Zwischen Lachen und Weinen. Band 2 Zwischen Lachen und Weinen: Band II: Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage 9783050078335, 9783050035154

Die menschliche Lebensführung ist weder durch Wesenheiten vorherbestimmt noch eine beliebige Konstruktion. Sie bedarf de

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German Pages 422 [424] Year 2001

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Inhalt
Einleitung
1. Das geschichtliche Schauspiel der Kultur im semiotischen Spiel lebendiger Natur: zur Aktualität der Philosophischen Anthropologie im Streit der Gegenwartsphilosophien
1.1. Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen (Performativen)
1.2. Das Schauspiel der Körperleiber: die Frage-Antwort-Richtung der Philosophischen Anthropologie
2. Der dritte Weg der Semiosis lebendiger Natur im philosophischen Diskurs der Moderne: ein Vergleich der Kant- und Hegel-Transformationen im klassischen Pragmatismus und in der Philosophischen Anthropologie
2.1. Die Semiosis lebendiger Augenblicke: die Transformation der Hegeischen Unterscheidung zwischen Substanz und Subjekt im klassischen Pragmatismus
2.2. Prozesse der öffentlichen Untersuchung: John Deweys Konzeption einer alternativen Moderne
2.3. Vom Widerstreit der Forschungsverfahren zur Unergründlichkeit des Menschen: die Transformation der Kantschen Urteilskraft in der Philosophischen Anthropologie
2.4. Die ex-zentrische Positionalität: zur naturphilosophischen Emanzipation der Hegeischen Geisteskonzeption vom Paradigma des Selbstbewusstseins in der Philosophischen Anthropologie
2.5. Die öffentliche Natur menschlicher Lebewesen: klassischer Pragmatismus und Philosophische Anthropologie auf dem dritten Wege
3. Die Differenz zwischen dem Sex-Habitus und dem Schauspiel der Gender-Rolle: ihr erotischer Zusammenhang von der Leibesnatur her
3.1. Das Spektrum der Performativa in der politischen Öffentlichkeit: die Unterbestimmung der Geschlechterfrage als erotische Aufgabe
3.2. Die Sex-Gender-Unterscheidung und ihre philosophisch-anthropologische Problematisierung von der erotischen Leibesnatur her
3.3. Die anthropologische Ausgangslage für die Geschlechterfrage und das Reproduktionsproblem auf Leben und Tod: Hypothese über Männliches und Weibliches
3.4. Die Grenzen der Materialisierung diskursiver Performativität an psychisch lebbarer Sozialität
3.5. Zwischenbilanz
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Zwischen Lachen und Weinen. Band 2 Zwischen Lachen und Weinen: Band II: Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage
 9783050078335, 9783050035154

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Hans-Peter Krüger Zwischen Lachen und Weinen Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage

Hans-Peter Krüger

Zwischen Lachen und Weinen Band II Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage

Akademie Verlag

A b b i l d u n g auf dem Einband: Pablo Picasso: D o p p e l f l ö t e spielender weisser Faun, 1946 Picasso-Museum, Antibes © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, B o n n 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krüger, Hans-Peter Zwischen Lachen u n d Weinen / H a n s - P e t e r Krüger - Berlin : Akad. - Verl. Bd. 2. D e r dritte Weg Philosophischer A n t h r o p o l o g i e u n d die Geschlechterfrage - 2001 ISBN 3-05-003515-3 © Akademie Verlag G m b H , Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706 Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Satz: BlackArt, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Meinen Potsdamer Studenten und Mitarbeitern

Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Friedrich Schiller (1795)

Inhalt

Einleitung

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1. Das geschichtliche Schauspiel der Kultur im semiotischen Spiel lebendiger Natur: zur Aktualität der Philosophischen Anthropologie im Streit der Gegenwartsphilosophien

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1.1. Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen (Performativen) 1.1.1. Die Lebenswelt oder Lebensformen als Sprachgrenze 1.1.2. Sprache oder Schrift als die Begrenzung menschlicher Lebensformen 1.1.3. Die Frage nach der wechselseitigen Begrenzung von Leben und Sprache 1.1.4. Der Kreisprozess von der Lebenswelt über das kommunikative Handeln zu den Lebensformen 1.1.5. Von der Wissensordnung zur Biomacht 1.1.6. Agonale Machtspiele heute: die Selbstermächtigung zur Produktion wahren Lebens 1.1.7. Revue der Gegenwartsphilosophien: Säkularisierung oder christliche Hermeneutik? 1.1.8. Die Wahrnehmung der ersten Person Singular hier und jetzt (Performativität) 1.1.9. Von der Wiederkehr des Performativen als des Lebendigen und der Politik des Performativen 1.1.10. Die Pluralisierung des Zirkels von einem säkularen Dritten her: die Semiosis der lebendigen Natur 1.1.11. Die performativen Grenzen der Ironie am geschichtlich Lebbaren 1.2. Das Schauspiel der Körper-Leiber: die Frage-Antwort-Richtung der Philosophischen Anthropologie

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Inhalt 1.2.1. Freilegung der Aufgabe in der performativen, machtphilosophischen und quasitranszendentalen Wende der Gegenwartsphilosophie 1.2.2. Grobcharakterisierung der Philosophischen Anthropologie als Einstieg in den Vergleich 1.2.3. Die Unmittelbarkeit des Leibseins und die Mittelbarkeit des Körperhabens 1.2.4. Die sprachpragmatische Fassung des Problems der Performativität im Kategorischen Konjunktiv 1.2.5. Das Schauspiel der Personalisierung versus Individualisierung und seine Grenzen am ungespielten Lachen und Weinen 1.2.6. Die politisch-geschichtliche Aufgabe der Herausbildung souveräner Machtformen im Zeichen der Unergründlichkeit des Menschen 1.2.7. Die naturphilosophische Fundierung des Geschichtlichen durch die spielphilosophische Revision der Anpassungsund Selektionsfrage 1.2.8. Die semiotische Mittelstellung des Mediums der Sprache 1.2.9. Das Sein des Selbstseins oder das Spiel in und mit der Natur: Heidegger und Plessner als Gegenspieler in der deutschsprachigen Philosophie

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2. Der dritte Weg der Semiosis lebendiger Natur im philosophischen Diskurs der Moderne: ein Vergleich der Kant- und HegelTransformationen im klassischen Pragmatismus und in der Philosophischen Anthropologie 144 2.1. Die Semiosis lebendiger Augenblicke: die Transformation der Hegeischen Unterscheidung zwischen Substanz und Subjekt im klassischen Pragmatismus 2.1.1. Die Situierung der Aufgabe im Kontext der jüngeren Hegelund Pragmatismus-Renaissance 2.1.2. Die Reformulierung der Hegeischen Unterscheidung 2.1.3. Die pragmatische Transformation bei Peirce und James 2.1.4. Die Selbstbildung in Differenzen zwischen dem / und Me: play und game (G. Η. Mead) 2.1.5. Deweys „Körper-Geister" produzieren neue Werte in der Instrumentierung alter Werte 2.1.6. Deweys Umorientierung auf die öffentliche Rekonstruktion moderner Gesellschaften

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Inhalt

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2.1.7. Die pragmatische Pluralisierung des Zusammenhanges zwischen Semiosis und Lebensprozess als historische Aufgabe 210 2.2. Prozesse der öffentlichen Untersuchung: John Deweys Konzeption einer alternativen Moderne 2.2.1. Zur aktuellen Diskussion um die hypothetische Rechtfertigung der Demokratie als Untersuchungsprozess 2.2.2. Die Interpenetration von Wissenschaft, Technologie und Rechtsprechung als Potential einer alternativen Moderne 2.2.3. Die öffentliche Untersuchung: von individuell problematischen Situationen zu singulären Problemlösungen 2.2.4. Deweys Untersuchungs-Konzeption im philosophischen Vergleich 2.3. Vom Widerstreit der Forschungsverfahren zur Unergründlichkeit des Menschen: die Transformation der Kantschen Urteilskraft in der Philosophischen Anthropologie 2.3.1. Die Transformation im Überblick 2.3.2. Die Funktionalisierung der reflektierenden Urteilskraft für moderne Verfahren der Erforschung 2.3.3. Die Spezifik des Philosophischen im Widerstreit zwischen den Forschungsverfahren 2.3.4. Das Programm der Neuschöpfung der Philosophie in den „Stufen des Organischen und der Mensch" 2.3.5. Die machtphilosophische Konsequenz der Philosophischen Anthropologie in Plessners „Macht und menschliche Natur" . . . 2.3.6. Nietzsches „größte Selbstlosigkeit" 2.4. Die ex-zentrische Positionalität: zur naturphilosophischen Emanzipation der Hegeischen Geisteskonzeption vom Paradigma des Selbstbewusstseins in der Philosophischen Anthropologie 2.4.1. Der Kategorische Konjunktiv als der andere Ausweg aus der Kantschen Problematik einer teleologisch reflektierenden Urteilskraft 2.4.2. Das Subjekt in zentrischer Positionsform und die Substanz in exzentrischer Positionsform 2.4.3. Zwischenstand 2.4.4. Sich geschichtlich selber verwirklichende Skepsis 2.5. Die öffentliche Natur menschlicher Lebewesen: klassischer Pragmatismus und Philosophische Anthropologie auf dem dritten Wege

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Inhalt

3. Die Differenz zwischen dem Sex-Habitus und dem Schauspiel der Gender-Rolle: ihr erotischer Zusammenhang von der Leibesnatur her 3.1. Das Spektrum der Performativa in der politischen Öffentlichkeit: die Unterbestimmung der Geschlechterfrage als erotische Aufgabe . . . . 3.2. Die Sex-Gender-Unterscheidung und ihre philosophisch-anthropologische Problematisierung von der erotischen Leibesnatur her 3.3. Die anthropologische Ausgangslage für die Geschlechterfrage und das Reproduktionsproblem auf Leben und Tod: Hypothese über Männliches und Weibliches 3.4. Die Grenzen der Materialisierung diskursiver Performativität an psychisch lebbarer Sozialität 3.5. Zwischenbilanz

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

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Sachregister

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Einleitung

Der Band I des Buchs Zwischen Lachen und Weinen ist mit dem Untertitel Das Spektrum menschlicher Phänomene im Herbst 1999 erschienen. Dort habe ich das von Helmuth Plessners (1892-1985) Philosophischer Anthropologie eröffnete phänomenologische Spektrum erstmals in seinem theoretischen Gesamtzusammenhang rekonstruiert. Im Bd. II folgt nun das systematische und problemgeschichtliche Plädoyer für die Philosophische Anthropologie in Auseinandersetzung mit wichtigen Strömungen der Gegenwartsphilosophie. In dieser Auseinandersetzung wird die These entwickelt, dass die Philosophische Anthropologie die kontinentaleuropäische Variante eines dritten Weges modernen Philosophierens darstellt, dessen nordamerikanische Variante von der Philosophie des klassischen Pragmatismus eingeschlagen worden ist. Auf diesem dritten Wege werden die beiden Sackgassen vermieden, die menschliche Lebensführung entweder reduktiv zu naturalisieren oder idealistisch zu versprachlichen. Ob reduktiver Naturalismus oder Sprachidealismus, beide können monistische Ansprüche erheben oder in dualistischer Kombination auftreten. Stattdessen wird auf dem genannten dritten Wege die Spezifik menschlicher Lebewesen plural aus dem semiotischen Spiel der lebendigen Natur selbst begriffen. Beide Varianten des dritten Weges orientieren (bereits in den 20er Jahren des 20. Jhs.) auf eine öffentliche Rekonstruktion der bisherigen Fehlmodernisierungen um, statt in vormoderne Substanzmythen zurückzulaufen oder in der Wiederholung der Subjektphilosophie leerzulaufen. Die performative Teilnahme an der Semiosis der lebendigen Natur führt folgerichtig in die öffentliche Entdeckung des politischen Charakters der Produktion spezifisch menschlicher Lebewesen, statt die Spezifik des Menschen nur existenzhermeneutisch zu beschwören oder der naturalistischen Reduktion von Experto- und Technokraten zu überlassen. Die Philosophische Anthropologie erkundet, wie wir im Bd. I gesehen haben, diejenigen Möglichkeiten, die zur Entfaltung der menschlichen Lebewesen eigenen Körper-Leib-Differenz nötig sind: den Kategorischen Konjunktiv. Ihre spielphilosophische Antwort wurde bereits im Bd. I vom Verhaltensspiel (im Unterschied zum Spielverhalten der Tiere) über das elementare Schauspiel soziokultureller Rollen durch Medien hindurch bis zu gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Machtspielen

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Einleitung

fortentwickelt. Deren Ausbalancierung bedarf einer geschichtlich souveränen Selbstermächtigung, die an der Begrenzung der menschlichen Lebewesen nötigen Spielformen durch das ««gespielte Lachen und Weinen ansetzt. Demgegenüber ermöglicht die Überschreitung dieser Verhaltensgrenzen ^/^menschliches, das nicht nur die Einengung des Spielraumes lebender, sondern mehr noch die Tilgung der Spielzeit künftiger Generationen betrifft. Während zunächst, nämlich vom Standpunkt der gemeinschaftlich hier und jetzt geteilten Rollen, Individualisierung negativ als eine Abweichung von diesen Personalisierungsmustern erscheinen kann, tritt im gesellschaftlichen und geschichtlichen Vergleich der gemeinschaftlichen Maßstäbe für Personalisierung deren eigene Variabilität hervor. Diese gesellschaftliche und geschichtliche Variabilität der Personenrollen verdankt sich letztlich der Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit von Individuen und befördert umgekehrt die Individualisierung von Personen. Das Spezifische an der Philosophischen Anthropologie besteht mithin darin, dass sie den Zusammenhang zwischen der Personalisierung und der Individualisierung menschlicher Lebewesen phänomenologisch als Spielformen der Körperleiber in den von den Betroffenen selber angezeigten Grenzen aufweist. Die systematische Rekonstruktion dieser Phänomenologie lässt ein Kontinuum an Spielformen in der Natur erkennen, die semiotisch-sprachlich differenziert und in soziokulturellen Lebensformen positioniert werden können. Auf diese Weise entsteht eine Philosophie, die die semiotisch-sprachliche Spezifikation der soziokulturellen Natur menschlicher Lebewesen bis in deren Ermöglichung durch unsere Teilnahme an der lebendigen Natur selbst zurück verfolgt. Es ist diese Option einer in Spielformen lebendigen Natur und deren semiotisch-sprachlicher Vermittlungen im soziokulturellen Prozess, welche Plessners Philosophische Anthropologie mit der amerikanischen Philosophie des klassischen Pragmatismus vergleichbar werden lässt. Beide Philosophien setzen die strukturfunktionale Ermöglichung der Spezifik menschlicher Lebewesen nicht mehr (wie seit Descartes und Kant üblich) mit einem transzendentalen Selbstbewusstsein und auch nicht (wie in der Sprachwende der Philosophie des 20. Jhs. gängig) mit einer transzendentalen Sprache (Gespräch oder Schrift) an, geschweige physikalistisch oder biologistisch. Vielmehr führen beide Philosophien, die des klassischen Pragmatismus und die der Plessnerschen Anthropologie, in unsere Teilnahme an dem Spiel der Semiosis in der lebendigen Natur selber hinein. Diese Partizipation ist im philosophischen Diskurs der Moderne (seit dem Ende des 18. Jhs.) ungewöhnlich und wird in den üblichen Problemgeschichten unterschlagen. Umso strittiger sind daher gegenwärtig die Wiederbelebungsversuche beider Philosophien, die auffallender Weise gerade parallel eine Renaissance erfahren, ohne dass ihr Zusammenhang schon begriffen worden wäre und als Position in der Gegenwartsphilosophie systematisch vertreten werden würde. Dies soll hier gleichermaßen nachgeholt und angeregt werden. Die Gegenwartsphilosophie läuft großenteils fest entweder in reduktiven (physikalistischen, biologistischen) Naturalismen oder in rede-hermeneutischen und schrift-

Einleitung

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dekonstruktiven Sprachidealismen. Diese Spaltung wird zumeist eklektisch übergangen, oder sie verläuft nihilistisch im Sande, etwa da, wo die Schrift mit der DNS zusammenzufallen scheint. Abgesehen von solchem Monismus, Dualismus und Nihilismus (vgl. die Einleitung zum Bd. I) lohnt der Vergleich der Philosophischen Anthropologie erst mit Versuchen, die die Spaltung zwischen reduktivem Naturalismus und Sprachidealismus überwinden wollen. Dieser Vergleich erfolgt im Folgenden vor allem mit dem unvollendeten Lösungsversuch zwischen Strukturalismus und Hermeneutik von M. Foucault, mit J. Derridas Spannung zwischen Dekonstruktion und einer Ethik im Angesichte unendlicher Alterität (E. Levinas), mit J. Habermas' Komplementarität zwischen Lebenswelt und deren kommunikativer Rationalisierung mit der Konsequenz einer die Lebensformen kolonialisierenden Systemevolution, mit der „postmodernen" Philosophie (im Sinne von J.-F. Lyotard) und insbesondere mit J. Austins weit differenzierter Auffassung von Performativität. Da sich bedeutende Gegenwartsphilosophien zumeist auch durch eine Transformation des Problembestandes seit Descartes' Dualismus definieren, sind in der aktuellen Auseinandersetzung problemgeschichtliche Rückgänge auf das Ende des 18. beziehungsweise den Beginn des 19.Jhs. (Kant und Hegel) und auf das erste Drittel des 20.Jhs. (E. Husserl, M. Heidegger, G. Mischs Systematisierung von W. Dilthey, M. Scheler) eingeschlossen. Dadurch entsteht insgesamt eine andere Sicht auf den „philosophischen Diskurs der Moderne" (Habermas) respektive auf den europäischen „Gespensterkrieg" (Derrida), der sich auch nicht kritisch rationalisieren lässt: Der „Widerstreit der Diskursarten" (Lyotard) bezieht sich nämlich insbesondere darauf, wie die Weisen, in denen raumzeitliche Phänomene Diskursen zugänglich oder eben nicht gegeben werden, angesichts der neuen audiovisuellen Medien geändert werden. Die Entwicklung der verschmähten, vergessen gemachten, in Teilen stillschweigend einverleibten oder unabhängig von ihr wiederentdeckten Philosophischen Anthropologie H. Plessners legt die kontinentaleuropäische Variante des dritten Weges modernen Philosophierens frei. Der dritte Weg der Philosophischen Anthropologie wird erstens auffällig, indem im Philosophieren nicht versucht wird, das Muster einer der modernen Expertenkulturen gar noch avantgardistisch übertreffen zu wollen, also weder die wissenschaftlichtechnischen (C. P. Snows erster Kultur) noch die künstlerisch-ethischen Eliten (Snows zweiter Kultur). Vielmehr wird dieser dritte Weg in dem Maße begehbar, in dem das Philosophieren an den Problemen ansetzt, vor denen der Common Sense (sensus communis) gebildeter Bürger in ihrem praktischen Lebensvollzug steht, der sich dem Streit zwischen den verschiedenen Expertenkulturen, der Pluralisierung auch der Laienkulturen und den geschichtlichen Veränderungen ausgesetzt sieht. Diese, vom klassischen Pragmatismus vertretene Grundorientierung auf einen dritten Weg des Common Sense teilt die Philosophische Anthropologie, aber sie löst diese Aufgabe anders. Die Philosophische Anthropologie ist problemgeschichtlich nicht wie der amerikanische Pragmatismus die Frucht einer Pluralisierung, die aus der Masseneinwande-

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Einleitung

rung soziokulturell noch etwas anderes als den Schmelztiegeleffekt eines Weltmarktes hervorgehen lassen will, sondern die kontinentaleuropäische Lektion aus dem Europäischen Bürgerkrieg. Sie kann daher nicht wie der Pragmatismus als eine durch Kant- und Hegel-Rezeptionen gebrochene Fortsetzung des englischen Positivismus/ Empirismus mit seinem liberalen Naturrecht erscheinen. Vielmehr kommt die Philosophische Anthropologie durch die konsequente Negativität des Absoluten, also hier: durch die lebendige Natur bei der sich geschichtlich selber verwirklichenden Skepsis an. Dies ist eine andere, eben aus der katastrophischen Verkehrung moderner, unfreiwillig anthropologischer Selbstexperimente heraus geborene Form von pragmatischer Skepsis, die kein Vertrauen in die Positivität der marktförmigen und gewohnheitsrechtlichen Integration von Gesellschaft haben konnte, dafür aber umso sensibler für den Widerstreit zwischen den Diskursarten und Anschauungsformen sein musste. In diesem problemgeschichtlichen Licht lassen sich auch die Differenzen zwischen deutschsprachigen Philosophen bzw. Anthropologen der ersten Hälfte des 20.Jhs. (E. Cassirer, M. Scheler, H. Plessner, C. Schmitt, A. Gehlen u. a.) neu bewerten. Aktuell ist diese, sich erst durch die Negativität des Absoluten pragmatisch entdeckende Skepsis, weil es - unabhängig von diesem oder jenem Krieg - auch in der positiven Konsequenz der Moderne liegt, selbst noch den lebensweltlichen Common Sense immer schneller zu unterspülen, im Effekt der Diskursmächte immer ungleichzeitiger und künstlicher zu sedimentieren. Die hier erörterte Frage, ob den inzwischen gen- und reproduktionstechnologisch gestützten „Bio-Mächten" (Foucault) angesichts der verschiedenen Zeitmaße der Spezies noch „Geschichts-Mächte" Paroli bieten können, ist offen. Jedenfalls steht mit dem Fall des Politischen der Geschichtlichkeit die Frage nach der Spezies Mensch selber auf dem Spiel. Nur dieser Fall kann dem Kurzschluss des Lebens zwischen seinen natürlichen (prähumanen) und künstlichen (in der Konsequenz posthumanen) Technologien freie Bahn geben. Dabei ist schon bedacht, dass das philosophisch-anthropologische Kriterium der Exzentrierung zentrischer Organismen im Positionsfeld soziokulturell besiedelter Planeten einen großen Spielraum für die künstliche Produktion organismischer Materie einschließen kann, an dem sich bislang die öffentliche Diskussion aufhält. Die eigentliche Frage beginnt damit, wie der mitweltliche Spielraum für die Integration von Lebendigem beschränkt wird, was die bisherige Weltgeschichte klar ausgezeichnet hat, eben durch Artkriterien. Zweitens: Das Merkwürdige an der naturphänomenologischen Fundierung von Anthropologie besteht in ihrem aisthetisch, d. h. für die sinnliche Wahrnehmung und Anschauung, qualifizierten Naturalismus. Dieser aisthetische Naturalismus macht sie mit Ch. S. Peirces Semiopragmatik, J. Deweys Prozessmodell der Kontinuierung der ersten und zweiten Natur menschlicher Lebewesen, L. S. Vygotskijs kulturhistorischem Programm, der französischen Phänomenologie (M. Merleau-Ponty) vergleichbar und mag sie gar als „postmodern" erscheinen lassen, wenn man darunter nichtabsolutistische Formen der wechselseitigen Durchdringung moderner Handlungsarten

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und Handlungsbereiche versteht, ein Problem, das der klassische Pragmatismus als die Frage nach Interpenetrationen diskutiert hat. Diese lebensweltlichen Varianten eines aisthetisch qualifizierten Naturalismus des Lebendigen versuchen, sich den Reduktionen im bisherigen Naturalismus zu entziehen und dadurch gleichzeitig ohne idealistische Kompensation auszukommen. Es geht also nicht um eine Aisthesis des klassisch Schönen, der Wiedergewinnung von Heimat etc., sondern der Befremdung und Verfremdung, der Neugier durch die Neutralisierung gegenüber den überkommenen Dualismen der Wahrnehmung. Man muss sich hier aber fragen, wieweit die Durchführungen des programmatischen Versprechens, reduktive Naturalismusarten mit neuen Sprachidealismen im Kontinuum der ersten und zweiten Natur als Prozess (Dewey) verschränken zu können, gekommen sind. Im Vergleich mit wichtigen Paradigma-Konkurrenten wird der Ansatz der Philosophischen Anthropologie, die Verschränkung des körperleiblichen Spiels (Performanz) und des diskursiven Schauspiels (Performativität) zu leisten, das vom ungespielten Lachen und Weinen begrenzt wird, von mir als philosophisch unübertroffen vertreten. Es gibt, zumal in einer pluralen und audiovisuellen Mediengesellschaft, keinen besseren Vorschlag zur Erfassung und Begrenzung des spezifisch menschlichen Verhaltensspektrums, will und kann man dieses nicht illiberal vorherbestimmen. Die anderen diskutierten Vorschläge sind viel zu stark an das Verfahren in einer bestimmten Expertenkultur oder an die geschichtlichen Besonderheiten eines bestimmten kulturellen Selbstverständnisses gebunden, also nicht in interkultureller, sowohl verbaler als auch non-verbaler Kommunikation öffentlich universalisierbar. Gleichwohl schließt diese Würdigung der Philosophischen Anthropologie die Anerkennung bestimmter Leistungen anderer Philosophien und damit die Aufgabe der Fortentwicklung der Philosophischen Anthropologie ein. So lassen sich von der Philosophischen Anthropologie erschlossene Phänomenreihen besser ausführen, wenn ζ. B. ihr semiotisch-sprachpragmatischer Ansatz durch Austins Spektrum von Performativität, Peirces Semiotik und ihr Schrift-Ansatz auch durch Anregungen aus Derridas Schriftmodell (im Unterschied zum Redemodell) besser durchgeführt werden. Ahnliches gilt im Hinblick auf die von ihr verteidigten gesellschaftlichen „Verkörperungen", deren Eigendynamik gerade naturphilosophisch gesehen eine Verschränkung von Macht- und Diskursformen erfordert, die in Foucaults Unterscheidung zwischen unproduktiveren und produktiveren Machtformen zum Ausdruck kommt. Inzwischen mahnt O. Höffe die qualifiziert demokratische Antwort auf die Herausforderung der Globalismen expressis verbis durch eine mit Plessner verträgliche Minimalanthropologie an. Was die von Plessners Philosophischer Anthropologie erschlossenen gemeinschaftlichen „Verleiblichungen" angeht, ist Ch. Taylors Ontologie des Moralischen in ihrer kommunitär-hermeneutischen Einseitigkeit geschichtlich auch entfalteter. Um den Geschichtszugang der Philosophischen Anthropologie entwickeln zu können, wären Möglichkeiten der Habitus- und Mentalitätengeschichte näher zu erörtern.

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Einleitung

Der Bd. II enthält - über den innerphilosophischen Richtungsstreit hinausgehend auch einen exemplarischen Nachweis für die aktuelle Produktivität der Philosophischen Anthropologie. Dafür ist die Geschlechterfrage in besonderer Weise geeignet, weil in ihr beispielhaft die in Gegenwartsphilosophien übliche transzendentalpragmatische Rekonstruktion auf ihre performativen Grenzen stößt und sich einer machtphilosophischen Wendung der Frage qualifiziert stellen muss: Wir Philosophen können nicht mehr einfach rekonstruieren, was für die künftige Ermöglichung geschichtlich gegebener Praxen regulativ nötig wäre (transzendentalpragmatische Rekonstruktion), weil diese Praxen guten Grundes selber geschichtlich umstritten sind. Moderne Praktiken werden geschichtlich produziert, geraten in Widerstreit und weisen in ihrem lebendigen Vollzug performative Grenzen auf, d. h. solche für die Lebbarkeit der ersten Person hier und jetzt. Daher sind sie Machtphänomene, für deren Unterscheidung zum Besseren oder Schlechteren auch Philosophie Vorschläge unterbreiten muss, die die Teilnahme an dem Machtzusammenhang zwischen Geschichtlichem und Politischem verlangen, wenngleich in keinem parteipolitischen Sinne. Solche Politiken des Performativen werden zunehmen, weil sie in der Konsequenz aller Modernisierungen liegen. Statt ihnen auszuweichen, kann Philosophie ihre pragmatische Unterscheidungskraft in ihnen bewähren. Im 3. Kapitel versuche ich, die Philosophische Anthropologie auf die Frage der Geschlechterdifferenzierung anzuwenden, was Plessner nicht unternommen hat, obgleich dafür seine Orientierung an der je eigenen Körper-Leib-Differenz prädestiniert zu sein scheint. Die Geschlechterphänomene werden inzwischen - nach den Arbeiten von M. Foucault, der dekonstruktiven Selbstkritik des traditionellen Feminismus durch J. Butler und den etablierten gender studies - als die Differenz zwischen Sex (biologischem) und Gender (soziokulturellem Geschlecht) diskutiert. Auch und gerade in der Geschlechterfrage gilt die „Performativität" (im Anschluss an J. Austin) der Geschlechterdifferenzierungen als die entscheidende Grenzfrage, in der es um die Lebbarkeit semiotisch-sprachlicher Unterscheidungen durch deren lebendigen Vollzug geht. Aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie kann m. E. der Sex im Vergleich zu anderen Konzeptionen besser als der Habitus körper-leiblicher Positionierungen verstanden werden. Dieses bewegte Schaubild unserer Leib-Körper kann an unsere Sinnesausstattung in strukturfunktional verschiedener Proportion anschließen: Einerseits eher an die Auge-Hand-Koordination, die in der frontalen Gestelltheit zentrischer Wesen eine besondere Rolle spielt, oder andererseits an den sensomotorischen Reflexionskreis des Stimmens, der im a-zentrischen Zusammenspiel der Lebewesen mit ihrer Umwelt von besonderer Bedeutung ist. Diese verschiedenen Proportionen ermöglichen evolutionsgeschichtlich betrachtet Männliches und Weibliches nicht als angeschaute Männer und Frauen, wohl aber unter den Bedingungen der soziokulturellen Geschlechterteilung eher männliche oder eher weibliche Wahrnehmungsweisen, die auf verschiedene Art Nah- und Fernsinne dualisiert und komplementiert haben.

Einleitung

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Indessen ist aber die Verwirklichung dieses Potentials zur Funktionalisierung der dem eigenen Körper eingeborenen (nicht angeborenen) Sinnenvielfalt von seiner interaktiven Aufführung und diskursiven Bestimmung im Schau-Spiel der Geschlechter abhängig und veränderbar. Das Gender ist (verglichen mit anderen Zugängen) besser als das metaphorischsprachliche Rollenspiel soziokultureller Perspektivierungen zu begreifen, die in Machtbeziehungen ausdifferenziert werden können. Die Spezifik erotischer Phänomene ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Sex-Habitus und Gender-Rollenspiel und betrifft das Unterlaufen oder Ubertreten der historisch eingespielten Zuordnungen beider. Erotik folgt - den Ambivalenzen der Individualisierung von Personen entsprechend - der Aufführung verschämter Offenbarung, reflexiver Spontaneität und der Realisierung des Illusionären. Vom Standpunkt der Schriftkulturen ist eine um sich greifende Ex-Zentrierung der Geschlechterrollen möglich, sowohl des Weiblichen als auch des Männlichen, sowohl deren Dualisierungen als auch deren Komplementarisierungen, bis in die A-Zentralität der Geschlechterfrage hinein. Indessen besteht nicht in dieser Dekonstruktion das Problem, sondern in deren Lebbarkeit (Performativität), der nicht nur Schauspielformen entsprechen müssen, die an den traditionellen Unterscheidungen gemessen als subversiv erscheinen, sondern auch sich selbst tragen können, eben einen mitweltlichen Status brauchen. Die Geschlechterfrage ist insgesamt so unterbestimmt (weder durch sexes noch durch genders überdeterminiert), dass sie für jedes menschliche Lebewesen eine erotische Lebensaufgabe ist und bleibt. Ich danke vielmals Herrn Sebastian Köhler, Μ. Α., und Herrn Matthias Schloßberger, Μ. Α., für Korrekturvorschläge zum ganzen Manuskript. Zu großem Dank bin ich auch Frau stud. phil. Natalie Dippong und Frau Yvonne Wilhelm verpflichtet, die mir sehr bei der neuen Rechtschreibung, den Registern und den Abbildungen geholfen haben. Für die Vorarbeit zum 3. Kapitel in der Lehre danke ich Frau Katharina Vester, ohne deren Engagement das Körper-Seminar über vor allem Butler-Texte nicht zu Stande gekommen wäre. Frau Dr. Gesa Lindemann war so freundlich, den Entwurf dieses Kapitels zu kritisieren. Alle verbliebenen Fehler stammen von mir. Ich widme diesen Bd. II meinen Potsdamer Studenten und Mitarbeitern, weil sie offen und kritisch die Entstehung der Vorarbeiten in einigen Lehrveranstaltungen begleitet haben. Schließlich möchte ich auch sehr dem Suhrkamp Verlag und Herrn Professor Hans Joas für ihre freundliche Erlaubnis danken, meinen folgenden Text hier als das Unterkapitel 2.2. erneut verwenden zu dürfen. 1

1 Vgl. H.-P. Krüger, Prozesse der öffentlichen Untersuchung. Zum Potential einer zweiten Modernisierung in John Deweys Logic. The Theory of Inquiry, in: Hans Joas (Hg.), Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey, Frankfurt/M. 2000, 194-234. (Vorabdr. in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 47 (1999) 1, S. 75-103).

1. Das geschichtliche Schauspiel der Kultur im semiotischen Spiel lebendiger Natur: zur Aktualität der Philosophischen Anthropologie im Streit der Gegenwartsphilosophien

In diesem ersten Kapitel möchte ich die Philosophische Anthropologie als eine produktive Richtung nachweisen, in der die systematische Problemlage der Gegenwartsphilosophie besser gestellt und künftig wohl auch überzeugender beantwortet werden kann. Worin aber besteht die systematische Problemlage der Gegenwartsphilosophie? - Ich antworte auf diese vermessene Frage, die ein eigenes Buch erfordern würde, indem ich einem teils offenen, teils unterschwelligen Streit nachgehe. Der Streit betrifft die Tragweite der philosophischen Orientierung an der Sprache im weitesten Sinne oder aber am Leben im nicht weniger weiten Sinne, um den philosophischen Aufgaben der Klärung und der Besinnung nachkommen zu können. Sowohl Klärung als auch Besinnung braucht man in der Führung eines menschlichen Lebens, und beides geht nicht ohne Sprache. Wann wird Klärung sinnlos, und wann klärt Besinnung nichts mehr? - Derart philosophische Grenzfragen stellen sich uns in einem bestimmungswürdigen Zusammenhang von Sprache und Leben, der sich auf vielfältige Weise gestalten kann, in den Extremfällen auseinander klappt oder ineinander fällt. Gewiss hat sich Philosophie schon immer mit der Sprache beschäftigt, ist sie doch selbst im Gespräch, in der Lehre und Schrift eine sprachliche Tätigkeit besonderer Art. Aber noch nie ist der Stellenwert der Sprache nicht nur für die Philosophie selbst, sondern auch die Gesellschaft und die Stellung des Menschen in der Welt so hoch veranschlagt worden wie in der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Ob phänomenologisch beschreibende, hermeneutisch und quasi-transzendental erschließende, existenzial erhellende, nach dem Muster der strengen Erfahrungswissenschaft oder der Umgangssprache des Common sense analysierende, kommunikations- und öffentlichkeitsorientierte Philosophien, sie alle reden in dieser oder jener Form von der Unhintergehbarkeit der Sprache, ohne dass immer klar werden würde, welche philosophische Grenzfrage dadurch gestellt oder beantwortet werden soll. Dafür bietet sich als hilfreicher Kontrast die nicht minder verbreitete Redeweise vom Leben an. Philosophie hat auch schon immer seit der griechischen Antike uns Menschen als Lebewesen in einem größeren und komplexeren Lebenszusammen-

Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen

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hang situiert und zu spezifizieren versucht. In den Kontexten dieses oder jenes Lebens wird doch Sprache in dieser oder jener Form verwendet. Sprache kann sich diesen Kontexten auch entfremden, sie überschießen oder transzendieren, ihnen angemessen oder unangemessen werden. Die moderne Umkehrung der geschichtlichen Ausrichtung vom Wiedererlangen verlorener Zeit in die künftige Produktion einer besseren, aber um den Preis der Gefahr und des Risikos zu habenden Zeit hat die Redeweise vom Leben dynamisiert und geöffnet. Angesichts der wachsenden Produzierbarkeit menschlichen Lebens scheinen diejenigen, welche die Orientierung am Leben vertreten, in die Lage eines Zauberlehrlings zu geraten, je aktueller die Diskussion wird. Dafür, dass weder die Lebensorientierung noch die Sprachorientierung sogleich in einem geschlossenen Zirkel leerläuft, es stattdessen also zu einem Zusammenhang beider Orientierungen kommen kann, ist die Frage der äußeren Wahrnehmung und Anschauung wichtig. In der Wahrnehmungsweise sind wir mit anderen vergleichbar, da es für sie Standards gibt. In der Anschauungsweise kann jeder stark individuell variieren, wie Geschmacksurteile zeigen. Wir sind als Lebewesen zu unserer Umwelt und Welt hin durch Möglichkeiten der Anschauung und Wahrnehmung nach außen geöffnet. Die Verwendungsweisen der Sprache beziehen sich jedenfalls auch darauf. Wenn es also um einen Zusammenhang von Leben und Sprache gehen soll, der für philosophische Grenzfragen relevant ist, dann können wir die Weisen der äußeren Wahrnehmung und Anschauung nicht übergehen. Diese Weisen scheinen uns einerseits als Lebewesen schon immer zuzukommen, andererseits erst in den Verwendungsweisen der Sprache einer spezifisch menschlichen Sinngebung und Klärung zu unterliegen. Daher kommt das dritte strittige Stichwort in dem Titel der ersten Hälfte des vorliegenden Kapitels. Der gegenwartsphilosophische Streit um die Begrenzung der Lebensorientierung an der Sprachorientierung und umgekehrt der Sprachorientierung an der Lebensorientierung täte gut daran, immer an Phänomenen der äußeren Wahrnehmung und Anschauung ausgetragen, also öffentlich praktikabel gemacht zu werden, statt sich scholastisch zu verlaufen oder durch Verstiegenheit in den Eigensinn der privilegierten inneren Selbstwahrnehmung und Selbstanschauung abgebrochen zu werden. Ich habe daher diesem Bd. II von Zwischen Lachen und. Weinen im Bd. I ein Phänomenspektrum vorangestellt, auf das ich in der zweiten Hälfte des vorliegenden Kapitels kurz zurückkomme, teils zur Erinnerung, mehr aber noch, um erneut den methodischen Zusammenhang zwischen phänomenologisch beschreibender und anthropologisch rekonstruierender Aufgabe in der Philosophischen Anthropologie zu verdeutlichen. Das Ergebnis der ersten Hälfte des vorliegenden Kapitels wird nämlich darin bestehen, dass der gegenwartsphilosophischen Diskussion eben dieser philosophische Zusammenhang zwischen Phänomenologie und Anthropologie größtenteils fehlt. Da dieses Defizit auch problemgeschichtliche Gründe hat, die ich kurz am Ende des Kapitels anreiße, folgt dann das zweite Kapitel, in dem ich

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vergleichend den beiden Hauptvarianten eines dritten Weges im Philosophischen Diskurs der Moderne nachgehe, die beide dieses Manko der Gegenwartsphilosophie nicht haben. Dies erklärt die systematische Relevanz der gegenwärtigen Renaissance sowohl des klassischen Pragmatismus als auch der Philosophischen Anthropologie. Die philosophische Verschränkung von Phänomenologie und Anthropologie in der Philosophischen Anthropologie erlaubt es, ein Spielkontinuum der lebendigen Natur freizulegen, das sich in seinem semiotischen Rücklauf erweitern und gleichsam emergieren kann. Die phänomenologisch-anthropologische Spezifikation des Menschlichen in diesem semiotisch vermittelten Spiel lebendiger Natur ist eine produktive Antwort auf die strittige gegenwartsphilosophische Frage, wie Lebendiges und Sprachliches via Performativität zusammenhängen. Das Spektrum performativer Phänomene reicht dann spielphilosophisch gesehen von der Performance der Körperleiber, ihrer raumzeitlichen Positionierung nach dem Habitus ihrer Schau- und Hörstellungen, bis in die lokutionären, illokutionären und perlokutionären Aspekte der Perspektivierungen im Diskurs hinein. Dieser spielphilosophische Zusammenhang wird im Titel des vorliegenden Kapitels und seiner zweiten Hälfte hervorgehoben und im dritten Kapitel anhand der Geschlechterfrage erprobt werden. Das Spiel selbst auch zu spielen, also nicht nur in ihm, sondern ebenso mit ihm, heißt schauspielen.

Dabei wird sich noch zeigen, dass es sich um kein modisches Spielerchen handelt. Das spielphilosophisch aufzurollende Spektrum an performativen Phänomenen wird längst und sollte auch politisiert werden, da in seiner Bemächtigung die Spezies Mensch auf dem Spiele steht. Wenn Performativität (im Sinne von John Austin) Vollzug der ersten Person Singular im Präsens Indikativ Aktiv bedeutet, dann stellt sie die Aufgabe, die geschichtliche Veränderung und Individualisierung von soziokulturellen Rollen der ersten Person im Kontext ihrer lebendigen Betätigung zu begreifen, also bis in die Naturphilosophie hinein. Diese Aufgabe erfordert mehr als eine transzendentale Rekonstruktion der Möglichkeit funktional erwünschter Praktiken, weshalb in der Gegenwartsphilosophie verschiedene Arten, quasitranszeridental zu verfahren, vertreten werden und auf eine machtphilosophische, zumindest politisch- philosophische Thematisierung der Aufgabe hinauslaufen. In der folgenden ersten Hälfte des Kapitels zeige ich die quasitranszendentalen, performativen und machtphilosophischen Tendenzen der Gegenwartsphilosophie auf. In der sich anschließenden 2. Hälfte werde ich den Nachweis antreten, dass die Philosophische Anthropologie Plessners eben darin Pionier war, was in 2.3. weiter ausgeführt werden wird, und zwar ein Pionier, von dem man erst heute eine systematische Alternative lernen kann.

Diskurs, äußere Wahrnehmung

und die Grenzfrage

nach dem Lebendigen

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1.1. Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen (Performativen) Ironie - romantische Ironie? Also doch: Dialektik f Eben nicht. Sondern eine Ataraxie, die aus einer Distanz zum Ernst, zur Notwendigkeit, zum Legitimen kein Kapital schlägt wie der romantische Ironiker! H. Plessner1 Wenn man - wie wohl noch immer die meisten Philosophen auch der Gegenwart im Sinne Kants - in der philosophischen Tätigkeit eine Beschäftigung mit Grenzfragen erblickt, wird man nicht etwas als Philosophie in der öffentlichen Diskussion gelten lassen können, das auf nichts weiter als eine Verdoppelung entweder dieser Laienkultur oder jener Expertenkultur hinausläuft, die sich so unbedarft schon für das Ganze hält. Die Grenzfragen werden erst stellbar, wenn man den Zirkel innerhalb einer jeweils bestimmten Kultur verlässt, statt ihn auf den strittigen Gesamtzusammenhang aller möglichen Kulturen zu übertragen. So ist Wissenschaft nützlich und sinnvoll in ihren Grenzen, aber ihre szientistische Übertragung als Maßstab für alles und jedes ist vollkommen unangemessen. So sind Literaturen und Künste unersetzlich, aber die ausschließliche Ästhetisierung von allem ergibt keine Philosophie, eher den Kurzschluss zwischen Selbstbefriedigung und verwertbarer Warenästhetik. So ist die technisierbare Ablösung der Leistungen einer Generation von dieser nötig für die Weitergabe der Leistungen an künftige Generationen, aber die grenzenlose Technisierung von allem hinterlässt nichts Menschliches. Und so mag auch, auf den Holzwegen des Schwarzwaldes entlang zu wandeln, für einen Urlaub kompensatorischen Reiz ausüben, wird den Metropolenbewohnern der Erde aber nicht in ihren Konflikten weiterhelfen. Lassen wir es bei diesen Beispielen zur Plausibilisierung der Bedeutung von Grenzfragen. Erst in der öffentlichen Konfrontation zwischen den verschiedenen Kulturen, von der jede einem bestimmten Wertegefüge folgt, das nur teilweise ihren Teilnehmern bewusst wird, tritt das Problem auf, was Vorrang haben sollte und faktisch Vorrang hat. Insofern man solche Fragen nach dem Primat oder der Priorität in der Konfliktlösung zwischen verschiedenen Kulturen stellt und zu begründen versucht, gerät man ins Philosophieren, ganz gleich, ob man professionell auch der Zunft der Philosophen angehört oder nicht. Man befragt dann den Unterschied und Zusammenhang der verschiedenen kulturellen Ansprüche und beurteilt ihre Gültigkeit nach Prioritäten oder Primaten in Konfliktfällen. Kurzum: Man versucht, die miteinander

1 H . Plessner an J. König, Brief v. 22. II. 28, in: J. König/H. Plessner, Briefwechsel 1923-1933, hg. v. H . - U . Lessing u. A. Mutzenbecher, Freiburg/München 1994, S. 179.

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konkurrierenden Geltungsansprüche so gegenseitig zu begrenzen, wie es für alle Beteiligten am besten wäre. Dieses normative Moment, was warum im Konjunktiv der Möglichkeiten eine bessere Konfliktlösung wäre, unterscheidet den philosophischen Diskurs von geschichtswissenschaftlichen oder wissenssoziologischen Darstellungen, wie der Kampf zwischen verschiedenen Kulturen um ihre gesellschaftliche Hegemonie faktisch verlaufen ist. 2 Hält man in den Gegenwartsphilosophien Ausschau danach, wie sie Grenzfragen der genannten Art zu behandeln vermögen, fallen einem im Resultat der philosophischen Entwicklung des 20. Jhs. vor allem zwei Kandidaten auf. Einerseits orientieren Philosophien auf eine Lebenswelt oder Lebensform, um auch angesichts der Grenzen von Sprache, wenn sie nämlich feiere oder sich selber spreche, Vorschläge zur Beantwortung der Grenzfragen unterbreiten zu können. Andererseits insistieren andere Philosophien eher auf die Sprache, die im Gegensatz zum Mythos vom Leben und im Unterschied zum biologisch verstandenen Leben oder einer bestimmten soziokulturellen Lebensform schon trankskulturell übersetzbar und reflexiv teilbar einen Kontrast biete, der die Begründung normativer Vorschläge ermögliche. Die philosophische Aufgabe der Grenzbestimmung von Geltungsansprüchen einschließlich der eigenen philosophischen Geltungsansprüche scheint so in der Gegenwart vor allem zwischen der Orientierung am Leben oder der an der Sprache strittig zu sein. 1.1.1. Die Lebenswelt oder Lebensformen als Sprachgrenze Wenn man die Orientierung am Leben philosophisch, also nicht durch szientistische Verdoppelung eines wissenschaftlichen (biologischen, ökonomischen, soziologischen) Zuganges zum Leben vertritt, sind zwei Optionen die geläufigen. Entweder man verweist auf Lebensformen in dem Sinne, wie der Common sense sie versteht, d. h. wie sie vom kleinsten gemeinsamen Nenner allgemein gebildeter Bürger, dem Publikum, genommen werden. Dies ist in der angloamerikanischen Tradition von Philosophie vorherrschend, wozu offenbar auch Ludwig Wittgenstein geneigt haben dürfte, wenn er von der Sprache als Lebensform geschrieben hat. „Das Hinzunehmende, Gegebene - könnte man sagen - seien Lebensformen."3 - Gewiss lassen sich viele der traditionell philosophischen Probleme, die allererst dadurch entstehen, dass man Gesprochenes und mehr noch Geschriebenes aus seiner Lebensform herausnimmt,

2 Vgl. zum französisch-englisch-deutschen Vergleich der Kämpfe um die öffentliche Hegemonie zwischen sozialwissenschaftlichen, literarischen und naturwissenschaftlichen Expertenkulturen Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München/ Wien 1985. 3 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, § 572. Vgl. ebd., im I. Teil die § 19, 23, 241, 430.

Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen

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dadurch therapeutisch behandeln, dass man das Herausgelöste wieder in der Lebensform, in der es verwendet wird, rekontextualisiert. Diese Therapie ist insbesondere in Situationen eines epistemischen Zweifels angebracht, der sich auf die Frage, wie wir denn dieses oder jenes wissen können, bezieht. Epistemische Zweifel entstehen pragmatisch betrachtet, da das Bewusstsein aus seiner Verhaltensgewohnheit herausgeraten ist, ohne sich bereits einer neuen Verhaltenssicherheit vergewissern zu können. Die andere übliche Option, die philosophische Orientierung am Leben zu verfolgen, besteht in einem transzendentalen Sinne, wie etwa Edmund Husserl von Lebenswelt spricht. Man schließt dann aus den Leistungen menschheitlicher Unternehmungen (ζ. B. der Wissenschaften) zurück auf dasjenige, welches sie der Struktur nach ermöglicht. Dabei darf das Erschlossene selbst nicht durch dieselbe Leistungsart, die es ermöglicht, untersucht werden können, weil dies einen Zirkel ergäbe. Laut dieser transzendentalen Phänomenologie hat „jeder von uns seine Lebenswelt, gemeint als die Welt für alle": „Wie jedes Ichsubjekt ein originales Wahrnehmungsfeld hat, in einem freitätig zu eröffnenden Horizont, der zu immer neuen, immer wieder bestimmt-unbestimmt vorgezeichneten Wahrnehmungsfeldern führt", so zeige sich auch, „daß in der lebendig strömenden Intentionalität, in der das Leben eines Ichsubjektes besteht, in der Weise der Einfühlung und des Einfühlungshorizontes jedes andere Ich im voraus schon intentional impliziert ist." 4 In beiden philosophischen Optionen wird das, was sprachlich Sinn machen kann und woran die Leistungen menschlicher Unternehmungen durch bestimmte Diskurse anschließen, durch ein den Unternehmungen unverfügbares Leben begrenzt: Sei es durch eine vom C o m m o n sense geteilte Lebensform, die in ihrer Gegebenheit gegen die Orakel und Mystifikationen kontextloser Sprachverwendungen therapeutisch wieder zu erreichen ist. Oder sei es durch eine transzendental erschlossene Lebenswelt, die als Ermöglichungsstruktur der faktischen Leistungen fungiert, weshalb wir uns ihr nicht entfremden und mit ihr haushalten sollten. Eine avancierte Kombination der Wittgensteinschen Therapeutik, okkulte und metaphysische Fragen zur Auflösung zu bringen, mit der Kantschen Art, transzendental nach der Ermöglichung von Phänomenen zu fragen, stellt heute J o h n McDowells minimaler Empirismus dar. Dieser Empirismus folgt nicht aus der (seit Descartes) dualistischen Gegenüberstellung von einer materiellen Welt, die erfahrungswissenschaftlich definiert wird, und einem Geist, der dafür vorauszusetzen und dadurch nicht einzuholen ist. Vielmehr nimmt dieser lebensweltliche Empirismus auf eine neoaristotelische Weise eine soziokulturelle Zweitnatur von uns sprechenden Lebewesen an, in der Erfahrungen zu machen dem C o m m o n sense Sinn gibt. „Finding a

4 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Hamburg 1992, S. 258 f. Vgl. zur Würdigung von William James' Entdeckung des Horizontphänomens ebd., S. 267.

