarstellungen nach Art der eben erläuterten bilden übrigens eine häufige Erscheinung nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Kunstarten. Wir werden darauf noch zurückkommen. Es verlohnt sich für uns noch die Frage, auf welche Weise und auf Grund welcher Oesetzmäßigkeiten es eigentlich überhaupt möglich ist, innere Vorgänge des Gemüts zum Gegenstand musikalischer Darstellung zu machen. Die Beschäftigung damit ist wohl auch deswegen von gewissem Interesse, weil darüber ganz allgemein noch keine rechte Klarheit zu herrschen scheint. Wir stellen uns zunächst die Vorfrage, auf welchem Wege wir denn sonst noch, außerhalb der Kunst, im täglichen Leben, Kenntnis vom Innenleben unserer Mitmenschen zu erlangen pflegen. Offenbar geschieht das auf recht verschiedene Weisen. Zunächst ist natürlich die Sprache imstande, direkte Mitteilungen dieser Art von Mensch zu Mensch zu übermitteln. Indessen ist die Bedeutung dieses Kommunikationsweges nicht so groß, wie es zunächst vielleicht scheinen möchte. Auch wenn wir von der etwas zynischen, freilich manchmal nicht ganz unberechtigten Meinung absehen, daß die Sprache vor allem ein Mittel zur Verheimlichung der wahren Gedanken sei, bleibt doch der Umstand, daß stets ein nicht kleiner Teil des allgemeinen wie des aktuellen Bewußtseins nicht ins engere Bewußtsein vordringen kann und sich deswegen schon von vornherein der sprachlichen Mitteilung entzieht. Mehr als aus den Worten läßt sich daher oft aus den Handlungen eines Menschen entnehmen, wenn wir erfahren wollen, was in seinem Innern vorgeht. Die vielleicht aufschlußreichste Informationsquelle sind aber im allgemeinen gewisse unwillkürliche und oft von ihrem Träger selbst gar nicht bemerkte Muskelbewegungen. Man kann unter ihnen zwei Arten unterscheiden. Die erste besteht aus ganz bestimmten voneinander wohlunterscheidbaren Gesten, von denen jede ihre besondere Bedeutung besitzt. Im allgemeinen lassen sich diese Gesten als atavistische Reste früher einmal zweckbestimmter Reaktionen deuten, so etwa das Heben der Hände im Schreck, das natürlich seiner Herkunft nach eine Abwehr* und Verteidigungsmaßnahme bedeutet, oder die Verkleinerung des Abstandes zwischen den Augenlidern, die wir bei vielen Menschen z. B. wahrnehmen, wenn sie eine unangenehme Nachricht erreicht. Auch hier handelt es sich ursprünglich gewiß um nichts anderes als um eine Schutzmaßnahme für dieses empfindliche Organ, die übrigens bei körperlicher Gefahr auch jetzt noch wirksam wird — als Begleiterscheinung der Kenntnisnahme von Umständen, die keine unmittelbare körperliche Bedrohung mehr bedeuten, aber zur Bedeutung einer bloßen Ausdrucksbewegung herabsinkt, die nur noch etwas über die innere Einstellung des sie Ausführenden zu der erhaltenen Mitteilung aussagt. 139

Die zweite Art unwillkürlicher Muskelbetätigungen, die wir jetzt im Auge haben, äußert sich nicht in einzelnen Gesten, sondern darin, daß alle in einem bestimmten Augenblick vor sich gehenden Bewegungen, ob sie als Ganzes nun unwillkürlich oder beabsichtigt sind, bestimmte allgemeine Merkmale erhalten, die gleichzeitig die innere, seelische Verfassung ihres Urhebers charakterisieren. So können z. B . alle Bewegungen der Gliedmaßen etwas Eckiges, Abruptes oder im Gegenteil Fließendes, Gleitendes, Schwingendes erhalten. Sie können auch allesamt schnell und treffsicher oder im Gegenteil langsam und zögernd vor sich gehen, oder was sich an dergleichen allgemeinen Charakteristiken sonst noch ergeben mag. Dabei prägen sich solche Eigentümlichkeiten aber regelmäßig nicht nur im optisch wahrnehmbaren Verhalten, sondern ebenso im Klang der Stimme aus: dieser wird j a ebenso wie die Bewegungen der Gliedmaßen und des Rumpfes durch die Betätigung von Muskeln erzeugt, nämlich derjenigen, die die Stimmbänder spannen und anderer, die die Atemluft zwischen ihnen hindurchpressen. In jedem Falle aber, in dem Muskeln in Tätigkeit kommen, erhält diese Tätigkeit unweigerlich eine Ausdrucksfunktion dadurch, daß doch der Teil des Zentralnervensystems, der sie innerviert, mit allen anderen Teilen des Gesamtsystems wie überhaupt des ganzen Organismus immer in der engsten Wechselwirkung steht, so daß sich bestimmte Charakteristika der Arbeit des einen Teils stets auch den anderen mitteilen, ja sich von vornherein überhaupt nur im Zusammenwirken mit dem Ganzen herausbilden können. Die Folge ist, daß irgendwelche allgemeinen Merkmale der Muskelbetätigung von der Art, wie wir sie zuletzt aufgeführt haben, immer zugleich die gesamte Arbeitsweise des Organismus im gegebenen Augenblick charakterisieren. Was auf diese Weise von außen erkennbar wird, sind natürlich nur Teilmerkmale des Gesamtvorganges, und wenn wir aus ihnen tatsächlich auf das Ganze zu schließen vermögen, so ist hier wahrscheinlich wieder der Nachahmungstrieb im Spiele, den wir ja schon als eine sehr wesentliche Äußerung des allgemeinen Gesellschaftstriebes bei Mensch und Tier kennengelernt haben. Tatsächlich läßt sich in Tier- wie Menschengemeinschaften, selbst wenn ihre Zusammenstellung nur ganz zufällig ist und keine tiefere Bindung besteht, stets eine gewisse Gemeinsamkeit der Haltung wie der Bewegungen beobachten, deren Art und Weise ständig wechselseitig „abfärbend" wirkt. Nun gibt es aber zweifellos auch eine Art „pars-pro-toto"-Gesetz der Nachahmung, das sich übrigens neurokybernetisch leicht anhand der vielfachen gegenseitigen Verknüpfung der verschiedenen Gehirnzentren und der Art der Ausbreitung jeder Teilerregung über diese Verknüpfungen ableiten läßt. Diese Verknüpfung bewirkt ja, daß die (unwillkürliche) Nachahmung der Ausdrucksbewegungen eines anderen regelmäßig nicht auf diese beschränkt bleibt, sondern immer, wenn nicht die Gesamtheit, so doch einen Teil auch der innern Vorgänge mit mobilisiert, als deren Ausdruck die fraglichen Bewegungen fungieren. Ersichtlich werden damit stets Signale erzeugt, die, auch wenn sie nur einen Teil des nachzuerlebenden inneren Vorganges betreffen, grundsätzlich imstande sind, einen Speicher der inneren Wahrnehmung zu erregen, damit das Ganze des fraglichen Vorganges ins engere Bewußtsein 140

zu bringen und im allgemeinen sogar einer sprachlichen Bezeichnung zugänglich zu machen. Ebenso wird damit verständlich, daß wir mit einem anderen Menschen auch „mitfühlen" können, ohne daß das uns Bewegende gleichzeitig in unser engeres Bewußtsein tritt, so daß wir also auch nicht imstande sind, es mit Namen zu nennen. Es kann dies zwei Gründe haben: Zunächst brauchen ja ohnehin nicht alle Vorgänge unseres allgemeinen Bewußtseins ins „engere" Bewußtsein zu treten, z. B. wenn ein entsprechender Speicher der inneren Wahrnehmung gar nicht vorhanden ist oder wenn der Speicher zwar vorhanden, die Stärke der Eingangssignale aber zu gering ist, um ihn zum Ansprechen zu bringen. Es könnte aber auch sein, daß das Nacherlebte wegen seiner Unvollständigkeit vieldeutig bleibt, so daß mehr als nur ein Speicher der inneren Wahrnehmung erregbar wird. In diesem Falle liegt also eine gewisse Unbestimmtheit des Miterlebens vor, die unter Umständen als solche auch im engeren Bewußtsein registriert werden kann. Wir haben diese Dinge deswegen verhältnismäßig ausführlich behandelt, weil sie den Schlüssel für das Verständnis der Wiedergabe innerer Vorgänge in der Musik, und, wie wir bald sehen werden, nicht einmal nur in ihr, bilden. Vielleicht machen wir uns einmal klar, wie der Ausdrucksgehalt der menschlichen Stimme im einzelnen zustande kommt! Stärkere Betätigung der Atemmuskeln läßt sie lauter werden, stärkere Anspannung der Stimmbänder erhöht die Tonlage. Daher ist sowohl das Anheben der Stimme wie ihr Lauterwerden ein Zeichen zunehmender allgemeiner Erregung, die sich ja regelmäßig auch auf die fraglichen Muskeln ausdehnen wird. Erregungsbedingte Verkrampfungen im Stimmapparat können außerdem die akustische Schwingungsform verzerren, so daß der Stimmklang etwas Schrilles erhält. Diese selben ausdrucktragenden Merkmale des Stimmklangs und noch andere ebenso wirkende Besonderheiten der „Klangfarbe", die nicht so leicht mit Worten zu beschreiben sind, lassen sich aber ebenso musikalischen Tönen erteilen, auch wenn sie von Instrumenten erzeugt werden, und da sogar in einer Steigerung, wie sie die menschliche Stimme gar nicht zustande bringt. Wir brauchen uns nur einmal den Klang eines Orchesters vorzustellen, um das sofort einzusehen. Die Bereiche, in denen da Lautstärke wie Tonhöhe und Klangfarbe geändert werden können, sind jedenfalls unvergleichlich viel größer als bei der menschlichen Stimme. Dazu kommen die von den Erfordernissen der Sprach Verständigung freien Möglichkeiten der Variation des Bewegungscharakters der verschiedenen Tonfolgen, die auch nicht notwendig immer nur nacheinander, sondern ebenso einander homophon oder polyphon überlagert erklingen können. Offenbar ist, um die gegenüber der Stimme entsprechend gesteigerte Ausdruckskraft der Musik zu erklären, nur die Annahme nötig, daß das „pars-pro-toto"-Gesetz der Nachahmung wie das der inneren Wahrnehmung beim Hören der Musik ebenso wirksam wird wie beim Anhören der Rede eines Mitmenschen. Gleichzeitig macht unsere von neurokybernetischen Voraussetzungen ausgehende Erklärung es begreiflich, daß dem musikalischen Ausdruck, wenn ihm nicht das Wort in Gestalt eines gesungenen Textes oder gedruckter programmatischer Er141

klärungen zu Hilfe kommt, trotz seiner Intensität sehr oft eine gewisse Unbestimmtheit oder, besser gesagt, Vieldeutigkeit anhaftet. Wir werden übrigens bald einsehen, daß diese Vieldeutigkeit auch sonst in der Kunst vorkommt, ja an gewissen Stellen sogar von prinzipieller Bedeutung ist und auf keinen Fall immer einen Mangel bedeutet. Vorerst wollen wir uns aber klar machen, daß das Prinzip der Darstellung innerer Erlebnisse durch sehr allgemeine Strukturmerkmale eines Dargebotenen in der Kunst keineswegs auf die Musik beschränkt ist. Am offensichtlichsten zeigt sich das vielleicht in der Dichtkunst. Nicht umsonst spricht man ja von einer „Musik der Sprache", die schon in der künstlerischen Prosa, vor allem aber in der Poesie eine große Rolle spielt, wo sie oft entscheidend auf die Wortwahl einwirkt. Wir erkennen damit, daß jedes Dichtwerk, in dem dieser Effekt zur Geltung kommt — und das ist in höherem oder geringerem Grade immer der Fall —, auf diese Weise zwei nebeneinanderlaufende gegenständliche Darstellungen vermittelt: außer der im logischen Sinn der Worte enthaltenen noch die „musikalische" Wiedergabe von Gemütsbewegungen. Indessen gilt Analoges auch für die Malerei, die Bildhauerei und die Architektur, überhaupt für alle Künste, die auf das Auge wirken und ihm bestimmte räumliche oder flächenhafte Gestalten darbieten. Deren Form wird in unserer Wahrnehmung nämlich zum großen Teil durch die Art der Augenbewegung erfaßt, die entsteht, indem das Auge den Konturen des dargebotenen Objektes folgt, und diese Bewegungen können natürlich wieder als Träger all der allgemeinen Strukturmerkmale dienen, die wir bereits als Vermittler des Ausdrucks innerer Erlebnisse kennengelernt haben, und sie tun es auch. Die Werke der bildenden Kunst leisten demnach durchweg ebenfalls eine Doppeldarstellung. In der Architektur bestätigen unsere Erkenntnisse unter anderem auch die bekannte Wichtigkeit der „Silhouette" für die künstlerische Wirkung. Selbstverständlich bezieht sich das eben über den Ausdrucksgehalt optisch wahrnehmbarer Formen Gesagte auch auf den Film, soweit er sich an das Auge wendet, wobei aber nun eine sehr wesentliche Ausdruckskraft außer von den Merkmalen, der Bewegung des Bildes selbst auch noch von der Bewegung der in ihm erscheinenden Objekte ausgeht. Bei allen durch das Auge zu uns sprechenden Künsten können auch die Farben als Vermittler von Gemütswerten eine große und sogar entscheidende Bedeutung erhalten. In diese Richtung deutet schon die bekannte Unterscheidung von „warmen" und „kalten" Farben, die auch oft als relative „Wärme" oder „Kälte" wirksam wird. Ebenso ist seit langem bekannt, daß wir Rot als auf uns eindringend, Blau als zu sich hinziehend, und Grün als beruhigend empfinden. Wenigstens die letzteren Effekte scheinen mir nun durchaus verständlich, wenn man sie ähnlich wie gewisse Gesten als Atavismen deutet. Blau ist ja die Farbe der Ferne, die den als Jäger und Sammler schweifenden Urmenschen immer anlocken mußte, während das Rote als langwelliges Licht vorwiegend aus der Nähe stammt, die immer im Verdacht stehen mußte, unvermutet andringende Gefahren zu beherbergen. Grün dagegen war vor allem die Farbe des Blätterdaches, das142

nicht nur einigermaßen Schutz vor Wind und Regen bot, sondern den Schutzsuchenden auch vor den Augen seiner Feinde zu verbergen versprach. In der künstlerischen Literatur tritt übrigens, genau betrachtet, zu den beiden Darstellungen, die durch die logische und durch die „musikalische" Funktion der Worte erfolgen, noch eine dritte, die im jeweiligen Gestaltcharakter der Gedanken liegt und auch im Sprachstil erkennbar wird, hinzu. Auch hier können sich ja ganz ähnliche allgemeine Merkmale manifestieren, wie wir sie an den unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen des Körpers beobachten: Die Gedanken mögen z. B. in rascher Folge, gewissermaßen abrupt, oder auch sich allmählich entwickelnd und miteinander verschlungen, mehr oder weniger knapp und bestimmt und auf noch viele andere Arten vorgebracht werden, denen allen ein bestimmter Ausdrucksgehalt zukommt. Wir fassen das Gesagte nunmehr zusammen und versuchen es gleichzeitig noch etwas zu ergänzen und zu verallgemeinern sowie einige Folgerungen daraus zu ziehen. Zunächst haben wir festgestellt, daß das Kunstwerk einen von ihm selbst verschiedenen Gegenstand grundsätzlich auf zweierlei Weise wiedergeben kann: einmal, indem es ihn durch feststehende Zeichen andeutet, die ihm ein für alle Mal zugeordnet sind und als welche wohl am häufigsten Worte dienen. Ihre Verwendung ist das besondere Kennzeichen der Literatur. Indessen können zu demselben Zweck auch andere Symbole benutzt werden, z. B. Stereotype Gesten, wie sie etwa im klassischen indischen Tanz eine wichtige Rolle spielen. Verständlich ist eine solche Darstellung natürlich immer nur für den, der die verwendeten Zeichen kennt. Ferner kann die Wiedergabe durch Übertragung von Teilmerkmalen auf das Kunstwerk selbst erfolgen. Diese Darstellungsart ist im Gegensatz zur erstgenannten grundsätzlich allgemeinverständlich, verlangt aber, wie wir gesehen haben, gleichwohl stets eine gewisse, durch neuronale Lernprozesse eintretende Übung. Beispiele hierfür bieten zunächst die Malerei, in der Farben und Umrisse, sowie die Bildhauerei, in der die räumlichen Formen des jeweiligen Gegenstandes direkt auf das Kunstwerk umsetzbar sind. Es sei noch vermerkt, daß dabei nicht nur ruhende, sondern auch bewegliche Gegenstände nachgebildet werden können, und zwar wiederum durch die Übertragung von dazu geeigneten Teilmerkmalen der Bewegung. So mag etwa den Gliedmaßen eines menschlichen oder tierischen Körpers eine Lage erteilt werden, die sie nur in der Bewegung einnehmen können. Ein zweites Beispiel ist die schon betrachtete Wiedergabe von inneren Vorgängen in der Musik und in allen auf das Auge wirkenden Künsten, wobei die Merkmale der Bewegung des Augapfels beim „Abtasten" der dargebotenen Gestalt zu Trägern einer analogen Darstellung werden. Wir haben uns ferner davon überzeugt, daß die eigentliche künstlerische Aussage der Darstellung immer dadurch zustande kommt, daß der Gegenstand als Träger allgemeinerer Merkmale auftritt, für die er lediglich ein Demonstrationsobjekt bildet. Er vermag ein allgemeines Interesse nur zu erwecken, wenn das Erkennen dieser Merkmale einen moralischen Appell an das kollektive Bewußtsein enthält. 143

Wenn sich aber in einem Kunstwerk mehrere Gegenstandsdarstellungen überlagern, wie es z. B. in der künstlerischen Literatur und den bildenden Künsten offenbar stets der Fall ist, so entsteht eine Mehrfachaussage, d. h. ein mehrfacher moralischer Appell. Jeder einzelne Appell bedeutet nichts anderes, als daß eine bestimmte moralische „Idee" in uns mobilisiert wird. Die verschiedenen Teilappelle können sich verstärken, wenn die mobilisierten Teilideen identisch sind. Sind sie verschieden, so werden sie — und zwar als Folge der neuronalen Verknüpfungen, die durch die Eindruckskoinzidenzen bei der Aufnahme des Kunstwerks entstehen — aneinander gekoppelt, so wie Subjekt und Prädikat in einem Aussagesatz aneinander gekoppelt werden. Es entsteht dadurch eine neue Aussage, in der allerdings nicht nur schon bestehende Sachverhalte miteinander verbunden werden, sondern vor allem auch solche, die erst noch herbeigeführt werden sollen — wie es eben dem Charakter des moralischen Bewußtseins als eines Teils des produktiven entspricht. Ein Beispiel wäre die schon erwähnte Darstellung des revolutionären Kämpfers als eines sich selbst bezwingenden, entsagungsvollen Menschen. Wenn die Darstellung so erfolgt, daß sie uns anzieht, und wenn — was ebenfalls wichtig ist — die Koppelung von Kampf und Entsagung nicht nur als zufällig, sondern im Wesen des Kampfes selbst liegend erscheint, erhält das Kunstwerk die Aussage: „Der revolutionäre Kämpfer muß entsagungsvoll sein". Es versteht sich, daß jede Aussage, wenn sie unser Interesse finden soll, für uns neu sein muß und nicht als selbstverständlich empfunden werden darf. Diese Forderung, über die eigentlich eine Diskussion gar nicht möglich sein sollte, wird tatsächlich nur allzuoft außer acht gelassen. Jeder konkrete Gegenstand hat ferner viele Einzelmerkmale, die in verschiedener Hinsicht von allgemeinerer Bedeutung zu sein pflegen. Er kann daher auch gleichzeitig zu mehreren Aussagen der oben genannten Art beitragen und muß dies sogar. Wir werden über diesen sehr wichtigen Punkt bald noch eingehender sprechen. Andernteils muß jede einzelne Aussage, wenn der Kunstaufnehmende aus ihr etwas „lernen" soll, im Kunstwerk unbedingt wiederholt erfolgen, weil sich andernfalls keine dauerhaften neuronalen Verknüpfungen bilden könnten. Auch darin liegt ein wichtiger Grund für die Anwendung des Wiederholungsprinzips in der Kunst. Wie jede Aussage, kann auch die künstlerische Aussage wahr oder falsch sein. Das erstere ist immer der Fall, wenn der in ihr enthaltene moralische Appell als objektiv berechtigt und zwingend anerkannt werden muß. Hierfür kann es aber nach allen unseren Erkenntnissen kaum einen anderen Maßstab geben als den, den wir schon früher abgeleitet haben, als es darum ging, für die Tätigkeit von Individuen wie Kollektiven eine allgemeine, von subjektiven Bedingtheiten freie moralische Beurteilungsgrundlage zu finden: Wir haben gesehen, daß eine solche Grundlage letzten Endes nur in den Erfordernissen des gesetzmäßigen gesellschaftlichen Fortschritts der Menschheit gefunden werden kann. Mit anderen Worten: „Wahr" in diesem Sinne wird die Aussage eines Kunstwerkes nur dann sein können, wenn sie geeignet ist, auf das kollektive Bewußtsein eine im Sinne 144

des von uns bereits definierten „produktiven" Realismus positive Wirkung auszuüben, „falsch" dagegen, wenn ihre Wirkung sich in eben diesem Sinne als negativ, das heißt als hemmend für den gesellschaftlichen Fortschritt erweist. Dies Ergebnis unserer Gedankengänge stimmt übrigens genau mit der Ansicht des berühmten, zu seiner Zeit bahnbrechenden sowjetischen Filmregisseurs P U D O W K I N überein, der einmal geäußert hat, daß für ihn jeder Film „realistisch" sei, der dem Fortschritt der Menschheit diene. Offenbar hat P U D O W K I N dabei genau das im Auge gehabt, was wir den „produktiven" Realismus genannt haben. Wenden wir unsere Erkenntnisse auf die besonderen Erfordernisse der gegenwärtigen Epoche der Menschheitsentwicklung an, so müssen wir offenbar die Aussage jedes beliebigen Kunstwerks als in diesem Sinne „wahr" anerkennen, wenn seine Wirkung auf das kollektive Bewußtsein den notwendigen Ubergang der gesamten Menschheit zum Sozialismus zu befördern vermag. Wir werden es dann der in der gegenwärtigen Epoche eigentlich aktuellen Form des produktiven Realismus, dem „sozialistischen" Realismus zurechnen dürfen. Nun besitzt die Idee des Sozialismus gewiß „Gestaltcharakter" in dem schon früher von uns definierten Sinne. Ihre Realisierung verlangt weit mehr als nur die Durchsetzung einiger leicht aufzuzählender ökonomisch-gesetzgeberischer Maßnahmen und wird auf die Dauer ohne eine recht tiefgreifende Umgestaltung des Inhaltes des kollektiven moralischen Bewußtseins der Träger dieser Realisierung gar nicht möglich sein. Daher müssen zum „sozialistischen" Realismus in diesem Sinne alle künstlerischen Werke gezählt werden, die irgendwie direkt oder indirekt der genannten Umbildung des Bewußtseins förderlich sind, und keineswegs bloß solche, deren Thematik unmittelbar mit den entsprechenden ökonomischen Maßnahmen zusammenhängt. Auch Werke, die sich mit scheinbar rein persönlichen Problemen einzelner befassen, sind hier grundsätzlich nicht auszuschließen — wir haben ja schon gesehen, wie eng doch in Wahrheit auch solche Probleme mit den allgemeinen Problemen des gesellschaftlichen Fortschritts zusammenhängen können. Wichtig ist es in diesem Zusammenhange auch, daß wir uns Klarheit über das gegenseitige Verhältnis von „beschreibendem" und „produktivem" Realismus verschaffen. Fest steht zunächst, daß die richtige Erkenntnis der Wirklichkeit stets die erste Voraussetzung für ein richtiges Handeln ist. Daher vermag die so getreu wie nur angängig durchgeführte Wiedergabe der Wirklichkeit tatsächlich zu einem wichtigen Hilfsmittel zur Erzielung einer im Sinne des produktiven Realismus „wahren" Aussage zu werden. Das wird insbesondere dann gelten, wenn der Allgemeinheit wichtige, das jeweilige Thema betreffende Tatsachen unbekannt sind und infolgedessen im rezeptiven kollektiven Bewußtsein unrichtige Auffassungen über die fraglichen Gegebenheiten herrschen. Dementsprechend wird in Solchen Fällen die unrichtige oder nur halbrichtige Darstellung der Realität im Allgemeinen auch die künstlerische Aussage in's Unwahre verkehren. Dennoch ist Wahrheit der Aussage absolut nicht mit Wirklichkeitstreue der gegenständlichen Darstellung identisch. Vielmehr erweisen sich in den allermeisten Fällen Abweichungen der Darstellung von ihrem realen Gegenstand als durchaus förderlich, wenn nicht gar einfach notwendig, um Wahrheit der Aussage zu er10