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way to preserve Kant's insight leads, I have claimed, to a conception of reason that is, in one sense, naturalistic: a formed state of practical reason is one's second nature, not something that dictates from outside. But the conception is not naturalistic in the sense of purporting to found the intellectual credentials of practical reason on facts of the sort that the natural sciences discover."5 Auf diesen philosophischen, nicht szientistischen Naturalismus in der Gegenwart werden wir noch zurückkommen, da er das Bedürfnis nach der Philosophischen Anthropologie zum Ausdruck bringt und zugleich die philosophischen Aufgaben und Möglichkeiten im Hinblick auf die Erhellung der Zweitnatur menschlicher Lebewesen im Unterschied zu der durch die Naturwissenschaften erforschten Erstnatur noch unterschätzt.6 1.1.2. Sprache oder Schrift als die Begrenzung menschlicher Lebensformen Der zur Begrenzung der Diskurse durch Leben umgekehrte Weg wird eingeschlagen, wenn die Sprache als dasjenige philosophisch begriffen wird, das uns menschliche Lebewesen sowohl faktisch spezifiziert als auch transzendental ermöglicht. Der Common sense arbeitet sowohl mit Fakten als auch mit Normativa, die ihm die Beurteilung von Fakten ermöglichen (vgl. Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen, Einl.). Ob Transzendentalphilosophen oder Common sense-Philosophen, man kann den faktisch-transzendentalen Doppelstatus der Sprache schwerlich leugnen. „Nicht das denkende oder reflexive Ich (je) hält der Prüfung des alles umfassenden Zweifels stand, sondern der Satz und die Zeit." 7 Formulieren wir nicht dank der Sprache - in der zeitlichen Sukzession von Satz auf Satz - selbst noch die Einsicht in die Grenzen der Sprache angesichts des Lebendigen? - Da dies so ist und sein sollte, solange wir eben philosophieren und keinen Bürgerkrieg führen, ist seit der Wende der Philosophie des 20.Jhs. in die Sprache die Redeweise von der Unhintergehbarkeit der Sprache üblich geworden. Aber auch diese philosophische Orientierung an der Sprache, nun zur Begrenzung der vermeintlichen oder wirklichen Lebensansprüche, kann eher im Anschluss an den heutigen angloamerikanischen Common sense naturalistisch geraten, was an Richard Rorty demonstriert werden soll, oder auf eine die transzendentale Frageart

5 John McDowell, Two Sorts of Naturalism, in: ders., Mind, Value & Reality, Cambridge, M A / London 1998, S. 192. Vgl. schon ders., Mind and World, Cambridge, MA, London 1996, 3. Aufl., S.XXff. 6 Vgl. Hans-Peter Krüger, The Second Nature of Human Beings: an Invitation for John McDowell to discuss Helmuth Plessner's Philosophical Anthropology, in: Philosophical Explorations, vol. I (2), May 1998, S. 107-119; John McDowell, Comment on Hans-Peter Kriiger's paper, in: ebd., S. 120-125. 7 Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 108.

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in die Verunmöglichung weiter treibende Weise provozieren, wie es Jacques Derrida tut. Da beide Autoren auch gerne ein literarisch ironisches Verfahren benützen, wodurch wir erstmals beim Motto dieses Unterkapitels ankommen, kann man sich aber nicht immer ihres Ernstes gewiss sein. Zwischen dem klassischen Pragmatismus (Ch. S. Peirce, W. James, J. Dewey) und dem Neopragmatismus, den Rorty auf eine bestimmte Weise zu vertreten sucht, liegt „der sogenannte linguistic turn, die .Wende zur Sprache'. Diese Wende trat ein, als die Philosophen das Thema Erfahrung fallenließen und das Thema Sprache aufgriffen."8 Mit dem Erfahrungsthema, für das Kant ursprünglich die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von eben Erfahrung gestellt hatte, hat sich für Rorty die transzendentale Frageart überhaupt erledigt, also auch ihre Übertragungen durch Husserl oder heute McDowell. „As I see it, the only function of the idea of a condition of possibility, as opposed to a causal condition of actuality, is to provide the illusion of a domain of inquiry that can produce certainty."9 Fragt man Rorty nun, was er unter Sprache versteht, lautet die Antwort: „In der philosophischen Fachsprache kann man sagen, das Verhalten werde erst dann im eigentlichen Sinne sprachlich, wenn die Organismen eine semantische Metasprache zu benutzen anfangen und die Fähigkeit erlangen, Wörter in intensionale Kontexte einzufügen."10 Da die Zuordnung der sprachlichen Zeichen nicht eindeutig determiniert ist, wird ihr Spielraum metasprachlich als Grund kommuniziert, um die kooperative Anpassung des Verhaltens der beteiligten Lebewesen erreichen zu können. Diese Kontingenz der Sprache entziehe sie aber nicht ihrer naturalistisch kausalen Erklärbarkeit, da neodarwinistisch gesehen die evolutionstheoretischen Erklärungen den Zufall im zeitlichen Zusammenfall (eben Kontingenz) von Variation und Selektion vorsehen. Statt also alte Gegensätze wie den zwischen Grund und Ursache metaphysisch aufzubauschen, sollte man Rorty gemäß mit „Unterscheidungen des Komplexitätsgrades" in einem naturalen Kontinuum arbeiten, in dem pragmatisch allein die „Unterscheidung zwischen Gegenwart und Zukunft"11 zähle. Obwohl Rorty naturalistisch argumentiert, handelt es sich um keinen im Sinne des alten Determinismus reduktiven, sondern evolutionstheoretisch auf Kontingenz setzenden Naturalismus, der dank der Sprache auch für die Spezifik kultureller Evolution offen sei. Für diese Spezifik sei außer der Kontingenz der Sprache auch die Kontingenz des Bewusstseins und der Selbstauffassung charakteristisch. Die Anerkennung

8 Richard Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis. Eine Einführung in die pragmatische Philosophie, Wien 1994, S. 13. 9 R. Rorty, Response to Allen Hance, in: Herman J. Saatkamp, Jr. (ed.), Rorty & Pragmatism. The Philosopher Responds to His Critics, Nashville/London 1995, S. 124. 10 Ders., Hoffnung statt Erkenntnis, a. a. Ο., S. 61. 11 Ebd., S. 81 u. 87.

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dieser Kontingenzen erfordere erkenntnistheoretisch Nominalismus. Da Rortys geläufige Sprachauffassung Metasprache einschließt, kann er durchgängig von Selbstbeschreibungen reden, ohne allerdings genauer zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektiven zu unterscheiden. Philosophisch werde die Aufgabe aber erst dadurch, dass man die plural verschieden möglichen Vokabulare naturalistischer und nicht naturalistischer Art im Hinblick auf die politische Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem beurteile. Rorty kämpft dafür, die metaphysische „Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint", aufzugeben und uns damit abzufinden, die Forderungen nach privater „Selbsterschaffung" und nach öffentlicher „Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten." 12 Diesen liberalen Respekt vor dem Widerstreit, hier zwischen Privatem und Öffentlichem, in allen Ehren: Warum und wie sich die Unterscheidung öffentlich-privat geschichtlich ändert, lasse sich nicht übergeschichtlich in ihrer Legitimität begründen. Damit entfällt für Rorty die Begründungsfunktion von Philosophie in entwickelten Demokratien. Sie habe bestenfalls in den vordemokratischen Perioden eine Rolle gehabt. Rortys positive Leitfigur der „liberalen Ironikerin" weiß in der Pluralität des Privaten ein jeweils bestimmtes Vokabular, auch ihr eigenes, kontingent zu setzen. Und sie nimmt die öffentliche Rede nicht im Sinne eines positiv gemeinsamen, theoretisch zu begründenden Projektes ernst, sondern im Sinne der Vermeidung von Übeln. „Sie meint, daß sie nicht durch eine gemeinsame Sprache, sondern nur durch Schmerzempfindlichkeit mit der übrigen Spezies humana verbunden ist, besonders durch die Empfindlichkeit für die Art Schmerz, die die Tiere nicht mit den Menschen teilen Demütigung." 13 „Leben" kommt bei Rorty außer im evolutionären Sinne in einem nicht-sprachlichen Sinne nur negativ vor, nämlich als Schmerz, der uns die Sprache verschlägt, uns also der Spezifik im Kontinuum der Natur beraubt. „Wie ich schon gesagt habe, ist Schmerz nicht-sprachlich: er ist das, was uns Menschen mit den sprachlosen Tieren verbindet. So haben die Opfer von Grausamkeit, Menschen, die leiden, nicht viel Sprache. Deshalb gibt es so etwas wie ,die Stimme der Unterdrückten' oder ,die Sprache der Opfer' nicht." 1 4 Diese Umorientierung von theoretisch begründeten positiven Großprojekten, die Gefahr laufen, in ihrer Verwirklichung in autoritäre oder gar totalitäre Fehlstrukturen umzuschlagen, zu einer Politik des kleineren Übels 1 5 und der Verbesserung (Amelioration), die den konkret-historischen Kontext im Auge behält, um überprüfbare Lernschleifen zu sichern, ist in der Tat bereits vom klassischen Pragmatismus in der

12 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, S. 14. 13 Ebd., S. 158. 14 Ebd., S. 160. 15 Vgl. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, a. a. O., S. 234.

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ersten Hälfte des 20.Jhs. konzipiert worden, der die modernistische Anmaßung der Übernahme der Gottesrolle von sich wies 16 , ähnlich wie die Philosophische Anthropologie Plessners 17 . Diese Umorientierung hat sich unter den kontinentaleuropäischen Philosophen nicht während des Europäischen Bürgerkrieges, sondern erst im Gefolge der Wirkungen von 1968 seit den 80er Jahren durchsetzen können. Aber diese Konzeptionen, ob amerikanisch pragmatische oder kontinentaleuropäische unter dem Einfluss von Kant und Hegel, arbeiten noch mit geschichtlichen Erfahrungsprozessen, in denen sprachliche Lebewesen u. a. Schmerz und Demütigung zu vermeiden lernen können. Die pragmatischen Selbstbescheidungen erinnern an den schon vom 17. bis zum 19. Jh. erarbeiteten Vorrang der negativen Freiheitsrechte (der Rechte auf Freiheit von Gewalt und Behinderungen) über die positiven Freiheitsrechte (die Rechte auf Teilnahme, um kompetente Staatsbürger werden zu können). 18 Demgegenüber hält Rorty nach dem linguistic turn gerade Erfahrungskonzeptionen für überflüssig oder gar für metaphysische Verführungen, die man auf ein literarisches Spiel im Privaten zu begrenzen habe. Immerhin nimmt er aber doch zur Erklärung der Überlappungen zwischen den verschiedenen Vokabularen in der öffentlich liberalen Rede unseren anthropologischen Status als Lebewesen in der Vergleichbarkeit und im Unterschied mit anderen Lebewesen negativ in Anspruch, im fraglichen Maße der Beeinträchtigung oder Behinderung unserer sprachlichen differentia specifica. Hier gibt es also, außer dem neodarwinistischen Zugang naturaler Art und der pragmatischen Hoffnung auf Ausweitung des liberal Öffentlichen, noch einen negativen Verfahrensrest mit dem Lebendigen als der Grenze zum Sprachverlust 19 , die aber philosophisch durch keine Erfahrungsauffassung mehr thematisierbar sein soll. 20 Wie Nicht-Sprachliches zum sprachlichen Thema wird, die traditionelle Aufgabe einer Phänomenologie (seit Hegel), muss man Rorty zufolge wohl dem geschichtlich blinden Zufall dichterischer Vokabulare und ihrer Resonanz in der Überlappung mit anderen Vokabularen überlassen, statt daraus eine philosophisch

16 Vgl. 2.1. und 2.2. des vorliegenden Bd. II von Zwischen Lachen und Weinen. 17 Vgl. Kap. 6 des Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen. 18 Vgl. Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford 1969. Vgl. zum liberalen Vorrang John Rawls, Der Vorrang der Grundfreiheiten, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1992. Vgl. zur kommunitären Kritik Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Mit einem Nachw. v. Axel Honneth, Frankfurt/M. 1988. 19 Unter dem Einfluss von u. a. Judith N. Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, Frankfurt/M. 1997. Vgl. inzwischen auch besser Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997. 20 Vgl. dagegen Richard Shusterman, Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1996.

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begründbare Notwendigkeit zu machen, gar im Namen der Wahrheit, die einer objektiven Realität korrespondierte. Damit gerät Rorty in einen merkwürdigen Selbstwiderspruch: Er vermeidet den philosophischen Zusammenhang zwischen Phänomenologie und anthropologischer Rekonstruktion, der die Frage der Ermöglichung geschichtlich neuer Phänomene betrifft. Gleichwohl nimmt Rorty doch sowohl kritische Phänomene (Schmerz, Demütigung) als auch anthropologische Unterscheidungen (sprechende Lebewesen, Negativität des Absoluten und pragmatische Verbesserung) selbst in Anspruch, um noch philosophieren zu können. Auf den philosophischen Zusammenhang von Phänomenologie und Anthropologie kann sich mithin seine „Verabschiedung der Philosophie" nicht beziehen: Sie betraf nur den absoluten Wahrheitsanspruch einer Metatheorie, die sich dem Ideal vom analytisch klaren Sprachgebrauch gemäß in Korrespondenz mit der objektiven Realität wähnte 21 . Rortys Verabschiedung der Philosophie traf also nur etwas, das dank Kants Agnostizismus gegenüber dem Dinge an sich nicht als Philosophie hätte gelten dürfen. Da Rorty das Transzendentale ablehnt, weiß er nicht zwischen Empirismus und Phänomenologie zu unterscheiden, benutzt aber ersatzweise die Sprache als die natural spezifische Möglichkeit (Kontingenz) menschlicher Lebewesen, wodurch dann doch die Sprache funktional gesehen eine Art von transzendentaler Stellung erhält. Warum der von Rorty kritisierte absolute Wahrheitsanspruch szientistischer Metatheorien an einigen US-amerikanischen EliteUniversitäten während des Kalten Krieges faktisch als Philosophie gegolten hat, ist ein anderes, ideologiehistorisch kritisches Thema, das der Untersuchung wert wäre. Derridas Dekonstruktion übt sowohl am Naturalismus als auch an Husserls transzendentalem Rückgang in die Lebenswelt Kritik. In der ersten Hinsicht verteidigt er die transzendentale als die originär philosophische Frageart gegen die naturalistische Erklärungsart. In der zweiten Hinsicht schließt er das von der transzendentalen Frageart Ausgeschlossene in sie ein. In Derridas' „quasi-transzendentaler" Frageart stellen die Bedingungen der Möglichkeit eines Phänomens „zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit seiner Reinheit dar". 2 2 Die Intentionalität (der vermeinte Gegenstand und sein Mitgemeintes) sei nicht die metaphysisch ersehnte Erfüllung des gegenwärtigen Augenblicks, sondern schon immer verunreinigt eine „Spur": Sie schließe „das rätselhafte Verhältnis des Lebendigen zu seinem Anderen und eines Innen zu einem Außen" ein. Dabei trete diese Verräumlichung wiederum nicht „ohne die Differenz als Temporalisation, ohne die in den Sinn der Gegenwart eingeschriebene Nicht-Präsenz des Anderen" 2 3 in Erscheinung.

21 Vgl. R. Rorty, Der Spiegel der Natur, Frankfurt/M. 1981. 22 Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Frankfurt/M. 1994, S. 283. 23 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 124.

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Wenn aber dasjenige, das die Vergegenwärtigung eines Phänomens dem Bewusstsein ermöglicht, selber nicht rein der Intentionalität des Bewusstseins zugehört, sondern auch ein Lebendiges aufruft, das schon immer lokal wie temporal zwischen Anderem und dem Selben, ihrer An- und Abwesenheit, differiert, dürfte doch folgende Frage erlaubt sein: Handelt es sich dann nicht bei der Spur um eine natürliche Quasi-Transzendentalität? So wäre dasjenige, das uns auf unreine Weise ermöglicht, die Natur selber. Trotz dieser und jener Winke 24 hat Derrida die „natürliche" Lösungsrichtung - etwa als Naturphilosophie - nie ausgeführt, obgleich ihm der Zusammenhang zwischen Semiotik und Naturphilosophie dank Ch. S. Peirce vor Augen lag25: „Zuerst also muss das Spiel der Welt gedacht werden, und dann erst kann man versuchen, alle Spielformen in der Welt zu begreifen."26 Gleichwohl nimmt Derrida diese, von ihm nicht elaborierte Möglichkeit einer semiotisch quasitranszendentalen Naturphilosophie des Spiels in Anspruch. Ohne diese Inanspruchnahme ergäbe seine vielfache Behauptung keinen Sinn, dass seine philosophische Untersuchung der Schrift die übliche Unterscheidung zwischen Rede und Schrift unterlaufe, da sie auf „die Schrift selbst als den Ursprung der Sprache" 27 abziele. Bei Derrida soll die Untersuchung der Schrift für die des Spieles stehen, da ihm der Naturbegriff entweder rousseauistisch anheimelnd oder im Sinne eines gewaltsamen Determinismus besetzt scheint. Damit schreckt Derrida vor dem semiotischen Spiel der Natur zurück in eine Ähnlichkeitsbeziehung des indirekt anvisierten Spiels mit der Schrift. Anscheinend ähnelt dasjenige, das man naturphilosophisch als das semiotische Spiel des Lebendigen, seinen Spielraum und seine Spielzeit mit Anderem und Fremdem, zu thematisieren hätte, demjenigen, das in dem üblichen Gegensatz zwischen Rede und Schrift der Schrift zugesprochen wird. Innerhalb dieses geläufigen Gegensatzes traut man nicht der Rede, sondern der Schrift die Gefahren des Spiels zu, die in der Entkopplung der Signifikanten (Bezeichnenden) von den Signifikaten (Bezeichneten) bestehen. „Spiel wäre der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgrenzung des Spiels, das heißt als Erschütterung der OntoTheologie und der Metaphysik der Präsenz." 28 Unter dem Einfluss von Husserl, der Beeindruckung durch Intentionalität, und Heidegger, der Beeindruckung durch Existenzialität, bleibt Derrida die semiotisch transzendentale Spielphilosophie der lebendigen Natur, wie sie unabhängig voneinander Peirce und Plessner entwickelt haben, verwehrt. Stattdessen gelingt es Derrida nur, aus dem üblichen Gegensatz zwischen Rede und Schrift heraus eben nicht eine

24 25 26 27 28

Vgl. J. Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt/M. 1988. Vgl. ders, Grammatologie, a. a. O., S. 83 ff. Ebd., S. 88. Ebd., S. 77. Ebd., S. 87.

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Philosophie des Spiels, sondern allein eine Reformiemng der Schrift so plausibel zu machen, dass Schrift nicht mehr einfach als der „Parasit" 2 9 der Rede erscheinen solle. Wir müssen offenbar zunächst zurück in den gemeinen Gegensatz von Rede und Schrift, um herauszufinden, was Derrida mit der Schrift in einem anderen als dem gewöhnlichen Sinne meinen könnte, eben als der Ersatzlösung für die Thematisierung des semiotischen Spiels von Lebendigem. Zur Rede gehört üblicher Weise die Vorstellung, dass Sprecher und Hörer anwesend sind, im Präsens des gesprochenen Wortes also eine gewisse Nähe oder Unmittelbarkeit entsteht. 30 Die Frage, worauf die Partner referieren, kann in diesem Kontext geklärt werden, indem man die Signifikanten in ihren vielfältigen Verweisungen letztlich auf das gemeinte Signifikat zurück verfolgt, etwa durch Zeigehandlung (Deixis) oder den Eigennamen. Demgegenüber erscheint die Schrift als eine kontextunabhängige Kommunikation zwischen Abwesenden, aus der Ferne und über den Tod hinaus, die formalisiert auch auf Maschinen übertragen werden kann. In der Schrift gingen die möglichen Verweisungen der Signifikanten ins Unendliche, ohne dass ein Signifikat deutlich werden und letztlich den Kontakt der Sprache mit der Welt vermitteln würde. 31 Die Schrift ermögliche es also, im „Vorgriff auf die Zukunft" die „absolute Gefahr" des Reißens aller Verbindungen 32 zu denken. Demgegenüber beruhige die Rede über diese Gefahr der Maschinisierung der Sprache unter Hinweis auf die verantwortliche und lebendige Gegenwart der Partner hinweg. Das Bedürfnis nach Gewissheit und Sicherheit, die am ehesten unter Anwesenden erreichbar scheinen, habe die abendländische Metaphysik von Plato bis Husserl zu dem normativen Primat gebracht, dass die Schrift die Rede immer nur wieder vergegenwärtigen dürfe. 33 Derrida radikalisiert die Peircesche Semiotik auch gegen den Versuch des späten Husserl, das Zeichen in die Lebenswelt einholen und damit begrenzen zu können. „Das Repräsentierte ist immer schon ein representamen,"34 Jedes Zeichen verweise immer schon auf ein anderes Zeichen, und „Schrift" bezeichne das „Zeichen der Zeichen" 3 5 . Der vermeintlich einmalige „Eigen-Name" sei nur eine „Kette" von Differenzen, in der er dank einer „Metapher" seine Gestalt finde, oder er werde metaphysisch heraufpotenziert zum Namen Gottes als dem „Namen

29 Ebd., S. 94 f. 30 Vgl. ebd., S. 123. 31 Vgl. ebd., S. 72-74, 121. 32 Ebd., S. 14 f. 33 Vgl. ebd., S. 5 4 - 6 2 . Diese Kritik an der abendländischen Metaphysik wiederholt eine originär klassisch-pragmatistische Argumentation. Vgl. John Dewey, Erfahrung und Natur (1925), Frankfurt/M. 1995; ders., Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln (1929), Frankfurt/M. 1998. 34 J. Derrida, Grammatologie, a. a. O., S. 86. 35 Ebd., S. 76.

Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen

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der Indifferenz schlechthin"36. Dass sich das Signifikat „immer schon in der Position des Signifikanten befindet - das ist der scheinbar unschuldige Satz, in dem die Metaphysik des Logos, der Präsenz und des Bewusstseins die Schrift als ihren Tod und ihre Quelle reflektieren muss" 37 . Dieses große Versprechen, der abendländischen Metaphysik den Todes- und Quellenstoß versetzen zu können, lässt sich indessen nicht durch die Verkehrung des üblichen Primates der Rede nun in den Primat der Schrift einlösen. Derridas Primatverkehrungen führen wie bei Heidegger zunächst in das Moment der Unentscheidbarkeit, bis man also im Gebrauch des üblichen Gegensatzes durch Verkehrung der Primatsetzung nicht mehr urteilen kann. Aber sodann markiert Derrida doch wieder reflexiv unsere übliche geistesgeschichtliche Teilnehmerperspektive, zu der auch schon seit langem die symbolische Sehnsucht nach einer zu den gemeinen Gegensätzen unendlichen Alterität gehört. Derridas Markierung der Seite, auf der er operiert, eben seiner geistesgeschichtlichen Teilnehmerperspektive ist klar an dem ausgesprochen, dank dessen sein Differieren erscheinen soll, nämlich am Nicht-Lebendigen, Wiederholbaren und Idealen: „Die Spur ist die *Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen. Als Artikulation des Lebendigen am Nicht-Lebendigen schlechthin, als Ursprung aller Wiederholung, als Ursprung der Idealität ist die Spur so wenig ideal wie reell, intelligibel wie sinnlich, und so wenig transparente Bedeutung wie opake Energie; kein Begriff der Metaphysik kann sie beschreiben,"38 Wenn wir menschliche Lebewesen weder jenseits noch diesseits von den geläufigen Gegensätzen leben können, also zwischen ihnen differieren, dann ist die Frage doch diese: Warum müssten wir dieses Positionieren noch als eine Artikulation des Lebendigen am Nicht-Lebendigen fassen, als einen Ursprung der Wiederholung und Idealität erfragen? - Warum müssten wir nur immer die Fortsetzung unserer geistesgeschichtlichen Tradition markieren und im Anschluss daran ein darüber hinausgehendes Differieren ersehnen, das doch zu unserer Tradition gehört? Warum dürften wir nicht umgekehrt auch nach einer Artikulation des Nicht-Lebendigen am Lebendigen, der Wiederholung am Unwiederholbaren und der Idealität an der Realität fragen? Wir nehmen doch als Lebewesen an der lebendigen Natur und ihrem semiotischen Spiel teil·. - Es ist diese merkwürdig inkonsequente, noch immer Heidegger geschuldete Markierung der eigenen Position von Derrida, die ihn mit allen Unterscheidungen (jenseits und diesseits von ihnen) doch auf der sogenannt abendländischen Seite operieren, also die Metaphysik nicht überwinden, sondern allein verwindend wiederholen lässt.

36 Ebd., S. 162,125. 37 Ebd., S. 129. 38 Ebd., S. 114.

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Das geschichtliche Schauspiel der Kultur im semiotischen Spiel lebendiger

Natur

Dadurch ist Derrida nur Hermeneutiker geblieben, wenngleich immerhin einer der Schrift im Gegensatz zu Gadamers Hermeneutik des Gespräches 39 als einer Variante der Rede geworden. Wenn man sich nicht nur hermeneutisch auf das Andere des Selben (auf das Reale des schon immer Idealen, auf das Unwiederholbare des bereits Wiederholbaren, auf das Lebendige des eben Nicht-Lebendigen) einlassen will, sondern wirklich auf die Gefahren des Spieles, also auf ein Anderes, das selbst ist und anders als dasselbe bleibt, dann kann man nicht im philosophisch säkularisierten Gebet die Natur übergehen, auch nicht die nur vermeintlich eigene. Schließlich spielt Derrida doch in seinen Bänden zur Frage „Zeit geben" auf sie an. Solange man wie Derrida (seine Levinas-Rezeptionen zeigen es) an der jüdisch-christlichen Tradition auch philosophisch noch immer teilnimmt, kann man nicht das semiotische Spiel der lebendigen Natur, an dem alle Menschen und gar Spezies von Lebewesen teilnehmen, 40 selbstlos freigeben. Man kann dann stattdessen nur die Schrift, der wir die Gabe des Gesetzes danken sollen, reformieren. Daher gelingt Derrida allein ein „ultra-transzendentaler Text", der ohne denjenigen Parcours, der die „Rückkehr des Jenseits ins Diesseits" verhindert, in der Tat dem vorkantischen, eben „dem vorkritischen Text zum Verwechseln ähnlich" wird. 41 1.1.3. Die Frage nach der wechselseitigen Begrenzung von Leben und Sprache Ich habe bisher exemplarisch anhand der gegenwartsphilosophischen Diskussion zu verdeutlichen versucht, inwiefern die Problematik einer Begrenzung der Sprache durch Lebendiges und des Lebendigen durch Sprache gesehen wird, nämlich in beiden Richtungen einer Grenzziehung sowohl eher naturalistisch im Anschluss an den Common sense, insofern dieser eine evolutive Denkweise sedimentiert hat, als auch eher transzendentalphilosophisch beziehungsweise quasi-transzendentalphilosophisch. Die Feststellung, dass es überhaupt in der aktuellen Diskussion eine derart gemeinsame Problematik, um die gerungen wird, gibt, ist keineswegs unwichtig, weil sie häufig vor lauter professioneller Spezialisierung innerhalb dieser oder jener Richtung verborgen bleibt oder nur höchst einseitig wahrgenommen wird. Dabei zeigte sich, dass die doppelten Grenzbewegungen der Sprache am Lebendigen und des Lebendigen an der Sprache anhand kritischer Phänomene und - explizit oder implizit -

39 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 40 Vgl. zur Markierung der Seite, von der her Derrida die gewohnten Gegensätze dekonstruiert, also zu begrenzen versucht, die überklare Formulierung: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit." J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität", Frankfurt/M. 1991, S. 30. 41 J. Derrida, Grammatologie, a. a. O., S. 107.

Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen

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anthropologischer Kriterien erfolgen, ohne dass expressis verbis der Aufgabe nachgegangen würde, Philosophie als den Zusammenhang zwischen Phänomenologie, also dem Aufweis kritischer Phänomene, und ihrer anthropologischen Rekonstruktion zu begreifen. Als größte Schwierigkeit ergab sich die semiotisch-sprachliche Spezifikation des Menschlichen in der lebendigen Natur, zu der wir selber doch gehören, da es unserer geistesgeschichtlichen Tradition offenbar schwer fällt, das semiotische Spiel der lebendigen Natur als des uns Anderen, das anders, womöglich fremd bleibt, freizugeben. Schließlich zeichnete sich bereits ab, dass die angesprochene Alternative etwas mit dem klassischen Pragmatismus zu tun zu haben scheint, zumindest bei Rorty und Derrida direkt, bei Wittgenstein, Husserl und McDowell mehr indirekt. Umso wichtiger ist es nun, dass wir uns den beiden wohl bedeutendsten oder zumindest zwei bedeutenden philosophischen Werken zuwenden, von denen schon jedes jeweils in sich die Gesamtproblematik zu diskutieren unternimmt. Rorty vermutet als Naturalist zu Recht unter den vordergründigen Gegensätzen eine Komplementarität zwischen Jacques Derrida und Jürgen Habermas im philosophischen Diskurs der Moderne.42 Dass sich aber Derridas und Habermas' Philosophien auch ergänzen können, dies rührt meines Erachtens aus ihrer hermeneutischen Gemeinsamkeit her, weshalb sich beide letztlich auf das semiotische Spiel der lebendigen Natur nicht einlassen können, obgleich Derrida, wie wir anhand seiner herausragenden Grammatologie (1967) gesehen haben, das Spiel-Problem erkannt zu haben schien und obwohl sich Habermas in seinen neueren Arbeiten der naturalen Problemstellung durch eine weitere Pragmatisierung anzunähern scheint. Gemessen an Derridas und Habermas' Gemeinsamkeiten kam auf irritierende Weise die Alternative zum üblichen kontinentaleuropäisch philosophischen Diskurs der Moderne in Michel Foucaults unvollendet gebliebenem und noch immer unabgegoltenem Lebenswerk bereits während der 70er und zu Beginn der 80er Jahre zur Sprache. 1.1.4. Der Kreisprozess von der Lebenswelt über das kommunikative Handeln zu den Lebensformen Habermas steht, oft zur Verwunderung angloamerikanischer oder auch französischer Kollegen, noch in der Tradition jener, vor allem deutschsprachigen Philosophie, die sich nicht auf Therapeutik, philosophisch verlängerte Literaturkritik oder intellektuelles Engagement in der Öffentlichkeit beschränkt, sondern auch noch theoretische Ansprüche erhebt, natürlich nicht im Sinne einer szientistischen Metatheorie. Er verbindet die philosophische Aufgabe, die er aus der Teilnehmerperspektive der zweiten Person, eines Du als des alter ego des Diskurses, wahrnimmt, mit

42 Vgl. R. Rorty, Habermas, Derrida, and the Functions of Philosophy, in: ders., Truth And Progress. Philosophical Papers, vol. 3, Cambridge 1998, S. 307 ff.

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der Aufgabe eines Gesellschaftstheoretikers, der er aus der Beobachterperspektive der dritten Person nachgeht. 43 Stand vor 30 Jahren noch die transzendentalphilosophische Fassung einer Universalpragmatik bei Habermas im Vordergrund, samt seiner strittigen idealen Sprechsituation, in der eine Utopie künftig zwangloserer Vergesellschaftungsformen hervorschien, die schnell korrigiert wurde, identifiziert sich Habermas heute mit der „Detranszendentalisierung" im klassischen Pragmatismus. Er vertritt inzwischen einen „schwachen", d. h. nicht reduktiven, eben „pragmatischen Naturalismus" 4 4 . Habermas' Kombination von Philosophie und Gesellschaftstheorie enthält ein Modell vom soziokulturellen Lernprozess, für das erstens die Komplementarität zwischen Lebenswelt und kommunikativem Handeln charakteristisch ist. Dabei erfolge aber zweitens die Reproduktion der Lebenswelt insbesondere in der Moderne zweigleisig, nämlich über kommunikatives Handeln und systemische Vernetzung. Daraus resultierten drittens kritische Ungleichgewichte zwischen den beiden Mechanismen der Reproduktion als auch kritische Rückwirkungen auf die zeitgenössischen Lebensformen. Zum ersten Problemkreis: Habermas unternimmt philosophisch den „Paradigmenwechsel von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln" 4 5 , durch den die Zwecksetzungen (nicht nur die Mittel) und damit auch die Maßstäbe möglicher Kritik selbst im Prozedere der Kommunikation fraglich und begründbar werden sollen. Als „kommunikatives Handeln" bezeichnet er einen „Typus von Interaktionen, die durch Sprechhandlungen koordiniert werden, (aber) nicht mit ihnen zusammenfallen." 4 6 Dabei geht es um solche Sprechhandlungen, die „verständigungsorientiert", d. h. orientiert an der Einlösung von sprachlich erhobenen Geltungsansprüchen, im Unterschied zu „erfolgsorientiert", d. h. orientiert am strategischen Erfolg von ohne Kommunikation feststehenden Zwecksetzungen, gebraucht werden. 47 Kommunikatives Handeln liege vor, insofern Interaktionen durch verständigungsorientierten Sprachgebrauch koordiniert werden. 48 Im Gegensatz zur Reduktion von Rationalität auf die Behandlung kognitiver Aussagen (Geltungsanspruch auf Wahrheit) begreift Habermas rationale Verständigung weiter. Demnach fungieren Sprechakte auch dann

43 Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1999, S. 25. Vgl. aber auch schon ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981, S. 386 ff., 452; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981, S. 182, 229. 44 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 36—40. 45 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a. a. O., S. 9. 46 Ebd., Bd. 1, a . a . O . , S. 151. 47 Ebd., S. 114 ff. 48 Vgl. ebd., S. 398 f., 437.

Diskurs, äußere Wahrnehmung

und die Grenzfrage

nach dem

Lebendigen

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als Medium der Verständigung, wenn sie der Herstellung interpersonaler Beziehungen (Geltungsanspruch auf Richtigkeit) oder der Manifestation von Erlebnissen (Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit) dienen. 49 Schlüge nun der Koordinierungseffekt fehl, zeichne sich das verständigungsorientierte Handeln dadurch aus, dass es eine „reflexive Fortsetzung" mit anderen Mitteln, nämlich denen der Argumentation, erfahre. 50 Natürlich kann man empirisch gesehen aus dem kommunikativen Handeln ins strategische Handeln überwechseln, nur man wechselt dann auch die normative Haltung zum Anderen mit entsprechenden Folgen, was Habermas oft zu kurzschlüssig so dargestellt hat, als bräche dann sogleich Gewalt aus und als gäbe es nicht auch andere als nur egoistische Gründe zur Kommunikationsvermeidung. Gleichwohl scheint mir Habermas in dem folgenden Punkt Recht zu haben: Die Pointe des kommunikativen Handelns besteht in dem Normativ der Fortsetzbarkeit. Man gehe vom Handeln in praktischen Kontexten zum Diskurs über. Dies ist empirisch gewiss aufwändig und unwahrscheinlich, stimmt aber normativ. Der Bindungseffekt des kommunikativen Handelns komme also ironischer Weise dadurch zustande, dass die Teilnehmer zu den Angeboten „Nein" sagen können. Da dieses Nein-Sagen jedoch nicht auf bloßer Willkür beruhe, sondern auf dem „eigentümlich zwanglosen Zwang zum besseren Argument" 5 1 , würden die Kommunikationsteilnehmer in einen „Lernprozess" hineingezogen, der ihr egozentrisches Weltbild dezentriert. 52 Wenn Habermas die Verständigungsorientierung dadurch verdeutlichen wollte, dass er von „Einverständnis" 53 sprach, dann provozierte dies die Konfusion zwischen Inhalt und Form der Kommunikation. Nach der Problematisierung bestimmter Geltungsansprüche kann sich der Konsens nicht mehr auf den strittigen Inhalt, sondern nurmehr auf das Verfahren der Fortsetzung verständigungsorientierten Handelns beziehen. 54

49 Vgl. ebd., S. 412-419. 50 Ebd., S. 48. 51 Ebd., S. 52 f. 52 Ebd., S. 106. 53 Ebd., S. 386, 403, 412 f. 54 Vgl. ebd., S. 398 f. J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 34. Inzwischen unterscheidet Habermas deutlicher: „Einverständnis

im strengen Sinne wird nur dann erreicht, wenn die

Beteiligten einen Geltungsanspruch aus denselben eine Verständigung

Gründen akzeptieren können, während

auch dann zustande kommt, wenn der eine sieht, dass der andere im Lichte

seiner Präferenzen unter gegebenen Umständen für die erklärte Absicht gute Gründe hat, d. h. Gründe, die für ihn gut sind, ohne daß sich der andere diese Gründe im Lichte seiner Präferenzen zu eigen machen müsste." J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 116 f. Daraus folgt dann die Unterscheidung zwischen kommunikativem Handeln im starken und schwachen Sinne, ebd., S. 122.

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Habermas schloss an den Übergang von der Kommunikation zur Argumentation sogleich eine philosophische Rekonstruktion an, die die phänomenologische Aufgabe übersprang und gleichsam den deutschen Idealismus im Pragmatismus retten zu wollen schien. Die „transzendentalpragmatische" Reflexion der Argumentation bringe die pragmatisch unvermeidlichen „Präsuppositionen" zum Vorschein, die implizit schon der kommunikativen Alltagspraxis innewohnen: „Öffentlichkeit des Zuganges, gleichberechtigte Teilnahme, Wahrhaftigkeit der Teilnehmer, Zwanglosigkeit der Stellungnahme usw."55 Gemessen an den empirischen Bedingungen der „Institutionalisierung" einer bestimmten Argumentation erscheinen diese „Unterstellungen" als „kontrafaktisch", obgleich sie jeder, der in „performativer Einstellung", also als „Ich" und „Du" an der Argumentation ernsthaft teilnehme, als „faktisch erfüllt" voraussetze.56 Die Idee der Einlösbarkeit kritisierbarer Geltungsansprüche brauche „Idealisierungen, die von den kommunikativ Handelnden selber vorgenommen und damit vom transzendentalen Himmel auf den Boden der Lebenswelt herabgeholt werden." 57 Der unbedingte Sinn dieser Idee fordere, den faktischen Teilnehmerkreis auf die Perspektiven aller möglicher Weise Betroffenen zu erweitern. Daraus erwächst bei Habermas ethisch das Programm einer „Diskursethik" 58 und erkenntnistheoretisch die Differenz zwischen Lebenswelt, die Kommunikation ermöglicht, und Welt, die Argumentation und deren Rückkopplung zum Lernen ermöglicht.59 Trotz dieses schnellen Durchmarsches von Habermas in die pragmatischen Konsequenzen der Argumentation sollte man nicht den phänomenologischen Ort in seiner Philosophie übersehen, den er immerhin wie auf einer Landkarte angibt, ohne ihn wirklich zu besiedeln. Das kommunikative Handeln setzt nämlich Kontexte voraus, die Habermas durch die „Komplementarität" zwischen dem kommunikativen Handeln und der Lebenswelt einzuholen versucht. Als „Lebenswelt" fungiere eine Menge symbolischer Verweisungszusammenhänge, die das Handeln als „Hintergrundwissen" orientiert60. „Das Rationalitätspotential sprachlicher Verständigung muss in dem Maße aktualisiert werden, wie der gemeinsame lebensweltliche Kontext, in den kommunikatives Handeln eingebettet ist, seine Naturwüchsigkeit verliert."61 In diesem Maße offenbare sich der „paradoxe Charakter" lebensweltlichen Wissens, das nur darum das „Gefühl absoluter Gewissheit" vermittelt, „weil man nicht von ihm weiß": Es verdanke sich dem Umstand, dass das Wissen, „worauf man sich verlassen kann und wie man etwas macht, noch undifferenziert mit dem, was man prä-reflexiv

55 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 161. 56 Ebd., S. 132,160. 57 J. Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., S. 34. 58 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, a. a. O., S. 134. 59 Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 24 f. 60 Ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a. a. O., S. 204 f., vgl. ebd., S. 193 ff. 61 Ebd., S. 393.

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weiß, zusammenhängt." 62 Entstehen nun Situationen, in denen eine lebensweltliche Antwort nicht ausreicht, fährt das lebensweltliche knowing how gleichsam auseinander, nämlich einerseits in einen „kontextbildenden Horizont", an dem Gegenstände thematisiert werden können (Husserls Intentionalität), und andererseits in ein Hintergrundwissen, das als „Ressource" der Verständigung dient und den Handlungsspielraum restringiert 63 (Wittgensteins Lebensform oder auch Husserls lebendige Intentionalität). „Während sich dem Handelnden der situationsrelevante Ausschnitt der Lebenswelt gleichsam von vorne als Problem aufdrängt, das er in eigener Regie lösen muss, wird er a tergo vom Hintergrund seiner Lebenswelt getragen. Die Bewältigung von Situationen stellt sich als ein Kreisprozess dar, in dem der Actor beides zugleich ist - der Initiator zurechenbarer Handlungen und das Produkt von Uberlieferungen" 64 . Damit schlägt Habermas eine originelle Kombination zweier Auffassungen vom Lebendigen als der quasitranszendentalen Ermöglichung und damit auch Begrenzung sprachlicher Kommunikation vor: Für den Handelnden Husserls Horizont gegenstandsbezogener Intentionalität von vorne und Wittgensteins Sprachspiel als Lebensform im Rücken, das bei Husserl als lebendige Intentionalität angesprochen wird. Auch die für Plessners Mitwelt so charakteristische Metapher vom Getragenwerden durch lebendige Positionierung, in der noch Vorsprachliches und Sprachliches performativ konfundieren (vgl. Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen, S. 95 f., 102 f., 121 f.,), taucht ohne ausdrücklichen Bezug auf ihn auf. Wie man das semiotisch lebendige Zusammenspiel der körperleiblichen Positionierung und sprachlichen Perspektivierung näher erschließen kann, wird nicht mehr erörtert, kommt aber in den neueren Arbeiten von Habermas immer wieder als Bedürfnis nach dem Performativen zum Ausdruck. So werde der „a-rationale" Bezug zu Gegenständen „performativ" hergestellt und der Widerstand der Realität „performativ" erfahren. 65 Offenbar merkt Habermas, dass seine frühere, über die Sprechakttheorie von John Searle laufende Interpretation des Performativen, wie es John Austin begründet hatte, irreführend war und ihn nur zu Heideggers Problem der „Welterschließung" durch Sprache zurückgeführt hat, statt an diejenige Verbindung zwischen einer „Hermeneutik der Naturgeschichte ,νοη oben'" und der „Evolutionstheorie" von unten anzuschließen, die vom klassischen Pragmatismus und der philosophischen Anthropologie längst entwickelt worden war. 66

62 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 593. 63 Ebd., S. 590 f. 64 E b d , S. 593. 65 Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 24. 66 Vgl. ebd., S. 30 u. 133.

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Das geschichtliche Schauspiel der Kultur im semiotischen Spiel lebendiger

Natur

Zum zweiten Problemkreis: Man kann aus dem kommunikativen Handeln heraus nicht nur wie bisher zurückfragen, was es in seiner Begrenzung ermöglicht, eben die Lebenswelt nach vorne als Horizont und im Rücken als Hintergrund. Man kann nun auch im Anschluss an den Ubergang zur Argumentation von der Teilnehmerperspektive in die Beobachterperspektive wechseln und die empirisch-theoretische Frage stellen, was daraus folgt, dass die Lebenswelt durch kommunikatives Handeln reproduziert, also auch verändert wird. Die Umstellung der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt auf das kommunikative Handeln erfolge nach einer Versprachlichung des Sakralen und führe insbesondere in der Moderne zu einem „Kreisprozess", der strukturbildende Folgen für die Lebenswelt selber habe, die jetzt in ihrer empirischen Pluralität als Lebensformen thematisiert wird. Komme es in ihrer kommunikativen Reproduktion zu Ungleichgewichten zwischen der kognitiven, ethischen und ästhetischen Dimension des kommunikativen Handelns, spricht Habermas von „Sozialpathologien"67. Als evolutionäre Fluchtpunkte der kommunikativen Rationalisierung sieht er an, dass sich „für die Kultur ein Zustand der Dauerrevision verflüssigter, reflexiv gewordener Traditionen, für die Gesellschaft ein Zustand der Abhängigkeit legitimer Ordnungen von formalen Verfahren der Normsetzung und Normbegründung und für die Persönlichkeit ein Zustand kontinuierlich selbstgesteuerter Stabilisierung einer hoch-abstrakten IchIdentität"68 ergeben. Wenn dies die Fluchtpunkte sind, dann führt offenbar nicht nur die kognitive, sondern auch die im weiten Sinne kommunikative Rationalisierung der Lebenswelt zu modernen Lebensformen, die nicht gerade einen lebendigen Eindruck machen: reflexiv, prozedural und hoch-abstrakt. Wo wären die Grenzen anzusetzen, an denen die genannten Resultate der kommunikativen Rationalisierung in den Lebensformen deren Lebensweltcharakter gefährden, also im Extrem auch eine Erneuerung des kommunikativen Handelns verunmöglichen? - Dieser Frage kann man nicht nachgehen, ohne in einer Philosophischen Anthropologie das Lebendige im semiotischen Spiel der Generationenfolge aufzurollen.69 Man kann nicht wie Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns das Performative auf die Teilnahme am Diskurs verkürzen, sondern muss es als den lebendigen Vollzug ernst nehmen, der noch an etwas Anderem als der Sprache partizipiert, eben am Leben. Drittens ermöglicht es der Standpunkt der erweiterten Reproduzierbarkeit Habermas, auch die Grenzen des kommunikativen Handelns zu erörtern: „Der wachsende Rationalitätsdruck, den eine problematisierte Lebenswelt auf den Verständigungsmechanismus ausübt, erhöht den Verständigungsbedarf, und damit nehmen der Inter-

67 Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a. a. O., S. 212 ff. 68 Ebd., S. 219 f. 69 Vgl. Kap. 6 in Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen.

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pretationsaufwand und das (mit der Inanspruchnahme von Kritikfähigkeiten) steigende Dissensrisiko zu. Diese Anforderungen und Gefahren sind es, die durch Kommunikationsmedien abgefangen werden können." 70 Das Problem der Mediatisierung werde auf zwei Wegen behandelt. Durch Mechanismen, „die die Handlungsorientierungen der Beteiligten untereinander abstimmen", könne sozial integriert werden. Demgegenüber könne durch Mechanismen, „die nicht-intendierte Handlungszusammenhänge über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stabilisieren", nur systemisch integriert werden.71 Während soziale Integration öffentlicher Medien bedürfe, die „die sprachliche Konsensbildung durch eine Spezialisierung auf bestimmte Geltungsansprüche und durch eine Hierarchisierung der Einigungsprozesse raffen", erfolge systemische Integration durch Medien wie Geld und Macht, die „die Handlungskoordinierung von sprachlicher Konsensbildung überhaupt abkoppeln und gegenüber der Alternative von Einverständnis oder fehlgeschlagener Verständigung neutralisieren"72. Damit verdoppele sich die Reproduktionsweise der Lebensformen in eine symbolische Reproduktionsweise, die über öffentliche Medien sprachlich-kommunikativ erfolgt und Ubersetzungsprobleme zwischen den Laien- und Expertenkulturen schafft, und in eine materielle Reproduktionsweise, die über Medien wie Geld und Macht in der Gestalt der Subsysteme von Marktwirtschaft und politischer Macht vonstatten geht. Diese Verdopplung schafft die Möglichkeit kritischer Ungleichgewichte in den Austauschbeziehungen zwischen den Lebensformen und den Subsystemen. Gegen die Variante der „Kolonialisierung"73 der Lebensformen durch systemische Mechanismen der Entsprachlichung plädiert Habermas für den evolutionären Primat der öffentlichen Kommunikation. In dieser könne die „Grammatik der Lebensformen"74 variiert und durch demokratische Gewaltenteilung in systemische Selektionen übersetzt werden, insbesondere durch die doppelt kodierte Eigenart des Rechtsmediums75. Wenn man Habermas' Philosophie und Gesellschaftstheorie, die ich andernorts ausführlich diskutiert habe76, für das jetzige Thema zusammenfassen will, ergibt sich ein Kreisprozess zwischen Lebenswelt und kommunikativem Handeln, der dann durch Medien und Systeme in der Moderne erweitert reproduziert durchlaufen wird. Was zunächst philosophisch als eine quasi transzendentalpragmatische Voraussetzung der

70 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a. a. Ο., S. 272. 71 Ebd., S. 179, 226. 72 Ebd., S. 272. 73 74 75 76

Ebd., S. 480 ff. Ebd., S. 576. Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., S. 15, 429, 451. Vgl. H.-P. Krüger, Kritik der kommunikativen Vernunft, Berlin 1990, insb. Kap. 4. u. 5.

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Kommunikation, eben die Lebenswelt, erschlossen wird, wird im zweiten und dritten Schritt gesellschaftstheoretisch wieder eingeholt, indem nun die Lebensformen zu Produkten der kommunikativen und systemischen Rationalisierung werden. Diese Schrittfolge kann man sich in zyklischer Wiederholung vorstellen, würde das Programm auch empirisch durchgeführt und könnte man philosophisch-anthropologisch annehmen, dass die Lebensformen einen Lebensweltcharakter erhalten können. Im ersten Problemkreis wurde das Lebendige als Ermöglichung und Begrenzung der sprachlichen Kommunikation erschlossen. Im zweiten Problemkreis verkehrt sich bereits die Lage. Die sprachlich-kommunikative Rationalisierung wird zur Ermöglichung und Begrenzung der Reproduktion von Lebensformen, wobei Habermas die philosophischanthropologischen Kriterien dafür fehlen, inwiefern von Re-Produktion oder schon besser Neuproduktion versus Destruktion des lebensweltlichen Charakters der Lebensformen gesprochen werden muss. Im dritten Problemkreis kompliziert sich das Verhältnis zwischen Lebendigem und Diskursen nochmals, da entsprachlichende Medien für eine schnelle und erweiterte Reproduzierbarkeit der Lebensformen hinzutreten, eine Reproduzierbarkeit, die sich gegenüber der öffentlichen Kommunikation systemisch zu verselbständigen vermag. Dieser ganze Prozess der Entkopplung der Gesellschaft als System von der Lebenswelt läuft auf ein modernes Experiment mit anthropologischen Beweislasten77 hinaus, so auch in der Philosophie mit der Beweislast für die Tragfähigkeit der Unterscheidungen zwischen symbolischer und materieller Reproduktion, zwischen sprachlicher und nicht-sprachlicher Kommunikation, zwischen formalen Prozeduren und ehedem substanziell lebendigen Inhalten: Was von all den Funktionsteilungen und Gewaltenteilungen kann menschlichen Lebewesen zugemutet und angemessen werden? Wann tut es noch warum weh? Oder sind wir so plastisch, dass wir auch in alledem uns glücklich zu finden mögen? - Der im ersten Problemkreis übersprungene Ort eines phänomenologischen Einsatzes rächt sich auch am Ende von Habermas' theoretischer Rekonstruktion, an dem die Elaborierung einer philosophischen Anthropologie fehlt. Die übersprungene Phänomenologie hätte gleich zu Beginn die einseitige Festlegung von Habermas auf die DuTeilnehmerperspektive des sprachlich Kommunizierenden zugunsten der Ambivalenz aller semiotisch möglichen Teilnehmer- und Beobachterperspektiven auch wahrnehmender und anschauender Art aufgeben können. Umso weniger bruchartig wäre dann Habermas' Wechsel in die gesellschaftstheoretische Beobachterperspektive einer dritten Person ausgefallen, und umso nahtloser und drängender hätte sich der Rückgang auf eine philosophische Anthropologie angeboten. - Erst mit ihrer Hilfe vermögen wir zu verstehen, warum und wie in dieser doppelten Rationalisierung moderner

77 Vgl. zur Umstellung der Frage nach Sozialpathologien auf eine „schwache, formale Anthropologie", u. a. mit Verweisen auf Martha Nussbaum und Charles Taylor: Axel Honneth, Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1994, S. 59 f.

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Gesellschaften noch etwas Lebendiges utopisch nachwachsen kann, so dass es überhaupt noch zu einem Paradox kommen könnte, das Habermas redlich eingesteht: „Paradoxerweise setzt aber die Rationalisierung der Lebenswelt beides zugleich frei die systemisch induzierte Verdinglichung und die utopische Perspektive" einer posttraditionalen Alltagskommunikation, „die der Eigendynamik verselbständigter Systeme Schranken setzt, die die eingekapselten Expertenkulturen aufsprengt und damit den kombinierten Gefahren der Verdinglichung wie der Verödung entgeht."78 1.1.5. Von der Wissensordnung zur Biomacht Foucault denkt unvertraut ohne transzendentale Versicherungen vorab, ohne Rückschlüsse aus Fakta auf deren Ermöglichung durch ein Subjekt, eine Lebenswelt, eine Existenz, mit denen dann die Erörterung ihren üblichen kontinentalphilosophischen Gang einschlagen könnte. Gleichwohl enthalten seine Werke phänomenologisch meisterliche Einstiege oder Zwischenschritte, denkt man an den Bericht der Vierteilung und an die Beschreibung des Panoptikums in seinem Buch Uberwachen und Strafen, erinnert man sich an seine Beschreibung des Bildes der Hoffräulein von Velasquez in Die Ordnung der Dinge oder treten einem seine Erläuterungen der Leprosorien und Narrenschiffe aus „Wahnsinn und Gesellschaft" wieder vor Augen. Die historisch situierten Phänomene werden allerdings aus der äußeren Wahrnehmung heraus beschrieben, statt der inneren Selbstwahrnehmung, inneren Reflexion oder einer Introspektion zu folgen, die uns in der christlichen Tradition so lieb und teuer sind. Und die Phänomene werden derart - historisch, objektiv und literarisch verfremdend - beschrieben, dass von vornherein ein hermeneutischer Zirkel vermieden wird: Das Andere des Phänomens ist so nicht einfach das Andere des Selben, das uns bereits vertraut wäre, nicht nur dessen Variation, denkt man zum Beispiel an Foucaults Anführung einer rätselhaften altchinesischen Taxonomie von Tieren, die er Jorge Luis Borges verdankt. Foucaults phänomenologische Beschreibung unterbricht den hermeneutischen Rückschluss auf unser Selbstverständnis und lädt zur Erschließung von Welt, nicht der uns üblichen Umwelt ein. Er schreibt schon früh, was für sein Verfahren charakteristisch ist: „Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, .... Was ist eigentlich für uns unmöglich zu denken?" 79

78 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a. ä. O., S. 486. 79 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt/M. 1971, S. 17. In einem Gespräch Ende 1978 sagt Foucault: „Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. ... Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor." Ders., Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M. 1996, S. 24.

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Das geschichtliche

Schauspiel

der Kultur

im semiotischen

Spiel lebendiger

Natur

In der Rekonstruktion der uns unvertrauten Phänomene geht es Foucault um deren geschichtlich lokale Ermöglichung, die am Rande des uns Unmöglichen auffällt. Er spricht selbst - vor und anders als Derrida - vom historischen Apriori und von einer Quasi-Transzendentalität.80 Sie taucht der Anschauung nach als geschichtliche Lokalisierung am uns leeren Raum und an der uns stummen Zeit auf, die uns allein übrig bleiben, da unsere Verräumlichungsart und unsere Rhythmisierung dem Phänomen offenbar nicht angemessen sind. Und diese Quasi-Transzendentalität macht sich dem diskursiven Begriff nach als eine Ermöglichung des Phänomens an dem, was uns wie eine kategoriale Unmöglichkeit vorkommt, bemerkbar, da unsere Modi auf das Phänomen nicht passen. Foucaults phänomenologische Befremdung spannt unser Selbstverständnis nicht von unserem besseren Selbst (Subjekt, Existenz) her in die Frage, um dann diesen Zirkel zwischen unserem höheren und tieferen Selbst - mit all seiner hermeneutischen Sehnsucht nach dem uns Außerreflexiven - wie gewöhnlich zu entfalten in diese unsere großherzigen Uberwindungen und Verwendungen des Selbstgefalls im Selbstzerfall hinein, die sich auch noch Selbstlosigkeit andichten. Das uns historisch lokale und diskursiv äußere, wohl längst erstorbene Phänomen konfrontiert uns mit der realen, nicht phantasierten Möglichkeit, auch aus der Unmöglichkeit des Geschichtlichen zu stammen und darin wie eine „tragische Versteinerung", wie eine „verkalkte Wurzel des Sinnes" 81 unterzugehen. Die Frage, wie es eine uns fremde Kultur zustande gebracht habe, aus der Negativität sprich Unbestimmtheit des Geschichtlichen eine ihr positiv bestimmbare und lebbare Geschichte zu machen und eben damit der Endlichkeit anheim zu fallen, schlägt auf die Lebbarkeit unseres Selbstverständnisses zurück: „Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben - dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt. Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen."82

80 Vgl. u. a. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 301, 390, 436. 81 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961), Frankfurt/M. 1969, S. 10 u. 12. 82 Ebd., S. 9.

Diskurs, äußere Wahrnehmung und die Grenzfrage nach dem Lebendigen

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Foucaults Einstieg ist mithin ein fremdes Phänomen, das sich unserer Ich-DuPartnerkommunikation im Alltag und in der Argumentation entzieht und von dem daher unsicher ist, ob wir es je in eine interhistorische oder interkulturelle Kommunikation bringen werden. Immerhin ist seine Beschreibung ein erster Ubersetzungsversuch dafür, der bei vielen anderen fremden Phänomenen von vornherein scheitern kann. Die Phänomenbeschreibung reißt unser Denken aus seiner diskursiven Eingespieltheit auf unsere Wahrnehmungsart heraus, und baut doch zugleich bereits eine Brücke, da sie von jemandem aus unserem Kulturkreis stammt.83 Die Rekonstruktion dessen, das das fremde Phänomen historisch lokal angemessen ermöglichen könnte, anhand seiner Beschreibung, die etwas aus unserer Kultur in Anspruch nimmt, leitet in eine anthropologische Richtung über. Dasjenige, welches in den Tier-Mensch-Vergleichen und im Vergleich der historisch verschiedenen Menschenkulturen als Vergleichbares entdeckt werden kann, sollte auch die Brücke zu den fremden Phänomenen bauen können. Jedenfalls war diese anthropologische Richtung die Antwort auf die von Westeuropa ausgehende Geschichte der Kolonialisierungen des ihm Inneren und Äußeren, auf seine eigene funktionale Differenzierung und auf für seinen Weg fremde Kulturen: das Thema der Entfremdung des menschlichen Wesens.84 Wir haben es also bei Foucault zunächst einmal mit dem Zusammenhang zwischen einer Phänomenologie des Fremden und deren anthropologischer Rekonstruktion zu tun. Indessen verweist die anthropologische Untersuchung selbst auf eine geschichtlich bestimmte Art und Weise, wissenschaftliches Wissen zu erzeugen und zu beurteilen (episteme). Foucault arbeitet den epistemischen Bruch in der Erzeugung und Beurteilung wissenschaftlichen Wissens 1775-1825 heraus: das Auftauchen des Menschen in einer doppelten Rolle anstelle der Repräsentation und ihrer metaphysischen Versicherungen. An die vorherige Stelle eines Wissensraumes „der Identitäten oder der Unterschiede, der nicht-quantitativen Ordnungen, der universellen Charakterisierung, einer allgemeinen Taxonomie, einer Mathesis des Nicht-Meßbaren" sei ein Wissensraum getreten, „der geprägt ist von Organisationen, das heisst von inneren Beziehungen zwischen den Elementen, deren Gesamtheit eine Funktion sichert" 85 , die auch fortschreitend mathematisiert werden kann. Frage man sich, wie in dem

83 Vgl. zur symmetrischen Bedeutung von Psychoanalyse und Ethnologie füreinander als „Gegenwissenschaften" zu den „Humanwissenschaften", die sich wiederum von den positiven Erfahrungswissenschaften unterscheiden, M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 454 f. Vgl. zur Problematik einer Phänomenologie des Fremden Bernhard Waidenfels, Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/M. 1998. 84 Vgl. zum „anthropologischen Kreis", der rekonstruktiv - bei Foucault im Vordergrund stehend auf die eigenen Asylbildungen, sodann aber auch auf die äußeren Asylbildungen durch das Thema von den Entfremdungen des menschlichen Wesens antwortet, in: ders., Wahnsinn und Gesellschaft, a. a. O., 543 ff. 85 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 270.

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Das geschichtliche Schauspiel der Kultur im semiotischen Spiel lebendiger Natur

früheren Wissensraum die Ordnung des Wissens epistemisch erfolgt sei, werde man auf Repräsentationen verwiesen, die Repräsentationen bezeichnen, also reduplizieren. Descartes ζ. Β. habe noch zu dieser klassischen oder frühmodernen Wissensordnung gehört: „Der Ubergang vom ,Ich denke' zum ,Ich bin' vollzog sich im Licht der Evidenz innerhalb eines Diskurses, dessen ganzes Gebiet und ganzes Funktionieren darin bestanden, daß man das, was man sich repräsentiert, und das, was ist, nacheinander gliedert." 8 6 Die Wahrheit der Repräsentation ergab sich aus einer Metaphysik des Unendlichen, daraus, dass Denken am Unendlichen teilhat und insofern der Endlichkeit animalischer Natur entkommt. Demgegenüber resultiere der Bruch in eine Doppelrolle des Menschen, die es erlaube, die Endlichkeit des Menschen als O b j e k t der Erkenntnis aus der Endlichkeit seines Seins zu begründen: „für das klassische Denken legt die Endlichkeit (als vom positiv Unendlichen her eingeführte Bestimmung) Rechenschaft über jene negativen Formen ab: den Körper, das Bedürfnis, die Sprache und die begrenzte Erkenntnis, die man davon haben kann. Für das moderne Denken begründet die Positivität des Lebens, der Produktion und der Arbeit (die ihre Existenz, ihre Historizität und ihre eigenen Gesetze haben) als ihre negative Korrelation den begrenzten Charakter der Erkenntnis. U n d umgekehrt begründen die Grenzen der Erkenntnis positiv die M ö g lichkeit zu wissen, wenn auch in einer stets begrenzten Erfahrung, was das Leben, die Arbeit und die Sprache sind." 8 7 Die Konsequenz der modernen Umstülpung bestehe mithin darin, „die Endlichkeit in einem unbeendbaren Bezug zu sich selbst" 8 8 zu denken, wodurch die Metaphysik eines positiv markierten Unendlichen, von dem her und zu dem hin alles zu denken sei, überflüssig wird. Gleichwohl bemerkt Foucault, dass die wechselseitige Begrenzung der endlichen Erkenntnis-, Lebens-, Produktions-, Arbeits- und Sprachmöglichkeiten offenbar historisch instabil war und nicht ausreichte. Es kam zu neuen metaphysischen Versuchungen, etwa einer Metaphysik des Lebens, der Arbeit und der Sprache. „Aber das sind stets nur Versuchungen, die sofort in Frage gestellt und die von innen miniert werden, denn es kann sich nur um von den menschlichen Endlichkeiten bemessene Metaphysiken handeln: um die Metaphysik eines zum Menschen selbst konvergierenden Lebens, auch wenn sie nicht bei ihm aufhört; um die Metaphysik einer den Menschen befreienden Arbeit, so daß der Mensch sich seinerseits davon befreien kann; um die Metaphysik einer Sprache, die der Mensch im Bewusstsein seiner eigenen Kultur sich wieder aneignen kann." 8 9 Die sich durch die Metaphysiken der Endlichkeit durchziehende Schlüsselfigur ist demnach nicht der Mensch als O b j e k t

86 87 88 89

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 376 f. S. 382. S. 384. S. 383.

Diskurs, äußere Wahrnehmung

und die Grenzfrage

nach dem Lebendigen

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positiver Erfahrungsformen, seine erste Rolle, sondern als derjenige, der aus seiner unbeendbaren Endlichkeit heraus diese erste Rolle ermöglicht, also in seiner zweiten Rolle geschichtlich existiert. „Die moderne Kultur kann den Menschen denken, weil sie das Endliche von ihm selbst ausgehend denkt." 90 Wo also früher die (die christliche Religion rationalisierende) Metaphysik der positiven Unendlichkeit einsprang, den Zusammenhang der Repräsentationen von Repräsentationen eben ins Unendliche zu sichern, springt nun die Redeweise vom Menschen ein, mal in der Funktion positiver faktischer Schranken, mal in der Redeweise negativer Ermöglichungen des Positiven, die es normativ begrenzen. Beide Rollen übernimmt der Mensch im geschichtlichen Spagat?x Daraus ergibt sich für Foucault die besondere Aufgabe der Humanwissenschaften in der „pluralen" Vermittlung zwischen positiver Erfahrungswissenschaft und quasi-transzendentalphilosophischer Unternehmung92, die er unter Anspielung auf Heidegger die „Analytik der Endlichkeit" 93 nennt. Wenn man sich frage, wie die positiven Objekt-Bestimmungen des Menschen und seine dazu negative Seinsweise der Endlichkeit füreinander zum Problem werden, stoße man auf solche Differenzierungen wie Bedeutung versus System oder Konflikt versus Regel. Was kollektiv unbewusst als System abläuft, hat für die Beteiligten und deren Bewusstwerdung unterschiedliche Bedeutung. Was im objektiven Prozess der Ökonomie zum Beispiel der Regel nach zählt, ist der Bedarf, der aber keineswegs dem Bedürfnis und der Bedürftigkeit der beteiligten Menschen entsprechen muss, worüber es also zum Konflikt kommen kann.94 Man könnte sagen, dass durch die Interventionen im Namen der Bedeutung oder des Konfliktes der Bedürfnisse ein Kampf um die Repräsentabilität der Positivitäten und Systeme für die betroffenen Menschen geführt wird. Statt nun diese Fährte in den öffentlichen Konflikt und geschichtlichen Kampf hinein weiter zu verfolgen, vollbringt Foucault Mitte der 60er Jahre unter dem Eindruck Nietzsches (letzter Mensch und Ubermensch) und Heideggers (das Sein und die Sprache) eine merkwürdige Herausdrehung aus der Position des geschichtlichen Teilnehmers. Diese Herausdrehung gibt er erst ab 1968 durch seine Hineindrehung in das öffentliche Engagement des geschichtlichen Kampfes auf. Nachdem Foucault seine fiktive Distanzierung vom geschichtlichen Kontext Mitte der 70er Jahre durch seine Konzeption von der Produktivität bestimmter Machtspiele ersetzt hatte, nahm er sie 1978 auch in einem Interview zurück. Die Herausdrehung aus dem öffentlichen Engagement im politisch geschichtlichen Zusammenhang gipfelte seinerzeit in der

90 Ebd., S. 384. 91 Vgl. ebd., S. 445. 92 Vgl. ebd., S. 423-425, 432. 93 Vgl. ebd., S. 4 0 5 , 4 4 6 f. 94 Vgl. ebd, S. 433 f.

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Hypothese vom Ende des Menschen. Für diese Hypothese wurde Foucault nicht minder berühmt als berüchtigt, da sie mehr als einen methodologischen Antihumanismus beinhaltet, also mehr als die epistemische Forderung, dass positive Erfahrungswissenschaft nicht im Anthropomorphismus stecken bleiben, sondern sich davon methodisch befreien darf, womöglich muss. Wenngleich Foucault seine Hypothese vom Ende des Menschen korrigiert und durch seine Machtanalyse, die mit seinem eigenen öffentlichen Engagement als Intellektueller korrespondiert, ersetzt hat, muss man sie richtig verstehen, weil man ansonsten auch nicht die Korrektur und Ersetzung als philosophisches Problem begreift. Der m. E. für das richtige Verständnis der Hypothese entscheidende Satz lautet: „Der Mensch hat sich gebildet, als die Sprache zur Verstreuung bestimmt war, und wird sich deshalb wohl auflösen, wenn die Sprache sich wieder sammelt."95 Wenden wir uns zunächst dem ersten Teil dieses Satzes zu: In der Tat führt die empirische Thematisierung von etwas zu der dazu gegenläufigen quasi-transzendentalen Ermöglichungsfrage, die etwas zur Sprache bringt, das nun seinerseits wieder empirisch positiviert werden kann, und so fort. Die Sprache geht so in einer Pluralität von praktisch geregelten Diskursen unter, von denen sie doch gleichwohl noch immer als Strukturpotential in Anspruch genommen wird, das so aber vor lauter positiver Bestimmtheit immer leerer wird. Je verstreuter die Sprache in bestimmten Diskursen wird, die je ihrem eigenen Maße folgen und sich gegeneinander vergleichgültigen, desto dringender wird die Rolle des Menschen, der durch Norm-, Bedeutungs- und Konfliktfragen gegen die Zerstreuung interveniert und die Seinsweise der Endlichkeit zur Geltung bringt, um die Leerheit der Sprache in den Diskursen wieder durch Anderes zu füllen.96 Aber selbst die Analytik der Endlichkeit, die auf ihre Arbeitsteilung mit den positiven Erfahrungswissenschaften festgenagelt ist, wiederhole nur, „wie das Andere, das Ferne, ebenso wohl das Nächste und das Gleiche ist": „Denn es ist ein Denken, das nicht mehr zu der niemals beendeten Bildung des Unterschieds verläuft, sondern zu der stets zu vollziehenden Enthüllung des Gleichen. Nun verläuft eine solche Enthüllung nicht ohne das gleichzeitige Auftauchen des Doppels und jenes sehr, sehr kleinen, aber unaufhebbaren Abstandes, der in dem ,und' des Zurückweichens und der Wiederkehr, des Denkens und des Ungedachten, des Empirischen und des Transzendentalen, dessen, was zur Ordnung der Positivität gehört, und dessen, was zur Ordnung der Grundlagen gehört, ruht." 97 Die Analytik der Endlichkeit ist bei aller Abständigkeit ein Denken, das wiederholt, das sich Anderes angleicht. Foucault spricht daher vom „anthropologischen Schlaf", in den die Philosophie gefallen sei, da

95 Ebd., S. 461. 96 Vgl. ebd., S. 441 f. 97 Ebd., S. 409.

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sie die genannten Differenzen nur abständig wiederhole. Nietzsche habe mit einem Ausweg aus dieser Langeweile experimentiert: „Wenn die Entdeckung der Wiederkehr das Ende der Philosophie ist, ist das Ende des Menschen dagegen die Wiederkehr des Anfangs der Philosophie. In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken." 9 8 Im ersten Teil des Kernzitats ist es plausibel, die moderne Doppelrolle des Menschen gleichsam wie eine Verdichtung aufzufassen, die geschichtlich in dem Maße nötig wird, in dem die Diskurse vor lauter Positivität leer laufen. Offenbar schwebte Foucault im zweiten Teil des Kernzitats eine dazu alternative Verdichtung der Sprache selber vor. Was verstand er darunter? - Foucault verdeutlicht diese hypothetische Alternative sowohl von den „Gegenwissenschaften" der Humanwissenschaften als auch von der Literatur und den Künsten her. Die Gegenwissenschaft der Psychoanalyse löse den Menschen ins Unbewusste und die der Ethnologie in die Historizität der Kulturen auf. Uberschneide man beide Unbestimmtheitsrichtungen „rein sprachtheoretisch" und nehme man nun die Sprachstrukturen sowohl mathematisch als auch als Strukturierung der Inhalte ernst, ja, verstehe man die linguistische Analyse „mehr als eine Perzeption als eine Explikation", dann würde die „Sprache mit einer so starken Uberdetermination" wieder auftauchen und „die Gestalt des Menschen von allen Seiten einzuhüllen" 9 9 beginnen. Man kann dieses Projekt Foucaults eine Exzentrierung des Menschlichen von seiner semiotisch-sprachlichen Ermöglichung her in seine Verunmöglichung hinein nennen. Es wäre vergleichbar mit Hegels und Peirces spekulativer Grammatik, auf die ich (in 2.1.) zurückkomme und die Foucault wohl semiotisch spekulativ zum „allgemeinen Index der Erfahrung" 1 0 0 ausfalten wollte, w o z u dann aber eher Derrida in seiner „Grammatologie" experimentiert hat. Von Hegel und Peirce kann man übrigens lernen, dass diese spekulative Durchführung der Frage nach den semiotischen Ermöglichungen/Verunmöglichungen von Phänomenen keineswegs als ausschließliche Alternative, sondern in Komplementarität zu anderen Wegen zu begreifen ist. Sie liegt in der philosophischen Konsequenz einer anthropologischen Rekonstruktion, die sowohl ihre Gegenstände als auch sich selbst im Kontinuum des Geistes (Hegel) bzw. der N a t u r (Peirce) als nötige Möglichkeit erfassen können muss. Zu diesem Projekt passen schließlich Foucaults Verweise auf literarisch-künstlerische Enthüllungen der Endlichkeit „in der Sprache", „aber auch vor ihr, diesseits, als jene unförmige, stumme, bedeutungslose Region": Bei Artaud etwa werde „die als

98 Ebd., S. 412. 99 Ebd., S. 455-457. 100 Ebd., S. 459..

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Diskurs zurückgewiesene und in der plastischen Heftigkeit des Zusammenpralls wiederaufgenommene Sprache auf den Schrei, auf den gefolterten Körper, auf die Materialität des Denkens, auf das Fleisch rückverwiesen."101 - Was seinerzeit eine avantgardistische Möglichkeit war, wäre in der heutigen Mediengesellschaft zu Erfahrungen der Sensibilisierung zu verstetigen, dienten die meisten Medien nicht so vordergründig der Werbung. Es war diese aisthetische, die sinnliche Wahrnehmung in die Sprache einbeziehende Verdichtung, die die übliche Grenze zum sprachlich Unterdeterminierten in eine sprachliche Überdeterminierung verwandeln sollte. Foucault hatte mit ihr phänomenologisch längst experimentiert, erfuhr aber im Kontext von 1968 und dessen Folgen, dass das Wahrgenommene und Angeschaute nicht in die Sprache zu bringen war, die erneut diskursiv leer lief.102 Schon bevor er zu einer Neuthematisierung der Erfahrung als Macht überging, hieß es problembewusst: „Es muss in der Tat eine Wahrheit existieren, die zur Ordnung des Objekts gehört, die sich allmählich durch den Körper skizziert, bildet, ins Gleichgewicht bringt und die Rudimente der Wahrnehmung offenbart; die sich auch in dem Maße abzeichnet, in dem die Illusionen sich auflösen und die Geschichte sich in einem aus der Entfremdung befreiten Status errichtet. Aber es muss auch eine Wahrheit bestehen, die zur Ordnung des Diskurses gehört, eine Wahrheit, die gestattet, über die Natur oder über die Geschichte der Erkenntnis eine wahre Sprache zu haben. Der Status dieses wahren Diskurses bleibt uneindeutig."103 Die Uneindeutigkeit dieser diskursimmanenten Wahrheitsfrage ist die Chance und die Not zur Politisierung des Widerstreits der Diskursarten und deren Formen phänomenaler Gebung. Foucaults Versuch, uns „von jeglichem transzendentalen Narzissmus" zugunsten einer „Dezentralisierung" zu befreien, „die keinem Zentrum ein Privileg zugesteht", kann das Andere des Diskurses nicht schon wieder nur als den „anderen verborgenen Diskurs" enthüllen, „der aber derselbe bleibt", eben Diskurs, sondern muss diagnostisch104 durch die „komplexe und differenzierte Praxis" des

101 Ebd., S. 458 f. 102 Foucault verstand die „großen Oppositionsbewegungen 1968-1970" aus seiner tunesischen Erfahrung (wo er 1968 war), also aus dem Kontrast eines Entwicklungslandes heraus zu West- und Osteuropa. Die Veränderungen betrafen „eine bestimmte Kultur, grob gesagt: die der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Die Dinge lösten sich auf, und es gab kein geeignetes Vokabular, um diesen Prozess auszudrücken." M. Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, a. a. O., S. 76 f. Das ganze Interview zeigt, wie stark die Selbstveränderung, die Foucault übrigens auch in anderen Hinsichten „erfahren" hat, der Hypothese von der Verdichtung der Sprache zur sprachlichen Überdeterminierung widersprach, er also wieder eine Unterdeterminierung durch die Sprache veranschlagen musste. Damit brach die Hypothese vom Ende des Menschen zusammen. 103 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 386. 104 Ders., Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt/M. 1973, S. 289 u. 293.

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Diskurses zu seinem Anderen kommen: „,Der Diskurs ist nicht das Leben: seine Zeit ist nicht die Eure; in ihm versöhnt Ihr Euch nicht mit dem Tode; es kann durchaus sein, daß Ihr Gott unter dem Gewicht all dessen, was Ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, dass Ihr aus all dem, was Ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.'" 105 Fortan stellt sich Foucault - ohne transzendental-hermeneutische Selbstprivilegierung außerhalb der Macht - in die Thematik der Macht hinein: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht." 106 Aus der Analytik der Endlichkeit wird die der Macht. Sie erlaubt es ihm, an der geschichtlich modernen Produktion des Zusammenhanges zwischen den diskursiven Positivitäten und dem endlichen Leben als Analytiker teilzunehmen. Was ihm (in der ersten Hälfte der 60er Jahre) aus einer Beobachterhaltung der Wiederkehr noch als eine tragische Versteinerung erschien, wird nun zu der pragmatisch affirmierten Aufgabe, in Machtbeziehungen stehend zwischen schlechteren, eben unproduktiveren und besseren, sprich: produktiveren Machtgefügen unterscheiden zu lernen. „Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, .... In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion." 107 Die Machtanalyse unterscheidet zwischen Machtformen, die sich traditional unproduktiv auf Gesetz, Recht und Schwert fokussieren, und solchen, die Leben nach diskursiven Normierungspraktiken als menschliche Lebensform produzieren. Dabei soll die produktivere Art in der Moderne die zuerst genannte Art unterlaufen, durchziehen und übergreifen. Was vor- und frühmodern das sogenannte Recht des Machtsouveräns „über Leben und Tod" genannt wurde, sei „in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen" gewesen: Diese Macht vollzog sich „wesentlich als Abschöpfungsinstanz, als Ausbeutungsmechanismus, als Recht auf Aneignung von Reichtümern, als eine den Untertanen aufgezwungene Entziehung von Produkten, Gütern, Diensten, Arbeit und Blut.... Die Macht war vor allem Zugriffsrecht auf die Dinge, die Zeiten, die Körper und schließlich das Leben; sie gipfelte in dem Vorrecht, sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen." 108 Daher auch die öffentliche Inszenierung der Tötung als der Ausübung des Rechts des Souveräns. Demgegenüber bestehen die produktiveren Machtformen darin, das Leben zu verwalten und zu bewirtschaften, ja, seine Kräfte hervorzubringen, anzureizen und zu ver-

105 Ebd., S. 301. 106 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 116. 107 M. Foucault, Uberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), Frankfurt/M. 1976, S. 250. 108 Ders., Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, a. a. O., S. 162.

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stärken, statt es zu hemmen und zu vernichten. Produktiv erscheine diejenige Unterwerfung, in der die Überwachung und Kontrolle der Neuproduktion von Leben gleichkommt. „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen. ... Jetzt richtet die Macht ihre Zugriffe auf das Leben und seinen ganzen Ablauf; der Augenblick des Todes ist ihre Grenze und entzieht sich ihr; er wird zum geheimsten, zum .privatesten' Punkt der Existenz."109 Diese „Macht zum Leben" habe sich um zwei Pole herum gebildet, um die Disziplinen des Körpers („die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme") und um die Regulierungen der Bevölkerung: „Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung,"110 Im Maße der Vernetzung dieser beiden Pole entstehe seit dem 18. Jh. so etwas wie eine „Bio-Macht", die „Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation"111, die durch eine blinde Periode der „Bio-Geschichte" („Pressionen, unter denen sich die Bewegungen des Lebens und die Prozesse der Geschichte überlagern") in eine „Bio-Politik" münde, in den „Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens".112 Damit stelle sich die Frage nach dem Menschen in „dem neuen Verhältnis zwischen der Geschichte und dem Leben: in der Doppelstellung des Lebens zum einen außerhalb der Geschichte als ihr biologisches Umfeld und zum andern innerhalb der menschlichen Geschichtlichkeit, von deren Wissens- und Machttechniken sie durchdrungen wird."113 1.1.6. Agonale Machtspiele heute: die Selbstermächtigung zur Produktion wahren Lebens Man kann heute wohl kaum mehr leugnen, dass Foucault in seiner machtanalytischen Umorientierung auf das „Scharnier" zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens, also zwischen den Körper- und den Bevölkerungstechnologien, Recht behalten hat. Wenn sich das Politische in der Gegenwart noch nachhaltig entzünden kann und muss, dann im Kampf um diese Scharnierfunk-

109 110 111 112 113

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

165. 166. 168. 170. 171.

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tionen, von denen buchstäblich alles abhängen wird: „Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht."114 In der Reihe der absehbaren Scharniere waren die ökologische Frage, die Bildungsfrage und die Geschlechterfrage während des letzten Drittels des 20. Jhs. nur die vergleichsweise harmlosen Vorboten der Effekte, die die neuen Reproduktions- und Gentechnologien in der Kopplung mit Nano- und den neuen Informationstechnologien zeitigen können. Wir könnten noch einmal froh sein, wenn es gelänge, für diese Gefahr wenigstens eine „Normalisierungsgesellschaft"115 auszubilden, statt den alten Kampf auf Leben und Tod nun mit den neuen Lebenstechnologien wortwörtlich auszuführen. Letzteres könnte dem Kurzschluss des Lebens, der Eskalation des natürlichen und des künstlich erzeugten Lebens unter der Verausgabung des Menschen als einer differenzierbaren Spezies gleichkommen. Dieser Kurzschluss des Lebens könnte nicht mehr politisch-geschichtlich unterbrochen, geschweige gestaltet werden. Foucaults Korrektur seiner Hypothese vom Tod des Menschen enthält - allzu rhetorisch, da er die neue Gefahr noch nicht kennen konnte - die Verteidigung des Geschichtlichen in dem oben angesprochenen neuen Verhältnis zwischen Leben und Geschichte. Er hofft, da „die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört haben, sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ,der Mensch' wäre."116 Wahrscheinlich lautet inzwischen das Problem nicht mehr, das Leben zu verteidigen, all seine Ansprüche zu entdecken und durch den Markt und Wohlfahrtsstaat produktiv steigern zu können. Mittlerweile geht es eher um die Verteidigung des Geschichtlichen alles Lebendigen, insbesondere des Geschichtlichen menschlicher Lebewesen, um die Gewinnung der Zeitmuster, die sie zum Durchlaufen der ihnen nötigen Spielmöglichkeiten, etwa des im Bd. I dargestellten Spektrums von Phänomenen, brauchen. Dafür scheinen neue politische Verfahren der rhythmisch unterbrechenden Vernetzung nötig, durch eine Art Geschichts-Macht als Gegenmacht, um den Ausgleich mit der „Bio-Macht" und der „Wissens-Macht" herbeiführen zu können, die anderen Zeithorizonten folgen. Wenn sich in den modernen Gesellschaften etwas als gefährlich herausgestellt hat, dann war es die Totalisierung einer der vielen möglichen Machtformen; und wenn sich in ihnen etwas bewährt hat, dann war es die Einführung neuer Gewaltenteilungen

114 Ebd. 115 Ebd., S. 172. 116 M. Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, a. a. O., S. 85.

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zwischen den Machtformen. Habermas hat den Gedanken einer „neuen Gewaltenteilung"117 im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den verwertungsökonomischen, machtpolitischen und öffentlichen Integrationsformen der Gesellschaft entworfen, ohne machtanalytisch dem Befremdlichsten ins Auge zu sehen, der technologischen Produktion nachmenschlicher Lebewesen durch noch menschliche Lebewesen. Die Differenz zwischen prä- und post-humanem Leben ist längst nicht mehr evolutionsgeschichtlich vorgegeben und dazu passend dem Selbstverständnis zu entnehmen, sondern bereits in der technologischen Produktion unabsehbarer Folgen befindlich. Die Lektion der neuen Gewaltenteilung als einer Ermöglichung des Geschichtlichen wäre dafür erst noch machtanalytisch zu fassen. Wenngleich Foucault nicht direkt dieser Ausgleich von Mächten durch Gegenmächte in seinem jäh unterbrochenen Spätwerk vorschwebte, so doch zumindest eine Ausbalancierung seines Lebenswerkes zugunsten der ästhetischen Selbstpraktiken, auf die ich im 3. Kapitel des vorliegenden Bandes zurückkomme. Solche Selbstpraktiken sind für die Erzeugung von Geschichtsmacht von Belang, da das Geschichtliche dem Expressiven des Menschen entspringt (vgl. Zwischen Lachen und deinen, Bd. I, Epilog). Foucaults zivilisierende Machtkonzeption ist oft, ähnlich wie die Plessners, als eine zynische Maskierung von Gewaltherrschaft missverstanden worden. Alle, die sich selbst durch einen transzendental-hermeneutischen Schachzug außerhalb der Machtbeziehungen privilegiert in ihrem höheren oder tieferen Selbst platzieren, spielen diese Rolle der Entrüstung, die im Spiel der Macht selber vorkommt, sie anzuheizen. Entpuppt sich nämlich dieser privilegierte Ort des Selbsts als ohnmächtig, schaltet er, um Macht zu erlangen, strategisch eben auf jene Maskierung um, die er Anderen unterstellt, von denen er sich nichts anderes vorstellen kann, als dass sie ihm glichen. Diese Maskierung ist in der Tat viel einfacher mit der juridischen Form von Gesetzesmacht, die Foucault für unproduktiv hält, zu leisten als in jenen Machtformen, die vom Diskurs durchlöchert und durch ihn produktiver gestaltet werden. In ihnen gilt nämlich die „Regel der taktischen Polyvalenz der Diskurse": „Die Diskurse ebenso wenig wie das Schweigen sind ein für allemal der Macht unterworfen oder gegen sie gerichtet. Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam."118 Die sachlichen Differenzen zwischen Foucault und Habermas kann man nicht unter dem grobschlächtigen Titel Vernunftkritik oder kommunikative Vernunft

117 J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 157 ff. Vgl. auch ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 422 ff. 118 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, a. a. O., S. 122.

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fassen, solange anzunehmen ist, dass Vernunft zunächst einmal und am ehesten in Diskursen praktiziert werden kann. Habermas anerkennt die Ambivalenz des Rechtskodes, nämlich in demselben für einen Beobachter doppeldeutig übersetzen zu können119, es für die Beteiligten aber nicht zu müssen, da der Kode gleichwohl gilt. Notfalls verschafft er sich seine Geltung durch die Sprache der Sanktionen bis zur legalen Gewalt, die ihrerseits legitimationsbedürftig bleibt. Habermas arbeitet auch mit dem deliberativen Politik- und Rechtsmodell, das expertenkulturelle Beratung einschließt, die Foucault unter Normsetzung und Abweichungen davon versteht. Foucault fasst (nicht weniger als Plessner ein halbes Jahrhundert früher) die Ambivalenz des Rechtskodes als den Spielcharakter von Macht, der im Recht oder zu Normen auf verschiedene Weise gerinnen kann, diese also allererst im Spiel des Politischen möglich oder unmöglich macht. Im Unterschied zum „Gewaltverhältnis", das auf Körper einwirkt, sei das, „was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen", das dem „Führen" gleiche: „Macht wird nur auf .freie Subjekte' ausgeübt und nur, sofern diese ,frei' sind", vor denen also „ein Feld von Möglichkeiten liegt". Dieses wird umso wahrscheinlicher bestimmt, als die Produktion des dazu passenden Subjekts gelingt. „Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber", sondern innerhalb eines komplexen „Spiels: in diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung der Macht", weshalb man besser als von einem Antagonismus von einem „Agonismus" sprechen sollte, „von einem Verhältnis, das zugleich gegenseitige Anstachelung und Kampf ist". 120 Der agonale Spielcharakter wird durch die Diskursivierung (Max Weber hätte gesagt: Rationalisierung) der Machtbeziehungen gesteigert, da Diskurse vom Widerspruch und ihrer Pluralisierung leben, was Foucault mit dem Modell der Normalisierung im Unterschied zum alten Recht des Souveräns und dessen Gewalt meint. Foucault versteht schon immer „zunächst" unter Macht: „das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen" lokalisierbare und temporalisierbare Kräfteverhältnisse „verwandelt, verstärkt, verkehrt".121 Wenn man Macht so als das agonale Kräftespiel zur gegenseitigen Bestimmung raumzeitlicher Felder möglichen Handelns begreift, dann erscheinen die bislang mehr oder minder historisch-empirisch gesättigten Machtmodelle (Staat und Recht, Führen

119 Vgl. zum Recht als Medium der Umsetzung kommunikativer in administrative Macht und als Transformator zwischen Lebenswelt und selbstgesteuerten Handlungssystemen J. Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., S. 187, 429. 120 Vgl. M. Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, S. 254-256. 121 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, a. a. O., S. 113.

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durch Normalisierung und Abweichung) als verschiedene Gerinnungsformen von Macht zu Machtverhältnissen. Man versteht dann zum Beispiel auch Heideggers existenziale Selbstgewinnung von Handlungsmöglichkeiten wider das öffentliche „Man" 122 als eine Politik der Existenz, die in der langen Tradition der Politik der Authentizität123 als eine Ermächtigung des Ohnmächtigen zum besonders imponierenden Selbst erscheint. Aber selbst dieses, sich aus seiner eigentlichen Tiefe heraus erst schaffende Subjekt gehört - wie andere mögliche Selbste auch - den Spielmöglichkeiten der Macht an. Es schauspielert und braucht Zuschauer, die beeindruckt sind. Die öffentlich ins Schweigen zelebrierte Politik des Unpolitischen ist eine Spielform des Politischen, die sich geschichtlich auf unfreiwillige Art ergeben und gerade dazu führen kann, seine politische Verantwortung zu verkennen. Foucaults Transformation von Heideggers Existenzial- und Daseinsanalyse über die Analytik der Endlichkeit in die Machtanalyse vermag rückwirkend Heideggers Ansatz kritisch einzuordnen: Denn Foucault sieht in der Tradition der Authentizität die romantische Modernisierung der christlichen „Pastoralmacht", die zwei Strategien raffiniert miteinander verbinde. Sie kombiniere nämlich die kirchlich apparative Organisation des Religiösen, die im Hintergrund des Weihrauches staatsförmig auf dem Sprunge bleibt, mit der Sorge für das durch und durch individuelle Seelenheil, die von der Beichte über entwicklungsfähigere Geständnisformen zur „Produktion der Wahrheit des Individuums selbst"124 führen kann. Gegen die Modernisierung der Pastoralmacht (durch ihre Säkularisierung, Verwaltung und Vervielfachung) in der Normalisierungsgesellschaft, gegen diese Neudefinition der Geständnispraktiken im Namen politischer Disziplinen und humanwissenschaftlicher Therapien, kann Foucault danach fragen, wie wir uns von diesem säkularisiert christlicb-bermeneutischen Zirkel der Machtgewinnung zum Wohle des Individuums befreien können. Wie erlernen wir neue Machtformen respektive „neue Formen der Subjektivität" im agonalen Spiel, die uns „sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist" 125 , zu lösen vermögen?126

122 Vgl. zum „Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man": Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1979, § 38. 123 Vgl. zur kommunitären Erweiterung der Politik der Authentizität in eine Politik der Anerkennung unter dem Problemdruck der Pluralisierung Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/M. 1995; ders., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit einem Beitrag von J. Habermas, Frankfurt/M. 1993. 124 M. Foucault, Warum ich Macht untersuche: die Frage des Subjekts, in: H . L. Dreyfus/P. Rabinow, Michel Foucault, a. a. O., S. 248. 125 Ebd., S. 250. 126 Vgl. zur Aufführung der alten „Pastoral-Politologie", als ob es Foucaults machtanalytische Umstellung von Nietzsche und Heidegger nicht gegeben hätte, Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus, in: Die Zeit, Nr. 39 (v. 16. Sept. 1999). Wenn es um „eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus

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1.1.7. Revue der Gegenwartsphilosophien: Säkularisierung oder christliche Hermeneutik? Taylor spricht treffend von einer „Malaise of Modernity" 127 . Aber für Foucault besteht sie gerade in dieser, auf den Aufstieg des Christentums und seine Säkularisierung zurückgehenden Eingespieltheit von Staat und Individuum aufeinander, in dieser bequemen Funktionsteilung von Fehlverstaatlichung und Fehlindividualisierung der oben genannten Scharnierformen zur Führung eines wahren Lebens. Taylor schlägt dagegen stärkere Gemeinschaftsbindungen der Individuen vor, wie sie in der universalistischen und säkularisierbaren Tradition des Christentums entstanden sind. Die Politik der Authentizität soll in eine kommunitäre Politik der Anerkennung hinein verlängert werden. 128 Demgegenüber besteht für Foucault in der Bewahrung der christlichen Tradition ein Teil des Problems und nicht seine Lösung. Authentizität ist eine Lernblockade, ob anspruchsvoll oder bequem, bleibe dahingestellt. Sie legt das Individuum auf einen Maßstab für wahre Selbstbildung fest, der in der Anerkennung der Gemeinschaft tradiert wird und dabei nicht ohne Pastoralmacht auskommt. Die Pastoralen machen die Scharniere zwischen der verstaatlichten Bevölkerungspolitik und der gemeinschaftlich gewissenhaften Individualpolitik in der Biomacht erträglich. Die Humanwissenschaften therapieren dann die Individuen in Fortsetzung der alten Pastoralmacht. Taylors Widerlegungsversuche von Foucault (der 1984 verstorben war und daher nicht mehr antworten konnte) waren nicht nur von den üblichen Missverständnissen gezeichnet, als ob Foucault der Macht wegen das Subjekt, die Wahrheit und die Freiheit abschaffen wollte. 129 Das Gegenteil war, wie oben besprochen, der Fall: Die Machtformen werden laut Foucault gerade dadurch produktiv, dass sie Subjekte von Handlungsfreiheit durch polyvalent zu gebrauchende Diskurse, die sich an Wahrheit orientieren, produzieren. Gleichwohl erkennt Taylor die wirklich strittigen Punkte mit Foucaults Konzeption, die er trotz der provokanten „Einseitigkeit" Foucaults angesichts dessen auch bewundernswerter „Originalität" als Fragen formuliert, nicht ohne seine Präferenz in den Antworten mitzuformulieren. Taylor ist sowohl davon überzeugt, dass wir faktisch nicht „aus der Identität, die wir innerhalb der christlichen Zivilisation entwickelt haben, soweit heraustreten" können, „daß wir all das

der Mitte rückten", und um die „Grenze von Natur- und Kulturgeschichte" (ebd., S. 20) geht, kann man kaum philosophische Anthropologie übergehen. Welcher machtanalytische Status und Inhalt soll dem erwogenen „Codex der Anthropotechniken" (ebd.,) zukommen? 127 Charles Taylor, The Malaise of Modernity, Concord, Ontario 1991 (dt.: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt/M. 1995). 128 Vgl. Ch. Taylor, Multikulturalismus, a. a. O., S. 13 ff. 129 Vgl. Ch. Taylor, Foucault über Freiheit und Wahrheit, in: ders., Negative Freiheit?, a. a. O., S. 210 ff., 220 ff.

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verwerfen können, was uns aus der christlichen Auffassung des Willens überkommen ist", als auch davon, dass dies normativ nicht wünschenswert ist: „Angenommen, wir können dies alles wirklich loswerden, ist das Resultat einer .Ästhetik der Existenz' wirklich so großartig?"130 Dies sind natürlich diskussionswerte Fragen, aber sie sind für einen derart bedeutenden Philosophiehistoriker wie Charles Taylor auch etwas merkwürdig gestellt. Nicht nur ist das Christentum geschichtlich entstanden, mehrfach reformiert, restauriert und säkularisiert worden, so dass auch diejenigen, die sich heute dazu bekennen, kaum sicher sein dürfen, „wirkliche" Christen noch zu sein, geschweige diejenige übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung, die nie oder nicht mehr daran glaubt und gleichwohl menschliche Wertebindungen eingeht, wenngleich von anderer Art. Welche Art normativ und pragmatisch besser oder schlechter ist, soll ja die Auseinandersetzung gerade ergeben, für die man nicht bei seiner kulturellen Selbstprivilegierung bleiben kann und darf. Taylor räumt am Ende seines Hauptwerkes ein, dass in seiner Uberzeugung „viel Hoffnung im Spiel" ist: Die Moderne zu kurieren, erfordere eine „göttliche Bejahung des Menschen, die umgreifender ist, als sie von den Menschen ohne Hilfe erreicht werden kann". 131 Und warum könnte oder dürfte diese Bejahung nicht von der lebendigen Natur selbst ausgehen oder herkommen, stellten wir uns nämlich nur endlich in sie statt über sie, uns sie Untertan zu machen? - Taylor hat in den Quellen des Selbst eine historisch herausragende Ausarbeitung der Foucault im Gefolge von 1968 langweilig gewordenen Analytik der Endlichkeit vorgelegt. Sie steht - wie bei einer Philosophie der Wiederkehr nicht anders zu erwarten - im Zeichen der „erinnernden Wiedergewinnung" (wider die „Verdrängung") der „moralischen Ontologie höchster Güter", die dem „Sinnverlust" in der pluralisierten Profanität entgegentritt.132 Foucault hätte sie wohl als ein ergreifendes Dokument der christlichen Selbsterpressung zum weiteren Ergreifen der bisherigen Machtformen gegolten. Während sich Foucault durch seine Machtanalyse von Heidegger verabschiedet hat, beharrt Taylor umgekehrt darauf, Heideggers Philosophie in der Gestalt einer historisch-hermeneutischen Ontologie des Moralischen retten zu müssen. Aber eben darin, in diesem Bedürfnis nach Sicherheit durch Selbstprivilegierung, besteht womöglich das Problem der christlichen Tradition seit zwei Jahrtausenden. Wir werden in 1.2. sehen, dass man aus der christlichen Erfahrung der Gleichheit aller Wesen mit Menschenantlitz vor Gott auch eine selbstlosere Konsequenz ziehen kann, die womöglich für die multikulturelle Gestaltung einer globalisierten Welt auch produktiver ist.

130 Ebd., S. 234. 131 Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994, S. 899. 132 Vgl. ebd., S. 2 7 , 4 1 f.

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Wo für Foucault das Problem anfängt, hat auch Rorty längst und nur eine Lösung. Bei Rorty wird das Problem als die nur glücklicher Weise im Westen geschichtlich gegebene liberale Arbeitsteilung von Öffentlichem und Privatem abgehandelt. Bei Habermas taucht das Problem höherstellig als das Paradox der modernen Lebenswelt auf: Sie besteht auf der Individualisierung durch Kommunikation, aber sie ruft auch nach systemischer Entlastung, wodurch staatsförmige Führungsversprechen gerne angenommen und erwartet werden können. Daher orientiert Habermas auf eine neue gesellschaftliche Gewaltenteilung zugunsten neuer Öffentlichkeiten. Die Lebenswelt als solche ist weder harmlos noch schon die Welt. Wolfgang Eßbach hat auf Parallelen zwischen Plessners Philosophischer Anthropologie und Foucaults „Bio-Macht" einerseits sowie Derridas Dekonstruktion (im Sinne von „Ausstreichung" und „Aufpfropfung") andererseits hingewiesen.133 Was den beiden Franzosen nicht weniger fehlt als Habermas oder Rorty, ist eine Naturphilosophie lebendiger Positionalitäten und deren semiotischer Vermittlungen, eben die Stärke des Plessnerschen Ansatzes, der in dieser Hinsicht nur von der amerikanischen Philosophie des klassischen Pragmatismus, nicht des Rortyschen Neopragmatismus, herausgefordert wird, wie wir im zweiten Kapitel des vorliegenden Bandes sehen werden. Hier, auf diesem dritten Wege des Klassischen Pragmatismus und der Philosophischen Anthropologie, gab es längst einen nicht-reduktiven, eben pragmatischen Naturalismus des geschichtlich-ästhetischen Zusammenhanges zwischen der ersten und zweiten Natur menschlicher Lebewesen, den McDowell durch Wittgenstein und Aristoteles hindurch in Anspruch nimmt, als ob es keine moderne Lebensproduktion gäbe, und auf den Habermas in seinen jüngeren Arbeiten hinauswill, da er diesen dritten Weg früher in seinem Philosophischen Diskurs der Moderne - besessen von der Fehlalternative Erweiterung der Vernunft oder Vernunftkritik - noch falsch eingeschätzt hatte.134

133 Vgl. Wolfgang Eßbach, Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: G. Dux/U. Wenzel (Hg.), Der Prozess der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Entwicklung des Geistes, Frankfurt/M. 1994, S. 18, 39 f. 134 Zunächst brachte Habermas noch die seiner intersubjektiven Erweiterung und Rettung der Vernunft entgegenstehenden Alternativen des klassischen Pragmatismus einerseits und der Kombination von Phänomenologie und Anthropologie andererseits in dem Sammelbegriff „erneuerter Praxisphilosophien" unter, die angeblich in die Dichotomien der Subjektphilosophie zurückfallen sollen. Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 79,369. Neuerdings sind die beiden Alternativen des klassischen Pragmatismus und der philosophischen Anthropologie von Interesse, da sie „den hermeneutischen Zugang zu den in der Lebenswelt verkörperten Strukturen des Geistes mit der biologischen Erklärung ihrer Genese" verbinden: „Zu dieser Hermeneutik der Naturgeschichte ,νοη oben' liefert andererseits die Evolutionstheorie das Gegenbild ...." J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 30. Freilich darf man die von beiden Philosophien entdeckten Erklärungsmög/zcÄkeiten nicht mit einer erfahrungswissenschaftlichen Erklärung verwechseln.

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Was Foucault und Derrida mit Plessner philosophisch verbindet, ist gewiss die Spielidee als jene Fluchtlinie, auf der sich Ermöglichungen und Verunmöglichungen quasi-transzendental überschneiden können. Während sie Derrida angesichts von Peirce wohl in ihrer Tragweite erkannt zu haben schien, er diese Bedeutung der Spielidee aber nicht auf einem vergleichbar dritten Wege im Philosophischen Diskurs der Moderne durchzuführen vermochte, geriet sie in die schriftstellerische Leichtigkeit seines Schriftmodells, an dem sich noch ihre Spuren finden lassen, vor allem aber die jüdisch-christliche Tradition der Angst vor der lebendigen Natur, nicht einmal in ihr, ihre hermeneutische Wiederkehr feiert. Geriete diese Wiederkehr nicht so schriftlich im Uberflug, ließe sie sich auf einen kommunitären Boden nieder, könnten Derrida und Taylor sogar einen hermeneutisch ökumenischen Bund schließen. Wenn es ihm wirklich gefährlich wird, zieht sich ein Selbst zu seiner blinden Selbstbehauptung zusammen, oder es öffnet sich, eröffnet sich gar durch eine Flucht neue Möglichkeiten. Foucault durchschaut die Selbstbehauptung der Authentizität als eine ohnmächtige Variante, die sich in der Gefahr von niemandem in der strategischen Instrumentierung des ihr Anderen und Fremden zum O b j e k t übertreffen lassen wird. Nicht die verschriftete Leichtigkeit des Spieles, die gut und gerne in Rortys Privatsphäre gepflegt werden kann, bringt der Spielidee ihre Tragweite zurück, die sie schon einmal in der Machtthematik seitens der Philosophischen Anthropologie hatte. Es ist in der Gegenwart Foucaults Aufrollung des pragmatischen Unterschiedes zwischen unproduktiveren und produktiveren Machtformen gewesen, die die Spielidee von dem ihr alltäglich angetragenen schönen Schein befreit hat, da wir dank seines Werkes plötzlich im Fadenkreuz der Machtspiele stehen, durch dieses Kreuz erblickt und durch es blickend. U n d was wäre mit Rortys Neopragmatismus im Ernstfalle, wenn also die öffentliche Redeweise nicht mehr liberal wäre, weil antiliberale Privatvokabulare in der Überlappung ihre Geltung durchgesetzt hätten, was doch mit dem evolutionären Naturalismus in Einklang stehen könnte? Offenbar gestaltet sich die gegenseitige Begrenzung von Lebendigem - in den Gestalten der Lebenswelt und Lebensformen - und Sprachlichem - in den Gestalten der Sprache/Schrift und den praktisch geregelten Sprachverwendungen im Diskurs weitaus komplizierter, als es anfangs schien. D a erweckte noch ein Rückgang auf gegebene Lebensformen den Eindruck, dem Spuk der Selbstfeier der Sprache therapeutisch ein Ende bereiten zu können, oder wenigstens die Erschließung von Lebenswelt die Vorstellung, die Entfremdungen doch noch markieren zu dürfen. Diese Wegweiser und jene letzten Gerichtetheiten (Intentionalitäten) drehen sich aber im Kreis, wenn die modernen Lebensformen zumindest in der ambivalenten R e - P r o duktion sind, symbolisch und materiell (Habermas), mehr noch, wenn sie aus quasitranszendentalen Formen der Macht zur Produktion von Leben erst resultieren (Foucault). Die Mythen vom Gegebenen und Ursprünglichen verdampfen, und man weiß nicht einmal, wie viel Quecksilber man bei solchen alchimistischen Gelegenheiten, Mythen durch andere Mythen kurieren zu wollen, schon inhaliert hat.