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reichen — so, wenn gewisse die Aussage unterstützende Merkmale des Dargestellten auf Kosten anderer, relativ unwesentlicher hervorgehoben oder gar vom Künstler entgegen der wirklichen Erscheinung frei erfunden werden. Hierher gehört z . B . das anerkannte Recht des Dichters, etwa in einem historischen Drama gewisse typische allgemeine Züge der Epoche wie auch historische Einzelereignisse einfach zu ignorieren und durch nicht der Wirklichkeit angehörende zu ersetzen, wenn die beabsichtigte Aussage dies verlangt. Jedenfalls sehen wir, daß weder die Forderung des S O K R A T E S nach unbedingter Wirklichkeitstreue der künsterischen Darstellung noch die des A R I S T O T E L E S nach ausschließlicher Hervorhebung des in der Realität jeweils Typischen uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen kann. Oft wird der durch den dargestellten Gegenstand vermittelte Teil der Aussage mit einem anderen Teil, der in der äußeren Form des Kunstwerks liegt, z. B. im sprachlichen Stil eines Prosawerks oder im Charakter der Farbgebung oder der Linienführung eines Gemäldes, zu einer Aussage höherer Ordnung zusammentreten. Es ist dies der Fall, den man als „Zusammenpassen" von „Form" und „Inhalt" empfindet — freilich nur, wenn die so entstehende Aussage den Anspruch erheben kann, als „wahr" zu gelten. Fehlt es an diesem „Zusammenpassen", so entstehen damit unwahre Aussagen, die keinen im Sinne des produktiven Realismus liegenden moralischen Appell enthalten. So mag etwa in der Malerei ein revolutionäres Thema mit verwischten Konturen und matten, süßlich wirkenden Farben, oder umgekehrt mit einer pathetischen Wucht der Linienführung behandelt werden, die sich wenig von der Art unterscheidet, in der die wilhelminische Epoche zuweilen patriotische Vorwürfe aus der feudalen Vergangenheit zu aktualisieren versuchte. Sicherlich sind aber weder Pathos noch Süßlichkeit angebracht, wenn es darum geht, die harte Arbeit zu verrichten, auf die jede Revolution in ihrer Durchführung hinauskommt, wenn sie ihre Berechtigung beweisen will. Wichtig ist auch zu vermerken, daß der dem Gegenstand der Darstellung obliegende Teil des moralischen Appells keineswegs immer dadurch erzeugt werden muß, daß das Dargestellte vorbildliche Züge erhält. Allerdings folgt speziell die bildende Kunst der griechisch-römischen Antike, die bei uns lange Zeit als das Vorbild aller Kunst überhaupt galt, fast immer diesem Prinzip. Indessen hat die moderne Kunst — zum Beispiel das große gesellschaftskritische Drama der Jahrhundertwende, aber auch schon ein so früher Roman wie der „Don Quichote" — uns bewiesen, daß eine oft noch stärkere Aussage auf dem entgegengesetzten Wege erzielt werden kann, nämlich indem dem Gegenstand allgemeine Merkmale erteilt werden, die etwa lächerlich wirken oder auf andere Weise Widerspruch erregen, und so den unmißverständlichen Appell zur Beseitigung der entsprechenden Erscheinungen in der Wirklichkeit in sich tragen. Auf diese Weise kann der Gegenstand sogar ausgesprochen häßliche Züge erhalten, ohne daß die künstlerische Wirkung dadurch im geringsten leidet. Allerdings darf die äußere Form des Kunstwerks niemals zu einem analogen Effekt mißbraucht werden, ohne daß das Kunstwerk seinen Charakter als formales Vorbild für alles menschliche Schaffen verliert. Im praktischen Leben mag 146

uns die Rücksicht auf höhere Forderungen des ethischen Ideals wohl nicht selten zwingen, auf ästhetisch befriedigende Formen der Ergebnisse unseres Handelns zu verzichten. Erfolgt aber ein solcher Verzicht im Kunstwerk ohne Not, so wird dies immer einen im Grunde negativen moralischen Appell in sich schließen. Die Frage, mit der wir unsere ästhetischen Betrachtungen begonnen hatten, inwieweit nämlich das Kunstwerk immer auch „schön" sein müsse, wäre damit prinzipiell beantwortet. Heutzutage hört man oft die Meinung vertreten, daß es genüge, die äußere Form von Kunstwerken, die gleichzeitig einen Zweck zu erfüllen haben, z. B. von Bauwerken, nur diesem Zweck optimal entsprechend zu gestalten, um auch ihre künstlerische Qualität sicherzustellen. Dem entspricht die, wie wir wissen, schon von S O K B A T E S ausgesprochene Ansicht, daß die zweckentsprechende Ausführung von technischen Einrichtungen ihnen automatisch auch ein schönes Aussehen verleihen müsse. Beides ist natürlich falsch. Was die letztere Ansicht anbelangt, so weist ja schon die organische Natur, deren Gebilde doch stets in einem sehr hohen Grade zweckmäßig gestaltet sind, auf das Gegenteil hin, da wir ja z. B. nicht alle Tiere als schön empfinden können. Dazu kommt noch der Umstand, daß technische Erzeugnisse wohl immer noch frei wählbare, nicht oder kaum zweckgebundene Merkmale erhalten müssen, deren Auswahl aber manchmal für den ästhetischen Eindruck entscheidend werden kann. Zum Beispiel vermag der Anstrich eines Gebäudes die ästhetische Wirkung seiner Architektur stark zu unterstreichen oder im Gegenteil fast völlig zu vernichten. Das letztere Beispiel widerlegt gleichzeitig auch die Behauptung der automatischen Erreichung des künstlerischen Zweckes zusammen mit dem technischen bei zweckgebundenen Kunstwerken. Wir haben gesehen, daß die Formen eines Bauwerkes im allgemeinen gleichzeitig auch als Ausdruck gewisser Gemütsinhalte zu wirken pflegen. Man könnte vielleicht fordern, daß solche Inhalte eine Beziehung zu dem Zweck des Bauwerks haben sollten. Bei ganz hervorragenden Bauwerken der Vergangenheit, besonders des Barock, ist das aber durchaus nicht immer der Fall. So steht die im Formenreichtum eines Barockdoms sich aussprechende überschäumende Lebensfreude regelmäßig in schärfstem Kontrast zum Inhalt der Predigt, deren Abhaltung das Bauwerk dienen soll — wie übrigens schon oft bemerkt worden ist. Allerdings ist dieser Widerspruch kein Zufall, sondern gehört zum Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Widersprüche in der Zeit der Herrschaft dieses Baustils, die in ihrer Weiterentwicklung schließlich zum Umsturz der sie erzeugenden Gesellschaftsordnung geführt haben.

15. Vorlesung Wir haben zuletzt von dem Kontrast gesprochen, der speziell bei Kunstwerken, die eine Zweckbestimmung besitzen, zwischen der jeweiligen künstlerischen Aussage des Werkes und seinem (gesellschaftlichen oder technischen) Zweck auftreten 10*

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uns die Rücksicht auf höhere Forderungen des ethischen Ideals wohl nicht selten zwingen, auf ästhetisch befriedigende Formen der Ergebnisse unseres Handelns zu verzichten. Erfolgt aber ein solcher Verzicht im Kunstwerk ohne Not, so wird dies immer einen im Grunde negativen moralischen Appell in sich schließen. Die Frage, mit der wir unsere ästhetischen Betrachtungen begonnen hatten, inwieweit nämlich das Kunstwerk immer auch „schön" sein müsse, wäre damit prinzipiell beantwortet. Heutzutage hört man oft die Meinung vertreten, daß es genüge, die äußere Form von Kunstwerken, die gleichzeitig einen Zweck zu erfüllen haben, z. B. von Bauwerken, nur diesem Zweck optimal entsprechend zu gestalten, um auch ihre künstlerische Qualität sicherzustellen. Dem entspricht die, wie wir wissen, schon von S O K B A T E S ausgesprochene Ansicht, daß die zweckentsprechende Ausführung von technischen Einrichtungen ihnen automatisch auch ein schönes Aussehen verleihen müsse. Beides ist natürlich falsch. Was die letztere Ansicht anbelangt, so weist ja schon die organische Natur, deren Gebilde doch stets in einem sehr hohen Grade zweckmäßig gestaltet sind, auf das Gegenteil hin, da wir ja z. B. nicht alle Tiere als schön empfinden können. Dazu kommt noch der Umstand, daß technische Erzeugnisse wohl immer noch frei wählbare, nicht oder kaum zweckgebundene Merkmale erhalten müssen, deren Auswahl aber manchmal für den ästhetischen Eindruck entscheidend werden kann. Zum Beispiel vermag der Anstrich eines Gebäudes die ästhetische Wirkung seiner Architektur stark zu unterstreichen oder im Gegenteil fast völlig zu vernichten. Das letztere Beispiel widerlegt gleichzeitig auch die Behauptung der automatischen Erreichung des künstlerischen Zweckes zusammen mit dem technischen bei zweckgebundenen Kunstwerken. Wir haben gesehen, daß die Formen eines Bauwerkes im allgemeinen gleichzeitig auch als Ausdruck gewisser Gemütsinhalte zu wirken pflegen. Man könnte vielleicht fordern, daß solche Inhalte eine Beziehung zu dem Zweck des Bauwerks haben sollten. Bei ganz hervorragenden Bauwerken der Vergangenheit, besonders des Barock, ist das aber durchaus nicht immer der Fall. So steht die im Formenreichtum eines Barockdoms sich aussprechende überschäumende Lebensfreude regelmäßig in schärfstem Kontrast zum Inhalt der Predigt, deren Abhaltung das Bauwerk dienen soll — wie übrigens schon oft bemerkt worden ist. Allerdings ist dieser Widerspruch kein Zufall, sondern gehört zum Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Widersprüche in der Zeit der Herrschaft dieses Baustils, die in ihrer Weiterentwicklung schließlich zum Umsturz der sie erzeugenden Gesellschaftsordnung geführt haben.

15. Vorlesung Wir haben zuletzt von dem Kontrast gesprochen, der speziell bei Kunstwerken, die eine Zweckbestimmung besitzen, zwischen der jeweiligen künstlerischen Aussage des Werkes und seinem (gesellschaftlichen oder technischen) Zweck auftreten 10*

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kann. Ein derartiger Kontrast ist natürlich vom Künstler im allgemeinen nicht beabsichtigt. Dagegen muß jedes Kunstwerk, um eine künstlerisch-ästhetische Wirkung auszuüben, wie wir schon festgestellt haben, mit gewissen Kontrasten innerhalb seiner selbst versehen werden, die natürlich nicht auf die äußere Form beschränkt bleiben können, sondern sich auch in der Aussage irgendwie widerspiegeln werden. Durch solche Kontraste läßt sich auch das Zustandekommen sowohl der tragischen wie der komischen Wirkung näher erklären, die ja beide in der Kunst eine große Rolle spielen. Die eine wie die andere sind jedenfalls an Darstellungen des Menschen und der menschlichen Gesellschaft gebunden, die dem „beschreibenden" Realismus zuzuzählen sind und als der Wirklichkeit entsprechend empfunden werden. Es scheint nun, daß die tragische Wirkung immer dann eintritt, wenn in dieser Darstellung ein tiefliegender Widerspruch an einer Stelle innerhalb der gesellschaftlichen Realität aufgedeckt wird, an der auf den ersten Blick und mit üblichen Maßstäben gemessen, alles „in Ordnung" zu sein schien, und wenn — was in diesem Zusammenhang wesentlich ist — der Widerspruch sich als im Rahmen des dargestellten Teils der Wirklichkeit unbehebbar erweist. So wird in den schon erwähnten gesellschaftskritischen Dramen der Jahrhundertwende die oft sehr starke tragische Wirkung durch die Bloßlegung des Gegensatzes zwischen den in der bürgerlichen Welt damals gültigen, von der gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich bereits überholten moralischen Normen und einem höheren, der gesellschaftlichen Wirklichkeit besser angepaßten ethischen Ideal erzielt — ein Widerspruch, der im Rahmen des Bestehenden nicht aufzulösen war. Auch sonst liegt die Unvereinbarkeit des wahren ethischen Ideals mit konventionellen Formen der Moral oft dem tragischen Konflikt in Bühnenwerken zugrunde, ist aber nicht die einzige Art von Widerspruch, die diesen Dienst zu leisten vermag. Auch das Komische ist stets an das Auftreten eines gewissen Gegensatzes gebunden, der aber nun im Gegenteil mehr an der Oberfläche liegen und schon im ersten Augenblick auffallen muß, um sich jedoch anschließend, sobald sich ein tieferes Verständnis einstellt, sofort wieder aufzulösen. Ein Solcher eigentlich nur scheinbarer Widerspruch wird in der Kunst oft durch karikierende Übertreibung einzelner Merkmale des Dargestellten erzielt, wodurch die Darstellung in Gegensatz zur Wirklichkeit zu geraten scheint. Die Auflösung ergibt sich dann mit der Erkenntnis des Wahrheitsgehaltes, der eben in dieser Übertreibung liegt. Gewöhnlich handelt es sich ja um sonst vertuschte Eigenschaften von Menschen oder menschlichen Verhältnissen, die gerade durch ihre Übertreibung erst sichtbar und ins rechte Licht gerückt werden. Dementsprechend läßt sich das Tragikomische als die Verbindung zweier Widersprüche, eines tragischen und eines komischen, erklären. Beispielsweise mag durch die Übertreibung gewisser menschlicher Schwächen zunächst der Eindruck des Komischen hervorgerufen werden, der aber bald dadurch ins Tragische umschlägt, daß die Erkenntnis der Berechtigung der Übertreibung gleichbedeutend mit der Entdeckung eines zweiten tieferliegenden, nicht ohne weiteres lösbaren Wider148