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Die Verrückungen nehmen kein Ende, wenn sich Derridas Schrift der Sache annimmt, die Primate in der Handhabung der geläufigen Gegensätze bis in die Unentscheidbarkeit eines sich schon immer wiederholt habenden Ursprunges in der Zukunft und eines schon immer in der Abwesenheit Präsenten zu verkehren. Darauf folgt spielerisch der Wechsel der Seite, auf der man selber operiert, so dass eine naturalistische Befremdung eintritt. Es gelte dann, die „Geschichte der symbolischen Vermögen im allgemeinen (vor aller Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, und sogar zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem)" zu schreiben, mithin nochmals zwischen der „Geschichte der ,differance"' und der „Geschichte als ,differance'" 135 zu unterscheiden. Nach soviel Unentscheidbarkeit, der man höchstens entnehmen kann, dass es technisch geht, alle philosophischen und humanwissenschaftlichen Unterscheidungen zu unterlaufen, was wir aber auch schon vorher wussten, folgt die Rettung in eine „performative Wende"136, das neue Zauberwort. Um nämlich in der umgekehrten Begrenzungsrichtung plausibel werden zu lassen, dass keine Lebensform dem linguistic turn standhält, wird die analytische Sprachauffassung (Rorty) immer mehr verdichtet (Foucault der 60er Jahre), bis sie selbst lebendig in den Vollzug des Lebens überwechselt, also für sich eine Grenze reklamiert, die John Austin schon in den 50er Jahren als die der Performativität markiert hatte. Während sich für Foucault die Frage der Performativität von den Praktiken des Diskurses in die Teilnahme an diskurs-produktiven Machtformen (70er Jahre) verschoben hat und für Habermas zunächst mit den Ich-Du-Teilnehmerperspektiven am Diskurs identifiziert wurde, als ob wir an keinem Leben und keiner Natur im Sprechen und zwischen ihm teilnähmen, inflationiert inzwischen ein diffus ausgeweitetes Verständnis von Performativität über die Literatur- und Kulturwissenschaften ins Feuilleton. Es scheint daher sinnvoll, an die echte Problemstellung einer von der Phänomenologie der Sprachverwendung in die Anthropologie überleitenden Entdeckung durch J. Austin zu erinnern. 1.1.8. Die Wahrnehmung der ersten Person Singular hier und jetzt (Performativität) Man darf die sprachanalytische Philosophie nicht mit jener, von Rorty zu Recht verabschiedeten und von Lyotard137 überzeugend kritisierten szientistischen Anmaßung verwechseln, den Widerstreit, mit dem wir dieses Unterkapitel begannen, durch eine Metatheorie über den Zusammenhang von Geist und Welt lösen zu können. Außer

135 J. Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, S. 303. 136 Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels, Derridas performative Wende, in: dies. (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt/M. 1997, S. 7-18. 137 Vgl. J.-F. Lyotard, Grundlagenkrise, in: Neue Hefte für Philosophie, 1986, H. 26, S. 1-33.

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jenen analytischen Vorhaben, die nach dem Muster der physikalischen Erfahrungswissenschaft Philosophie durch eine science of science ersetzen wollten, woran sich heute in der sogenannt „postanalytischen" Philosophie kaum noch jemand erinnern mag, gab es auch erneut aktuelle Projekte, wie das der Oxforder ordinary language analysis, also der Untersuchung, wie die Umgangssprache verwendet wird, von John Austin. Wenn dies mit dem linguistic turn gemeint sein sollte, dürfte man in der Tat nicht hinter ihn zurückfallen. Auffallender Weise zeichnen sich sowohl Derrida 138 als auch Habermas 1 3 9 durch ein gründliches Missverständnis der Austinschen Umstellung der Frage nach performativen (im Unterschied zu konstativen) Äußerungen in die Problematik der illokutionären Kraft von Personenrollen und deren perlokutionärer Grenze zur Individualisierung aus. Dagegen kann diese Umstellung mit Foucaults Machtanalytik kompatibel verstanden werden und den sprachpragmatischen Anschluss an den philosophisch-anthropologischen Zusammenhang zwischen der Individualisierung von Personenrollen und der Personalisierung von Individuen in geschichtlichen Machtformen herstellen. Austin war sich in seinen 1955 gehaltenen Harvard-Vorlesungen der „Verwirrung, in die Inhalt und Methode der Philosophie" geraten sind, bewusst, dass nämlich „viele traditionelle philosophische Schwierigkeiten aus einem Fehler entstanden sind: man hat Äußerungen, die entweder (aus interessanten nicht-grammatischen Gründen) sinnlos sind oder aber etwas ganz anderes als Aussagen oder Feststellungen

138 Vgl. zu der für Derrida peinlichen Fehlinterpretation Austins (vgl. J. Derrida, Margins of Philosophy, Chicago 1982, S. 311, wo er Austin die traditionell metaphysische Annahme homogener Elemente der Bedeutung im Kommunizieren unterstellt), die eine lange Diskussion u. a. mit John Searle und Stanley Fish provoziert hat, R. Rorty, Deconstruction and Circumvention, in: ders., Essays on Heidegger and Others. Philosophical Papers, vol. 2, Cambridge 1991, S. 86 ff. Selbst Rorty, der Derrida unter den angelsächsischen Philosophen wohlgesonnen ist, kommt (ebd., S. 103) zu dem Ergebnis, dass sich Derrida offenbar schwer vorstellen könne, nur verspätet etwas wiederzuentdecken, was Austin und Quine in ihren Empirismuskritiken längst wussten. In jüngeren Arbeiten tut Derrida so, als ob nichts gewesen wäre, und vereinnahmt einfach Austins Unterscheidungen, wodurch sie nicht gerade klarer werden. Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft, a. a. O., S. 15, 27, 55 f., 73, 79. 139 Habermas hält seit seiner „Theorie des kommunikativen Handelns" bis in seine jüngeren Arbeiten daran fest, die „von Austin und Searle entwickelte Theorie der Sprechakte" als eine Einheit zu behandeln, als ob Searle nicht das Interessante an Austin weggefiltert hätte. Durch diese Einheit will Habermas „den Grundgedanken von Dummetts Bedeutungstheorie im Rahmen einer Theorie des kommunikativen Handelns situieren". In deren Unterscheidung zwischen den „Ebenen des Diskurses und des Handelns" aber geht die gesamte Pointe von Austins Performativität, wie nämlich Sprechen und Tun zusammenhängen und zusammenfallen können, gerade verloren, während diese Performativität eben Foucaults Frage nach der Diskursmacht entspricht. Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 95 f.

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darstellen sollen, einfach als Feststellungen über Tatsachen aufgefasst."140 Um aus diesem Fehler und seiner folgenreichen Verwirrung herauszukommen, hatten der klassische Pragmatismus und dann wieder Austins Kollege in Cambridge, eben Wittgenstein, auf die Untersuchung des „Gebrauchs der Sprache" orientiert. Aber „.Gebrauch' ist ganz hoffnungslos mehrdeutig oder allgemein, ganz wie auch das Wort .Bedeutung', über das man sich jetzt gern lustig macht. .Gebrauch', der Nachfolger, ist da nicht viel besser dran." 141 Austin will durch das Aufrollen der Problematik, inwiefern Sprechen ein Tun und Tun ein Sprechen ist, einen Beitrag zu der damit heraufziehenden „philosophischen Revolution" leisten, für die er unter den Vorgängern vergleichbar allein die „Pionierarbeit" 142 Kants würdigt. Die bekannten Beispiele, an denen Austin performative Äußerungen verdeutlicht, sind das Ja-Wort während einer standesamtlichen Trauung, der Vollzug einer Schiffstaufe oder ein Satz wie „Ich vermache meine Uhr meinem Bruder" in einem Testament. In solchen Fällen geht es um die Unersetzbarkeit „ganz alltäglicher Verben in der ersten Person Singular des Indikativ Präsens Aktiv", also nicht um „konstative Äußerungen", da die performativen Äußerungen nichts beschreiben, berichten, behaupten, das nach der wahr-falsch-Unterscheidung zu beurteilen wäre: Die performative Äußerung ist, „jedenfalls teilweise, das Vollziehen einer Handlung, die man ihrerseits gewöhnlich nicht als .etwas sagen' kennzeichnen würde." 143 Es handelt sich also um Phänomene, in denen jemand aktiv in der ersten Person Einzahl (Ich) gerade (gegenwärtig) etwas tut, das nicht einfach Sprechen ist oder darin aufgehen kann. Diese Unterscheidung zwischen Sprechen und Tun wird anhand alltäglicher (Verben) Gewohnheiten (gewöhnlich) getroffen, die in der jeweiligen Sprechergemeinschaft üblich sind. Ob aber Heirat, Taufe oder Testament, die Beispiele für Performativität handeln gerade nicht von alltäglichen Dingen. Sie haben etwas Außeralltägliches, Zeremonielles, Institutionelles, oder wie Austin häufig sagt, den Charakter einer geschichtlich in der Sprechergemeinschaft ausgebildeten, soziokulturellen „Konvention" 144 . Man könnte, im Sinne der Philosophischen Anthropologie, auch sagen, es geht um eine in der Gemeinschaft verankerte Personenrolle, die unverwechselbar ich gerade hier und jetzt tätige.145 Da die grammatischen und lexikalischen Versuche, die Phänomene performativer Äußerungen zu fassen, zu keiner Eindeutigkeit führen, schlägt Austin seine eigene

140 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), dt. Bearb. Eike von Savigny, Stuttgart 1972, S. 27. 141 Ebd., S. 118. 142 Ebd., S. 26 f. 143 Ebd., S. 28 f. 144 Ebd., S. 122. 145 Vgl. Kap. 4 u. 5 des Bd. I von „Zwischen Lachen und Weinen".

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Unterscheidung zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten vor, d. h. er untersucht „nicht den Satz, sondern die Äußerung in einer Sprechsituation" 146 . Der lokutionäre Aspekt einer Sprechhandlung beinhalte, „dass etwas Sagen etwas Tun heißt"; der illokutionäre Aspekt, „dass man etwas tut, indem man etwas sagt"; und der perlokutionäre Aspekt, „dass man dadurch, dass man etwas sagt, etwas tut." 147 Diese Dreierunterscheidung müssen wir kurz etwas genauer durchgehen. „Lokutionär" soll „die gesamte Handlung, etwas zu sagen, d. h. vollständige Einheiten der Rede" 148 , heißen. Diese Einheiten bestehen aus einem phonetischen Akt (bestimmte Geräusche), einem phatischen Akt (Äußern gewisser Vokabeln nach bestimmten grammatischen Regeln) und einem rhetischen Akt (man sagt über etwas, das mehr oder minder genau festgelegt ist, etwas mehr oder weniger Bestimmtes). Alle drei Aspekte der Lokution können in Mimik und Gestik „nachgeahmt" werden, sozusagen in Anführungszeichen verwendet werden. Der rhetische Akt kann auch expressis verbis in indirekter Rede berichtet werden. Alle diese Wiederholungen seien keine einfachen Wiederholungen, sondern Repetitionen, die das Geäußerte verfremden, brechen, mindestens variieren.149 Angesichts der Unklarheit oder womöglich des Streites darüber, wie eine Lokution aufzufassen oder zu nehmen sei, welche Rolle sie spielen solle, kann man und muss man gegebenenfalls (auch im voraus) die Lokution illokutionär präzisieren, obwohl oft der Vollzug einer Lokution und ihrer Illokution zusammenfallen. „Illokutionär" soll „ein Akt" heißen, „den man vollzieht, indem man etwas sagt" im Unterschied „zu dem Akt, dass man etwas sagt", also im Unterschied zur Lokution. Die illokutionären „Rollen", wie nun Austin explizit das Performative versteht, die eine Lokution spielen kann, nennt er auch „illocutionary forces". 150 Der illokutionäre Geltungssinn, wie eine Äußerung zu nehmen sei, und die illokutionäre Geltungskraft, welches Gewicht der Lokution beizumessen sei, kommen aus dem in der Sprechergemeinschaft etablierten Rollenspiel, das die Rechte und Pflichten, die Ansprüche und Beweislasten etc., die einer bestimmten Personenrolle zukommen, als Konvention enthält. Wer die jeweiligen gemeinschaftlich getragenen Konventionen der Konfirmation, Predigt, Heirat oder Taufe, des Interviews, der Aufnahme- und Abschlussprüfung, der Immatrikulations- und Exmatrikulationsfeier, der Gerichtsverhandlung und Scheidung, der Disputatio, des Habilvortrages oder der Antrittsund Abschiedsrede bzw. -Vorlesung, der Oper, des Sprechtheaters und Balletts, der Geburtstags- oder Namenstagsfeier, des Testaments oder Totenschmauses etc. nicht

146 J. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a. a. O., S. 158. 147 Ebd., S. 112. 148 Ebd., S. 112. 149 Vgl. ebd., S. 114. 150 Vgl. ebd., S. 117 f.

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kennt oder nicht teilt, wird sich über die Sprachverwendungen in solcher Art von konventionalisierten Aufführungen wundern oder sie komisch finden. Schließlich können, was nun den dritten Aspekt sprachlicher Äußerungen angeht, diese Äußerungen auf andere Personen, Hörer, Adressaten gewisse Wirkungen haben, bei ihnen Gefühle und Gedanken hervorrufen, für sie förderlich oder hinderlich sein. Insofern diese Wirkungen die Absicht oder der Zweck des Sprechers sind, also „der Sprecher als Täter einer Handlung" bezeichnet werden kann, soll die Handlung „perlokutionärer Akt" 1 5 1 heißen. Es geht hier also nicht mehr um die konventional, d. h. der Rolle gemäß erwartbaren Wirkungen der Illokution: eine Predigt sollte überhaupt besinnlich und erbaulich sein, eine Vorlesung im allgemeinen einen Beweis oder Gedanken enthalten etc. Vielmehr handelt es sich um von der Illokution verschiedene Wirkungen, die sich aber auch nicht ins Anonyme verlaufen, auf die Geschichte, Gesellschaft oder Natur delegiert werden können, sondern von der individuellen Handlungskompetenz des Sprechers zeugen. Die Perlokution betrifft das unverwechselbar dem Individuum Zurechenbare, allein ihm Attributierbare der Wirkungen. Es gibt viele Sängerinnen, aber nur eine Maria Callas, viele Philosophen, jedoch nur einen Immanuel Kant usf. Dies kann der Betroffene nicht selbst performativ sagen, sondern muss er tun. Wer es von sich sagt, erfüllt dadurch eine Konvention, liegt also auf der illokutionären Ebene, etwa der Konvention ersatzweiser Individualisierung durch alberne Gespreiztheit. Nun gebe ich zu, dass Austins Beispiele für Perlokutionen nicht immer glücklich sind, so wenn er davon spricht, dass man konventionaler Weise nicht sagen kann „Ich überrede Sie dazu, daß ...," oder „Ich erschrecke Sie damit, daß ....", wenn man jemanden überreden oder erschrecken will. Diese Beispiele können zu der falschen Annahme verleiten, dass sich Perlokutionen um egoistische Instrumentierungen anderer, um, wie Habermas interpretiert hat, „strategischen Sprachgebrauch" drehen müssen.152 Abgesehen von Austins künstlerischen Gegen-Beispielen kann man etwas informell zu verstehen geben, auf etwas indirekt anspielen etc. auch, um Gutes zu tun, Takt und Höflichkeit zu wahren, Scham und Beschämung zu vermeiden, seiner wahrhaftigen Authentizität nicht auf Kosten anderer freien Lauf zu lassen, die Zumutungen einer kritikwürdigen Gemeinschaftsrolle zu unterlaufen oder zu übersteigern, politisch einen illegalen Kampf gegen eine Diktatur zu führen und so fort.

151 Vgl. ebd., S. 118 f. 152 Vgl. ebd., S. 121. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, a. a. O., S. 393 f. Austin schließt dagegen den perlokutionären Aspekt in die Sprechhandlung ein, um ihn von anderen Gebrauchsweisen der Sprache gerade zu unterscheiden, nämlich von den Fällen, in denen Sprache gebraucht wird, um etwas anderes als die Sprechhandlung zu tun (Infinitiv, nicht Gerundium), wobei dieses Andere sowohl sprachlich als auch nicht-sprachlich sein kann. Siehe J. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a. a. O., S. 121 f.

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Es besteht für mich überhaupt kein Zweifel daran, dass Austin erst im perlokutionären Aspekt sprachlicher Äußerungen die Vollendung oder den elaboriertesten Fall des sprachlichen Handelns ansetzt: eben dessen Zurechenbarkeit auf das unverwechselbar oder nicht austauschbar Individuelle, das nur im lebendigen Vollzug getan wird, nämlich gemessen an den illokutionären Rollen (Konventionen) informell oder indirekt, als ob es auf etwas anderes anspielte, während das Individuelle sprachlich behauptet schon wieder schal wird, eben in einer illokutionären Konvention verschwindet. „Perlokutionär" ist an der Handlungskonvention, was sie zu „meiner Handlung" macht, unabhängig von einer moralischen Beurteilung meiner Absichten und Motive nach auch wieder Konventionen (Egoismus ist auch nur eine Konvention): „Wichtiger ist die Frage, ob Antworten und Nachspiele durch nichtkonventionale Mittel erreicht werden können. Ganz gewiss können wir ein und dasselbe perlokutionäre Nachspiel durch nicht-konventionale Mittel erreichen (.unkonventionelle' Mittel, wie wir sagen), also durch Mittel, die jedenfalls im Verfolg dieser Absicht keiner Konvention unterliegen. ... Für illokutionäre Akte gilt ausnahmslos, daß man sich für sie konventionaler Mittel bedienen muss, und das muss daher auch gelten, wenn die Mittel einmal außersprachlich sind."153 Der perlokutionäre Aspekt von Sprechhandlungen ist die Grenze der illokutionären Kräfte von Rollenkonventionen, und zwar diejenige Grenze, die ebenso ambivalent wie die Individualisierung von gemeinschaftlich geteilten Personenrollen ist. Darin besteht die philosophisch-anthropologische Botschaft, die man Austins Dreierunterscheidung entnehmen kann. Wenngleich Austin dieser perlokutionäre Grenzaspekt zu kompliziert wird, weshalb er sich auf die Illokutionen beschränken will154, spricht er unter der Voraussetzung der gesamten Dreierunterscheidung vom „parasitären Sprachgebrauch"155, d. h. parasitär ist der Gebrauch von Sprache, der Sprache sprachlich oder nicht-sprachlich für etwas anderes als die gerade im Vollzug befindliche Sprechhandlung gebraucht. Austin wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass er die Dreierunterscheidung zwischen Lokutionärem, Illokutionärem und Perlokutionärem nicht im Sinne einer Typendichotomie verwendet, sondern im Sinne von Aspekten einer vollständigen Sprechhandlung, deren Spektrum von Phänomenen durch „Extremfälle" begrenzt wird.156 Dies ist ja nur konsequent, solange man sich des handlungstheoretischen Vokabulars bedient, im Unterschied zum verhaltenstheoretischen Vokabular, das Austin

153 J. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a. a. O., S. 135 f. So auch die Zusammenfassung ebd., S. 137, wo es - ob sprachlich oder außersprachlich - klar heißt: „Illokutionäre Akte sind konventional. ... Perlokutionäre Akte sind dagegen nicht konventional." 154 Vgl. ebd., S. 131. 155 Ebd., S. 121 f. 156 Vgl. ebd., S. 165.

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ebenfalls bewusst verwendet.157 „Einem Einwand gegen unsere illokutionären und perlokutionären Akte - dass nämlich der Begriff des Akts unklar sei - müssen wir schließlich mit einer allgemeinen Theorie der Handlung begegnen."158 Obgleich sie Austin nicht ausführt, aber als eine philosophisch-anthropologische Aufgabe stellt, ist in seinen Vorlesungen von Anfang an klar, dass für ihn zur Handlung deren „Glücken", „Gelingen", „Erfolg-Haben" oder „Missglücken", „Verunglücken", „Schiefgehen" gehört, und zwar gemessen an dem „üblichen konventionalen Verfahren", nach dessen bestimmter Zuordnung zwischen „Personen", „Umständen" und Wortäußerungen die Beteiligten absichtsvoll ihr Verhalten ausrichten und dem für Handlungsbeschreibungen üblichen Problem der äußeren Handlungsgrenzen oder der einfach nicht beabsichtigten Folgen begegnen.159 Geht man alle von Austin erörterten Verunglückungsfälle einer Sprechhandlung durch, traut man sich danach kaum mehr eine zu. Natürlich ergibt Austins Ausrichtung auf Rollenkonventionen einen Zirkel: Nach ihnen wird das Ausmaß des Gelingens oder Misslingens beurteilt, aber wer beurteilt sie? Die Pointe des ganzen Ansatzes von Austin besteht darin, uns die Einsicht zu vermitteln, dass Lokutionen und Perlokutionen nur die Grenzfälle in einem Spektrum von Illokutionen sind. Aber wie kann man dann innerhalb der Illokutionen noch unterscheiden, und zwar so, dass eben diese beiden die beiden Grenzfälle von Illokutionen sind?: Einerseits scheint der illokutionäre Verwendungssinn von Lokutionen darin zu bestehen, dass man auf ihre Perlokutionierung verzichten muss.160 Und andererseits scheint der illokutionäre Verwendungssinn der Perlokutionen nicht durch Lokutionen oder andere Illokutionen, eben durch keine Konvention eingeholt werden zu können, sondern nur durch unkonventionelle Mittel. Erst in dieser „Dimension der Beurteilung"161, man müsste genauer sagen, der postkonventionalen Beurteilung von Rollenkonventionen, ihres Geltungssinnes und ihrer Geltungskraft, behauptet Austin einen generellen Theorieanspruch mit starken Konsequenzen: „Die Lehre von der Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Äußerungen verhält sich zur Lehre von den lokutionären und illokutionären Akten im Sprechakt wie die spezielle zur generellen Theorie. ... Feststellen, Beschreiben und so weiter sind bloß zwei Namen unter vielen anderen für

157 Vgl. ebd., S. 175-178. 158 Ebd., S. 124. Austin antwortet hier implizit auf Gilbert Ryle, The Concept of Mind, London 1949. 159 Vgl. J. Austin Zur Theorie der Sprachakte, a. a. O., S. 3 6 ^ 6 , 1 2 3 f., 156, 166. 160 „Mit gewisser Plausibilität könnte man allenfalls behaupten, daß Feststellen - anders als Mitteilen, Begründen und so weiter - kein charakteristisches perlokutionäres Ziel habe. Daß Feststellen in dieser Hinsicht vergleichsweise rein ist, kann ein Grund dafür sein, dass wir den Feststellungen eine vergleichsweise hervorgehobene Stellung einräumen." Ebd., S. 158 f. 161 167, vgl. ebd., S. 160 f.

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illokutionäre Akte; sie haben keine einzigartige Stellung. ... Nicht einzigartig ist ihre Stellung insbesondere, was ihr Verhältnis zu den Tatsachen" angehe, womit auch „der vertraute Gegensatz zwischen .normativ' (oder .wertend') und .faktisch' wie so viele andere Dichotomien beseitigt" 162 werden könne. Wenn man sich fragt, wie Austin von den Rollenkonventionen zu ihrer postkonventionalen Beurteilung kommt, und sich nochmals den Ausgangspunkt der Untersuchung der Umgangssprache vergegenwärtigt, der die Inanspruchnahme szientistischer Privilegien ausschließt, dann steht man vor einem ziemlich rätselvollen Sprung. Indessen hilft hier eine philosophisch-anthropologische Zusammenführung zweier Ausklammerungen, die Austin vornimmt, weiter. Außer der bereits erwähnten Ausklammerung des weiteren Verfolgens perlokutionärer Grenzfälle in den Kontext der Individualisierung von Personenrollen hinein verbaut sich Austin auch den unmittelbar damit zusammenhängenden Ausweg des Spielens mit den Konventionen. Er identifiziert implizit die Spielfrage vorschnell mit beruflicher Schauspielerei, als ob wir nicht alle selber im Ubergang vom Alltäglichen zum Außeralltäglichen und zurück das Spielen als Schauspielen erlernten. Austin setzt selber aber mit außeralltäglichen Konventionen ein, die man nur beim ersten Mal besonders ernst nimmt. Auch fehlt ihm die philosophisch-anthropologische Unterscheidung zwischen dem Spielen in und mit einer Rolle, die doch offenbar dem Illokutionären und Perlokutionären gerade ähnelt. Infolge all dieser Lücken kommt Austin selber nicht konsistent von der konventionalen Ebene zu ihrer postkonventionalen, auch theoretischen Abstand ermöglichenden Beurteilung: „In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht, und zwar wird der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt. Das gehört zu der Lehre von der Auszehrung (etiolation) der Sprache. All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus." 163 Führt man indessen die genannten Vermittlungsglieder der Philosophischen Anthropologie ein, lässt sich Austins theoretische Umstellung als ein sprachpragmatischer Durchbruch zu der Frage begreifen, wie gemeinschaftlich etablierte Personenrollen, fassbar in Illokutionen, an zwei Grenzen, durch Lokutionen und Perlokutionen, geschichtlich anders werden können. Austin spricht selbst schließlich von „historischer Entwicklung" 164 , vermag sie aber nicht zu fassen. Der Kontext der

162 Ebd., S. 166 f. 163 Ebd., S. 44. 164 Ebd., S. 164.

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Lokutionen überschreitet die gemeinschaftsbestimmten Kontexte in Richtung Gesellschaft. D e r Kontext der Perlokutionen unterläuft die gemeinschaftsbestimmten Personenrollen durch Individualisierung bis ins Individuum, ineffabile165 hinein. Austins Redeweise von „act", „actor" und „acting" und von dem „role playing" der „illocutionary forces" erhält dann aber einen ihm gegenüber differenziellen Sinn, nämlich den, vom Spielen in den Rollenkonventionen zum postkonventionalen Schauspielen mit ihnen überzugehen, wodurch sie beurteilbar werden, auch argumentativ Abstand von und zu diesen Konventionen entstehen kann, der von Austins Theorie uneingelöst unterstellt wird. Wir waren mit Austin von der Eigenart performativer Äußerungen ausgegangen, diesem aktiven Vollzug der ersten Person singularis im Indikativ Präsens. Austins neue Dreierunterscheidung hat illokutionäre Rollen ergeben, die die erste Person in ihren sprachlichen Äußerungen spielen kann, gemessen an den soziokulturellen Konventionen, die in der Sprechergemeinschaft für die Übernahme der Rolle einer ersten Person bestehen. Insofern ist das illokutionäre Ich gerade kein individuelles Ich, das erst in den perlokutionären Grenzfällen unkonventionaler Nachspiele sprachlicher und nichtsprachlicher Art zur Erscheinung kommt. Das illokutionäre Ich ist auch kein gesellschaftliches Ich, das erst lokutionär auftaucht, nämlich in dieser merkwürdigen Illokution, die Lokution möge von individualisierenden Perlokutionen und gemeinschaftlichen Konventionen freigestellt sein, also die K o n texte der Individualisierung und Vergemeinschaftung überschreiten dürfen. Erst diese beiden Grenzen des gemeinschaftlichen Spektrums von Illokutionen, seine lokutionären und perlokutionären Grenzfälle, würden es plausibel werden lassen, dass das Spektrum selber in eine geschichtliche Veränderung geraten kann. Diese Grenzverschiebung der gemeinschaftlich geteilten Illokutionen für die Wahrnehmung von Rollen der ersten Person erfolgt demnach einerseits vom gesellschaftlichen und andererseits vom individuellen Ich her. Diese beiden Aspekte der Sprechagentur, d. h. der pragmatischen Möglichkeit, Sprechen als Handeln zurechenbar werden zu lassen, verschwinden in den gewöhnlichen Illokutionen und tauchen nur indirekt anwesend - in der bloßen Lokution oder im perlokutionären N a c h spiel auf. In der sprachpragmatischen Fassung des Kategorischen Konjunktivs der Philosophischen Anthropologie ist diese geschichtliche Veränderbarkeit der aktiven Wahrnehmung von Rollen der ersten Person, also die Grenzverschiebung, schon der Ausgangspunkt. Die gemeinschaftlich geteilten Ich-Rollen (Illokutionen) tauchen zwischen den gesellschaftlichen (generellen) Verkörperungen des Ichs (Lokutionen) einerseits und den individuellen, sprich: unvertretbaren und nicht austauschbaren Verleiblichungen des Ichs (Perlokutionen) andererseits auf. „Die Position des Menschen

165 Vgl. im Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen, S. 179 f., 185 ff.

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lässt sich durch Personalpronomina deklinieren, die ... ein doppeltes Verständnis des Wortes Ich möglich machen": Einerseits ist Ich mein „Leib" hier und jetzt, auf „unvertretbare Weise", die sich andererseits als derart einzigartige nur „darstellen" kann vor „einem Hintergrund der Vertretbarkeit durch einen jeden, der in der nämlichen Position ist": „Als Individuum unersetzbar, steht jeder Mensch in seiner möglichen Ersetzbarkeit. Er könnte, aber er kann nicht." 166 Die illokutionär angezeigten Gemeinschaftsrollen für die Wahrnehmung der ersten Person bringen auf eine geschichtlich kontingente Weise eine lebbare Verschränkung zwischen dem Gesellschaftskörper und dem Individuenleib zustande. Im Anschluss an den Common sense stößt man empirisch auf bestimmte Illokutionen. Aber in der theoretischen Rekonstruktion interessiert die Frage, wieso Illokutionen im Kulturenvergleich verschieden sind und sich historisch ändern. Dafür sind die Extremfälle der Lokutionen und Perlokutionen relevant, anhand deren man das Driften des ganzen Spektrums zu sehen beginnt. Foucaults Äquivalent für die doppelte Eingrenzung und Transformation der traditionalen Gesetzesmacht, ihrer autoritären illokutionären Rollen, liegt nun nach dem Bisherigen auf der Hand: Einerseits wird die traditional unproduktive Macht durch die Diskurspraktiken der endlos erneuten Normalisierung/Abweichung verstreut, durchlöchert, produktiviert, andererseits von den ästhetisch-ethisch individualisierenden (nicht moralischen) Selbstpraktiken des Körperleibes her unterlaufen, auf die Foucault aber erst in seinem Spätwerk kommt.167 Foucault und Plessner waren keine Denker einer bestimmten Gemeinschaftlichkeit (Illokutionalität), sondern deren doppelt befremdlicher Eingrenzung durch Vergesellschaftung und Individualisierung. Daher auch bei Plessner, nachdem ich Foucaults Hoffnung oben schon zitiert habe, die Orientierung auf Geschichtlichkeit: „Ortlos, zeitlos ins Nichts gestellt, treibt sich das menschenhafte Wesen beständig von sich fort, ohne Möglichkeit der Rückkehr, findet sich immer als ein anderes in den Fügungen seiner Geschichte, die es zu durchschauen, aber zu keinem Ende zu bringen vermag. Die menschliche Welt ist weder auf ewige Wiederkehr noch auf ewige Heimkehr angelegt. Ihre Elemente bauen sich aus dem Unvorhersehbaren auf und stellen sich in Situationen dar, deren Bewältigung nie eindeutig und nur in Alternativen erfolgt."168

166 Helmuth Plessner, Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: Gesammelte Schriften (im folgenden: GS), Bd. VIII, Frankfurt/M. 1893, S. 3 3 8 - 3 4 0 . 167 Vgl. zu den drei Produktionsweisen von epistemischen, sozialen und ästhetischen Subjekten und den drei Typen von Kämpfen gegen Herrschaft, Ausbeutung und machtkonforme Subjektivierung M. Foucault, Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts, a. a. O., S. 243 f , 247 f. 168 H . Plessner, Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), in: GS VIII, S. 398.

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1.1.9. Von der Wiederkehr des Performativen als des Lebendigen und der Politik des Performativen So interessant die Äquivalente in den philosophischen Fragestellungen Plessners, Austins und Foucaults auch sein mögen, was ergibt Austins Umstellung der Frage nach dem Performativen in die genannte Dreierunterscheidung für den Hauptfaden dieses einleitenden Unterkapitels, für die wechselseitigen Begrenzungen von Lebendigem und Sprachlichem? - Man würde Austin erneut missverstehen, glaubte man, seine Umstellung wäre eine Ersetzung der Frage nach dem Performativen durch die Unterscheidung der drei Aspekte einer vollständigen Sprechhandlung, w o er selbst doch nur von einer speziellen und allgemeinen Theorie (s. o. Zitat, Anm. 162) spricht. Was ist das Spezielle am Phänomen des Performativen, das nicht im Phänomen des Illokutionären aufgeht, geschweige in unseren Rekonstruktionen der Phänomene durch ihre Beschreibungen? - Wir können dieses Spezielle jetzt rückwirkend, von dem rekonstruktiven Vokabular der allgemeinen Theorie her, neuerlich als eine Grenze zu fassen versuchen, nämlich als diejenige Grenze des Phänomens, w o unser Vokabular versagt, w i r also das Phänomen des Performativen nicht in die Sprechhandlung bekommen. Gewiss, man kann auf der Diskursebene sagen, was man in der Sprache tut, so Habermas über die Rolle von Illokutionen. 169 In dieser „selbstbezüglichen Struktur" 170 , sagen zu können, was man in der Sprache tut, besteht zweifellos die Spezifik der menschlichen Sprache, die aber phänomenal erst im Diskurs, der vom Handeln entlastet, hervortritt. In Habermas' Diskurs ist Austins Problemstellung, die Differenz von Sprechen und Tun, bereits innersprachlich verschoben. Aber nicht in der diskursiven Selbstreferenz der Sprache besteht die Ausübung einer Illokution, sondern darin, etwas zu tun, indem man etwas sagt. Dem Common sense ist der Unterschied zwischen Sprechen und Tun noch vor Augen, weshalb ihm der außeralltägliche Zusammenfall von Sprechen und Tun in den außeralltäglichen Beispielen für Performatives auffallen kann. Aber sogar in der Selbstreferenz der Sprache, mit der der philosophische Diskurstheoretiker beschäftigt ist, gibt es noch Spuren des Problems: eben diese merkwürdige Illokution, die es den Lokutionen freistellt, über Nichtsprachliches etwas auszusagen, und diese merkwürdigen Perlokution, die den Handelnden zum Täter ausgerechnet in dem Augenblick macht, wenn er sich der sprachlichen Selbstreferenz entzieht. Die Selbstreferenz der Sprache enthält die Unterscheidung des Sprachlichen vom Nichtsprachlichen. Sie ist kein Zirkel sich selbst identifizierender Illokutionen, kein Verhängnis der sich selber sprechenden Sprache. Illokutionär gesehen tue ich

169 Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, a. a. O., S. 375 f., 389, 414. 170 Ders., Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 65. Hier lockert Habermas auch seine Fehlidentifikation der Perlokution mit strategischem Handeln, indem er den „Fall latent strategischen Handelns" erörtert. Vgl ebd., S. 71.

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etwas, indem ich spreche, worauf ja Habermas mit seiner Orientierung aufs Lernen schließlich auch hinauswill. Nun ist schon das Tun (doing) zwischen dem Verhalten (was ein Beobachter beschreiben kann) und dem Handeln (was der Handelnde als Absicht zum Ausdruck bringen kann) gelegen. Das Tun löst sich in keine Handlung, umso weniger in eine Sprechhandlung auf. Austin benutzt den Grenzbegriff der „rituellen Handlung", der zwischen Verhalten und Handlung oszilliert und Vollzug hier und jetzt (erste Person Indikativ Präsens Aktiv) meint: „Bei diesen ,Ritualen' ist der akzeptierte Fall derart, dass ich unter den angemessenen Umständen eine bestimmte formelhafte Wendung ausspreche".171 Das Phänomen des Performativen liegt im Vollzug einer alltäglich üblichen Unterscheidung zwischen Tun und Sprechen vor, die dem Vollzug selber in seiner außeralltäglichen Lebendigkeit (Ganzheitlichkeit) nicht angehört, ja, zur (im Sinne Austins) schauspielerischen Verunglückung des Vollzuges führen kann. Deshalb holt die theoretische Beschreibung des illokutionären Aspektes einer Sprechhandlung nie ein, was im Vollzug performativer Äußerungen lebendig, eben in der Verhaltung und Handlung, getan wird. Austin selber erörtert die für Rortys anfangs erwähnte Konzeption relevanten Grenzfälle: Ob jemand sprachlich seinen Schmerz durch die Äußerung „Ich habe Schmerzen" mitvollzieht, nämlich im „Ausdruck"172 seines Körperleibes zum Ausdruck bringt, oder ob er sagt, dass er Schmerzen habe und den Eindruck erweckt, sie dem Ausdruck nach zu haben, was man natürlich „schauspielern"173 kann. Im ersten Fall handelt es sich nicht um die implizite Illokution, dass jemand weiß, Schmerzen zu haben, sondern um den Ausdruck derselben, eben das Performative. Im zweiten Fall kann jemand wissen, dass man Schmerzen zu haben und wie man diese zum Ausdruck zu bringen vermag. Wir verstehen jetzt langsam, warum Austin von der Schauspielerei absehen wollte. Es ging ihm weniger um die rekonstruktive Entfaltung performativer Phänomene in illokutionäre Phänomene hinein (gleichsam nach oben in den Diskurs) als vielmehr um ihre Rückfaltung ins lebendige Tun (gleichsam nach unten in die Praxis des Common sense), das Wittgensteins Ethos verwandt war. Daher wohl auch Austins schwarzer englischer Humor bei den Beispielen für Perlokutionen, die Habermas ernst nahm, ohne aufzugreifen, was Austin so ernst war, dass er von „echter Beunruhigung"174 sprach: Was den „Verständigungsakt" letztlich ermöglicht oder verunmöglicht, ist ein lebendiger Vollzug der Einheit von Tun und Sprechen, für „die es keine .Rechtferti-

171 J. Austin, Fremdseelisches (1946), in: ders., Gesammelte Philosophische Aufsätze, übers, u. hg. v. J. Schulte, Stuttgart 1986, S. 135. 172 Ebd., S. 142 f. 173 E b d , S. 148. 174 Ebd., S. 147.

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gung'" 175 gibt: Eben das Phänomen des Performativen im Ausdruck von Lebewesen (nicht von Intentionen des reinen Bewusstseins), die „stumm" sein mögen, aber gleichwohl unser „Herz" ansprechen können: „Die meisten Gefühle bezeichnen wir weder als geistig noch als körperlich". 176 U m an diese phänomenale Ebene des Performativen im Lebendigen heranzukommen, weist Austin die Ausflucht in semiotische Verweisungen 177 zurück, was offenbar die bleibende Kritik von Derrida an Austins Konzeption vom Performativen provoziert hat. Austin schreibt - gegen literarische wie theoretische Beschreibungen heute gleichermaßen aktuell - zur Rettung der Phänomene des Performativen: „Die Annahme, ,ich weiß' sei ein deskriptiver Ausdruck, ist nur ein weiteres Beispiel für den in der Philosophie so verbreiteten deskriptiven Fehlschluss. Selbst wenn es zutrifft, daß ein Teil der Sprache jetzt rein deskriptiv ist, so war es doch ursprünglich nicht, und ein großer Teil der Sprache ist es immer noch nicht. Die Äußerung offensichtlich ritueller Ausdrücke bedeutet unter den angemessenen Umständen nicht, daß man die Handlung, die man vollzieht, beschreiht, sondern daß man sie ausführt (Ja')". 1 7 8 Wir werden am Ende des 2. Teils dieses Kapitels noch sehen, dass die Philosophische Anthropologie genau mit diesem Rückgang auf eine von Lebewesen in ihrem Vollzug hier und jetzt geteilte Ausdrucksebene begonnen hat (vgl. auch 2.3.). Dieser Rückgang unterläuft das falsch gestellte Problem des Zuganges zum Fremdseelischen, bei dem es sich weder um selbstvergessene Imitation des anderen Wesens noch um selbstversessene Projektion in das andere Lebewesen handelt, da wir Lebendiges schon immer teilen, zur Beruhigung der Naturalisten gesagt: als evolutionsgeschichtliche Mitgift teilen. Der Umweg über Nachahmung und Projektion ist ein Folgeproblem von Fehlindividualisierungen, in denen die Individualisierung in das verselbständigte Selbstbewusstsein von Individualität verbannt wird, statt sie zu leben. Auffallender Weise gelingt Austin der Durchbruch zu performativen als den lebendigen Phänomenen in seinem Versuch zur Bewältigung der gleichen Thematik des Fremdseelischen, mit der die Philosophische Anthropologie eine Generation früher eingesetzt hat. Es ergibt sich jetzt auch ein Zusammenhang zwischen dem Performativen als dem Lebendigen und den Perlokutionen als dem Individuellen: Lebendige Individualität ist unkonventionell, auch gegenüber der säkularisiert christlichen, eben modernen Konvention, ein Selbstbewusstsein von Individualität haben zu sollen. Während anfangs Rorty noch den Eindruck erweckte, als ob uns der linguistic turn von der Erfahrungsmetaphysik menschlicher Lebewesen endlich befreien könnte,

175 176 177 178

Ebd., S. 152. Ebd., S. 149 u. 143. Vgl. ebd., S. 139 f. Ebd., S. 136.

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wir aber schon angesichts des von ihm benutzten Schmerzphänomens und anthropologischen Sprachkriteriums stutzig wurden, sehen wir mittlerweile die enorme Leistung eines der unstrittigen Begründer des linguistic turn, eben Austins Verschränkung einer Phänomenologie des Performativen als des Lebendigen und deren anthropologischer Rekonstruktion, die eine Revolution der Philosophie erfordert, statt sie zu verabschieden. Wir werden das Performative des lebendigen Mitvollzuges durch keine Beschreibung und keine kategoriale Rekonstruktion los, sondern nehmen es eben darin schon immer in Anspruch. Vielmehr sollten wir umgekehrt fragen, woher die Auflösungen des Performativen als des lebendigen Mitvollzuges kommen, als ob wir nicht Teilnehmer der lebendigen Natur wären, sondern dieser nur von außerhalb als einem Gegenstand gegenüber stünden. Eben dies ist die Frage der Philosophischen Anthropologie nach der exzentrischen Positionalität, die uns in die Spannung zwischen lebendigem Mitvollzug und abständiger Gegenüberstellung versetzt, welche in Verschränkungen zu lösen eine menschliche Lebensführung braucht. In der Renaissance des klassischen Pragmatismus ist das ähnliche Motiv zu erkennen, dass nämlich die Gegenwartsphilosophien in ihrer „postanalytischen"179 Gemengelage mit dem Problem der wechselseitigen Verschränkung von Lebendigem und Sprachlichem nicht ausreichend zu Rande kommen, für das aber auf dem dritten Wege des klassischen Pragmatismus und der Philosophischen Anthropologie Vorschläge unterbreitet worden sind. Statt von einer Verabschiedung der Philosophie zu reden, geht es um ihre „Erneuerung"180, wie Hilary Putnam treffend unter Anspielung auf John Deweys Erneuerungsprogramm181 von vor 80 Jahren fordert. Wir haben an Foucault gesehen, dass dies keine romantische Frage ist, sondern auf die Kernfrage der modernen Selbstermächtigung zur Produktion von Lebensformen nach diskursiv-praktischen Kriterien für das, was als „menschlich" zu gelten habe, abzielt. Es wundert daher nicht, dass es inzwischen zu einer Politisierung performativer Phänomene kommt, von der die Politisierung der zweifellos performativen Geschlechtlichkeit ein Vorbote ist. Die Politisierung sollte jene performativen Phänomene betreffen, wie Foucault gesehen hat, die ein Scharnier zwischen dem individuellen Leben und dem Leben der politisch verfassten Bevölkerung, global inzwischen der Spezies Mensch, bilden können.182

179 Vgl. Bernard Williams, Die Zukunft der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000) 1, S. 3 ff. 180 Hilary Putnam, Renewing Philosophy, Cambridge/London 1992, S. I X . 181 Vgl. John Dewey, Die Erneuerung der Philosophie (1923), Hamburg 1989. 182 Vgl. zu der philosophisch nötigen Minimalanthropologie, die eine normative Auffassung der Moderne gestattet, der entsprechend den Globalismen (ökonomistischen und etatistischen) eine qualifiziert demokratische, subsidiär und föderalistisch verfasste Weltrepublik entgegenzustellen ist: Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Demokratisierung, München 1999, S. 21, 32 f., 6 4 , 7 1 , 1 1 7 .

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1.1.10. Die Pluralisierung des Zirkels von einem säkularen Dritten her: die Semiosis der lebendigen Natur Es fällt schwer, in der Redeweise von Menschen dasjenige, welches das Verhalten dieser Lebewesen zu beschreiben erlaubt, von demjenigen, das es hypothetisch erklären könnte, und von demjenigen, das es (im Extrem als „menschlich" oder „unmenschlich") zu beurteilen gestattet, unterscheidbar zu halten. Die Selbstbezüglichkeiten in der Redeweise von Menschen sind offensichtlich groß, ohne dass man am Ende des 20.Jhs. den Fehlschluss ziehen könnte, es käme auf diese Unterschiede zwischen deskriptiven, explanativen und ethischen Aspekten praktisch nicht an. Das Gegenteil ist im Politischen des Widerstreites zwischen den Diskursarten der Fall. Dieser Widerstreit kann sich am performativ lebendigen Vollzug allen Tuns, sprachlich und nichtsprachlich, explizit und implizit sprachlich, entzünden, im Angesichte eines Lebendigen, an dem die Grenzen unserer (negativen und positiven) Freiheitsrechte hervortreten. 183 Zudem lebt Philosophie seit jeher von der Entdeckung des Zirkulären, aber nicht minder davon, Zirkel auch wieder zugunsten von Unterscheidungen zu unterbrechen, sie durch Verfremdung in indirekter Redeweise erneut aufzuschließen, indem man zeigt, wie sich verschiedene Selbstreferenzen gegenseitig begrenzen können. Die heutige Globalisierung der Märkte fordert eine urteilskräftige Praxis kognitiver, ethischer, ästhetischer u. a. normativer Unterscheidungen heraus. Der Streit etwa über das Kommunikationspotential der neuen, d. h. im Anschluss an die weltweite Vernetzung von Personalcomputern multimedialen Informationstechnologien betrifft das Selbstverständnis von Menschen als spezifisch geistige, sprachlich kommunizierende Wesen zentral. Der Disput über die Angemessenheit der neuen, direkt am Genom ansetzenden Reproduktionstechnologien ist mit der Überschreitung aller Grenzen, die der naturalisierenden Machbarkeit von Menschen bisher kulturell gezogen worden waren, grundsätzlich konfrontiert. Schließlich bleibt die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte (im Unterschied zu Bürgerrechten) kulturell und politisch streitig, selbst wenn nicht fundamentalistisch, so doch zumindest in der Pluralität alltags- und expertenkultureller Interpretationen. Diese Selbstverständnisse werden angesichts der neuen, global privatisierbaren Technologien in eine unvorhersehbare Drift geraten, die aber ein Minimum an interkulturell gemeinsamer, öffentlich praktizierter Geltung in Menschenfragen weltweit braucht (vgl. Einl. zum Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen). Die Philosophie kann nicht die Erfahrungswissenschaften, noch weniger den Mangel an denjenigen internationalen Öffentlichkeiten ersetzen, die den interkulturellen Austausch und die politische Entscheidungsfindung in Menschenfragen befördern

183 Vgl. J. Butler, „Excitable Speech". A Politics of the Performative, New York/London 1997.

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Natur

müssten. Die Philosophie kann auch nicht durch Pastoralen diese Religion oder jene Theologie nachahmen, um erneut eine Glaubensgewissheit zu suggerieren, die Einhalt gebieten könnte. Aber sie kann - aus ihrem enormen Fundus an problemgeschichtlichen und systematischen Entwürfen zur Stellung des Menschen - der öffentlichen Diskussion Vorschläge unterbreiten, da kein Sterblicher das Wesens- und Definitionsmonopol auf menschliches Dasein besitzen darf. Unter den Philosophien, die für den Ubergang zwischen den verschiedenen erfahrungswissenschaftlichen Anthropologien (den Bio-, Sozial-, Kultur-, Geschichts- und Individual-Anthropologien) und der Common-sense-Praktik (als unserem kleinsten gemeinsamen Nenner) neue Wege ermöglicht haben, verdient außer dem klassischen Pragmatismus Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie besondere Aufmerksamkeit. Sie transformiert die direkte Redeweise von Menschen, die im Gefolge der Säkularisierung großindustriell inflationiert und viehisch werden kann, in eine indirekte Redeweise, die dem „proportionierten" Zusammenstimmen der Möglichkeiten von menschlichen Lebewesen gerecht, deren „Würde" 184 angemessen zu werden vermag: „Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen." 185 Wer es nur direkt (entweder seelisch „nackt" oder körperlich „messerscharf") haben will, kommt nicht umhin, dem Zirkel entweder seines Selbstverständnisses oder seiner Erklärungsart gemäß zu handeln. Die Inszenierung des Entscheidungsdilemmas, vor dem ein schon immer zentrisches Handlungsbewusstsein steht, das gleichwohl noch - vor sich oder anderen - auf sich reflektieren möchte, ist von M. Heidegger und C. Schmitt her bekannt. Diese Szene wirkt als imposantes Drama zur Selbstermächtigung nur, solange man ihre reflexionsphilosophischen Voraussetzungen teilt. Plessner hat - auf den agnostizistischen Spuren Kants - einen anderen Weg eingeschlagen, um den Lernprozess zwischen der Besinnung aufs Menschliche (humanitas) und der Klärung der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch (hominitas^b) erneut zu eröffnen. Die Möglichkeit zum Vergleich entsteht nicht von einem solchen Dritten (Sein, Transzendenz, Sprache, Symbol, Zeichen, Rede, Schrift) her, das dann nur in die Aufregung zur Unentscheidbarkeit eines Zirkels entfaltet wird. Auf diesem Wege ist auch die viel beschworene Einzigartigkeit des Singulären unentscheidbar, da ohne Vergleichsmöglichkeit keine Würdigung des Einzigartigen erfolgen kann. Die Ermöglichung und Verunmöglichung des Vergleichs erfolgt in der Philosophischen Anthropologie von einem anderen Dritten her, nämlich dem Lebendigen der Natur.

184 Vgl. H. Plessner, Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (1920), in: GS II, S. 271-275. 185 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: GS V, S. 106. 186 Vgl. ders., Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege (1939/53), in: GS IX, S. 286 f.

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nach dem Lebendigen

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Das Lebendige der Natur bleibt anders als der Reflexionszirkel des Selbst, und doch nehmen wir schon immer performativ an diesem Lebendigen teil. In der Philosophischen Anthropologie geht es nicht um die Wiederholung des dualistischen Ausschlusses von Anderem (Körperlichem) aus dem Selbst (dem reflektierenden Bewusstsein oder der reflektierenden Sprache), nicht um seine Verschiebung und seinen Aufschub ins Absolute, das dann nur negativ als das Unbestimmte erscheint. Vielmehr kommt es Plessner auf eine neoaristotelische Lebenshaltung hier und jetzt an, die die dualistische „Vorentscheidung", es müsse sich entweder um etwas Psychisches (Seelisches) oder Physisches (Materielles) handeln, neutralisiert. Damit wird das Lebendige der äußeren Wahrnehmung und Anschauung im Spiel freigegeben, statt es auf diese oder jene Weise zugunsten der inneren Selbstwahrnehmung, Selbstanschauung oder Introspektion einzuklammern. Plessner interessiert die Erfahrung dieses Doppelaspektes von Psychischem und Physischem in ein und derselben Blickstellung und die Rekonstruktion desjenigen, das wir für diese Erfahrungsmöglichkeit tätig in Anspruch nehmen.187 In der Konsequenz der Säkularisierung überlässt die Philosophische Anthropologie Leben eben gerade nicht der Reduktion aufs behavioristisch verstandene Biotische, sondern kommt ihm zu Hilfe. Die Philosophische Anthropologie vollführt keine platonische Umdrehung aus dem Lebenszusammenhang heraus, sich diesen vom Leibe zu halten, sondern eine naturphilosophische Eindrehung in diesen Zusammenhang hinein, damit wir in ihm das Spiel der uns nötigen Möglichkeiten entdecken lernen. Plessner nennt sie den Kategorischen Konjunktiv. Wenn eine Philosophie Performativität, von der seit J. L. Austin berechtigt soviel die Rede ist, entdeckt hat, dann Plessners spielphilosophische Wende in dem mitweltlichen Zusammenhang zwischen unserer ersten (naturwissenschaftlich fassbaren) und zweiten (soziokulturell-lebensweltlichen) Natur, auf die - wie wir anfangs sahen auch McDowell erneut zurückkommt. Lebendige (nicht anorganische) Natur hat in unserer Wahrnehmung und Anschauung schon selbst ein Spiel. Sie spielt zwischen ihrer Sensorik und Motorik, so dass sie sich auf ihre Umwelt einspielen kann, und zwischen ihren Verhaltensbindungen und der Gefahr ihrer Bindungslosigkeit. Das Spiel der Natur ermöglicht und braucht - unter bestimmten Strukturbedingungen - das Schau-und-Hör-Spielen (seine Zur-Schau-und-Hör-Stellung im weitesten Sinne), um gegenüber den Möglichkeiten des Lebendigen, zerfließen und erstarren zu können, Haltung zu gewinnen. Die Performativität der Kulturen (auch der sog. „Tiere") nistet im und hält das Spiel der lebendigen Natur in Gang. Sie bindet die Irrealisierung (gemessen am Physiologischen) der den Körpern eigenen Grenzen soziokulturell. Performativität wird vom Lebendigen der Natur her ermöglicht und begrenzt.