Spruchs ist, der nun nicht mehr zwischen der Darstellung und der Wirklichkeit, sondern innerhalb der Wirklichkeit selber liegt. Ein moralischer Appell kann gewiß ebensogut mit dem tragischen wie mit dem komischen Moment verbunden sein und muß es gemäß den von uns gewonnenen Einsichten natürlich auch, wenn überhaupt eine künstlerische Wirkung eintreten soll. So kann das Aufzeigen eines tragischen Widerspruchs die Aufforderung enthalten, an der Änderung der Verhältnisse, die ihn unlösbar machen, mitzuwirken. In den schon mehrfach zitierten gesellschaftskritischen Dramen der Jahrhundertwende, aber auch beispielsweise in einem vorrevolutionären Drama wie der „Emilia Galotti" L E S S I N G S oder später den „Räubern" S C H I L L E R S war ein solcher Appell unüberhörbar vorhanden und hat auch in diesem Sinne sehr stark gewirkt. Andernteils kann das Bloßlegen eines wirklich unaufhebbaren Widerspruchs dazu führen, daß mit der Erkenntnis seiner Unvermeidlichkeit die moralische Kraft zum Ertragen seiner Folgen gestärkt wird. Auch der in der komischen Wirkung liegende moralische Appell kann verschiedener Art sein und je nachdem zur Versöhnung mit den enthüllten menschlichen Schwächen oder auch zum Kampfe gegen sie auffordern. Ein Schema läßt sich da nicht aufstellen. Ich bin auch nicht der Meinung, daß das eben Gesagte etwa ein unfehlbares Rezept zur Erzeugung entsprechender Kunstwerke liefert. Die genannten Bedingungen müssen zur Erzielung des tragischen bzw. des komischen Effekts sicher notwendig erfüllt sein, sie sind aber dazu gewiß nicht immer hinreichend. Zum Beispiel muß die komische Wirkung, wenn sie erreicht werden soll, immer mit einer Entspannung verbunden sein. Wird deren Eintreten durch irgendwelche Nebenwirkungen verhindert, so geht auch der komische Effekt verloren. Umgekehrt fordert die Entstehung des tragischen Moments immer den Aufbau einer Spannung, die im Kunstwerk nicht mehr zum Ausgleich gelangt. Wir wollen uns nun mit einer Gruppe von Kunstwerken befassen, die ganz besondere und in mancher Hinsicht recht merkwürdige Eigenschaften besitzen, deren nähere Untersuchung sich aber als ein Mittel erweist, um noch ein gutes Stück weiter in das Wesen der Kunst vorzudringen, als wir es bisher schon getan haben. Ich meine die Kunstwerke, die „aufgeführt" oder „vorgetragen" werden können. Wir wollen sie im folgenden kurz als die „aufführbaren" bezeichnen. Dazu gehören z. B. die Bühnenwerke und die Musik. Ihr allgemeines Merkmal besteht darin, daß sie zunächst nur in einer unvollständigen Fassung vorliegen, die zur Aufführung oder zum Vortrag notwendig ergänzt werden muß. Insbesondere stellt das Notenbild eine solche Fassung dar. Sie gibt zwar die Höhe der Töne und ihre relative Dauer an, letztere aber schon, wie bekannt, nicht absolut verbindlich. Noch unbestimmter und auch noch weniger zwingend für den Vortrag pflegen die Angaben über die Lautstärke und das Tempo zu sein, wenn sie nicht sogar überhaupt fehlen. Ähnlich liefert das Manuskript des Bühnenwerkes zwar den genauen Text, jedoch sind die Anweisungen für das Bühnenbild und die Regie sowie die Betonung des Textes, für die Mimik und die Gesten der Schauspieler, wenn überhaupt vorhanden, im allgemeinen recht dürftig und 149

bleiben dementsprechend auch wieder einigermaßen unverbindlich. Die Aufführung ist also gar nicht möglich, ohne daß die an ihr Beteiligten das Fehlende aus Eigenem ergänzen. Es fragt sich, wie es zu dieser Ergänzung kommen kann. Die Antwort liegt in folgendem: Wie schon mehrfach ausgeführt, bedeutet jeder moralische Appell — und ein solcher muß ja vom Kunstwerk stets ausgehen — die Mobilisierung einer Idee von Leitbildcharakter für das (äußere oder innere) Handeln des Menschen, einer Idee, die ihr neurologisches Äquivalent in einem Speicher mit Erwartungswerten für die allgemeinen Merkmale besitzt, auf deren Realisierung die fragliche Idee zielt. Sofern nun die vorliegende unvollständige Fixierung des Kunstwerkes seine Idee, wie es ja sein muß, bereits erkennen läßt, erfolgt die für die Aufführung notwendige Ergänzung aus dieser Idee heraus in einem Prozeß, der grundsätzlich dem der ersten Konzeption durch den Autor bzw. den Komponisten gleicht und auf den wir bald noch etwas näher eingehen werden. In jedem Falle spielen hierbei aber Teilideen eine wichtige Rolle, für die neuronale Speicher im Hirn der das Kunstwerk Aufnehmenden schon vorausgesetzt werden dürfen und deren Verknüpfung zu einer neuen Idee regelmäßig entscheidend für die eigentliche Aussage des Kunstwerkes ist. Solche Ideen, deren Speicher ja letzten Endes nur durch die individuelle Erfahrung ihres Trägers gebildet werden können, werden in den Mitgliedern jeder Gemeinschaft, die in vergleichbaren äußeren Verhältnissen und in geistiger Kommunikation miteinander leben, zwar bis zu einem gewissen Grade übereinstimmen müssen. Diese Übereinstimmung hat uns ja zur Grundlage der Definition des gegenstandsbestimmten kollektiven Bewußtseins gedient. Sie kann aber natürlich niemals vollständig sein. Daher werden die mit Hilfe solcher vorgebildeter Ideen durch verschiedene Interpreten ein und desselben Werkes gefundenen, zur Aufführung bzw. zum Vortrag notwendigen Ergänzungen immer wieder etwas verschieden ausfallen. Es entstehen notwendig voneinander abweichende „Auffassungen", wie es gewöhnlich heißt. Ja, da die irgendeine bestimmte Person beherrschenden Ideen infolge neuer Erfahrungen einem Ständigen Wechsel unterliegen und außerdem der Grad der relativen Erregung verschiedener bei einer Interpretation beteiligter Speicher infolge der Beweglichkeit des „aktuellen" Bewußtseins zudem noch von einem Augenblick zum anderen stark schwanken kann, ergibt es sich, daß dieselben Künstler nicht nur im Laufe der Jahre, sondern sogar von einer Aufführung zur anderen stets mehr oder weniger voneinander verschiedene „Auffassungen" eines bestimmten Werkes produzieren müssen. Das ist. aber noch nicht alles. Auch in jedem einzelnen Kunstaufnehmenden, in unseren Beispielen also in den einzelnen Theaterbesuchern oder Hörern der Musik, kann es zu einem Verständnis des Dargebotenen nur kommen, wenn die in seiner künstlerischen Aussage enthaltenen Ideenverknüpfungen einigermaßen erfaßt werden. Wegen des nie ganz miteinander übereinstimmenden Ideenschatzes der verschiedenen Personen werden sich aber nun wieder ebenso viele verschiedene Auffassungen der von den jeweiligen ausführenden Künstlern dargebotenen spe150

ziellen Interpretation ergeben, wie verständnisvolle Hörer oder Zuschauer zugegen sind — nur daß deren Auffassungen sich nach außen hin weiter nicht dokumentieren. Dieselben Unterschiede der persönlichen Auffassung der künstlerischen Aussage werden sich natürlich zwischen den verschiedenen Betrachtern eines Gemäldes ergeben, wie überhaupt gegenüber allen Kunstwerken, gleich ob sie nun zur Kategorie der „aufführbaren" gehören oder nicht. Letzten Endes sind alle diese Unterschiede natürlich durch die unvermeidlichen individuellen Unterschiede in den parallel laufenden Vorgängen der Reduktion und Ergänzung bedingt, denen jede Information bei ihrer Verarbeitung im Zentralnervensystem unterliegt — auch die durch das Kunstwerk vermittelte. Aber auch die Teile, in denen die Auffassungen jeweils übereinstimmen, werden keineswegs unwandelbar festliegen, sondern sich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Epochen der Kulturentwicklung wiederum voneinander unterscheiden, einfach weil der irgendeiner menschlichen Gemeinschaft gemeinsame, einen Teil ihres kollektiven Bewußtseins bildende Ideenschatz immer stark von den allgemeinen Bedingungen des Lebens der Gemeinschaft abhängt und sich mit diesen notwendig ändern muß. Um noch einmal auf das Beispiel der B E E T H O V E N S c h e n Musik zurückzukommen, das in dieser Hinsicht sehr instruktiv ist: Gewiß hat die Auffassung etwa seiner Symphonien in der hinter uns liegenden Epoche den sich in ihnen aussprechenden kämpferischen Geist nicht ganz unterdrückt, sondern nur zugunsten eines sicher ebenfalls vorhandenen mehr beschaulichen Elements in ihnen ein wenig zurücktreten lassen, während unsere heutige Auffassung unter dem Eindruck der gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich vor unseren Augen vollziehen und uns zu einer Parteinahme zwingen, gewiß derjenigen wieder viel näher kommt, die der Komponist selbst seinen Werken gewünscht hat. Trotzdem kann sie nach allem, was wir jetzt erkannt haben, nicht genau mit der seinen .übereinstimmen, einfach weil eben unsere Welt nicht mit derjenigen übereinstimmt, in der er seine Werke schuf, trotz der grundsätzlichen Ähnlichkeiten, die im revolutionären Charakter beider Epochen ihre Ursache haben. Wenn tatsächlich viele große Kunstwerke, nicht nur musikalische, sondern beispielsweise auch solche der bildenden Kunst und der Literatur — ich erinnere nur an die Ilias und die Odyssee, an die griechische Architektur und Bildhauerei und viele Werke der ostasiatischen Kunst — ihre künstlerische Wirkung unvermindert nicht nur über Jahrhunderte, sondern teilweise über Jahrtausende hinweg ausüben und uns wohl als „ewig" gültig erscheinen möchten, so doch nur, weil ihre Aussage dabei nicht dieselbe bleibt, und der Grund für diese ihre Wandelbarkeit liegt in ihrer außerordentlichen Komplexität, ihrem Reichtum, der neuen Epochen immer wieder neue Seiten an ihnen zu entdecken gestattet. Hier scheint allerdings unsere Theorie mit sich selbst in Widerspruch zu geraten. Wie können die Schöpfer solcher Werke imstande gewesen sein, im geistigen Gehalt dessen, was sie schufen, so weit über ihre Zeit und über sich selbst hinauszugreifen? Mußten sie nicht ebenso wie alle anderen Menschen mit dem größten 151

Teil des Inhalts ihres rezeptiven wie produktiven Bewußtseins im beschränkten Ideenschatz ihrer eigenen Zeit befangen bleiben? Freilich mußten sie das, und deswegen ist die „richtige" Auffassung der großen Werke in späteren Zeiten auch niemals wieder genau dieselbe, die ihre Autoren selbst gehabt haben. Des Rätsels Lösung liegt einfach darin, daß die menschliche Kultur sich im ganzen gesehen, also sowohl in ihren materiellen Grundlagen wie in ihrem ideellen Gehalt, eben nicht zufällig-spontan, sondern gesetzmäßig entwickelt. In den Ideen jeder Zeit liegt stets schon der Keim für diejenigen, die aus ihnen entspringen werden, und wenn in der Aussage eines Kunstwerkes die bewegenden Kräfte der Zeit nur bis auf den Grund erfaßt sind, so sind von selbst auch die Elemente der künftigen Entwicklung darin enthalten, die spätere Geschlechter gewahren und in ihrer Auffassung des Werkes stärker hervortreten lassen werden, als es zur Zeit der Entstehung des Werkes angebracht war. Die „historische" Auffassung zum Vorbild der eigenen zu machen, ist jedenfalls grundsätzlich falsch. Im übrigen kennt z. B. die Literaturgeschichte auch Werke, die zij ihrer Zeit eine erhebliche Bedeutung besaßen und dann doch ganz zu Recht in Vergessenheit geraten sind. Indessen üben selbst die „unvergänglichen" Werke ihre Wirkung nicht immer in gleicher Stärke aus. Auch für die Entwicklung der Ideen gilt nämlich ähnliches wie für die Signale in einem Regelungssystem höherer Ordnung: Jede in einer Richtung fortschreitende Bewegung wird im allgemeinen von periodischen Vorgängen überlagert sein, die bewirken, daß sich die Entfernung vom Ausgangspunkt bald vergrößert, bald verkleinert. So folgen auf Zeiten, in denen ein wahrhaft großes Kunstwerk eine besondere Aktualität seiner Aussage beweist, andere, in denen das weniger oder gar nicht der Fall ist, bis es dann doch im Fortschreiten der Kulturentwicklung von neuem „entdeckt" wird. Wir haben bereits vom unvermeidlichen „Nachhinken" der Ideenentwicklung gegenüber der Änderung der äußeren Lebensumstände und auch von der Fähigkeit der Kunst, hier beschleunigend zu wirken, gesprochen. Speziell vermag da auch die „Wiederentdeckung" historischer Werke oft erheblich zum geistigen Fortschritt beizutragen. Beispiele sind der entscheidende Einfluß der Antike auf die Renaissance oder die Wirkung S H A K E S P E A R E S auf die Entwicklung der klassischen deutschen Literatur. Im ganzen gilt, wie schon gesagt, daß es die eigentliche Aufgabe der Kunst ist, das rezeptive wie produktive Bewußtsein der Allgemeinheit fortwährend umgestalten zu helfen — nicht aber, sich von diesem, das doch unweigerlich im Rückstand sein muß, leiten zu lassen. Eine „Nachtrabpolitik" wäre, wie in der Politik, so auch in der Kunst völlig verfehlt und würde sie nur hindern, ihre eigentliche Mission zu erfüllen. Übrigens ist bekannt, daß später anerkannte, unzweifelhaft große Kunstschöpfungen oft zuerst von der Allgemeinheit abgelehnt werden, wobei manchmal freilich auch die nicht immer sehr fortschrittlich eingestellte Kunstkritik einen erheblichen Teil der Schuld trägt. In diesem Zusammenhang taucht auch die grundsätzliche Frage auf, inwieweit denn die künstlerische Aussage überhaupt einer Analyse zugänglich sein kann, 152