187 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin/New York 1975, S. 78, 88,100.

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Für Plessners Entdeckung reicht kein Diskurs aus, der sich nach dem Schriftmodell verdünnisiert, geht es in ihr doch um die Änderung der Weisen, in denen Diskursen etwas und jemand gegeben wird. Diese Problemstellung erwächst aus der methodischen Konsequenz des Cartesischen Dualismus, den man nicht abschaffen, aber zu einer Aspektdifferenz verschränken kann. „Die Vorzugsstellung des eigenen Selbst, die um der qualitativen Gegebenheitscharaktere der physischen Dinge willen zu einer Vorgegebenheitsstellung werden musste, findet im Satz der ... Immanenz des Ichs" ihren Ausdruck: Dieser Satz bedeutet „zugleich das Prinzip des Vorrangs der Gegebenheit vor dem Sein, ein methodisches Prinzip, Urteile über Seiendes zunächst dadurch zu prüfen, daß man die Zugänglichkeit des Seins untersucht". 188 Die Philosophische Anthropologie zielt auf diejenigen Wahrnehmungsund Anschauungsmöglichkeiten des Lebendigen ab, die durch keine diskursive Methodologie dualistischer oder monistischer Art von vornherein ausgeschieden werden. Der linguistic turn befreit nicht von der Bewusstseinsphilosophie, wie seine Rückläufe in den Intentionalismus189 zeigen, sondern verschiebt die Selbstreferenz vom Selbstbewusstsein auf die Sprache. Diese Verschiebung mag das Selbstbewusstsein von der Sprache her erklärlich werden lassen, nicht aber das Bewusstsein im Sinne von Wahrnehmen und Anschauen oder Ausdruck und Haltung (sofern diese Phänomene nicht durch normalisierende Disziplinierung der Körper im Sinne Foucaults sprachlich überdeterminiert werden). Man müsste schon selbst an die Reflexionsphilosophie glauben, um dem Fehlschluss zu erliegen, die Ersetzbarkeit des Selbstbewusstseins (als Paradigma) durch die Sprache zöge auch die Epiphänomenalität (Ableitbarkeit) des Bewusstseins aus Sprache nach sich. Was wir Bewusstsein nennen, ist die Einspielung des Organismus auf seine Umwelt und kommt zumindest allen zentrisch (durch ein zentrales Nervensystem) organisierten Lebewesen zu, mit diskursiv-reflexivem Selbstbewusstsein oder ohne ein solches. Die („illokutionär-propositionale") Selbstreferenz der Sprache lässt sich zu „innerweltlichem Lernen" 190 nicht unterbrechen, ohne dass wir auf die stets erneute Ermöglichung und Begrenzung von Performativität im Lebendigen zurückkom191

men.171 Der Rückgang auf die „Lebenswelt" (E. Husserl) kann solange nicht halten, was er dem Worte nach verspricht, solange sie nicht als dasjenige Lebendige erschlossen

188 Ebd., S. 56. 189 Vgl. John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993. 190 Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., S. 132-134. 191 Vgl. zur Unentbehrlichkeit expressiver Reste für und materialer Importe in die Schlusssemantik und von materialen Schlüssen R. B. Brandom, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge/London 1994, S. 102-107,131-133.

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wird, das Welt ^/zuschließen ermöglicht. Schon zentrisch organisierte Lebewesen führen sich auf, erscheinen sich im anderen ihrer Umwelt, positionieren sich in Raum und Zeit. Aber erst solche Lebewesen, die im Schau- und Hör-Spiel der Zentrierungsrichtungen ihrer Körperleiber außer sich geraten, können auch Zeichen sprachlich als den Wechsel in für sie exzentrische Perspektiven verstehen lernen. Sie können Welt in Szene setzen, statt nur sich in ihrer Umwelt wahrzunehmen. Mit dem symbiotischen Eigenleben des Bewusstseins im Unterschied zum diskursiv-reflexiven Selbstbewusstsein experimentiert die audiovisuelle Werbung. Man wird ihr nicht absprechen können, dass sie über die Grenzen der Versprachlichung menschlichen Bewusstseins aufzuklären vermag. Die sprachlichen Perspektivenwechsel in der Positionierung menschlicher Lebewesen zu fundieren, macht indessen auch sprachimmanent Sinn, insofern Sprache selbst in ihrem Aufführungscharakter Geltung gewinnen und verlieren kann: Gerade propositionale Gehalte müssen dargestellt werden, etwa in Versuchsserien aufgeführt werden können, um zu überzeugen.192 Die Perspektivierung soll hier zur Positionierung passen, daher die Urteilsfrage. Hat man Performativität nicht nur in den Diskurs hinein als Austins Dreierunterscheidung verstanden, sondern auch als die stets mitlaufende Grenze des lebendigen Vollzuges von Äußerungen durchschaut, schließt sie die Performance der Körperleiber, die mediale Aufführung von deren Verkörperungen und Verleiblichungen, ein. Das von Austin eröffnete Spektrum an performativen Phänomenen braucht eine spielphilosophische Durchführung. Die Tragweite von Plessners Entdeckung des Pragmas (der Handlungsmuster auch des Sprechens) vom Lebendigen der Lebenswelt her kommt zwar expressis verbis aus einer immanenten Kritik am eurozentristischen Dualismus und seinem monistischen Kompagnon (ζ. B. intuitionistischer Lebensphilosophie). Sie ist jedoch in ihren pluralen Konsequenzen für eine Kritik an unserem Speziezismus (am „Kannibalismus" gegenüber Lebendigem193) noch nicht ausgeführt worden. Es ist wohl nicht zufällig, dass sich Plessners Philosophische Anthropologie erst seit den 90er Jahren des ausgehenden 20.Jhs. philosophisch eine Bahn bricht. 194 Sein Vorstoß war zuvor mentalitätsgeschichtlich wenig resonanzfähig, was nicht gegen ihn spricht, aber die Beschränkung in der früheren Rezeption seiner Schriften erklärlich werden lassen könnte, sofern er überhaupt gelesen wurde. In der heutigen Schere zwischen reduktiven Naturalismen und erneuten Sprachidealismen dämmert seine Problemstellung

192 Vgl. Yehuda Elkana, Anthropologie der Erkenntnis, Frankfurt/M. 1986; Hans-Jörg Rheinberger, Experiment-Differenz-Schrift, Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992. 193 Vgl. zum Problem des Tiers J. Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, a. a. O . 194 Vgl. meinen Literaturessay: Angst vor der Selbstentsicherung. Zum gegenwärtigen Streit um Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 44 (1996) 2, S. 2 7 1 - 3 0 0 .

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des Lebendigen als des innerweltlich Dritten, das sowohl die Wahrnehmung von Gegenständen als auch den Selbstausdruck zu konturieren ermöglicht. Sei nämlich der Lebenskreis (die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt) in „exzentrischer" Positionierung aufgebrochen, korrespondiere mit diesem Bruch der Doppelcharakter der uns bekannten Sprache. Sprache könne so „das husdmcksverkältnis" von Menschen „zum Gegenstand von Ausdrücken" machen, ohne selber ihren Ausdruckscharakter zu verlieren. Daher werde ihre gegenständlich-intentionale (propositionale) und idiomatische (performative) Doppelstruktur möglich: „es gibt nicht die Sprache, sondern Sprachen. Die Einheit der Intention hält sich nur in der Zersplitterung in verschiedene Idiome." 195 Diese performative Sicht der Sprache im Lebendigen könnte zu der Infragestellung der bisherigen Spezies-Vorstellungen über Primaten und Hominiden in der neueren Verhaltensforschung passen. Es mag im ersten Anlauf als reine Spekulation erscheinen, wenn Plessner diejenigen Strukturen, die im deutschen Idealismus „Geist" hießen, bereits in den Organisations- und Positionsformen von Lebewesen situiert sah, wodurch er das Lebendige enorm aufgewertet hat. Inzwischen scheint für das Wunderliche am Lebendigen auch empirisch der Blick frei zu werden. Diese Befreiung steigert nicht nur ethisch, sondern schon aisthetisch-kognitiv die Problematik in unserem Verhalten gegenüber zentrisch organisierten Lebewesen, denen wir doch selber auch angehören, erst recht gegenüber Lebewesen, die sich womöglich wie wir exzentrisch positionieren können, ohne dafür organismisch gesehen die Gestalt des Homo sapiens haben zu müssen.196 Auch die neuere kritische Bestandsaufnahme der neurobiologischen Wahrnehmungsparadigmata (sowohl des klassischen als auch des konnektionistischen) rät eine Alternative an, die aus der „phänomenologisch-hermeneutischen Tradition" etwas macht: „Hierzu gehören unter anderem die Herausstellung der konstitutiven Aspekte und des Handlungsbezugs von Kognition, das phänomenologische Konzept der Situation (bzw. der Situiertheit des kognitiven Subjekts), die (Wieder-)Einführung holistischer Intuitionen in die Hirntheorie und ein phänomenologisch orientierter Anti-Reduktionismus,"197

195 H . Plessner, Stufen, a. a. O., S. 340. 196 Vgl. zur Diskussion (auch die Literatur über Wale und Delphine) A. Paul, Von Affen und Menschen. Verhaltensbiologie der Primaten, Darmstadt 1998. 197 Andreas K. Engel/Peter König, Das neurobiologische Wahrnehmungsparadigma. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Peter Gold/Andreas K. Engel (Hg.), Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 185 f. Vgl. dazu im Bd. I v. „Zwischen Lachen und Weinen" das Kap. 3 und zu Maturanas Doppelparadigma der Autopoiesis und strukturellen Kopplung H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel. Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993, Erster Teil.

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1.1.11. Die performativen Grenzen der Ironie am geschichtlich Lebbaren Um nun endlich am Schluss auf das Motto vom Anfang, auf das nur gelegentlich im bisherigen Text angespielt wurde, zurückzukommen: Wenn man unter Zynismus198 versteht, dass jemand wider sein eigenes besseres Wissen handelt, dann muss Ironie nicht zynisch werden, obgleich sie es kann. Sie ist zunächst einmal ein begrüßenswertes Spielvermögen, das in dem im Ernst Genommenen die Möglichkeit des Spaßes erkennt; das für notwendig Erachtete kontingent, mithin für anders möglich setzt; das für legitim Gehaltene wie einen illegitimen Zufall nimmt. Ironisches Spiel hängt Anbindungen des Verhaltens ab von etwas, das wie angewachsen selbstverständlich geworden ist und an dem womöglich durch Überhöhung ins Gesetzmäßige wider alle Angriffe hoch und heilig festgehalten wird. Die Frage ist dann nur, wohin die Ironie führen mag: als taktisches Interludium zu einer neuen starren Verhaltensanbindung; in selbst gezügelter Permanenz zu einem bleibenden Spielvermögen, zwischen Bindungen angemessener wechseln zu können; oder in die Feier aller Gefahren der Bindungslosigkeit, die der Abbindung von Verhalten auch inhärent sind.199 Für die Lösung dieser Fragen ist der Rückbezug der Ironisierung auf den Körperleib desjenigen, der ironisiert, auf dessen Verhaltensmöglichkeiten im eigenen Wissen, entscheidend, eben die Performativität im Sinne je eigener Lebendigkeit. Benützt man Ironie nur gegen Andere, spielt man selber nicht. Aus der Verspielung der Verhaltensnöte anderer Kapital zu schlagen, ohne sich selbst kontingent zu setzen, eröffnet kein neues Spiel, sondern instrumentiert die anderen als die Dummen. Man selber gerät dadurch in einen double bind, der auf vielerlei Weise pathologisch zum Bumerang werden kann. Die performativen Selbstwidersprüche, „performativ" genommen in dem hier mit Austin weit entwickelten Sinne, bieten ein reichhaltiges Untersuchungsfeld. Wie viel Verzweiflung Zynismus gebiert, oder ob er bereits als ihr Kind angesehen werden kann, wollen wir dahin gestellt sein lassen. Die Wunden, die Ironie bei anderen schlagen soll, sind umso größer, je stärker die Bindung desjenigen, der ironisiert, an dasjenige, das er ironisiert, war, ohne dass er eine alternative Verhaltensanbindung hätte, geschweige selber unser Spielen im Endlichen bejahen könnte. Rortys liberale Ironikerin ist von polemischer Entlarvung der anderen, macht aber auch nicht vor sich selbst Halt, solange ihr nicht die geschichtlich zufällige Liberalität ihres Common sense genommen wird, zu deren Verteidigung sie doch noch naturalistisch kommunitär werden kann. Die Einladung zu einem neuen Spiel

198 Im Unterschied zum körpersprachlich agierenden Kynismus, den untersucht hat Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983. 199 Vgl. zu den Möglichkeiten des Spiels im elementaren Sinne Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen, S. 110 f., 147-150, 219 f.

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ist also deutlich aufs Privatvokabular begrenzt. Derridas ironische Primatverkehrungen werden beißend gegen die anderen ausgekostet, reißen aber auch den Autor selber in das von allen Signifikaten befreite Spiel der Schrift mit, gar in die Grenze des Wechsels der eigenen Markierung. Aber dieser Wechsel geht nur unter Absehung vom eigenen Körperleib, der am Ende dem Autor doch besser in jener großen geistesgeschichtlichen Tradition aufgehoben scheint, der er den Todesund Quellenstoß versetzen wollte und die er nun doch nur ein weiteres Mal reformiert. Husserls Verfahren kennt keine Ironie, eher Trauer, gelegentlich ein tragisches Moment. Die Wittgensteinsche Therapeutik bedarf der Ironie nur als Interludium gegen Mythen, wenn überhaupt, da Leben rätselhaft bleibt. Habermas' Verfahren entbindet Ironie an zwei Stellen: wenn es um die Möglichkeit des Nein-Sagens geht, wie Sprache überhaupt alles in ihrer Verdoppelung kontingent zu setzen vermag, und wenn es um das Paradoxon der Rationalisierung von Lebenswelt geht, die beides gleichzeitig freisetze. Aber diese Ironie ist eine, die nur zur Verteidigung des Projektes der Moderne in Aktion tritt, ansonsten auf ein Interludium begrenzt bleibt. Die Ironie des Nein-Sagens verschwindet schnell im Ernst der Beweislasten und einem neuerlichen Bindungseffekt; die Ironie des Paradoxons der Rationalisierung weicht dem öffentlichen Engagement für eine neue Gewaltenteilung. Austins schwarzer Humor ist nicht eigentlich ironisch zu nennen, sondern eine andere Spielform. Er stachelt an, das analytisch Unterscheidbare auch wirklich durchzuziehen und opfert doch gleichwohl nicht die ihm wichtigste Intuition, den lebendigen Vollzug, der im Empirismus so leicht untergeht. Nur Foucaults Lebenswerk enthält den Wechsel aller Töne von Ironie und Selbstironie, als gehörten beide zum Alltag seines Labors. Stets indirekt auf der Suche nach seinem besten Freund, mal dem zu seinem Leib passenden Körper, mal dem zu seinem Körper passenden Leib, gerät er zuweilen in eine unwiderstehliche Doppelbindung oder gar Feier der Bindungslosigkeit, ohne doch je zynisch zu werden. Er kann sich performativ nicht explizieren, aber perlokutionär andeuten, vielleicht am besten in seinen letzten Schriften, wenn es um vorchristliche Lebenshaltungen geht, die gleichwohl nicht zur Alternative hochstilisiert werden. Seine Machtkonzeption ist die Einladung zu neuen Spielformen, in denen Ironie Ironie am geschichtlich Lebbaren begrenzt. Was kann Ironie noch leisten, wenn es in einer aufgeklärten Gesellschaft, einer, in der man sich auch romantisch über die dialektischen Umschläge der Aufklärung (im o. g. Sinne der Rationalisierung durch Diskursmacht) in ihr Gegenteil aufgeklärt hat, trivial zu sagen geworden ist, dass die Dinge geschichtlich kontingent liegen, also auch anders möglich wären? - Zunächst muss man in einer solchen Gesellschaft nicht mehr „die immer gleiche Logik der Verdächtigung und Entlarvung einer bisher noch nicht erschütterten Autorität mit den Mitteln einer neuen ungewohnten wissenschaftlichen Betrachtungsweise", als ob diese endgültige Autorität beanspruchen

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könnte, „wiederholen" 200 . Zumindest kann man sich doch mal fragen, ob dieser Zyklus sich selbst überbietender „kopernikanischer Wendungen" 201 , in dem sich immer neue (rassische, soziale, kulturelle, politische) Subjekte zur Machbarkeit der Moderne legitimieren, etwas mit der „heimlichen Bindung" der Aufklärungswellen „an das christliche Glaubensgewissen"202 zu tun hat. Klammert man die säkularisiert christlichen Antworten ein, da sie einen Teil des Problems der Moderne ausmachen könnten, stellt sich noch immer ein Problem, aber nun erst die Problematik richtig: Unter den Bedingungen der Endlichkeit haben wir Möglichkeiten, die realisiert werden können (alles im Konjunktiv), nötig, vor allem die Not (kategorisch), unter den verwirklichbaren Möglichkeiten bessere und schlechtere unterscheiden zu lernen. Wir stehen mithin vor dem im philosophischen Sinne pragmatischen Problem, aus den natur- und soziokulturgeschichtlich akkumulierten Möglichkeiten künftig Besseres zu machen. Vor diese Problematik gestellt gleichen die bisherigen Ironiker jemandem, der offene Türen einrennt, anstatt neue Wege geschichtlich Lebbarens zu eröffnen. Es könnte wohl sein, dass man eingedenk der Aufklärung (im Sinne von Rationalisierung durch Diskursmacht) und ihren dialektisch kritischen Umschlägen Wirklichkeit sein lässt, statt sie ihrer erneuten Machbarkeit zu unterwerfen. „Eine neue Verantwortung ist dem Menschen zugefallen, nachdem ihm die Durchrelativierung seiner geistigen Welt den Rekurs auf ein Absolutes wissensmäßig abgeschnitten hat: das Wirkliche gerade in seiner Relativierbarkeit als trotzdem Wirkliches sein zu lassen." 203 Die Beweggründe, etwas sein lassen zu können, es sich nicht selbst anverwandeln zu müssen, gibt nicht Ironie, sondern deren performative Grenze frei: „Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform." 204 Vielleicht kann man erst - exzentrisch als Lebendiger unter Lebendigen stehend das Spielen in dem Ernst nehmen, der Heiterkeit eignet? - In dem Streben um Wahrung der Würde geschieht manche Verunglückung. Eben noch wollte ungespieltes Lachen oder Weinen sie anzeigen, da nimmt sie Heiterkeit ins Lächeln fort. Wo aber die Rückkehr ins Spielen am ««gespielten Lachen oder Weinen nicht mehr gelingt, da wird es ernst. Der ironische Kampf im Spielen wird an der Grenze zum nicht mehr Spielbaren performativ in die Frage genommen, wem er von nun an dient. Von wo an

200 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/1959), Frankfurt/M. 1974, S. 105. 201 Ebd., S. 120 u. 131 f. 202 Ebd., S. 106. 203 Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: GS V, 163. 204 Ders., Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: GS VII, S. 416.

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Würdeverletzung ein erneutes Spielen doch ermöglicht oder schon verunmöglicht, lässt sich schwer allgemein sagen. Agonal wird diese Ambivalenz konkret-historisch. Aber die ständige Reklamierung einer vorherigen „Vormachtstellung"205 verleitet dazu, über die Möglichkeiten des Spielens vorschnell den Ausnahmezustand des Ernstes zu verhängen. Die Würdeverletzung von einem selber wird so bis in ihre Permanenz wahrscheinlich gemacht. Und was dann bleibt, ist, aus ihr noch Kapital schlagen zu wollen.

1.2. Das Schauspiel der Körperleiber: die Frage-Antwort-Richtung der Philosophischen Anthropologie 1.2.1. Freilegung der Aufgabe in der performativen, machtphilosophischen und quasitranszendentalen Wende der Gegenwartsphilosophie Wir haben in dem vorhergehenden Unterkapitel gesehen, dass die gegenwartsphilosophische Diskussion an dem Defizit leidet, einen überzeugenden philosophischen Zusammenhang zwischen der Erschließung von Phänomenen, die in der äußeren Wahrnehmung als befremdliche auffallen, und der anthropologischen Rekonstruktion desjenigen, das wir für die Phänomenerschließung in Anspruch nehmen, herzustellen. Die Rezeption und Fortentwicklung der Philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner kann der Behebung dieses Defizits dienen. Um diese Behauptung plausibel werden zu lassen, möchte ich die Philosophische Anthropologie in dem nun folgenden Unterkapitel nochmals kurz durchlaufen. Dabei handelt es sich um keine Ersetzung der Lektüre des Bd. I von Zwischen Lachen und Weinen, sondern um eine Zuspitzung dieser Lektüre für das zu behebende Defizit, damit eine Diskussion ermöglicht wird. Die Ignoranz gegenüber problemgeschichtlich früheren systematischen Entwürfen ist kein systematisches Argument, sondern außer allzumenschlicher Bequemlichkeit ein Zeichen für Niveauverfall, den es in der Geschichte der Philosophie immer wieder gegeben hat. Die folgende Zuspitzung versteht nur richtig, wer sich ihre Ausführung im Bd. I zu Gemüte führt. Daran müssen jene erinnert werden, die meinen, Philosophieren sei eine Art von Kategorienverwaltung, die mit den Phänomenen der menschlichen Lebensführung nichts zu tun hätte. Andererseits reicht auch die begrifflose Beschwörung des Lebendigen von Phänomenen nicht aus, weil es in der anthropologischen Rekonstruktion um kategoriale Unterscheidungen geht, die praktisch relevante Potentiale eröffnen, wodurch man auch wieder neue Phänomene

205 Ders., Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 164.

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entdecken kann, statt in den alten stecken zu bleiben. Phänomenologie hat hier keine kompensatorische Funktion, die sich zur Verwaltung von Begriffen nur spiegelbildlich seitenverkehrt verhält. Vielmehr kommt es tatsächlich auf das geschichtlich stets erneute Durchlaufen des philosophischen Zusammenhanges zwischen Phänomenerschließung und anthropologischer Rekonstruktion an. Um die Philosophische Anthropologie in die gegenwartsphilosophische Diskussion einbeziehen zu können, fasse ich zunächst das Ergebnis des vorangegangenen Unterkapitels in drei Punkten zusammen. Dabei interessieren mich jetzt nur diejenigen Tendenzen in der Gegenwartsphilosophie, die mir bei der Überwindung ihres genannten Defizites hilfreich vorkommen. Erstens: Aus der Unhintergehbarkeit der Sprache in der philosophischen Rekonstruktion folgt weder, dass die Phänomene nur sprachlicher Art sein könnten, noch, dass wir in der Rekonstruktion nicht auch ein Lebendiges selber in Anspruch nähmen, da wir schließlich auch sie vollziehen können müssen. Diese doppelte Öffnung der Orientierung an der Sprache zu Lebendigem (als Phänomen und als Fundierung) hin leuchtet ein, sobald man sich die ganze Bandbreite der Redeweise vom Performativen verdeutlicht, derer sich inzwischen mehr oder minder alle bedienen. Einerseits führt nämlich die (im Sinne Austins) analytische Ausdifferenzierung der illokutionär expliziten Verwendungsweisen von Sprache zu den lokutionären und perlokutionären Grenzfällen. In diesen Fällen gerät die illokutionäre Selbstreferenz der Sprache einer Sprechergemeinschaft postkonventional an ihre Grenzen und wird nolens volens für geschichtliche Veränderungen offen. Dies gibt nun andererseits den Weg dafür frei, den - gemessen an den Konventionen der Sprechergemeinschaft - klaren Verwendungssinn der Sprache, der in Diskursen zerstreut leer laufen kann, geschichtlich erneut zu verdichten, wenn man damit eine neue Einspielung von Perzeption und Sprache aufeinander meint, nicht eine Uberdeterminierung durch Sprache (Foucault). Sprache selber erhält dann aber lebendigen, eben den performativen Charakter, der sich nicht in die bestehenden Illokutionen auflösen lässt, sondern im Kontrast zu diesen auffällt. Der Kontrast tritt hervor, wenn die alltägliche Unterscheidung zwischen Sprechen und Tun außeralltäglich als ein Ganzes vollzogen (Austin) wird, was in der geschichtlichen Expression passiert. Dieser außergewöhnliche Vollzug von Sprechen und Tun kann erneut veralltäglicht werden, bis er wie selbstverständlich in impliziten Illokutionen mitläuft. Habermas' Modell vom Kreisprozess startet mit dieser kontextbildenden und limitierenden Rolle der Lebenswelt (als Horizont und Hintergrund eines vorprädikativen knowing how) für das kommunikative Handeln. Und es endet in der kritischen Frage nach den strukturbildenden Rückwirkungen der Rationalisierung von Lebenswelt auf die Lebensformen, denen allerlei Sedimentierungen zugemutet werden, die keinen lebendigen Eindruck hinterlassen. Die philosophische Lektion der Orientierung an der Sprache scheint mithin darin zu bestehen, dass sie sich - der Explikation der Selbstreferenz der Sprache folgend nur um den Preis ihres Zusammenhanges mit der Orientierung am Leben im weiten

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Sinne des Lebendigen der Lebenswelt und der Lebensformen aufrecht erhalten lässt. Anderenfalls landet man in dem Mythos von der sich dichterisch selber sprechenden Sprache (Heidegger), der nur im Sinne einer spekulativen Grammatik (Hegel/Peirce, vgl. 2.1.) behoben werden kann, weil er ansonsten dem modernen Erfahrungssinn der Endlichkeit widerspricht, wie insbesondere Foucaults Kehre in den 70er Jahren gezeigt hat. Oder aber man verfehlt die Spezifik der menschlichen Sprache, indem man sie Maschinensprachen angleicht, wozu nicht nur szientistische Sprachanalytiker (die im Unterschied zur Analyse der Umgangssprache mathematisierbare Kunstsprachen als Modell für metatheoretische Ansprüche ansahen206) geneigt haben. Auch Derridas Schriftmodell enthält eine maschinisierbare Wiederholbarkeit, die einerseits, man weiß nicht warum und wie, immer anders (iterabel) ausfallen soll und andererseits nicht aus sich selbst die Gefahr der Maschinisierung markieren kann, weshalb erneut die eigene geistesgeschichtliche Tradition hermeneutisch bemüht werden muss. Wir stehen also nach der Verdeutlichung des Problems der Performativität in den Gegenwartsphilosophien nicht mit leeren Händen, sondern einem höchst komplexen Problem da: Die Unhintergehbarkeit der Sprache heißt jetzt, nicht mehr die performative Spezifik der menschlichen Sprache unterlaufen zu können. In der Qualifikation „performativ" ist der problematische Zusammenhang zum Lebendigen im menschlichen Sinne enthalten, und zwar von innen her, als Teilnahme am Lebendigen in der Ausübung von Sprache selbst, nicht von außen her, als eine naturalistische Beschreibung, die Mentales in Anspruch nehmen muss, welches außerhalb und gar über dem Lebendigen stehen soll. Der Zusammenhang zwischen Sprachlichem und Lebendigem muss so nicht mehr übergangen werden, wie ζ. B. in der Redeweise von einer semantischen Metatheorie und von Intentionalität (vgl. auch noch die anfangs in 1.1.2. zitierte Sprachdefinition von Rorty). Die nicht hintergehbare Spezifik der menschlichen Sprache durchläuft ein performatives Spektrum, d. h. ein Spektrum für die Wahrnehmung der ersten Person Indikativ Präsens Aktiv im Unterschied zu anderen Personenrollen, Außerungsformen, Zeitmodi und Tätigkeitsformen. Dieses Spektrum reicht vom lebendigen Vollzug der Sprache, in dem Tun und Sprechen implizit zusammenfallen, in die explizite

206 Vgl. auch zur Kritik an der Illusion der alten Erforschung Künstlicher Intelligenz, menschliches Denken durch den Computer nicht nur ergänzen, sondern ersetzen zu können, Hubert L. Dreyfus, Die Grenzen künstlicher Intelligenz. Was Computer nicht können, Königstein/Ts 1985. Dreyfus hebt die Rolle des Körpers bei intelligentem Verhalten, die Verhaltensordnung ohne Rückgriff auf Regeln und die Funktion menschlicher Bedürfnisse gegen die genannte Illusion hervor. Vgl. ebd., S. 183 ff., 206 ff., 224 ff. Inzwischen geht es freilich um etwas Neues, nämlich die Kombination zwischen den neuen Informationstechnologien mit der Nanotechnik und den neuen Reproduktionstechnologien, die direkt am Genom ansetzen.

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Ausdifferenzierung illokutionärer Rollen, die von Äußerungen gespielt werden können. Diesen illokutionären Konventionen gemäß erlangen Äußerungen gemeinschaftlich geteilten Geltungssinn und gemeinschaftlich geteilte Geltungskraft. Schließlich fällt an den expliziten Illokutionen der andere Rand des performativen Spektrums auf, der in der geschichtlichen Veränderung in den lebendigen Vollzug zurückzulaufen und eine postkonventionale Verwendung der gemeinschaftlich geteilten Konventionen aufzuweisen scheint. Während der Geltungsanspruch von Lokutionen die gemeinschaftsbestimmten Illokutionen in die Richtung gesellschaftlicher Kontexte überschreitet, verweisen die Perlokutionen auf den Kontext der Individualisierung der Rolle der ersten Person. Durch beide Grenzfälle hindurch, sowohl die Lokutionen als auch die Perlokutionen, wird der hermeneutische Zirkel einer Sprechergemeinschaft geöffnet. Einerseits treten dem gemeinschaftsbestimmten „Wir" (erste Person Plural) andere gemeinschaftsbestimmte „Ihr" (2. Person Plural) gegenüber, wodurch sich die Frage ergibt, was für „sie", die dritte Person pluralis, Geltung beanspruchen kann. Andererseits schält sich die individuelle Unvertretbarkeit der ersten Person singularis gegenüber den Rollen einer zweiten und dritten Person Singular und Plural heraus, nämlich im postkonventionalen Erfolg oder Nachspiel, wie Austin sagt („post" gemessen an den in der Gemeinschaft gültigen Illokutionen für Personenrollen). Zweitens: Es ist nicht zu leugnen, dass in den gemeinschaftsbestimmten Personenrollen, die implizit und explizit illokutionär angezeigt werden, eine Machtproblematik (Foucault) liegt. Die Personenrollen enthalten Rechte und Pflichten oder Normen und Abweichungen davon, mithin Handlungsspielräume, die sich überlappen, verstärken, behindern, konfligieren können, sowohl gemeinschaftsintern für die Mitglieder als auch nach außen. Es stellt sich somit die Frage nach einem Kampf auf Leben und Tod (unproduktivere Machtformen) oder nach einer Zivilisierung agonaler Konflikte (produktivere Machtformen) durch Erweiterung der Diskurs- und Spielmöglichkeiten in den Formen der Ermächtigung, Bemächtigung, Begrenzung und Selbstbindung von Macht als dem Handeln auf Handeln, das unter bestimmten Bedingungen geschichtlich zu Machtverhältnissen gerinnt. Dieses Problem taucht auf andere Weise auch bei Habermas auf, nämlich gesellschaftstheoretisch als die Frage nach der strukturellen Gewalt in den Austauschbeziehungen zwischen Subsystemen und Lebensformen, die kolonialisiert werden oder durch eine neue Gewaltenteilung hindurch öffentlich in Führung gehen könnten. Was in Foucaults Konzeption fehlt, ist Austins Spektrum an Performativität. Reformulierte man Foucaults machttheoretischen Übergang von der Epistemologie zu den ästhetischen Selbstpraktiken in Begriffen von Austins Spektralanalyse der Performativität, käme man von den Lokutionen über die Illokutionen bei den Perlokutionen an. U n d was Austins Sprachphilosophie des Performativen fehlt, ist eine machtphilosophische Wendung der Frage nach der gesellschaftlich-geschichtlichen Änderung des Spektrums an performativen Phänomenen. Reformulierte man Austins

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Ansatz in dieser Richtung, würde man zu so etwas gelangen wie der pragmatischen Rekonstruktion problematischer Verhaltensweisen als Handlungen zur Neuproduktion des Verhaltens (vgl. 2.1.) und/oder wie der spielphilosophischen Entfaltung und Begrenzung des körper-leiblichen Doppelaspekts in der Philosophischen Anthropologie. Man müsste so oder so Austins Schauspielverbot, das an Plato erinnert, überwinden, um auf den dritten Weg im philosophischen Diskurs der Moderne zu kommen. Drittens: Methodisch gesehen haben wir bei den meisten zeitgenössischen Philosophen eine Umorientierung vom klassisch transzendentalen Fragen auf ein quasitranszendentales Fragen herausgearbeitet. Es wird nicht mehr klassisch bewusstseinsphilosophisch für das Gattungssubjekt nach seinen Ermöglichungsbedingungen von Erfahrung gefragt und wie bei Kant durch Anschauungsformen in Raum und Zeit und eine Kategorientafel mit begrifflichen Modalbestimmungen geantwortet. Vielmehr gerät die jeweilige Auffassung von Sprache (Rede/Schrift, kommunikatives Handeln/in der Argumentation explizit werdende propositional-illokutionäre Doppelstruktur der Sprache) und/oder von Lebenswelt in eine für das Philosophieren quasi-transzendentale Stellung. Die Ermöglichung wird nicht nur positiv, sondern zugleich negativ als Verunmöglichung (Unreinheit, mediales Abfangen des Dissensrisikos) bis in die geschichtlich befremdlichen und überraschenden Machtbeziehungen hinein gefasst. Die quasi-transzendentale Frage wird zunehmend zu der Frage nach einem historisch funktionalen, zumindest spezifisch modernen Apriori, mit dem anthropologisch gesehen gleichsam experimentiert wird und das eine Arbeitsteilung mit der Empirie eingeht. Man könnte auch sagen, worauf wir im zweiten Kapitel zurückkommen werden, dass das Transzendentale zunehmend pragmatisiert wird, was einen historisch angemessenen Wechsel zwischen transzendentalen Annahmen und empirischen Untersuchungen zumindest ermöglicht (Kreisprozess soziokulturellen Lernens, Produktivierung traditionaler Gesetzesmacht durch diskurspraktische Normalisierungen/Abweichungen davon). Diese pragmatische Tendenz ist zwar neopragmatisch umstritten, läuft aber doch auf eine (gemessen an Foucaults Beschreibung der klassisch-frühmodernen Metaphysik) postmetaphysische Pluralisierung der Frage nach dem Verhältnis von transzendentalen und empirischen Untersuchungen hinaus. Diese Pluralisierung ist etwas Anderes als die reduktiv-naturalistische Abschaffung der Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von Phänomenen im Namen des Common sense, wie wir an dem Gegensatz zwischen Rorty und Derrida (dessen Verteidigung des Quasi-Transzendentalen als des originär philosophischen Fragens) gesehen haben. Wir können diese drei Ergebnisse, die ich im Hinblick auf den philosophischen Zusammenhang zwischen einer Phänomenologie der äußeren Wahrnehmung und deren anthropologischer Rekonstruktion aus der gegenwartsphilosophischen Debatte extrahiert habe, kurz wie folgt benennen: Erstens geht es nicht um einen linguistic

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turn, von dem zu reden entweder viel zu eng (Rorty) oder viel zu vage ist, so dass zum Beispiel jeder Hermeneutiker zustimmen könnte, ohne dass ein produktiver Dissens entstünde. Vielmehr handelt es sich um eine performative Wende der Gegenwartsphilosophie in dem weiten, Austinschen Sinne von Illokutionen und lebendigem Vollzug. Wenn man dies begriffen hat, dann versteht man zweitens auch, dass der Zusammenhang zwischen Lebendigem und Sprachlichem - in der Moderne schon von den Phänomenen des Common sense her gesehen - einer machtphilosophischen Thematisierung bedarf, ob direkt (wie bei Foucault) oder in der gesellschaftstheoretischen Konsequenz (Habermas' Unterscheidung zwischen Sprache kondensierenden und hierarchisierenden öffentlichen Medien versus entsprachlichenden Medien der Handlungskoordinierung). Und drittens haben wir es methodisch mit einer quasitranszendentalen Frageart zu tun, die gegenüber der klassisch metaphysischen Tradition historisch pragmatisiert und eine plurale Arbeitsteilung mit empirischen Untersuchungen ermöglicht. Wenn dies die drei Tendenzen sind, die der Gegenwartsphilosophie helfen können, ihr Defizit an einem philosophisch überzeugenden Zusammenhang zwischen Phänomenologie und Anthropologie zu überwinden, dann ist die Erkenntnis bemerkenswert, dass Plessners Philosophische Anthropologie eben den Durchbruch zu diesen drei Umorientierungen bereits in den 20er und 30er Jahren geleistet hat. Diese Erkenntnis ist nicht nur problemgeschichtlich von Interesse, sondern auch systematisch prüfenswert. Für das Problem der Bandbreite von Performativität steht nämlich in der Philosophischen Anthropologie die Orientierung an der Frage nach dem je eigenen Körperleib, die spielphilosophisch einschließlich der Grenzen des Spielens durchgeführt wird. Die machtphilosophische Thematisierung des Zusammenhanges zwischen Lebendigem und Sprachlichem wird in der Philosophischen Anthropologie nicht nur im engeren Sinne für soziokulturelle Phänomene vorgenommen, sondern so systematisch situiert, dass die Problematik des Geschichtlichen bis in die Naturphilosophie des Lebendigen hinein elaboriert und vorverlegt werden muss, was all unseren Gegenwartsphilosophen von Rang und Namen fehlt. Schließlich werden wir sehen, dass der Kategorische Konjunktiv eine pragmatisch funktionale und historische Quasi-Transzendentalität ist, die nicht einer Logik sich ausschließender Alternativen und subsumtiver Identitäten folgt, sondern diejenigen Ambivalenzen entfaltet, die lebensnötige Potentiale darstellen, mithin pluralisiert. 1.2.2. Grobcharakterisierung der Philosophischen Anthropologie als Einstieg in den Vergleich Charakteristisch für Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie ist es, im Unterschied zu der Geistesmetaphysik des älteren Max Scheler und im Gegensatz zu der Bio- und Sozialanthropologie des jüngeren Arnold Gehlen, den Zugang zum und

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vom eigenen Körper konsequent durchzuhalten.207 Plessners Philosophie ist eine der konsequenten Performativität (im für sie späteren Sinne Austins). Das Problem, mit dem eigenen Körper auskommen zu müssen, dies aber auf verschiedene Weise tun zu können, hat wohl jeder Mensch, so die Hypothese, in allen Kulturen und in allen Gesellschaften, vom ersten Schrei nach der Geburt bis zum letzten Atemzug. Im Unterschied zu anderen Körpern, die wir unter bestimmten Bedingungen haben können, ist uns der eigene Körper schon und noch immer Leib, solange wir eben leben. Wir Menschen leben in dem Spiel dazwischen, Leib zu sein und Körper zu haben. Das Spiel zwischen Leib und Körper pluralisiert den überkommenen Seele-Körper-Dualismus, so dass man zur Begrenzung dieses Dualismus keines neuen Monismus bedarf, weder in der Form eines vom Leben nochmals geschiedenen Geistes208 noch in der Form einer erfahrungswissenschaftlichen Ausgrenzung metaphysischer Fragen209. Plessner, der unterschätzte Antipode Martin Heideggers, stellt bereits in den 20er Jahren das Philosophieren von Fragen der Identität auf Fragen der Differenz um. Es geht ihm nicht mehr um die identitäre Feststellung unseres Wesens, das wir gegenüber Anderen zu monopolisieren hätten, sondern um die Lebbarkeit einer uns „wesenhaften Zweideutigkeit"210. Plessners erfahrungswissenschaftlicher Hintergrund ist weder die physikalische Naturwissenschaft noch die reine Geisteswissenschaft. Vielmehr schließt er, der auch Zoologie studiert und mit dem Verhaltensforscher F. J. J. Buytendijk kooperiert hat, an die dazwischen liegenden Bio- und Humanwissenschaften an, die menschliche Lebewesen thematisieren. In dieser Hinsicht inauguriert Plessner Themen, die man in der zeitgenössischen Philosophie am ehesten mit dem Werk von Michel Foucault verbindet.211 Plessners Umstellung auf Differenz

207 Ich betone hier die Eigenständigkeit von Plessners Philosophie, die durch ihre

anthropologi-

schen Themen mit Scheler und Gehlen gleichartig zu sein schien, wodurch sie als philosophische, an Anschauung gebundene Denkungsart

keine Chance erhielt. Vgl. zu den Differenzen

J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes, Göttingen (Diss.) 1997, S. 2 3 4 - 2 5 7 . 208 „Wenn wir Psychisches und Physiologisches nur als zwei Seiten ein und desselben Lebensvorganges nehmen, ... dann muß das X , das eben diese beiden Betrachtungsweisen selbst vollzieht, dem Gegensatz von Leib und Seele überlegen

sein. Dieses X ist nichts anderes als

der ... selber nie gegenständlich werdende, alles .vergegenständlichende' Geist." M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), hg. v. M. S. Frings, Bonn 1986, 80. 209 So Arnold Gehlen, Philosophische Anthropologie. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, in: ders., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, mit einem Nachwort v. H . Schnädelbach, Reinbek b. Hamburg 1986, 17. 210 H . Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 64. 211 Vgl. zum philosophisch-anthropologischen Status der medizinischen Erfahrung, in der auch Plessners Vater sozialisiert war, und der ihr korrespondierenden lyrischen Erfahrung M. Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (frz. 1963), München 1973, 208 f.

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erfolgt nicht wie später durch J. Derrida oder N. Luhmann im Zeichen der Verselbständigung des Schrift- oder des Systemmodells. Vielmehr entwirft Plessner eine Philosophie des sensus communis zur Transformation der Kantschen Kritik der Urteilskraft, deren Umrisse er bereits in seiner Habilitationsschrift von 1920 verdeutlicht hat.212 Der Common sense muss den lebendigen Selbstbezug auf uns als Lebewesen praktizieren und dafür urteilsfähig werden. Wo der Gemeinsinn, wie etwa in geschichtlich herausfordernden Situationen, nicht mehr einfach bekannte Regeln anwenden kann, verfährt er nach der ästhetisch und teleologisch reflektierenden Urteilskraft. Plessner überführt die Frage der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft schon 1923 in sein Projekt Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Asthesiologie des Geistes213 und die Frage der teleologisch reflektierenden Urteilskraft 1928 in sein Programm Die Stufen des Organischen und der Mensch214, das die Phänomene des Lebendigen strukturfunktional aufschließt.215 In dieser Umorientierung auf die Urteilspraxis des Common sense sehe ich die Aktualität der Philosophischen Anthropologie von Plessner, welche auch den heute häufigen Dualismus von entweder reduktivem Naturalismus oder hermeneutischem Sprachidealismus verschränken könnte.216 Plessners Reorientierung hat problemgeschichtlich am ehesten in John Deweys Konzeption für eine öffentliche Rekonstruktion moderner Gesellschaften eine amerikanische Parallele, die heute neopragmatisch umstritten ist. Auf diese parallelen Problemlagen im Klassischen Pragmatismus und in der Philosophischen Anthropologie sowie in den Wiederbelebungsversuchen beider Philosophien gehe ich unter dem Titel eines Dritten Weges im zweiten Kapitel ein. Im Folgenden interessiert mich das in Plessners Philosophie zentrale, für den Common sense bedeutsame Thema des eigenen Körpers. Die Ausübung der ersten Person (im Indikativ, Präsens, Aktiv) ist der tätige Vollzug der je eigenen KörperLeib-Differenz, wie die sprachpragmatische Fassung des Kategorischen Konjunktivs zeigen wird. Da es sich dabei um eine Fassung und Durchführung des Problems der Performativität (in Austins Sinne) handelt, lädt diese Vorgehensweise für die

212 Vgl. H . Plessner, Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft, a. a. O., S. 2 4 6 - 2 5 5 , 2 7 0 - 2 7 8 , 317-321. 213 Ders., Die Einheit der Sinne, a. a. O., vgl. insb. S. 189, 220, 2 9 4 - 2 9 9 . 214 Ders., Stufen, a. a. O . 215 Vgl. ders., Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937), in: GS VIII, wo es auf S. 39 heißt: Die Strukturformeln der Philosophischen Anthropologie „dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen." 216 Vgl. zu dem heute häufigen Okkasionalismus zwischen dem Vokabular der Kausalität und dem der Kontingenz, als wäre die geschichtliche Legitimität der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat nicht gerade das Problem, R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., S. 40 f., 59 ff., 79, 93 f., 203 f., 303 f.

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gegenwärtige Diskussion ein. Das Thema des eigenen Körpers wird in der Philosophischen Anthropologie methodisch gesehen in einem ihr eigenen Wechsel entfaltet 217 , den man ein quasitranszendentales Verfahren nennen kann. Der schrittweise Wechsel führt von der Anschauung eines Phänomens in der äußeren Wahrnehmung (keine sog. innere Selbstwahrnehmung) zunächst zu einer Beschreibung dieser Phänomenanschauung, hier also vom Ausgang her des Körperleibes. Von der Beschreibung geht es zu der begrifflichen Rekonstruktion des in der Anschauung von uns für sie bereits in Anspruch Genommenen, das sich anhand unserer Beschreibung heben lässt. Insofern sich dasjenige, das wir für die Phänomenanschauung in Anspruch genommen haben, rekonstruieren lässt, kann man es das Medium nennen, das in einem Spektrum das Phänomen ermöglicht und an den Grenzen seines Spektrums verunmöglicht.218 Dabei schließt Plessner jedes monistische oder dualistische Vorurteil von der Art aus, dass es ein einheitliches Medium „der Vermittlung alles und jedes Heterogenen" 219 geben müsste. Statt sich auf diese prinzipielle Selbstbestätigungssucht traditionell philosophischer Systeme einzulassen, beharrt Plessner auf der Fortsetzung des Verfahrens. Daraufhin lässt sich nämlich fragen, in welchem anderen Phänomen das begrifflich explizierte Medium des ersten Phänomens seinerseits zur Anschauung kommt. Dies ermöglicht den nächsten Schritt der Beschreibung einer zweiten Phänomenanschauung und der begrifflichen Rekonstruktion dessen, was man in der Anschauung des zweiten Phänomens implizit in Anspruch genommen hat und inzwischen begrifflich explizieren kann. Insgesamt ergibt sich so eine erstaunliche Tour d'horizon durch den pluralen Verschränkungszusammenhang von Phänomenen und Medien unserer condition humaine. Dieses Netzwerk von anschauungsbezogenen Perspektivenwechseln beugt sich keinem „Generalnenner" traditioneller Philosophie, weder einem monistischen noch dualistischen.220 Im Anschauen lernt man Verstehensmöglichkeiten und in der Rekonstruktion Erklärungsmöglichkeiten kennen.221 Der Wechsel entfaltet sich sukzessive zu „der Möglichkeit, den Menschen zu verstehen, und der Möglichkeit, ihn zu erklären": In ihm werden die für den Spielcharakter menschlicher Phänomene jeweils

217 Vgl. Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., S. 29 u. 152 f. 218 Vgl. zum Mediumbegriff H. Plessner, Stufen, a. a. O., S. 22,103 f., 334 f., 340 f. Vgl. H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., S. 193-200. 219 H. Plessner, Stufen, a. a. O., S. 151. 220 Vgl. ebd., S. 152. 221 Ich sehe hier aus Vereinfachung von dem Unterschied zwischen soziokulturell exzentrierender „Wahrnehmung" und individuell rezentrierender „Anschauung" ab, der sich aus der Personalisierung versus Individualisierung von Rollen ergibt und den herausgearbeitet hat Jan Beaufort, Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in „Die Stufen des Organischen und der Mensch", (Habil), Würzburg 1999, S. 19 f.

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nötigen Möglichkeiten aufdeckt, „ohne die Grenzen der Verständlichkeit mit den Grenzen der Erklärbarkeit zur Deckung bringen zu können" 222 . Diese Deckung im Ganzen würde dem geschichtlichen Spiel unseres Daseins ein Ende bereiten. Es geht in der Schrittfolge also weder um eine kausale Ableitung, obwohl erfahrungswissenschaftliche Erklärungsmöglichkeiten erschlossen werden, noch nur um transzendentale Rückschlüsse auf ein ursprüngliches Selbstverständnis, dessen Zirkel man nicht mehr entkäme. Vielmehr interessieren die für die Lebensführung des Common sense nötigen Möglichkeiten, Verstehen und Erklären aufeinander einzuspielen statt gegeneinander auszuspielen. Man könnte die geschichtliche Eingespieltheit beider aufeinander die soziokulturell anerkannte Wahrnehmungsweise von Personenrollen nennen, die implizit und explizit durch Illokutionen getätigt wird, im Unterschied zu Lokutionen und Perlokutionen (vgl. oben 1.2.1.). Die Frage nach der Veränderung der illokutionären Rollen führt dann in die geschichtlichen Grenzen der personalen Ermächtigungen hinein. 1.2.3. Die Unmittelbarkeit des Leibseins und die Mittelbarkeit des Körperhabens Der eigene Körper ist uns doppelt gegeben, woraus sich eine für uns konstitutive Ambivalenz ergibt: Einerseits ist der eigene Körper Leib und andererseits haben wir ihn wie andere Körper auch. Es ist zunächst die Unmittelbarkeit, in der uns dieser Körper vorkommt, die ihn so eigen macht. Wir können ihn unmittelbar empfinden, und wir können ihn unmittelbar bewegen. Nennen wir diese Eigenheit des eigenen Körpers, von uns unmittelbar empfunden und bewegt werden zu können, sie mache ihn zum Leibt. Im Unterschied zu anderen Körpern ist uns der eigene Körper als Leib unmittelbar gegeben. Demgegenüber sind uns andere Körper vermittelt durch Medien der Wahrnehmung und durch Medien der Interaktion zugänglich. Oder wir handhaben andere Körper im engeren Sinne vermittelt, eben durch Mittel. Wir erreichen andere Körper und kommen mit ihnen aus nicht unmittelbar, sondern mittelbar. Aber mittelbar gehen wir auch mit unserem eigenen Körper um. Insoweit ist auch er ein Körper. Aber was ihn durch die Mittelbarkeit des Zuganges zum Körper macht, zeichnet nicht seine Eigenheit aus. Der eigene Körper ist Leib, obgleich wir ihn auch als einen Körper haben können. „Die wahre Crux der Leiblichkeit ist ihre Verschränkung in den Körper" 223 , schreibt Plessner. Der eigene Körper geht weder darin auf, dass wir ihn ausschließlich wie andere Körper auch haben können, noch darin, dass er nur Leib ist. Er begegnet uns dazwischen, schon und noch immer Leib zu sein, wo wir ihn doch als Körper haben können. Diesseits von den Grenzen der totalen Entkörperung und der totalen Entleiblichung ein

222 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 231. 223 Ders., Anthropologie der Sinne (1970), in: GS III, S. 368.

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Leben zu führen, das heißt, im Spiel zwischen dem Leib und dem Körper die dem eigenen Körper angemessene Verschränkung beider auszubilden, wodurch sie sich gegenseitig begrenzen können. Wie äußert sich diese Ambivalenz des eigenen Körpers? Unser eigener Körper begegnet uns als Leib auf dreierlei Weise: a) Die Unmittelbarkeit des eigenen Körpers kann so groß sein, dass uns dieser Leib nicht weiter oder nur wie nebenbei auffällt. Es ziept mal in einem Gelenk oder mal in einem Muskel, und die Stimmungen wechseln tageweise, ohne dass es stören würde. D e r Leib ist uns darin zu nah, eben: eigen, um bemerkt werden zu müssen. Mag er uns auch je unvertraut gewesen sein, zumindest inzwischen ist er uns vertraut geworden. Wir haben uns an ihn, diesen Leib - warum auch nicht - gewöhnt. Man kann dies das Selbstverständliche daran nennen, dass wir schon immer und noch immer Leib sind. D e r Leib ist uns häufig zu selbstverständlich, als dass er der Aufmerkung oder gar der Rede bedürfte, was den Alltag ungemein erleichtert. Wir sind dann wohl mit ihm eingespielt. Er fällt unseren Aktivitäten hier gleichsam wie im Schlafe zu. Und ebenda, im Schlafe, verschwömmen wir mit ihm ganz, unterbräche er uns nicht im Träumen. b) Indessen macht es uns der Leib nicht immer so bequem, dass er einfach unbeachtet mitspielte. Zuweilen bedarf er der Aufmerksamkeit, um ihn willkürlich bewegen zu können. Dieser Treppenabsatz ζ. B. könnte für meinen nächsten Schritt zu groß sein, weshalb ich durch eine kurze Anspannung meines Leibes die Schrittlänge bewusst korrigieren muss. Die Unmittelbarkeit des eigenen Körpers kann sich auch darin äußern, dass er für uns willkürlich zu bewegen geht, ohne dazu besondere Mittel und Medien zu brauchen. E r hat darin sogar etwas Zauberhaftes, dass man ihn doch mühelos so bewegen kann, wie man es möchte, wenngleich nur in einem bestimmten Spielraum. Die Parapsychologie mag eine zweifelhafte Übertragung auf andere Körper sein, aber auf den Leib trifft sie zu. Gewiss ist das Geschicklichkeitsmaß, ihn mit Leichtigkeit bewegen zu können, von Individuum zu Individuum verschieden, auch von Lebensperiode zu Lebensperiode verschieden. Aber eben darin ist er uns je zu eigen. An den willkürlichen Leibbewegungen kann einem der oft fließende Übergang zur Verkörperung auffallen. J e schwerer einem nämlich die Auffassung von etwas durch die Sensorik oder die Ausführung der Motorik wird, desto mehr muss man mindestens das Bewusstsein und die anderen Organe instrumentieren oder medial gebrauchen, wenn nicht überhaupt Prothesen einschalten. Im Regelfall steckt hinter einer leiblichen Bewegung ihr früheres Erlernen als eine Verkörperung. Was mir Nichtsportier wie eine unmögliche Körperbewegung vorkommt, ist dem Leistungssportler längst zu einer durch jahrelanges Training vertrauten Leibbewegung geworden. Dazu gehört die Einspielung des „propriozeptiven Modalbezirkes", der im Unterschied zur Fremdwahrnehmung die Empfindungen des eigenen Körpers - von der Hautoberfläche bis zum Gleichgewichtssinn über den „Kraft- bzw. Muskelsinn" - nach

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dem „Körperschema" und dem „Mein- und Michton" 2 2 4 abgleicht, auf die unwillkürliche Funktionsweise des vegetativen Nervensystems. Es ist diese Einspielbarkeit, die in der folgenden Variante verloren geht. c) Schließlich kann sich der Leib uns direkt aufdrängen, ohne dass wir es gerade oder überhaupt wollten. Er ist nun weder der selbstverständliche Mitspieler noch derjenige Mitstreiter, der sich mit eingespielter Leichtigkeit unserem Wollen fügt. Vielmehr tut er sich jetzt für uns unwillkürlich auf und kund. Dabei kann man bekanntlich Glück oder auch Pech haben. Es kann in die Hose gehen, wortwörtlich oder im übertragenen Sinne. Er kann uns im Hunger und Durst, im Schmerz und in einer Krankheit okkupieren, ohne dass wir ihm entfliehen könnten, obwohl wir es doch wollten. Er kann uns aber auch in einer Freude und in einem Glücksgefühl mitreißen, ohne dass wir uns diesem zu entziehen vermöchten und obgleich es gerade situativ fehl am Platze sein mag. Aus dem weitgehend stillen Mitspieler und aus dem eher passiven Mitstreiter ist so ein aktiver Spieler geworden, der sich womöglich zum Gegenspieler mausert und an dem unser Schicksal gar hängen könnte. Das unmittelbar Eigene fällt einem so zwar noch immer zu, ist aber nun nicht mehr ohne weiteres wie in einer willkürlichen Bewegung zu haben. Das Eigene, an dem ich doch hänge, von dem mein ganzes Leben abhängt, entzieht sich jetzt meiner Verfügbarkeit. Wenn jetzt und hier überhaupt etwas hilft, dann braucht es den Umweg über die Aneignung von etwas Anderem. Derjenige Leib, der etwa nur noch in einem schier unendlichen Schmerz der Bauchgegend zu bestehen scheint, verlangt nach einer Erlösung, und sei es die Verkörperung durch einen Chirurgenschnitt. Oder auch diejenige unbedingte Leidenschaft der Liebe, die in unbedingten Hass umgeschlagen ist, braucht ein Gegengewicht an Verkörperung zum Aufruhr des Leibes, soll dieses Unbedingte nicht töten. Die Unmittelbarkeit des Leibes kann uns verschlingen, wenn sie für uns unbedingt wird, d. h. durch keine gegensinnige Verkörperung mehr bedingt werden kann. Im Unterschied zum Leibcharakter des eigenen Körpers ist uns das Körperliche am eigenen Körper nicht unmittelbar gegeben, sondern als Vermittlung aufgegeben. Um des Leibes da habhaft werden zu können, wo er unbedingt zu einer Not wird, wo er also kurz gesagt ins Kategorische überschießt, spätestens da lassen wir uns auf seine Verkörperung ein. Das Uberborden des Leiblichen ins Unbedingte, ins Unbestimmte oder ins Unendliche soll nun durch Verkörperung bestimmt, bedingt und verendlicht werden. Indem wir den Leib so wie einen Körper haben könnten, hätten wir den Leib für uns begrenzt. Er würde so wieder lebbar, könnte erneut mit uns sein. Wir fielen der Unbedingtheit seiner Not nicht mehr zum Opfer. Statt vor unerfüllter Liebe rasend zu werden, könnte man wieder schlafen. Der Leib mag uns heftig mitgespielt haben, aber dann wollen auch wir wieder mit ihm spielen können.

2 2 4 Vgl. ebd., S. 3 6 7 - 3 7 0 .

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Könnte er doch nur erneut zum eingespielten Mitspieler werden, sagt man sich ins Puckern des Zahnschmerzes hinein. Der Leib begegnet insofern als Körper, als wir ihn anderen Körpern vergleichbar durch Medien wahrnehmen und durch Mittel handhaben können. Wir verhalten uns jetzt nicht mehr spontan oder unmittelbar, da uns eben dies problematisch geworden ist. Vielmehr versuchen wir, die Verhaltensnot in einer Folge von bewussten Handlungen an Mitteln und Medien zu rekonstruieren. Wir setzen Überlegung und Selbstbeobachtung ein, etwa gegenüber den Symptomen, die wir im Spiegel sehen und gegenüber der Hitze, die wir empfinden. Dank Medien wie Fieberthermometer, Ultraschall und Röntgen, E E G und E K G werden wir schon herausfinden, was uns fehlt. Man konsultiert Verwandte, Bekannte, Experten, ob sie Vergleichbares schon mal erlebt haben und Abhilfe kennen. Das „Pragma", der uns nötige Handlungsaufbau, so Plessner, „wurzelt" in der „Gebrochenheit von Leib und Körper", genauer: in dem „Missverhältnis" 225 zwischen beiden. Darin besteht überhaupt Plessners Begriff vom menschlichen Verhalten. Es geht ihm nicht um Behaviorismus, sondern um die Verhältnismäßigkeit zwischen Leib und Körper. Man versucht etwa, dem gleichsam zerfließenden Leib Form und Statur zu geben, damit man wieder ins Gleichgewicht kommt. Der Unmittelbarkeit wirkt man durch Mittelbarkeit entgegen, der Direktheit durch Indirektheit, der Spontaneität durch Reflexion. Es wäre ja gelacht, wenn wir dem ausufernden Leib nicht Paroli bieten und ihn durch Verkörperung wieder ausbalancieren könnten! Es lohnt, einen Augenblick innezuhalten, um das Umschalten von der Unmittelbarkeit des Leibes auf die Mittelbarkeit des Körpers näher zu fassen. Wie finde ich denn heraus, welche Verkörperungsart auf mein überbordendes Leibesproblem passen könnte? - Es geht jetzt nicht mehr um das alltägliche Umschalten, sondern um eine echte Leibesnot, die einer besonderen Verkörperung bedürftig ist, wozu ich besondere Mittel und Medien brauche. Was passiert also sprachpragmatisch gesehen, wenn wir unser außeralltägliches Leibesproblem durch eine Verkörperung lösen wollen, also in die gesellschaftliche Kommunikation gehen? 1.2.4. Die sprachpragmatische Fassung des Problems der Performativität im Kategorischen Konjunktiv Man wünscht sich eine Lösung und sucht nach einer Hypothese, wie die Lösung zu bewerkstelligen sei. Hier wird, von der Sprachform her gesehen, der Konjunktiv unvermeidlich. Gewiss, es ist nicht der Konjunktiv aus Überdruss, sondern der aus Not, in welchen man da gerät und der sich ζ. B. auf Englisch im Konditional II präzisieren lässt, um wirkliche Abhilfe bedeuten zu können. Gesetzt, es handelte sich um

225 Ebd., S. 370 u. 382.

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dieses, dann müsste, sollte man jenes tun. Warum dieser Sprung in der Sprachform? Hat sich mein Leib erst einmal zu einer mir unbedingten Not ausgewachsen, muss etwas geschehen. Es steht etwas Kategorisches auf dem Spiele, und zwar hier und jetzt. Ich kann etwa bei diesen Schmerzen in der Bauchgegend nicht beliebig lange warten. Aber wie ich mich hier und jetzt zu verhalten habe, ist mir zunächst unklar. Es muss keine Blinddarmentzündung sein, sondern könnte etwas anderes sein, eine psychosomatische Störung. Der Imperativ, dass etwas geschehen muss, ist inhaltlich noch unbestimmt. Das Kategorische des Leibes hat mich in diejenige Frage gestellt, die sich nicht mehr vermeiden lässt. Solange ich alltäglich in und mit dem Leib auskam, konnte ich fragen, aber ich musste nicht fragen. Unsere Eingespieltheit lief implizit mit und bedurfte höchstens der bewussten Aufmerkung. Jetzt muss ich fragen, und zwar explizit, weil ich auf diese außergewöhnliche Situation implizit keine Antwort kenne. Aber womöglich kann ich selber schon nicht mehr fragen, etwa wegen eines Unfalles oder aus anderer Handlungsohnmacht. Die Frage wäre dann an andere gerichtet, denen mein leiblicher Ausdruck einen hilfsbedürftigen Eindruck macht. Oder ich kann in dem Sinne nicht fragen, als mir keinerlei Antwort vorschwebt. Ich müsste wenigstens hypothetisch eine Ahnung davon haben, was man in dieser Lage tun könnte: Gesetzt, es gäbe die und die Situation, solltest Du das und das tun, um die Not so und so wenden zu können. Dieser Konjunktiv gilt intuitiv im Gemeinsinn auch für die anderen Hilfeleistenden, die in ähnlicher Lage selber Hilfsbedürftige wären. Man erfährt unbewusst oder ungewollt Aufmerksamkeit. Oder man holt sich expressis verbis Rat und Tat bei Freunden und Bekannten, bei denen, welche die Situation hergibt, etwa bei Passanten. Man sucht gezielt ähnlich betroffene Laien oder dafür wohl ausgewiesene Experten. Die sprachliche Kommunikation mobilisiert, was die Soziokultur an verkörperbaren Antworten auf Leibesnöte verfügbar hält. Die als kategorisch erfahrene Frage der Leibesnot erfordert den Durchlauf durch den soziokulturell aufgehäuften Konjunktiv: Was kann und sollte man in welchem Falle tun? Man versucht, zu übersetzen: Welcher sprachlich akkumulierte Konjunktiv der soziokulturellen Urteilskraft passt auf das individuell als kategorisch Erfahrene? Wie können die soziokulturellen Möglichkeiten, Leibesprobleme durch Verkörperung mindestens zu lindern, der vorliegenden Leibesnot angemessen werden? Dies ist der Menschen eigentümliche Umweg, die Performativität ihrer KörperLeib-Differenz sprachpragmatisch in den Kontext an soziokulturellen Vermittlungen zu stellen. Plessner nennt ihn kurz den Kategorischen Konjunktiv. „Die Position des Menschen lässt sich durch Personalpronomina deklinieren, die, wie unschwer einzusehen ist, ein doppeltes Verständnis des Wortes Ich möglich machen. Ich kann mich zu anderen in ein konstantes Gegenüber bringen, in dem mir eine ausgezeichnete Stelle reserviert bleibt, die eben nur durch mich hic et nunc ausgefüllt wird. Insofern sind ,Ich' und ,Hier' äquivalent. Ich bezeichnet den Ort, von dem meine

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Impulse ausgehen und auf den hin alle Perspektiven konvergieren. Dieser abstrakte Tatbestand kommt dem Menschen ... konkret aber durch die eigene leibhafte Existenz zum Bewusstsein, . . . . Mein Leib steht für Ich, das ich auf eine menschliche, eine unvertretbare Weise bin und das mir eine einzigartige Position verschafft. Daß sich aber diese Position als einzigartig darstellen kann, hebt sich offenbar von einem Hintergrund der Vertretbarkeit durch einen jeden, der in der nämlichen Position ist, ab." So schließt Plessner: „Einzigartigkeit artikuliert sich nur vor einem Hintergrund, der sie nicht kennt. Individuelle und generelle Subjektivität implizieren einander. Als Individuum unersetzbar, steht jeder Mensch in seiner möglichen Ersetzbarkeit. E r könnte, aber er kann nicht." 2 2 6 Natürlich gibt es Situationen, in denen ich lieber ersetzt und vertreten werden möchte, als auf meiner Unersetzlichkeit und Unvertretbarkeit zu bestehen. Es stört mich nicht, wenn das Antibiotikum anschlägt und mich darin ersetzt, als der Wirt eines Bakteriums zu fungieren. Ich habe nicht den Ehrgeiz, dass an mir ein neues Bakterium entdeckt wird, das man noch nicht behandeln kann, wenngleich ich so zu einer Fußnote in der Medizingeschichte werden könnte. Insofern haben erfahrungswissenschaftliche Technologien, die Körperaspekte von uns ersetzbar und vertretbar werden lassen, eine eminent lebenspraktische Bedeutung, deren kultureller Sinn eben in der wahrscheinlichen Reproduzierbarkeit von Körpern unter bestimmten Bedingungen besteht. Dies trifft auch auf soziokulturelle Verkörperungen zu, diese oder jene Rolle zu spielen. Ich kann in unserem kulturellen Selbstverständnis leiblich hochmotiviert sein, meine Rolle etwa als Vater, Lehrer oder Staatsbürger tatsächlich individuell auszuüben. Aber diese individuelle Variation solcher Rollen sollte nach unserem geschichtlich vorherrschenden Selbstverständnis nicht dem M o t t o folgen: Nach mir die Sintflut. Wir erwarten gegenüber missverstandener Eigenliebe eine verantwortliche Haltung zu Kindern, Schülern, Studenten, Mitbürgern. Die Rolle verlangt ein kulturhistorisches Maß an Verschränkung zwischen dem leiblich unvertretbaren Ich und dem körperlich vertretbaren Ich. Schließlich verschiebt sich das Verschränkungsmaß für Leibsein und Körperhaben nochmals, wenn wir als Beispiel eine durchaus leidenschaftliche Liebesbeziehung nehmen. Wer würde hier, in diesem Kontext, nicht auf unvergleichliche, insofern jedes soziokulturelle Körpermaß erübrigende Leiblichkeit, eben auf inter- und innerleibliche Aktion, auf Verschmelzung und dergleichen mehr sinnen? Indessen möchte auch dieses Aufeinander- und Ineinanderschlagen der Leiber die beteiligten Körper überdauern lassen! Es wird selbst hier, im Kontext der Intimität, in dem Leiblichkeit vorherrscht, nicht ohne die erotische Verschränkung der Leiber in ihre je passende Körpergestalt und Körperbewegung gehen. Dabei sehe ich noch ab von den mög-

226 Ders., Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: GS VIII, S. 3 3 8 - 3 4 0 .

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liehen körperlichen Folgen der Interaktion und ihren Aussichten auf eine vernünftige Ehe, auch davon, dass womöglich die beiden Liebenden die Technik der Tarnkappen gegenüber dem genarrten Dritten anwenden. Selbst hier, in diesem Kontext, braucht man das Spiel der Erotik, will man auf menschenwürdige Weise dem Umstand Rechnung tragen, dass jeder beteiligte Leib sich in der Interaktion verkörpern können muss (vgl. 3. Kap.). Wenn man sich fragt, woher im allgemeinen die Proportionen kommen, in denen man Leib und Körper verschränken sollte, dann lautet die Antwort der Philosophischen Anthropologie: Diese Proportionen werden in der Gestalt soziokultureller Rollen tradiert. Man versteht diesen Ansatz des Rollenspieles am besten, wenn man ihn als die Ausführung der sprachpragmatischen Fassung des Kategorischen K o n junktivs begreift. Es mag bislang phänomenologisch auf den ersten Blick plausibel gewesen sein, die „menschliche Situation in ihrem leibhaften Dasein" durch den Ausdruck zu charakterisieren: ,„Ich bin, aber ich habe mich nicht.'" 2 2 7 Aber in der D o p peldeutigkeit, das Personalpronomen der ersten Person zu gebrauchen, kam in der gesellschaftlichen Kommunikation ein Umweg zum Vorschein, den es rollentheoretisch einzuholen gilt, bis man sagen kann: „Daß ein jeder ist, aber sich nicht hat; genauer gesagt, sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand h a t " . 2 2 8 1.2.5. Das Schauspiel der Personalisierung versus Individualisierung und seine Grenzen am ungespielten Lachen und Weinen Rollen sind gemeinschaftlich gültige Verschränkungsmuster, die wir erlernen, indem wir in und mit ihnen spielen. Es bleibt uns zunächst nichts anderes übrig, als in die Elementarrolle hineinzuwachsen, welche die Gemeinschaft, in die wir hineingeboren werden, für uns bereit hält. Diese Gemeinschaft verleiht uns einen Eigennamen und einen bestimmten Status, bewertet unsere Aktivitäten affektiv und rational, bestärkt uns in diesem und weist jenes zurück. Im Nachhinein kann uns die Elementarrolle als nicht minder zugefallen als der Körperleib, die andere Mitgift, erscheinen. Gleichwohl verdanken wir der Rolle in der Regel eine elementare oder primäre Enkulturation und Sozialisation, ohne die es Individualisierung und auch spätere Rollenwechsel nicht gäbe. Elementar an der Rolle sind ihr Habitus und ihre Sprache. Sowohl im Habitus als auch in der Sprache verschränken wir Leib und Körper. D e r Leib drückt sich in Bewegungen aus, die aus dem Körperleib hinaus ins Umfeld führen. Körperliches Erleben erfolgt in umgekehrter Richtung, in Bewegungen, die sich aus dem Umfeld in den Körperleib hinein richten. D e r Habitus fällt auf durch die mimisch-gestische

227 Ders., Elemente menschlichen Verhaltens (1961), in: GS VIII, S. 190. 228 Ebd., S. 195.

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Verschränkung beider Bewegungsrichtungen nach dem Schaubild der Rolle. Er wird erlernt in dem Blick, der dem Blick des Anderen begegnet. „Der Andere sieht nicht nur aus, sondern - mich an und steht damit in der Position des Vis-ä-vis als derjenige, mit dem ich den Platz tauschen kann. ... Indem die Durchlässigkeit des erblickten Blicks mein Blicken an seine Augen fixiert, ist mir zugleich die Symmetrieebene gesichert, um die mein mir selbst nicht sichtbares Gesicht sich ordnet. Am ,Leitfaden' des begegnenden Blicks kann daher die Entdeckung der Reziprozität des Körperschemas erfolgen, dessen Ausbildung mit der Ausbildung und Beherrschung der Motorik vermutlich gleichen Schritt hält." 229 Indessen reicht die bloße Aktualisierung körperleiblicher Positionsveränderungen, auch wenn sie wechselseitig wahrgenommen wird, nicht aus, um einen Zugang zur Auffassung von Positionsveränderungen schon im Lichte ihrer perspektivischen Möglichkeiten zu gewinnen. Die Aktualisierung körperleiblicher Positionierungen wird erst an deren sprachlich perspektivischer Virtualisierung beurteilbar. Man kann sich das, was Austin den lebendigen Vollzug nannte (vgl. 1.1.9.), in der äußeren Wahrnehmung als die Performance (im Sinne von Aufführung, nicht im Unterschied zur Kompetenz) der habituellen Verschränkung körperleiblicher Bewegungsrichtungen vorstellen. Aber die Wahrnehmung von deren Aktualisierung hier und jetzt erfolgt im Kontrast zu anderen, perspektivisch möglichen Aktualisierungen des Habitus. Daher ging auch Austin der Ausdifferenzierung des Performativen (als lebendiger Vollzug) in implizit und explizit illokutionäre Äußerungen der Sprache nach, die sich wiederum von Lokutionen und Perlokutionen unterscheiden lassen. Die Rollensprache verknüpft im Ausdruck einen bestimmten Dialekt mit bestimmten Rastern der Wahrnehmung und Auffassung von etwas. Zwischen Habitus und Rollensprache steht bei Plessner die Metapher, die Gestik in Aussagesprache oder umgekehrt Aussagesprache in Gestik zu übersetzen ermöglicht. „Die Metapher selbst ist ihre spezifische Leistung: Sprache überträgt, schiebt sich an Stelle von etwas, ist das repräsentierende Zwischenmedium in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt. Dem Menschen wächst in ihr ein virtuelles Organ zu, dessen Gebrauch den Gebrauch der physischen Organe zwar nicht entbehrlich macht, aber entlastet." 230 Die persona, die Maske, ist bekanntlich in unserem westlichen Kulturkreis der metaphorische Ausgangspunkt, der an den wechselseitigen Blickkontakt anknüpft und von dem her Personenrollen und die Rechtsinstitution der Person ausdifferenziert werden. Die persona hat, als anthropologisches Elementarphänomen der Maske, in allen Kulturen ihre Entsprechungen. Die Scham davor, das eigene Gesicht zu verlieren, was man im Herunterreißen von Rollenmasken wortwörtlich erfahren kann, ist nicht nur in asiatischen Kulturen sprichwörtlich.

229 Ders., Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), in: GS VII, S. 394 f. 230 Ders., Die Frage nach der Conditio humana (1961), in: GS VIII, S. 177.

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Durch Habitus und Rollensprache haben wir das strukturelle Minimum einer Elementarrolle vergegenwärtigt. Beide Strukturaspekte können so vorgestellt werden, als fungierten sie durch Blickkontakt und metaphorischen Sprachgebrauch aufeinander zugeordnet. Aber für Plessners Gesamtkonzeption ist weniger eine Rollenauffassung überhaupt als vielmehr eine bestimmte Spielkonzeption charakteristisch, die häufig Missverständnissen ausgesetzt war. Der Spielbegriff ist umgangssprachlich oft auf den Gegensatz zu Arbeit und zu Ernst festgelegt. Demgegenüber hält Plessner seine Anthropologie frei von einer christlichen, insbesondere von einer protestantischen Interpretation des menschlichen Daseins, deren ernsthafte Innerlichkeit in der Existenzphilosophie vor allem Heideggers kultiviert wurde, der den zahlreichen Reformationsversuchen eine besondere Art von Konversion hinzufügte. „Der Theomorphie des Menschen im Sinne Schelers entspricht die Ontomorphie in Heideggers Sinn." 231 Natürlich besteht darin, die Innerlichkeit besonders ernst zu nehmen, eine gemeinschaftsmögliche Auslegung unserer condition humaine. Diese Auslegungsmöglichkeit hat aus einsehbaren Gründen in der deutschen Geschichte bis in die Formen der „Weltfrömmigkeit" hinein eine besondere Wirksamkeit entfalten können. Dies hat Plessner 1935 in der ersten Fassung seines Buchs Die verspätete Nation gezeigt.232 Eine Philosophische Anthropologie kann aber nicht die geschichtlichen Besonderheiten einer bestimmten Mentalität zum Maßstab für alle Menschen erklären, sondern muss die Vergleichsmöglichkeit inmitten einer pluralen Gesellschaft eröffnen. Das „eigentliche Problem" bestand demnach darin, „ob nämlich .Existenz' von ,Leben' nicht nur abhebbar, sondern abtrennbar sei und inwieweit Leben Existenz fundiere." 233 In der Philosophischen Anthropologie beruht das lebendige Verhalten von Menschen elementar auf einem Spielen in und mit der Körper-Leib-Differenz, die „am Bilde des Schauspielers" 234 positiv zum Spiel im Spiel entfaltet und gleichzeitig negativ vom ungespielten Weinen und ungespielten Lachen her begrenzt wird. In dieser gleichzeitigen Entfaltung und Begrenzung des Spielansatzes besteht die originäre und bisher nicht wieder erreichte Leistung der Philosophischen Anthropologie Plessners. Es ist das Spielen in und das Schauspielen mit der Elementarrolle, das uns zu unserem eigenen Doppelgänger macht. Phänomenal ist dieses Schauspielen in der Ausbalancierung beider Aktivitätsrichtungen nach außen und innen als Performance zugänglich. Die spielerischen Verschränkungsmöglichkeiten von Leib und Körper haben aber in allen Kulturen Grenzen, die spätestens am ungespielten Lachen und am ungespielten Weinen für jeden deutlich wahrnehmbar hervortreten. Um diesen

231 232 233 234

Ders., Stufen, Vorw. zur 2. Aufl., a. a. O., S. XI. Vgl. ders., Die verspätete Nation, a. a. O., S. 65 ff. Ders., Stufen, Vorw. zur 2. Aufl., a. a. O., S. XIII. Ders., Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), in: GS X, Frankfurt/M. 1985, S. 232.

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verhaltenskritischen Übergang von gespielten zu ungespielten Formen des Lachens und Weinens geht es in Plessners Buch Lachen und Weinen (1941). 235 Was heißt nun aber im elementarsten Sinne eine Rolle spielen? - Die soziokulturelle Elementarrolle hatten wir bisher als ein habituelles Schaubild für körperleibliche Bewegungen und als eine Sprache verstanden, in der der Ausdruck des leiblichen Ichs und das Erleben des zu verkörpernden Ichs in der Rollenperspektive verknüpft werden. Zwischen dem Habitus an körperleiblichen Bewegungsmöglichkeiten und der Rollensprache an Möglichkeiten einer perspektivischen Verknüpfung setzen Blickkontakt und Metaphern über. Offenbar kann man in einer derartigen Rolle nur insofern spielen, als man sich mit ihr identifiziert. Demgegenüber kann man insofern mit der Rolle spielen, als man sich von ihr distanziert. In dieser Doppelung zwischen der Identifikation mit der Rolle und der Distanz zur Rolle besteht gerade die elementarste Form des Rollenspielens. Dadurch kann man in der Rolle, also ernsthaft, und mit ihr, also frei vom Ernst der Rolle, spielen. Insoweit scheint das Spielen darin zu bestehen, dass man sich gegenseitig die zur Identifikation mit der Rolle gegenläufige Distanznahme von ihr einräumt. Dies ist aber nur teilweise der Fall, und diesen Teil kann man den Spielraum der Rolle nennen. Man darf die Rolle in individueller Variation der soziokulturellen Erwartungen anderer an die Rolle spielen. Ansonsten gilt aber eine Asymmetrie zugunsten der Identifikation mit der Rolle gegenüber der Distanzierung von ihr. Anderenfalls, also ohne diesen Primat des Rollenernstes, hätte die Rolle keine gemeinschaftliche Geltung, wäre der Rollenspieler mindestens Spielverderber, wenn nicht Schlimmeres. „Als seine Möglichkeit gibt er (der Mensch: HPK) sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, das keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverhältnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur." 236 Wie kann man dann aber, wenn dieser Primat gemeinschaftlich geteilt wird, überhaupt noch spielen, statt in dem Rollenernst vollends zu versinken, womit das Rollenspiel ganz aufhörte? - Nun, indem man die Ambivalenzen, die die metaphorische Ubersetzung im gegenseitigen Blickkontakt zwischen Habitus und Rollensprache bietet, ausspielt. In der Rollensprache kann man den Konjunktiv intonieren, selbst wenn man im Imperativ und im Indikativ zu sprechen hat, und im Blickkontakt der Aufführung kann man das habituelle Schaubild der Rolle als Maske instrumentieren, und sei es durch ein Zwinkern. Das anthropologische Minimum, das auf diesen Wegen als Rollenspiel erhalten bleibt, ist die Differenz zwischen privater und öffentlicher Person.

235 Vgl. ders., Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: GS VII. 236 Ders., Soziale Rolle und menschliche Natur, a. a. O., S. 240.

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Die öffentlich-private Verdoppelung der Person nach außen ermöglicht ihre Selbstunterscheidung nach innen. Dem Bedürfnis, der Leibesnot Herr zu werden, kommt die öffentliche Verkörperung entgegen. Aber keine öffentliche Verkörperung befreit einen ganz und ein für allemal von seinem Leib. Die Identifikation mit der Rolle mag einen ersten Maßstab für die Unterscheidung zwischen Körper und Leib am eigenen Körper geliefert haben. Die Rolle ist lebensgeschichtlich die erste „exzentrische Position", die wir ausbilden, d. h. eine Position außerhalb des Zentrums unseres Organismus, von der her wir uns als Körper und Leib zu unterscheiden lernen. 2 3 7 Aber der Rollenmaßstab ist der eines gemeinschaftlich verallgemeinerten Ichs, das nicht auf mein leibliches Ich zutreffen muss, nur zutreffen kann. Hier, in der Verdoppelung der Person nach außen in eine öffentliche und private Person hinein, setzt die Individualisierung nach innen an den Abweichungen vom Rollenmaßstab an. Als solche Abweichungen können vom eigenen Körper her ζ. B. Süchte und Leidenschaften thematisiert werden. 2 3 8 Im Maße der Individualisierung der Person wird auch gelacht und geweint, und zwar nicht mehr nur mimisch eingeboren oder mit der Rolle erlernt, sondern von sich aus, d. h. von mir als dem Rollenspieler im Unterschied zu mir als dem Rollenträger aus gelacht und geweint. Man lacht zunächst im Genuss der Mehrsinnigkeit des Rollenspiels und weint im Verlust der für das Rollenspiel nötigen Verhältnismäßigkeit zwischen Leib und Körper. Aber nun kann auch das Spielmoment des Wechsels zwischen Identifikation und Distanznahme gegen den Primat des Rollenernstes freigesetzt werden, was Plessner den Ubergang vom Rollenspiel zum Schauspiel der Rolle nennt. Hier findet eine außeralltägliche Verkehrung der genannten Asymmetrie des Alltags statt. Die Identifikation mit dem Primat des Rollenernstes wird im Schau-Spiel nurmehr gespielt, da sich der individualisierte Rollenspieler längst vom Rollenträger emanzipiert hat. Es ist jetzt nicht mehr eine Person, die sich privat und öffentlich verdoppelt, sondern eine in sich differente Person spielt eine andere in sich differente Person. Der eine Doppelgänger führt den anderen Doppelgänger auf, was Schauspiel bedeutet. Aus dem Spielen in der Rolle ist nun wirklich ein Spielen mit ihr geworden. Die Person interagiert sozusagen mit ihrer Verdoppelung nach außen, wodurch sie nach innen, wie Plessner schreibt, die „Wirform des eigenen Ichs" 2 3 9 annehmen kann. Mit dem Spielen des Spiels, mit dem Schau-Spielen eben, entsteht kulturell das Potential zum Wechsel und zur Änderung der tradierten Rollen. Wir kommen so von der statischen in die dynamische Fassung des Spielens hinein. „Die Verschränkung von Leib in Körper, von Körper-Sein und Körper-Haben, mit der wir Menschen

237 Vgl. ders., Stufen, a. a. O., S. 292 f. 238 Vgl. Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., S. 164-181. 239 Ders., Stufen, a. a. O., S. 303.

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fertig werden müssen, wenn uns das Leben hier und jetzt gelingen soll, mit der wir ständig befasst sind, die uns festhält, führt uns der Schauspieler vor. Der ganze Mensch wird zur Figur. Sein Rollenspiel, zu dem ihn die Gesellschaft zwingt, wird, auf Augenmaß gebracht, zu einem Beispiel." 2 4 0 Der exemplarische Charakter des Schauspielansatzes bedeutet mithin nicht, das menschliche Dasein im Ganzen dem Modell professionalisierter Schauspielerei zu unterwerfen. In dieser Unterwerfung käme, im Vergleich mit den Modellen der Wissenschaftler-, Literaten- oder Philosophengemeinschaften in anderen Philosophien, nur auf andere Weise die Illusion zum Ausdruck, man könne sich zum Herrn dieses Daseins nach dem Muster einer Expertenkultur aufschwingen, nun nach dem Paradigma der Theaterleute, ohne nach der Säkularisierung die Pflicht zur Wahrnehmung von Macht legitimieren und das Wagnis des offenen Ausganges lebendiger Geschichte eingehen zu müssen. Plessner gilt der Schauspielansatz nicht als Politik- und Geschichts-Ersatz, sondern als die Ausdifferenzierung der elementaren Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Person in den dynamischeren Unterschied zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem hinein, der Geschichtlichkeit und Politisches ermöglicht. „Als das Verhältnis seiner selbst zu sich selbst ist er (der Darsteller: H P K ) die Person seiner Rolle, für sich und für den Zuschauer. In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Menschen zu sich und zueinander, die ihr tägliches Leben durchdringt, eine Abständigkeit allerdings, die - verführt sie auch zum Spiel und behält sie auch latent Spielcharakter - die Basis seines Ernstes bildet. Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolle-verpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, es kennt nur Mit-Spieler, d. h. MitMenschen, und die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt, die Welt als Szene sehen." 2 4 1 Wir sehen inzwischen, im Rückblick auf den Anfang dieses Unterkapitels (und 1.1.), dass der Philosophischen Anthropologie durch den Ansatz des Spieles im Spiel die Herstellung eines Zusammenhanges gelingt, die Austin wegen seiner Abwehr des Schauspielansatzes misslingt. Austin hatte Schwierigkeiten, das Performative als das Lebendige und als die expliziten Illokutionen in einen geschichtlichen Zusammenhang der Veränderung zu bringen, der Lokutionen und Perlokutionen einschließt. Demgegenüber deckt in der Philosophischen Anthropologie das begrenzte Rollenspiel (als Zusammenspiel von Habitus und Rollensprache) - über das Spielen in gemeinschaftsbestimmten Rollen bis zum Schauspielen mit diesen Rollen - die Dynamisierung der Kontexte auf, in denen personalisiert (Illokutionen) und individualisiert

240 Ders., Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 391. 241 Ders., Zur Anthropologie des Schauspielers, a. a. O., S. 411.

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(Perlokutionen) wird, im Extremfall des Kampfes etwa mit anderen Gemeinwesen auch die Freigabe der Lokutionen von illokutionären und perlokutionären Begrenzungen erfolgen und anerkannt werden muss. Umgekehrt kann nun natürlich auch die Philosophische Anthropologie aus Austins Unterscheidungen im Performativen Gewinn ziehen, indem sie mit diesen sprachpragmatisch arbeitet, also ihre Fassung des Kategorischen Konjunktivs besser durchführen kann. 1.2.6. Die politisch-geschichtliche Aufgabe der Herausbildung souveräner Machtformen im Zeichen der Unergründlichkeit des Menschen Es wird längst absehbar, wohin in Plessners Philosophischer Anthropologie die Reise geht, nun nämlich von der Schauspielfassung der Performativität in den machtphilosophischen Zusammenhang zwischen Geschichtlichem und Politischem. Die Entfaltung der Spielmöglichkeit zwischen zwei Bindungen ist die Lösungsform für das Problem, das wir in und mit unserem eigenen Körper haben, nämlich zwischen Leib und Körper hier und jetzt eine Verschränkung zu finden. Die GemeinschaftsroWe, in die wir hineinwachsen, ist die erste und soziokulturell elementare Antwort auf diese Verschränkungsfrage. Sie muss aber in ihrer affektiven oder rationalen Bestimmtheit lebensgeschichtlich nicht die letzte Antwort auf diese Frage sein. Die Pluralisierung der Interaktionsformen von Doppelgängern in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit korrespondiert mit dem Individualisierungsproblem der erlernten Elementarrolle. „Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spieles." 242 Plessner hat schon in seinem Buch Grenzen der Gemeinschaft von 1924 wie kein anderer diese beiden Grenzen der Vergemeinschaftung von Personen aufgezeigt, eben an der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und an der Individualisierung von Personen.243 Die identitäre Auflösung der Differenz zwischen öffentlicher und privater Person in der „Feststellung" (F. Nietzsche) des menschlichen Wesens zum (vermeintlich durch Instinkte festgelegten) Tier verunmö$ichx das elementarste Spiel und ermöglicht dadurch Unmenschliches. Gleichwohl ist Plessners Philosophische Anthropologie nicht dem umgekehrten Fehlschluss erlegen, die Bindung an gemeinschaftsbestimmte Rollen überhaupt aufzugeben und zur bloßen Feier der Bindungslosigkeit überzugehen. Das Spielen enthält den Wechsel „zwischen Binden und Gebundensein": Im Primat einer Bindungsart (alltäglichen oder außeralltäglichen) wird ausgezeichnet, was als „Wirklichkeit" im Unterschied zum „Schein" gilt. 244 Ohne gemeinschaftlich affektive oder gemeinschaftlich rationale Bindung gäbe es keine Spielmöglichkeit, d. h. keine Möglichkeit, zwischen Bindungen und damit auch zwischen Wirklichkeit und Schein wechseln zu

242 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 94. 243 Vgl. ebd., S. 48, 5 3 - 5 6 . 244 H . Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 289.

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können. Ohne gemeinschaftsbestimmte Bindungen gäbe es auch kein Schauspiel, d. h. keine Darstellung, wie man zwischen Bindungen spielt, den Schein der Wirklichkeit und eine andere Wirklichkeit im Schein erspielt. Plessners Spielkonzeption ist kein Plädoyer für Spielerchen, hat nichts mit der heute sogenannten Erlebnisgesellschaft zu tun, gehört nicht jener Postmoderne an, die schon J.-F. Lyotard für erschlafft hielt. Plessners Philosophische Anthropologie ist auch keine „Verhaltenslehre der Kälte" gegen Blochs „Wärmestrom" an Gemeinschaftlichkeit, wie Helmuth Lethen meint. 245 Für das menschliche Dasein konstitutive Ambivalenzen kann man überhaupt nicht dualistisch aushebeln. Es gibt für sie keine Tabula rasa. Es gibt keine totale Entkörperung oder totale Entleiblichung, ohne dass unser Leben Schaden nähme. Die Möglichkeit dieses Schadens wird im Spiel des Lachens und des Weinens angezeigt, während sie im ungespielten Lachen und Weinen schon Wirklichkeit wird. Lach- und Weinkulturen sind wie eine Prävention vor diesem Umschlag, der im Moment der Bindungslosigkeit zwischen den Bindungen lauert. Peter L. Berger hat überhaupt nicht Plessners Zusammenhang zwischen der Spielkonzeption und der Auffassung verschiedener Arten zu weinen und zu lachen erkannt. 246 Die Aufgabe, gemeinschaftlich vertraute und gesellschaftlich unvertraute Interaktionsformen so auszubalancieren, dass Individualisierung befördert werden kann, entsteht erst, wenn man sich von dem alten Dualismus, entweder Gemeinschaft oder Gesellschaft, verabschiedet hat. Erst nach dieser Verabschiedung kommt die Aufgabe des Politischen und der geschichtlichen Selbstfindung jeder Generation von Neuem zum Vorschein. Man missbraucht dann nicht mehr das Politische zur exklusiven Durchsetzung einer ideologisch blinden Mission des Inhalts, dass die Geschichte für alle menschlichen Individuen entweder dieses gemeinschaftsbestimmte oder jenes gesellschaftsbestimmte Ende finden müsse. In der Philosophischen Anthropologie Plessners gilt nicht nur die „wertedemokratische Gleichstellung aller Kulturen" 247 , sondern auch die wertedemokratische Gleichstellung aller Generationen in der Folge ihrer geschichtlichen Selbstfindungen. Statt die Nachwachsenden so zu indoktrinieren, dass sie ihre Körperleiber freiwillig auf den dualistischen Schlachtfeldern opfern, müssen wir ihnen den Spielraum gewähren, sich von den Verkörperungen der Älteren zu entfremden, damit sie durch Expression und deren Ausgleich zu ihrer eigenen geschichtlichen Bestimmung kommen können.

245 Vgl. H. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994, S. 110 ff., 120 ff. Vgl. dagegen schon H.-P. Krüger, Angst vor der Selbstentsicherung. Zum gegenwärtigen Streit um Helmuth Plessners philosophische Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996) 2, S. 275-277. 246 Vgl. Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/ New York 1998, S. 55-57. 247 H. Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 186.

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Das Politische wird so anders projektierbar als in der Organisierung letzter Entscheidungsschlachten nach dem exklusiven und destruktiven Schema EntwederFreund-oder-Feind (C. Schmitt). Das Politische bezieht sich dann - dem zivilisationsgeschichtlichen Erbe an Diplomatie und Takt gemäß - auf die Einrichtung von Machtspielen zwischen Gegnern. „Alle öffentlichen Relationen beruhen auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Jeder gibt dem anderen so viel Spielraum, als er selbst beansprucht, erst aus dem Gegeneinander der einzelnen Maßnahmen darf sich die Vergrößerung des einen Spielraums auf Kosten des anderen entwickeln. In jedem Augenblick haben auf diese spielgerechte Weise die Gegner Verfügungsgewalt über sich selbst, bis die Logik der Tatsachen entschieden hat." 248 Zudem lässt sich so das Politische nicht nur als eine produktivere Form von Machtspielen projektieren, sondern auch von seiner traditionellen Zentralisierung auf den Staat in alle gesellschaftlichen Verhältnisse hinein emanzipieren. „Radikale Demokratie muss genau in dem Maße, in welchem sie sich zum Prinzip der Chancengleichheit für alle bekennt - ein Prinzip offener Beweglichkeit und der Auslese nach Fähigkeit und Leistung - , den Dynamismus der Macht als der Gesellschaft inhärent anerkennen." 249 M. Foucault entdeckt die gesellschaftliche Universalisierung der Spielkonzeption von politischer Macht nach missverständlichen Umwegen und von Plessner unabhängig erst Mitte der 70er Jahre wieder (vgl. l.l.). 2 5 0 Plessner bejaht die Entfremdungsgefahren, die in der Emanzipation der Macht zweifellos entstehen, da diese gesellschaftliche Emanzipation Anonymisierung auch durch wissenschaftlichtechnische Rationalisierung der Macht einschließt. Er bejaht sie gleichwohl, weil er diese Gefahren in der geschichtlichen Generationenfolge für ausgleichbar hält durch neue Chancen für die Individualisierung und für die Bildung neuer Gemeinschaftsformen unter den Nachwachsenden.251 Die Bejahung der Entfremdung in der Philo-

248 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 101. 249 Ders., Die Emanzipation der Macht (1962), in: GS V, S. 275. 250 Vgl. zur M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen (frz. 1976), a. a. O., S. 113-124. Natürlich haben Plessner und Foucault Nietzsche gelesen, aber verschieden verarbeitet, was zu vergleichen wäre (vgl. zu Plessner 2.2.). Im Übrigen müssten die Parallelen zwischen Plessners Asthesiologie und Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung differenziert bedacht werden. Foucault liefert erst in seinem Spätwerk zu ästhetischen Selbstpraktiken ein Äquivalent für das nach, was in Plessners Schauspielansatz von vornherein an ästhesiologisch rückbezüglicher Individualisierung enthalten war. 251 Vgl. zur „ungreifbaren Institution" der Macht Einzelner H. Plessner, Die Emanzipation der Macht, a. a. O., S. 282. Ohne Bezug auf Plessner feiert U . Beck das Individualisierungspotential, das allerdings erst in der geschichtlichen Generationenfolge der Problematisierung von Industriegesellschaft entstehen kann. Vgl. U . Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt/M. 1993, Kapitel V. Vgl. zu liberaleren als traditionalen Gemeinschaftsformen und der Möglichkeit eines sportiv spielerischen Politikstils schon H. Plessner, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956), in: GS X , 162 ff.

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sophischen Anthropologie ist also eine Aufgabenstellung, im geschichtlichen Generationenzusammenhang den Gefahren der Entfremdung entgegenzuwirken, keinesfalls ein positivistisch glücklicher Marktopportunismus. Souverän sind Machtformen, die allen Beteiligten die Spielmöglichkeit einräumen und erhalten, also elementar die Würde der Person für die Zukunft sichern. In diesem „Fair play" fällt die Machtform mit keiner endgültigen oder absoluten Selbstbestimmung zusammen, sondern schließt die „Relation der Unbestimmtheit zu sich" 2 5 2 ein. Dadurch kann man selbst geschichtlich noch anders werden, als man es schon war. Man muss nicht selber zum Opfer seiner Vergangenheit werden, und man muss nicht die Anderen zum Opfer ihrer Vergangenheit machen. Die Politik ist so als diejenige Kunst anzusehen, die die Verschränkungsfrage von Gemeinschaft und Gesellschaft hier und heute klar beantwortet, ohne sie ein für allemal zu beschließen. Der Staat kann dann auf keine substanziellen Werte einer einzigen Gemeinschaft mehr verpflichtet werden, sondern muss zu einem öffentlichen Verfahren der gegenseitigen Sicherung von Spielräumen und Spielzeiten werden. Und dem Recht fällt so die Aufgabe zu, zwischen den Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen historisch konkret zu übersetzen: „Der Staat ist ein Verfahren und keine Substanz, ein offenes System von Vorkehrungen, die Forderungen der Öffentlichkeit aus ihrer Unabsehbarkeit und Unbestimmtheit herauszuheben und dem Gemeinschaftsverlangen jedes Menschen, seinem Naturrecht auf Wärme und Vertrauen anzugleichen .... Staat ist systematisierte Öffentlichkeit im Dienste der Gemeinschaft, Inbegriff von Sicherungsmaßnahmen der Gemeinschaft im Dienste der Öffentlichkeit. Die Methode dieses Ausgleichs ... ist das Recht .... Auf der imaginären Schnittgeraden von Gemeinschaftskreis und Gesellschaftskreis liegt das Recht als die ewig in Wandlung begriffene Einheit von Gesetzgebung und Rechtsprechung." 253 Die Öffnung der Machtform für eine negative Fassung des Absoluten, für das Eingehen der Relation zur eigenen Unbestimmtheit, legitimiert die Begrenzung von Selbstermächtigungen. Zwischen den Weltkriegen schlägt Plessner - im Anschluss an Georg Misch und in deutlicher Kritik an Heideggers hermeneutisch zirkulärer Selbstermächtigung aus dem zum Selbstsein genötigten Sein - in seinem Buch Macht und menschliche Natur (1931) eine Neuauflage der Lektion aus den Religionskriegen von vor drei Jahrhunderten für die inzwischen eingetretenen und absehbaren „Weltanschauungskriege" vor. Damals, im 17. Jh., musste man lernen, die Unergründlichkeit Gottes, den „deus absconditus", zu respektieren. Das Absolute ist menschenmöglich

252 H . Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 188. 253 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 115 f. Ohne Verweis auf Plessner kommt Habermas in seiner Auseinandersetzung mit N . Luhmann auf den Doppelcharakter des Rechts als Ubersetzung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zurück. Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., S. 78.

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keine positive Bestimmung für Gesellschaft und Geschichte, was nicht ausschliesst, es symbolisch in individuellen und gemeinschaftlichen Kontexten praktizieren zu können. Inzwischen, im 20. Jh., hatte die Säkularisierung zur Selbstvergötterung des Menschen geführt. Die ähnliche Lektion, die nun - inmitten der ideologisch legitimierten Weltanschauungskriege - zu ziehen war, lautete: die Anerkennung der Unergründlichkeit des Menschen. Insofern kann Plessners Philosophische Anthropologie als die Transformation des deus absconditus in den homo absconditus gelten. Sie legt die der westlichen Zivilisationsgeschichte immanente Pluralisierung frei. Es ist diese eigene Pluralisierung des christlichen Westens, die die anthropologische Vergleichsmöglichkeit mit anderen Kulturen eröffnet. Das jeweilige Anderssein in unserem eigenen Selbstsein hält die Frage nach dem Menschen offen. Wir sind der Geschichte bedürftige Wesen, wie jede Leibesexpression lehrt, die durch Verkörperung beantwortet werden will. Wir haben nicht gottgleich unsere Geschichte in der Hand, was auf eine totale Verkörperung hinausliefe. Aber wir verantworten sie gegenüber Anderen und Künftigen, die als eine Möglichkeit in uns selbst vorkommen. „Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein. Erst seine Durchsichtigkeit in ein anderes Reich bezeugt ihn als offene Unergründlichkeit." 254 Wenn es säkular um die Differenzierung der verschiedenen Formen von Selbstsein, anderem Selbstsein und anders als auch nur selbst zu sein geht, wird eine Philosophie der Natur unumgänglich. Lange vor J. Derrida erprobt Plessner in dem bereits erwähnten Buch Macht und menschliche Natur die Verkehrung von Primatsetzungen in den westlich tradierten Gegensätzen. So wechselt er hier zwischen dem Primat der Philosophie, der Anthropologie und des Politischen, jeweils bis in die Unentscheidbarkeit hinein, um einzusehen, dass der der geschichtlichen Lage angemessene Vorrang in keinem solcher Prinzipien vorab, sondern erst in der Anschauung des Anderen gewonnen werden kann. Die Legitimität der Selbstbegrenzung komme erst angesichts des „Anderen seiner selbst" 2 5 5 zum Vorschein. Strukturell ähnlich, wenngleich nicht naturphilosophisch, wird später E. Levinas Derrida zu der Einkehr bewegen, nicht die Gerechtigkeit, sondern für deren Unergründlichkeit zu dekonstruieren. 256 Während sich in der Philosophischen Anthropologie das quasitranszendentale Verfahren um die Performativität der Körper-Leib-Differenz dreht, die qua Schauspiel GeschichtlichPolitisches ermöglicht, also machtphilosophisch gewendet wird, bleibt die Dekonstruktion in der Reformierung der Schrift der jüdisch-christlichen Tradition stehen (vgl. 1.1.2.).

254 H. Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 225. 255 Ebd., S. 225. 256 Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität", a. a. O., 45.

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Im Vergleich mit Foucault (vgl. 1.1.6.) veranschlagt die Philosophische Anthropologie die Fundierung menschlichen Verhaltens im Schauspielen tiefer oder grundsätzlicher, wie wir sogleich sehen werden, nämlich bis in die naturphilosophischen Unterscheidungen als den Ermöglichungsbedingungen des geschichtlichen Schauspiels der Soziokultur hinein. Es ist weniger so, dass Diskurs- und Machtphänomene aus sich selbst heraus Schauspielcharakter erzeugten, als vielmehr so, dass sie das Schauspielpotential menschlichen Verhaltens auswählen und in reproduzierbare Bahnen lenken oder in geschichtlichen Veränderungen stimulieren. So oder so leben sie immer schon davon, dieses Schauspielpotential, das mit jedem Kinde von Neuem heranwächst, für sich in Anspruch zu nehmen, auch wenn die Diskurs- und Machtformen es unternehmen, menschliches Leben neu zu produzieren. Durch den Zusammenfall von Macht- und Spielfrage bei Foucault kann dieser Spielen nur in einer machtstrategischen Verkürzung als Kräftespiel fassen. Foucaults Konzeption fehlt es, die naturphilosophische Differenzierung zwischen Spielverhalten und Verhaltensspielen via das Schauspielen bis in die Spezifik des Spektrums der Performativität im Sinne expliziter Illokutionen durchführen zu können 257 , weshalb so häufig an ihr performative Selbstwidersprüche entdeckt werden konnten. 258 Für die Frage, inwieweit Biomacht nicht nur die Reproduktion, sondern auch die Produktion neuer menschlicher Lebensformen gelingen kann, sind nicht allein die Reproduktionstechnologien im biomedizinischen Sinne entscheidend. Vielmehr sind für diese Frage auch die kulturellen Technologien für das Spielen und Schauspielen relevant, weshalb sich die Untersuchung der Kultur- und Medienindustrien empfiehlt. Im übrigen dürfte schon deutlich geworden sein, dass Foucault die Redeweise vom Souveränen im Hinblick auf Machtphänomene gänzlich anders gebraucht als Plessner. Foucault schwebt die vor- und frühmoderne Gesetzesmacht durch das Schwert vor, im Unterschied zu der für ihn spezifisch modernen Normalisierungsgesellschaft; während es Plessner aus der Sicht eines anthropologischen Vergleichs der Moderne und Vormoderne um die Frage geht, inwiefern die profan endlose Selbstermächtigung so modern, also innerhalb von Macht, begrenzt werden kann, dass Geschichtliches künftig möglich bleibt, was ich oben als Geschichtsmacht im Unterschied zur Lebensmacht angesprochen habe. Dies ist bei Foucault vergleichbar mit der zuletzt, in seiner Rücknahme der Hypothese vom Ende des Menschen, geäußerten Hoffnung auf Geschichtliches (vgl. 1.1.6.). Umgekehrt kann die Philosophische Anthropologie ihren Vergleich zwischen modernen und vormodernen Soziokulturen durch Foucaults Konzeption einer Normalisierungsgesellschaft der Diskurs- und inzwischen mehr noch Biomächte qualifizieren.