wie sie doch wohl zu den Aufgaben der Kunstkritik gehören sollte. Die Antwort ist offenbar die, daß eine solche Analyse stets nur für einen Teil der Gesamtaussage möglich sein wird, die doch, wie wir gesehen haben, stets ausgesprochenen „Gestalt"charakter im Sinne der früher von uns schon gegebenen Definition des Gestaltbegriffs besitzt und daher zugleich und nacheinander tausenderlei Inhalte annehmen kann, von denen sich kein einziger ein für alle Mal festlegen läßt, während die Worte der Sprache zumindest in ihrer unmittelbaren logischen Bedeutung immer nur Symbole für bestimmte Einzelmerkmale oder ebenso bestimmte einzelne Merkmalsverknüpfungen darstellen. Darin liegt auch der grundlegende Unterschied zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Aussage. Die letztere ist eben tatsächlich nur durch die begriffliche Bedeutung von Worten oder anderen eindeutigen, z. B. mathematischen Symbolen gegeben und läßt sich grundsätzlich stets ohne Änderung des Inhalts auf mehr als eine Weise wiedergeben. Dagegen bleibt das einzige und einzig mögliche Symbol, das die Aussage eines Kunstwerks richtig und vollständig zu bezeichnen vermag, immer nur das Kunstwerk selbst. Trotzdem kann auch eine sprachliche Teilanalyse die Wirkung des Kunstwerks sehr fördern, wenn sie nämlich die Aufmerksamkeit auf gerade besonders aktuelle Teile der Aussage lenken hilft, die sonst vielleicht nicht genug gewürdigt werden würden. Umgekehrt wird sie erheblich schaden können, wenn sie von solchen Teilen ablenkt oder sie unter zu einseitigen Gesichtspunkten beurteilt. Es erhebt sich da noch eine Frage, die besonders für die Literatur von Interesse ist: Inwieweit ist eigentlich der Künstler selbst in der Lage und befugt, die Idee seines Werkes auch explizit auszusprechen? Die Antwort ist wohl klar: Offenbar kann auch er bestenfalls nur Teile dieser Idee innerhalb oder außerhalb seines Werkes explizit fixieren, und für die Nützlichkeit oder Schädlichkeit einer solchen Fixierung, die immer auf eine Teilanalyse der Aussage hinauskommt, wird wieder dasselbe gelten müssen wie für die analytische Betrachtung durch die Kunstkritik. Hierbei ist aber noch eine Komplikation möglich. Es kann nämlich sein, und dieser Fall ist gar nicht einmal so selten, daß der Künstler von Ideen besessen ist, in deren Verbreitung er den Hauptzweck seines Werkes sieht und die er dementsprechend auch, so klar und eindringlich er es nur vermag, darin auszudrücken bestrebt ist — die aber trotzalledem keineswegs zur eigentlichen Aussage seines Werkes gehören, zumindest nicht für die naeh ihm kommenden Generationen. Es kann sogar dahin kommen, daß ihre Wirkung ähnlich wird, wie die der Schilderung kritikwürdiger gesellschaftlicher Zustände, die wir schon erwähnt haben, nämlich daß sie den Widerspruch der meisten Leser hervorrufen, und dieser Widerspruch wird dann — ganz gegen die Absicht des Autors — geradezu zu einem Bestandteil der eigentlichen künstlerischen Wirkung. Beispiele dafür sind Leo TOLSTOI und Fedor D O S T O J E W S K I , deren Romane in ihrer Aussage heute nicht weniger aktuell sind als zur Zeit ihrer Abfassung, wenn auch ganz und gar nicht in dem teilweise etwas abseitigen Sinne, den sie im engeren Bewußtsein ihrer Schöpfer hatten. Übrigens kann der Autor beispielsweise eines Romans oder Bühnenwerks seinen 153

Personen auch Meinungen in den Mund legen, die er selber keineswegs teilt und Sogar zu dem ausgesprochenen Zwecke, den Widerspruch des Lesers oder Zuschauers im Theater hervorzurufen. Die künstlerische Wirkung ist dann genau dieselbe wie in den vorher genannten Fällen. Reichen eigentlich unsere bisherigen, die verschiedenen Formen des Bewußtseins betreffenden Begriffsbildungen aus, um die inneren Vorgänge sowohl bei der Schaffung wie bei der Aufnahme und dem Verstehen eines Kunstwerks zu erklären und ebenso die bei der schöpferischen Wiedergabe „aufführbarer" Werke? Man spricht oft vom „künstlerischen Bewußtsein" und von der „künstlerischen Absicht". Der letztere Ausdruck ist auch in dieser Vorlesung schon verwandt worden. Ist der Inhalt dieser Begriffe auch von unseren speziellen Voraussetzungen aus einer Analyse zugänglich und was ergibt sich dabei? Wir wollen jetzt versuchen, diese Fragen zu beantworten. Offenbar wird die künstlerische Aussage jedes Kunstwerkes als Verknüpfung allgemeiner Ideen zu einem Bestandteil des gegenstandsbestimmten Bewußtseins jedes einzelnen, der das Werk verständnisvoll aufnimmt und ebenso des kollektiven Bewußtseins, wenn eine entsprechende Wirkung auf die Mitglieder eines Kollektivs zustande kommt. Natürlich muß diese Aussage auch im gegenstandsbestimmten Bewußtsein des Künstlers zur Zeit der Schaffung des Werkes enthalten gewesen sein. Entsprechendes gilt für den nachschaffenden Künstler, der ein „aufführbares" Werk zu Gehör bringt oder sichtbar macht. Dabei steht aber, wie wir gesehen haben, der Inhalt der Aussage eines bestimmten Werkes in den einzelnen Fällen nicht von vornherein fest. Dementsprechend können wir nun das irgendein Kunstwerk erzeugende „künstlerische Bewußtsein" als diejenige Form seiner Aussage definieren, die diese Aussage im Bewußtsein des Schöpfers oder Nachschöpfers des Werkes während dessen Ausarbeitung erhalten hat, und als „künstlerische Absicht" die Absicht, die auf die Erteilung der diese Aussage tragenden allgemeinen Merkmale an das Kunstwerk gerichtet war. In dieser Definition erscheint also das „künstlerische Bewußtsein" als ein Teil des „gegenstandsbestimmten" Bewußtseins des Künstlers, wie es ja offenbar auch sein muß. Wie steht es nun im einzelnen um die psychologischen Vorgänge, die mit der schöpferischen oder nachschöpferischen Gestaltung eines Kunstwerkes verbunden sind? Wie wir ächon gesehen haben, wird die künstlerische Aussage in jedem Fall durch die Verknüpfung allgemeiner Ideen gebildet, deren Bestand wiederum durch die an den dargestellten äußeren und inneren Gegenständen und der Form des Kunstwerkes demonstrierten allgemeinen Merkmale gegeben ist. Das neurologische Äquivalent solcher Verknüpfungen sind Speicher, als deren Eingänge Signale fungieren, die entweder selbst Teilideen oder Einzelmerkmale aus den sie konstituierenden Merkmalskomplexen bezeichnen. Solche Speicher müssen sich, wenn auch, wie wir gesehen haben, mit individuell und durch die Umstände bedingten Abweichungen, im Hirn jedes einzelnen bilden, der das Kunstwerk verständnisvoll aufnehmen soll, und sie müssen natürlich auch im Zentralnerven154

system des Schöpfers des Kunstwerks vorhanden sein, damit es überhaupt entstehen kann. Wie kommt es aber dort zu ihrer Ausbildung? Müssen sie etwa schon vorliegen, ehe die Gestaltung des Kunstwerks beginnen kann? Sicher nicht. In Wirklichkeit tritt gewiß auch hier mehr oder weniger ausgeprägt das schon im Verhalten der Tiere als „trial and error" und in der Wissenschaft als die Methode des Experiments bekannte Verfahren ein. Der Künstler kombiniert laufend ihm aus der Wirklichkeit bekannte konkrete Einzelzüge, prüft die sich dabei ergebenden Aussagen und ergänzt und korrigiert das Geschaffene so lange, bis das Ergebnis eine Aussage erhält, die zu machen ihm richtig und notwendig erscheint. Die Aussage entsteht also nur zusammen mit dem Kunstwerk selbst — nicht etwa losgelöst von ihm — in Wechselwirkung mit den Teilen, die in ihm zusammentreten. Ganz ebenso erarbeitet sich der Interpret eines Musikwerkes und überhaupt jeder ein „aufführbares" Kunstwerk Nachschaffende seine Auffassung des Werkes. Selbstverständlich wird das Kunstwerk stets in seiner äußeren Form, wie an den Gegenständen, die es darstellt, auch Merkmale zeigen müssen, die nicht zur eigentlichen Aussage beitragen und ihr Dasein keiner künstlerischen Absicht verdanken. Zwar kann es sich ergeben, daß ein Teil dieser Merkmale zufällig oder auch wegen ihres Zusammenhanges mit beabsichtigten Merkmalen in möglichen Auffassungen des Werkes eine nachträgliche künstlerische Bedeutung erhält. Sicher ist aber, daß ein Überwiegen der nicht beabsichtigten gegenüber den beabsichtigten Merkmalen dem Kunstwerk stets den Stempel des Dilettantischen verleiht. Man kann daher wohl sagen, daß der-ästhetische Wert jedes Kunstwerkes durch zwei Faktoren bestimmt wird: nicht nur durch den moralischen Charakter seiner Idee, der durch ihr Verhältnis zum jeweils als gültig zu betrachtenden ethischen Ideal bestimmt wird, sondern auch durch das Verhältnis der aussagetragenden zu den „zufälligen" Merkmalen, die das Kunstwerk an sich selbst wie an den dargebotenen Gegenständen demonstriert — ein Verhältnis, das wir als kennzeichnend für die „Dichte" der Aussage anzusehen haben.

16. Vorlesung Es bleibt uns noch übrig, einige Bemerkungen über gewisse Entwicklungen in der modernsten Kunst zu machen, die teilweise Anlaß zu heftigem Streit gegeben haben. Dabei handelt es sich zunächst um die fraglichen Kunstwerke selber, manchmal aber auch um die Theorien, die sich an ihre Entstehung knüpfen oder denen sie gar ihre Entstehung verdanken. Es scheint nämlich, daß manche Künstler sich in dem, was sie hervorbringen, heutzutage stark von theoretischen Erwägungen leiten lassen. Hier sei gleich eine Vorbemerkung eingeschaltet. Theoretische Klarheit kann jedem Künstler gewiß nur nützen, wenn sie ihm z. B. hilft, sich von überholten Vorstellungen zu befreien, die sich sonst als Hemmnis im Schaffensprozeß auswirken müßten. Es darf aber nicht dahin kommen, daß die Theorie — und sei sie noch so richtig — im künstlerischen Schaffensprozeß zum Hauptmaßstab wird, mit dessen Hilfe die fortlaufende Prüfung des Erreichten erfolgt, so daß sie das, worauf 155

system des Schöpfers des Kunstwerks vorhanden sein, damit es überhaupt entstehen kann. Wie kommt es aber dort zu ihrer Ausbildung? Müssen sie etwa schon vorliegen, ehe die Gestaltung des Kunstwerks beginnen kann? Sicher nicht. In Wirklichkeit tritt gewiß auch hier mehr oder weniger ausgeprägt das schon im Verhalten der Tiere als „trial and error" und in der Wissenschaft als die Methode des Experiments bekannte Verfahren ein. Der Künstler kombiniert laufend ihm aus der Wirklichkeit bekannte konkrete Einzelzüge, prüft die sich dabei ergebenden Aussagen und ergänzt und korrigiert das Geschaffene so lange, bis das Ergebnis eine Aussage erhält, die zu machen ihm richtig und notwendig erscheint. Die Aussage entsteht also nur zusammen mit dem Kunstwerk selbst — nicht etwa losgelöst von ihm — in Wechselwirkung mit den Teilen, die in ihm zusammentreten. Ganz ebenso erarbeitet sich der Interpret eines Musikwerkes und überhaupt jeder ein „aufführbares" Kunstwerk Nachschaffende seine Auffassung des Werkes. Selbstverständlich wird das Kunstwerk stets in seiner äußeren Form, wie an den Gegenständen, die es darstellt, auch Merkmale zeigen müssen, die nicht zur eigentlichen Aussage beitragen und ihr Dasein keiner künstlerischen Absicht verdanken. Zwar kann es sich ergeben, daß ein Teil dieser Merkmale zufällig oder auch wegen ihres Zusammenhanges mit beabsichtigten Merkmalen in möglichen Auffassungen des Werkes eine nachträgliche künstlerische Bedeutung erhält. Sicher ist aber, daß ein Überwiegen der nicht beabsichtigten gegenüber den beabsichtigten Merkmalen dem Kunstwerk stets den Stempel des Dilettantischen verleiht. Man kann daher wohl sagen, daß der-ästhetische Wert jedes Kunstwerkes durch zwei Faktoren bestimmt wird: nicht nur durch den moralischen Charakter seiner Idee, der durch ihr Verhältnis zum jeweils als gültig zu betrachtenden ethischen Ideal bestimmt wird, sondern auch durch das Verhältnis der aussagetragenden zu den „zufälligen" Merkmalen, die das Kunstwerk an sich selbst wie an den dargebotenen Gegenständen demonstriert — ein Verhältnis, das wir als kennzeichnend für die „Dichte" der Aussage anzusehen haben.