257 Vgl. Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., S. 111 ff., 134-139,149 f. 258 Vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1985, 166 f., 192-195.

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1.2.7. Die naturphilosophische Fundierung des Geschichtlichen durch die spielphilosophische Revision der Anpassungs- und Selektionsfrage Ausgerechnet inmitten des Themas der Geschichtlichkeit, wo die Geisteswissenschaft ihre einzigartige Domäne an mentalen Individuationen gegenüber den allgemeinen Kausalregeln der Naturwissenschaft zu haben glaubte, entdeckt Plessner eine naturphilosophische Fundierung des Geschichtlichen, die zur Konsequenz der Spielkonzeption im Ganzen führt. Für alle, die in dem Dualismus zwischen Natur und Geist erzogen worden sind, ist die spielphilosophische Relativierung dieses Dualismus zu einer Aspektdifferenz lebendigen Daseins, zu eben der „Doppelaspektivität lebendiger Körper" 259 , eine befremdliche Subversion, die sowohl den bisherigen Natur- als auch Geistbegriff explizit unterläuft. Plessner hält indessen nur konsequent an seiner Spielfassung der Körper-Leib-Differenz auch naturphilosophisch fest, um der Eigentümlichkeit des Lebendigen näher kommen zu können. Wenn man unter Geschichtlichkeit das überraschende Eintreten eines Ereignisses versteht, das nach den bisher soziokulturell gültigen Regeln weder erwartet noch zugeordnet werden kann, entsteht die Frage, woher der spontane Anfang dazu stamme, der gemessen an dem bisher Gültigen als individuell, zunächst im Sinne von im Ganzen unbestimmbar, erscheint. Um diese Frage beantwortbar werden zu lassen, wurde von Kant und der Romantik auf den Genius der Natur und in lebensphilosophischer Tradition auf die Spontaneität des Ausdruckes rekurriert. In diesem Sinne schreibt auch Plessner: „Nur in der Expressivität liegt der innere Grund für den historischen Charakter seiner (des Menschen: HPK) Existenz." 260 Er schreibt dies allerdings am Ende seiner Naturphilosophie des Lebendigen, die den Menschen nicht mehr als gelegentlichen Genius oder als Ausdruckswesen einfach voraussetzt, sondern dessen Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksbedürftigkeit erklärbar werden lässt. In der Konsequenz der bislang behandelten Spielkonzeption für die dem Menschen konstitutive Ambivalenz zwischen Leibsein und Körperhaben könnte man diese Frage auch wie folgt reformulieren: Menschen mögen in soziokultureller Hinsicht ihre Machtbeziehungen nach dem Modell öffentlich verfahrenden Schauspielens zu zivilisieren vermögen. Aber inwiefern können Menschen eben dies und inwiefern bedürfen sie eben dessen als Lebewesen? Plessner behandelt sowohl den biologischen Streit zwischen „aktiver Anpassung" (sog. Lamarckismus: erworbene Eigenschaften können vererbt werden) und „passiver Anpassung" (sog. Darwinismus: Mutationen im Erbgut erfolgen unabhängig von der Umwelt, die auswählt) der Organismen an ihre Umwelt als auch den darauf bezogenen philosophischen Gegensatz zwischen Apriorismus und Aposteriorismus.

259 Vgl. H. Plessner, Stufen, a. a. O., S. 89-104. 260 Ebd., S. 338.

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Plessner stellt der Philosophischen Anthropologie die Aufgabe, beide Debatten „aus dem Gesichtspunkt der Anpassung und Angepasstheit einer Revision zu unterwerfen". 261 Die empirische Redeweise vom Erfolg oder Misserfolg einer aktualen Anpassung unterstellt strukturell und funktional die „notwendige Möglichkeit" 262 einer Angepasst^ezi zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt. Plessner nennt diese lebensnotwendige Möglichkeit nicht nur „Eingepasstheit" oder „Adaptiertheit", was Biologen dann auch als „Vorangepasstheit" (preadaptiveness) bezeichnet haben, um sozialdarwinistische Fehlübertragungen abzuwehren. Vielmehr rekonstruiert er sie als das „Moment primärer Eingespieltheit von Welt und Leben aufeinander", so dass der Organismus „ins Medium passen (muss: HPK) und zugleich Spielraum in ihm haben" kann: Erst wenn man theoretisch eine derart vorhergehende Eingespieltheit unterstelle, mache empirisch die Redeweise Sinn, dass „bei fließenden Ubergängen zwischen den einzelnen organischen Formen das Gleichgewicht mit der fließenden Umwelt nur auf Grund immer erneuter Anpassungsleistungen herzustellen sei." 263 Ähnlich unterstellt auch die Redeweise vom Seiegieren eine andere Erklärungsaufgabe als gemeinhin angenommen, nämlich die, woher die notwendige Möglichkeit zum sogenannten Auswählen komme. Die Redeweise supponiert einerseits, dass es physisch bedingt lebensnötig ist, immer gerade hier und jetzt eine bestimmte Möglichkeit zu realisieren, gleichzeitig aber, dass es zufällig ist, welche der Möglichkeiten gerade verwirklicht wird. Träfen nicht beide Annahmen gleichzeitig zu, müssten Mutation (die später zur Variation fortentwickelt wurde) und Selektion zusammenfallen, was just bei „wirklicher Entwicklung" (Evolution) nicht der Fall sein soll. Damit werde auch das Problem, das man bisher „Selektion" nennt, als das „Gesetz des kategorischen Konjunktivs" begreifbar, das den „inneren Mechanismus der Selektion" ausmache, „dieses ,es ginge zwar, aber es geht nicht'." 264 Ob Anpassungs- (Variations-) oder Selektions-Vokabular, beide unterstellen eine Eigenart von für das Anpassen (Variieren) respektive Seiegieren jeweils nötigen Möglichkeiten, die es im Sinne eines Kategorischen Konjunktivs erst noch zu klären gilt, wenn die evolutionstheoretische Ausdrucksweise Sinn machen soll, also begrenzt werden muss. Einerseits wird in der biologischen Evolutionstheorie von dem gerade zufälligen Zusammenspiel zwischen Variation und Selektion gesprochen, das Evolution sowohl gegenüber einem mechanischen Determinismus als auch gegenüber einer geistigen Entwicklung auszeichnen soll. Andererseits bleibt die Ausdrucksweise, Variation und Selektion folgten Mechanismen, erhalten, wodurch offenbar eine Notwendigkeit nicht mehr mechanischer Art hervorgehoben werden soll. Demnach

261 262 263 264

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 209. S. 151. S. 202, 205, 207. S. 216.

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handelt es sich bei der Evolution um Zufälle, die mechanisch möglich sind und in ihrem Zusammenspiel sogar auf nichtmechanische Weise nötig sind, mithin um so etwas wie nötige Möglichkeiten im Sinne eines Kategorischen Konjunktivs. Genau darum, um dieses Erklärungsbedürftige, ging es aber gerade in der geistesgeschichtlich orientierten Erforschung von Individualität und Individuation, obgleich dort die Individualisierung dem Lebendigen eher metaphorisch zukam. Das erst im geschichtlichen Prozess „werdende Individuum" gerate schon als lebendiges in „ein doppeltes Missverhältnis zur Weite der Form, die ihm Spielraum und darin den Rahmen notwendig zu versäumender Möglichkeiten gibt, und zur Fülle seiner eigenen Potentialität, die es ihm gestattete, die gebotenen Möglichkeiten zu verwirklichen." 265 Damit stehe eine „Neuschöpfung der Philosophie" an, in der das, was man bisher aus metaphysikhistorischen Gründen für Geist (noch Max Scheler) gehalten und damit auch sich vorbehalten (monopolisiert) hat, der Struktur und Funktion nach schon „auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte" durchzuführen ist.266 Dies heißt auch, dass man es dem bislang für das Andere des Geistes Gehaltenen, eben schon der lebendigen Natur selber, souverän freigibt und zugesteht, endlich an dem Zusammenspiel mit uns „geistigen" Lebewesen teilzunehmen, statt sie dem modernen Paradigma unserer selbstbewussten Selbstbeherrschung zu unterwerfen. Plessner jedenfalls stellt Nietzsches Frage nach unserer Selbstlosigkeit nicht so, dass sich das ganz Andere des Geistes bemächtigt, sondern so um, dass bereits im lebendigen Dasein die für geistig gehaltene Struktur und Funktion emergent wird, eben im Zusammenspiel der, wie er sagt, Organisationsform und Positionsform eines werdenden Individuums.267 Wenn man systematisch rekonstruiert, was wir in der Anschauung lebendiger Phänomene erleben, dann ist dafür Plessners hypothetische Vorstellung hilfreich, dass lebendige Körper im Unterschied zu anorganischen Körpern solche Körper sind, die ihre Grenze selbst realisieren. „Die Grenze gehört dem Körper selbst an, der Körper ist die Grenze seiner selbst und des Anderen und insofern sowohl ihm als dem Anderen entgegen."268 Die Vorstellung von der Realisierung einer dem Körper eigenen Grenze beinhaltet sowohl ein Ubergehen (durch Öffnung in beiden Richtungen nach außen und innen) als auch eine Unterscheidung (durch Schließung des Inneren vom

265 Ebd., S. 215. 266 Ebd., S. 30. 267 Vgl. H.-P. Krüger, Helmuth Plessners exzentrisch-zentrische Positionalität als die naturphilosophische Emanzipation der Hegeischen Geisteskonzeption vom Paradigma des Selbstbewusstseins, in: A. Arndt/K. Bal/H. Ottmann, Hegel-Jahrbuch 2000: Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik - Die Politik der Kunst, 2. Teil, Berlin 2000, 275 ff.. 268 H. Plessner, Stufen, a. a. O., S. 127.

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Äußeren). Da Öffnung und Schließung nicht gleichzeitig am gleichen Ort erfolgen können, muss für das lebendige Ding eine Prozessweise angenommen werden. In dieser Prozessweise kann es sich räumlich verteilt „stauen" und „lockern" und kann es sich zeitlich „aufschieben" und „erfüllen". Es muss räumlich gesehen „über sich hinaus" und „in sich hinein" sein und zeitlich betrachtet „sich vorweg" sein und „auf sich zurück" kommen können. Insofern es sich als derart „seiende Möglichkeiten" in einem eigenen „Spielraum" und in einer eigenen Spielzeit im Umfeld behauptet („positioniert"), erscheint es als lebendig. Dies schafft indessen eine Komplexion von Koordinationsproblemen, für deren Lösung man den „Systemcharakter", die „Selbstregulierbarkeit" und die „Organisiertheit des lebendigen Einzeldinges" 2 6 9 annehmen muss. Plessner gehört in der Ausführung dieser Implikate unserer Anschauung vom Lebendigen zu den philosophischen Pionieren der Erforschung von Prozessen der Selbstorganisation und Selbstreproduktion, was hier den ökologischen Gesichtspunkt einschließt, da er in dem Problem der Grenzrealisierung von Anfang an enthalten ist. „Autonom" bleibe der Organismus, „weil nichts an ihn herankommt und nichts auf ihn und in ihm Einfluss gewinnt, das er nicht dem Gesetz des begrenztgrenzhaften Systems unterwirft. Weshalb die Autarkie dem ganzen Lebenskreis gehört", als dem „Funktionskreis" zwischen den Organen und ihrem „Positionsfeld". 2 7 0 Der Realisierung des „Grenzantagonismus" entspricht im Innern des Organismus der „Antagonismus der Kreisprozesse von Aufbau und Abbau" (Assimilation und Dissimilation). Im Äußeren entspricht dem Grenzantagonismus, dass er sich „gleichsinnig zum Positionsfeld" (als Körper im Austausch mit anderen Energiezentren und anderen Elementen) und „gegensinnig zum Positionsfeld" (als geschlossenes Lebenssystem, eingebettet in ein zu ihm wesensrelatives Umfeld) bewegen kann. 2 7 1 Damit entsteht die Frage nach den o. g. Fließgleichgewichten und Ungleichgewichten zwischen Organismus und Umwelt, den für Anpassung und Selegierung nötigen Möglichkeiten, die auf ein Zusammenspiel von Organisations- und Positionsform hinauslaufen. Man kann sich nun den „radikalen Konflikt zwischen dem Zwang zur Abgeschlossenheit als physischer Körper und dem Zwang zur Aufgeschlossenheit als Organismus" auf zweierlei Weise lösbar vorstellen. Die Anschauung pflanzlicher Phänomene unterstelle laut ihrer Rekonstruktion eine „offene", sich „unselbständig" in die U m gebung eingliedernde Organisationsform. Die Anschauung tierischer Phänomene ergebe demgegenüber in der Rekonstruktion die Unterstellung einer „geschlossenen Organisationsform", die den Organismus zu einem „selbständigen Abschnitt des ihm

269 Vgl. ebd., S. 154, 160,165. 270 Ebd., S. 192 f. 271 Ebd., S. 204 f.

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entsprechenden Lebenskreises macht." 272 Während für die offene Variante eine dezentrale Wiederholung der Einheit von Organen und Organismus ausreichen kann, bedarf die geschlossene Form einer Zentralisierung (Zentrales Nervensystem) der Funktionseinheit zwischen sensorischen und motorischen Organen. Durch die Zentralisierung wird der Organismus „von ihm selber abgehoben und abhängig als Körper": „in ihm (sofern der ganze Körper einschließlich des Zentralorgans nicht sein Leib ist und nicht von ihm abhängt) und außer ihm (sofern der Körper vom Zentralorgan als sein Leib abhängt)." 273 Mithin „verdoppelt" die zentrische Organisationsform den Organismus in die Differenz zwischen Körper und Leib, die er spontan löst, ohne dass sie ihm selber problematisch würde. Der Organismus wird so „ein rückbezügliches Selbst oder ein Sich. Von dem lebendigen Dinge solcher Art darf man als von einem ihm selbst gegenwärtigen sprechen, das auf Grund seiner Abgehobenheit von ihm in ihm den unverrückbaren Punkt bildet (noch nicht hat, weshalb es eben noch kein Ich geworden ist!), auf den es rückbezogen als Ein Ding lebt." 274 Dieser zentrischen Schließung der Organisationsform entspricht im positionalen Verhalten die Eröffnung der „frontalen" Gegenüberstellung, dass ihm nämlich Dinge „in einem von ihm abgehobenen Umfeld oder in der Relation des Gegenüber" begegnen: „Insofern ist es bewusst, es merkt ihm Entgegenstehendes und reagiert aus dem Zentrum heraus, d. h. spontan, es handelt." 275 Nun wird aber uns Menschen, darin bestand doch die Lektion aller vorangegangenen Punkte, die Körper-Leib-Differenz selber zum Problem, weshalb wir sie auch an anderen, hier: zentrisch organisierten Lebewesen sehen können, ohne eben diese Anschauungsweise - nach ihrer kategorialen Rekonstruktion - diesen Lebewesen selbst zuschreiben zu müssen. Was unterstellen wir für diese Differenzierung der Differenz, die traditionell der Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Bewusstsein heißt, wenn es sie in der Konsequenz und Kontinuität des angedeuteten naturspiel-philosophischen Ansatzes richtig zu stellen gilt? - Da inzwischen die Grenzrealisierung auf dem Niveau der Zentralisierung der Organisationsform vorausgesetzt werden muss und es die positionale Mitte nur im Vollzug gibt, kann innerhalb der zentrischen Organisationsform 276 die Lösung nurmehr (genügend überschüssige Plastizität des selbstreferentiellen Gehirnes angenommen) in der Änderung der Zentrierungsrichtung liegen. Diese Änderung der Zentrierungsrichtung aber müsste positional gesehen ermöglichen, „daß das Zentrum der Positionalität zu sich selbst

272 273 274 275 276

Ebd., S. 218 f., 226. Ebd., S. 231. Ebd., S. 238. Ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 2 9 0 , 2 9 3 .

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Distanz" erhält, was nur von woanders als ihm selber her, eben „exzentrisch", möglich ist. Damit läge, so die Aufgabe, positional ein Dreifaches vor: „das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele (respektive Leib: HPK)) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist." 2 7 7 Man kann in dieser dreifachen Positionalität, die Plessner Personalität nennt, auch unschwer eine dreistellige Zeichenrelation erkennen, auf die ich in dem nächsten gesonderten Punkt hier näher eingehen werde. Einstweilen bleibt festzuhalten, dass diese Personalität freilich positional gelebt werden können muss, und dies unter Wahrung der zentrischen Organisationsform. Dem exzentrisch positionierten Lebewesen „ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur." 278 In diese „Leere" des biotischen „Nichts" (ebd.) kann nun einspringen, was man sich an soziokultureller Zweitnatur in der Reihe der biosozialen Spielkulturen höherer Säuger als eine Positionsform vorstellen kann, die die zum eigenen Körperleib gegensinnige Zentrierungsrichtung erotisch animiert und künstlich abstützt. Für die Umschreibung des Problems, den genannten Bruch leben zu können, findet Plessner am Ende der Stufen die drei bekannten Strukturformeln für exzentrische Positionalität, eben die der natürlichen Künstlichkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit (Immanenz und Expressivität) und des utopischen Standortes. Dies führt zu den bereits erwähnten Unterstellungen der Common-sense-Praktik an Soziokultur, Ausdrucksverstehen und geschichtlicher Selbstbegrenzung zurück. Damit würde sich der menschliche Lebenskreis an den zur Verschränkung der ihm nötigen Möglichkeiten erneut in soziokultureller Hinsicht öffnen. Für den Rückweg aus der Natur- zur Sozialphilosophie hat G. Lindemann überzeugend gezeigt, wie Plessners naturphilosophische Erschließung der exzentrischen Positionalität aus der Anschauung lebendiger Phänomene heraus das Basistheorem aller handlungs- und systemtheoretischen Soziologien, die doppelte Kontingenz von Alter und Ego, zu fundieren vermag: „Während Plessner die Mitwelt als die Sphäre thematisiert, von der her die Relativierung des Weltbezugs eines leiblichen Selbst (auf dessen Umwelt hin: HPK) möglich ist, geht das Theorem der doppelten Kontingenz von der Unterschiedlichkeit des praktischen Weltbezuges leiblicher Selbste aus und rückt in den Mittelpunkt, wie von dort aus eine Relativierung möglich ist." 2 7 9 Nun setzt aber die Auffassung, dass sich die doppelte Kontingenz zwischen Ego und Alter schon als Kommunikation symbolisch-sprachlich strukturieren wird, eine andere „Deutung voraus, die entscheidet, ob die physische Erscheinung der betreffenden

277 E b d , S. 293. 278 H. Plessner, Stufen, a. a. O., S. 292. 279 G. Lindemann, Doppelte Kontingenz und reflexive Anthropologie, in: Zeitschrift für Soziologie, 28 (1999) Heft 3, S. 175.

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Entität als eine kommunikative Äußerung aufzufassen ist, oder als etwas anderes." 2 8 0 Wen der hier übliche ursprungsphilosophische Rückschluss auf eine kommunikationslose und nicht hintergehbare Intentionalität nicht befriedigt, braucht die Fundierung der doppelten Kontingenz durch eine symbolisierbare und symbolbedürftige Exzentrierung der Verhaltensrichtung von zentrisch organisierten Lebewesen. In der Tat hat Plessner die endlos diskutierte, weil falsch gestellte Frage, wie man denn von der Wahrnehmung des eigenen Ichs (Selbstwahrnehmung) zu der Wahrnehmung fremder Iche (Fremdwahrnehmung) komme (durch „Einfühlung", „Projektion" oder „Analogieschlüsse") - in konsequenter Fortsetzung von Max Schelers Einsicht in die Indifferenz des Lebendigen gegenüber dem Dualismus von Psychischem und Physischem 2 8 1 - umgestellt: „Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft gegenwärtige Dinge, . . . , sondern um eine Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seinskreises auf die .Menschen'. Das Verfahren der Beschränkung, wie es sich in der Deutung leibhaft erscheinender fremder Lebenszentren abspielt, muss streng getrennt werden von der Voraussetzung, dass fremde Personen möglich sind, dass es eine personale Welt über2 8 2 haupt gibt." Die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung macht bereits von der Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt Gebrauch, einer Unterscheidung, die erst von der Mitwelt als einer exzentrischen Position her möglich wird. 2 8 3 Solange zentrisch organisierte Lebewesen den Unterschied zwischen ihrem Leib und Körper nur als Einheit vollziehen, weshalb sie uns so lebendig vorkommen, haben sie das ganze Problem der Fremd- und Selbstwahrnehmung nicht, wie es sich für ein im „Guckkasten" 2 8 4 sitzendes Bewusstsein der dualistischen Philosophietradition stellt, in der von der Rolle des Bewusstseins in der Eingespieltheit des Verhaltens von Lebewesen

280 Ebd., S. 178. Gewiss arbeitet Plessner die Paradoxa der Anthropologie heraus: „Als Anthropologie ist seine Theorie paradox. Stattdessen aber ermöglicht sie es, diese Fragen zu soziologisieren." Ebd., S. 174, vgl. auch 180. - Aber beruhen erfahrungswissenschaftliche Anthropologien nicht überhaupt auf einem Paradox, nicht nur Bio-, sondern ebenso Sozial-, Kulturund Geschichtsanthropologien, weshalb auch keine soziologische Antwort die Frage nach dem Menschen schließen kann? Plessners Philosophie besteht darin, die für den Übergang zwischen diesen Anthropologien nötigen Möglichkeiten phänomenologisch zu entdecken und begrifflich zu rekonstruieren. 281 Vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1913), hg. v. M. S. Frings, Bonn 1985, S. 2 3 2 - 2 5 8 . 282 H . Plessner, Stufen, a. a. O , S. 301. 283 Vgl. Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., S. 101-103, 107 f., 121-125. 284 H . Plessner, Die Einheit der Sinne, a. a. Ο., S. 57 f.

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auf ihre Um-Welt abstrahiert wird. Die Pointe besteht also darin, dass wir, insofern wir die lebendigen Formen der Eingespieltheit teilen, ebenfalls nicht dieses bewusstseinsphilosophische Problem haben, es sich in der Wahrnehmung von Lebendigem also weder um Einfühlung noch Projektion oder Assoziationen zu handeln braucht. Das bewusstseinsphilosophische Problem hat erst, wer - etwa durch diskursive Normalisierung der Anschauung und Disziplinierung des Körperleibes (Foucault) - von der Teilnahme an der lebendigen Eingespieltheit der Lebewesen und ihrer Um-Welt aufeinander abgeschnitten worden ist, also an der Wiedererfindung des Lebenskreises gleichsam aus dem Selbstbewusstsein heraus arbeitet. Gleichwohl, so kann nun das Gegenargument lauten, muss doch die exzentrische Positionalität auch diese bewusstseinsphilosophische Verkehrung ermöglichen können, was in der Tat der Fall ist. Das bewusstseinsphilosophische Verfahren der Beschränkung der dreifachen Positionalität auf deren dualistische und darin zugunsten des Geistigen hierarchisierte Deutung von Personen folgt als eine Möglichkeit aus der Freiheit der exzentrischen Position selber, nämlich aus deren Bruch mit der Einheit des Körperleibes von einem Nirgendwo und einem Nirgendwann her. Das Potential der kulturgeschichtlichen Semantiken ist aber nicht auf die Realisierung allein dieser, bewusstseinsphilosophischen Deutung der exzentrischen Positionalität festgelegt. Vielmehr ergibt sich diese Realisierung als eine Variante, durch Selbstermächtigung auf eine geschichtliche Infragestellung zu antworten. Anthropologisch gesehen „steht es dem Menschen versuchsweise frei, diese Ort-Zeitlosigkeit der eigenen Stellung, kraft deren er Mensch ist, für sich selber und für jedes andere Wesen in Anspruch zu nehmen auch da, wo ihm Lebewesen gänzlich fremder Art gegenüberstehen." 285 Da wir die politisch-geschichtliche Problematik, wie der in seiner Freiheit negative (ort- und zeitlose) Charakter der exzentrischen Positionalität (homo absconditus) auf eine bestimmte Deutung positiv beschränkt wird, bereits angerissen haben, bleibt jetzt noch die Frage zu erörtern, wie von der Semiosis der exzentrischen Positionalität her die Vielfalt ihrer möglichen Deutungen und die Not ihrer endlichen Beschränkung zu verstehen sind. Wir holen jetzt, nach dem macht- und naturphilosophischen Durchlauf, semiopragmatisch genauer ein, was wir als die Performance des Habitus und die Performativität der Rollensprache unterstellt haben. 1.2.8. Die semiotische Mittelstellung des Mediums der Sprache Wenn einem dreifach positionierten Lebewesen ein Phänomen in dem Positionsfeld der ihm möglichen Bewegungsrichtungen vorkommen kann, nämlich als eine Körper-Leib-Differenz, schaut es spontan den leiblichen Aspekt des Phänomens als

285 Ders., Stufen, a. a. O., S. 300.

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Ausdruck an und nimmt es den körperlichen Aspekt des Phänomens als Handlung wahr. Dies kann man zum Beispiel gut an Kindern beobachten, die Comics enträtseln oder sich auf andere Wahrnehmungsspiele einlassen. Die Bewegtheit des Leiblichen erscheint von außen als die Unmittelbarkeit eines Ausdruckes, der im Unterschied zu perspektivisch anderen Möglichkeiten, sich auszudrücken, auffällt. Der Bewegungscharakter des Körperlichen erscheint von außen als Mittel für eine aktual eingeschlagene Richtung, sich zu positionieren, was aber im Positionsfeld auch anders möglich wäre. Die Gestaltpsychologie kann zwar gewisse elementare und kombinierbare Konstanten der Wahrnehmung herausfinden, unterhalb deren nichts wahrzunehmen ist. Aber der übersummenhafte Gestaltcharakter des Wahrgenommenen führt, ob mit Probanden, im Selbstversuch oder im interkulturellen Vergleich, charakteristischer Weise zu einem Streit um die Differenzierung von Aspekten. 286 Anscheinend verlangt gerade der Zusammenhang zwischen leiblichem Ausdruck und körperlicher Handlung, inwiefern es nämlich um Verschränkungen von Leiblichem und Körperlichem in Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen geht, Sprache. Wir nehmen sie als das Dritte implizit im Selbstgespräch und im Streitfalle explizit in der Rede und Widerrede in Anspruch. Dieses Dritte erlaubt es uns, dasjenige, was in der äußeren Wahrnehmung gerade aktual realisiert wird, als eine Variante perspektivisch anderer Möglichkeiten zu nehmen, die das sprachliche Medium virtualisiert enthält. Insofern erscheint die dritte, eben exzentrische Position, von der her sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen Ausdrücken und Handlungen fassen lässt, als das Medium der Sprache. In diesem Medium können Perspektivenwechsel vollzogen werden, welche die körperleiblichen Positionenwechsel im Hinblick auf die nötigen Möglichkeiten (den Kategorischen Konjunktiv) beurteilbar werden lassen. Die Unersetzbarkeit des ungespielten Lachens wie auch Weinens besteht dann darin, dass in ihnen kein Sinnzusammenhang zwischen Ausdrücken und Handlungen mehr hergestellt werden kann, weshalb die vom ungespielten Lachen und Weinen Betroffenen auch nicht mehr sprechen können. 2 8 7 Wenn es naturphilosophisch richtig ist, wie im vorigen Abschnitt besprochen, dass zentrisch organisierten Lebewesen ihr Körper nur unmittelbar, nämlich wie ihr Leib verfügbar ist, nicht (wie von uns) auf dem soziokulturell vermittelten Umweg gehabt werden kann, dann fällt ihrem Ausdruck die passende Handlungsmöglichkeit in der Umwelt durch Suchen zu und dann reagiert ihr Ausdruck entsprechend spontan auf eine Handlungsmöglichkeit, die sich ihnen in der bewussten Frontalstellung gegenüber dem Positionsfeld ergibt. „Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus in seine Mitte

286 Vgl. ebd., S. 9 3 - 9 6 , 1 0 2 - 1 0 6 . 287 Vgl. Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, S. 1 4 1 - 1 4 7 , 1 5 3 - 1 5 7 .

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hinein, aber es lebt nicht als Mitte." 288 Als Mitte zu leben unterstellt, dass die selbstverständlich vollzogene Zentrierung auf den eigenen Leibkörper hin als Problem (etwa als Gefährdung) von einer exzentrischen Position außerhalb des eigenen Körperleibes wahrgenommen werden kann. Da sich dort und dann, wo und wann die Exzentrierung perspektivisch vollzogen wird, der eigene Körperleib positional gerade nicht befindet, muss der Exzentrierung der perspektivischen Bewegungsrichtung ihre Rezentrierung antworten. Damit entsteht das Problem, eine positional lebbare Mitte, die semiotisch als Mitte im Unterschied zu perspektivisch anderen Positionierungen markierbar ist, erst finden zu müssen, indem die fxzentrierung und Rezentrierung, die beiden Bewegungsrichtungen der Zentrierung, verschränkt werden. Eben dies scheint Sprache in dem Maße zu leisten, in dem sie zunächst den Zusammenhang zwischen Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen herstellt. Wie die meisten der uns bekannten Tiersprachen zeigen, lässt sich durch sie den Handlungen anderer Tiere eigener Ausdruck und umgekehrt dem Ausdruck anderer Tiere eigene Handlung zuordnen. Durch Sprache lässt sich bereits biokulturell ein neu erlernter Zusammenhang zwischen Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen tradieren. Dies alles erhöht zwar den Vermittlungscharakter der tierischen Spontaneität, erfordert größere Gedächtniskapazitäten und intelligentere Handhabung von Mitteln, führt aber als solches noch nicht aus der zentrisch geschlossenen Organisationsform heraus, die so gleichsam nur extensiv erweitert reproduziert wird. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass höher entwickelte Säuger diese Dimensionen der menschlichen Sprache, sobald sie ihnen sensomotorisch zugänglich sind, erlernen können. Der springende Punkt für die Unterscheidung von Sprachen, die zentrisch organisierte Lebewesen gebrauchen, von Sprachen, die exzentrisch positionierte Lebewesen verwenden können, besteht erst in Folgendem: ob nämlich die sprachlichen Zeichen letztlich nicht nur sinnlich relevant sind für den Vollzug der Einheit von Sensorik und Motorik der Lebewesen für ein absehbares Hier und Jetzt, sondern darüber hinausgehend als sprachliche Zeichen verwendet werden können. Letzteres kommt der Suspension der sinnlichen Erfüllung des eigenen Körperleibes durch sprachliche Zeichen hier und jetzt zugunsten ihrer Verschiebung in die Selbstreferenz der sprachlichen Zeichen gleich. Vom Standpunkt der Sprache zentrisch organisierter Lebewesen, die wir Menschen teilen, formuliert, fällt die Spezifik der exzentrierenden Sprache mit dem für den Vollzug hier und jetzt sinnfreien Zeichen zusammen, das daher etwas anderes als den überschaubar aufgeschobenen Vollzug bedeuten kann: „Ausdruck und Handlung haben schon als Bewegungstypen ohne Rücksicht auf die Umstände ihrer Verwirklichung und dem von Fall zu Fall wechselnden Inhalt

288 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, in: ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 9.

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sinnhaften Charakter. Zeichengebung allein ist frei davon, damit sie ihre Funktion als ,Zeichen für', .Bedeutung des' ausüben kann. Ein bloßes Zeichen muss sinnfrei sein, um nur durch das, was es bezeichnet, seine Bedeutung zu erhalten. Anders dagegen Ausdruck und Handlung." 289 Empirisch gesehen verwenden also Menschen sprachliche Zeichen in einem breiten Spektrum. Dessen einer Rand wird von Gebrauchsweisen sprachlicher Zeichen für Ausdruckshandlungen und Handlungsausdrücke gebildet, die von allen zentrisch organisierten Lebewesen in der Säugerreihe mehr oder minder geteilt werden, weshalb man sich in keinem Sprachversuch mit solchen Tieren darüber zu wundern braucht, dass sie in dem Sinne sprachliche Zeichen wie menschliche Lebewesen, die eben auch zentrisch organisiert sind, gebrauchen können. Der andere Rand des Spektrums wird von sprachlichen Zeichen gebildet, die wie Schriftsprache im Unterschied zur Rede hier und jetzt auf andere sprachliche Zeichen verweisen, also der Selbstreferenz der Sprache folgen. Es ist nun charakteristisch für Tiere, dass sie sich auf keine selbstreferentielle Verwendungsweise sprachlicher Zeichen, deren Bedeutung keine sensomotorisch sinnliche Relevanz für den Leibkörper in einem absehbaren Hier und Jetzt hat, einlassen290, während Menschen diese Selbstlosigkeit unter bestimmten, soziokulturell abgestützten Bedingungen wie der Einrichtung von Diskursen, also einer passenden exzentrischen Position, vollbringen können. Was dann die Selbstreferenz der Sprache anzeigt, verweist zunächst auf die soziokulturelle Rolle, die Sprecher und Hörer, Autor und Rezipient in der gesellschaftlichen Generationenfolge spielen und die dann sprachlich nochmals exzentriert werden kann, wofür in literarischer Hinsicht das Fiktive und Imaginäre eine Möglichkeit sein können. 291 Damit kommen wir in Plessners Philosophischer Anthropologie zunächst einmal zu einem mit Austin vergleichbaren, nun aber naturphilosophisch fundierten Ergebnis.

289 Ders., Einheit der Sinne, a. a. O., S. 221. 290 Selbst wenn man die uns evolutionsgeschichtlich am nächsten stehenden Menschenaffen, Schimpansen und Bonobos, in einer sozialen Umwelt mit Menschen aufwachsen lässt und den sog. „Klugen-Hans-Effekt" der Gebärdensprache durch „Yerkish" (Sprache durch C o m putertastatur) vermeidet, überschreitet das sprachliche Kommunikationsniveau der Probanden untereinander und mit Menschen nicht die Leistungen von Menschenkindern in ihrem zweiten Lebensjahr. Vgl. Sue Savage-Rumbaugh/R. Lewin, Kanzi. Der sprechende Schimpanse, München 1995. Vgl. auch Marian Stamp Dawkins, Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins, Heidelberg 1994; Dale Peterson/J. Goodall, Von Schimpansen und Menschen, Reinbek bei Hamburg 1994. 291 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991, S. 147-157. In dieser Rezeption der Philosophischen Anthropologie Plessners wird allerdings der Schauspielcharakter der geschichtlichen und semiotisch-sprachlichen Veränderung soziokultureller Rollen durch die stets erneute Inanspruchnahme der exzentrischen Positionalität im naturphilosophischen Sinne nicht wahrgenommen.

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Die empirische Reichweite der Verwendungsweisen von sprachlichen Zeichen geht vom lebendigen Vollzug hier und jetzt, den wir mit zentrisch organisierten Lebewesen graduell verschieden teilen, bis zur Selbstbeschreibung der sprachlichen Verwendung sprachlicher Zeichen, die man sich soziokulturell stabilisiert nur als Schrift im Unterschied zur Rede vorstellen kann. Es wäre nun rückwirkend, wenn man nicht bei den einzelnen Lebewesen stehen bleibt, eine interessante Frage, Folgendes herauszufinden: Inwiefern geht der zentrische Sprachgebrauch von menschlichen Lebewesen auf eine alltäglich nötige Rezentrierung zurück, die in der Gesellschaft funktionsteilig auf außeralltägliche oder expertenkulturelle Exzentrierungen der Verwendungsweise von Sprache antwortet? Insofern muss die semiotisch-sprachliche Spezifikation pragmatisch gesehen in dem Kontext der geschichtlichen Veränderung soziokultureller Rollen durch die schauspielerische Inanspruchnahme einer natürlich möglichen Exzentrizität perspektivischer Positionierungen erfolgen. Dieser pragmatische Gesichtspunkt heißt aber nicht, dass das Problem der sprachlichen Spezifikation nicht semiotisch genauer zu fassen wäre. E. W. Orth hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Plessner schon in seinem Buch Die Einheit der Sinne (1923) eine Entsprechung zu Ernst Cassirers Symbolfunktion (1927) vorweggenommen hat. Während Plessner zwischen thematischer Prägnanz, syntagmatischer Präzisierbarkeit und schematischer Darstellbarkeit unterschied, differenzierte Cassirer die drei Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der reinen Bedeutung in symbolischen Formungen. 292 Ich habe schon erwähnt, dass der dreistellige Begriff der exzentrischen Positionalität, der auf Personalität abzielt, naturphilosophisch die Frage richtig stellt, warum es personalen Lebewesen möglich ist, mit dreistelligen Zeichenrelationen leben zu können, ja, sie derer bedürfen. Was besagt nun Plessners Dreier-Unterscheidung näher? Wenn man nicht den speziellen Extremfall einer sprachlichen Uberdeterminierung, der selbst erklärungsbedürftig ist, sogleich zum Paradigma der philosophischen Problematisierung erheben will, sollte man eine „Reihe der Anschauung", in der

292 Vgl. E. W. Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie des symbolischen Formen, Würzburg 1996, S. 233 f. Vgl. zur Diskussion über die Stellung von Plessners Buch Die Einheit der Sinne: Hans-Ulrich Lessing, Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Asthesiologie des Geistes" nebst einem Plessner-Ineditum, Freiburg/München 1998, S. 35 f., 367 ff. So sehr mich dieser Nachweis von Plessners frühem Motiv überzeugt, die Naturphilosophie im Unterschied zur Theorie der Naturwissenschaften rehabilitieren zu wollen, so wenig folgt daraus, dass es der „hermeneutischen Philosophie" zugehört. Welche Philosophie würde nicht auch

hermeneutisch verfahren (vgl. zum Fehlen des Abgrenzungskriteriums

für

„wesentlich" ebd., S. 371 f.)? Vgl. demgegenüber E. Völmicke, Grundzüge neukantianischen Denkens in den Frühschriften und der „Philosophischen Anthropologie" Helmuth Plessners, Alfter 1994.

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Phänomene das Spiel haben, sich zu geben, von einer „Reihe der Auffassung" 2 9 3 unterscheiden, in der die Phänomene als etwas Bestimmbares diskursiv genommen werden. Man kann sich nun den Zusammenhang zwischen Anschauung (Gebung) und Auffassung (Nehmung der Phänomene) mindestens dreifach vorstellen, um die extremen „Möglichkeiten" an den Rändern eines Spektrums zu erfassen, nicht aber „isolierten Bereichen im Rahmen des Erlebens" 2 9 4 das Wort zu reden: 1.) Trifft man in der Anschauung Phänomene an, so anhand von Gestalten, die darstellbar sind. Die Darstellung gelingt nach Schemata, die begrifflich eine Bedeutung haben und mit denen man etwas konstruieren oder komponieren kann. Diesen Grenzfall einer dank Schemata eindeutigen Zuordbarkeit von angeschautem Phänomen und seiner diskursiven Auffassung erläutert Plessner am Beispiel des Schematismus der Wissenschaft der reinen Geometrie. 2.) Man kann sich aber auch in der Anschauung eines Phänomens eines Erlebnisses innewerden und ringt dann mit der Präzisierbarkeit dieses Erlebens. In der Auffassung versucht man, das Erlebnis durch sprachliche Gliederung zu präzisieren. Dafür variiert man sprachlich vorhandene Bedeutungen und deren syntagmatischen Zusammenhang (zwischen determinierenden und determinierten Gliedern oder koordinierten Gliedern). Diese Zuordnung von Anschauung und Auffassung eines Phänomens ist weder eindeutig noch geht sie in die Richtung, das Erlebnis des Phänomens durch seine konstruktive Darstellung als Gestaltenkomposition (1.) zu ersetzen. Vielmehr hat diese Zuordnung die Aufgabe, die Phänomenanschauung in Tagmen (kleinste bedeutungstragende Einheiten der grammatischen Form) und deren übersummenhafte Kombination unvollständig zu „ ü b e r s e t z e n " 2 9 5 , weshalb sie Plessner als den üblichen Tagmatismus der Sprache und der Schrift erläutert. Dabei geht es nicht um Schrift im Sinne Derridas, sondern um Schrift, die sich der präsentistischen Interpretation der Rede durchs Bewusstsein material hinreichend entzieht und einen anthropologischen Vergleich eröffnet: „So darf man auch die verschiedenen Typen von Schrift, selbst wenn ihre entwicklungsgeschichtliche Ableitung voneinander gesichert erscheint, Knoten- und Bilderschrift, Rebusschrift, die das Bildzeichen für ein bestimmtes Wort auf ein anderes gleichlautendes überträgt, Silben- und schließlich Lautschrift bis zu ihrer höchsten Ausgestaltung in der phonetischen Schreibweise, nicht auf eine Werteskala abtragen". 2 9 6 3.) Ist die Phänomenanschauung weder schematisch darstellbar noch sprachlich präzisierbar, kann sie uns doch erfüllen, so dass sie einer Empfindung oder Idee nach

293 H . Plessner, Die Einheit der Sinne, a. a. O., S. 189. 294 Ebd., S. 154. 295 Ebd., S. 175. Diese nie „restlose" Übersetzungsaufgabe schließt den Standpunkt Gottes aus: „den objektiven Zusammenhang in einem, die Übergegensätzlichkeit nicht mehr im Rahmen einer Sinnform, sondern über allen Sinn-, das heißt Sprachformen kennt nur Gott." Ebd., S. 176. 296 Ebd., S. 164.

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Prägnanz erhält. Sie würde dann nur nach dem Sinn für eine Proportion geformt, welche eine Thematisierung ermöglicht. Plessner erläutert diese spielerisch vage Zuordnungsmöglichkeit von Anschauung und Auffassung am Beispiel des Grenzfalles reiner Musik und davon ausgehend am Thematismus der Kunst. „Deshalb gibt es, wie im Gebiete der schematischen Sinngebung, der Wissenschaft, und der syntagmatischen Sinngebung von Sprache und Schrift, auch im Feld der thematischen Sinngebung, der Kunst, einen reinen Fall, da Anschauungsweise und Verständnisweise durch etwas in ihnen Gleichartiges restlos sich durchdringen und in ihrer Vereinigung einem Kulturgebiet den Ursprung geben. Der reinen Mathematik, Sprache und Schrift reiht sich hier die reine Musik an, die uns ergreift und beschäftigt, entzückt und bereichert, ohne dass wir je angeben könnten, aus welchem Grunde uns das im bloßen Zuhören geschieht. Reine Musik stellt nichts dar, sagt nichts aus, illustriert nicht, symbolisiert nicht." 297 Das semiotische Spektrum der Zuordnungsmöglichkeiten zwischen phänomenaler Anschauung (Gebung) und diskursiver Auffassung (hermeneutischer Nehmung oder Verständnisweise des Phänomens als ...) hat nun den Vorteil, die „erkenntnismäßige" (nicht traditionell erkenntnistheoretische) Problematik nicht mit der sozialen Wirklichkeit von Personenrollen und deren Medien zusammenfallen zu lassen. Durch die semiotische Unterscheidung kann die Philosophische Anthropologie auch Veränderungsmöglichkeiten aufdecken, die in keinem sozialen Zirkel enden, der sich heutigentags so großer Beliebtheit erfreut: „Die Einteilung in individuelle, interindividuelle, überindividuelle (etwa soziale) Wirklichkeit ist ... von der erkenntnismäßigen Einteilung in subjektiv, intersubjektiv, objektiv streng zu trennen. Bezeichnend für den Gegensatz zwischen beiden Betrachtungen ist auch ... Folgendes: Individuell heißt einem Individuum, interindividuell mehreren Individuen oder Personen, überindividuell einer Einheit von Personen angehörig. Subjektiv jedoch heißt ein Bestand, der an irgendein Bewußtsein (eines oder beliebig viele) gebunden, intersubjektiv, der der Anschauung nach an kein Bewußtsein gebunden, daher beliebig vielen Bewußtseinen zugänglich erscheint ..., und objektiv heißt an kein Bewußtsein gebundener Bestand. Und nur weil ein Bewußtsein von Wesen individuiert ist, d. h. einen lebendigen, zentralen Aktkern besitzt, werden .subjektiv' und .individuell' oft füreinander gebraucht und die beiden Einteilungen durcheinandergebracht."298 In der erkenntnismäßigen Unterscheidung handelt es sich um die Frage, inwieweit der phänomenale Bestand vom Subjekt des Bewusstseins abzulösen ist. „Intersubjektiv heißt vom Subjekt des Bewußtseins loslösbar, ohne darum schon unter den Begriff der Objektivität zu geraten."299 In der sozialen Betrachtung handelt es sich

297 Ebd., S. 187. 298 Ebd., S. 81 f. 299 Ebd., S. 80.

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um die Frage, inwieweit der phänomenale Bestand vom Individuum zu lösen ist. „Interindividuell heißt vom Individuum loslösbar, ohne darum auch vom Subjekt losgelöst oder Bestandteil einer überindividuellen, etwa sozialen Größe zu werden. Interindividuelle Wirklichkeit ist wie alle Wirklichkeit objektiv, da ihr Bestand nicht an ihr Bewusstwerden und Bewusstsein gebunden ist, jedoch nicht intersubjektiv."300 Was bedeutet dies für die genannte Unterscheidung der semiotisch relevanten Grenzfälle? Was prägnant ist, ist individuell (bis in die „Vereinzelung des Individuums in gewissen Einsichten und Urteilen" 301 hinein), also nicht vom Individuum ablösbar. Denkt man phänomenal an Musik, Tanz und Trance, wird einem aber schnell klar, dass man dies nicht auf das Bewusstsein des Individuums oder gar auf die Bewusstheit seiner Individualität übertragen darf, die womöglich ihre Erfüllung gerade darin finden, in körperleiblichem Verhalten aufgelöst zu werden. Wirkliche Trance und wirkliche Fetische, die nicht künstlich fürs Bewusstsein eingerichtet werden, sondern vom Körperleib gelebt werden, sind aktual objektiv, wenngleich nicht im Sinne diskursiver Erkenntnis, wohl aber im Verhaltenssinne. Ein lebendiger lateinamerikanischer Tanz ist inter subjektiv für seine Teilnehmer, nicht aber interindividuell, also nicht vom Individuum ablösbar, wie jeder gute Tango zeigt. Was sprachlich im Sinne von Schrift präzisierbar ist, ist interindividuell, also vom Individuum loslösbar, und was sich scbematisch darstellen lässt, ist zudem intersubjektiv, also vom subjektiv bestimmten Bewusstsein loslösbar, ohne deshalb schon objektiv sein zu müssen302, ohne also in einer Maschine sprachlicher Gestalten enden zu müssen. In der Rede scheint die Präzisierbarkeit und umso mehr die Darstellbarkeit noch aufgehalten werden zu können: „Präzis ist in der Sprache nur die Bedeutung der Rede gefasst, die ihn, den erscheinenden Wasgehalt der Empfindung oder des geistigen Aktes, betrifft." 303 Aber die Ambivalenz der Rede liegt zwischen der individuellen Prägnanz und der interindividuellen Präzisierbarkeit der Sprache. Ihre Ambivalenz ist nur verdeckt von der mimisch-gestischen Vertrautheit, die aus der gemeinsamen Teilnahme an den Ausdrücken und Handlungen zentrisch organisierter Lebewesen erwächst. Indessen kann man diese Vertrautheit des je aktualen Vollzuges, die zweifellos zu genießen ist, nicht übertragen auf eine Horizontverschmelzung (Gadamer) oder ein Einverständnis (erste Fassung von Habermas' Theorie) im Hinblick auf die diskursiv präzisierbaren oder gar darstellbaren Gehalte. Wer die Gemeinsamkeit im zentrisch lebendigen Vollzug des Gesprächs von Individuen mit einer Gemeinsamkeit im diskursiven Gehalt konfundiert, programmiert die ständige Enttäuschung von Gesprächen vor,

300 301 302 303

Ebd., S. 81. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 80. Ebd., S. 83.

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den künftigen Affekt gegeneinander, statt den erlebten Affekt miteinander in der schönsten Erinnerung für Lebendiges zu behalten. Der semiotische Ansatz in Plessners Philosophischer Anthropologie wäre nun aber (ähnlich wie bei Cassirer) inkonsequent, böte er nicht Ersatz für die Rolle des Bewusstseins, die nur Sinn macht in erkenntnismäßiger Hinsicht, wenn es also ein Erkenntnisproblem durch die Verselbständigung des Bewusstseins gegenüber dem körperleiblichen Verhalten gibt. Der Zeichenbegriff ist dreistellig, und wir müssen jetzt endlich zu der dritten Position übergehen, die es erlaubt, zwischen Anschauung und Auffassung zu unterscheiden und ihr Zusammenspiel einzurichten (wie an den Grenzfällen exemplarisch verdeutlicht) oder durch Konfusion zu verfehlen, wodurch metaphysische Wirklichkeiten entstehen. Es ist die funktionale „Einheit der Person in ihrer Mannigfaltigkeit" selber, die den „Index für die Objektivität" der Semiosis bildet: „Das Aussehen der Welt hängt also nicht an unserem Bewußtsein, sondern unser Bewußtsein am Aussehen, die Modi der Objektivität sind im strengsten Sinne Entsprechungen, wahre Gegenbilder des Existenztypus der menschlichen Person. Was aus ihr hervorbrechend die Einheit gefährdet, bildet den (negativen) Index metaphysischer Wirklichkeit." 304 Das Zusammenspiel von Anschauung und Auffassung (oder seine Feststellung) hängt ab von der Verschränkung des eigenen Körperleibes in Haltungen der Person, zum Beispiel durch die Disziplinierung der Körper und die diskursive Normalisierung der Perspektiven von Personen. Die semiotische Aufmerksamkeit gilt so den Möglichkeiten, die bisher angedeutete „Konkordanz von Anschauung und Auffassung" einer „Reihe der Haltung"305 von Personen zuordnen zu können. Personale Lebewesen, also weder das Bewusstsein noch eine ominöse Schrift, weder das Leben noch der Diskurs oder sonst etwas, sondern im oben genannten Sinne dreifach positionierte Lebewesen gebrauchen, bilden selbst und verwenden Zeichen, und zwar je nachdem, in welcher Haltung sie ihre Körper-LeibDifferenz verschränken, verschiedene Zeichen in einem Spektrum möglicher Zeichen. Was wir bisher als die thematische Erfüllung durch Prägnanz angesprochen haben, entspricht der Ausdrucksstellung der Person, die wahrnimmt und versteht. Sie kann nicht vom Gleichsinn der Bewegungsrichtungen im Positionsfeld306 erfüllt werden, wenn sie nicht als Lebewesen die Ausdrucksposition auf eine exzentrierende Weise einzunehmen vermag. Was wir bislang die syntagmatische Präzisierbarkeit genannt haben, korrespondiert damit, dass der sprachlich Gliedernde natürlich selbst in der 304 Ebd., S. 21. 305 Ebd., S. 220. 306 Vgl. zum Gleichsinn und Gegensinn der Bewegungsrichtungen, in denen sich zentrisch organisierte Lebewesen im Positionsfeld verhalten können, H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., S. 95-100. Der Gleichsinn steht im Reflexionskreis des Stimmens und der Gegensinn in der Auge-Hand-Koordination im Vordergrund, woraus das Problem der sprachlichen Verschränkung beider sinnesanthropologischer Kreise hervorgeht. Vgl. ebd., S. 68-74.

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Position der „Kundgabe durch Zeichen" situiert ist, also selber abständiges Hören und Sehen miteinander verschränkt. Wer uns in waffenstarrender Haltung gegenübertritt, wird unsere Sprache für Anderes gebrauchen, falls er uns überhaupt noch zu Worte kommen lässt. Und was wir oben als die schematische Darstellbarkeit bezeichnet haben, ergibt Sinn für Personen, die sich in der Stellung zu handeln positionieren, also im Gegensinn zum Positionsfeld. Mit der Berücksichtigung des dritten Gliedes der Zeichenrelation, der Verschränkung der Körper-Leib-Differenz zu einer personal gehaltenen Position, kommt neben dem optischen Sinneskreis mit einer besonderen Affinität zum möglichen Handeln und dem akustischen Sinneskreis mit einer besonderen Konkordanz zu den Hörmöglichkeiten der dritte „Sinneskreis des Zustands"i07 zum Vorschein. Er informiert uns propriozeptiv über die Zuständlichkeit des eigenen Körperleibes hier und jetzt, über dessen Bedürftigkeit, Eingespieltheit, Ungleichgewichte, womit wir begonnen haben. Es ist nun offenbar für das sprachliche Vermittlungsniveau zwischen Ausdruckshandlungen und Handlungsausdrücken die Frage bedeutsam, inwieweit wir dieser Zuständlichkeit des eigenen Körperleibes ausgeliefert sind oder inwieweit diese Zuständlichkeit eingespielt nur mitläuft. Je bedrängender die Zuständlichkeit des eigenen Körperleibes zur Not wird, desto zentrisch organisierter neigt die Lebensform zum Vollzug. Je größer der Abstand zur eigenen Zuständlichkeit werden kann, dank der Vermittlung in der gesellschaftlichen Kommunikation, desto freier können die sprachlichen Spielmöglichkeiten zwischen Ausdruckshandlungen und Handlungsausdrücken in zeitliche und räumliche Perspektiven hinein entfaltet werden. Wir haben so ein semiotisch zu spezifizierendes Kontinuum erreicht, in dem man sich zwei Kippbewegungen vorstellen kann: einerseits vom zentrischen Gebrauch sprachlicher Einheiten (im Kontext des Vollzuges lebendiger Not) zur exzentrierenden Verwendungsweise der Sprache in ihre Selbstreferenz hinein und andererseits von dort zurück in eine Rezentrierung der sprachlichen Perspektivierungen in den positionalen Vollzug hier und jetzt. Beide Kippbewegungen hängen vom soziokulturell vermittelten Freiheitsmaß gegenüber der Zuständlichkeit des eigenen Körperleibes ab. Ist dieses Maß gering, tendiert die sprachliche Leistung dazu, in Abbildung und Ausdruck zusammenzubrechen; ist es hoch, kann die selbstreferenzielle Eigenart sprachlicher Zeichen zur Geltung kommen. Es sei auffallend, so schreibt Plessner, „dass ausgerechnet die Zeichengebung, jene mittlere Stufe in der Reihe der Haltungen, keinem Sinneskreis eindeutig nach dem Gesetz der Akkordanz zuzuordnen ist. Ausdruckshaltung steht mit dem Gehör, Handlung mit dem Gesicht im Verhältnis der Akkordanz, jede freilich in ihrer besonderen Weise. Nur die Stufe der Zeichengebung ist von einer solchen Beziehung frei." 308 Die Spezifik der sprachlichen Leistung werde verkannt, wenn sie

307 H. Plessner, Die Einheit der Sinne, a. a. O., S. 268. 308 Ebd., S. 270.

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einfach zentrisch organisierten Lebewesen zugeordnet wird, die ihre Umwelt handlungsrelativ abbilden und sich in diese hinein ausdrücken: „Weder die Abbildtheorie der Sprache, ihre Deutung als Gegenstandsnachahmung, noch die Ausdruckstheorie, ihre Deutung als Ausruf und Reaktion des Subjekts auf die Gegenstände, treffen den richtigen Kern." 309 Die selbstreferentielle Spezifik sprachlicher Zeichen ist nicht einfach in dem Kontext zentrisch organisierter Lebewesen fassbar, sondern in dem Kontext, dass sich solche Lebewesen eben auch exzentrisch positionieren können. Wir kommen so erneut in ein Spektrum an personal gehaltenen Positionen des Körperleibes, deren Personalität an der sprachlich selbstreferentiellen Mediatisierung von Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten auffällig wird. Mit Austin könnte man von Lokutionen (sprachlich interindividualisierte und intersubjektivierte Handlungsschemata), Illokutionen (personale Rolle für Sprachpositionen) und Perlokutionen (Sprachverwendungen in der Individualisierung der Ausdrucksposition) sprechen. 1.2.9. Das Sein des Selbstseins oder das Spiel in und mit der Natur: Heidegger und Plessner als Gegenspieler in der deutschsprachigen Philosophie Selbst diejenigen Verhaltensforscher, die die spielphilosophische Umstellung der Anpassungs- und Selektionsfrage 310 nicht direkt zur Kenntnis nehmen wollten, sondern nur indirekt in der durch Arnold Gehlen gezüchtigten Form 311 , anerkennen inzwischen die empirisch überwältigenden Evidenzen dafür, dass wir Menschen evolutionsgeschichtlich und ethologisch vergleichend betrachtet in der Reihe der Säuger und damit des ausdrücklichen Spielverhaltens stehen: In der Spielfähigkeit, „Handlungen von den Antrieben abzuhängen, liegt wohl die Wurzel dessen, was wir subjektiv als Freiheit erleben, nämlich die Fähigkeit, uns emotionell zu distanzieren und in einem so geschaffenen Freiraum zu planen und zu überlegen. Erst die Untersuchung der Tierspiele erlaubte es, diese Unterschiede zwischen Spiel und Ernst klar zu sehen, denn beim Menschen ist bereits das Alltagsverhalten - insbesondere wenn er sprachlich handelt - auch in Ernstsituationen in ein weniger starres Ablaufschema

309 Ebd., S. 246. 310 Siehe für die vergleichende Verhaltensforschung dann elaboriert vor allem von F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933. Vgl. zur kulturgeschichtlichen Ausführung J. Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938), Reinbek b. Hamburg 1987. 311 Gehlen referiert zwar Buytendijks Spielkonzeption, hält aber den menschlichen Handlungsaufbau zur Kompensation des menschlichen Instinktmangels für entscheidend, da die im Spiel offenbar werdende „menschliche Antriebsstruktur, die überschüssig, plastisch, weltoffen und kommunikativ ist, übrigens aus denselben Gründen dann der Zucht bedarf, wenn ernste A u f gaben herantreten." A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, hg. v. K.-S. Rehberg, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 3.1., Frankfurt/M. 1993, 242.

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gezwungen; die Akte der einzelnen Handlungsschritte sind also stärker abgehängt und damit freier verfügbar. Man könnte auch sagen, sein ernsthaftes Handeln trägt in diesem Sinne Züge der spielerischen Freiheit - und man könnte auch das als persistierendes (auf alle Lebensphasen übergreifendes: H P K ) Jugendmerkmal deuten." 3 1 2 - Es wäre möglich, noch viele erfahrungswissenschaftliche Forschungsrichtungen der letzten Jahrzehnte anzuführen, wo Orientierungen der Philosophischen Anthropologie - mit oder ohne Kenntnis der Werke Plessners - wiederentdeckt und produktiv gemacht worden sind, ζ. B. in der Erforschung von Prozessen der Selbstorganisation und Selbstreproduktion 313 oder des Wandels öffentlicher Rollen in der Städtekultur. 314 Die Anerkennung erfahrungswissenschaftlicher Fortschritte gegenüber den alten dualistischen Fehlorientierungen ist eines, das Niveau der philosophischen Frageweise während der 20er Jahre und zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jhs. wiederzuerlangen ein anderes, zumal Plessners Beitrag dazu von Heideggerianern und Gehlenianern verschwiegen, marginalisiert oder verkannt worden ist, auch noch nach Plessners Rückkehr aus seinem holländischen Exil bis heute. 315 Worum es in dem philosophi-

312 I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie, München 1995, 795 f. 313 Vgl. H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel. Moderne, Postmoderne und Autopoiesis im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993, insb. 1. Teil. 314 Vgl. R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (engl. 1974), Frankfurt/M. 1986, insb. 2. Kap. 315 Vgl. die respektable Offenheit von H. Fahrenbach, „Lebensphilosophische" oder „existenzphilosophische" Anthropologie? Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: F. Rodi (Hg.), Dilthey-Jahrbuch, Bd. 7 (1990/91), S. 71-73. Inzwischen kann die Zusammenarbeit zwischen Georg Misch und Plessner gegen Heidegger (nachzulesen in dem von Plessner herausgegebenen „Philosophischen Anzeiger" von 1928 bis 1930, in dessen Beirat Heidegger saß) auch von den Heidegger-Freunden nicht mehr ignoriert werden, wenngleich sie zugunsten Heideggers anhand des Erscheinungsjahres der Monographien von Plessner und Misch auf später datiert wird (außer Plessners o. g. Macht und menschliche Natur von G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Dilthey'schen Richtung mit Heidegger und Husserl, Bonn 1930). Statt beider Argumente für das Scheitern der Heideggerschen Fundamentalontologie anzuerkennen, verdreht Safranski im Nachvollzug der Haltung seines „Meisters", d. h. im philosophischen Scheitern die Flucht ins NS-Rektorat anzutreten, die Kritik an Heidegger in eine Bestätigung desselben um: Plessner soll nur „jene Politisierung und Nationalisierung mit hohem Reflexionsaufwand" vollzogen haben, „die bei Heidegger eher verdeckt geschieht. Da sie aber verdeckt geschehen ist, braucht sich Heidegger, als die Kritik Plessners 1931 erscheint, von ihr nicht mehr getroffen zu fühlen. Er ist nämlich inzwischen auch schon dabei, einen ausdrücklichen Bezug zum .Volkstum' und damit auch zur Politik zu suchen - auf ähnlichen Wegen wie Plessner." R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 246 f.

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sehen Streit seit Ende der 20er Jahre - vor allem zwischen Heidegger einerseits und Misch und Plessner andererseits - deutlich gegangen ist, war nicht die Frage, wie Safranski offenbar meint, wer von den deutschen Philosophen schneller als Heidegger auf Seiten des Volkstums stand, sondern die Umstellung der gesamten Erklärungsbeziehung zwischen dem explanans, wodurch man erklärt, und dem explanandum, das man für erklärungsbedürftig hält, unter Berücksichtigung des Ausdrucksverstehens. An dieser Dimension „leiblicher Kommunikation" leidet Heideggers Philosophie grundsätzlich Mangel. Daher übernimmt Heidegger nach dem Scheitern seiner Konzeption von Sein und Zeit (1927), in seiner (laut Görland und Schmitz) „Transzendenzphase zwischen 1927 und 1929", von Plessners exzentrischer Positionalität (Stufen, 1928) nur die exzentrische Struktur, nicht aber die Positionalität lebendiger Körper, wie Heideggers Freiburger Vorlesungen von 1929/30 zeigen, natürlich ohne Plessner zu nennen.316 Exzentrik ohne Ausdrucksverstehen, wie wir es mit zentrisch organisierten Lebewesen teilen, ergibt jedoch wieder nur Transzendenz und Subjektivität, nicht aber positionale Lebensformen, in denen die ex- und re-zentrierenden Aktivitätsrichtungen im Sinne eines Kategorischen Konjunktivs aneinander begrenzt werden können und müssen. Daher fällt Heidegger ab 1930 in eine „Kontingenzphase", in der der fundamentale Mangel des Daseins „durch den Sprung in den konkreten geschichtlichen Augenblick radikal geheilt"317 werden soll. Plessner resümiert in seiner Besprechung von Buytendijks Buch, 1934 in Deutschland noch nachlesbar, die von Buytendijk und ihm als nötig erkannte paradigmatische Umstellung. Das Spielen soll nicht mehr als funktionales Mittel für die Herausbildung von etwas anderem, nämlich nur dem jeweiligen kulturellen Selbstverständnis (das in Arbeit, Herstellen, Handeln, Wissenschaft, Kunst oder sonst wie fixiert werden kann) missverstanden werden. Vielmehr gelte es, das Spielen selbst als den Ermöglichungsgrund von solchen kulturgeschichtlichen Selbstverständnissen endlich ernst zu nehmen: „Die Wissenschaft fragt nicht: warum ist das Leben ernst, sie fragt: warum spielt es? Und die seltenen Versuche, das Spiel zur Basis zu nehmen und die Gedrücktheit des Daseins als den Verlust seiner ursprünglichen Leichtigkeit, einer im Grunde noch immer möglichen Spielfreiheit aufzufassen, nimmt sie nicht ernst." 318 Im „Bilde des Spiels", d. h. in der „Ambivalenz" zwischen dem Drang „nach Selb-

316 „Aus der existenzialen Analytik wird eine Anthropologie der exzentrischen Positionalität im Sinne von Plessner auf der Grundlage einer realistischen Weltanschauung." Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, 389, vgl. auch ebd., S. 385. 317 Ebd., S. 471. 318 H . Plessner, Das Geheimnis des Spielens, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt (Neue Folge der Minerva), hg. v. Hans Sikorski, Berlin/Leipzig (Walter de Gruyter & Co) 1934, Nr. 17 (Ausg. v. 5. Sept. 1934), S. 8.

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ständigkeit und Bindung", werde „an die unter der Sorge und kämpferischer Verzerrung vergessene Tiefe schuldlos gelassenen Lebens erinnert". 319 Von den historischen Zeitgenossen will ich hier nur vier gewichtige, noch aktuell bedeutsame oder wieder aktuell interessierende Zeugen erwähnen. Ich hoffe, dass der folgende kurze Rückgang in den deutschsprachigen Diskurs der Philosophie in den 20er und zu Beginn der 30er Jahre zu einer Korrektur ihres anhaltend auf Heideggers Philosophie fixierten Bildes beitragen kann, wodurch auch die heute systematisch relevante Alternative wieder zugänglich wird. Es ist keineswegs so, dass Heidegger damals unter maßgeblichen Philosophen sachlich die Führungsrolle hätte beanspruchen können, geschweige ausgeübt hat. Dieser verrückende Eindruck konnte erst im Laufe der Zerschlagung der philosophischen community und im Glauben der philosophisch Unbedarften an Heideggers Rektoratsrede über Die Selbstbehauptung der deutschen Universität vom 27. Mai 1933 entstehen. Umso alberner ist es, noch heute an der Legende vom Meister Heidegger festzuhalten, als ob sich mit diesem Fall die systematischen Möglichkeiten der deutschsprachigen Philosophie aus der „Epoche der Weltkriege" 320 für erledigt erklären ließen. Ich beginne mit Georg Misch, der den vergleichbaren und dadurch zum Streit fähigen Punkt zwischen Heidegger und Plessner in seinen Vorlesungen von 1927/28 bis 1933/34 klar herausgestellt hat. Es gehe in beiden Philosophien um den wesentlichen Zug des Daseins, „daß es sich immer schon vorweg ist, wenn es erlebend bei dem oder jenem ist, mit dem wir gerade zu tun haben." 321 Misch zeigt sich von Plessners Verfahren überzeugt, in dem die Möglichkeit zur Distanzierung vom Situationsgefüge aus der „Positionalität" von Lebewesen selber heraus verstanden wird. So begriffen führe die „menschliche Möglichkeit, nicht bloß im Leben darin zu stehen", nicht (den seit Plato üblichen und von Heidegger nur kritisierten, nicht überwundenen) Preis mit sich, „sofort ein Über-dem-Leben-Stehen" für sich in Anspruch nehmen zu müssen.322 Die Leibeshaltungen können „Ausdruckscharakter haben und verstanden werden", weil, so zitiert Misch Plessner, der Leib „eine Umwelt hat, auf welche er, die auf ihn einspielt".323

319 Ebd. Hier hätte Safranski eine neue Aufgabe zu bestehen: Stammen etwa auch die Themen der Spätphilosophie Heideggers, das Ringen um Schuldlosigkeit und Gelassenheit nach seinem Rücktritt 1934, von Plessner, der dafür aber auf die Inszenierung eines höheren Seinskontaktes verzichten konnte? 320 Vgl. H. Plessner, Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege (1953), in: GS IX, S. 286 ff., 291 ff. 321 G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, hg. v. G. Kühne-Bertram u. F. Rodi, Freiburg/München 1994, S. 339. Vgl. auch ebd., S. 151. 322 Ebd., S. 265 f. 323 Ebd., S. 150. Vgl. F. J. J. Buytendijk/H. Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs (1925), in: GS VII, S. 122.

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Misch zitiert hier völlig zu Recht aus der von Buytendijk und Plessner gemeinsam verfassten Geburtsurkunde der Philosophischen Anthropologie, der Abhandlung Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925), die sich produktiv von Schelers Geistesmetaphysik verabschiedet hat und die Gehlen dann später erfolglos versuchen wird, von ihrem spielphilosophischen Charakter zugunsten eines kompensatorischen Pathos der Erfahrungswissenschaft zu befreien. Man findet in dieser Abhandlung die für Plessners Philosophische Anthropologie charakteristische naturphilosophische Wendung des Problems einer allgemeinen oder universellen, also über die traditionell geisteswissenschaftliche Hermeneutik hinausgehenden Verstehensproblematik in das lebendige Dasein selbst. Respektiere man nämlich am Lebewesen in seiner Umwelt, dass es sich, wie Plessner in den Stufen ausführen wird, in der Aktivitätsrichtung nach innen selbst organisiert (in Organe differenziert), wodurch es sich in der Aktivitätsrichtung nach außen - über Medien - in der für es relevanten Umwelt selber reproduzieren kann, dann stößt man auf das „einfache Spiel des Verhaltens" zwischen den beiden rekursiven Aktivitätsrichtungen des Ausdrückens und Erlebens (Bedeutens), das „Ausdrucksbedeutung möglich" macht. 324 Gegen Ludwig Klages' „Fehler", dieses einfache Verhaltensspiel in der Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik sogleich wieder als den „Inbegriff von mehr oder weniger festen Sinnbildern oder Bildbedeutungen" zu verschütten, radikalisieren die Autoren „Schelers Entdeckung der psychophysischen Indifferenz des Leibes" 325 noch gegen Scheler selber, bis sie den Spielansatz in die Frage nach dem „Spiel der Funktionen im Verhalten von Mensch zu Mensch" vor allem in der „Mittelstellung der Sprache zwischen Ausdruck und Handlung" vorantreiben können. 326 Die Durchführung dieser Frage gelingt Plessner freilich erst in den Stufen, indem er derjenigen Zentralisierung der Organisationsform von Lebewesen nachgeht, die (genügend Plastizität des Gehirnes und sensomotorische Rückkopplung unterstellt) die gegensinnige Exzentrierung des Verhaltenszentrums ermöglicht und benötigt, was der Anschauung nach erst in unserer soziokulturellen Zweitnatur fassbar wird. 327 Im Unterschied zu Misch hat Ernst Cassirer bereits deutliche Schwierigkeiten, Plessners Projekt einer Philosophie von Anthropologie richtig aufzufassen, wie er auch in Davos Heidegger nur teilweise verstehen und daher auch nur partiell entgegnen konnte. Dies unterstreicht, hier in Ubereinstimmung mit dem anderen Zeitzeugen Misch, dass nicht Cassirer, sondern Plessner der konzeptionelle Gegenspieler von Heidegger war, zumal in etwa der gleichen Genera-

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Buytendijk/Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, a. a. O., S. 105. Ebd., S. 127. Ebd., S. 105 u. 93. Vgl. H . Plessner, Stufen, a. a. O., S. 311.

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tion. 3 2 8 Wenn die Davoser Hochschultage 1929, die Disputationen zwischen Heidegger und Cassirer 3 2 9 , die philosophiehistorische Bedeutung gehabt hätten, die ihnen häufig zugeschrieben wird, hätten sie zwischen Heidegger und Plessner stattfinden müssen. Diese Disputation steht jedoch bis heute systematisch aus. 3 3 0 Heidegger ist ihr durch seine Verschweigetaktik gegen seinen Widersacher ausgewichen, und Gadamer durch den Rückfall in eine Geisteshermeneutik, die sich um den geschichtlichen Ausgleich unserer ersten und zweiten Natur nicht schert und die gleichwohl Plessner en bloc mit Scheler und Gehlen für ihre eigene Aufbauschung einer geisteswissenschaftlichen Methode zu einer Philosophie zu vereinnahmen sucht. 3 3 1 Cassirer missversteht Plessners Projekt als die traditionelle, von Heidegger zu Recht als „Anthropologie" kritisierte Frage, „die Demarkationslinie zwischen dem Menschen und der Gesamtheit des Lebendigen (zu) ziehen". 3 3 2 Cassirer weiß sich daher mit Max Scheler (statt Plessner) in der Aufrechterhaltung des Problems des Geistigen „in prinzipieller Ubereinstimmung", für das ja seine „Philosophie der symbolischen Formen" die Lösung biete. 3 3 3 Dadurch geht die gesamte, von Plessner erarbeitete und von Misch begriffene Pointe der „immanenten Selbstaufhebung des Lebens" 3 3 4

328 Dass Heidegger und Plessner die beiden Antipoden waren, dies sehen auch Josef König (der wegen der vergleichbaren Problemstellung von Plessner zu Heidegger wechseln kann) und Plessner selbst in ihrem für die gesamte damalige Problemlage höchst aufschlussreichen Briefwechsel schon im Januar und Februar 1928 sehr deutlich. Vgl. J. König/H. Plessner, Briefwechsel 1923-1933, hg. v. H.-U. Lessing u. A. Mutzenbacher, Freiburg/München 1994, S. 166-171, 175-181. 329 Vgl. K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/E. W. Orth (Hg.), Uber Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1988, S. 290-302 330 Vgl. H.-P. Krüger, Die Leere zwischen Sein und Sinn: Helmuth Plessners Heidegger-Kritik in „Macht und menschliche Natur" (1931), in: W. Bialas/B. Stenzel (Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Weimar/Köln/Wien 1996, S. 177-199. 331 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960,S. 448 f. Orth sieht zwar das Problem einer universellen Hermeneutik, meidet und verkennt aber Plessners naturspiel-philosophische Wendung des Problems. Vgl. E. W. Orth, Das Verständnis des Leibes bei Helmuth Plessner als Problem der Hermeneutik, in: Studia Philosophica 46/1987, S. 42. Plessner selbst hat schon gegenüber dem Wechsel seines Freundes König zu Heidegger darauf bestanden, dass die exzentrische Position die Legitimation nicht nur auch, sondern „nur eines naturphilosophischen Ansatzes ist." J. König/ H. Plessner Briefwechsel, a. a. O., S. 175 (Brief v. 22. 2. 1928) 332 E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. v. J. M. Krois, Hamburg 1995, S. 36. 333 Ebd., S. 60. 334 H. Plessner, Stufen, a. a. O , S. 199.

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verloren: wie nämlich die Lebendigkeit des Geistigen aus dem Zusammenspiel hoch selbstreproduktiver Organisationsformen mit ihren zentrischen oder exzentrischen Positionsformen in der kategorialen Rekonstruktion der phänomenologischen Anschauung vorgestellt werden kann, bis die exzentrisch gebrochene Lebensform sowohl ihre Symbolisierung ermöglicht als auch deren bedarf.335 Cassirer hält nicht die Ein- und Ausfaltungen der Aktivitätsrichtungen des lebendigen Daseins selber für - der Struktur und Funktion nach - „geistig" qualifizierbar, sondern ist unter der Voraussetzung traditioneller Unterscheidungen noch mit der Sicherung der geistigen Sonderstellung des Menschen beschäftigt, wenngleich er diese als animal symbolicum symbolisch differenzierter als üblich und eher komplementär als dualistisch fasst.336 Er kommt aber zu keiner wirklichen Revision der Denkvoraussetzungen seiner Generation, die Misch, nur vier Jahre jünger als Cassirer, durch W. Dilthey und in der Diskussion mit Heidegger und Plessner gelingt. Nicolai Hartmann lag wie Georg Misch altersmäßig zwischen Cassirer einerseits und Heidegger und Plessner andererseits, was insofern von Belang ist, als kulturgeschichtlich betrachtet eine Generation des höheren Bildungsweges nicht wie biologisch gesehen 20 bis 25 Jahre, sondern nur um die 5 Jahre umfasst. Hartmann setzt sich in seinem geschichtlich am nächsten liegenden Hauptwerk, in Das Problem des geistigen Seins (1933), nur mit zwei jüngeren Kollegen auseinander, eben Plessner und Heidegger, und er lässt es an keiner Klarheit fehlen, welche philosophische Richtung der beiden überzeugen kann. Hartmann übernimmt für das, was er personalen Geist im Unterschied zum objektiven Geist und zum objektivierten Geist nennt, die exzentrische Positionalität von Plessner, deutet sie aber in diesem personalen Geist als die Spezifik des „geistigen Bewusstseins" im Unterschied zum „geistlosen" oder „zentrischen" Bewusstsein. Dies ist historisch insofern sinnvoll, als Plessners Stufen naturphilosophisch nur bis zum Wendepunkt in die Geschichts-, Sozial- und Kulturphilosophie kommen, ohne diese auszuführen, was bei Hartman dem objektiven und objektivierten Geist entspräche, und da Hartmann unter Bewusstsein eher bewusstes Sein versteht, er sich also den Setzungscharakter in Plessners Positionalitätsbegriff zunutze macht. Hartmann würdigt an der exzentrischen Positionalität, dass erst sie Welt im Gegensatz zu Umwelt erschließt und damit eine Kritik an der transzendentalen Ermöglichung von Welt durch ein Subjekt gestattet, ob diese transzendentale Rückführung nun phänomenologisch oder hermeneutisch bewerkstelligt wird: „Gegen

335 Ich habe Plessners Spielphilosophie als das Problem der Mitwelt ausgeführt. Vgl. H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. I, a. a. O., insb. Kap. 2—4. 336 Vgl. dagegen E. W. Orth, der die Entsprechungen und Komplementaritäten zwischen Cassirer und Plessner hervorhebt, die ich bei dem von mir markierten Unterschied nicht übersehe. E. W. Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, a. a. O., S. 230, 2 4 3 - 2 5 2 .

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diese hebt das geistige Bewußtsein sich ab durch sein Mitwissen um das eigene Einbezogenem in die gegebene Welt und um die Zufälligkeit seiner Stellung in ihr. Seine Gesetztheit rückt damit vom Zentrum der gegebenen Welt ab, und diese hört auf, bloße .Umwelt' zu sein - denn Umwelt eben ist die auf das Subjekt zentrierte Welt - , sie wird ihm zu ,der Welt', d. h. zur wirklichen Welt, in der es als ein Mitlebendes steht." 3 3 7 Hartmann interessiert sich insbesondere für die geschichtliche Ungleichzeitigkeit, in der der „Sprung" von der zentrischen in die exzentrische Positionalität erfolge. „Es hat, wie wir es am Menschen kennen, die exzentrische Position immer schon auf bestimmten Lebensgebieten errungen und hält an ihr fest, wird aber gleichzeitig auf anderen Gebieten noch von der geschlossenen Form der Zentralposition gefangen gehalten." 3 3 8 Die anthropozentrische Auffassung halte sich gerade im mythischen Denken, in religiöser und philosophischer Weltanschauung, im spekulativen Denken am längsten, da ihnen der Druck, sich praktisch bewähren zu müssen, fehlt. „Die Ablösung der Spannung und die exzentrische Einordnung in die gegebene Welt ist gerade in den praktischen Lebensverhältnissen zuerst da. Hier eben zwingt die Aktualität des Lebens selbst den Menschen zur höheren Orientierung. Die Orientierung des Bewußtseins auf die Welt ist eben die objektive und dadurch die im Leben selbst überlegene Orientierung. ... Die Bewußtseinsform der exzentrischen Position ist es, die dem Menschen die Fülle seiner Möglichkeiten, den Spielraum seiner Freiheit eröffnet." 3 3 9 Hartmann folgt Plessner auch darin, dass Personalität sowohl die Funktion einer apriorisch aufschließenden „Anschauungskategorie" als auch einer rekonstruktiven „Realkategorie" ausüben kann, also einen Wechsel erfordere, der aber geschichtlich in keine Identität münden könne. Daher unterliege Personalität sowohl ihrer „Unerkennbarkeit" als auch ihrer „Unverkennbarkeit": „Die Gegebenheit der fremden Person ist eine unmittelbare, nicht erkenntnismäßige; sie ist direkt mit der Lebensbeziehung zu ihr da. Man kann auch nicht sagen, dass mit ihr nicht das Kernhafte, Wesentliche der Person als solcher gegeben sei. Aber sie ist kein objektives Erfassen dieses Wesentlichen. ... Was auf diese Weise zustande kommt, ist eine interpersonale Ebene gegenseitiger Einräumung und Anerkennung. Das Wissen um sie ist nicht identisch mit dem Erfassen der besonderen interpersonalen Situation." 3 4 0 Schließlich korrigiert Hartmann in Ubereinstimmung mit Plessner die christlich-philosophische Orientierung auf „Selbstreflexion". Wenn man an diesem Wort festhalten wolle, „so

337 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin und Leipzig 1933, S. 95. 338 Ebd., S. 97. 339 Ebd., S. 98. 340 Ebd., S. 111 f.

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muss man seinen Sinn als ein Sich-Spiegeln im Anderen verstehen. Es ist nicht Reflexion der Person ,in sich', sondern Reflexion in ihrem Verhalten zur Mitwelt." 341 Hartmann spricht demgegenüber Heideggers Konzeption von Sein und Zeit nicht direkt als ein zentrisch geistloses Bewusstsein an, aber doch indirekt als ein Zeugnis davon. Heideggers Zeitanalyse enthalte „Realzeit mit Anschauungszeit verwürfelt, kategoriale Momente der letzteren sind unbesehen auf erstere übertragen. Nur so konnte es möglich erscheinen, dass ein realzeitlich gebundenes .Dasein' sich selbst vorweg sei. Es kann das keineswegs, es kann nur in der Anschauung - im Vorausschauen - vor sich herlaufen." 342 Heidegger weiche vor allem aber dem Problem aus, „dass es kein adäquates Bewußtsein des objektiven Geistes gibt", indem er philosophisch die christliche Tradition der „Abkehr vom objektiven Geist und Zuflucht beim personalen Geist" fortsetze. 343 Im Hinblick auf Heideggers Unterscheidung der gegen das öffentliche „Man" privat zu erringenden Eigentlichkeit des Selbstseins schreibt Hartmann: „Das gerade ist das Grundverhältnis zwischen Gemeingeist und Individuum, dass das Individuum aus dem lebendigen Gemeingeist auf keine Weise heraustreten kann. ... Wenn es die Angst ankommt, wie es vor Gott oder den echten Anforderungen der Moral bestehen könne, so ist das, was es sucht, zwar ihm nur als seine Privatsache bewusst; der Sache nach aber und dem Wesen nach ist es zugleich etwas, was jeden anderen für ihn selbst ebenso angeht. Es ist also ein Gemeinsames. Ja, man kann sagen: auch das Gewissen, so sehr nur der Einzelne ein solches hat, ist doch inhaltlich weit entfernt, bloßes Privatgewissen zu sein. Es ist das genau so wenig, wie die .Vernunft', die ihm dabei heimleuchtet, bloße Privatvernunft ist. Gerade ... Gewissen ... stellt ihn vielmehr unmittelbar in die Mitverantwortung, die er mit anderen und für andere trägt. In ihr hat er jederzeit seinen Anteil an der gemeinsamen Sache, am öffentlichen Recht und Unrecht im Miteinandersein."344 Ich möchte als Beleg von Zeitgenossen auch einen für die Generation von Heidegger und Plessner jüngeren Kollegen zu Wort kommen lassen, der Assistent von Heidegger war und dessen Kompetenz zumindest im Rückblick unstreitig sein dürfte. Karl Löwith hat in seiner Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) versucht, Heideggers Philosophie von Sein und Zeit durch eine Rollenphänomenologie zu öffnen. Dies misslang, da die christlich reflektierte Existenz eher eine Art von „Umwelt" als aristotelisch-naturphilosophisch „Welt" erschließen kann, auf die es aber Plessner ankam. „Der eigentlich existierende Mensch will sich nicht von der Welt her verstehen. Die Welt wird infolgedessen zum .Umwillen' eines je

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

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eigenen In-der-Welt-seins, in dessen struktureller Einheit sowohl der Unterschied wie der Zusammenhang von Welt und Mensch verschwindet. ... Das leib- und geschlechtslose .Dasein im Menschen' kann nichts Ursprüngliches sein, wenn es erst in der Grenzsituation der Angst vor dem In-der-Welt-sein aus seiner .Verwandlung' des konkreten Menschen in ein pures Da-sein hervorgeht." 345 Umso weniger führt Heideggers Spätphilosophie hier weiter: „Daß jedoch ein nicht-seiendes .Sein' das Dasein des Menschen .ereignet' hat und unser allzumenschliches Dasein zu seiner Eröffnung .braucht', ist weder ein glaubhaftes Paradox noch ein wissbares Rätsel, sondern eine bloße .Vermutung', die umso fragwürdiger ist, als sie alles trägt, was über das Sein des Daseins gesagt wird." 346 Heideggers Sein und Zeit hat gewiss den damaligen, mentalitätsgeschichtlich insbesondere deutschen Zeitgeist originell wie ein Mario der Zauberer (Thomas Mann) zum Ausdruck gebracht, darüber hinausgehend aber die Konversionsproblematik der christlichen Tradition in der modern profanisierten Welt, wie die Wirkungsgeschichte seiner Existenzialhermeneutik bis zu Charles Taylor zeigt. Entsprechend respektabel und kollegial wurde Heidegger von seinen philosophischen Zeitgenossen diskutiert. Aber dass er einen philosophischen Kollegen von Rang wenigstens teilweise überzeugt hätte, kann man auch unter Hinzuziehung anderer Dokumente nicht behaupten. Seine popularphilosophisch enorm überschätzte Wirkungsgeschichte, die sich abgesehen von seinem politischen Fehlen aus der Resonanz des genannten Konversionsproblems in der amerikanisch-europäischen „Umwelt" ergibt, also interkontinentalen Ausdruckswert besitzt, steht in keinem Verhältnis zu dem sachlichen Ertrag, den man aus seiner Philosophie gewinnen könnte. Das wussten seine philosophisch kompetenten Zeitgenossen Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre, bei denen er als existenzialer Umweltdenker statt Philosoph von Welt durchgefallen war. Und davon wusste auch Heidegger selbst, mit Hartmann zu reden: von Zuflucht zu Zuflucht. Plessner verstand in seinem Buch Macht und menschliche Natur (1931) Heideggers Sein und Zeit in seiner gemeinschaftlichen Erweiterung als das existenziale Seitenstück an Innerlichkeit, das strukturfunktional für die Selbstermächtigung dem positivistischen Umweltdenken des Darwinismus in naturrechtlicher Tradition entspricht und an Vorurteilen keineswegs nachsteht. So kritisierte Plessner das in Heideggers Daseinsanalyse enthaltene „Vorrangverhältnis zwischen einer primären im werktätigen Umgang erschlossenen Umwelt von Bedeutungszusammenhängen und einer erst in ihren Störungen sekundär - verabschiedend-durchbrechend - sich meldenden

345 Karl Löwith, Natur und Humanität des Menschen (Erstveröff. in der Festschrift für Helmuth Plessner 1957), in: ders., Sämtliche Schriften I. hg. v. Klaus Stichweh, Stuttgart 1981, S. 280. 346 Ebd., S. 265.

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Welt." 347 Vor allem aber stellte Plessner kritisch den in Heideggers Existenzphilosophie „unverbindlich erscheinenden" Primat der Anthropologie heraus, der auf eine „natürliche Rangordnung" der Probleme festlege, die mit der „naturrechtlichen Bewußtseinshaltung" endlich einmal „ad acta gelegt werden" müsse, auch wenn diese Existenz geheißen wird: „Denn die natürliche Legitimität ist tot, auch in der Philosophie." 348 Selbst Karl Jaspers, der als älterer persönlicher Freund und Existenzphilosoph Heidegger besonders nahe stand und von philosophischer Anthropologie schon im Sinne Schelers nichts wissen wollte, sieht die funktionale Entsprechung von Heideggers „Sein in der Welt" mit dem, was man in der theoretischen Biologie von Uexkülls „Umwelt" nennt: „Das Sein des Lebens ist das Sein in einer Welt'1', aber so, dass die Weise des Lebens durch die Welt, die es hat, charakterisiert ist, und umgekehrt die Welt durch dieses Leben bestimmt wird." 349 „Umwelt" wurde im Sinne von Uexkülls als der Zusammenhang zwischen Merkwelt und Wirkwelt gefasst. Hinter dem „Sein in einer Welt" erfolgt ebd. die Anmerkung: „Uber Sein in der Welt ebenso wie über Dasein und Geschichtlichkeit hat M. Heidegger (Sein und Zeit, Halle 1927) Wesentliches gesagt." - Diese Formulierung ist nicht ohne spröden Humor, weil Jaspers' Existenzphilosophie nicht auf diese umweltartige Welt abhebt, sondern auf die Transzendenz und Existenz des Menschen, was bei Plessner Exzentrizität und Leiblichkeit entspräche. Jaspers will nicht wie Heidegger durch alle Ferne die eigentliche Nähe erreichen, sondern durch alle Nähe auf die Ferne der menschlichen Existenz hinaus. Der Mensch sei zu denken „als das Mittelglied des Seins, in dem das Fernste sich trifft. Welt und Transzendenz verschlingen sich in ihm, der auf der Grenze beider steht als Existenz." 350 - Heidegger hat bekanntlich in seiner Spätphilosophie auf solche Kritiken reagiert, indem er das Sein verdichtet hat und dadurch auch freier vom Dasein eben hat sein lassen können, ohne allerdings die Seinsorientierung überhaupt durch eine Lebensorientierung aufzugeben. Liest man also philosophisch kompetente Zeitgenossen von Heidegger und Plessner, so geht bei ihnen, dies muss man zur Ehrenrettung der deutschsprachigen Philosophie vermerken, die Existenzialität vorbereitende Umwelterschließung Heideggers nicht als Philosophie von Welt durch. Man muss dies auch gegen die heute verbreitete Gewohnheit, wie selbstverständlich von Heideggers Welterschließung zu hören, hervorheben, weil diejenigen, die dies herumsprechen, offenbar von der Welt-UmweltDifferenz, einer Errungenschaft der philosophischen Anthropologie seit Max Scheler, für die es in jeder Philosophie von Rang, auch in der Existenzphilosophie (ζ. B.

347 H . Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 197. 348 Ebd., S. 214. 349 Karl Jaspers, Philosophie I: Philosophische Weltorientierung (1931), München 1994, S. 66. 350 Ders., Philosophie III: Metaphysik (1931), München 1994, S. 187.

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Jaspers') Äquivalente gibt, nichts wissen. Offenbar ist die Einebnung dieser Differenz, ja, das Verschwinden der exzentrisch-positional ermöglichten Welt in einer zentrisch-positional vollzogenen Umwelt so eingängig, weil wir es mit allen zentrisch organisierten Lebewesen teilen und es allen Kompensationsbedürfnissen entgegenkommt, die im „geistigen Tierreich" der bürgerlichen Gesellschaft (Hegel) entstehen. Lassen wir zum Abschluss noch ein zeitlich und kulturell etwas versetztes Zeugnis eines französischen Philosophen anhand seiner Schriften aus den 40er Jahren zu Worte kommen, in denen sich, als sich Frankreich gegen den deutschen Weltkrieg wehrt, die sachliche Problematik eines Plessner-Heidegger-Vergleichs zeigt. Maurice Merleau-Ponty überzeugt die Kritik von Buytendijk und Plessner an Pawlows Unterscheidung bedingter und unbedingter Reflexe, um die Spezifik der biologischen Erklärung von Verhalten gegenüber der mechanischen Erklärung freizulegen. Dadurch kommt das, was man für eine spezifisch menschliche Sinnhermeneutik hält, eben allem zentrisch organisiertem Leben längst zu. „Die generelle Hemmung, die man (in den Hundeversuchen: HPK) vor sich hat, hat sich nicht nach den mechanischen Gesetzen der Konditionierung herausgebildet; in ihr äußert sich ein neuartiges Gesetz: die Ausrichtung des Organismus auf Verhaltensweisen, die einen biologischen Sinn haben, auf natürliche Situationen, d. h. ein Apriori des Organismus. Es gibt also eine Norm, die den Tatsachen selbst eingeschrieben ist." 351 Die dem lebendigen Verhalten innewohnende Verständlichkeit nennt Merleau-Ponty „Struktur": „Die Reaktionen sind also keine Folge von Ereignissen, sie haben als solche eine ihnen innewohnende Verständlichkeit'."352 „So verbinden sich Situation und Reaktion von innen her durch ihre gemeinsame Teilhabe an einer Struktur, in der sich die eigentümliche Tätigkeitsweise des Organismus ausprägt."353 Merleau-Ponty problematisiert - in zustimmendem Anschluss an die o. g. Schrift „Die Deutung des mimischen Ausdrucks" von Buytendijk und Plessner - die Spezifik lebendigen Verhaltens auf seine Weise: „Kein erkenntnistheoretisches Subjekt vollzieht die Synthese, sondern der Leib, der seiner Zerstreuung sich entreißt, sich sammelt und mit allen Mitteln auf ein einziges Ziel seiner Bewegung verlegt, indem in ihm in Gestalt des Phänomens der Synergie eine einzige Intention sich durchsetzt. Wir sprechen den Vollzug der Synthese dem objektiven Leib (Körper: HPK) nur ab, um ihn dem phänomenalen Leib zuzuschreiben, d. h. dem Leib, insofern dieser eine ,Umweltintentionalität' besitzt, insofern seine ,Teile' einander dynamisch vertraut sind und seine Empfänger dergestalt sich einstellen, dass ihre Synergie die Wahrneh-

351 Maurice Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens (1942), übers, u. eingef. v. Bernhard Waidenfels, Berlin/New York 1976, S. 139. Vgl. ebd., S. 44, 6 7 - 6 9 , 72. 352 F. J. J. Buytendijk/H. Plessner, Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows (1935), in: H . Plessner, GS VII, S. 31. 353 M. Merleau-Ponty, Die Struktur, a. a. O., S. 148.

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mung des Gegenstandes ermöglicht. Mit der Aussage, eine solche Intentionalität sei kein Denken, wollen wir sagen, dass sie sich nicht in der Durchsichtigkeit des Bewußtseins vollzieht und dass sie sich auf den gesamten Erwerb meines Leibes an latentem Wissen von sich selber stützt. Sich anlehnend an die vorlogische Einheit des Körperschemas, durchschaut die Wahrnehmungssynthese weder das Geheimnis des Gegenstandes noch das des Eigenleibes, und so begegnet ihr der wahrgenommene Gegenstand stets als ein transzendenter und scheint die Synthese sich am Gegenstand selbst zu vollziehen, in der Welt, und nicht im metaphysischen Punkt des denkenden Subjekts; und dadurch unterscheidet sich die Wahrnehmungssynthese von jeder intellektuellen Synthese." 3 5 4 In diese hervorragende Beschreibung der zentrischen Organisationsform passt nun Merleau-Ponty Heideggers Uminterpretation der Subjektivität in Zeitlichkeit problemlos ein. Sei nämlich das Subjekt „Zeitlichkeit, so ist die Selbstsetzung kein Widerspruch mehr, da sie vielmehr genauester Ausdruck des Wesens der lebendigen Zeit ist. Die Zeit ist,Affektion ihrer selbst durch sich selbst' 3 5 5 : das Affizierende ist die Zeit als der Andrang und Ubergang zur Zukunft hin; das Affizierte ist die Zeit als die entfaltete Reihe der Gegenwarten; Affizierendes und Affiziertes sind ein und dasselbe, da der Andrang der Zeit nichts anderes ist als der Ubergang von Gegenwart zu Gegenwart. Diese Ek-stase aber, diese Projektion eines ungeteilten Vermögens auf ein ihm gegenwärtiges Ziel hin, ist die Subjektivität." 3 5 6 Es ist nicht ohne Ironie, wenn man liest, wie ausgerechnet das, was laut Heidegger die abendländische Metaphysik der Subjektivität destruieren sollte, eben die Zeitlichkeit, problemlos in die zentrische Organisationsform des Lebendigen hineinpasst, die seit Descartes die moderne Philosophie unter dem Titel der Subjektivität bewegt (vgl. 2.1.). Offenbar kann zentrisch Organisiertes etwas Anderes nur als etwas zentrisch Organisiertes verstehen, eben im hermeneutischen Zirkel. Diese Art von Existenz ist tierisch, d. h. in Entsprechung zur Umwelt, wie außer Merleau-Ponty auch Misch, Hartmann, Jaspers, Löwith und Plessner übereinstimmend sehen. Sie entspricht Hobbes' Naturrecht, nur seitenverkehrt als Innerlichkeit der Ek-stase ausgelegt. Man kommt aus diesem Zirkel modernen Philosophierens, ob nun materialistisch über die Körper oder idealistisch über die Seele respektive Existenz verstanden, nicht heraus, ohne die Ermöglichung von Welt aus der exzentrischen Positionalität oder wenigstens einem Äquivalent dafür.

354 Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), übers, u. eingef. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 272. 355 Kant bedient sich des Ausdrucks mit Bezug aufs Gemüt. Heidegger überträgt ihn auf die Zeit: „Die Zeit ist ihrem Wesen nach reine Affektion ihrer selbst." M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929, S. 180 f. 356 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, a. a. O., S. 484.

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Leider hatte Merleau-Ponty nicht Plessners Stufen gelesen, so dass er selber nicht zu rekonstruieren vermag, was er an exzentrischer Positionalität in Anspruch nehmen muss, um die zentrische Organisationsform derart beschreiben zu können, wie wir es hier zitiert haben.357 Dadurch kommt Merleau-Ponty auch nicht zu der philosophisch-anthropologischen Differenz zwischen der Zeitlichkeit zentrischer Organisationsformen und dem Geschichtlichen der exzentrischen Positionsform, auf die wir in 2.3. zurückkommen werden. Die amerikanische Rezeption von Plessners Philosophischer Anthropologie hat dank Marjorie Grene in den 60er Jahren das Niveau der Stufen erreicht 358 , scheint inzwischen aber bis auf wenige Ausnahmen359 wieder abgebrochen worden zu sein. Die sowjetrussische Rezeption des Spielansatzes von Buytendijk und Plessner in der sogenannten kulturhistorischen Schule von Lev S. Vygotskij verdiente eine eigenständige Untersuchung.360 Wenn man sich in der deutschsprachigen Philosophie während des letzten Jahrzehntes systematisch etwas von einer Cassirer-Renaissance hat versprechen können 361 , dann gilt dies im nächsten Jahrzehnt wohl umso mehr für eine Renaissance der Philosophischen Anthropologie von Plessner. O. Marquard klagt sie seit langem ein, wenngleich durch eine zu kompensatorische, weil noch von dem Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Kontingenz beeindruckte Interpretation der Sonderstellung von Plessners Philosophischer Anthropologie unter den Philosophien der Weimarer Republik: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Das ist die Lehre, die aus dem Schicksal der Weimarer Republik gezogen werden kann." 362 - Ja, aber Plessner ist ohne die oben zitierte Neuschöpfung der Philosophie im Zeichen des kategorischen Konjunktivs nicht zu haben, worin er Weimarer wohl war. Gewiss müssen wir Deutsche uns fragen, warum bei uns noch immer eher die Irrungen und Wirrungen im höchsten Kurs der Öffentlichkeit stehen als die Philosophie, die im Guten wie im Schlechten der deutschen Geschichte Recht behalten hat. Wenn seit

357 Vgl. zur Kritik an Merlau-Pontys Ansätzen Jan Beaufort, Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in „Die Stufen des Organischen und der Mensch", (Habil.), W ü r z burg 1999, Kap. V.2. 358 Vgl. Marjorie Grene, Positionality in the Philosophy of Helmuth Plessner, in: The Review of Metaphysics, Vol. X X , N o . 2 (No. 78, Dec. 1966), S. 2 5 0 - 2 7 7 . 359 Vgl. Fred R. Dallmayr, Plessners Philosophical Anthropology. Implications for Role Theory and Politics, in: Inquiry 17 (1974), S. 4 9 - 7 7 . 360 Vgl. Lev S. Vygotskij (Wygotski), Das Spiel und seine Bedeutung in der psychischen Entwicklung des Kindes (1933), in: Daniii Elkonin, Psychologie des Spiels (1978), Berlin 1980. 361 Vgl. O . Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997; ders., Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997. 362 O. Marquard, Verweigerte Bürgerlichkeit. Philosophie in der Weimarer Republik, in: ders., Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen, München 1995, S. 138. Vgl. ebd., S. 10.

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den 70er Jahren aus systematischen Defiziten der analytischen Gegenwartsphilosophie heraus die Problemstellungen Heideggers vor allem unter den uns Deutschen gegenüber souveränen französischen und US-amerikanischen Kollegen wiederentdeckt werden konnten, dann sollten wir nicht noch immer unsouverän so tun, als ob es Plessners Philosophie des Spiels nie als Alternative zu Heidegger in der deutschsprachigen Philosophie gegeben hätte. Ist nicht in ihr, dieser immanenten „Zivilisierung" der ambivalenten und stereotyp deutschen „Radikalität", längst ein dritter Weg entworfen worden, um die für die Lebensführung des sensus communis nötigen Möglichkeiten des Erklärens und Verstehens in eine „fruchtbare Kooperation" 363 zu bringen, nach der Rüdiger Bubner verlangt? Bernhard Waldenfels hat gezeigt, wie Plessners Philosophische Anthropologie, die sich oft mit Maurice Merleau-Pontys naturphilosophischer Phänomenologie überkreuzt, in Fragen der Welterschließung fruchtbar gemacht werden kann. 364 Gerade diese Fragen der „Welterschließung" - im Unterschied zu den „Problemlösungskapazitäten" der modernen kulturellen Handlungssysteme - machen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns zu schaffen, da sie durch ihre symbolistische Lebensweltauffassung keinen Zugang zur Philosophie des Naturspiels findet und da ihr Autor die phänomenologische Anthropologie für eine praxisphilosophische Variante des „Produktionsparadigmas" hielt, was nun auf Plessners Philosophische Anthropologie gewiss nie zutraf. 365 Wir verdanken Habermas eine Problematisierung der Kriterien von Kritik, die auf Heidegger nicht minder als auf die ursprüngliche kritische Theorie zutrifft. Umso deutlicher tritt so das Defizit an der Explikation der „schwachen, nur noch formalen Anthropologie" 366 hervor, die in Habermas' „Universalpragmatik" schon verankert ist und keinen Zugang zum eigenen Körper findet. Auch von einer geistesgeschichtlichen Seite, die sich deutlich der Auffassung von christlicher Personalität verpflichtet weiß, ist Plessners Srn/&i«rauffassung von unserem lebendigen Dasein längst als kleinster gemeinsamer Nenner für eine plurale Gesellschaft akzeptiert worden. 367 - Diese wenigen Hinweise müssen hier für das Plädoyer genügen, es doch einmal mit der Plessnerschen Philosophischen Anthropologie zu versuchen.

363 R. Bubner, Gedanken über die Zukunft der Philosophie, in: DZPhil., Berlin 44 (1996) 5, S. 757. 364 Vgl. B. Waidenfels, Antwort-Register, Frankfurt/M. 1994, insb. III. Teil. 365 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 243, 369. Wie indessen die Sprachanalyse in Plessners philosophische Anthropologie zurückführen kann, verdeutlicht H . Schnädelbach, , . . . dass p'. Über Intentionalität und Sprache, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997) 3, 240 ff. 366 A. Honneth, Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie, in: ders. (Hg.), Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1994, S. 59. 367 Vgl. Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen .etwas' und .jemand', Stuttgart 1996, S. 2 3 , 9 7 , 2 6 0 - 2 6 4 .

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Hoffentlich können wir Deutsche inzwischen das Andere des Selbstseins ertragen, ja, begrüßen, da wir geschichtlich auf dem Wege zu einem anderen Selbstsein sind. Auf Friedrich Schillers Spielidee in seiner immanenten Kant-Kritik, die das Motto dieses Bd. II von Zwischen Lachen und Weinen abgegeben hat, dürfte zutreffen, was zwischenzeitlich wohl auf Helmuth Plessners spielphilosophische Wende selber anzuwenden wäre, auf dieses andere Deutsche, das nicht zum Zuge gekommen ist: „... weil ich überzeugt bin, dass wir uns von diesem Besten unseres geistigen Erbes nicht lösen können, dass wir es nicht verabschieden und vergangen sein lassen dürfen, ohne uns selber aufzugeben, ... to

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