16. Vorlesung Es bleibt uns noch übrig, einige Bemerkungen über gewisse Entwicklungen in der modernsten Kunst zu machen, die teilweise Anlaß zu heftigem Streit gegeben haben. Dabei handelt es sich zunächst um die fraglichen Kunstwerke selber, manchmal aber auch um die Theorien, die sich an ihre Entstehung knüpfen oder denen sie gar ihre Entstehung verdanken. Es scheint nämlich, daß manche Künstler sich in dem, was sie hervorbringen, heutzutage stark von theoretischen Erwägungen leiten lassen. Hier sei gleich eine Vorbemerkung eingeschaltet. Theoretische Klarheit kann jedem Künstler gewiß nur nützen, wenn sie ihm z. B. hilft, sich von überholten Vorstellungen zu befreien, die sich sonst als Hemmnis im Schaffensprozeß auswirken müßten. Es darf aber nicht dahin kommen, daß die Theorie — und sei sie noch so richtig — im künstlerischen Schaffensprozeß zum Hauptmaßstab wird, mit dessen Hilfe die fortlaufende Prüfung des Erreichten erfolgt, so daß sie das, worauf 155

es eigentlich ankommt, nämlich die erzielte Aussage in ihrer Rolle als Prüfstein für die Qualität des Erreichten mehr oder weniger verdrängt: Das Resultat wird dann stets eine gewisse Schematisierung und letzten Endes eine Verarmung der Aussage sein. Wir werden noch sehen, daß tatsächlich ein nicht kleiner Teil der modernsten Kunst diesen Mangel aufweist, besonders fühlbar natürlich in den Fällen, wo die angewandte Theorie von vornherein unzulänglich oder gar falsch ist. Wir beginnen mit einem anerkanntermaßen sehr fruchtbaren theoretischen Begriff, der vielfach als maßgebende Richtlinie speziell für die dramatische Kunst gilt, tatsächlich aber, in entsprechendem Sinne verstanden, für alle Kunstarten die gleiche positive Bedeutung besitzt, in denen als Demonstrationsobjekte für die künstlerische Aussage konkrete, in Einzelheiten erkennbare, vom Kunstwerk selbst verschiedene Gegenstände auftreten: dem Begriff der Verfremdung. Eigentlich handelt es sich dabei um mehrere verschiedene Begriffsinhalte, f ü r die nur dasselbe Wort gebräuchlich ist. Seine erste Bedeutung bezieht sich auf eine in der Kunst nicht gerade neue Maßnahme: nämlich die Verpflanzung von aktuellen Problemen in ein zeitlich oder räumlich fernes Milieu. Beispiele hierfür haben wir schon kennengelernt. So werden in historischen Dramen oder Romanen den dargestellten Personen und Dingen regelmäßig wohl alle diejenigen Merkmale erteilt, die geeignet sind, die Funktion von Trägern der künstlerischen Aussage auszuüben, wogegen nun aber viele Merkmale ohne weiteres fehlen können, die anderen, aus der Gegenwart genommenen Demonstrationsobjekten unvermeidlich anhaften würden, ohne daß sie doch zur künstlerischen Aussage beizutragen vermöchten. Der Sinn dieser scheinbaren Flucht aus der Gegenwart ist klar: Es soll vermieden werden, daß die Aufmerksamkeit des Lesers oder Theaterbesuchers durch unwesentliche Züge des Dargestellten vom Wesentlichen, und zwar gerade von dem für die praktische Anwendung in der Gegenwart Wesentlichen, abgelenkt wird. Mit anderen Worten: Die beschriebene Methode der Verfremdung ist nichts anderes als ein wirksames Mittel zur Erhöhung der „Dichte" der Aussage. Freilich wird die Erteilung der für die Gegenwart entscheidenden Merkmale an Erscheinungen der Vergangenheit — wie auch schon früher erwähnt — fast immer auf Kosten der historischen Treue der Darstellung vor sich gehen. Doch ist deren Erzielung eben nicht identisch mit der eigentlichen Aufgabe der Kunst und muß im Zweifelsfalle hinter ihr zurücktreten. Wir sind uns ja schon klar darüber geworden, daß die Forderungen des „beschreibenden" Realismus grundsätzlich hinter denen des „produktiven" zurückstehen müssen. Dasselbe wie für die literarische Bearbeitung historischer Themen gilt natürlich auch für ihre malerische oder plastische Behandlung. Doch gibt es auch eine Kunstart, auf die das eben erläuterte Prinzip der Verfremdung ihrem Wesen nach von vornherein nicht paßt, nämlich die reine, auf sich selbst gestellte Musik. Wie wir schon gesehen haben, enthält sie stets ebenfalls mindestens eine Darstellung in der Wiedergabe innerer Vorgänge, an die sich auch noch andere Darstellungsfunktionen allgemeiner Art mehr oder 156

weniger innig anschließen können, wie wir sie bereits am Beispiel der Barockmusik kennengelernt haben. Nicht selten ist auch die akustische Nachahmung einzelner äußerer Vorgänge, etwa eines Gewitters oder des Rauschens eines Baches oder von Maschmengeräuschen, die in der modernsten Musik auch vorkommt. Was indessen bei allen diesen Darstellungen immer fehlt, das ist das unfreiwillige Mitschleppen von belanglosen, vom Wesentlichen ablenkenden Merkmalen der dargestellten Gegenstände, da diese hier doch stets der konkreten Bestimmtheit ermangeln, in der die Ursache für dieses Mitschleppen liegt. Insofern erweist sich dieser Mangel im Grunde als ein Vorzug. Er entfällt natürlich, wenn die Musik, etwa im Lied oder in der Oper oder im Oratorium, eine Verbindung mit anderen Kunstarten eingeht, deren gegenständliche Darstellung größere Bestimmtheit besitzt. In einem ganz anderen Sinne spricht man in der Musik von Verfremdung, wenn in eine im übrigen moderne Komposition Teile eingearbeitet sind, die aus einer früheren Epoche stammen und in dem neuen Zusammenhange auch in ihrer künstlerischen Aussage verändert erscheinen, z. B. nicht selten in ironischem Sinne, was dann freilich nicht unbedingt erfreulich zu wirken braucht. In dieser Form kann „Verfremdung" natürlich auch in der reinen Instrumentalmusik auftreten. Eine dritte Bedeutung desselben Wortes betrifft ausschließlich die Kunst des Schauspielers und bezeichnet eine besondere Technik der Darstellung, die aber im Grunde wieder denselben positiven Zweck verfolgt wie die zuerst erwähnte Art der Verfremdung, nämlich zu erreichen, daß die Aufmerksamkeit des Theaterbesuchers nicht zu sehr von Dingen in Anspruch genommen wird, die im Sinne der künstlerischen Aussage nebensächlich sind oder ihr sogar entgegenwirken. Diese Technik soll vor allem angewandt werden, wenn wesentliche Teile der Aussage nur durch Nachdenken zugänglich sind und eine gewisse ruhige Nüchternheit der inneren Einstellung des Theaterbesuchers voraussetzen. Sie fordert demgemäß vom Schauspieler, daß er vor allem darauf verzichtet, den Zuschauer durch Emotionen abzulenken, die mit dem Sinn der Aussage nicht direkt zu tun haben. Statt dessen soll er ihm dazu verhelfen, die Nüchternheit und Kühle der Betrachtung, die er braucht, zu erlangen. Offenbar ist diese Art der Schauspielerei nicht in jedem Bühnenstück angebracht. Aber auch da, wo alle Voraussetzungen für ihren nutzbringenden Einsatz gegeben sind, kann sie bei schematischer Anwendung ihren Sinn vollständig verfehlen und sogar eine gegenteilige Wirkung hervorrufen: so, wenn der Versuch, „Abstand" vom Vorgetragenen zu gewinnen, den Schauspieler zu sinnwidrigen Betonungen und Pausen an falscher Stelle verführt, die das Verständnis des Textes sehr erschweren und dem Hörer das geforderte Nachdenken, statt es zu erleichtern, fast unmöglich machen. Durch den Zwang, den der Schauspieler sich dabei auferlegen muß, kann auch seine Mimik und Gestik etwas Starres und Verkrampftes erhalten, das nicht gerade geeignet ist, den Zuschauer zum innerlich aktiven „Mitgehen" zu veranlassen, wie es doch nun einmal eine Vorbedingung für die verständnisvolle Aufnahme der Aussage jedes Kunstwerkes ist. 157

Eng mit dem soeben Erörterten hängt das Problem der sogenannten „abstrakten" Kunst und insbesondere ihrer „gegenstandsfreien" Form zusammen. Vorab wäre allerdings zu bemerken, daß beide Bezeichnungen sehr unglücklich gewählt sind. Abstrakt ist offenbar notwendigerweise die Aussage jedes Kunstwerkes insofern, als sie stets einen allgemeinen Inhalt besitzt, der auf viele im einzelnen mehr oder weniger verschiedene konkrete Erscheinungen des Lebens anwendbar sein muß, während das Kunstwerk selbst, auch das „abstrakte", immer ein konkretes Erzeugnis und nicht abstrakt ist. Nicht besser steht es mit der Bezeichnung „gegenstandsfrei". Wir haben ja schon gesehen, daß gerade die Werke der bildenden Kunst, auch wenn sie einen ganz konkreten Vorwurf' besitzen, regelmäßig durch die Struktur ihrer Linien und Flächen und die Art der auf ihnen vereinigten Farben eine zweite Darstellungsfunktion ausüben, die weitgehend derjenigen der Musik gleicht und deren Gegenstand in erster Linie Zustände und Vorgänge des menschlichen Innern sind. Diese Funktion muß selbstverständlich erhalten bleiben, auch wenn der konkrete Vorwurf fehlt oder nicht mehr erkennbar ist, sofern nur die allgemeinen Strukturmerkmale der Wiederholung, der Vereinigung von Gegensätzen usw. nicht fehlen, die aber schließlich jedes Erzeugnis besitzen muß, das den Anspruch erheben will, ein Kunstwerk zu sein. Tatsächlich entzieht sich auch die sogenannte „gegenstandsfreie" Kunst diesen strukturellen Fordertingen im allgemeinen nicht und wird dadurch, ob sich ihr Urheber nun dessen bewußt ist oder nicht, doch zu einer eben nicht gegenstandsfreien. Der Wunsch, den konkreten Vorwurf fallen zu lassen oder ihn doch nur in wenigen, für wesentlich gehaltenen Merkmalen wiederzugeben, hat nun zweifellos dieselben Gründe wie die Forderung der „Verfremdung" in der ersten und letzten ihrer vorhin diskutierten Formen: nämlich die Ablenkung des Beschauers durch im Sinne der beabsichtigten Aussage Nebensächliches zu verhindern. In diesem Sinne wäre die „gegenstandsfreie" Kunst mit der reinen, nicht durch gesungene oder in einem Programmheft niedergelegte Worte erläuterten Instrumentalmusik zu vergleichen, mit der sie auch die prinzipielle teilweise Unbestimmtheit des ins menschliche Innere verlegten Vorwurfs gemeinsam hat. Es scheint jedoch, daß diese Unbestimmtheit im Vergleich zur Musik stets stärk vergrößert ist, so sehr, daß die gewonnenen Vorteile für die Reinheit der Aussage den eintretenden Verlust an Bestimmtheit im allgemeinen kaum wettmachen werden. Immerhin liegt ja im Verzicht auf den konkreten Vorwurf insofern auch ein künstlerischer Verzicht, als der dargestellte äußere Gegenstand doch ebenfalls fähig ist, Merkmale zu demonstrieren, die in die künstlerische Aussage einzugehen und sie sogar in entscheidender Weise zu bereichern vermögen. In der Musik wird dieser Verzicht regelmäßig deswegen kaum spürbar, weil sie nicht nur einen augenblicklichen Zustand des Innern, sondern auch dessen Entwicklung in der Zeit wiederzugeben imstande ist, wodurch die grundsätzliche Unsicherheit des Ausdrucks eben doch stark verringert wird. Das wahre Äquivalent der Musik wäre ein „gegenstandsfreier" Film. Ein entsprechendes Experiment ist tatsächlich vor vielen Jahren gemacht worden. Ich habe den Film gesehen und kann bezeugen, daß seine Wirkung in keiner Weise 158

geringer, eher noch stärker war, als der einer Symphonie. Es wurde sogar vielfach die Meinung ausgesprochen, daß die vermittelte außerordentliche Gefühlserregung für die meisten Zuschauer schon die Grenze des Erträglichen streifte oder überschritt, und vielleicht war das einer der Gründe, die eine Wiederholung des Experiments verhindert haben. Übrigens war der Verzicht auf die künstlerische Wirkung durch den konkreten Gegenstand schon durch die vorangegangene impressionistische Periode der Malerei vorbereitet worden, auf deren Höhepunkt dieser Gegenstand als Solcher oft kaum noch eine Bedeutung besaß und im wesentlichen nur als ein Vorwand diente, um das Spiel des Lichtes zu .zeigen, das dabei zum eigentlichen Träger der künstlerischen Aussage wurde. Außer den sogenannten „gegenstandsfreien" gibt es ferner auch eine Art „abstrakter" Bilder, die zwar keinen realen Gegenstand deutlich erkennbar darbieten, dafür aber allerlei Gebilde, die mehr oder weniger eindringlich an Reales erinnern. Bevorzugt scheinen hier einesteils Ekel und Grauen erregende Objekte, wie Eingeweide, Leichenteile, Mißbildungen und dergleichen, andernteils mikroskopische organische Vorbilder zu sein. Nicht selten sind auch mehr oder weniger vage Darstellungen sexueller Motive. Solche Darstellungen bilden bereits einen gewissen Übergang zum sogenannten „Surrealismus", der mindestens einen Teil der wiedergegebenen Gegenstände oder Menschen ganz naturalistisch ausführt, einem anderen Teil, oder auch nur der Zusammenstellung der Teile, jedoch völlig unwirkliche Züge verleiht. Das kann z. B. dadurch erzielt werden, daß sich vertraute Objekte in einer unmöglichen Landschaft befinden, oder daß etwa — was übrigens ein schon beinahe abgebrauchtes Motiv zu sein scheint — irgendwo aus der Erde der Kopf eines Menschen mit gequältem Gesichtsausdruck hervorragt, und was dergleichen Dinge mehr sind. Oft entsteht der vielleicht gar nicht einmal falsche Eindruck, daß es sich um die Wiedergabe eines Angsttraumes handelt. Jedenfalls vermitteln die genannten Darstellungen dem Beschauer so gut wie regelmäßig dasselbe lähmende Gefühl der Hilflosigkeit, das auch solche Träume, kennzeichnet. Auch die Empfindungen, die von abstrakten Bildern ohne irgendwie angedeuteten äußeren Gegenstand hervorgerufen werden, pflegen recht häufig negativer Art zu sein, wie Schrecken oder Entsetzen oder auch innere Öde und dumpfe Verzweiflung, so daß es auch bei ihrer Betrachtung kaum zu dem moralisch positiv wirkenden Appell kommen kann, den wir letzten Endes doch von aller Kunst erwarten müssen. Jedoch gibt es auch „gegenstandsfreie" Darstellungen gegenteiliger Art, die offensichtlich Lebensfreude, Optimismus und kraftvolle Aktivität ausstrahlen. Ein großer Teil leidet an offensichtlicher Konstruiertheit, die dem Ganzen den Charakter eines bloßen Ornaments ohne besondere, irgendwie erschütternde oder sonstwie bewegende Aussage mitteilt. Von den „abstrakten" Bildern, die ich gesehen habe, scheinen mir diesen Vorwurf charakteristischerweise am wenigsten einige zu verdienen, deren Urheber, ein französischer Physiker und ein Kind, keine Berufskünstler sind. 159

Wenn das große Publikum in so gut wie allen Ländern lange Jahre fast alle Werke in Bausch und Bogen abgelehnt hat, die in irgendeinem Sinne zur abstrakten, nicht realistischen Richtung der bildenden Kunst zählen, so gewiß weniger aus kritischer Einstellung gegenüber dem manchmal vielleicht wirklich nicht allzu großen handwerklichen Können der Urheber, als in der Hauptsache deswegen, weil es die in den meisten dieser Werke enthaltenen Aussagen nicht billigen konnte. Übrigens ist auch nicht selten ein Kokettieren der Künstler mit einem gewissen absichtlichen. Dilettantismus oder einer vorgetäuschten Naivität zu bemerken, die den Außenstehenden vielleicht sogar abschrecken soll. Im ganzen sind die Spielarten dessen, was meist unter dem Sammelnamen der „abstrakten" Kunst zusammengefaßt wird, hier unmöglich alle aufzuzählen. Sie nur vollständig kennenzulernen, würde schon ein SpezialStudium erfordern, das aber bei der Kurzlebigkeit vieler solcher Richtungen wohl kaum lohnend wäre. Eine inzwischen schon beinahe historisch gewordene Art der Malerei möge jedoch noch etwas eingehender behandelt werden: der sogenannte Kubismus, der seinen Namen übrigens nur der Spottlust seiner ersten Gegner verdankt, die damit auf ein oft etwas stereotyp hervortretendes Formelement dieser Werke anspielen wollten. Wenn die „gegenstandslose" Malerei in gewisser Hinsicht, nämlich was das dem Gegenstand zugeteilte Gewicht anbelangt, als eine logische Fortsetzung des Impressionismus angesehen werden kann, verdankt der Kubismus seine Entstehung der bewußten Opposition seiner ersten Schöpfer gegen diese Entwicklung. Sein ursprüngliches Bestreben war im Gegenteil, dem Gegenständlichen in der bildenden Kunst auf neue Weise wieder zu seinem Recht zu verhelfen, und zwar durch eine gewissermaßen analytische Behandlungsart. Oft wurde und wird der konkrete Gegenstand in demselben Bilde gleichzeitig nebeneinander oder ineinandergeschachtelt von verschiedenen Seiten wiedergegeben oder er wird in einzelne Teile zerlegt, die wieder in derselben Weise, jedoch im allgemeinen aus ihrem tatsächlichen Zusammenhang gelöst, jeder für sich erscheinen. Dabei herrschte besonders in der Anfangsperiode das Bestreben, die einzelnen Formen dadurch zu vereinfachen, daß man sie nach Möglichkeit durch gerade, in spitzem oder stumpfem Winkel aneinanderstoßende Linien begrenzte, wodurch oft der Eindruck der Zusammensetzung des Objektes aus perspektivisch dargestellten Würfeln entstand — daher der Name dieser Richtung. Auch Kreisbogen waren gebräuchlich, wenn auch weniger beliebt. Wahrscheinlich sollte diese aus (psychologisch falschen) theoretischen Überlegungen entspringende „Vereinfachung", die in Wirklichkeit auf eine bloße Schematisierung hinauslief, die Auffassung der Formen erleichtern. Praktisch ergab sich freilich das Gegenteil. Der Erfolg war nicht selten der, daß das Objekt kaum noch zu erkennen war und seine Art vom Beschauer zunächst einmal aus der Benennung des Bildes entnommen werden mußte, als Leitfaden für das mehr oder weniger mühsame Zusammensuchen seiner Teile in der Darstellung. Auch kamen besonders beim Bemühen, den menschlichen Körper gleichzeitig von verschiedenen Seiten wiederzugeben, oft Verzerrungen zustande, die nur abstoßend 160

wirken konnten und gewiß auch einen wesentlichen Grund für die weitgehende Ablehnung auch dieser Kunst durch die Allgemeinheit ausmachen. In der letzten Entwicklung hat übrigens der Kubismus — wie auch andere Richtungen der modernsten Malerei — zur Vorliebe für eine andere Art von Schematismus geführt, in dem die Darstellung des menschlichen Körpers, speziell auch des Antlitzes, auf wenige Linienelemente zurückgeführt wird, die manchmal stark an die chinesische Bilderschrift erinnern. In theoretischen Erörterungen über solche Darstellungen wird auch gelegentlich gesagt, daß man sie „lesen" müsse, um ihren Inhalt zu verstehen. Jedenfalls reduziert sich damit die Aussage der Darstellung wirklich auf ein äußerstes Minimum, da jedes solche „Zeichen" ja bei konsequenter Durchführung dieses Prinzips nicht mehr vermitteln kann als etwa das Wort „Mann" oder „Frau" oder sogar noch weniger: nämlich den reinen Begriff des dargestellten Objekts ohne alle störenden, aber auch ohne alle diejenigen Merkmale, die als Träger künstlerischer Aussage fungieren könnten. Wenn solche Werke trotzdem oft eine künstlerische Wirkung ausüben, so jedenfalls deswegen, weil darin entweder dieses Prinzip eben doch nicht konsequentdurchgeführt ist, oder weil diebesondere Auswahl derin die „Schrift"-zeichen eingehenden Einzelmerkmale des Objektes oder die formalen Strukturmerkmale der Zeichen doch wieder eine zusätzliche Aussage bedeuten, die nur oft wegen der vorgenommenen Standardisierung dieser Zeichen etwas eintönig wirkt. Der Hang zur Schematisierung gerade der menschlichen Gestalt, und speziell bei der Darstellung der Gesichter von Männern und Frauen, der gleichzeitig den Verzicht auf jede individuelle Charakterisierung bedeutet, zeigt sich übrigens auch in der angewandten Kunst allgemein sehr deutlich, bei uns besonders in der Karikatur und der Gebrauchsgraphik. Es erhebt sich nun die Frage, was eigentlich die bildenden Künstler selbst mit den Werken beabsichtigen, die die Öffentlichkeit im allgemeinen nicht ohne weiteres akzeptiert? Beruht die weitgehende Ablehnung vielleicht nur auf einem Mißverständnis der Aussage, die der Künstler eigentlich gewollt hat? Manchmal geben uns die Künstler selbst darüber Auskunft. So hat einer von ihnen, Mondrian, dessen Gemälde nur immer neue, sehr harmonische Kombinationen von farbigen Rechtecken darstellen, selbst gesagt, daß er den Beschauern seiner Bilder nur jene Harmonie und Vollkommenheit darbieten wolle, die die heutige reale Welt vermissen läßt, wobei er noch zufügte, daß seine Kunst in dem Augenblicke überholt und überflüssig werden würde, in dem die reale Welt selbst in einen harmonischen Zustand gelangen sollte. Er will also offenbar, ganz anders als die von uns schon erwähnten Musiker des Barock, nicht ein — wenn auch idealisiertes — Abbild der wirklichen Welt, sondern gewissermaßen eine bessere „Ersatzwelt" liefern. Es muß nun auffallen, daß diese „Ersatzwelt" — wiederum ganz anders als die Welt des Barock — einen absolut statischen, jede Bewegung und jeden Drang nach vorwärts missenden Charakter aufweist. Sie soll ja auch offensichtlich nicht etwa im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts revolutionierend wirken, Sondern den Beschauer eher in eine duldende Haltung gegenüber gesellschaftlichen Mißständen versetzen. 11

Pfeiffer

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Naturwissenschaftler und Ingenieure verstehen manchmal nicht viel von der Kunst, Künstler aber so gut wie nie etwas von Mathematik, Physik und Chemie als den Grundlagen der modernen Technik, die ihnen, ganz anders als dem Wissenschaftler, dem Wirtschaftler, dem Ingenieur, dem Arbeiter und dem Bauern, die aus ihr unmittelbaren Nutzen ziehen, zumindest unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft nur zu oft als eine in ihrer Unverständlichkeit bedrohliche und furchterregende Macht erscheinen muß, besonders wenn der Mißbrauch der Technik zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen fälschlicherweise ihr selbst zur Last gelegt wird. Daher einesteils die häufigen Klagen über die angeblich unausweichliche „Mechanisierung" und „Entmenschlichung" des menschlichen Lebens durch die Technik, andererseits die Aufnahme eben der beklagten, zu Unrecht der Technik zur Last gelegten Erscheinungen in die Kunst selbst, mit der man sie vielleicht zu „überwinden" hofft, in Wirklichkeit aber höchstens eine Gewöhnung an wirklich vorhandene, aus ganz anderen Quellen als der Technik stammende Übel bewirken könnte, wenn sich das ja bis jetzt noch fehlende positive Echo der Allgemeinheit einstellen würde. Tatsächlich ist das eben behandelte Mißverständnis des technischen Fortschritts nur eine durchaus verständliche Äußerung der geistigen Selbstzersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, die eben nicht fähig ist, die notwendigen gesellschaftlichen Folgerungen aus der technischen Entwicklung der Produktivkräfte zu ziehen. Entsprechende Mißdeutungen sollten in der sozialistischen Gesellschaft unmöglich sein, ebenso wie die erwähnte unzulängliche Art des Protestes gegen moderne Erscheinungsformen der Unmenschlichkeit durch Aufnahme negativer Züge in die Aussage des Kunstwerks selbst. Für die am Beispiel der bildenden Kunst besprochenen Erscheinungen lassen sich teilweise auch in der Literatur Parallelen nachweisen. Ich nenne hier nur den Dadaismus der zwanziger Jahre, der absichtlich bedeutungslose Laute oder einzelne Worte ohne logischen Zusammenhang und damit auch ohne bestimmten Gegenstand aneinanderreihte. Er wäre in gewisser Hinsicht mit den „gegenstandsfreien" Werken der bildenden Kunst zu vergleichen. Seine Fortsetzung hat er in einer modernen Art der Lyrik gefunden, die nun zwar nicht mehr einzelne Worte, sondern jetzt einzelne Aussagen ohne logischen und mit nur rein „gefühlsmäßigem" Zusammenhang nebeneinandersetzt — vielleicht auch ein Versuch, die vorgenannte „Schizophrenie" in die Kunst selber einzuführen und sich letzten Endes mit ihr abzufinden. Weiter wäre als moderne literarische Richtung das sogenannte „absurde" Theater zu nennen, in dem grundsätzlich ähnlich wie im malerischen Surrealismus absolut realistische Einzelheiten mit anderen ganz unwirklichen zu einer manchmal auch wieder an Traumerlebnisse erinnernden Einheit zusammentreten. Dabei sind die verschiedensten Tendenzen möglich — auch solche, die zu einer in gewisser Weise den gesellschaftlichen Fortschritt fördernden Aussage führen. Dennoch scheint auch hier die Abweichung von der Realität regelmäßig einem wenigstens teilweisen Schematismus und damit einer gewissen Eintönigkeit Vorschub zu leisten, die die Aussage nicht gerade bereichert. 162

Man darf wohl sagen, daß die zuletzt skizzierten modernen Strömungen der Kunst trotz gewisser positiv zu wertender, vorwärtsweisender Elemente doch überwiegend nur als Symptome bestimmter Verfallserscheinungen der Gesellschaft, in deren Schoß sie entstehen, und damit im Sinne eines wahren Fortschritts der menschlichen Kultur als Fehlentwicklungen zu beurteilen sind, die wahrscheinlich früher oder Später wieder der Vergessenheit anheimfallen werden, wie es ja tatsächlich auch schon mehr als einer der neuen Richtungen ergangen ist. Man hört nun nicht selten die Meinung vertreten, daß die einzige Ursache für alle Fehler die Abkehr vom Realismus sei — wobei man, wenn dies meist auch nicht ausgesprochen wird, den „beschreibenden" Realismus im Auge hat — und daß es genüge, zu ihm zurückzukehren bzw. ihn nur festzuhalten, um gegen alle Abirrungen gefeit zu sein. Das kann aber nach allem, was wir bereits erkannt haben, nicht richtig sein, und gerade die neuere Literatur liefert dafür auch schlagende Beispiele. So wird in den unter der Benennung „nouveau roman" in Frankreich entstandenen Romanen die Genauigkeit der Wirklichkeitsbeschreibung zuweilen geradezu ins Extrem getrieben und teilweise wirklich eine große Anschaulichkeit zumindest in Einzelheiten erreicht. Was ist aber der eigentliche Sinn solcher Darstellungen? Er ist wiederum außerordentlich verschieden. Es gibt solche, deren Ziel offensichtlich eine nur allzu begründete Kritik an gewissen Zuständen der spätbürgerlichen Gesellschaft ist und die gewiß als ein positiver Beitrag zu ihrer Uberwindung betrachtet werden dürfen. Daneben sind aber auch andere entstanden, bei deren Lektüre sich dem Leser nichts weiter mitteilt als das vernichtende Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Aussichtslosigkeit und der menschlichen Ohnmacht gegenüber dem Bösen in anderen und in sich selbst — eine Aussage, die dem Werke nach den Maßstäben, die wir uns inzwischen geschaffen haben, trotz aller eventuellen Virtuosität der Darstellung im einzelnen, als Ganzem gewiß keinen wirklichen ästhetischen Wert zu verleihen imstande ist, einfach weil sie uns wegen ihrer moralischen Schwäche, die nie ästhetisch positiv wirken kann, schließlich abstoßen muß. Dazu kommt, daß die Genauigkeit im einzelnen, ähnlich wie in einem kubistischen Bilde, manchmal auf eine Art Zerstückelung des Gegenstandes hinausläuft, die seine Erfassung als Ganzes nicht erleichtert, sondern eher erschwert und unter Umständen sogar zu einer einigermaßen schwierigen Aufgabe macht. Dennoch ist damit noch nichts gegen die Technik des „nouveau roman" an sich ausgesagt. Ihr wesentliches Merkmal, die unermüdliche Kleinarbeit und die gleichberechtigte Darstellung auch der sonst nicht beachteten Einzelheit oder scheinbaren Abseitigkeit war z. B. schon dem in den zwanziger Jahren erschienenen Roman „Berlin-Alexanderplatz" des Berliner Arztes Alfred Döblin eigen, ohne daß der Gesamteindruck dadurch im Geringsten gestört worden wäre und auch ohne daß sich eine negative Aussage ergeben hätte. Im Gegenteil strömen seine Schilderungen, auch wenn sie recht fragwürdige Verhältnisse betreffen, einen unzerstörbaren Glauben an die Kraft zur Überwindung alles Schlechten aus. Um aber noch einmal auf die Bestrebungen zur Schaffung „gegenstandsfreier" Kunstwerke zurückzukommen: Sie gehen im Grunde auf die (falsche) These zurück, 11*

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daß maßgebend für die Wirkung jedes Kunstwerks eigentlich nur seine formale Struktur sei, und mit dieser These hängen wiederum die für eine gewisse Richtung der heutigen Ästhetik charakteristischen Versuche zusammen, das Kunstwerk lediglich als „Nachricht" im Sinne der rein formalen, vom Inhalt der Nachricht grundsätzlich absehenden mathematischen Informationstheorie aufzufassen. Dabei wird der durch den Gegenstand vermittelten Information grundsätzlich nur die Rolle einer (im Prinzip überflüssigen) „Redundanz" zuerkannt. [12], [13] Nun wird niemand bestreiten, daß die Informationstheorie tatsächlich große Erfolge aufzuweisen hat, wo es sich um die technischen Möglichkeiten zur Übermittlung von Nachrichten handelt, deren Inhalt sich hinreichend durch eine definierte Anzahl von Entscheidungen zwischen einer begrenzten Anzahl alternativ zu erwartender möglicher Tatbestände festlegen läßt, wobei die Zahl der durch die Nachricht ermöglichten Entscheidungen gleichzeitig ein quantitatives Maß für den Inhalt der Nachricht abgibt. Was indessen die Kunst anbelangt, so bedeutet die von uns bereits erkannte Unmöglichkeit einer erschöpfenden Analyse der Kunstwerksaussage natürlich, daß sie nicht durch eine begrenzte Zahl von Entscheidungen wiederzugeben ist und damit entfällt offenbar ihre zureichende Erfassung durch den mathematischen Apparat der Informationstheorie von vornherein. Dazu kommt, daß sich, wie wir gesehen haben, das Wesen der künstlerischen Aussage durchaus nicht in einer bloßen „Information" erschöpft, sondern stets zugleich einen Appell, einen Stimulus in sich schließt, dessen Auswirkungen sich niemals in bestimmte Grenzen fassen lassen und bei wahrhaft großen Kunstwerken stets ins Unabsehbare reichen. Davon zu abstrahieren, hieße offenbar, gerade das zu vernachlässigen, worauf es in der Kunst eigentlich ankommt. Das bedeutet allerdings noch nicht, daß die Anwendung der mathematischen Informationstheorie im Bereich der Kunst überhaupt entfiele. Die Voraussetzung, daß die Zahl der Möglichkeiten, zwischen denen durch die als Informationsträger wirkende „Nachricht" entschieden werden muß, nur begrenzt ist, kann auch hier durchaus gegeben sein, insofern als bestimmte Gattungen der formalen Elemente, die als „Zeichen" oder „Superzeichen" Träger von Einzelbedeutungen werden können, in vielen Fällen zahlenmäßig beschränkt sind, so wie es etwa für die Laute und Worte der verschiedenen Sprachen oder für die relativen Tonhöhen der in den gebräuchlichen Tonarten vorkommenden Töne und Akkorde gilt. Dann ist die Informationstheorie zur Beurteilung der Möglichkeiten für die Weitergabe und Erkennung der Zeichen als solcher grundsätzlich sehr wohl geeignet. Indessen haben wir bereits die Gründe eingesehen, aus denen die an solche Träger zu knüpfenden Bedeutungen keineswegs beschränkt zu sein brauchen und in der Kunst, wo sie die eigentliche künstlerische Aussage bestimmen, auch gar nicht beschränkt sein dürfen. Eine logische Folge aus der Überzeugung, daß die mathematische Informationstheorie zur vollständigen Erklärung der künstlerischen Wirkung ausreiche, ist die Behauptung, daß es möglich sein müsse, Kunstwerke automatisch durch Computer zu erzeugen und damit den Künstler grundsätzlich überflüssig zu 164

machen. Wirklich sind solche Versuche unternommen worden. Ihre Resultate sind mir nicht bekannt geworden. Doch dürfte es unmöglich sein, daß irgendein Rechengerät dem Menschen die für den künstlerischen Schaffensprozeß, wie wir gesehen haben, doch wesentliche Arbeit der fortwährenden Überprüfung und Verbesserung des in jedem Stadium der Erzeugung des Kunstwerks Erreichten abnimmt, da diese Überprüfung sich stets doch auch gerade auf den Ideengehalt des jeweils Produzierten zu beziehen hat — also eben auf das, was in die mathematische Theorie und ihre Anwendung im Computer nicht eingeht. Wohl sollte es möglich sein, den Computer so auszulegen, daß seine Erzeugnisse die Elementarstrukturen der Wiederholung in ihren verschiedenen Abarten, sowie die der Vereinigung von Gegensätzlichem (oder gegensätzlich Scheinendem) demonstrieren und damit in gewisser Weise Naturgebilden ähnlich werden. Sie könnten dann ästhetisch wohl als eine Art „Ersatznatur" wirken und müßten, außer in dem Falle, daß irgendwelche Assoziationen abwertender Art dies verhindern, im allgemeinen auch den Eindruck des „Schönen" hervorzurufen imstande sein, ähnlich wie die Natur selbst es tut. Zu Kunstwerken wären sie damit aber gewiß noch nicht geworden! Wir wollen damit nun unsere ästhetischen Betrachtungen abschließen und fassen nur noch einmal ihre Hauptergebnisse kurz zusammen: 1. Kein Kunstwerk kann allein nach seinen formalen Merkmalen beurteilt werden. Entscheidend auch für seinen ästhetischen Wert ist seine Aussage. 2. Die künstlerische Aussage ist stets sowohl nach ihrem Inhalt wie nach ihrer „Dichte" zu beurteilen, welch letztere wir als das Verhältnis der aussagetragenden Merkmale zu den „zufälligen", nicht aussagetragenden, künstlerisch gleichgültigen Merkmalen definiert haben, die das Kunstwerk neben den aussagetragenden an seiner eigenen Form oder an den in ihm dargestellten Gegenständen demonstriert. 3. Die Aussage muß, um als solche zu wirken, immer „Gestalt"charakter in dem von uns bereits definierten Sinne besitzen. Sie muß in wesentlichen Teilen neu sein und einen moralischen Appell zum ideellen Inhalt haben. 4. Als objektiver Maßstab für die Beurteilung des moralischen Gehalts dieses Appells kann allein seine Beziehung zu den Forderungen des gesetzmäßigen Fortschritts der Gesellschaft gelten. In der Klassengesellschaft handelt es sich also letzten Endes stets um deren notwendige Weiterentwicklung und in der Jetztzeit um ihre Ablösung durch die klassenlose Gesellschaft, die nunmehr zum eigentlichen Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung geworden ist. Wir wissen, daß sie nicht anders als durch den endgültigen Sieg der proletarischen Revolution in der ganzen Welt erzwungen werden kann: Der Beitrag, den irgendein Kunstwerk direkt oder indirekt zum Kampfe um diesen Sieg zu leisten oder nicht zu leisten vermag, ist also gegenwärtig für seinen gesellschaftlichen und damit auch für seinen ästhetischen Wert entschei12

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dend geworden. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß, wie wir gesehen haben, auch die Art der Lösung gewisser Probleme, die auf den ersten Blick rein persönlicher, privater Natur zu sein scheinen, in Wirklichkeit von größter gesellschaftlicher Bedeutung sein kann.

Literatur [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9]

W. I. LENIN, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952. J . C. ECCLES, Brain and Conscious Experience, Berlin, Heidelberg, New York 1966. K. JASPERS, Existenzphilosophie, Drei Vorlesungen Berlin, Leipzig 1964. A. AMBARZUMJAN U. a., Philosophische Probleme der modernen Kosmologie, Berlin 1965. H. HÖRZ, Physik und Weltanschauung, Leipzig, Jena, Berlin 1968. H. HÖRZ, A. Griese, Philosophie und Naturwissenschaft, Berlin 1968. K. JASPERS, Allgemeine Psychopathologie, Berlin, Heidelberg 1965. Ch. SHERRINGTON, Man on his Nature, Cambridge 1951. H. HÖRZ, Atome, Kausalität, Quantensprünge, Quantentheorie philosophisch betrachtet, Berlin 1964. [10] G. KLAUS, M. Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1964. [11] R. B. CATTELL, Personality and Motivation, New York—London 1957. [12] M. BENSE, Ästhetik, Zivilisation, Theorie der ästhetischen Kommunikation, Krefeld, Baden-Baden 1958. [13] A. MOLES, Information Theory and Esthetic Perception, Urbana, Chicago, London 1968. [14] F. ENGELS in K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1964, S. 21 f. [15] W. RÜDIGER, Unser Gehirn als Regelungs- und Informationsinstrument, Berlin 1970. [16] A. PFEIFFER. Streitgespräche über Grundfragen der Naturwissenschaft und Philosophie. Berlin 1961.

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dend geworden. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß, wie wir gesehen haben, auch die Art der Lösung gewisser Probleme, die auf den ersten Blick rein persönlicher, privater Natur zu sein scheinen, in Wirklichkeit von größter gesellschaftlicher Bedeutung sein kann.

Literatur [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9]

W. I. LENIN, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952. J . C. ECCLES, Brain and Conscious Experience, Berlin, Heidelberg, New York 1966. K. JASPERS, Existenzphilosophie, Drei Vorlesungen Berlin, Leipzig 1964. A. AMBARZUMJAN U. a., Philosophische Probleme der modernen Kosmologie, Berlin 1965. H. HÖRZ, Physik und Weltanschauung, Leipzig, Jena, Berlin 1968. H. HÖRZ, A. Griese, Philosophie und Naturwissenschaft, Berlin 1968. K. JASPERS, Allgemeine Psychopathologie, Berlin, Heidelberg 1965. Ch. SHERRINGTON, Man on his Nature, Cambridge 1951. H. HÖRZ, Atome, Kausalität, Quantensprünge, Quantentheorie philosophisch betrachtet, Berlin 1964. [10] G. KLAUS, M. Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1964. [11] R. B. CATTELL, Personality and Motivation, New York—London 1957. [12] M. BENSE, Ästhetik, Zivilisation, Theorie der ästhetischen Kommunikation, Krefeld, Baden-Baden 1958. [13] A. MOLES, Information Theory and Esthetic Perception, Urbana, Chicago, London 1968. [14] F. ENGELS in K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1964, S. 21 f. [15] W. RÜDIGER, Unser Gehirn als Regelungs- und Informationsinstrument, Berlin 1970. [16] A. PFEIFFER. Streitgespräche über Grundfragen der Naturwissenschaft und Philosophie. Berlin 1961.

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In diesem Buch wird erstmalig versucht, ausgehend von bestimmten Vorstellungen über die Art der Verschattung der Nervenzellen in unserem Gehirn und der sich daraus ergebenden Funktionsweise unseres Verstandes und Willens zu ebenso bestimmten Antworten auf allgemeine weltanschauliche Fragen vorzudringen. Dabei ergibt sich nicht nur eine wechselseitige Befruchtung allgemeiner naturwissenschaftlich-technischer, gesellschaftswissenschaftlicher und philosophischer Betrachtungsweisen, sondern es erscheinen auch manche sonst nicht im Zusammenhang gesehene Einzelprobleme, z. B. der Psychologie, der Verhaltensforschung, der Theorie der Kunst und der Kulturgeschichte, auf diese Weise in einem gemeinsamen Licht.